Gelebte Geschichte, narrative Identität: Zur Hermeneutik zwischen Rhetorik und Poetik bei Hans Blumenberg und Paul Ricœur 9783495823767, 9783495491270


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Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
Prolog
1. Einleitung
2. Edmund Husserls idealistische Geschichtsteleologie
2.1. Husserls Historismus- und Psychologismuskritik
2.1.1. Wilhelm Dilthey: Der Umweg des Verstehens
2.1.2. Husserls Gegenentwurf: Bedeutung und Erfüllung
2.2. Die Krisis der europäischen Wissenschaften: Intentionalität, Geschichte und Teleologie
2.2.1. Die transzendentale Phänomenologie: Erkenntnistheoretische Grundlagen
2.2.2. Der Verlust der Lebensbedeutsamkeit
2.2.3. Lebenswelt und Vernunft: Die Restitution der Lebensbedeutsamkeit
2.3. Die Grenzen der idealistischen Geschichtsteleologie Husserls
3. Hans Blumenberg: Gelebte Geschichte
3.1. Die Philosophie aus dem Geist der Rhetorik
3.1.1. Anthropologische Implikationen und das Prinzip des unzureichenden Grundes
3.1.2. Die Lebenswelt als ein Reich der Selbstverständlichkeiten
3.1.3. Lebenswelt und Metapher
3.2. Vom Symbolbegriff Kants zur absoluten Metapher Blumenbergs
3.3. Zur Hermeneutik: Zentrale Begriffe und Funktionen
3.3.1. Von Fragen und Antworten: Absolute Metaphern als Kronzeugen historischer Dynamik
3.3.2. Paradigmen
3.3.3. Von Epochenumbrüchen, Umbesetzungen und Hintergrundmetaphern
3.3.4. Der Wirklichkeitsbegriff: Strukturen der Lebenswelt
3.4. Die historischen Wirklichkeitsbegriffe
3.4.1. Antike: Der Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz
3.4.2. Mittelalter: Der Wirklichkeitsbegriff der garantierten Realität
3.4.3. Der Epochenumbruch vom Mittelalter zur Neuzeit: Kontingenz und Selbstbehauptung
3.4.4. Die Methodenidee Descartes’
3.4.5. Neuzeit und Moderne I: Der Wirklichkeitsbegriff des offenen und in sich einstimmigen Kontextes
3.4.6. Neuzeit und Moderne II: Die Wirklichkeit als Erfahrung von Widerstand
3.5. Ästhetik und Poetik
3.6. Hermeneutik, Geschichte und Identität
4. Paul Ricœur: Narrative Identität
4.1. Die Interpretation zwischen Archäologie, Teleologie und Eschatologie
4.1.1. Archäologie und Eschatologie: Die Dezentrierung des Subjekts und die Wiedereinsammlung des Sinns
4.1.2. Zur Teleologie des Geistes
4.2. Die Funktion der Metapher
4.3. Die narrative Funktion
4.3.1. Die Dissonanz der Zeiterfahrung und die Konsonanz der Erzählung
4.3.2. Die Präfiguration (Mimesis I): Zur Vorform der Lesbarkeit
4.3.3. Die Konfiguration (Mimesis II): Im Reich des Schöpferischen
4.3.4. Produktive Einbildungskraft und narrative Funktion: Schematisierung und Traditionscharakter
4.3.5. Die Refiguration (Mimesis III): Auf dem Weg zur Aneignung
4.4. Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit
4.4.1. Geschichte und Narrativität: Die Geschichte als Kontingenzraum
4.4.2. Zeit und Fiktion: Die Konfiguration der Zeiterfahrung
4.4.3. Die Aporie der Zeitlichkeit: Die existenziale Zeitlichkeit Heideggers und der vulgäre Zeitbegriff
4.5. Von der Poetik zur Rhetorik
4.5.1. Die Überkreuzung der Referenzmodi von Geschichte und Fiktion
4.5.2. Die Refiguration: Lektüre, Aneignung und Rhetorik
4.5.3. Die Initiative: Das handelnde Subjekt zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont
4.6. Narrative Identität
5. Schlussbetrachtung
Epilog
Literaturverzeichnis
Werke Ricœurs
Werke Blumenbergs
Weitere Primärliteratur
Sekundärliteratur
Personenregister
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Gelebte Geschichte, narrative Identität: Zur Hermeneutik zwischen Rhetorik und Poetik bei Hans Blumenberg und Paul Ricœur
 9783495823767, 9783495491270

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Tim-Florian Steinbach

Gelebte Geschichte, narrative Identität Zur Hermeneutik zwischen Rhetorik und Poetik bei Hans Blumenberg und Paul Ricœur

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495823767

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B

Tim-Florian Steinbach Gelebte Geschichte, narrative Identität

VERLAG KARL ALBER

A

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Tim-Florian Steinbach

Gelebte Geschichte, narrative Identität Zur Hermeneutik zwischen Rhetorik und Poetik bei Hans Blumenberg und Paul Ricœur

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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Tim-Florian Steinbach Lived history, narrative identity On the hermeneutics between rhetoric and poetics in Hans Blumenberg and Paul Ricœur With Hans Blumenberg and Paul Ricœur, the book opens up the problem of hermeneutical historical thinking and the question of how history, in view of its discontinuity in modernity, can still be thought of. This issue always irritates one’s own identity and provokes a thinking of history and identity that is open to possible revision. Furthermore, it allows a constantly new appropriation and interpretation of the self in confrontation with one’s own culture, history and reality.

The author: Tim-Florian Steinbach is a research assistant at the Philosophical Seminar of the Bergische Universität Wuppertal at the Chair of Cultural Philosophy and Aesthetics.

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Tim-Florian Steinbach Gelebte Geschichte, narrative Identität Zur Hermeneutik zwischen Rhetorik und Poetik bei Hans Blumenberg und Paul Ricœur Das Buch eröffnet mit Hans Blumenberg und Paul Ricœur einen Problemhorizont hermeneutischen Geschichtsdenkens: Die Frage, wie die Geschichte angesichts ihrer Diskontinuität in der Moderne noch zu denken sein kann, irritiert immer auch die eigene Identität und provoziert ein Denken von Geschichte und Identität, das sich möglichen Revisionen gegenüber offen zeigt. Es erlaubt eine immer wieder neue Aneignung und Interpretation des Selbst in Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur, Geschichte und Wirklichkeit.

Der Autor: Tim-Florian Steinbach ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal am Lehrstuhl für Kulturphilosophie und Ästhetik.

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49127-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82376-7

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Im Blick zurück entstehen die Dinge, die dazu führen, dass wir uns finden. Dirk von Lotzow

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Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung Prolog

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1.

Einleitung

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17

2.

Edmund Husserls idealistische Geschichtsteleologie . . . . 2.1. Husserls Historismus- und Psychologismuskritik . . 2.1.1. Wilhelm Dilthey: Der Umweg des Verstehens . 2.1.2. Husserls Gegenentwurf: Bedeutung und Erfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Krisis der europäischen Wissenschaften: Intentionalität, Geschichte und Teleologie . . . . . 2.2.1. Die transzendentale Phänomenologie: Erkenntnistheoretische Grundlagen . . . . . 2.2.2. Der Verlust der Lebensbedeutsamkeit . . . . 2.2.3. Lebenswelt und Vernunft: Die Restitution der Lebensbedeutsamkeit . . . . . . . . . . . . . 2.3. Die Grenzen der idealistischen Geschichtsteleologie Husserls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49 51 53

3.

Hans Blumenberg: Gelebte Geschichte . . . . . . . 3.1. Die Philosophie aus dem Geist der Rhetorik . 3.1.1. Anthropologische Implikationen und das Prinzip des unzureichenden Grundes . . 3.1.2. Die Lebenswelt als ein Reich der Selbstverständlichkeiten . . . . . . . . . . . 3.1.3. Lebenswelt und Metapher . . . . . . .

63 79 80 92 101 111

. . . 124 . . . 127 . . . 131 . . . 138 . . . 151

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Inhaltsverzeichnis

3.2. Vom Symbolbegriff Kants zur absoluten Metapher Blumenbergs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Zur Hermeneutik: Zentrale Begriffe und Funktionen 3.3.1. Von Fragen und Antworten: Absolute Metaphern als Kronzeugen historischer Dynamik . 3.3.2. Paradigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3. Von Epochenumbrüchen, Umbesetzungen und Hintergrundmetaphern . . . . . . . . . . . 3.3.4. Der Wirklichkeitsbegriff: Strukturen der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Die historischen Wirklichkeitsbegriffe . . . . . . . 3.4.1. Antike: Der Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz . . . . . . . . . . . . 3.4.2. Mittelalter: Der Wirklichkeitsbegriff der garantierten Realität . . . . . . . . . . . . . 3.4.3. Der Epochenumbruch vom Mittelalter zur Neuzeit: Kontingenz und Selbstbehauptung . 3.4.4. Die Methodenidee Descartes’ . . . . . . . . . 3.4.5. Neuzeit und Moderne I: Der Wirklichkeitsbegriff des offenen und in sich einstimmigen Kontextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.6. Neuzeit und Moderne II: Die Wirklichkeit als Erfahrung von Widerstand . . . . . . . . . . 3.5. Ästhetik und Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6. Hermeneutik, Geschichte und Identität . . . . . . . 4. Paul Ricœur: Narrative Identität . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Die Interpretation zwischen Archäologie, Teleologie und Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Archäologie und Eschatologie: Die Dezentrierung des Subjekts und dieWiedereinsammlung des Sinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2. Zur Teleologie des Geistes . . . . . . . . . . 4.2. Die Funktion der Metapher . . . . . . . . . . . . .

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155 173 174 186 189 199 203 205 207 210 229

236 241 246 256 272 279

280 289 297

Inhaltsverzeichnis

4.3. Die narrative Funktion . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Die Dissonanz der Zeiterfahrung und die Konsonanz der Erzählung . . . . . . . . . . 4.3.2. Die Präfiguration (Mimesis I): Zur Vorform der Lesbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3. Die Konfiguration (Mimesis II): Im Reich des Schöpferischen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4. Produktive Einbildungskraft und narrative Funktion: Schematisierung und Traditionscharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5. Die Refiguration (Mimesis III): Auf dem Weg zur Aneignung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1. Geschichte und Narrativität: Die Geschichte als Kontingenzraum . . . . . . . . . . . . . 4.4.2. Zeit und Fiktion: Die Konfiguration der Zeiterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3. Die Aporie der Zeitlichkeit: Die existenziale Zeitlichkeit Heideggers und der vulgäre Zeitbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Von der Poetik zur Rhetorik . . . . . . . . . . . . 4.5.1. Die Überkreuzung der Referenzmodi von Geschichte und Fiktion . . . . . . . . . . . . 4.5.2. Die Refiguration: Lektüre, Aneignung und Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3. Die Initiative: Das handelnde Subjekt zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6. Narrative Identität . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.

Personenregister

320 324 330

334 342 348 351 370

382 393 395 410

419 428

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Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2018 von der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal als Inauguraldissertation im Fach Philosophie angenommen. Für die Veröffentlichung wurde sie geringfügig überarbeitet, Prolog und Epilog sind neu hinzugekommen. Die Geschwister Boehriner Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften war so großzügig, die Druckkosten finanziell zu unterstützen, wofür ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken möchte. Danken möchte ich auch dem Alber-Verlag, namentlich Herrn Trabert sowie Herrn Hähnel, für die Aufnahme meiner Dissertation in die Alber-Reihe Philosophie und die sorgfältige Betreuung während des Publikationsprozesses. Zum erfolgreichen Abschluss dieser Arbeit haben viele Personen aus dem akademischen sowie meinem privaten und familiären Umfeld beigetragen. Großer Dank gilt meinem Erstbetreuer Prof. Dr. Gerald Hartung, der mich ermuntert hat, die Auseinandersetzung mit der Philosophie Ricœurs zu suchen, sowie meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Ralf Konersmann, der mich schon zur Zeit meines Studiums begleitet hat und ohne den eine weitergehende Auseinandersetzung mit der Philosophie Blumenbergs auf diese Weise nicht zustande gekommen wäre. Danken möchte ich beiden für die Unterstützung, für die Möglichkeit zur freien Wahl und Gestaltung meines Themas, für den stets offenen und produktiven Austausch, für all die kritischen Anmerkungen, aber auch für die persönlichen Ratschläge, die auf diesem Weg nicht minder wichtig waren. Ich danke meinen Freunden und meiner Familie für die Geduld und das Verständnis, lange Zeit hat diese Arbeit meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Mein Dank geht an Nora und Jannis für die Kraft, die sie mir in dieser Zeit gegeben haben, dafür, dass sie für mich da waren und es noch immer sind. Besonderer Dank geht an Dr. Annika Hand für die Unterstützung und das Vertrauen, 13 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

Vorbemerkung

für die stete Bereitschaft zur inhaltlichen Auseinandersetzung und die Mühen des Korrekturlesens, die sie auf sich genommen hat. Heike Koenig möchte ich für ihr offenes Ohr danken, aber auch für die Unterstützung im Arbeitsbereich: Dass aus Arbeitsbeziehungen Freundschaften entstehen können, ist eine besondere Erfahrung. Nicht zuletzt gilt mein Dank meinen Brüdern und meinen Eltern, denen ich für die Nachsicht und das Verständnis danke. Der Weg in die Universität und die Philosophie war und ist für mich bis heute nicht selbstverständlich. Ohne eure Unterstützung, euer Vertrauen und die Sicherheit, die ihr mir dadurch gegeben habt, wäre mir dies nicht möglich gewesen. Wuppertal/Berlin im Januar 2020

Tim-Florian Steinbach

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Prolog

Wenngleich mit dem Leben davongekommen, sind doch weder Paul Ricœur noch Hans Blumenberg von den Wirren des Zweiten Weltkriegs verschont geblieben. Ricœur wurde vom Krieg während eines Deutschlandaufenthalts überrascht. Er ging zunächst an die Front, geriet dann als Offizier in Gefangenschaft. Während seiner Kriegsgefangenschaft stellte sich ein Alltag ein, der nahezu ungehindert die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit der Philosophie bot. In jener Zeit war es die Lektüre der Schriften Jaspers’, die dafür sorgte, dass Ricœurs Achtung und Bewunderung für das deutsche Denken allen Widrigkeiten zum Trotz erhalten blieb. Zeitgleich arbeitete er an der Übersetzung des ersten Bandes von Husserls Ideen, die er nach dem Krieg als einen Teil seiner Dissertation einreichte. Inmitten der Kriegswirren bot das Gefangenenlager einen Ort philosophischer Besinnung. Der Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts fordert zu einem Umdenken mit dem auf, was immer auch Geschichte noch bedeuten mag. Von einem Sinn in der Geschichte zu sprechen, lag vielleicht nie ferner. Anspruch und Pflicht bestehen deshalb darin, zu einem Verständnis zu bringen, was an ihr verstanden werden kann und so noch das, was bloß nebensächlich und zufällig erscheint, einzubetten in einen Horizont, der ein Verstehen ermöglicht. Möglichkeit und Wirklichkeit sind aufeinander zu beziehen, nur dann lässt sich verstehen, was der Mensch gewesen sein mag, um zu verstehen, was er sein könnte. Blumenberg wurde seiner katholischen Taufe zum Trotz aufgrund seines jüdischen Familienhintergrunds von den Nationalsozialisten als Halbjude eingestuft, sein Studium musste er 1940 abbrechen. Zunächst wurde er zum Arbeitsdienst eingezogen, dann interniert, konnte dem Arbeitslager jedoch entkommen. Das Kriegsende überlebte er versteckt im Elternhaus seiner damaligen Ehefrau. Dort, so die Mythenbildung, verbrachte Blumenberg seine Zeit mit 15 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

Prolog

unermüdlicher Lektüre. Der Krieg hatte ihn vom Studium abgehalten und Zeit gekostet. 1945 konnte er sein Studium in Kiel fortsetzen, wurde dort 1947 promoviert, habilitierte sich ebendort nur drei Jahre später. Seither, so die Erzählung, arbeitete er unentwegt, verzichtete mitunter auf Schlaf, um die verlorene Zeit aufzuholen. Die ihm verbliebene investierte er in die Publikation seiner Werke, zog sich zunehmend mehr vor der Öffentlichkeit zurück und widmete sich in den späteren Jahren der Vor- und Aufbereitung seines Nachlasses. Die Diskrepanz zwischen Lebenszeit und Weltzeit war nicht nur titelgebend, sondern mag Blumenberg auch persönlich Zeit seines Lebens beschäftigt haben; sie ist eines unter anderen Phänomen, das dort zutage tritt, wo die Geschichte im Ganzen keinen Sinn erkennen lässt. Nach dem Zweiten Weltkrieg greift die Enttäuschung um sich, Anhänger der beiden großen Systementwürfe sind gleichermaßen desillusioniert. Was sich dann noch Geschichte nennt, wird allzu oft als Verfallsgeschichte inszeniert. Ricœur sowie Blumenberg stehen jenseits solcher Parteiungen. Wenngleich es keine Wiederholungen im eigentlichen Sinne geben mag, impliziert ihr Versuch, die Geschichte als einen Bereich des Möglichen zu denken, doch immer auch die Erinnerung daran, nicht zu vergessen, dass, was möglich war, es jederzeit wieder sein kann; nur scheinbar ist abgeschlossen, was auch vergangen ist. Die Suche nach der vermeintlich verlorenen Zeit entpuppt sich als Umweg zu sich selbst. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist immer auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis. In den Werken der Kultur, in der Geschichte und Tradition entdeckt der Mensch etwas genuin Menschliches, das er auf sich zu beziehen imstande ist, stets in der Vermutung, er könnte gemeint sein. In dem Versuch der Geschichte offen zu begegnen, sieht sich der Mensch mit der Offenheit der eigenen Identität konfrontiert.

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1. Einleitung Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unsern Tagen wohl kein Zweifel übriggeblieben. Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden, sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen läßt. 1

In der vorliegenden Untersuchung werden mit Ricœur (1913–2005) und Blumenberg (1920–1996) zwei Denker ins Gespräch miteinander gebracht, die einer Generation angehören und die mit Blick auf die Zäsuren des 20. Jahrhunderts nicht nur ähnliche Erfahrungen gemacht haben, sondern z. T. durchaus auch auf ganz ähnliche Leseerfahrungen zurückgreifen – bei allen Differenzen sind es maßgeblich die Schriften Husserls, die das Denken beider bereits in frühen Jahren prägen und deren Einfluss noch bis in die späten Schriften hinein verfolgt werden kann. 2 Johann Wolfgang von Goethe: Materialien zur Geschichte der Farbenlehre [1810], in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 14, hrsg. von Erich Trunz. C. H. Beck: München 61981, S. 7–269, hier S. 93 f. 2 Zusätzlich ist bei beiden auf den Einfluss der Philosophie Heideggers zu verweisen. Es ist maßgeblich das In-der-Welt-sein Heideggers bzw. die Struktur der Sorge an der Ricœur sowie Blumenberg, wenn auch unter deutlichen Modifikationen, anschließen und auch in späteren Jahren noch festhalten (zu Ricœurs Verhältnis zu Heidegger vgl. Paul Ricœur: Eine intellektuelle Autobiographie [1995], übers. von Jérôme Jaminet und Peter Welsen, in: ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970– 1999), hrsg. von Peter Welsen. Felix Meiner: Hamburg 2005, S. 3–78, hier S. 15, 50 f., 55, 68; Andris Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn. Paul Ricœurs hermeneutisches Denken der Geschichte (Phänomenologische Untersuchungen, Bd. 21). Wilhelm Fink: München 2007, S. 192; Stefan Scharfenberg: Narrative Identität im Horizont der Zeitlichkeit. Zu Paul Ricœurs Zeit und Erzählung (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie, Bd. 463). Königshausen & Neumann: Würzburg 2011, S. 339–342; vgl. François Dosse: Paul Ricœur: Les sens d’une vie. La Découverte: Paris 1997, 418–425; zu Blumenbergs Verhältnis zu Heidegger vgl. Oliver Müller: Sorge um die Vernunft. Hans Blumenbergs phänomenologische Anthropologie. mentis: Paderborn 2005, insbes. S. 19–22, 47–63, 124, 132 f., 138 f., 319–325; zu einer differenzierten Darstellung des Verhältnisses Blumenbergs zur Philosophie Heideggers in den frühen Jahren vgl. Kurt Flasch: Hans Blu1

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Einleitung

Eine unmittelbare wechselseitige Rezeption von Ricœur und Blumenberg gibt es nicht. Blumenberg publiziert, vermittelt über Ludwig Landgrebe (1902–1991), im Jahr 1972 seinen Aufsatz The Life-World and the Concept of Reality in einer Festschrift für Aron Gurwitsch. 3 Dieser Band erscheint in einer Reihe, in der Ricœur zu den Consulting Editors gehört. Ricœur verweist in Zeit und Erzählung an zwei Stellen auf Blumenberg – dies jedoch zum einen nur mittelbar über die Schriften Hans Robert Jauß’, zum anderen in einer Fußnote. 4 Blumenberg wurde 1947 in Kiel von Landgrebe promoviert und habilitiert sich ebendort 1950, Ricœur und Landgrebe sind sich auf dem Vierten Internationalen Kolloquium für Phänomenologie 1969 persönlich begegnet, der Name Blumenbergs taucht in den Akten jedoch nicht auf. 5 Damit verlieren sich bereits die Spuren, die eine gegenseitige Kenntnisnahme und Rezeption nahelegen könnten. Wenngleich die Werke beider deutliche Unterschiede aufweisen, besteht doch eine gewisse Nähe, die im Folgenden über das titelgebende Thema hergestellt wird: über die Frage nach dem Zusammenhang von Geschichte und Identität. Die Hauptthese der vorliegenden Untersuchung lautet, dass die Metapher es ermöglicht Geschichte und Identität zusammenzudenken. Verweist die Metapher im Kontext der Hermeneutik Blumenbergs auf die Geschichte, so bildet sie im Kontext der Hermeneutik Ricœurs eine Funktion, die die Identitätsbildung ermöglicht.

menberg. Philosoph in Deutschland: Die Jahre 1945–1966. Vittorio Klostermann: Frankfurt a. M. 2017, S. 55–231). Römer verweist darauf, dass Ricœur durchaus, wie er selbst betont, an das In-der-Welt-sein Heideggers anschließen mag (vgl. Inga Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur (Phaenomenologica, Bd. 196). Springer: Dordrecht, Heidelberg, London, New York NY 2010, S. 298–300), doch deutlicher noch, so Römer, befindet sich Ricœur in der Nähe zu Gadamers Begriff der Zugehörigkeit (vgl. ebd. S. 238). 3 Vgl. Hans Blumenberg: The Life-World and the Concept of Reality, in: Lester Eugene Embree (Hrsg.): Life-World and Consciousness (Festschrift für Aaron Gurwitsch). Evanston IL 1972, S. 425–444. 4 Vgl. Anm. 392, S. 410. 5 Vgl. Herman Leo van Breda (Hrsg.): Vérité et Vérification. Actes du quatrième Colloque International de Phénoménologie, Schwäbisch Hall (Baden-Württemberg), 8–11 septembre 1969 / Wahrheit und Verifikation. Akten des vierten Internationen Kolloquiums für Phänomenologie Schwäbisch Hall (Baden-Württemberg), 8.– 11. September 1969. Martinus Nijhoff: Den Haag 1974 sowie Ludger Hagedorn und Hans Rainer Sepp (Hrsg.): Jan Patočka. Texte. Dokumente. Bibliographie (Orbis Phaenomenologicus. 11. Quellen, Bd. 2). Karl Alber: Freiburg, München 1999, S. 515.

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Einleitung

Die Reihenfolge, in der die beiden Denker im Folgenden behandelt werden, ist anachronistisch, liegt jedoch in der Sache begründet: Blumenbergs Hermeneutik ist nicht in erster Linie eine Aneignungshermeneutik, wie sie Ricœur erarbeitet. Wenngleich die Hermeneutik Blumenbergs durchaus dazu dient, ein mögliches Selbstverständnis auszubilden, so bleibt doch, was Blumenberg als Identität begreift, eher eine Problemanzeige. Blumenberg ist nicht darauf aus, einen spezifischen Begriff von Identität auszuarbeiten und theoretisch zu fundieren. Ein solches Projekt hingegen verfolgt Ricœur, der Blumenberg im Folgenden deshalb als Gesprächspartner an die Seite gestellt wird. Die theoretischen Verfahrensweisen Ricœurs sind ganz auf die Aneignung der Wirklichkeit und die Ausbildung einer Identität abgestellt. Seine Hermeneutik ist in ihrem Kern eine Aneignungshermeneutik. Thema und Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung, gelebte Geschichte mit Blumenberg hier, narrative Identität mit Ricœur dort, sind im Folgenden zu begründen. Die Einleitung dient 1.) dazu, einen Problemaufriss zu skizzieren und das Thema zu umreißen, 2.) wird in Anschluss daran der Aufbau der vorliegenden Untersuchung dargestellt, 3.) wird die bereits genannte Hauptthese noch einmal aufgegriffen und präzisiert, 4.) die Methode der vorliegenden Untersuchung expliziert und 5.) der Forschungsstand zum Thema dargelegt. 1.) Mit seiner ersten Monographie Die Legitimität der Neuzeit von 1966 steht Blumenberg inmitten der intellektuellen Debatten der nach dem Zweiten Weltkrieg inzwischen neu konsolidierten Forschungslandschaft der Deutschen Bundesrepublik. Die Kritiken und Reaktionen, die diesem Erstlingswerk entgegengebracht werden, machen deutlich, dass es um Grundsätzliches geht: um das Selbstverständnis der Moderne. Innerhalb der philosophischen, theologischen und politischen Debatten, in denen dieses Werk diskutiert wird und denen es sich stellt, geht es um die Frage nach der Kontinuität und Diskontinuität zweier Epochen. 6 Wenngleich es nachfolgend nicht

Jürgen Goldstein verweist darauf, dass es in diesem Kontext noch einmal um Grundsätzliches geht, während sich im Bereich der Mediaevistik bereits eine pluralistisch orientierte Detailforschung abzeichnet (vgl. Jürgen Goldstein: Nominalismus und Moderne. Zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham. Alber: Freiburg i. Br., München 1998, S. 34).

6

19 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

Einleitung

ausschließlich um das Verhältnis vom Mittelalter zur Neuzeit geht, so ist dieses Verhältnis doch in mehrerlei Hinsicht bestimmend für die im Folgenden aufgeworfenen Fragen, weshalb einleitend die Probleme und Fragen skizziert werden, die diese Debatten mit sich bringen. Wenn die Kontinuität zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit nicht gewahrt werden kann, was bedeutet das für das Selbstverständnis der Moderne und wie lässt sich Geschichte überhaupt noch verstehen, wenn wir es an diesem Punkt der Geschichte mit einem Bruch zu tun haben und diese kein zusammenhängendes Ganzes mehr erkennen lässt? Wie lässt sich eine lebendige Traditionsbildung fortführen, wie angesichts der Diskontinuität, vielleicht doch noch Kontinuität wahren? Die Säkularisierungsdebatte und mit ihr die Frage nach der Kontinuität und Diskontinuität zwischen christlichem Mittelalter und säkularer Moderne ist seit dem 18. Jahrhundert zunehmend öfter zum Gegenstand der Auseinandersetzungen in ganz verschiedenen Bereichen geworden. 7 Die Säkularisierungsdebatte des 20. Jahrhunderts ist ein Symptom von Selbstverständigungsprozessen, in denen es, mit Giacomo Marramao gesprochen, um den Ursprung und das Schicksal der Moderne geht. 8 Diese grundsätzlichen Stellungnahmen zur Neuzeit und Moderne im Kontext der Säkularisierungsdebatte sind an Blumenbergs Legitimität der Neuzeit nicht spurlos vorbeigegangen. Wie Emil Angehrn deutlich macht, gibt sich das Subjekt im Prozess des Verstehens nicht mit Fragmenten und Singularitäten zufrieden. In seiner Identitätsbildung sieht es sich auf die Geschichte verwiesen und sucht, um sich in seiner Identität als ein einheitliches Subjekt zu qualifizieren, größere Zusammenhänge und letztlich einen Zusammenhang des Ganzen herzustellen. Das Ganze der Geschichte soll die Einheit der Identität bezeugen. 9 Insofern verwundert es nicht, dass die These historischer Diskontinuität, die Blumenberg in der Legitimität der Neuzeit aufstellt, zwangsläufig Kritik provozieren muss. Vgl. Giacomo Marramao: Säkularisierung [Art.], in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8: R–Sc, hrsg. von Joachim Ritter † und Karlfried Gründer in Verbindung mit Günther Bien, Ulrich Dierse, Gottfried Gabriel et al. Schwabe & Co.: Basel 1992, Sp. 1133–1161, hier Sp. 1333. 8 So die Überschrift, unter die Marramao die Säkularisierungsdebatte des 20. Jahrhunderts stellt (vgl. ebd., Sp. 1138). 9 Vgl. Emil Angehrn: Geschichte und Identität. Walter de Gruyter: Berlin, New York NY 1985, S. 289 f. 7

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Einleitung

Blumenbergs Hauptthese lautet, dass die Neuzeit aus einem Bruch mit dem Mittelalter hervorgegangen ist; über diesen Bruch sucht er deutlich zu machen, dass der technische und wissenschaftliche Fortschritt eine genuin neuzeitliche Errungenschaft ist und die Neuzeit damit gerade nicht die Verweltlichung der christlichen Eschatologie und bloß kontinuierliche Fortführung des Mittelalters sein kann. Im Zentrum der Legitimität der Neuzeit steht die Frage der Genealogie der Neuzeit. Die Kritiken auf die Veröffentlichung der Legitimität der Neuzeit haben Blumenberg zu Überarbeitungen und Reaktionen auf diese Kritiken veranlasst, die in die zweite Auflage, erschienen in drei Bänden in den Jahren 1972, 1973 und 1976, eingegangen sind. Blumenberg schärft seine Thesen noch einmal wider Säkularisierungstheorien, denen die Neuzeit lediglich als Fortführung des christlichen Mittelalters gilt. Eine der zentralen Kontroversen in Anschluss an die Veröffentlichung dieses Werkes entspinnt sich zwischen Blumenberg und Carl Schmitt, in dem Blumenberg einen der zentralen Vertreter der genannten Säkularisierungstheorien sieht. Diese Kontroverse sei im Folgenden kurz skizziert, um das Anliegen der vorliegenden Untersuchung deutlicher zu konturieren. Blumenberg zufolge hat das Mittelalter Probleme zu bewältigen, die genuin christlichen Ursprungs sind, die es selbst jedoch nicht zu lösen weiß. Die Neuzeit hat damit Probleme aufzuarbeiten, die das Mittelalter ihr hinterlassen hat, findet laut Blumenberg jedoch eigene Mittel und Wege, um diese zu bewältigen. Gerade darin erweist sie für Blumenberg ihre Legitimität: in ihrer Konsolidierung gegen das Mittelalter und der Bewältigung der Probleme, die sie aus eigener Kraft leistet. Der Problembestand mag ererbt sein, dessen Überwindung jedoch erfolgt ohne Rückbezug auf das Mittelalter. Die Verweltlichung ist dann eine Konsequenz, die sich aus den immanenten Problemen des christlichen Mittelalters selbst ergibt, so dass die Neuzeit nicht lediglich die Fortführung des christlichen Mittelalters unter dem Deckmantel weltlicher Mittel sein kann. Die stärkste Form der Säkularisierungsthese sieht Blumenberg seinerzeit von Schmitt mit der Behauptung vorgetragen, alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre seien säkularisierte theologische Begriffe. 10 Vgl. Hans Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweitere und überarbeitete Neuausgabe von »Die Legitimität der Neuzeit« erster und zweiter Teil [1966]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1974, hier 103–118, insbes. S. 106 f.

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Schmitt nimmt Blumenbergs Kritik bereits mit der ersten Auflage der Legitimität der Neuzeit zur Kenntnis und wendet sich im zweiten Teil seiner Politischen Theologie von 1970 seinerseits gegen Blumenberg. 11 Im Kern spricht sich Schmitt kritisch gegen Blumenbergs Verwendung des Begriffs der Legitimität aus und sucht dadurch, Blumenbergs Hauptthese das Fundament zu entziehen. 12 Erstens macht Schmitt darauf aufmerksam, dass der Begriff der Legitimität ursprünglich einem juristischen Kontext entstammt und dessen Verwendung mit Blick auf die Geistes- und Ideengeschichte eher unüblich sei. 13 Zweitens wirft er Blumenberg vor, die Neuzeit über Begriffe und Konzepte zu definieren, die spezifisch neuzeitlich seien, so dass alles Neue an der Neuzeit gerade nicht das Ergebnis einer historischen Entwicklung sein könne, wie dies der Begriff der Legitimität jedoch behaupte. Die Bestimmung der Neuzeit, so Schmitt, ist dann lediglich eine Frage der Definition und nicht der historischen Legitimation. Was Blumenberg Legitimität nennt, kann für Schmitt nicht mehr sein als Legalität, d. h. gerade keine historische Legitimation, sondern lediglich die Rechtfertigung einer Epoche mit den ihr eigenen Mitteln und durch einen Ursprung, den sie selbst setzt. Als bloße Legalität nimmt sie keine Rücksicht auf eine historische Genealogie. Die Legalität der Neuzeit wäre das Selbstbild einer Epoche, die sich gegenüber der Vergangenheit als aufgeklärt sieht und sich aus der ihr spezifischen, aufgeklärten Rationalität heraus ableitet. Sie definiert sich selbst. 14 Es handelt sich dann um eine »Rechtfertigung vom NeuVgl. Carl Schmitt: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie. Duncker & Humblot: Berlin 1970, S. 109–126. 12 Zum Verhältnis zwischen Schmitt und Blumenberg vgl. Alexander Schmitz und Marcel Lepper: Nachwort, in: Hans Blumenberg. Carl Schmitt. Briefwechsel 1971– 1978 und weitere Materialien, hrsg. von Alexander Schmitz und Marcel Lepper. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2007, S. 251–306 sowie zur Auseinandersetzung beider mit Blick auf die Säkularisierungsthese Wolfgang Hübener: Carl Schmitt und Hans Blumenberg oder über Kette und Schuß in der historischen Textur der Moderne, in: Jacob Taubes (Hrsg.): Religionstheorie und Politische Theologie, Bd. 1: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen [1983]. Wilhelm Fink, Ferdinand Schöningh: München, Paderborn, Wien, Zürich 21985, S. 57–76; zu Blumenbergs Rolle im Kontext der Säkularisierungsdebatte des 20. Jahrhunderts vgl. auch Marramao: Säkularisierung [Art.], Sp. 1141–1151. 13 Vgl. Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 41. Zu einem kurzen begriffsgeschichtlichen Abriss und zur Säkularisierungsdebatte im Kontext vgl. Werner Heun: Aspekte der Säkularisierungsdebatte, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 30 (1985) 2, S. 202–216. 14 Schmitt zufolge »bedeutet Legitimität rechtmäßig, Legalität gesetzmäßig«. Legali11

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en her«. 15 Für Schmitt bleibt die Frage historischer Legitimität außen vor, Fragen nach einer epochenübergreifenden Kontinuität spezifischer Begriffe kommen dann nicht auf, wenn genuin neuzeitliche Begriffe zur Definition der Neuzeit herangezogen werden. Wenn die Mittel, die es braucht, um die Neuzeit gegen das Mittelalter abzugrenzen, in der Neuzeit selbst begründet liegen, dann würde die Frage der Geltung der Neuzeit gerade nicht den Rückgang auf Traditionsbestände betreffen und damit auch nicht die Frage historischer Legitimität. 16 Wenngleich es auf diese Kritik und die politischen Implikationen an dieser Stelle im Einzelnen nicht ankommt, 17 betrifft das bis zu diesem Punkt skizzierte Problem die Fragen und Probleme, denen sich die vorliegende Untersuchung widmet, dennoch in mehrerlei Hinsicht. Die Annahme, die Neuzeit sei lediglich die Säkularisierung der christlichen Eschatologie, impliziert die Annahme einer sich durch die Geschichte durchhaltenden Substanz, so dass die Neuzeit nur unter anderen Vorzeichen zu wiederholen vermag, was einmal gestiftet wurde; sie wäre die Modifikation eines einmal gestifteten Ursprungs und damit nichts genuin Neues. Die Annahme eines Substanzialismus lässt keine Brüche zu: Der technische und wissenschaftliche Fortschritt wäre dann nichts anderes als die verweltlichte Struktur der Heilsgeschichte, lediglich mit dem Unterschied, dass der Zielpunkt als ein Aufgehen im Jenseits fehlt und der Fortschritt diesseits endlos fortläuft; der technische und wissenschaftliche Fortschritt tät ist »ein Funktionsmodus der staatlichen oder einer sonstigen, berechenbar funktionierenden Bürokratie«, so dass aus »dem gesetzmäßigen Funktionieren eines Verfahrensablaufs […] nur Legalität als die kompatible Art der Rechtfertigung der Neuzeit in Betracht kommen« kann. Legitimität hingegen »würde eine ganze Konterbande alter Begriffe und Umbesetzungen mit sich führen«, sie könne an »Tradition, Erbe, Vaterschaft« (Schmitt: Politische Theologie II, S. 112 f.) anschließen – gerade dies leiste Blumenbergs Begriff der Legitimität laut Schmitt jedoch nicht. 15 Schmitt: Politische Theologie II, S. 111. 16 Vgl. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 111 f. sowie zur folgenden Darstellung Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 35–41. 17 Zur Unterscheidung von Legalität und Legitimität mit Blick auf den politischen und juristischen Kontext vgl. Carl Schmitt: Legalität und Legitimität [1932]. Duncker & Humblot: Berlin 72005 sowie hierzu Rüdiger Voigt: Legalität ohne Legitimität. Carl Schmitts Kategorie der Legitimität, in: ders. (Hrsg.): Legalität ohne Legitimität? Carl Schmitts Kategorie der Legitimität. Springer: Wiesbaden 2015, S. 9–31 und Volker Neumann: Schmitts »Legalität und Legitimität«. Deutungen und Definitionen, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.): Legalität ohne Legitimität? Carl Schmitts Kategorie der Legitimität. Springer: Wiesbaden 2015, S. 35–44.

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Einleitung

kennt keinen Endpunkt. 18 Wenngleich Begriffe ihre Geschichte haben, liegt die Leistung, die diese erbringen, für Blumenberg doch nicht ausschließlich in ihrer Herkunft und schon gar nicht in einer sinnstiftenden Substanz, die sie über die Geschichte hinweg tradieren, sondern vielmehr in ihrer hermeneutischen Funktion. Goldstein verweist darauf, dass die Rede von der Legitimität der Neuzeit für Blumenberg gerade für die hermeneutischen Anstrengungen steht, die unternommen werden müssen, wenn der Begriff der Geschichte bei aller Diskontinuität nicht aufgegeben werden soll. Wenn es zutrifft, dass die Neuzeit nicht lediglich die Fortsetzung des christlichen Mittelalters ist, sondern vielmehr für einen Bruch mit dem Mittelalter steht, so darf dieser Bruch doch nicht absolut werden, so der Anspruch Blumenbergs. Es bedarf deshalb einer Hermeneutik, die zu einem Verständnis bringen kann, was sich an der Entwicklung der Geschichte als Geschichte überhaupt noch verstehen lässt. Eines der zentralen Probleme, dem sich die vorliegende Untersuchung widmet, lautet, wie das, was wir Geschichte nennen, überhaupt noch verstanden werden kann, wenn die Geschichte weder Kontinuität im Ganzen verspricht, noch rein in Diskontinuitäten und Brüchen aufgehen darf – wir hätten es in letzterem Fall dann nicht mehr mit Geschichte zu tun, sondern mit Singularitäten, die keine Zusammenhänge erkennen ließen. Für Blumenberg sind es maßgeblich Metaphern, die uns die geschichtliche Dynamik von Kontinuitäten und Diskontinuitäten verstehen lassen. Dieser Aspekt verweist bereits auf den ersten Teil der Hauptthese der vorliegenden Untersuchung. Die hermeneutische Funktion von Begriffen zeigt sich für Blumenberg gerade dort, wo ihre Bedeutung auf die Kontexte und Hintergründe verweist, in denen sie stehen, d. h. auf die Zusammenhänge, in denen wir Geschichte verstehen. Es sind maßgeblich Metaphern, die diese Zusammenhänge So die These Karl Löwiths (vgl. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie [1953]. Kohlhammer: Stuttgart 71979 sowie Karl Löwith: Das Verhängnis des Fortschritts, in: Helmuth Kuhn und Franz Wiedemann (Hrsg.): Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt. Verhandlungen des Siebten Deutschen Kongresses für Philosophie 1962. Anton Pustet: München 1964, S. 15–29). Blumenberg diskutiert Löwiths These in der zweiten Auflage der Legitimität der Neuzeit ausführlicher als noch in der ersten Auflage (vgl. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 35–45). Zur Auseinandersetzung zwischen Löwith und Blumenberg vgl. Robert M. Wallace: Progress, Secularization and Modernity: The Löwith-Blumenberg Debate, in: New German Critique 22 (1981), S. 63–79.

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stiften. Da diese Zusammenhänge nicht immer offenliegen, müssen sie hermeneutisch erschlossen werden. Sie sind das Resultat von Interpretationen. So zeigt sich für Blumenberg das hermeneutische Potenzial des Begriffs der Legitimität darin, die geschilderte Ambivalenz auffangen zu können, aus der heraus die Neuzeit hervorgeht: Er steht im Kontext einer historischen Genealogie und richtet sich zugleich gegen diese. 19 Die Neuzeit kann nicht allein aus sich heraus verstanden werden, insofern sie aus der Problemlage des Mittelalters hervorgeht, und konstituiert sich doch zugleich wider diese Problemlage. Sie findet eigene Mittel und Wege, die das Mittelalter ihr nicht vorzeichnet. Die Hermeneutik sucht bei aller Diskontinuität, den Bruch der Neuzeit mit dem Mittelalter nicht absolut werden zu lassen. Die Kontroverse zwischen Schmitt und Blumenberg verweist damit bereits auf Blumenbergs eigenes hermeneutisches Projekt. Blumenbergs Antwort auf die Frage, wie wir Geschichte noch verstehen können, wenn diese nicht mehr als eine kontinuierliche Entwicklung im Ganzen verstanden werden kann, lautet: in Begriffen und Metaphern, die sich uns viel eher in Geschichten darstellen, als dass sie eine kohärente, in sich konsistente und kontinuierliche Geschichte abbildeten. Sie bilden unter sich Kontexte und Zusammenhänge aus, innerhalb derer sie sich bewegen. Eine Besonderheit dieses Zusammenspiels aus Begriffen und Metaphern sieht Blumenberg darin, dass Metaphern die Hintergründe ausbilden, vor denen die Begriffe ihre Orientierung erfahren und überhaupt erst Bedeutung annehmen. 20 Die Hermeneutik hat diese Kontexte, Zusammenhänge und Hintergründe in den Blick zu nehmen, um die Dynamik der Geschichten nachzuvollziehen, in denen Begriffe und Metaphern ihre Bedeutung für uns annehmen und über die sich Geschichte für uns überhaupt noch zu einem Verständnis bringen lässt.

Vgl. Joachim Renn: Die Verbindlichkeit der Geschichten. Die Geschichte der Neuzeit als eine Genealogie narrativer Geltung, in: Franz Josef Wetz und Hermann Timm (Hrsg.): Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1999, S. 307–326, hier S. 311–314. 20 Blumenberg hebt in der Legitimität der Neuzeit hervor, dass Begriffe an metaphorischen Hintergründen orientiert sind (vgl. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 25–32), so dass es bei Schmitt, der diese Hintergründe ignoriert, zu einem Missbrauch sowie zur Instrumentalisierung von Metaphern komme (vgl. Schmitz und Lepper: Nachwort, S. 294 f.). 19

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Ein weiterer Aspekt, der für die vorliegende Darstellung relevant ist, zeigt sich an dem Punkt, an dem Schmitt Blumenberg vorwirft, er definiere nicht nur die Neuzeit durch die ihr eigenen Begriffe, sondern deute darüber hinaus noch das Mittelalter aus der Perspektive der Neuzeit: Das Mittelalter wird, negativ gewendet, zur Konstitutionsbedingung der neuzeitlichen Rationalität, so dass das Begriffsinventar der neuzeitlichen Rationalität zur Aufwertung der Neuzeit sowie zugleich zur Abwertung des Mittelalters führt. 21 Im Hintergrund dieses Vorwurfs steht ein Problem, das auch unter dem Stichwort der Geschichtlichkeit verhandelt wird, d. h. der Unmöglichkeit, den eigenen historischen Standpunkt objektivieren zu können. Die Tatsache, dass wir die Geschichte stets vom Standpunkt der eigenen Gegenwart aus deuten und jede Deutung dadurch zwangsläufig nicht nur den Standpunkt des Betrachters einbezieht, sondern darüber hinaus dessen Wertungen und Ansichten impliziert, scheint ebenso trivial zu sein wie die daran anschließende Feststellung, dass historische Erkenntnis aufgrund dessen keinen Anspruch auf Objektivität erheben kann – dass diese Feststellung keineswegs trivial ist, wird zu Beginn der vorliegenden Untersuchung mit Husserl zu demonstrieren sein, der gerade die Bindung an den eigenen historischen Standpunkt in der Theorie aufheben möchte, um der Geschichte als Ganzer dort Kontinuität zu verleihen, wo sie sich als bloß empirische nur allzu brüchig zeigt. Entscheidend ist an diesem Punkt, dass der Begriff der Geschichtlichkeit vorschnell zu verdecken droht, worum es, wie mit Blumenberg bereits angedeutet, im Kern des hier vorgestellten hermeneutischen Geschichtsdenkens geht: Es geht um die Frage, wie wir Geschichte noch verstehen und darüber hinaus erklären, d. h. interpretieren und darstellen können, wenn die Geschichte nicht mehr als eine kontinuierliche Fortsetzung der Vergangenheit und Vollstreckung eines vorgegebenen Sinns erscheint. 22 Wenn jede Darstellung von Geschichte zwangsläufig die Position des Interpreten impliziert, verfällt dann nicht jede Darstellung einem bloßen Relativismus und Skeptizismus und damit der Beliebigkeit und Wahllosigkeit bloß individueller Weltanschauungen? Wenn die Geschichte im Ganzen keinen Sinn mehr erkennen lässt, was stiftet dann noch Verbindlichkeit? Vgl. Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 40. Das Verhältnis von erklären und verstehen wird mit Ricœur im Zuge der vorliegenden Untersuchung präziser zu bestimmen sein (vgl. maßgeblich Kap. 4.4.1.).

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Diese Fragen werden zu Beginn der vorliegenden Untersuchung mit der Kritik Husserls an Diltheys Hermeneutik und Weltanschauungstypologie aufgegriffen und thematisiert und führen bereits auf die Hermeneutik Ricœurs; Ricœur nimmt sich dieser Problematik im Kontext seiner Hermeneutik der narrativen Identität an und wird daher mit dem dritten Kapitel als Dialogpartner hinzukommen. Es seien an dieser Stelle zwei Beispiele gegeben, die den Kontext der Debatten illustrieren können, in dem die Hermeneutik Ricœurs sich z. T. bewegt. Das erste Beispiel stammt aus dem Bereich der Geschichtswissenschaft, das zweite aus dem Bereich der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts. Das erste Beispiel entstammt Edward Hallet Carrs Was ist Geschichte? Carr, seines Zeichens Historiker, leitet sein Buch mit folgender Anekdote ein: Im Jahr 1896, noch vor Veröffentlichung der ersten Auflage der Cambridge Modern History hängt der Herausgeber dieses Überblickswerks einem Optimismus an, der dem Diderots und den Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts vergleichbar ist. Diderot zeigt sich zuversichtlich, das über die Jahrhunderte angesammelte Wissen der Menschheit in einer groß angelegten Enzyklopädie zusammenführen und übersichtlich gestalten zu können, um es so aufbewahren und der Zukunft zugänglich machen zu können. 23 Der Herausgeber der Cambridge Modern History bezieht sich zwar nur auf das 19. Jahrhundert, zeigt sich jedoch nicht minder optimistisch, denn jetzt, da alle Informationen zugänglich seien, könnten, eine vernünftige Arbeitsteilung vorausgesetzt, noch die letzten Dokumente erschlossen und jedermann zugänglich gemacht werden. Ziel und Anliegen ist eine abgeschlossene Darstellung der Geschichte des 19. Jahrhunderts. Etwa sechzig Jahre später ist der Herausgeber der zweiten Auflage der Cambridge Modern History schon deutlich weniger optimistisch: Die Hoffnung ein solches Wissen in Abgeschlossenheit zur Darstellung bringen zu können, ist der Überzeugung gewichen, dass historisches Wissen überholbar ist. Der Historiker ist kein unpersönliches Subjekt, das die Geschichte in reiner Objektivität abbildet, sondern jemand, der urteilt – und jedes seiner Urteile enthält persönliche Anschauungen und Wertungen. Der Anspruch auf Vgl. Denis Diderot: Encyclopédie [Art.], in: Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert (Hrsg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 5 Do–Esy. Briasson, David, Le Breton und Durand: Paris 1755, S. 635–648, hier S. 635.

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eine objektive Wahrheit historischer Erkenntnis und damit auch die Möglichkeit einer objektiven Darstellbarkeit der Geschichte wurde aufgegeben. Historisches Wissen impliziert stets die Position und Anschauungen des Historikers, es ist überholbar; die Erkenntnis der Geschichte unterliegt selbst dem Prozess der Geschichte. 24 Die Tatsache, dass die Position und dadurch durchaus auch subjektive Anschauungen und Urteile des Historikers in die Darstellung mit eingehen, scheint selbst für die Historiker mit dem beginnenden 20. Jahrhundert noch nicht selbstverständlich zu sein, wie die Anekdote Carrs veranschaulicht. Diese Art der relativen Abhängigkeit der historischen Erkenntnis wird im 20. Jahrhundert vielfach diskutiert. Im Hintergrund steht hier eine wissenschaftstheoretische Debatte, die maßgeblich durch Carl Gustav Hempel in die Geschichtstheorie eingedrungen ist und die als zweites Beispiel der Illustration dienen soll. Im Kontext dieser Debatte geht es zunächst nur um die Frage, wie die Struktur wissenschaftlicher Erklärungen formal beschaffen sein muss, um Kausalzusammenhänge beschreiben und erklären zu können. 25 Das Modell wissenschaftlicher Erklärungen fragt, warum ein Ereignis eingetreten ist und sucht nach den entsprechenden Gesetzen und Bedingungen, die das Ereignis verursacht haben. 26 Bekannt geworden ist das von Hempel und Oppenheim vorgestellte Modell wissenschaftlicher Erklärungen unter dem Titel des deduktiv-nomologischen Modells, das auch Ricœur in Zeit und Erzählung diskutiert. An dieser Stelle sei nur das erste Beispiel von Hempel und Oppenheim wiedergegeben: Ein Quecksilberthermometer wird in heißes Vgl. Edward Hallet Carr: Was ist Geschichte? [1961], übers. von Siglinde Summerer und Gerda Kurz. W. Kohlhammer: Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 61981, S. 7. 25 Neben Hempel sind Paul Oppenheim, mit dem Hempel gemeinsam publizierte, und Karl Popper mit seinem Werk Logik der Forschung von (vgl. Karl Raimund Popper: Logik der Forschung [1935]. Mohr Siebeck: Tübingen 101994) zu nennen, mit denen diese Debatte im 20. Jahrhundert ihren Ausgang nimmt (zur Debatte vgl. Hans Lenk: Erklären, Erklärung II. Logik der Erklärung [Art.], in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2: D–F, hrsg. von Joachim Ritter, in Verbindung mit Guenther Bien, Jürgen Frese, Wilhelm Goerdt et al., Schwabe & Co.: Basel, Stuttgart 1972, Sp. 693–701; zu Popper im Kontext dieser Debatte vgl. Alan Donagan: Neue Überlegungen zur Popper-Hempel-Theorie, in: Hans Michael Baumgartner und Jörn Rüsen (Hrsg.): Seminar: Geschichte und Theorie. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1976, S. 173–208). 26 Vgl. Carl Gustav Hempel und Paul Oppenheim: Studies in the Logic of Explanation, in: Philosophy of Science 15 (1948) 2, S. 135–175, hier S. 135 f. 24

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Wasser getaucht; nach einem kurzzeitigen Abfall steigt die Quecksilbersäule rasch. Das Modell wissenschaftlicher Erklärungen fragt nach den zugrundeliegenden Bedingungen, die das Phänomen hervorbringen oder gleichzeitig mit diesem in Erscheinung treten: Die ansteigende Temperatur des heißen Wassers erreicht zunächst nur die Glasröhre, die sich ausdehnt und dadurch dem Quecksilber mehr Platz gibt, so dass die Quecksilbersäule sinkt. Sobald jedoch die Wärme das Quecksilber erreicht, dehnt auch dieses sich aus und steigt in der Glasröhre auf, da der Ausdehnungskoeffizient von Quecksilber größer ist als der von Glas. Die dem Ereignis vorausliegenden Bedingungen sind die Tatsache, dass das Thermometer aus einer Glasröhre besteht, die z. T. mit Quecksilber gefüllt ist und die in heißem Wasser erwärmt wird. Zusätzlich zu den Aussagen über die vorausliegenden Bedingungen lässt sich zugleich eine zweite Gruppe von Aussagen ausmachen, die allgemeine Gesetze zum Ausdruck bringen, in diesem Fall über die thermische Ausdehnung von Quecksilber und Glas und die geringe Wärmeleitfähigkeit von Glas. Sind beide Arten von Aussagen adäquat und vollständig formuliert, dann ist das Phänomen unter allgemeine Gesetze gestellt, die Ursachen sind aufgewiesen und das Auftreten des Phänomens ist erklärt. 27 Von Interesse für die vorliegende Untersuchung ist dies insofern, als dass Hempel bereits Anfang der 1940er Jahre versucht hat, diese Struktur wissenschaftlicher Erklärungen als Modell zur Erklärung historischer Ereignisse zu behaupten – noch in Studies in the Logic of Explanation von 1948 suchen Hempel und Oppenheim aufzuzeigen, dass die vorgestellte Struktur wissenschaftlicher Erklärungen nicht lediglich für physikalische Phänomene, sondern selbst noch für menschliches Verhalten gilt. Wenngleich unter Einschränkungen, so sei es doch möglich, über die Struktur wissenschaftlicher Erklärungen allgemeine Regularitäten menschlichen Verhaltens aufzuzeigen, und dies noch mit Blick auf die Entwicklung, die die Geschichte nimmt. 28 Die Argumentationen sowie die nachfolgenden Debatten können an dieser Stelle im Einzelnen nicht verfolgt werden, doch die Provokation ist offensichtlich: Sind die Gesetze bzw. Regularitäten nur allgemein genug gehalten, so die These Hempels, dann sind wir 27 28

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 140–146.

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imstande, historische Ereignisse auf Gesetze zurückzuführen, die denen der Naturwissenschaften in nichts nachstehen. 29 Sind die notwendigen und hinreichenden Bedingungen aufgewiesen, lassen sich Kausalreihen konstruieren, die sich auf historische Entwicklungen anwenden lassen. Die Möglichkeit zur Vorhersagbarkeit von historischen Ereignissen bemisst sich dann an der Genauigkeit und Vollständigkeit der Prämissen und ist für Hempel ungeachtet der spezifischen empirischen Realisierung innerhalb eines gewissen Rahmens durchaus möglich; falsche Vorhersagen gehen dann auf unvollständige Grundannahmen zurück. 30 Die Übertragung dieses Modells kausaler bzw. wissenschaftlicher Erklärungen ist nicht unwidersprochen geblieben. Noch Ricœur zeichnet in Zeit und Erzählung nach, inwieweit dieses Modell im Zuge der Rezeption an seine Grenzen stößt und andere Modelle an dessen Stelle treten, die die historische Entwicklung theoretisch fassen sollen. 31 Ricœurs Auseinandersetzung mit diesen Thesen verfolgt zwei Anliegen, die die folgende Darstellung der Hermeneutik Ricœurs im Kern bestimmen. Erstens entwickelt Ricœur in Abgrenzung zum deduktiv-nomologischen Modell eine Handlungstheorie, die verständlich machen Vgl. Carl Gustav Hempel: The Function of General Laws in History, in: The Journal of Philosophy 39 (1942) 2, S. 35–48, hier insbes. S. 35–37. In Geschichte und Identität diskutiert Angehrn nicht nur das deduktiv-nomologische Modell Hempels und die Übertragung dieses Modells auf historische Ereignisse, sondern bildet darüber hinaus in Teilen die nachfolgenden Debatten ab und diskutiert ausführlich alternative Modelle (vgl. Angehrn: Geschichte und Identität, S. 109–230). 30 Hempel selbst betont, dass es ihm um die Struktur wissenschaftlicher Erklärungen und die Annahme allgemeiner Gesetze geht; die Vorhersagbarkeit individueller empirischer Ereignisse aufgrund der entsprechenden spezifischen und empirischen Umstände ist, so Hempel, niemals präzise möglich, da die empirischen Umstände bereits im Vorfeld vollständig bekannt sein müssten (vgl. Hempel: The Function of General Laws in History, S. 36 f.). Nichtsdestotrotz stehen Hempel zufolge abseits der konkreten empirischen Realisierung im Hintergrund historischer Entwicklungen allgemeine Gesetze. Die ganze Ambivalenz dieses Versuchs, allgemeine Gesetze noch im Bereich menschlichen Handelns und der geschichtlichen Entwicklung zu behaupten, die, wenn sie nur allgemein genug formuliert sind, durchaus Vorhersagbarkeit zulassen, spiegelt sich noch in der Aussage Hempels und Oppenheims wider, dass solche Gesetze zwar allgemein angenommen werden müssen, wenngleich sie gegenwärtig jedoch noch nicht mit der gewünschten Exaktheit formuliert werden können (vgl. Hempel und Oppenheim: Studies in the Logic of Explanation, S. 141). 31 Vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1: Zeit und historische Erzählung [1983] (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, Bd. 18/I), übers. von Rainer Rochlitz. Wilhelm Fink: München 1988, S. 166–180, 181–214. 29

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soll, inwieweit kausale und durchaus noch teleologische Strukturen Einzug in unsere Darstellungsweise von Geschichte halten, wenngleich diese auch keine Gesetze abgeben mögen und die Geschichte trotz allem nicht als ein kontinuierlicher Vollzug eines teleologischen Sinngeschehens gedeutet werden kann. Ricœur spricht sich gegen die Annahme aus, die Geschichte lasse sich auf Gesetze bringen und durch monokausale Ereignisketten erklären. Zudem wird mit Ricœur zu klären sein, was wir eigentlich tun, wenn wir Geschichte analysieren und darstellen, verstehen und erklären. Denn ungeachtet der Kritik an der Übertragung kausaler Strukturen auf die Geschichte, suchen wir historische Ereignisse und Entwicklungen doch trotz allem auf ihre Ursachen zurückzuführen und aufzuzeigen, wie es zu einer bestimmten Entwicklung gekommen ist. Zweitens stellt Ricœur der Struktur der wissenschaftlichen Erklärung ein ihr vorgängiges Modell narrativen Verstehens an die Seite. Das Unterfangen, notwendige und hinreichende Bedingungen historischer Ereignisse aufzuweisen, verliefe sich ins Unendliche, wenn nicht im Vorfeld bereits eine narrative Struktur den Rahmen vorgibt, innerhalb dessen wir historische Entwicklungen zu erklären und verstehen suchen – jedes Ereignis ließe sich auf weitere Ereignisse und Bedingungen zurückführen, die ihrerseits stets weitere Ereignisse und Bedingungen zur Voraussetzung haben usf. Ricœur konterkariert Hempels Versuch, die Offenheit der Geschichte über Gesetze verständlich zu machen, durch ein Modell narrativen Verstehens. Dieses Modell inklusive der diesem Modell impliziten Handlungstheorie herauszuarbeiten, ist eines der Hauptanliegen der folgenden Auseinandersetzung mit Ricœur. Die an dieser Stelle mit Ricœur skizzierte Problemlage verweist auf drei zentrale Aspekte der vorliegenden Untersuchung, die den mit Blumenberg aufgeworfenen Fragen und Problemen korrelieren. Mit Ricœur sowie Blumenberg steht erstens gleichermaßen infrage, wie das, was wir Geschichte nennen, noch verstanden werden kann, wenn uns die Geschichte nicht mehr als ein kontinuierlicher und teleologischer Sinnvollzug entgegentritt. Die Hermeneutiken beider Denker suchen diesem Problem zu begegnen und entwickeln je eigene Instrumentarien, Begriffe und Modelle, die es im Folgenden zu erarbeiten gilt. Zweitens kommt im Zuge dessen die Frage nach dem Zusammenhang von Identität und Geschichte auf. Die eingangs skizzierten Kontroversen, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im 31 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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Rahmen der Säkularisierungsdebatte abspielen, sind Ausdruck und Symptom dieses Zusammenhangs. Im Kontext der Säkularisierungsdebatte rücken Selbstverständigungsprozesse in den Vordergrund, insofern es um die Frage der Bestimmung der Moderne geht und damit stets auch um die des eigenen Standorts und des eigenen Selbstverständnisses. Die Reflexion auf die eigene Gegenwart und Identität setzt zeitliche Distanz voraus. 32 Die Unmöglichkeit zur Objektivierbarkeit des eigenen Standpunkts verweist uns zunächst auf das, was der Gegenwart im Rücken liegt: Unser eigenes Selbstverständnis sieht sich damit stets auf die Geschichte verwiesen. Die Frage nach dem Zusammenhang von Identität und Geschichte macht deutlich, dass die Frage, was wir tun, wenn wir Geschichte erklären und verstehen, darstellen und analysieren – und weshalb wir die Geschichte immer wieder neu schreiben –, nicht bereits damit beantwortet sein kann, dass die Veränderlichkeit und Unabgeschlossenheit der Darstellung der Geschichte ihrerseits auf sich mit der Zeit verändernde Kriterien zurückgeht, die die Auswahl des historischen Materials bestimmen. 33 Das Kriterium der Selektion führt zunächst zwar auf das Material, darüber hinaus auf eine Hermeneutik, die dieses Material erschließt: Der Weg Ricœurs sowie Blumenbergs führt über die Interpretation der Werke der Kultur. Die Hermeneutik geht jedoch über ein bloßes Historisieren und ArVgl. Angehrn: Geschichte und Identität, S. 287 f. Vgl. Adam Schaff: Geschichte und Wahrheit, übers. von Elida Maria Szarota. Europa Verlag: Wien, Frankfurt, Zürich 1970, S. 227. Dieser Aspekt beschäftigt Ricœur bereits in seinem frühen Werk Geschichte und Wahrheit. Ricœur stellt an diesem Punkt der Objektivität der Geschichte die Subjektivität des Historikers an die Seite; ausgehend von der Unmöglichkeit einer rein objektiven Erkenntnis der Geschichte kommt Ricœur über die Subjektivität des Historikers zu einer philosophischen Subjektkonzeption (vgl. Paul Ricœur: Objektivität und Subjektivität in der Geschichte [1953], in: ders.: Geschichte und Wahrheit [1955], übers. von Roman Leick. List: München 1974, S. 39–64). In Geschichte und Wahrheit finden sich bereits zentrale Motive, die Ricœur insbesondere im Kontext der von ihm entwickelten Phänomenologie des Gedächtnisses wiederaufnimmt und weiterentwickelt, die er in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen erarbeitet (zu diesen frühen Schriften mit Blick auf die Frage der Geschichte bei Ricœur sowie nach dem methodischen Zugriff vgl. Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn, S. 45–61; zur Kontinuität des Geschichtsdenkens im Werk Ricœurs vgl. Domenico Jervolino: Ricœur et la pensée de l’histoire. Entre temps et mémoire, in: Stephan Ort und Andris Breitling (Hrsg.): Vor dem Text. Hermeneutik und Phänomenologie im Denken Ricœurs (Schriftenreihe für Philosophie und Kulturtheorie, Bd. 4). Technische Universität Berlin: Berlin 2002, S. 121– 138).

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rangieren historischen Materials hinaus. Im Zuge der Interpretation erkennen wir in den Werken etwas genuin Menschliches, das wir uns anzueignen imstande sind. Die Hermeneutik, wie sie im Folgenden zunächst mit Blumenberg, dann mit Ricœur entwickelt wird, steht in der Spannung zwischen dem Anspruch der Zeugnisschicht des Historischen, auf eine historische Wirklichkeit zu verweisen, und dem Anspruch über die Geschichte, die längst vergangen ist, und die Werke der Kultur ein mögliches Selbstverständnis auszubilden. Diese Darstellung kulminiert im Folgenden in Ricœurs Begriff der narrativen Identität, der ebendieses Verhältnis zwischen Selbst, Kultur und Geschichte zum Ausdruck bringt. Der dritte Aspekt, der nahelegt, Ricœur und Blumenberg ins Gespräch miteinander zu bringen, steht im Hintergrund der bisher angesprochenen Probleme: das Problem der Kontingenz und damit die Frage, wie mit einer Wirklichkeit und Geschichte umzugehen sein kann, die uns kontingent erscheint. Dass uns die Wirklichkeit und die Geschichte kontingent erscheinen und darüber hinaus Geschichte und Identität in einem solch engen Zusammenhang stehen, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Problemlage, die Blumenberg zufolge erst mit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit aufkommt. Sie entsteht innerhalb jenes Bruchs, der die Geschichte nicht mehr als einen kohärenten und kontinuierlichen Gesamtzusammenhang erkennen lässt. An die Stelle der Geschichte rücken deshalb Geschichten. Die Modernität der Moderne erweist sich an ihrer Perspektivität und Pluralität, mit der die eigene Identitätsstiftung einen Umgang finden muss. 34 Der Zweifel an der Objektivität historischer Erkenntnis und die Anerkennung einer Pluralität von Geschichtsdeutungen führen auf den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung. Ihren Ausgang nimmt die vorliegende Untersuchung bei einer Rekonstruktion der husserlschen Geschichtsauffassung. So sehr die Phänomenologie Husserls das Denken beider geprägt haben mag, so treffen sich Ricœur und Blumenberg doch in ihrer Kritik an Husserls Geschichtsauffassung. Im Folgenden ist der Aufbau der vorliegenden Arbeit zu skizzieren.

Vgl. Jürgen Goldstein: Deutung und Entwurf. Perspektiven der historischen Vernunft, in: Franz Josef Wetz und Hermann Timm (Hrsg.): Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1999, S. 207–225, hier S. 207 f.

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2.) In einem ersten Schritt wird mit einer Rekonstruktion der Geschichtsauffassung Husserls (Kap. 2.) ein Problemaufriss gegeben, von dem ausgehend die Hermeneutik Blumenbergs sowie die Hermeneutik Ricœurs entwickelt werden. Diese Darstellung dient als Kontrastfolie, von der die Hermeneutik Ricœurs sowie die Blumenbergs abzugrenzen sind, sie gewinnen dadurch an Konturen. Die Darstellung der husserlschen Geschichtsauffassung ist eine Rekonstruktion und erhebt nicht den Anspruch auf Originalität; vielmehr wird Husserl von Beginn an einer kritischen Perspektive unterworfen, die sich aus den Interpretationen Ricœurs und Blumenbergs ergibt. Diese Rekonstruktion gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil führt Husserls Historismus- und Psychologismuskritik am Beispiel Diltheys vor (2.1.) – Husserls Kritik an Dilthey begründet erstens das Anliegen seiner eigenen Geschichtsauffassung, insofern sich Husserl an diesem Punkt gegen einen Skeptizismus und Relativismus zur Wehr setzt, den er in der Philosophie Diltheys in Form eines Psychologismus und Historismus realisiert sieht. Husserl setzt diesem Skeptizismus und Relativismus eine logische bzw. erkenntnistheoretische Unterscheidung entgegen, die einen Rückfall in einen Psychologismus und Historismus verhindern soll; an ebendiese Unterscheidung – zwischen Bedeutung und Erfüllung – sowie die Kritik Husserls an Dilthey schließt Ricœur an. Der zweite Teil dieses Kapitels (2.2.) entwickelt Husserls Geschichtsauffassung. Diese entspringt den von Husserl entwickelten Grundlagen der phänomenologischen Erkenntnistheorie. Ein wesentliches Moment dieser Erkenntnistheorie ist die teleologische Orientierung der Begriffsbildung, die Husserl zufolge die subjektive Art und Weise der Erkenntnis von Gegenständen leitet. Diese erkenntnisleitende Grundstruktur überträgt Husserl auf die Geschichte des europäischen Denkens im Ganzen. Das Resultat ist eine teleologische Geschichtsauffassung, gegen die sich Ricœur sowie Blumenberg gleichermaßen wenden. Eine anschließende Kritik, die in erster Linie mit Blumenberg geführt wird, beschließt das Kapitel zur husserlschen Geschichtsteleologie (2.3.). Auf der einen Seite dienen die ersten beiden Unterkapitel (2.1. und 2.2.) dazu, die Begriffe Husserls herauszuarbeiten, die Ricœur und Blumenberg, ihrer kritischen Abwendung von der husserlschen Geschichtsteleologie zum Trotz, ihrer eigenen Hermeneutik jeweils produktiv integrieren – mit Blick auf Ricœur ist dies die Unterscheidung zwischen Bedeutung und Erfüllung, mit Blick auf Blumenberg 34 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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der Begriff der Lebenswelt. Auf der anderen Seite bildet die Kritik an Husserls Geschichtsauffassung den Ausgangspunkt der weiteren Darstellung, insofern sich mit Ricœur sowie Blumenberg gleichermaßen das zentrale Problem abzeichnet, dem sich eine Hermeneutik auf dem Boden der Moderne zu stellen hat: Die Auffassung einer im Ganzen verfassten teleologischen Geschichte unterdrückt die Kontingenz der Geschichte. Im Gegensatz dazu gilt es mit Ricœur sowie mit Blumenberg, die Kontingenz anzuerkennen und einen Umgang mit ihr zu finden. Steht die Philosophie bei Husserl unter dem Titel einer strengen Wissenschaft, so konstituiert sie sich bei Ricœur und Blumenberg in einem gegenläufigen Programm einer Hermeneutik, das die Bereiche der Rhetorik und Poetik gleichermaßen mit einbezieht. In Anschluss an die Kritik der husserlschen Geschichtsteleologie erfolgt die Darstellung der Hermeneutik Blumenbergs (Kap. 3.). Diese hebt von einer Rhetorik ab (Kap. 3.1.), die bereits die wesentlichen Strukturen vorgibt, derer sich die Hermeneutik Blumenbergs annimmt. Der Rhetorik ist, unter Rekurs auf Husserl, eine Lebenswelttheorie zu integrieren. Im Kontext dieser Lebenswelttheorie lässt sich bereits in einem ersten Schritt Blumenbergs Verständnis der Metapher entwickeln, das in einem zweiten Schritt über den Symbolbegriff Kants in einer Darstellung der absoluten Metapher Blumenbergs kulminiert (Kap. 3.2.). Metaphern erzeugen im Wechselspiel mit der Lebenswelt eine eigene Dynamik, die Blumenberg zufolge die europäische Geistes- und Ideengeschichte bestimmt. Die Rhetorik führt an diesem Punkt auf die Hermeneutik, die ebendieser Dynamik zu begegnen sucht. Die zentralen Begriffe und Funktionen dieser Hermeneutik sind im Anschluss darzulegen (Kap. 3.3.). Als zentraler Begriff erweist sich in diesem Kontext der Wirklichkeitsbegriff Blumenbergs. Zusätzlich zu Epochenbegriffen stellt dieser eigene Ordnungszusammenhänge her, die die geschichtliche Dynamik auf den Begriff zu bringen und zu strukturieren suchen. Das Zentrum der historischen Hermeneutik bzw. der Phänomenologie der Geschichte, wie Blumenberg diese in Anlehnung an die Phänomenologie Husserls auch nennt, bilden die historischen Wirklichkeitsbegriffe (Kap. 3.4.). Diese gehen zum einen aus den Strukturen der Lebenswelt hervor, zum anderen interferieren sie mit weiteren Funktionen und Begriffen der Hermeneutik Blumenbergs: mit Metaphern, Begriffen, Paradigmen und nicht zuletzt mit Epochenzusammenhängen. Diese Funktionen und Begriffe sollen die Dynamik und

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Diskontinuität der Geschichte auffangen und deren Darstellbarkeit gewährleisten können. Die historischen Wirklichkeitsbegriffe bilden Zentren aus, um die sich die diversen Positionen einer Epoche gruppieren lassen. Jedes schriftlich tradierte Zeugnis der Vergangenheit versteht Blumenberg als eine indirekte Stellungnahme zu diesen Wirklichkeitsbegriffen, die sich über die Interpretation der Werke der Geistes- und Ideengeschichte erschließen lassen. Diese Zentren, die die historischen Wirklichkeitsbegriffe ausbilden, sind nicht zwangsläufig auf die Epochengrenzen restringiert und können sich über diese hinwegsetzen. Entscheidend ist, dass mit Blumenberg an diesem Punkt der vorliegenden Untersuchung der Epochenumbruch vom Mittelalter zur Neuzeit eingeholt wird – Hermeneutik ist für Blumenberg ein Verfahren, das die historischen Zusammenhänge einzubeziehen und Genealogien nachzuzeichnen hat. Mit diesem Epochenumbruch kommen die für Blumenbergs Verständnis der Moderne zentralen Aspekte auf, die auch für den weiteren Fortgang mit Blick auf Ricœur von Bedeutung sind. Erstens erweist sich erst mit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit der Zusammenhang von Geschichte und Identität überhaupt als problematisch; die Strategie der husserlschen Geschichtsteleologie, die dazu dient, die Kontingenz zu unterdrücken, tritt an diesem Punkt allererst in aller Deutlichkeit zutage. Zweitens steht der Begriff der Kontingenz in der Darstellung Blumenbergs zur Zeit des Mittelalters noch für die Abhängigkeit der Welt vom Willen Gottes. Erst mit der Abgrenzung der Neuzeit gegenüber dem Mittelalter konsolidiert der Kontingenzbegriff sich in seiner für die Neuzeit und Moderne zentralen Bedeutung von Zufälligkeit. Ist die Welt mit der Neuzeit nicht länger abhängig vom Willen Gottes, so wird zugleich die Kontingenz freigesetzt. Der Mensch sieht sich nunmehr gezwungen, selbständig einen Umgang mit der Kontingenz zu finden, die zunächst als Bedrängnis empfunden wird. Laut Blumenberg bringt die Neuzeit zwei Strategien hervor, die dazu dienen, diesem Bedrängnis Abhilfe zu schaffen: die Wissenschaft und Technik auf der einen, die Kunst auf der anderen Seite. Blumenbergs Weg führt über eine Abgrenzung der neuzeitlichen Kunst gegenüber der Wissenschaft auf die moderne Ästhetik und Poetik (Kap. 3.5.), von dieser zweckt noch Blumenbergs eigene Hermeneutik ab. Die Hermeneutik geht an diesem Punkt in die Ästhetik über, wenn auch nicht in ihr auf. Es wird deshalb abschließend noch einmal auf die Hermeneutik zurückzukommen und zu 36 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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zeigen sein, inwieweit sich der Zusammenhang von Geschichte und Identität bei Blumenberg im Kontext einer Hermeneutik und Kulturphilosophie aufklären lässt (Kap. 3.6.). Wesentliche Aspekte, die Blumenberg im Zuge seiner Analysen aufwirft, lassen sich im Anschluss mit Ricœur aufgreifen und im Kontext der Hermeneutik Ricœurs weiter verfolgen: Zu diesen Aspekten zählen im Wesentlichen die Kontingenz der Wirklichkeit und Geschichte in ihrer Bedeutung von Zufälligkeit, die der Hermeneutik Ricœurs zugrunde liegt – Blumenbergs historische Analysen können nicht nur verdeutlichen, wie der Kontingenzbegriff die Bedeutung von Zufälligkeit angenommen hat, sondern auch, wie es dazu kommen konnte, dass dieser ins Zentrum des modernen Selbst- und Wirklichkeitsverständnisses aufgerückt ist. Die historische Genese des Kontingenzbegriffs spielt für Ricœur keine Rolle, vielmehr setzt er diesen in der Bedeutung von Zufälligkeit voraus. Mit Ricœur wird noch einmal die Frage der Teleologie der Geschichte aufzugreifen und nicht zuletzt der Zusammenhang von Geschichte und Identität weiter zu verfolgen sein. Die Darstellung der Hermeneutik Ricœurs nimmt sich der skizzierten, mit Blumenberg aufgeworfenen Probleme an und ist im Anschluss an die Darstellung der Hermeneutik Blumenbergs zu entwickeln (Kap. 4.). Steht im Folgenden maßgeblich Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität im Zentrum der Untersuchung, so wird diese in einem ersten Schritt in einem größeren Kontext des hermeneutischen Denkens Ricœurs betrachtet (Kap. 4.1.). Unter dem Titel der Interpretation entwickelt Ricœur eine Symbolhermeneutik, die zugleich eine Kulturphilosophie intendiert. Deren Darstellung dient erstens dazu, die Grenzen aufzuzeigen, innerhalb derer die Hermeneutik der narrativen Identität operiert. Zweitens lassen sich an diesem Punkt bereits die wesentlichen Merkmale der Hermeneutik der narrativen Identität aufweisen, auf die es in der vorliegenden Untersuchung im Folgenden ankommt: die teleologische Struktur unseres Geistes und die poetische Imagination. In einem zweiten Schritt wird mit Ricœur die Funktion der Metapher in den Blick genommen (Kap. 4.2.). Diese bildet das Fundament der narrativen Funktion, die im Kontext der Hermeneutik der narrativen Identität maßgeblich zur Ausbildung der narrativen Identität dient. Die Funktion der Metapher und die narrative Funktion sind zusammenzuführen, da ohne die Metapher im Sinne

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Ricœurs keine Möglichkeit zur Ausbildung einer narrativen Identität gegeben ist. In Anschluss daran wird die narrative Funktion in den Blick genommen (Kap. 4.3.). Den Ausgangspunkt bildet hier Ricœurs Diagnose der Dissonanz der menschlichen Zeiterfahrung: Der Mensch sieht sich stets auf die Vergangenheit und die Zukunft, die Erinnerung und die Erwartung verwiesen und steht dadurch in einer Spannung, die sich in der empirischen Lebenswelt selbst nicht auflösen lässt. An diesem Punkt tritt die Narrativität auf den Plan, die Ricœur zufolge angemessen auf diese Spannung zu reagieren weiß, indem sie die zeitliche Erfahrung narrativ kon- und refiguriert und dadurch verständlich machen kann, was sich im alltäglichen Lebensvollzug noch dem Verständnis entzieht. Die narrative Funktion besteht im Wesentlichen aus der Struktur und Funktion der dreifachen Mimesis, die aus Ricœurs Interpretation des aristotelischen Mimesis-Begriffs resultiert, sowie aus einem Anschluss Ricœurs an das kantische Vermögen der produktiven Einbildungskraft und den Schematismus Kants. Dieses theoretische Grundgerüst der Narrativitätstheorie sucht auf die eingangs aufgewiesene Ambivalenz der Zeiterfahrung zu reagieren und ist mit Ricœur im Anschluss auf die beiden großen narrativen Modi der europäischen Tradition anzuwenden: auf die Geschichtsschreibung und die narrative Fiktion (Kap. 4.4.). Im Zuge dessen gilt es, die Handlungstheorie Ricœurs herauszuarbeiten, die verständlich machen kann, was wir eigentlich tun, wenn wir auf dem Boden der Kontingenz Geschichte interpretieren, d. h. erklären und verstehen und darzustellen suchen. Es ist an diesem Punkt an die zuvor in Kap. 4.1. gewonnene teleologische Struktur anzuschließen. Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität ist eine Aneignungshermeneutik, d. h. sie dient der Aneignung der Geschichte und Kultur zum Zwecke der Ausbildung einer eigenen, in diesem Fall narrativen Identität. Sie nimmt ihren Ausgang mit einer Interpretation der aristotelischen Poetik und ist insofern zu weiten Teilen selbst eine Poetik. Der Übergang der theoretischen Auseinandersetzungen Ricœurs mit der Geschichtstheorie und der narrativen Fiktion vollzieht sich mit dem Übergang zu Kap. 4.5., der zugleich für einen Übergang von der Poetik zur Rhetorik Ricœurs steht. Letztere steht für die Zusammenführung der bisher ausgearbeiteten theoretischen Funktionen und Begriffe der Hermeneutik Ricœurs und bereitet den

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Begriff der narrativen Identität vor, den es in einem letzten Schritt zu entwickeln gilt (Kap. 4.6.). Bereits Angehrn stellt zu Beginn seiner Untersuchung über Geschichte und Identität die Frage, ob der Begriff der Identität überhaupt glücklich gewählt ist, um das Verhältnis von Geschichte und Identität angemessen zu beschreiben – ebendieses Verhältnis bestimmt auch die vorliegenden Untersuchung. 35 Sowohl mit Blumenberg als auch mit Ricœur geht es in dieser Abhandlung um die Ausbildung eines möglichen Selbstverständnisses, das im Zuge hermeneutischer Interpretationsverfahren gewonnen wird – es geht um Verhältnisse, in denen das Selbst in Auseinandersetzung mit seiner Wirklichkeit, seiner Kultur und Geschichte steht. Fungiert der Begriff des Selbstverständnisses durchaus bei beiden synonym zum Begriff der Identität, so bildet letzterer den Fluchtpunkt von Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität. In der Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und Geschichte fällt der Begriff der narrativen Identität am Ende eher ab und bleibt der Frage nach dem Verhältnis, in dem das Selbst zu seiner Wirklichkeit, Geschichte und Kultur steht, nachgeordnet. Die vorliegende Untersuchung folgt hierin der Darstellung Ricœurs in Zeit und Erzählung. Die narrative Identität ist das Ergebnis fortwährender Auseinandersetzungen mit der eigenen Tradition, die zentrale Funktion bildet im Zuge dessen die Erzählung. Erzählungen sind integrativ, sie konturieren die eigene Identität und integrieren sie den Kontexten, auf die sich die eigene Identität innerhalb der Geschichte und Kultur verwiesen sieht. Da wir stets in diesen Kontexten stehen, gelangen wir nie zu einer abschließenden, substanziellen Auffassung oder feststehenden Form von Identität. Es wird zu verfolgen sein, welche Möglichkeiten der Identitätsstiftung uns im Rahmen einer Hermeneutik und Kulturphilosophie bleiben. Die Hermeneutik Blumenbergs sowie Ricœurs sind abschließend zusammenzuführen und miteinander zu konfrontieren (Kap. 5.). Vor dem Hintergrund der dargelegten Struktur der Arbeit, ist die Hauptthese nun nochmals zu präzisieren. 3.) In Abkehr von der husserlschen Geschichtsteleologie gilt es, einen Umgang mit einer Geschichte zu finden, die nunmehr kontingent erscheint. Da Husserl die Identität eng an die Geschichte bindet, wird 35

Vgl. Angehrn: Geschichte und Identität, S. 8.

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in Abkehr von Husserls Geschichtsauffassung zugleich die Frage nach der Identität neu zu stellen sein. Wenn Identität und Geschichte sich nach wie vor aufeinander verwiesen sehen, die Geschichte jedoch, jeder Linearität und Teleologie entkleidet, geöffnet wird, dann bleibt die Frage, wie eine Identität noch zu greifen sein kann, die sich auf eine solch offene Form von Geschichte verwiesen sieht. Die Hauptthese der vorliegenden Arbeit lautet, dass ein und dieselbe Funktion Geschichte und Identität miteinander zu vermitteln imstande ist: die Metapher. Aus Perspektive der vorliegenden Arbeit liegt Husserls Versäumnis darin, nicht auf eine Ästhetik bzw. Poetik, sondern noch ganz auf ein neuzeitliches Methodenbewusstsein gesetzt zu haben, das die Geschichte einfangen und regulieren soll. In einer Gegenbewegung zu Husserl ist Philosophie sowohl für Ricœur als auch für Blumenberg Hermeneutik zwischen Rhetorik und Poetik. Die Hermeneutik, die die Rhetorik und die Poetik gleichermaßen einbezieht, wird jeweils mit Blumenberg sowie Ricœur zu entwickeln und darzustellen sein. Für Blumenberg tragen Metaphern einen historischen Index, d. h. sie bilden die Dynamik der europäischen Geistes- und Ideengeschichte ab. Über die Interpretation von Metaphern erhalten wir deshalb Aufschluss über die Geschichte, die in ihrer Kontingenz selbst nicht greifbar wird und auf dem Boden der Moderne zu einem metaphysischen Restbegriff verkommt. Das bedeutet zunächst nur, dass der Begriff einer Geschichte, die als ein Ganzes und Einheitliches verstanden wird, keine wesentliche Funktion für die Interpretation des eigenen Selbst- und Wirklichkeitsverständnisses mehr besitzt. Die Geschichte ist als Ganze nicht mehr zu greifen und droht, die Identität zu fragmentieren. Sie stellt sich nunmehr in Prozessen von Wechselwirkungen der Individuen untereinander dar, die Blumenberg auf die Formel rhetorischer Wirkungszusammenhänge bringt. Diese lassen sich maßgeblich über Metaphern in den Blick nehmen, da Metaphern, aller Kontingenz zum Trotz, Zusammenhänge herstellen; dass Metaphern zugleich Kontingenz stiften, verweist bereits auf die Offenheit, der die Hermeneutik Blumenbergs gegenübersteht. Darüber hinaus deutet Blumenberg bereits an, dass die Metapher nicht nur aufgrund ihrer geschichtlichen Dynamik genauer in den Blick zu nehmen ist, sondern zugleich eine identitätsstiftende Funktion besitzt. Blumenberg selbst hat diesen Aspekt theoretisch nicht ausgearbeitet. Es ist Ricœur, der ausgehend von der Funktion der Metapher eine Theorie narrativer Identität erarbeitet. Die Meta40 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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pher bildet das Fundament, auf dem Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität aufbaut. Über Blumenberg sowie Ricœur kann gezeigt werden, dass der Zusammenhang von Identität und Geschichte, über die Funktion der Metapher vermittelt werden kann. 4.) Um auf die Methode der vorliegenden Untersuchung zu sprechen zu kommen, gilt es, einen wesentlichen Unterschied zwischen der Hermeneutik Ricœurs und der Blumenbergs herauszustellen, der eingangs bereits genannt wurde: Blumenbergs Hermeneutik ist keine Aneignungshermeneutik, wie sie Ricœur erarbeitet. Es geht Blumenberg mit seiner Hermeneutik um ein Verstehen der historischen Dynamik der europäischen Geistes- und Ideengeschichte, die in Form rhetorischer Wirkungszusammenhänge auftritt. Was sich an der Geschichte noch verstehen lässt, ist nur über Kontexte zu erschließen und lässt sich nie aus einzelnen Werken heraus verstehen. Blumenberg geht zwar davon aus, dass wir durchaus verstehen bzw. tatsächlich immer schon verstanden haben, doch stünde uns stets klar und eindeutig vor Augen, was es denn ist, das wir und andere verstehen, dann bedürfte es keiner Hermeneutik. Für Blumenberg ist der Versuch zu erklären, was immer schon verstanden wurde, ein nachträglicher Rationalisierungsprozess und in ebendiesen Prozess schleichen sich Ungenauigkeiten und Vagheiten, perspektivische Verzerrungen, Missverständnisse und Mutmaßungen ein. Der Hermeneutik kommt bei Blumenberg deshalb eine doppelte Aufgabe zu: Durchsetzt von phänomenologischen Bestandsstücken hat sie erstens die Selbstverständlichen zu durchleuchten, die den Boden bilden, von dem unser Handeln abhebt. Dieser Weg führt über die Dynamik der zentralen Metaphern und Begriffe der europäischen Geistes- und Ideengeschichte. Diese Selbstverständlichkeiten sind es auch, die deutlich machen können, was eigentlich immer schon verstanden wurde. Zweitens sorgt die Hermeneutik dafür, dass die gewonnenen Erkenntnisse bei allem Nicht-Verstehen nicht unverbunden nebeneinander stehen bleiben. Die Wege des Verstehens, des Nicht- und Missverstehens sind mannigfaltig, es sind Umwege, auf denen der Mensch zu sich selbst kommt und ein mögliches Selbstverständnis ausbildet. 36 Verstärkt durch die Poetik führt der Weg über Es geht im Folgenden nicht um die Frage des Nicht- oder Missverstehens – eine Frage, die der modernen Hermeneutik von Beginn an eingeschrieben ist (vgl. Hans Robert Jauß: Wege des Verstehens. Wilhelm Fink: München 1994, S. 18 f.; zur Vor-

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die Umwege der Geschichte des Denkens und des Geistes einen dezentrierenden Effekt herbei, der hermeneutisch eingefangen wird: Die Hermeneutik erzeugt auch bei Blumenberg identitätsstiftende Kohäsionseffekte, wenngleich es Ricœur ist, der explizit eine Hermeneutik der Identitätsbildung ausarbeitet. Ricœur geht davon aus, dass die Prozesse des Verstehens in der Regel gelingen und insofern auch gelingende Aneignungsprozesse darstellen. In Frage steht für ihn, wie dieser Prozess des Verstehens gelingen kann, wenn es nicht die Subjekte hinter den Werken und Äußerungen sind, die wir verstehen. Ricœur übernimmt an diesem Punkt die Kritik Husserls an Dilthey, wie sie zu Beginn der vorliegenden Untersuchung entwickelt wird: Wenn es nicht die Beweggründe und Motivationsrückhalte der Individuen sind, die wir hinter den Werken erblicken, was genau ist es dann, das wir interpretieren, d. h. zu erklären und verstehen suchen? Diese Differenz zwischen den beiden hermeneutischen Ansätzen scheint nur auf den ersten Blick einen Graben aufzutun. Im Kontext seiner Narrativitätstheorie entwickelt Ricœur ein Modell, das über eine Darstellung der Prozesse hermeneutischen Verstehens und Erklärens hinaus auch Blumenbergs hermeneutischen Zugriff auf die Geistes- und Ideengeschichte erhellen kann. Ricœur implantiert der Narrativitätstheorie an dieser Stelle eine Handlungstheorie: Angesichts einer Geschichte, die uns als kontingent entgegentritt, die damit keinem linearen oder teleologischen Sinnvollzug entspricht, sind wir es, die eingreifen, um aus der Geschichte, in der wir leben, Geschichte zu machen. Blumenbergs Hermeneutik und Ricœurs werden zum Schluss zusammenzuführen sein. Diese Skizze soll verdeutlichen, dass die vorliegende Untersuchung an Problemzusammenhängen orientiert ist. Sie stellt keinen bloßen Vergleich dar. Es wird mit der Kritik Husserls an Dilthey und der Darstellung der husserlschen Geschichtsteleologie ein Problemzusammenhang eröffnet, der zugleich den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung darstellt. Die Auseinandersetzung mit der Hermeneutik Blumenbergs ist im Wesentlichen eine Auseinanderset-

geschichte des wissenschaftlich-philosophischen Begriffs des Verstehens vgl. Karl Otto Apel: Das Verstehen (eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte), in: Archiv für Begriffsgeschichte 1 (1955), S. 142–199) –, sondern um die Frage, was wir Blumenberg zufolge eigentlich verstehen, wenn wir interpretieren und im Zuge dessen historisch kontextualisieren.

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zung mit der Frage nach dem Umgang mit der Kontingenz der Geschichte. Ist die historische Genese des Kontingenzbegriffs mit Blumenberg dargestellt und als ein neuzeitliches Problem aufgewiesen, dann tritt im Anschluss daran, d. h. mit Ende des BlumenbergKapitels, auch der Problemzusammenhang zwischen Identität und Geschichte deutlicher hervor. Dieser bildet seinerseits den Ausgangspunkt für die Darstellung der Hermeneutik Ricœurs. Die vorliegende Untersuchung orientiert sich maßgeblich an den Texten der genannten Denker. Dilthey und insbesondere Husserl bilden den Ausgangspunkt, Blumenberg und Ricœur sind die beiden Diskutanten zum Thema Hermeneutik in den beiden Hauptteilen. Der Kontext der vorliegenden Untersuchung ergibt sich aus den genannten Themen, die aus den Texten herausgearbeitet werden. Im Fazit werden das hermeneutische Denken Ricœurs und Blumenbergs mit Blick auf den Zusammenhang von Geschichte und Identität zusammengeführt und miteinander konfrontiert. Gemeinsames Thema ist die Frage nach Modellen, die uns erstens die kontingente Geschichte verstehen lassen und zweitens verständlich machen können, was wir eigentlich tun, wenn wir Geschichte interpretieren, d. h. erklären und verstehen sowie darstellen sowie die Frage nach einem möglichen Selbstverständnis und der eigenen Identität innerhalb einer kontingenten Wirklichkeit. Mit Blumenberg rückt das Thema der gelebten Geschichte, mit Ricœur das der narrativen Identität ins Zentrum der Aufmerksamkeit. 5.) Es liegt bisher eine Monographie vor, die Ricœur und Blumenberg miteinander in Verbindung bringt, Hubert Dumbergers Lebenssinn und Gerechtigkeit. 37 Dumberger verweist auf die komplementären Züge im Denken beider, 38 verfolgt jedoch ein praktisches Anliegen, dem in der vorliegenden Untersuchung nicht nachgegangen wird: Ricœur und Blumenberg sollen Dumberger die Grundlagen bieten, um einen Erklärungsansatz für das Phänomen der sozialen Ungleichheit zu erarbeiten. Die vorliegende Untersuchung nähert sich der Arbeit Dumbergers insofern, als dass Dumberger sowohl bei Ricœur als auch bei Blumenberg durchaus nach dem Begriff der Identität fragt; Vgl. Hubert Dumberger: Lebenssinn und Gerechtigkeit. Paul Ricœur und Hans Blumenberg im Kontext (Factibilitas. Schriften zur Sozialethik und Sozialphilosophie, Bd. 2). Altius: Erkelenz 2011. 38 Vgl. ebd., S. 17. 37

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es wird im Folgenden an den entsprechenden Stellen auf Dumbergers Untersuchung Bezug zu nehmen sein. Dennoch unterscheidet sich die vorliegende Untersuchung deutlich von Dumbergers Ansatz: Da Blumenberg keine explizite Ethik formuliert hat, 39 nutzt Dumberger Ricœur, um eine ethische und praktische Dimension auszuarbeiten, um das Phänomen der sozialen Ungleichheit zu fassen zu bekommen; dementsprechend rücken bei Dumberger insbesondere mit Blick auf Ricœur Schriften ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die in der vorliegenden Untersuchung von untergeordnetem Interesse sind. Die vorliegende Untersuchung bezieht sich maßgeblich auf Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität. Diese gilt zumeist, so auch Dumberger, nur als ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Entwicklung der praktischen Philosophie und Ethik Ricœurs und wird von Dumberger entsprechend kurz behandelt. Philipp Stoellger hat in seiner Dissertation Blumenberg mit Ricœur in Verbindung gebracht und stellt die Narrativitätstheorie Ricœurs der Lebenswelthermeneutik Blumenbergs voran. 40 Seine These lautet, dass Ricœurs Narrativitätstheorie ein Modell darstellt, das exakt den Prozess beschreibt, den Blumenbergs »Metapherngeschichten« in Gang setzen: Blumenbergs Texte wollen »den Leser ›unterbrechen‹, in ihre Welt hineinlocken und ihn als einen Anderen wieder zurückkehren lassen«. 41 Stoellger selbst hat diesen Bezug zwischen Ricœur und Blumenberg jedoch nicht systematisch ausgearbeitet. Ein weiterer, kurzer Hinweis auf die Komplementarität der Philosophie Ricœurs sowie Blumenbergs findet sich in einem Aufsatz Renns, demzufolge Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität Probleme systematisch behandelt, die auch Blumenberg in seiner Philosophie aufwirft. Renn zufolge kann Ricœur deshalb Problemlagen erhellen, die in der Philosophie Blumenbergs entstehen; mit Blick auf diese Problemlagen bei Blumenberg verweist Renn erstens auf die Divergenz von Lebenszeit und Weltzeit sowie zweitens auf das Verhältnis von Geschichte und Identität. 42 Beide Problemlagen, insVgl. ebd., S. 92, 141. Philipp Stoellger: Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Bd. 39). Mohr Siebeck: Tübingen 2000, hier S. 243–252. 41 Ebd., S. 251. 42 Vgl. Renn: Die Verbindlichkeit der Geschichten, S. 322. 39 40

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besondere letztere, werden im Folgenden behandelt und aufgenommen. Auch für den Aufsatz Renns gilt, dass keine systematische Auseinandersetzung zwischen Blumenberg und Ricœur gesucht wird, es bleibt auch hier bei einem Hinweis. Diesen Hinweisen Stoellgers sowie Renns wird in der vorliegenden Untersuchung nachzugehen sein. Mit Blick auf die Forschung zu Blumenberg sowie zu Ricœur sei an dieser Stelle zusätzlich deutlich gemacht, worin sich die vorliegende Untersuchung von der bisherigen Forschung unterscheidet. Oliver Müller moniert im Jahr 2005 noch, dass Blumenberg in den gängigen Arbeiten zu Themen der Anthropologie und Kulturanthropologie nicht berücksichtigt wird. 43 Dieses Bild hat sich seither entschieden gewandelt. Die Blumenberg-Forschung setzt zu weiten Teilen auf die Anthropologie Blumenbergs und betrachtet diese als Fluchtpunkt seines Denkens. Diese Anthropologie wird aus verschiedenen Perspektiven unter verschiedenen Titeln in den Blick genommen und als Anthropologie, 44 Kulturanthropologie, 45 phänomenologische Anthropologie 46 oder genetische Phänomenologie 47 rekonstruiert. Dieser Weg, den Blumenberg selbst nahelegen mag, Vgl. Müller: Sorge um die Vernunft, S. 15. Vgl. Rebekka A. Klein (Hrsg.): Auf Distanz zur Natur. Philosophische und theologische Perspektiven in Hans Blumenbergs Anthropologie (Interpretation Interdisziplinär, Bd. 7). Königshausen & Neumann: Würzburg 2009. 45 Müller stellt seine Untersuchung zwar unter den Titel einer phänomenologischen Anthropologie, verweist jedoch auf die Nähe Blumenbergs zur Kulturanthropologie (vgl. Müller: Sorge um die Vernunft, S. 22–31). David Adams ordnet Blumenberg bereits früh der Anthropologie zu (vgl. David Adams: Metaphern für Menschen. Die Entwicklung der anthropologischen Metaphorologie Hans Blumenbergs 8 (1990), S. 171–191). Den Bezug von Blumenbergs Metaphorologie zur Anthropologie stellt auch Jürg Haefliger deutlich heraus (vgl. Jürg Haefliger: Imaginationssysteme. Erkenntnistheoretische, anthropologische und mentalitätshistorische Aspekte der Metaphorologie Hans Blumenbergs (Europäische Hochschulschriften. Reihe XX Philosophie, Bd. 518). Peter Lang: Bern, Berlin, Frankfurt a. M., New York NY, Paris, Wien 1996). 46 Vgl. Müller: Sorge um die Vernunft; Felix Heidenreich: Mensch und Moderne bei Hans Blumenberg. Wilhelm Fink: München 2005; Michael Moxter (Hrsg.): Erinnerung an das Humane. Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie Hans Blumenbergs (Religion in Philosophy and Theology, Bd. 56). Mohr Siebeck: Tübingen 2011. 47 Goldstein spricht bereits früh von einer genetischen Anthropologie, in der er Blumenbergs Denken kulminieren sieht (vgl. Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 77–83; so auch Nicola Zambon: Das Nachleuchten der Sterne. Konstellationen der Moderne bei Hans Blumenberg (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Welt, Bd. 71). Wilhelm Fink: München 2017). 43 44

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wird in der vorliegenden Untersuchung nicht beschritten. Mit Blumenberg steht dessen hermeneutischer Zugriff auf die Geschichte im Fokus; es wird sogleich darauf zurückzukommen sein. 48 Mit Blick auf die Forschung zu Ricœur sind zwei Schwerpunkte hervorzuheben, die sich in den letzten Jahren herausgebildet haben. Der erste liegt auf der praktischen Philosophie Ricœurs. Hier wird insbesondere der Frage nach der personalen Identität und der Ethik Ricœurs nachgegangen, 49 wie sie Ricœur in Das Selbst als ein Es sei an dieser Stelle zusätzlich auf die Untersuchung Dirk Mendes verwiesen. Mende stellt Blumenbergs Geschichtsauffassung unter den Titel der Archäologie und rückt diese in die Nähe zur Seinsgeschichte Heideggers (vgl. Dirk Mende: Metapher – Zwischen Metaphysik und Archäologie. Schelling, Heidegger, Derrida, Blumenberg. Wilhelm Fink: München 2013). Wie Flasch gezeigt hat, stand Blumenberg Heidegger insbesondere in den Jahren 1946 bis 1950 nah, d. h. zu der Zeit, zu der er seine Qualifikationsschriften angefertigt hat (vgl. Flasch: Hans Blumenberg, S. 55– 231, hierzu insbes. S. 62 f., 65–68, 112–116, 134, 137–140). In der Legitimität der Neuzeit spricht sich Blumenberg jedoch bereits kritisch gegen die Seinsgeschichte Heideggers aus (vgl. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 225 f. sowie hierzu Flasch: Hans Blumenberg, S. 68). Der Frage nach der Bedeutung der Philosophie Heideggers für Blumenbergs Geschichtsauffassung wird in der vorliegenden Untersuchung nicht nachgegangen. Mit Blick auf die Frage nach Blumenbergs hermeneutischem Zugriff auf die Geschichte orientiert sich die vorliegende Untersuchung maßgeblich an den Arbeiten Goldsteins, die den Einfluss Husserls als entscheidend für Blumenbergs Verständnis von Geschichte ausweisen (vgl. Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 60; vgl. auch Jürgen Goldstein: Zwischen Texttreue und Spekulation. Hans Blumenbergs Hermeneutik des geschichtlichen Hintergrunds am Beispiel des Spätmittelalters, in: Jan A. Aertsen und Martin Pickavé (Hrsg.): »Herbst des Mittelalters«? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts (Miscellanae Mediaevalia, Bd. 31). Walter de Gruyter: Berlin, New York NY 2004, S. 37– 54). 49 Vgl. Burkhard Liebsch (Hrsg.): Hermeneutik des Selbst – Im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricœurs. Karl Alber: Freiburg i. Br., München 1999; Richard Kearney: On Paul Ricœur. The Owl of Minerva (Transcending Boundaries in Philosophy and Theology). Ashgate: Aldershot 2004; Jens Mattern: Zwischen kultureller Symbolik und allgemeiner Wahrheit (Interkulturelle Bibliothek, Bd. 70). Traugott Bautz: Nordhausen 2008; Loriana Metzger: Philosophische Interpretation des Selbst. Untersuchungen zur Subjekttheorie bei Paul Ricœur (Philosophie und Lebenskunst, Bd. 6). LIT Verlag 2015. László Tengelyi bietet einen Überblick über die Rezeption und Aktualität von Ricœurs Theorie der narrativen Identität. Diese Darstellung Tengelyis nimmt ihren Ausgang jedoch bereits bei der personalen Identität und auch der Schlüsselgedanke der Theorie der narrativen Identität, so argumentiert Tengelyi, findet sich gerade nicht in Zeit und Erzählung, sondern in Das Selbst als ein Anderer, d. h. in dem Werk, in dem Ricœur eine Erweiterung seiner Theorie der narrativen Identität in Richtung auf eine praktische Philosophie und Ethik vornimmt (vgl. László Tengelyi: Paul Ricœur und die Theorie der narrativen Identität, in: Allgemeine Zeit48

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Anderer 50 entwirft. Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf der Gedächtnistheorie und Erinnerungsgeschichte, 51 die Ricœur mit seinem letzten großen Werk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen 52 ausgearbeitet hat. Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität gilt im Kontext beider Forschungsschwerpunkte gemeinhin als Zwischenschritt auf dem Weg zu seiner praktischen Philosophie. 53 Im Gegensatz dazu steht in der vorliegenden Untersuchung die Hermeneutik der narrativen Identität Ricœurs im Zentrum der Aufmerksamkeit. Untersuchungen, die sich explizit einem systematischen Zugriff auf Ricœurs Zeit und Erzählung und der Frage nach der narrativen Identität verschreiben, beziehen die Funktion der Metapher nur unzureichend 54 oder gar nicht ein. 55 Gerade auf diese Synthese aus Ricœurs

schrift für Philosophie 38 (2013), S. 263–279, hier S. 278). Auch in Arbeiten, in denen Ricœur vergleichend herangezogen wird, liegt das Interesse auf der praktischen Philosophie (vgl. exemplarisch Michael Löhr: Die Geschichte des Selbst. Personale Identität als philosophisches Problem (Reihe Politisches Denken, Bd. 11). ars una: Neuried 2006, S. 308–316). 50 Vgl. Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer [1990] (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, Bd. 26), übers. von Jean Greisch in Zusammenarbeit mit Thomas Bedorf und Birgit Schaaff. Wilhelm Fink: München 1996. 51 Vgl. Andris Breitling und Stefan Orth (Hrsg.): Erinnerungsarbeit. Zu Paul Ricœurs Philosophie von Gedächtnis, Geschichte und Vergessen (Schriftenreihe des Frankreich-Zentrums der Technischen Universität Berlin, Bd. 9). Berliner Wissenschaftsverlag: Berlin 2004; Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn; Burkhard Liebsch (Hrsg.): Bezeugte Vergangenheit oder Versöhnendes Vergessen. Geschichtstheorie nach Paul Ricœur (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 24). Akademie Verlag: Berlin 2010. Auch Römer lässt die Darstellung Ricœurs ausgehend von Zeit und Erzählung in der Gedächtnis- und Erinnerungsgeschichte kulminieren (vgl. Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, S. 237–509); Martin Hähnel (Hrsg.): Memoria und Mimesis. Paul Ricœur zum 100. Geburtstag. Text & Dialog: Dresden 2013. 52 Vgl. Paul Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen [2000] (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, Bd. 50), übers. von Hans-Dieter Gondek, Heinz Jatho und Markus Sedlaczek. Wilhelm Fink: München 2004. 53 Vgl. Emil Angehrn: Selbstverständigung und Identität. Zur Hermeneutik des Selbst, in: Burkhard Liebsch (Hrsg.): Hermeneutik des Selbst – Im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricœurs. Karl Alber: Freiburg, München 1999, S. 46–69, hier S. 56 sowie Burkhard Liebsch: Einleitung. Frage nach dem Selbst – im Zeichen des Anderen, in: ders.: (Hrsg.): Hermeneutik des Selbst – Im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricœurs. Karl Alber: Freiburg i. Br., München 1999, S. 11–43, hier S. 22, 29. 54 Vgl. Metzger: Philosophische Interpretation des Selbst. 55 Vgl. Scharfenberg: Narrative Identität im Horizont der Zeitlichkeit; Stefanie Blä-

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Begriff der Metapher und dem der narrativen Identität kommt es der vorliegenden Untersuchung mit Blick auf Ricœur an. Die vorliegende Untersuchung verfolgt einen kulturphilosophischen Ansatz, d. h. in Verbindung mit der Hermeneutik: Der Weg führt über die Interpretation der Werke der Kultur. 56 Sie lässt weder das Denken Blumenbergs in einer Anthropologie aufgehen, noch das Ricœurs in einer praktischen Philosophie oder einer Gedächtnisund Erinnerungsgeschichte. Gerade der Anschluss der Philosophie Ricœurs an die Blumenbergs ermöglicht es, im Kontext einer Hermeneutik dort weiter zu denken, wo mit Blumenberg gemeinhin der Weg in die Anthropologie und Phänomenologie beschritten wird. Im Gegenzug wird Ricœur als Komplement zur Hermeneutik und Kulturphilosophie Blumenbergs gelesen und rückt dadurch sehr viel deutlicher auf die Seite der Hermeneutik und Kulturphilosophie, als auf die der Phänomenologie – durchaus wider die eigene Intention Ricœurs und die Forschung. Die entsprechenden Verschiebungen werden an den entsprechenden Stellen in den Anmerkungen benannt. Dies bedeutet nicht, dass die anthropologischen oder die phänomenologischen Aspekte und Implikationen im Denken beider außen vor bleiben; sie werden einbezogen, wo sie die Hermeneutik und Kulturphilosophie erhellen.

ser: Erzählte Zeit – erzähltes Selbst. Zu Paul Ricœurs Begriff der narrativen Identität. Pro Universitate: Berlin 2015. 56 Vgl. hierzu Ralf Konersmann: Kulturelle Tatsachen. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2006, insbes. S. 23–27.

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2. Edmund Husserls idealistische Geschichtsteleologie

Das folgende Kapitel bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung, insofern die Position Husserls in erster Linie als Kontrastfolie dient, von der sich die Hermeneutik Ricœurs sowie die Blumenbergs im Anschluss abgrenzen lassen. Der erste Teil (Kap. 2.1.) bildet maßgeblich den Ausgangspunkt für die Hermeneutik Ricœurs: Es gilt, Husserls Historismus- und Psychologismuskritik über dessen Kritik an der Philosophie Diltheys zu entwickeln, da mit dieser Kritik Husserls zugleich eine Position gewonnen wird, der sich Ricœur, wenn auch unter deutlichen Modifikationen, anschließt. Es ist die Unterscheidung zwischen Bedeutung und Erfüllung, die Husserl einer psychologisierenden Philosophie und Hermeneutik, wie er diese bei Dilthey realisiert sieht, entgegenhält und der Ricœur sich im Kontext seiner Hermeneutik annimmt. Dieser erste Teil endet mit einer Replik Ricœurs, die die Übernahme dieser husserlschen Unterscheidung vorbereitet, die dann zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen wird. Der zweite Teil (Kap. 2.2.) bildet die Grundlage, von der die vorliegende Untersuchung maßgeblich mit Blumenberg ihren Ausgang nimmt. Husserl entwickelt, ausgehend von den erkenntnistheoretischen Grundlagen der transzendentalen Phänomenologie, eine Geschichtsauffassung, die die Geschichte als teleologischen Sinnvollzug begreift. Husserl möchte die Krisis der neuzeitlichen Wissenschaften abwenden, um mittels der strengsten aller Wissenschaften die europäische Identität und Geschichte in einer »sinnhaft-finale[n] Harmonie« zusammenzuführen. 1 Die Philosophie in Gestalt der Phänomenologie fungiert im Sinne Husserls als Antidot wider den ObEdmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie [1936, 1954] (Husserliana, Bd. 6), hrsg. von Walter Biemel. Martinus Nijhoff: Den Haag 2 1976, S. 74. 1

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jektivismus und die Modellbildung der neuzeitlichen Wissenschaften. Zu diesem Zweck muss die Kontingenz eingehegt und phänomenologisch auf einen Sinn abgestellt werden. Nur dann kann die Philosophie Husserl zufolge wieder Orientierung bieten. Sind es Husserl zufolge die neuzeitlichen Wissenschaften, die diese Krise herbeigeführt und den ursprünglichen Sinn der Identität Europas preisgegeben haben, dann liegt mit der Neuzeit eine historische Zäsur vor, die es zu korrigieren gilt. Husserls Korrektur besteht in einem Gegenentwurf, der in Gestalt einer Geschichtsteleologie den ursprünglichen Sinnvollzug der Geschichte Europas restituieren soll. Der Sinnverlust soll kompensiert, die Krise abgewendet werden, um jeden Relativismus und Skeptizismus abzuweisen. Die notwendige Bedingung für das Gelingen dieses Vorhabens ist die strenge Erkenntnis absoluter Evidenz und Wahrheit. Die husserlsche Geschichtsteleologie verdeckt dadurch jedoch die Kontingenz der Geschichte und täuscht dadurch über die Fragilität einer Identität hinweg, die sich der Kontingenz der Geschichte ausgesetzt sieht. An ebendiesem Punkt entzündet sich gleichermaßen die Kritik Ricœurs sowie Blumenbergs. Wenn der Begriff der Identität sich im Folgenden als eine Chiffre für mögliche Selbst- und Wirklichkeitsverhältnisse erweisen wird, dann sind es ebendiese Verhältnisse und Vermittlungsformen, die normiert werden, insofern Husserl sie der phänomenologischen Erkenntnistheorie unterwirft. Der Zusammenhang von Identität und Geschichte wird erst mit Ende des Blumenberg-Kapitels deutlicher hervortreten; zunächst gilt es, Ricœurs sowie Blumenbergs Kritik an der husserlschen Geschichtsteleologie vorzubereiten und zu entwickeln. Ein erster Schritt in Richtung dieser Kritik wird mit dem dritten Teil des folgenden Kapitels gemacht (Kap. 2.3.). Wenngleich maßgeblich mit Blumenberg eine Kritik an der idealistischen Geschichtsteleologie Husserls zu formulieren sein wird, so sprechen sich Ricœur sowie Blumenberg doch gleichermaßen gegen diese aus. Dieser Kritik zum Trotz bleibt das Verhältnis beider zur Phänomenologie Husserls ambivalent: Auf der einen Seite unterziehen sie den Idealismus Husserls einer eingängigen Kritik, auf der anderen Seite adaptieren sie zentrale Begriffe der husserlschen Phänomenologie und integrieren diese jeder auf seine Art ihrer eigenen Philosophie. Die Phänomenologie Husserls zeigt sowohl Ricœur als auch Blumenberg eine Möglichkeit auf, auf der einen Seite einen Psychologis50 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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mus zu vermeiden, wie Husserl diesen Dilthey zum Vorwurf macht – Ricœur schließt zu diesem Zweck an die Unterscheidung von Bedeutung und Erfüllung an, wie sie Husserl in den Logischen Untersuchungen (1900/1901) entwickelt, Blumenberg an den Begriff der Lebenswelt, auf den Husserl in seinem Spätwerk der Krisis-Schrift (1936/1954) stößt. 2 Auf der anderen Seite weisen beide gleichermaßen Geschichtsauffassungen von sich, die eine Teleologie der Geschichte im Ganzen behaupten, wie sie auch Husserl vorstellt. Ricœur und Blumenberg suchen einen Mittelweg. Weder fallen sie in einen Psychologismus zurück, noch sind sie darauf aus, die Kontingenz der Geschichte in einem teleologischen Sinnvollzug aufgehen zu lassen.

2.1. Husserls Historismus- und Psychologismuskritik Wilhelm Dilthey möchte die Geisteswissenschaften als einen eigenständigen Bereich der Erkenntnis etablieren, der den Naturwissenschaften ebenbürtig sein soll. 3 Den Natur- sowie den Geisteswissenschaften eignet ein je eigener methodischer Zugriff, der mit dem des jeweils anderen Bereichs nicht kompatibel zu sein scheint: Die Naturwissenschaften blicken auf die Außenwelt, sie erklären die Natur, die Geisteswissenschaften hingegen interpretieren, wie Dilthey sagt, die »geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit«, sie suchen nicht zu erklären, sondern zu verstehen. 4 Auf Ebene der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit findet der Geisteswissenschaftler Werke vor, die es zu interpretieren gilt; jedes Werk ist Ausdruck eines Autors, jede Interpretation verspricht, wie Ricœur mit Blick auf Dilthey betont, dass wir uns in eine »fremde Psyche« hineinversetzen können Im Gegensatz zu Ricœur setzt Blumenberg sich mit der Kritik am Psychologismus nicht auseinander und diskutiert auch die husserlsche Kritik nicht explizit. Implizit spielt diese Kritik im Kontext seiner Ästhetik und Poetik jedoch eine Rolle, insofern Blumenberg die Frage nach der Produktion dessen, was er als ästhetischen Gegenstand begreift, von seinem Urheber löst: Wenn der ästhetische Gegenstand nicht mehr das alleinige Produkt seines Urhebers ist, dann kann es nicht das psychische Innenleben eines Autors sein, das wir nachvollziehen, wenn wir einen ästhetischen Gegenstand interpretieren (vgl. hierzu Kap. 3.5.). 3 Vgl. Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Bd. 1 [1883] (Gesammelte Schriften, Bd. 1), hrsg. von Bernhard Groethuysen. B. G. Teubner: Leipzig, Berlin 1922, S. 3–14. 4 Ebd., S. 4. 2

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und so die psychischen Motivationen, die zur Erzeugung des Werkes geführt haben, nachvollziehen und verstehen können. Für Ricœur steht fest, dass die Unterscheidung zwischen erklären und verstehen für Dilthey »eine Alternative dar[stellt], bei der ein Terminus den anderen ausschließen mußte: Entweder ›erklärt‹ man wie ein Naturwissenschaftler, oder man ›interpretiert‹ wie ein Historiker«. Das Verfahren der Interpretation ist möglich, »weil sich das Innere in äußeren Zeichen darbietet, die als Zeichen einer fremden Psyche wahrgenommen und verstanden werden können«. Ricœurs Deutung der diltheyschen Hermeneutik schließt sich an diesem Punkt der Kritik Husserls an: Dilthey, so hält Ricœur fest, bringt einen »psychologisierenden Begriff des Verstehens« in Anschlag, der in einen Relativismus und Intuitionismus mündet. 5 In seiner 1911 veröffentlichten Schrift Philosophie als strenge Wissenschaft grenzt Husserl in konziser wie gleichermaßen populärer Form sein Programm einer Phänomenologie gegenüber den Strömungen des Naturalismus, Psychologismus und Historismus ab. 6 Der Naturalismus steht im Zuge dessen stellvertretend für die Natur-, der Historismus stellvertretend für die Geisteswissenschaften. Die beiden von Dilthey unterschiedenen Bereiche der Naturund Geisteswissenschaften unterzieht Husserl einer Kritik: Beide setzen ihren eigenen Gegenstandsbereich jeweils absolut. Dem Naturwissenschaftler scheint alles (physische) Natur, dem Geisteswissenschaftler alles (historisches) Geistesgebilde zu sein. 7 Sowohl die Natur- als auch die Geisteswissenschaften überschreiten die Grenzen ihres Geltungsbereichs und strapazieren die Aussagekraft ihrer Resultate über das zulässige Maß hinaus, denn weder sind die Natur-, Paul Ricœur: Was ist ein Text? [1970], in: ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übers. und hrsg. von Peter Welsen. Felix Meiner: Hamburg 2005, S. 79–108, hier S. 86 f. 6 Husserl gebraucht den Begriff des Historismus und den des Historizismus synonym (vgl. Karl-Heinz Lembeck: Gegenstand Geschichte. Geschichtswissenschaftstheorie in Husserls Phänomenologie (Phaenomenologica, Bd. 111). Kluwer Academic Publishers: Dordrecht, Boston MA, London 1988, S. 17 (Anm. 27)) und bezeichnet damit eine Position, die das Erkennen an historische Bedingungen knüpft. Die von Karl Popper getroffene Unterscheidung zwischen Historismus und Historizismus, darauf verweist Lembeck, ist auf die husserlsche Unterscheidung nicht anwendbar (vgl. ebd.). 7 Vgl. Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft [1911], in: Edmund Husserl: Aufsätze und Vorträge (1911–1921) (Husserliana, Bd. XXV), hrsg. von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp. Martinus Nijhoff: Boston MA, Dordrecht, Lancaster UK 1987, S. 3–62, hier S. 8. 5

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noch die Geisteswissenschaften imstande, auf der Grundlage ihres Gegenstandsbereichs sichere Erkenntnisse zu gewinnen. Husserl zufolge kann allein die Phänomenologie dies leisten, nur sie folgt dem Ideal strenger Wissenschaftlichkeit und kann das Fundament aller weiteren Wissenschaften abgeben. Im Folgenden wird in einem ersten Schritt Diltheys Vorhaben einer Grundlegung der Geisteswissenschaften skizziert (Kap. 2.1.1.), um im Anschluss daran Husserls Kritik an Dilthey zu entfalten. Das diltheysche Programm dient dazu, Husserls Gegenprogramm von der Position Diltheys abzugrenzen und dadurch umso schärfer herausarbeiten zu können. In einem zweiten Schritt gilt es, Husserls Gegenentwurf zu entwickeln, über den Husserl sein Programm einer Phänomenologie konturiert, um dem Historismus, Naturalismus und Psychologismus entgegenzutreten (Kap. 2.1.2.). Wenn auch unter deutlichen Modifikationen, so schließt Ricœur sich doch dieser Gegenbewegung Husserls an, um die psychologisierende Form der Hermeneutik Diltheys zu überwinden: An die Stelle eines intuitiven Erfassens einer fremden Psyche bei Dilthey rückt bei Husserl die Konstitution von Bedeutungen, die sich über Aussageakte rekonstruieren lassen und nicht auf ihren Ursprung in einer fremden Psyche zurückzuverfolgen sind. Sowohl die Unterscheidung Diltheys zwischen den Erkenntnismodi erklären und verstehen als auch die Psychologismuskritik Husserls sowie dessen Gegenentwurf in Form der Konstitution von Bedeutungen sind für die Hermeneutik Ricœurs grundlegend.

2.1.1. Wilhelm Dilthey: Der Umweg des Verstehens Allen wechselseitigen Beteuerungen zum Trotz, die Differenzen zwischen ihnen seien nicht allzu gravierend, 8 sieht Husserl die seines Erachtens nach negativen Auswirkungen des Historismus am prägVgl. hierzu den Briefwechsel zwischen Dilthey und Husserl in: Edmund Husserl: Briefwechsel, Bd. VI: Philosophenbriefe (HUA, Dokumente, Bd. III. Briefwechsel, Teil 6: Philosophenbriefe). In Verbindung mit Elisabeth Schuhmann, hrsg. von Karl Schuhmann. Kluwer Academic Publishers: Dordrecht, Boston MA, London 1994, S. 41–53. Der Austausch von lediglich drei Briefen erfolgte im Juni und Juli 1911. Husserl nahm an, dass »ein ausführliches Gespräch zu voller Verständigung führen« und die Differenzen beilegen könnte (Edmund Husserl an Wilhelm Dilthey: Brief vom 5./6. Juli 1911 (Abschrift), in: Husserl: Briefwechsel, Bd. VI, S. 47–51, hier

8

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nantesten in Diltheys Weltanschauungstypologie realisiert. Dilthey selbst konstatiert ebenjenen Widerspruch, an dem sich der Konflikt zwischen ihm und Husserl entzünden wird: »zwischen dem geschichtlichen Bewußtsein und dem Anspruch der Philosophien auf Allgemeingültigkeit«. 9 Auf der einen Seite muss eine Philosophie Husserl zufolge, will sie denn Philosophie sein, Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Sollte es ihr gelingen, diesen Anspruch einzulösen, dann wäre der von Dilthey konstatierte Widerspruch aufgelöst und die wissenschaftliche Aussagekraft historischer Ansätze in ihre Grenzen verwiesen. Auf der anderen Seite verfolgt Dilthey einen historischen Ansatz, der jeden systematischen Anspruch auf Allgemeingültigkeit unterläuft. Für Husserl befördert das geschichtliche Bewusstsein einen Skeptizismus, der schlussendlich keinen Anspruch mehr auf Wahrheit und Allgemeingültigkeit erhebt. Auch Dilthey erkennt an, dass der Widerspruch zwischen der Anerkennung des geschichtlichen Bewusstseins auf der einen und dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auf der anderen Seite nicht auflösbar ist. Er versucht deshalb, diesen Widerspruch zu entschärfen, Husserl zufolge jedoch mit verheerenden Konsequenzen. Dilthey, darum bemüht, den Geisteswissenschaften ein dem naturwissenschaftlichen Erkennen äquivalentes Erkenntnisinstrument an die Hand zu geben, etabliert neben dem naturwissenschaftlichen Erklären das geisteswissenschaftliche Verstehen: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.« 10 Es ist dieses Verfahren geisteswissenschaftlichen Verstehens, gegen das sich Husserls und Ricœurs Kritik richtet. S. 48). Dilthey starb jedoch am 1. Oktober 1911, zu einem Gespräch ist es nicht mehr gekommen. Um den »Missdeutungen« vorzubeugen, Husserl richte sich in seiner Historismus-Kritik gegen Dilthey, wollte er eine »Note« (ebd.) in der Zeitschrift Logos veröffentlichen; auch diese ist nie erschienen (zum Verhältnis von Husserl und Dilthey vgl. Lembeck: Gegenstand Geschichte, S. 20–33). 9 Wilhelm Dilthey: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, in: Max Frischeisen-Köhler (Hrsg.): Weltanschauung. Philosophie und Religion in Darstellungen von Wilhelm Dilthey, Bernhard Groethuysen, Georg Misch [u. a.]. Verlag Reichl & Co.: Berlin 1911, S. 1–51, hier S. 4. 10 Wilhelm Dilthey: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie [1894], in: ders.: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (Gesammelte Schriften, Bd. 5), hrsg. von Georg Misch. B. G. Teubner, Vandenhoeck & Ruprecht: Stuttgart, Göttingen 61957, S. 139–240, hier S. 144.

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Dilthey verortet sich selbst in der Tradition der historischen Schule, die mit Beginn des 19. Jahrhunderts die Unmöglichkeit der Objektivierbarkeit des eigenen Standpunkts in den Vordergrund rückt. Bei Dilthey kulminiert dieser Aspekt im Begriff der Geschichtlichkeit: Nicht nur ist der Mensch stets umgeben von Geschichte, sondern auch alle Erkenntnis ist geschichtlich bedingt. 11 Husserl zufolge geht die historische Schule auf eine Fehlrezeption der hegelschen Philosophie zurück: Hegel verkündet zwar die bloß »relative[] Berechtigung jeder Philosophie für ihre Zeit«, doch für Husserl behält Hegels systematischer Entwurf die Oberhand. Die historisch relative Gültigkeit einer jeden Philosophie wird bei Hegel von einer »absolute[n] Philosophie« eingehegt – die Relativität wird von ihm nicht absolut gedacht, sondern ist ihrerseits relativ, d. h. bezogen auf und zentriert um ein Absolutes. 12 Die von Husserl attestierte Fehlrezeption der hegelschen Philosophie entsteht ihm zufolge aus der Absage an ein Absolutes, das bei Hegel noch alle Relativität aufzufangen weiß. Ohne Absolutes kann jedes Geistesgebilde jedoch allenfalls noch historisch relative Geltung beanspruchen, jeder Anspruch auf Objektivität im Sinne »absolute[r] Gültigkeit« ist damit preisgegeben. 13 Diltheys Philosophie bildet für Husserl den Höhepunkt dieser Fehlrezeption der hegelschen Philosophie und es ist Dilthey selbst, der die Absage an absolute Bindungen unter Rekurs auf die hegelsche Philosophie explizit macht. Indem Dilthey Hegels Begriff des objektiven Geistes neu besetzt und aus der Orientierung auf den absoluten Geist löst, rückt bei ihm der objektive Geist ins Zentrum seines Vorhabens einer Grundlegung der Geisteswissenschaften. Dilthey folgt zunächst der Darstellung Hegels: Auf dem Weg zu seiner Verwirklichung als absoluter Geist durchläuft der Geist verschiedene Stufen – die des subjektiven und die des objektiven Geistes, um schlussendlich als absoluter Geist in Erscheinung zu treten. Diese Dilthey führt die historische Schule auf Hegel zurück, sieht diese sich über die Romantiker, bis Herder und Winckelmann fortsetzen. Des Weiteren zählt er Barthold Georg Niebuhr, Jakob Grimm, Friedrich Carl von Savigny und August Boeckh dazu sowie nachfolgend in England Edmund Burke und in Frankreich François Pierre Guillaume Guizot sowie Alexis de Tocqueville (vgl. Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. XVI sowie zu Diltheys Bestimmung der historischen Schule Lembeck: Gegenstand Geschichte, S. 23 (Anm. 38)). 12 Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 7. 13 Ebd., S. 43. 11

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verschiedenen Stufen werden laut Dilthey durch die ideelle Konstruktion eines »allgemeinen vernünftigen Willen[s]« zusammengehalten, der auf jeder Stufe auf eine andere Weise realisiert wird. Auf Ebene des subjektiven Geistes stiftet dieser die Grundlage für die Realisierung des objektiven Geistes: Einmal »in einer sittlichen Welt objektiviert«, kommt es zu Recht, Moral und Sittlichkeit. Diese Entwicklung kulminiert schlussendlich in einer übergeordneten, »höhere[n] Einheit«, in der »der allgemeine vernünftige Wille des Einzelsubjektes und dessen Objektivierung in der sittlichen Welt« zusammenfinden. In ihrem Zusammenspiel ermöglichen sie »das Wissen des Geistes von sich selbst als der schaffenden Macht aller Wirklichkeit in Kunst, Religion und Philosophie«. Im absoluten Wissen als der letzten Gestalt und »höchste[n] Realität des Geistes« kommt der absolute Geist zu sich selbst. Entscheidend ist, dass Dilthey Ursprung und Ziel der hegelschen Konzeption aussetzt und so den objektiven Geist aus dem Korsett der »ideale[n] Konstruktion« löst. 14 Die Objektivationsformen des Geistes stehen nun nicht mehr nur unter dem Diktat eines sich durchhaltenden allgemeinen und vernünftigen Willens. Kunst, Religion und Philosophie, die Hegel auf der Stufe des absoluten Geistes ansiedelt, fallen damit auf die Stufe des objektiven Geistes zurück. Sie sind nicht mehr Stationen auf dem Weg zur Realisierung des absoluten Geistes, auf den sie zulaufen, sondern bilden bei Dilthey ein Reich eigenen Rechts. Diese Objektivationsformen des Geistes sind für Dilthey nicht mehr Teil eines teleologischen Geschichtsverlaufs, sondern Produkte ihrer Zeit und damit abhängig vom historischen Kontext. Als solche bilden sie zwar Zwecksysteme aus, ohne jedoch ein Ziel oder einen Zweck außerhalb ihrer selbst zu realisieren. Für Dilthey entstehen sie aus der Wechselwirkung, durch den Austausch der Individuen untereinander: Sie sind die »Repräsentation von Gemeinsamkeit«. 15 Das Individuum und die Objektivationsformen des Geistes sehen sich im Prozess der Kulturbildung aufeinander verwiesen; das Individuum mitsamt seiner Lebenserfahrung bildet den Ausgangspunkt

Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften [1927] (Gesammelte Schriften, Bd. VII), hrsg. von Bernhard Groethuysen. B. G. Teubner Verlagsgesellschaft, Vandenhoeck & Ruprecht: Stuttgart, Göttingen 61973, S. 149 f. 15 Ebd., S. 151. 14

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von Diltheys Weltanschauungstypologie. Husserl wendet sich gegen die Auffassung, das Individuum könne zum Ausgangspunkt einer Philosophie erklärt werden, sollen die Erkenntnisse der Philosophie doch allgemein gültig sein. Dies aber, so Husserls Kritik, ist nicht möglich, wenn Singularitäten, d. h. in diesem Fall Individuen den Ausgangspunkt bilden, von dem die Erkenntnis ausgehen soll. Das, was sich ausgehend von verschiedenen Individuen als Allgemeines ausweisen ließe, müsste unter Rekurs auf die sich fortwährend ändernden individuellen Gegebenheiten ein jedes Mal neu bestimmt werden. Jeder Anspruch auf absolute Gültigkeit wäre damit preisgegeben. Das »Eigenwesen« eines Individuums schlägt sich Dilthey zufolge in Gewohnheiten nieder. Mit zunehmender Lebenserfahrung bilden sich Strukturen aus, aus denen ein Individuum seine Ideale und Grundsätze bezieht, die der eigenen Lebensführung dienen: Es entsteht ein Weltbild. In Weltbildern kommen die individuellen Positionen, Stimmungen und Wertungen zum Ausdruck. Analog zur Entstehung von Weltbildern bilden sich die von Dilthey sogenannten Weltanschauungen aus, die jedoch nicht mehr nur aus der privaten »Färbung und Auslegung« des Lebens bestehen wie die Weltbilder, sondern die vielmehr eine Wertung der Wirklichkeit im Ganzen implizieren. 16 Die Perspektivität eines Weltbildes geht in einen intersubjektiven Zusammenhang ein: Im gemeinsamen Austausch der Wechselwirkung individueller Lebenserfahrungen entsteht allmählich eine »allgemeine Lebenserfahrung«. 17 Die individuellen Weltbilder stellen die »Unterlage« von Weltanschauungen dar und Weltanschauungen sind »Interpretationen der Wirklichkeit«. 18 Das individuelle Weltbild lässt sich nicht aus der Weltanschauung ableiten, das Individuum nicht aus dem Allgemeinen, sondern umgekehrt: Bei Dilthey lässt erst der Blick auf das Individuum allmählich Allgemeinheiten hervortreten. Eine Philosophie, die ausgehend vom Individuum sucht Allgemeinheiten abzuleiten, muss Dilthey zufolge typologisch verfahren: In einem vergleichenden VerDilthey: Die Typen der Weltanschauung, S. 10. Ebd., S. 8. 18 Wilhelm Dilthey: Das Wesen der Philosophie [1907], in: ders.: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (Gesammelte Schriften, Bd. V), hrsg. von Georg Misch. B. G. Teubner Verlagsgesellschaft, Vandenhoeck & Ruprecht: Stuttgart, Göttingen 61957, S. 339–416, hier S. 379. 16 17

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fahren sollen Typen von Weltanschauungen herausgearbeitet werden, die als größte gemeinsame Nenner und Schnittmengen der individuellen Weltbilder auftreten. 19 Auf diesen Punkt konzentriert sich die Kritik Husserls. Da Diltheys Verfahren der Typologisierung von dem Individuum und dessen Lebenserfahrung ausgeht und damit von einem empirischen Fundament, kann die Weltanschauungstypologie keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Objektivität erheben. Das Verfahren der Typologisierung taugt allenfalls zur Grundlage induktiver Verfahren; Prinzipien jedoch, die Objektivität gewährleisten, lassen sich auf diese Weise nicht gewinnen. Für Husserl untergräbt die Weltanschauungstypologie Diltheys die Möglichkeit, objektive Erkenntnisse, d. h. Wahrheit zu gewinnen. Sie mündet seines Erachtens in einen Skeptizismus. Weder die Individuen, eingelassen in einen historischen Kontext und auf deren empirische Lebenserfahrung verwiesen, noch die Objektivationsformen des Geistes weisen ein absolutes Fundament auf. Die Konsequenz daraus ist ein fortwährender Wandel historischer Weltanschauungen: Jede »Geisteshaltung«, »jede Art gesellschaftlicher Einheit, zuunterst die des Individuums selbst, aber auch jedwede Kulturgestaltung«, die Erzeugnisse des objektiven Geistes »der anschaulichen Außenwelt«, »[a]lles scheinbar Feste ist ein Strom der Entwicklung«. Der Historismus in Form der historischen Weltanschauungstypologie Diltheys verfehlt für Husserl bereits im Ansatz Anspruch und Ziel einer strengen Wissenschaft, d. h. der Philosophie. Dieser bleibt »in der Tatsachensphäre des empirischen Geisteslebens« 20 befangen – »historische Gründe können nur historische Folgen aus sich hergeben. Aus Tatsachen Ideen, sei es begründen oder widerlegen zu wollen ist Widersinn«. 21 Im Reich empirischer Tatsachen gefangen verschreibt sich Diltheys Weltanschauungstypologie einem naiven Historismus. Wenngleich Husserl insbesondere an Diltheys Weltanschauungstypologie Anstoß nimmt, so sucht Dilthey selbst den Geisteswissenschaften den Status der Wissenschaftlichkeit gerade nicht in einem his-

Unterwirft »man diese Gebilde einem vergleichenden Verfahren«, lassen diese »sich zu Gruppen ordnen, unter denen eine gewisse Verwandtschaft besteht« (Dilthey: Die Typen der Weltanschauung, S. 15). 20 Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 41 f. 21 Ebd., S. 45. 19

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torisch-typologischen Verfahren zu sichern, sondern auf erkenntnistheoretischer Ebene. Sein Unterfangen einer Grundlegung der Geisteswissenschaften impliziert die Suche nach einer geeigneten Methode, um den Gegenstandsbereich geisteswissenschaftlicher Forschung überhaupt angemessen erfassen zu können 22 – und auch diese unterzieht Husserl einer Kritik. Zwei Aspekte sind an dieser Stelle hervorzuheben: Erstens ist diese Kritik für Husserls eigenes Programm der Phänomenologie ausschlaggebend, zweitens ist Dilthey in der Nachfolge Schleiermachers für Ricœur derjenige, der sich um eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften bemüht hat. Für Ricœur wird Dilthey damit zu einem der wichtigsten Vorläufer seiner eigenen Hermeneutik, mit der er an der hermeneutischen Unterscheidung von erklären und verstehen anschließt. 23 Dilthey sieht in der Tradition der historischen Schule auf der einen Seite einen Vorteil: Sie hat zur Anerkennung des geschichtlichen Bewusstseins geführt. Auf der anderen Seite hat sie jedoch vernachlässigt, die »geschichtlichen Erscheinungen« auch auf ihre erkenntnistheoretischen Fundamente zurückzuführen. Der Nachteil ist, dass ihr »der Zusammenhang mit der Analysis der Tatsachen des Bewußtseins« fehlt und damit, so Dilthey, eine »philosophische Grundlegung«, kurzum: »Es fehlte ein gesundes Verhältnis zur Erkenntnistheorie und Psychologie«. 24 Beide Momente sucht Dilthey auf methodischer Ebene miteinander zu vermitteln. Das Fundament der Geisteswissenschaften bilden ihm zufolge die Tatsachen des Bewusstseins, aus denen die Objektivationsformen des Geistes hervorgehen. Den methodischen Zugriff auf die Tatsachen des Bewusstseins soll ein hermeneutisches Verfahren gewährleisten: das geisteswissenschaftliche Verstehen. 25 Vgl. Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. 116. Vgl. Kap. 4.4.1. 24 Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. XVI. 25 Streng genommen appliziert Dilthey das hermeneutische Verfahren auf das Verfahren geisteswissenschaftlichen Verstehens. Er begreift die Hermeneutik zunächst formelhaft als eine »Kunstlehre der Auslegung von Schriftdenkmalen« (Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik [1900], in: ders.: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (Gesammelte Schriften, Bd. V), hrsg. von Georg Misch. B. G. Teubner Verlagsgesellschaft, Vandenhoeck & Ruprecht: Stuttgart, Göttingen 61957, S. 317–338, hier S. 320), die in dieser Hinsicht der Philologie verpflichtet bleibt, aus der sie einst hervorgegangen war (vgl. ebd., S. 319). Diltheys Konzeption geisteswissenschaftlichen Verstehens ist jedoch nicht mehr nur auf die Interpretation schriftlich 22 23

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Nach wie vor hebt Diltheys Programm vom Individuum und dessen Lebenserfahrung ab. Ausgehend vom Leben schafft sich jedes Individuum »eine eigene Welt«. 26 Es erfährt diese Welt, wertet sie und bezieht fortwährend Position gegenüber dem Leben. Die Tatsachen des Bewusstseins gründen Dilthey zufolge im Leben. Im individuellen Erleben bilden sich Strukturen aus, psychische Tatsachen, die sich als »Wertung der Zustände und Gegenstände in [Form von] Lust und Unlust, Gefallen und Mißfallen, Billigung und Mißbilligung« 27 auf verschiedenen »Stufen des Gefühlsverhaltens« 28 niederschlagen und sich schlussendlich in Weltbildern und Weltanschauungen zusammenschließen. Die Menschheit, so Dilthey, entsteht als Gegenstand der Geisteswissenschaften nur, »sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden«. Dieser hermeneutische Dreischritt von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen bildet das Grundverhältnis aller Geisteswissenschaften: Nur »auf dem Umweg des Verstehens« »fixierte[r] Lebensäußerungen« wird das »Leben über sich selbst in seinen Tiefen aufgeklärt« 29 – und Leben ist für Dilthey »die innere Beziehung der psychischen Leistungen im Zusammenhang mit der Person«. 30

»fixierte[r] Lebensäußerungen« aus. »Aufgenommen in den Zusammenhang von Erkenntnistheorie, Logik und Methodenlehre der Geisteswissenschaften« wird die Hermeneutik bei Dilthey zu einem »Verbindungsglied zwischen der Philosophie und den geschichtlichen Wissenschaften« und somit zum »Hauptbestandteil der Grundlegung der Geisteswissenschaften« (ebd., S. 331). Der Einzugsbereich ihres Gegenstandsverständnisses weitet sich damit aus. Über die Interpretation schriftlicher Zeugnisse hinaus hat sie nunmehr die Selbstbesinnung zum Ziel und die Tatsachen des Bewusstseins zur Grundlage. Groethuysen macht darauf aufmerksam, dass die Hermeneutik im Sinne Diltheys zwar »die eigentliche Grundlage der Geisteswissenschaften« bildet, zunächst aber »keinen selbständigen Gegenstand [hat], dessen Erkenntnis grundlegend wäre für die Auffassung und Beurteilung weiterer davon abhängiger Gegenstände« (Bernhard Groethuysen: Vorbericht des Herausgebers, in: Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften [1927] (Gesammelte Schriften, Bd. VII), hrsg. von Bernhard Groethuysen. B. G. Teubner Verlagsgesellschaft, Vandenhoeck & Ruprecht: Stuttgart, Göttingen 61973, S. V–X, hier S. VII). 26 Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 7. 27 Dilthey: Die Typen der Weltanschauung, S. 11. 28 Ebd., S. 13. 29 Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 86 f. 30 Dilthey: Das Wesen der Philosophie, S. 408.

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Was Dilthey in seinem Spätwerk als das »Innewerden eines psychischen Zustandes in seiner Ganzheit und Wiederfinden desselben im Nacherleben« charakterisiert und auf die Formel »Leben erfaßt hier Leben« bringt, stößt bei Husserl deutlich auf Widerstand. 31 Geisteswissenschaftliches Verstehen nimmt seinen »Gang […] von außen nach innen«. Dilthey zufolge ermöglicht diese »von außen an das Leben herantretende[] Betrachtungsweise«, diejenigen Strukturen im Verstehen nacherleben zu können, die sich im psychischen Zusammenhang individuellen Erlebens ausbilden. 32 Im Ausdruck werden Dilthey zufolge die individuellen Wertungen des Lebens konserviert, die dann im Verstehen nachvollzogen, nacherlebt, verstanden werden können. Für Husserl zeigt sich an dieser Stelle die ganze Unsicherheit der methodischen Anlage, die ihm zufolge auf ein nicht ausweisbares Moment bloßer Intuition zurückgeht, denn allein die »innerliche Intuition« ermöglicht es uns, uns »in die Einheit des Geisteslebens« einzuleben. Dilthey behauptet, dass wir dadurch »Wesen und Entwicklung der jeweiligen Geistesgestalt in ihrer Abhängigkeit von den geistigen Einheits- und Entwicklungsmotiven ›verstehen‹« können. 33 Noch Ricœur schließt sich dieser Kritik an, wenn er davon spricht, dass sich das Verstehen bei Dilthey »von einem psychischen Leben zu einem fremden psychischen Leben hinbewegt« – so wird das »hermeneutische Problem […] zu einem psychologischen, denn Verstehen bedeutet für ein endliches Wesen, sich in ein anderes Leben hineinzuversetzen«. 34 Dilthey scheitert, so die Kritik Husserls, an dem Anspruch, das Leben mittels geisteswissenschaftlichen Verstehens zu erschließen. 35 Der Prozess des Verstehens sieht sich ganz auf die empirischen Ausdrucksgestalten verwiesen und damit auf einen empirischen Bewusstseinsbegriff. Diltheys Vorhaben, die »bestimmenden GeistesmotiDilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 136. Ebd., S. 82. 33 Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 42. 34 Paul Ricœur: Existenz und Hermeneutik [1965], übers. von Johannes Rütsche, in: ders.: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1969, S. 11–36, hier S. 13; vgl. auch Paul Ricœur: La tâche de l’herméneutique [1975], in: ders.: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II. Éditions du Seuil: Paris 1986, S. 75–100, hier insbes. S. 81–87. 35 Wie Lembeck pointiert, kapituliert Dilthey aus der Sicht Husserls »vor der vermeintlichen Unmöglichkeit transzendentaler Analysen der subjektiven Erlebnishaftigkeit« (Lembeck: Gegenstand Geschichte, S. 29). 31 32

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vationen«, die Weltbilder und Weltanschauungen hervorbringen, »durch innerstes Nachleben« »zu historischem Verständnis zu bringen«, verläuft sich in einem haltlosen Intuitionismus. 36 Auf der Grundlage eines empirischen Bewusstseinsbegriffs kann die von Dilthey vorgeschlagene Methode geisteswissenschaftlichen Verstehens die Motivationsrückhalte allenfalls intuitiv erfassen, objektiv ausweisen kann sie diese laut Husserl nicht. Wie nachfolgend zu zeigen sein wird, sucht Husserl ebendies zu leisten: Die phänomenologisch objektiv ausweisbaren Motivationsrückhalte bilden die Voraussetzung für die husserlsche Geschichtsteleologie; mit Blumenberg wird am Ende des Kapitels davon zu sprechen sein. 37 Eingelassen in die Geschichte und geprägt von den Erfahrungen des Interpreten ist Diltheys Zugriff seinerseits abhängig von der Interpretation der Wirklichkeit und bietet keine Methode, die objektiv ausweisbare und sichere Erkenntnisse verspricht. Husserl sieht bei Dilthey sowohl einen Historismus realisiert, der einem Skeptizismus das Wort zu reden droht, als auch psychologistische Tendenzen, die auf erkenntnistheoretischer Ebene einen Relativismus befördern: Während der Skeptizismus jede Möglichkeit der Erkenntnis von Wahrheit überhaupt leugnet, gesteht der Relativismus diese Möglichkeit zwar zu, doch bleibt diese relativ, nicht absolut, d. h. relativ abhängig von einem empirischen Subjekt. 38 Beide Positionen stehen für die Unmöglichkeit der Erkenntnis absoluter Wahrheit. Die Kritik, die Husserl bereits gegen Dilthey richtet, erweitert er im Folgenden und führt sie als Kritik an der Psychologie und den Naturwissenschaften fort. In Abgrenzung zu diesen seines Erachtens skeptizistiHusserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 42. Vgl. Kap. 2.3. 38 Vgl. Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Erster Band. Prolegomena zur reinen Logik [1900] (Husserliana, Bd. XVIII), hrsg. von Elmar Holenstein. Martinus Nijhoff: Den Haag 1975, S. 118–131. Genauer betrachtet ist mit Husserl zwischen einem individuellen und einem spezifischen Relativismus zu unterscheiden. Der individuelle Relativismus setzt Wahrheit und Erkenntnis in Abhängigkeit von einem empirischen Subjekt, weshalb diesbezüglich auch von einem Subjektivismus zu sprechen ist. Der spezifische Relativismus setzt Wahrheit und Erkenntnis in Abhängigkeit von der Spezies Mensch, den Husserl deshalb als Anthropologismus bezeichnet (vgl. ebd., S. 122–129). Der Anthropologismus bildet eine weitere Position gegen die Husserl sich zu Wehr setzt. Befördert der Historismus einen Skeptizismus, so der Psychologismus, und dessen Variante in Form des Anthropologismus, einen Relativismus – der Psychologismus ist für Husserl »in allen seinen Formen ein Relativismus« (ebd., S. 130). 36 37

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schen und relativistischen Tendenzen, entwirft Husserl sein Gegenprogramm einer Phänomenologie, das er mit den Logischen Untersuchungen zunächst als ein Programm einer reinen Logik entwirft.

2.1.2. Husserls Gegenentwurf: Bedeutung und Erfüllung Husserls Naturalismus- und Psychologismuskritik ist zugleich eine Kritik am Objektivismus der Naturwissenschaften, wie Husserl diesen in seiner Krisis-Schrift zum Thema macht, auf die nachfolgend näher einzugehen sein wird. Unter Naturalismus versteht Husserl eine Tendenz der zunehmend erstarkenden Naturwissenschaften, die die Natur auf die allumfassende »Einheit des räumlich-zeitlichen Seins nach exakten Naturgesetzen« reduzieren. 39 Für Husserl nimmt das Dilemma, das er in der Krisis der europäischen Wissenschaften kulminieren sieht, seinen Ausgang mit dem Erfahrungsbegriff der Naturwissenschaften: Allen Naturwissenschaften haftet in Hinblick auf ihre Gegenstandsbestimmung ein Rest sinnlicher Erfahrung an, der die Erkenntnis in Relation zu den subjektiven resp. sinnlichen Erkenntnisbedingungen setzt, obwohl deren Versprechen laut Husserl doch lautet, die objektive Natur unabhängig von der subjektiven Erfahrung bestimmen zu können. Die subjektiven Erkenntnisbedingungen dürfen jedoch keine Rolle spielen, sollen die Erkenntnisse in reiner Objektivität ausgewiesen werden. Das Objektivitätsversprechen der Naturwissenschaften kann damit nicht eingelöst werden, da die naturwissenschaftliche Erkenntnis stets »subjektiv-relativ« bleibt. 40 Vermeintlich unabhängig von allen subjektiven Faktoren konstruieren die Naturwissenschaften die Realität im Rahmen räumlich und zeitlich gegebener Naturgesetzmäßigkeiten und erliegen dem Trugschluss, sie wären imstande, die Wirklichkeit, wie sie hinter der menschlichen Sinnlichkeit verborgen liegt, als wahre Wirklichkeit zu erschließen. 41 Innerhalb der Naturwissenschaften lässt Husserl der Psychologie besondere Aufmerksamkeit zukommen, da die Psychologie das Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 8. Edmund Husserl: Phänomenologie und Psychologie [1917], in: ders.: Aufsätze und Vorträge (1911–1921), (Husserliana, Bd. XXV), hrsg. von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp. Martinus Nijhoff: Boston MA, Dordrecht, Lancaster UK 1987, S. 82– 124, hier S. 83. 41 Vgl. ebd. 39 40

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Bewusstsein und damit »das spezifisch Subjektive« zu ihrem Gegenstand hat – ebendieses genuin subjektive Vermögen des Bewusstseins droht die Psychologie zu objektivieren, d. h. sie abstrahiert von den subjektiven Faktoren, um die Bewusstseinsprozesse quantitativ messen und darstellen zu können. 42 Doch alle Wissenschaften, so Husserl, entspringen subjektiven Leistungen. 43 Wäre die Psychologie tatsächlich die »Wissenschaft von allem Subjektiven«, so stünde sie »zu allen Wissenschaften in einem merkwürdigen Korrelationsverhältnis«. 44 Als Wissenschaft von allem Subjektiven käme ihr eine doppelte Aufgabe zu: Sie müsste erstens die Genese aller Wissenschaften aus den subjektiven Leistungen aufzeigen können, aus denen diese hervorgegangen sind, die sie jedoch selbst nicht in den Blick bekommen. Zweitens wäre sie darüber hinaus dazu verpflichtet, sich selbst reflexiv zu erfassen. 45 Doch weder eine »der historisch gewordenen Psychologien alter und neuer Zeit [hat] je dieser Universalität genuggetan«, noch überhaupt je dieses »Problem ernstlich durchdacht«. 46 Die Psychologie ist nicht imstande sich selbst und ihre eigenen Grundlagen noch einmal zu reflektieren. Sie kann folglich, so Husserl, nicht die Grundlagenwissenschaft aller weiteren Wissenschaften abgeben. Sie ist nicht die Wissenschaft von allem Subjektiven, sondern bleibt »die Wissenschaft vom ›Psychischen‹ im konkreten Zusammenhang der raumzeitlichen Realitäten«. 47 Mit ihrer Bindung an »raumzeitliche[] Realitäten« liegt der Psychologie, wie auch Diltheys Methode geisteswissenschaftlichen Verstehens, ein empirischer Bewusstseinsbegriff zugrunde. Alle Erkenntnisse, auf diese Weise gewonnen, sind dann lediglich relativ, nicht absolut. 48 Edmund Husserl: Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft [1929] (Husserliana, Bd. XVII), hrsg. von Paul Janssen. Martinus Nijhoff: Den Haag 1974, S. 42. 43 Vgl. Husserl: Phänomenologie und Psychologie, S. 82 f. 44 Husserl: Formale und transzendentale Logik, S. 42. 45 Vgl. ebd. 46 Ebd. 47 Edmund Husserl: Der Encyclopaedia Britannica Artikel. Vierte, letzte Fassung [1927], in: ders.: Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925 (Husserliana, Bd. IX), hrsg. von Walter Biemel. Martinus Nijhoff: Den Haag 1962, S. 277–301, hier S. 278. 48 Vgl. Edmund Husserl: Die reine Phänomenologie, ihr Forschungsgebiet und ihre Methode. Freiburger Antrittsrede 1917 [1976], in: ders.: Aufsätze und Vorträge (1911–1921), (Husserliana, Bd. XXV), hrsg. von Thomas Nenon und Hans Rainer 42

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Soll eine Wissenschaft jedoch das Fundament aller weitere Wissenschaften abgeben können, dann muss sie Husserl zufolge Wahrheit und Objektivität im strengen Sinne gewährleisten. Wahrheit ist »über alle Zeitlichkeit erhaben«. Käme ihr »zeitliches Sein« zu, »Entstehen oder Vergehen«, d. h. wäre sie an besagte raumzeitliche Realitäten gebunden, dann wäre sie nicht mehr als eine unter anderen empirischen Tatsachen, und unter all »diesen Tatsachen sollte sich nun […] das Gesetz selbst finden«, das alle weiteren Erkenntnisse fundieren soll: »Das Gesetz entstände und verginge nach dem Gesetz« – für Husserl »ein offenbarer Widersinn«. 49 Die Prinzipien und Gesetze einer Grundlagenwissenschaft können nicht ihrerseits auf empirischen Grundlagen fußen, andernfalls bliebe nur der Relativismus, schlimmstenfalls ein Skeptizismus. Im Kern adressiert Husserl mit seiner Psychologismuskritik die methodisch unsaubere Trennung von Idealem und Realem, denn, so macht Husserl unmissverständlich klar, die Objektivität der Wahrheit geht auf ihre Idealität zurück. 50 Die Reflexion des Psychologen ist keine »reine Reflexion«, da sie mit »äußerer Erfahrung« verknüpft ist und an diese gebunden bleibt. Dem empirisch verunreinigten Bewusstsein der Psychologie setzt Husserl sein Programm einer Phänomenologie als »Wissenschaft vom reinen Bewußtsein« entgegen. Diese Wissenschaft soll »ausschließlich aus der reinen Reflexion« schöpfen und dadurch »jederlei äußere Erfahrung« ausschließen können. 51 Ihren Ausgang nimmt der Weg in die reine Reflexion der Phänomenologie mit den Logischen Untersuchungen. Die Frage, die es im nächsten Schritt zu beantworten gilt, ist, welche Option Husserl dem empirischen Bewusstsein der diltheyschen Weltanschauungstypologie und der Psychologie entgegensetzt. Mit den Logischen Untersuchungen verspricht Husserl eine Überwindung des Psychologismus und in Form der Phänomenologie Sepp. Martinus Nijhoff: Boston MA, Dordrecht, Lancaster UK 1987, S. 68–81, hier S. 75. 49 Husserl: Logische Untersuchungen. Erster Band, S. 87. 50 Vgl. Husserl: Logische Untersuchungen. Erster Band, S. 194. Da die Objektivität von der Idealität der Erkenntnis abhängig ist, führt die Missachtung dieser Idealität zu »eine[r] Reduzierung von aller Erkenntnis auf eine ständig sich wandelnde Fluktuation von subjektiven Akterlebnissen« (Dan Zahavi: Intentionalität & Konstitution. Eine Einführung in Husserls Logische Untersuchungen. Museum Tusculanum Press: Kopenhagen 1992, S. 20) und damit auf einen Skeptizismus. 51 Husserl: Die reine Phänomenologie, ihr Forschungsgebiet und ihre Methode, S. 75.

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den Anspruch auf eine Grundlagenwissenschaft einzulösen: Die Phänomenologie soll imstande sein, jene Form der Reflexion einzuholen, an der Psychologie seines Erachtens scheitert. 52 Die Phänomenologie reflektiert nicht auf die psychischen Erlebnisse, sondern auf die »Akte selbst und ihren immanenten Sinnesgehalt zu Gegenständen« und damit nicht mehr auf Gegenstände, die raumzeitlichen Bedingungen unterworfen sind. 53 Der Unterschied zur Psychologie liegt in Husserls Verständnis der Bewusstseinsakte begründet, die er als intentionale Erlebnisse auffasst und nicht als psychische, d. h. empirische Denkakte. Die intentionalen Erlebnisse sind zwar auf Gegenstände gerichtet, diese Gerichtetheit zielt jedoch auf die Bedeutung, d. h. den Inhalt einer Aussage oder eines Ausdrucks ab, nicht auf den empirischen, raumzeitlich gebundenen Gegenstand. Es gilt Husserl zufolge, zwischen dem, was ein Ausdruck bedeutet, und dem, worüber dieser Ausdruck etwas sagen möchte, zu unterscheiden. 54 Die Bedeutung ist dem Akt immanent und in diesem ersten Schritt nicht an eine empirische Wirklichkeit gebunden, wenngleich sie stets auf diese verweist. 55 Dem Bereich der an die Wirklichkeit gebundenen Psychologie stellt Husserl in den Logischen Untersuchungen einen Bereich der Idealität an die Seite, den die Phänomenologie zu erschließen sucht. In diesem Bereich der Idealität können Husserl zufolge absolute Erkenntnisse anstelle bloß relativer gewonnen werden. Die logischen Gesetze, die es zu Tage zu fördern gilt, beanspruchen absolute Geltung und richten sich auf ideale Inhalte. Sie sind dadurch keiner Veränderung unterworfen, die mit realen Inhalten einhergeht, reale und ideale Inhalte stehen nicht in Konflikt miteinander: Die »rein-logischen Gesetze« werden »durch keine wirkliche«, nicht einmal durch eine »fiktive Änderung in der Welt des matter of fact berührt«. 56 Die Verwechselung von realen mit idealen Inhalten führt dazu, dass psychische Denkakte kurzerhand als logische Gesetze ausgegeben werden. Erheben diese Anspruch auf absolute Gültigkeit, obwohl sie bloß Vgl. Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis [1901] (Husserliana, Bd. XIX/1), hrsg. von Ursula Panzer. Martinus Nijhoff: Den Haag, Boston MA, Lancaster UK 1984, S. 12. 53 Ebd., S. 14. 54 Vgl. ebd., S. 52. 55 Vgl. ebd., S. 352 f. 56 Husserl: Logische Untersuchungen. Erster Band, S. 153. 52

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relative Gültigkeit besitzen, dann wird Reales unter der Hand zu Idealem erklärt. 57 Logische Gesetze beziehen sich nicht auf reale, sondern auf ideale Inhalte und die idealen Inhalte beziehen sich ihrerseits auf Denkgesetze, nicht auf Denkakte. Wäre die Psychologie besagte Grundlagenwissenschaft, so wäre alle Objektivität abhängig von psychischen Abläufen, d. h. Denkakten. Da die Psychologie jedoch an empirische Faktoren in Form von »raumzeitlichen Realitäten« gebunden bleibt, wäre sie als Grundlagenwissenschaft empirische Wissenschaft. 58 Ihre Gesetze bleiben an den empirischen Raum und die empirische Zeit gebunden und können keine Erkenntnis von absoluter Gültigkeit hervorbringen. Ein logisches Gesetz jedoch bleibt in seiner Idealität unberührt und gilt absolut, selbst wenn dessen empirische Geltung bestritten werden mag. Die Logik als Idealwissenschaft gründet auf der Annahme der »›Ewigkeit‹ dieser Gesetze«. 59 Wie Bernet, Kern und Marbach betonen, erheben die Gesetze der reinen Logik Anspruch auf »ideale Identität«, d. h. sie liegen jeder Realisierung in Form individueller Tatsachen zugrunde. 60 Wider relativistische Ansätze macht Husserl deutlich, dass kein »Satz […] etwas über Reales aus[sagt]«, solange dieser Satz »in bloßen Begriffen gründet«. 61 Die Phänomenologie steht dann vor der Aufgabe, das, was in diesen »Begriffen liegt und mit ihnen gegeben ist«, aufzudecken. 62 Mit den Logischen Untersuchungen gilt es, allgemeingültige Begriffe festzustellen, die unabhängig von ihrer Realisierung in ihrer Allgemeinheit und idealen Identität bestehen bleiben. Dieser Aspekt findet sich bei Husserl unter dem Stichwort der Spezies, die in einem Verfahren der »ideierende[n] Abstraktion« gewonnen wird. 63 Ausgehend von einer Anschauung von etwas Rotem, so Husserls Beispiel, können wir, abstrahierend von der konkreten Anschauung, die Idee der Röte herausstellen, ohne in demselben Moment das sinnlich wahrgenommene Rot vor Augen zu haben. Im Vgl. ebd., S. 87. Husserl: Der Encyclopaedia Britannica Artikel, S. 278. 59 Husserl: Logische Untersuchungen. Erster Band, S. 147. 60 Rudolf Bernet, Iso Kern und Eduard Marbach: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens. Felix Meiner: Hamburg 1989, S. 32. 61 Husserl: Logische Untersuchungen. Erster Band, S. 145; vgl. hierzu Bernet, Kern und Marbach: Edmund Husserl, S. 53. 62 Husserl: Logische Untersuchungen. Erster Band, S. 145. 63 Ebd., S. 10. 57 58

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Zuge der ideierenden Abstraktion tritt das Wesen als allgemeine und »identische Spezies« 64 heraus – »nicht individuelle Einzelzüge, sondern Allgemeinbegriffe (direkte Vorstellungen von Attributen als Denkeinheiten) gewinnen wir in ihrem Sinne durch ›Abstraktion‹«. 65 Auf logischer Ebene gehen diese Allgemeinbegriffe in ihrer idealen Identität und als identische Spezies jeder möglichen empirischen Realisierung und Individuation voraus. Einer reinen Logik muss es deshalb darum gehen, »allen logischen Fundamentalbegriffen feste Bedeutungen zu geben« – und dieses Vorhaben, so Husserl, ist nichts anderes als ein »Rückgang auf die analytisch durchforschten Wesenszusammenhänge«, die »in ihrer möglichen Erkenntnisfunktion verständlich und zugleich gesichert sind«. 66 Diese Wesenszusammenhänge rücken mit der zweiten Auflage der Logischen Untersuchungen von 1913 in Form der Korrelation zwischen Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung in den Blick. Diese Korrelation macht für Husserl das intentionale Erleben aus. 67 Ernst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger [1967]. Walter de Gruyter: Berlin 21970, S. 141. »So erfassen wir die spezifische Einheit Röte direkt, ›selbst‹, auf Grund einer singulären Anschauung von etwas Rotem. Wir blicken auf das Rotmoment hin, vollziehen aber einen einzigartigen Akt, dessen Intention auf die ›Idee‹, auf das ›Allgemeine‹ gerichtet ist. Die Abstraktion im Sinne dieses Aktes ist durchaus verschieden von der bloßen Beachtung oder Hervorhebung des Rotmomentes; den Unterschied anzudeuten, haben wir wiederholt von ideierender oder generalisierender Abstraktion gesprochen.« (Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil, S. 225 f.) 65 Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil, S. 226. Dass es sich um »direkte Vorstellung« handelt, macht deutlich, dass das Verfahren der ideierenden Abstraktion Einsicht in Wesenszusammenhänge verspricht. Wenngleich die sinnliche Anschauung eines Rotmoments zugrunde liegen muss, um ausgehend von dieser auf die Idee der Röte zu kommen (vgl. Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, S. 140), kann das »reine Rot […] als Eidos« und d. h. als »Identisches und Allgemeines« (Edmund Husserl: Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925 (Husserliana, Bd. IX), hrsg. von Walter Biemel. Den Haag: Martinus Nijhoff 1962, S. 79) nicht mittels Deduktion aus beliebig vielen empirischen Exemplaren oder Anschauungen gewonnen werden. 66 Husserl: Logische Untersuchungen. Erster Band, S. 10 f. 67 Vgl. Bernet, Kern und Marbach: Edmund Husserl, S. 40. In der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen aus den Jahren 1900/1901 verfällt Husserl z. T. selbst noch einem empirischen Bewusstseinsbegriff und dringt noch nicht zu jenem reinen Bewusstsein vor, das nachfolgend die Grundlage der transzendentalen Phänomenologie darstellen wird (vgl. Bernet, Kern und Marbach: Edmund Husserl, S. 38–42). Bernet, Kern und Marbach bescheinigen Husserl ab dem Jahr 1905 ein »erweiterte[s] Problembewußtsein«, insofern Husserl die Frage nach einer reinen Logik nur noch als »ein Sondergebiet der allgemeinen erkenntnistheoretischen Forschung« (Bernet, 64

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Husserls Historismus- und Psychologismuskritik

Die Konzentration der Logischen Untersuchungen auf die intentionalen Erlebnisse führt die Phänomenologie auf die Frage nach den Bedeutungen, die sich in diesen Akten konstituieren: Die intentionalen Erlebnisse sind »Erlebnisse des Bedeutens« und alles »BeKern und Marbach: Edmund Husserl, S. 52) ansieht. Im Jahr 1907 hält Husserl an der Göttinger Universität fünf Vorlesungen, die die Kerngedanken seiner in den nachfolgenden Jahren ausgearbeiteten transzendentalen Phänomenologie bereits enthalten (vgl. Edmund Husserl: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen (Husserliana, Bd. II), hrsg. von Walter Biemel. Martinus Nijhoff: Den Haag 1950). Husserl geht damit nicht erst mit den Ideen zu einer reinen Phänomenologie von 1913 zum transzendentalen Idealismus über (vgl. Walter Biemel: Einleitung des Herausgebers, in: Edmund Husserl: Die Idee der Phänomenologie (Husserliana, Bd. II), hrsg. von Walter Biemel. Martinus Nijhoff: Den Haag 1950, S. VII–XI). Wenige Jahre nach Erscheinen der Logischen Untersuchungen hält Husserl seine Psychologismuskritik nach wie vor für berechtigt, erkennt jedoch, dass er den relativistischen Strömungen selbst noch kein Programm entgegensetzen konnte, dass sich der Gefahr eines drohenden Relativismus mit aller Radikalität zu entledigen weiß. Eine eindeutige Abgrenzung seines eigenen Programms gegen die relativistischen Tendenzen erreicht Husserl erst mit der transzendentalen Phänomenologie (zum Übergang von Husserls Unterfangen einer reinen Logik zu dem einer reinen Phänomenologie vgl. Bernet, Iso Kern und Eduard Marbach: Edmund Husserl, S. 41–50, 50–55; Bernet, Kern und Marbach verweisen zugleich auf die Kontinuität von den Logischen Untersuchungen von 1900/1901 bis zu den Ideen I, vgl. ebd., S. 40). Die Erforschung der Wesenszusammenhänge bildet Bernhard Waldenfels zufolge ein durchgängiges Motiv der Phänomenologie Husserls, das von den Logischen Untersuchungen über die Ideen I bis zur Ausbildung des transzendentalen Idealismus führt (vgl. Bernhard Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie. Wilhelm Fink: München 1992, S. 20). Ungeachtet dieser Kontinuität weisen die beiden Auflagen der Logischen Untersuchungen wesentliche Unterschiede auf. Nach Erscheinen um die Jahrhundertwende fanden sie auch deshalb so großen Anklang bei Husserls Zeitgenossen, da die von Husserl vorgestellte reine Logik unabhängig von der konstitutiven Verfassung des Menschen Gültigkeit beanspruchen sollte und darin als eine Abkehr von den »Positionen transzendentalidealistischer Spekulationen« (Karl-Heinz Lembeck: Einführung in die phänomenologische Philosophie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1994, S. 95 f.) empfunden wurde. Die Frage nach den logischen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis konzentriert sich hier noch ganz auf die verschiedenen der Erfahrung zugänglichen Objektbereiche: Die »ontologischen Sachanalysen« »der ontologischen und regionalontologischen Forschung« (ebd.) der Logischen Untersuchungen wurden als sog. Wende zum Objekt (vgl. ebd.) begrüßt. Die von Husserl nachfolgend entwickelte Analyse der transzendentalen Strukturen des Bewusstseins war vielen deshalb als ein Rückschritt erschienen, insofern der Blick mit einem Mal auf die konstitutiven Leistungen des Bewusstseins fällt: »An die Stelle der Wesensstruktur realer Sachgegebenheit tritt nunmehr das Bewußtsein als das alleinige Objekt kritischer Konstitutionsanalysen« (Lembeck: Einführung, 95 f.). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich mit dem Kreis der Göttinger und Münchener Phänomenologie (vgl. hierzu Herbert Spiegelberg: The Phenomenological Movement. A historical Intro-

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deutungsmäßige« liegt in diesen Erlebnissen begründet. 68 Damit eröffnet sich das Feld der Phänomenologie als eine »Sphäre der (in phänomenologischer Reinheit) erfaßten Erlebnisse«. 69 Für Ricœur öffnet sich mit der Bedeutung, die sich in diesen Erlebnissen konstituiert, das Arbeitsgebiet der Phänomenologie Husserls in seiner ganzen Breite: Die Bedeutung, so Ricœur, bildet die »umfassendste Kategorie der phänomenologischen Beschreibung«, insofern die »bedeutungsverleihende[] Tätigkeit« bestimmend für das intentionale Erleben ist und sich im Anschluss an die Logischen Untersuchungen als Zentrum des phänomenologischen Denkens Husserls begreifen lässt. 70 Ricœur schließt mit seiner Hermeneutik an Husserls Unterscheidung zwischen Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung an, eine Unterscheidung, die Husserl trifft, um das intentionale Erleben vom empirischen abzugrenzen. Um diese Unterscheidung herauszuarbeiten, rekurriert Husserl zunächst auf die Ausdrücke der gewöhnlichen Sprache; für gewöhnlich, so Husserl, werden die Begriffe Ausdruck und Bedeutung synonym verwendet. Um das Feld der Phänomenologie als das der Konstitution von Bedeutungen zu eröffnen, müssen diese beiden Begriffe voneinander geschieden werden, um die Bedeutung, gesondert von ihrem empirischen Anteil und auf ihre apriorische Bestandteile reduziert, für die Phänomenologie zu reklamieren. 71 Das Ziel und Anduction (Phaenomenologica, Bd. 5/6). With the collaboration of Karl Schumann. Martinus Nijhoff Publishers: The Hague, Boston MA, Lancaster UK 31983, S. 166–267) eine Rezeptionslinie durch, die sich an der Wende zum Objekt der Logischen Untersuchungen orientierte und die Transzendentalphilosophie in Form des transzendentalen Idealismus als »Selbstmißverständnis Husserls« (Lembeck: Einführung, S. 96) ablehnte. 68 Der Ausdruck bezeichnet einen Gegenstand zwar »mittels seiner Bedeutung«, doch ist der Gegenstand als wirklicher, d. h. empirischer irrelevant. Der »Akt des Bedeutens« bezeichnet den entsprechenden Gegenstand auf eine »bestimmte Weise«. Das Interesse des Phänomenologen trifft an dieser Stelle auf »eben diese Weise des bedeutsamen Meinens und somit die Bedeutung selbst« (Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil, S. 54 f.). Der Gegenstand wird zum intendierten Bezugspol, auf den Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung in einem Korrelationsverhältnis gerichtet sind. 69 Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil, S. 353. 70 Paul Ricœur: Die Frage nach dem Subjekt angesichts der Herausforderung der Semiologie [1968/1969], übers. von Johannes Rütsche, in: ders.: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen, Bd. 1. Kösel: München 1973, S. 137–173, hier S. 148. 71 Vgl. Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil, S. 13.

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liegen der Logischen Untersuchungen lautet deshalb zunächst, »das Verhältnis von Ausdruck und Bedeutung zu analytischer Klarheit zu bringen«. Mit dieser Ab- und Eingrenzung des phänomenologischen Bereichs gegenüber dem gewöhnlichen Sprachgebrauch wendet sich Husserl zugleich gegen die Tendenz des Psychologismus, denn phänomenologisch gewendet findet die Konstitution von Bedeutungen nicht auf der Ebene psychischer Akte statt. Bedeutungen bilden vielmehr den »immanenten Sinnesgehalt« der intentionalen Akte. 72 Husserl zufolge sind die Zeichen unserer Sprache bloße »Anzeichen«. Als Anzeichen verweisen sie auf etwas in der Wirklichkeit, d. h. ihre Funktion erschöpft sich in der Verweisung, sie selbst bringen nichts zum Ausdruck, es sei denn zu ihrer Funktion der bloßen Verweisung gesellt sich zusätzlich eine »Bedeutungsfunktion«. 73 Die im Gespräch gebrauchten Ausdrücke verweisen auf die Umgebung, auf die Gesprächsteilnehmer und dergleichen mehr. Der Sprechende äußert etwas über etwas und verleiht seiner Rede »in gewissen psychischen Akten einen Sinn«. Es besteht, so Husserl, eine Korrelation zwischen der »physische[n] Seite der Rede« und den »zusammengehörigen physischen und psychischen Erlebnissen der miteinander verkehrenden Personen«. 74 Die im Gespräch gebrauchten Ausdrücke gehen damit ganz in ihrer Funktion als Anzeichen auf. Ausdrücke können abseits ihrer Funktion »in der kommunikativen Funktion« jedoch auch als Ausdrücke »im einsamen Seelenleben« betrachtet werden. Hier fällt die Bedeutung nicht mit der »kundgebenden Leistung« des Ausdrucks und dessen anzeigender Funktion zusammen. 75 Sie adressiert nicht die empirische Wirklichkeit und liegt nicht in psychischen Akten begründet, d. h. in Akten, die an die Wirklichkeit in ihrer Raumzeitlichkeit gebunden sind, sondern stellt besagten immanenten Sinnesgehalt der intentionalen Akte dar. Eine psychische Ausdruckserscheinung verweist auf etwas Gegenständliches, das in der Wirklichkeit gegeben ist. Ein sinngebender und sinnerfüllender Akt intentionalen Erlebens ist im Unterschied dazu ein Akt, in dem sich die Bedeutung und die entsprechende »anschauliche Fülle« allererst konstituiert. Im Zuge dieser Konstitution

Ebd., S. 14. Ebd., S. 30. 74 Ebd., S. 39. »Sprechen und Hören, Kundgabe psychischer Erlebnisse im Sprechen und Kundnahme derselben im Hören, sind einander zugeordnet.« (Ebd.) 75 Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil, S. 41 f. 72 73

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bleiben die wirklichen Gegenstände zunächst außen vor. Es wird nicht der wirkliche Gegenstand adressiert, sondern die Beziehung zu diesem Gegenstand reflektiert, ohne diesen vor Augen zu haben. Im »einsamen Seelenleben« kann eine Anschauung erfüllt gegeben sein, muss es aber nicht. Die Beziehung von Ausdruck und Gegenstand bleibt in diesem Fall »unrealisiert«, d. h. in der »Bedeutungsintention beschlossen«. Husserl kommt damit auf die Unterscheidung von Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung zu sprechen: »Indem sich die zunächst leere Bedeutungsintention erfüllt, realisiert sich die gegenständliche Beziehung«. Husserl unterscheidet damit zwei »Aktreihen« voneinander: die dem Ausdruck wesentlichen, »bedeutungsverleihenden Akte oder auch Bedeutungsintentionen« und »bedeutungserfüllende Akte«, die die Bedeutungsintention erfüllen. Sie »aktualisieren« die »gegenständliche Beziehung« des Aktes. 76 Bedeutungsverleihende und bedeutungserfüllende Akte bilden eine »innig verschmolzene Einheit«. Ziel und Anliegen der Phänomenologie Husserls ist die Reflexion auf diese beiden Akte bzw. Aktreihen. Erlebt werden Husserl zufolge sowohl die Wortvorstellung als auch der den Wörtern sinngebende Akt: »[A]ber während wir die Wortvorstellung erleben, leben wir doch ganz und gar nicht im Vorstellen des Wortes, sondern ausschließlich im Vollziehen seines Sinnes, seines Bedeutens«. In der Reflexion auf den Vollzug der Bedeutungsintention widmen wir uns dem intendierten Gegenstand, unabhängig von seiner Realisierung in der Wirklichkeit. 77 An dieser Stelle eröffnet sich für Husserl das phänomenologische Feld der Deskription, das abseits psychischer Tatsachen die Bedeutungskonstitution und ihre mögliche Erfüllung in den Blick nimmt. 78 Husserl vollzieht in den Logischen Untersuchungen eine, wie er sagt, »Wendung von der realen Beziehung der Akte zur idealen Beziehung ihrer Gegenstände«. Es geht im Zuge der Kommunikation nicht um das »Lautgebilde« selbst, sondern um das, was mittels eines Ausdrucks intendiert ist und immer wieder intendiert werden kann, unabhängig von der individuellen Realisierung des Lautgebildes. 79 Sowohl der Ausdruck als auch die Bedeutung bleiben stets identisch. Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil, S. 44. Ebd., S. 45 f. 78 Ebd., S. 46 f. »Unser Interesse, unsere Intention, unser Vermeinen – bei passender Weite lauter gleichbedeutende Ausdrücke – geht ausschließlich auf die im sinngebenden Akt gemeinte Sache.« (Ebd., S. 47) 79 Ebd., S. 48 f. 76 77

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Wer auch immer den Ausdruck einer dreieckigen Pyramide gebrauchen mag, so Husserls Beispiel, der Ausdruck bleibt, unabhängig von seiner Realisierung, stets identisch derselbe, insofern er bedeutet, »daß die drei Höhen eines Dreieckes sich in einem Punkte schneiden«. 80 Die Idealität von Ausdruck und Bedeutung bleibt unabhängig von deren Realisierung bestehen. Stets verweist dieselbe Ausdrucksform auf etwas Identisches und dieses Identische ist die Bedeutung. 81 Das Feld der reinen Logik ist damit abgesteckt: Sie hat es, »wo immer sie von Begriffen, Urteilen, Schlüssen handelt, ausschließlich mit diesen idealen Einheiten […] zu tun, die wir hier Bedeutungen nennen«. 82 In ihrer Idealität sind Bedeutungen unabhängig von psychologischen und grammatischen Konstruktionen. Jeder Forscher, der Ausdrücke gebraucht, weist mittels dieser auf die »objektive Bedeutung« dieser Ausdrücke hin. 83 Wider das geisteswissenschaftliche Verstehen Diltheys setzt Husserl die begriffliche Erkenntnis: »Nicht das Verstehen interessiert ihn [den Forscher], sondern der Begriff, der ihm als ideale Bedeutungseinheit gilt, sowie die Wahrheit, die sich selbst auf Begriffen aufbaut.« 84 Diese ideale Bedeutungseinheit zeigt sich dem Phänomenologen in der Erfüllung der Bedeutungsintention: »In jeder Erfüllung findet eine mehr oder minder vollkommene Veranschaulichung statt.« Die Intention selbst führt auf die Erfüllung hin, erst die Erfüllung aber gibt der Intention ihre Fülle: »In der Erfüllung erleben wir gleichsam ein das ist es selbst.« Husserl zufolge weist die Bedeutungserfüllung verschiedene Grade der Vollkommenheit ihrer Realisierung auf und besitzt eine »ideale Grenze«. Diese markiert das Telos der logischen Korrelation von Intention und Erfüllung und setzt, wie Husserl sagt, Ebd., S. 50. »Mein Urteilsakt ist ein flüchtiges Erlebnis, entstehend und vergehend. Nicht ist aber das, was die Aussage aussagt, dieser Inhalt, daß die drei Höhen eines Dreieckes sich in einem Punkte schneiden, ein Entstehendes und Vergehendes. Sooft ich, oder wer auch immer diese selbe Aussage gleichsinnig äußert, sooft wird von neuem geurteilt. Die Urteilsakte sind von Fall zu Fall verschieden. Aber, was sie urteilen, was die Aussage besagt, das ist überall dasselbe. Es ist ein im strengen Wortverstande Identisches, es ist die eine und selbe geometrische Wahrheit.« (Ebd.) 81 Vgl. ebd., S. 49. 82 Ebd., S. 97. 83 Ebd., S. 98 f. 84 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Zweiter Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis [1901] (Husserliana, Bd. XIX/2), hrsg. von Ursula Panzer Martinus Nijhoff Publishers: Den Haag, Boston MA, Lancaster UK 1984, S. 99. 80

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»ein unüberschreitbares Ziel«, »das Ziel der absoluten Erkenntnis, der adäquaten Selbstdarstellung des Erkenntnisobjekts«. 85 Die Möglichkeit der adäquaten Selbstdarstellung liegt in den apriorischen Verhältnissen begründet, die zwischen Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung statthaben und auf die »bedeutete Gegenständlichkeit« gerichtet sind. 86 Die höchste Steigerungsform dieser Korrelation sieht Husserl dort gegeben, wo »die volle und gesamte Intention […] eine endgültige und letzte Erfüllung erreicht hat«. 87 An diesem Punkt wird der intendierte Gegenstand in seiner Idealität anschaulich, die Bedeutungsintention erfährt ihre vollkommene Erfüllung. Diese höchste Stufe bildet für Husserl ein Ideal, das im Begriff der Evidenz bzw. dem der Wahrheit kulminiert – in der Evidenz gelangen Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung zur Deckung. 88 Unabhängig davon, ob sich Husserls Modell einer reinen Logik als tragfähig erweist und ob Evidenz zu erreichen möglich ist, greift Ricœur die Unterscheidung von Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung auf, überträgt diese intentionale Struktur der Bewusstseinsakte auf die Sprache und begreift sie als deren Referenzfunktion: Die Sprache verweist immer schon auf eine Wirklichkeit und auf die Sprecher, die diese zum Ausdruck bringen, sie deuten und interpretieren. An die Stelle der dem Bewusstsein immanenten Sinnesgehalt bei Husserl rückt bei Ricœur die Sprache, die immer schon auf die Wirklichkeit verweist. Die reine Logik Husserls setzt ganz auf die Beschreibung der bedeutungsverleihenden Akte und ihre Erfüllung, die sich Husserl zufolge a priori ausweisen lassen. Diltheys hermeneutischer Begriff des Verstehens erscheint der husserlschen Logik als ein Umweg auf Ebd., S. 597 f. Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil, S. 97. Die rein logischen Gesetze, die Husserl zu eruieren sucht, sind »insgesamt a priori gültig« und finden »[n]icht durch Induktion, sondern durch apodiktische Evidenz […] Begründung und Rechtfertigung« (Husserl: Logische Untersuchungen. Erster Band, S. 74). 87 Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Zweiter Teil, S. 647. 88 Die Evidenz verbleibt auf Ebene der intentionalen Erlebnisse. Auf ontologischer Ebene bildet die Wahrheit das Korrelat der Evidenz als »Sein im Sinne der Wahrheit« (Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Zweiter Teil, S. 651). Wahrheit im Sinne Husserls steht für die von ihm zuvor herausgestellte »objektive Bedeutung« (Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil, S. 98 f.; zur Unterscheidung von Evidenz und Wahrheit vgl. Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Zweiter Teil, S. 645–656). 85 86

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dem Weg zur Bedeutung. Reine Bedeutungen in ihrer Idealität bekommt die Hermeneutik Diltheys nicht in den Blick, auf die es der Phänomenologe jedoch abgesehen hat: »Nicht das Verstehen interessiert ihn, sondern der Begriff, der ihm als ideale Bedeutungseinheit gilt, sowie die Wahrheit, die sich selbst aus Begriffen aufbaut.« 89 Mit Ricœur verschiebt sich die Aufmerksamkeit weg vom idealen Sinn hin zur Bedeutung: Der ideale Sinn gilt ihm lediglich als Voraussetzung dafür, dass uns Texte und Werke, die Jahrhunderte vor uns geschrieben wurden, noch immer etwas sagen; er wird in Werken konserviert und bleibt in seiner Idealität dem Werk immanent. Ricœur geht es jedoch in erster Linie um die Frage der Bedeutung und wie diese im Zuge der Rezeption entsteht. In einem ersten Schritt überträgt Ricœur die husserlsche Unterscheidung zwischen Bedeutung und Erfüllung auf die Sprache, in einem zweiten Schritt integriert er diese produktiv seiner Kulturphilosophie und Hermeneutik. Die husserlsche Frage nach den subjektiven Konstitutionsbedingungen der Wirklichkeit wendet Ricœur in die Frage nach der Konstitution der Wirklichkeit, die wir uns interpretierend aneignen. Vermittelt über die Werke und Texte, die Tradition und Kultur gibt es kein unmittelbares Selbstverhältnis des Subjekts zu sich selbst, wie die Phänomenologie Husserls suggeriert. Damit aber kommt eine Frage auf, die Husserl durch seine idealisierte Bedeutungstheorie bereits erledigt glaubte: Was genau verstehen wir eigentlich, wenn wir interpretieren? Es bleibt festzuhalten, dass Ricœur die von Husserl getroffene Unterscheidung zwischen Bedeutung und Erfüllung auf seine Hermeneutik überträgt: Was sich bei Husserl als Struktur der Intentionalität ausnimmt, bildet bei Ricœur die Referenzfunktion der Sprache sowie eines Textes bzw. Werkes. Diese Übertragung auf die Texte und Werke der Kultur liegt in Ricœurs Lesart des husserlschen Begriffs der Intentionalität begründet; Husserl macht deutlich, dass Bedeutungen stets einen »immanenten Sinnesgehalt« aufweisen. 90 Dieser immanente Sinnesgehalt bildet Ricœur zufolge eine identifizierbare und wieder-identifizierbare, stets identische Einheit eines Sinns, auf den die intentionalen Akte im Kontext der Phänomenologie Husserls gerichtet sind. Ricœur verlegt diesen bei Husserl dem Bewusstsein immanenten Sinnesgehalt in die Werke der Kultur: Für Ricœur be89 90

Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil, S. 99. Ebd., S. 14.

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deutet dies, dass das Subjekt sich nur im Spiegel der Dinge erkennt, die es intentional erfasst. 91 Das Subjekt steht in diesem Fall schon nicht mehr für das Bewusstsein der Phänomenologie Husserls, sondern bereits für ein empirisches Subjekt, das den idealen Sinn nicht in sich als intentionalen Akt des Bewusstseins, sondern in den Werken der Kultur entdeckt. 92 Die phänomenologische Bestimmung der Kultur liegt für Ricœur darin, dass jedes Werk implizit einen Sinn in sich trägt, der wieder und wieder interpretiert und aktualisiert werden kann und im Zuge der Aktualisierung Bedeutung für uns annimmt. 93 Ricœur zufolge hat Frege die gleiche Unterscheidung getroffen und auf die Begriffe von Bedeutung, bei Husserl die Bedeutungsintention, und den Sinn, bei Husserl die Erfüllung, gebracht. Freges Beispiel ist eingängig: Die Ausdrücke Abendstern und Morgenstern weisen dieselbe Bedeutung auf, sie beziehen sich auf den Planeten Venus, werden jedoch unterschiedlich realisiert, ihr Sinn ist jeweils ein anderer, je nachdem, ob die Venus am Abendhimmel oder am Morgenhimmel steht. 94 Freges leicht kontraintuitive Verwendung von Bedeutung und Sinn wendet Ricœur terminologisch, nicht der Sache nach, in ihr Gegenteil: Die Werke der Kultur besitzen einen immanenten Sinn, der es ermöglicht, dass diese Werke über Jahre, Jahrhunderte und Epochen hinweg tradiert und immer wieder von Neuem angeeignet werden können. 95 Die Ebene des Sinns nimmt dadurch einen Status der Vgl. Paul Ricœur: De l’interprétation [1983], in: ders.: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II. Éditions du Seuil: Paris 1986, S. 11–35, hier S. 26. 92 Vgl. hierzu Kap. 4. sowie 4.2. und 4.3.5. 93 Konersmann spricht davon, dass die »Bedeutung kultureller Tatsachen […] eine Bedeutung ohne Sinn ist« (Konersmann: Kulturelle Tatsachen, S. 67), um die hermeneutische Kategorie der Bedeutung, die wir setzen, von höheren Sinnangeboten, die nicht über die Werke erschlossen werden können und die es vermeintlich zu enthüllen gelte, abzugrenzen: Es geht mit Blick auf kulturelle Tatsachen nicht um die »theologische Erwartung einer unsichtbaren, doch stets gegenwärtigen und zutiefst erfüllten Sinnhaftigkeit, die uns die Bedeutung der Sache vollends erschließt« (ebd.). Mit Ricœurs phänomenologischer Bestimmung kultureller Werke hält eine reduzierte Kategorie des Sinns Einzug (vgl. Anm. 95, S. 76 sowie Kap. 4.3.5.). Der Sinn fungiert als Komplement zur Materialität der Werke, zusammengenommen gewährleisten die Materialität und der dem Werk immanente Sinn Tradierbarkeit und die Möglichkeit zur Aneignung und damit Kulturbildung. 94 Vgl. Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung [1892], in: ders.: Funktion – Begriff – Bedeutung (Sammlung Philosophie, Bd. 4), hrsg. von Mark Textor. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2002, S. 23–46, hier S. 24. 95 Ricœur selbst verwendet die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung termi91

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Idealität an, der von verschiedenen Individuen zu verschiedenen Zeiten aktualisiert werden kann. In dieser Aneignung und Aktualisierung nimmt der ideale Sinn Bedeutung für einen Leser bzw. Interpreten an. Der Vorteil dieser Auffassung liegt für Ricœur darin, dass der Sinn keine mentale bzw. psychologische Kategorie ist: Will das Verstehen bei Dilthey noch ganz »mit dem Inneren des Autors übereinstimmen« – es möchte, so Ricœur, »sich ihm gleichsetzen, den schöpferischen Prozeß nachbilden, der das Werk hervorgebracht hat« 96 –, so kann die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung seines Erachtens einen Rückfall in einen Psychologismus verhindern. 97 Darüber hinaus kann die psychologistische Stoßrichtung des diltheyschen Ansatzes Ricœur zufolge nicht erklären, wie es möglich ist, dass im Prozess der Nachbildung neue Bedeutungen entstehen, die nicht bereits Bestandteil des interpretierten Textes sind. Wäre es das psychische Innenleben eines Autors, das wir im Zuge der Interpretation nachbilden und verstehen, dann würden wir lediglich nachbilden und nicht selbst an der Produktion von Bedeutungen beteiligt sein. Folgen wir dieser Interpretation, dann kann Dilthey nicht erklären, was Ricœur Bedeutung nennt: eine Bedeutung, die zwischen Werk und Interpret entsteht. Für Ricœur rückt an die Stelle des Autors das Werk, das wir uns interpretierend aneignen. Die Bedeutung, die zwischen uns und den Dingen entsteht, wird damit zu einem zentralen Begriff seiner Hermeneutik.

nologisch nicht einheitlich, hält diese jedoch in seinem Vorwort zur Übersetzung von Rudolf Bultmanns Jesus und Jesus Christus und die Mythologie präzise fest: Der Sinn (sens) bildet einen idealen Gehalt der Texte und Werke der Kultur, die Bedeutung (signification) entsteht im Zuge der Aneignung durch einen Interpreten und Leser. Die Bedeutung ist »das Moment der Übernahme des Sinns durch den Leser, d. h. das Wirksamwerden des Sinns in der Existenz«. »Der Vorgang des Verstehens in seiner vollen Ausdehnung geht aus vom idealen Sinn (sens idéal) und führt zur existentiellen Bedeutung (signification existentielle) hin.« (Paul Ricœur: Vorwort zur französischen Ausgabe von Rudolf Bultmanns Jesus (1926) und Jesus Christus und die Mythologie (1951) [1968], übers. von Otto Dudle, in: ders.: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen, Bd. 1. Kösel: München 1973, S. 175– 198, hier S. 194). 96 Ricœur: Was ist ein Text?, S. 88. 97 Vgl. Paul Ricœur: Appropriation [1981], in: ders.: Hermeneutics and the human sciences. Essays on language, action and interpretation, übers. und hrsg. von John Brookshire Thompson. Éditions de la Maison des Sciences de l’Homme, Cambridge University Press: Cambridge UK, London, New York NY, New Rochelle NY, Melbourne, Sydney, Paris 51984, S. 182–193, hier S. 184.

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Edmund Husserls idealistische Geschichtsteleologie

Der Sinn bildet ein ideales Moment, das auf der Ebene des Textes beschlossen liegt und für Ricœur keine »Zugehörigkeit zur physischen oder psychischen Welt aufweist«. 98 Es ist, so Ricœur in Anschluss an Husserl, die »Bedeutungsintention«, die »die Wende der Idealität des Sinnes zur Realität des Dinges vollzieht«. 99 Die Texte und Werke der Kultur weisen dadurch einen eigenen Status von Objektivität auf, der auf keinen Urheber bezogen werden muss: Das »Gespenst des Relativismus« ist gebannt. 100 Das, was sich dann als Sinn zeigt, ist genau genommen die Bedeutung vor den Texten und Werken: Die »Objektivität des Textes« ist »Inhalt, Gehalt und Forderung des Sinns« und setzt dadurch einen, wie Ricœur sagt, »existentiellen Aneignungsprozeß in Bewegung«. 101 Ricœur sieht diesen Weg, den er im Folgenden mit seiner Hermeneutik beschreitet, bereits in Husserls Begriff der Intentionalität angelegt, wie Husserl diesen in den Logischen Untersuchungen entwickelt. Für Ricœur bildet die Referenz der Werke und Texte eine zentrale Funktion seiner Hermeneutik. Diese verweist schon immer auf eine Wirklichkeit und geht darin über den immanenten Sinn der Werke hinaus. Ihr folgen wir, wenn wir uns die Werke der Kultur aneignen; in der Aneignung entsteht dann, was Ricœur als narrative Identität beschreibt. 102 Ricœur schließt vornehmlich an die Logischen Untersuchungen Husserls an. Die Frage nach der Konstitution von Bedeutungen eröffnet Ricœur zufolge das Feld der Phänomenologie Husserls, insofern der Begriff der Bedeutung im Sinne Husserls für die »universale[] Vermittlung zwischen dem Subjekt und der Welt« steht. 103 Ebendiese Vermittlung wird im Kontext der Phänomenologie Husserls laut Ricœur erst vollends durch zentrale methodische Bestandsstücke der

Paul Ricœur: Die Struktur, das Wort, das Ereignis [1967], übers. von Johannes Rütsche in: ders.: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen, Bd. 1. Kösel: München 1973, S. 101–122, hier S. 110; vgl. auch Ricœur: Vorwort zur französischen Ausgabe von Rudolf Bultmanns Jesus (1926), S. 194. 99 Ricœur: Die Struktur, das Wort, das Ereignis, S. 111. 100 Paul Ricœur: Die lebendige Metapher [1975] (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Welt, Bd. 12), übers. von Rainer Rochlitz. Wilhelm Fink: München 1986, S. 162. 101 Ricœur: Vorwort zur französischen Ausgabe von Rudolf Bultmanns Jesus (1926), S. 195. 102 Vgl. hierzu Kap. 4.5.2., 4.5.3. sowie 4.6. 103 Ricœur: Die Frage nach dem Subjekt, S. 149. 98

78 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

Die Krisis der europäischen Wissenschaften

transzendentalen Phänomenologie freigelegt. 104 Die später von Husserl entwickelte transzendentale Phänomenologie gilt ihm insofern als eine Erweiterung der in den Logischen Untersuchungen gewonnenen Erkenntnisse. Ricœur hält auf seine Art an der husserlschen Unterscheidung zwischen Bedeutung und Erfüllung fest. Die Weiterentwicklung der Phänomenologie Husserls zur transzendentalen Phänomenologie führt ihm zufolge jedoch zu Problemen, die sich vielleicht am deutlichsten an der husserlschen Geschichtsauffassung ablesen lassen.

2.2. Die Krisis der europäischen Wissenschaften: Intentionalität, Geschichte und Teleologie Bereits mit den Logischen Untersuchungen erklärt Husserl die intentionalen Bewusstseinsakte zum Gegenstand der Phänomenologie. Mit der transzendentalen Phänomenologie vertieft er auf erkenntnistheoretischer Ebene, was er bereits in den Logischen Untersuchungen als intentionale, d. h. bedeutungsstiftende Akte ausgewiesen hatte. Diese bleiben im Kontext der transzendentalen Phänomenologie zwar stets auf Gegenständlichkeit gerichtet, werden von Husserl jedoch in das Bewusstsein hineinverlegt. Ziel und Anliegen dieses methodischen Kunstgriffs, der im Folgenden näher zu erläutern sein wird, ist die Möglichkeit zur Reflexion auf den subjektiven Erkenntnisvollzug fernab empirischer Verunreinigung: Gegenstand der Reflexion sind die reinen bewusstseinsimmanenten Akte. In diese verlegt Husserl noch die Bestimmung der Geschichte, die ihm als Geistesgeschichte zur Geschichte der europäischen Vernunft und Identität wird. Die Geschichte wird intentional gefasst und phänomenologisch gewendet zum Gegenstand Geschichte. Ricœur sowie Blumenberg sehen diese methodische Vereinnahmung der Geschichte vonseiten Husserls kritisch und wenden sich an diesem Punkt strikt gegen dessen Phänomenologie, wenngleich jeder der beiden auf seine Weise der Phänomenologie Husserls verbunden bleibt. Im Folgenden werden in einem ersten Schritt die erkenntnistheoretischen Grundlagen der transzendentalen Phänomenologie

104

Vgl. ebd.

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Edmund Husserls idealistische Geschichtsteleologie

Husserls in den Blick genommen (Kap. 2.2.1.). In einem zweiten Schritt wird zu zeigen sein, inwieweit diese in Husserls Spätwerk, der Krisis-Schrift, dazu dienen, eine teleologische Geschichtsauffassung zu fundieren. Diese nimmt ihren Ausgang bei einer Kritik an den Methoden und der Modellbildung der objektiven, d. h. mathematischen Naturwissenschaften (Kap. 2.2.2.). Was Husserl als Geschichte begreift, geht aus der Erkenntnistheorie der transzendentalen Phänomenologie hervor, diese wiederum profiliert Husserl wider die objektiven Wissenschaften. Husserl lässt die Geschichte aus der Methode der phänomenologischen Erkenntnistheorie hervorgehen, um die Kontingenz in der Geschichte zu bannen. Die bloß zufälligen Ereignisse der empirischen Geschichte können so in einen harmonischen Sinnvollzug überführt werden, methodisch gefasst erhält die Geschichte einen Sinn und wird auf ebendiesen hin orientiert. Die Phänomenologie Husserls selbst erweist sich als letztgültige Realisierungsform dieses Sinnvollzugs, an deren Ursprung und Ende die Vernunft steht, die die europäische Geschichte und Identität zusammenhält (Kap. 2.2.3.). Ricœur sowie Blumenberg grenzen sich von dieser Auffassung gleichermaßen ab (Kap. 2.3.).

2.2.1. Die transzendentale Phänomenologie: Erkenntnistheoretische Grundlagen Wie mit Blick auf Husserls Kritik an Dilthey bereits dargestellt wurde, ist für Husserl das Ideal strenger Wissenschaftlichkeit gleichbedeutend mit dem Anspruch auf Objektivität und Wahrheit: Die zutage geförderten Erkenntnisse müssen Allgemeinheit beanspruchen und dürfen keine individuellen, singulären Phänomene zum Ausgangspunkt haben. Jede empirische Wissenschaft bezieht sich Husserl zufolge jedoch auf individuelle Gegenstände, da diese stets raumzeitlich situiert sind – und »[i]ndividuelles Sein jeder Art«, so Husserls Monitum, »ist, ganz allgemein gesprochen, ›zufällig‹. Es ist so, es könnte seinem Wesen nach anders sein«. Die Gegenstände der empirischen Wissenschaften haben nichts von Notwendigkeit an sich, sie sind kontingent, und doch müssen sie, so Husserl, auf einem Fundament gründen, das sie in ihrem Wesen notwendig bestimmt. Diese Notwendigkeit bedingt, dass die Gegenstände innerhalb einer bestimmten Ordnung und Relation zueinan80 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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der stehen, die nicht bloß zufällig ist – und ebendiese Notwendigkeit lässt sich aus Perspektive der empirischen Wissenschaften nicht einsehen. Sie bestimmt alles Empirische, ist ihrerseits aber nicht empirisch. Den empirischen Wissenschaften entgeht, dass jede Tatsache »korrelativ bezogen ist auf eine Notwendigkeit, die nicht den bloßen faktischen Bestand einer geltenden Regel der Zusammenordnung räumlich-zeitlicher Tatsachen besagt, sondern den Charakter der Wesens-Notwendigkeit und damit Beziehung auf Wesens-Allgemeinheit hat«. Die transzendentale Phänomenologie Husserls hat sich vorgenommen, diese Wesens-Allgemeinheit in den Blick zu nehmen, denn ungeachtet ihrer zufälligen empirischen Realisierung weist jede Tatsache »ein rein zu fassendes Eidos« auf. 105 Dieses Eidos kann allein aus empirischen Tatsachen nicht abgeleitet werden: »Aus Tatsachen Ideen sei es begründen oder widerlegen wollen ist Widersinn.« 106 Die reine Phänomenologie ist deshalb eidetische bzw. Wesenswissenschaft. In dieser Funktion sucht sie Wesenserkenntnisse festzustellen, die der Wirklichkeit a priori vorausliegen. Die »letzte Quelle« aller Erkenntnis liegt gerade nicht in empirischen Tatsachen, sondern »in der Einheit der erkennenden Subjektivität«. 107 Das Anliegen der transzendentalen Phänomenologie lautet, diese erkennende Subjektivität zu erschließen. Zu diesem Zweck reflektiert sie die subjektiven Akte, die die Gegenstandswelt in ihrer Objektivität konstituieren und nimmt diese in ihrer Wesens-Allgemeinheit und -Notwendigkeit in den Blick. Um Wesen und Idee rein, d. h. in Allgemeinheit und Notwendigkeit fernab empirischer Verunreinigung zu gewinnen, bedarf es einer geeigneten Methode, die die erkennende Subjektivität und deren Akte von den Residuen empirischer Tatsachen befreit: die phänomenologische Reduktion. Die phänomenologische Reduktion gilt Husserl als »Methode der radikalen Reinigung und Reinerhaltung des phänomenologischen Be-

Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie [1913] (Husserliana, Bd. III/1), hrsg. von Karl Schuhmann. Martinus Nijhoff: Den Haag 1976, S. 12. 106 Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 45. 107 Edmund Husserl: Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion (Husserliana, Bd. VIII), hrsg. von Rudolf Boehm. Martinus Nijhoff: Den Haag 1959, S. 1–190, hier S. 4. 105

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wußtseinsfeldes von allen Einbrüchen objektiver Wirklichkeiten«. 108 Die Phänomenologie, als »Wissenschaft von ›Phänomenen‹«, 109 ist zugleich »Wissenschaft vom Bewußtsein in sich selbst« – nur im Bewusstsein zeigen sich die Phänomene als reine Phänomene. Die reflexive, »immanente Erfahrung« der Phänomenologie tritt damit in »schärfsten Kontrast« zu der »›äußere[n]‹ oder transzendente[n] Erfahrung« der »›objektiven‹ Wissenschaften«, 110 indem die phänomenologische Reduktion »alle uns bisher geltenden Überzeugungen und darunter auch alle unsere Wissenschaften […] außer Spiel« 111 setzt. Die phänomenologische Reduktion klammert alle Urteile über die objektive Welt ein, jede Wertung über die Welt, jede wie auch immer geartete transzendente Setzung: »Dieses universale Außergeltungsetzen […] aller Stellungnahmen zur vorgegebenen objektiven Welt […] – oder wie auch gesagt zu werden pflegt, diese phänomenologische ἐποχή« führt in die phänomenologische Einstellung. Die Epoché setzt die natürliche Einstellung außer Kraft, »[a]lles Weltliche, alles raum-zeitliche Sein« bleibt außen vor. Der »natürliche Seinsboden«, nunmehr »sekundär«,112 weicht dem transzendentalen: dem reinen Bewusstseinsleben der transzendentalen Subjektivität, die der natürlichen Einstellung zugrunde liegt. 113 Die transzendental-phänomenologische Reduktion reduziert »das Reich […] psychologische[r] Selbsterfahrung« auf »das Reich der transzendental-phänomenologischen Selbsterfahrung«. Es gibt in der phänomenologischen Einstellung folglich »kein psychologisches Ich«. Husserl verhindert damit, auf ebenjenen Weg zu geraten, den Dilthey noch gegangen war. Die phänomenologische Reduktion löst eine mögliche Bindung an noch verbliebene Residuen der empirischen Sinnlichkeit, die selbst den objektiven Wissenschaften noch anhaften, so auch der Psychologie. Im Reich der neugewonnenen, 108 Husserl: Die reine Phänomenologie, ihr Forschungsgebiet und ihre Methode, S. 73. 109 Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 3. 110 Husserl: Die reine Phänomenologie, ihr Forschungsgebiet und ihre Methode, S. 73. 111 Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie [1931], in: ders.: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, (Husserliana, Bd. I), hrsg. von Stephan Strasser. Martinus Nijhoff: Den Haag 21973, S. 41– 183, hier S. 48. 112 Ebd., S. 61. 113 »Die ἐποχή ist […] die radikale und universale Methode, wodurch ich mich als Ich fasse, und mit dem eigenen reinen Bewußtseinsleben« (ebd., S. 60).

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transzendentalen Erfahrung werden die Phänomene nicht mehr als »Bestandstücke psychophysischer Menschen« betrachtet, sie sind Gegenstände eines reinen Bewusstseins. 114 In diesem Reich der transzendentalen Selbsterfahrung rücken die subjektiven, gegenstandskonstituierenden Akte in den Blick. Unter Absehung von dem konkreten Gegenstand, z. B. einer Wahrnehmung, verbleibt die »Wahrnehmung als Wahrnehmung von etwas«. Die Wahrnehmung wird dann zur intentionalen Wahrnehmung. Sie wird nicht als Wahrnehmung thematisch, die sich auf einen Gegenstand richtet, der empirisch in Raum und Zeit situiert ist, sondern als Akt der Wahrnehmung thematisiert – an dieser Stelle zeigt sich die reflexive Einstellung der Phänomenologie, die die empirischen Wissenschaften Husserl zufolge nicht einnehmen können, da sie an den empirischen Raum und die empirische Zeit gebunden bleiben. Damit wird nicht nur der Bewusstseinsakt in seiner wesentlichen Struktur zu einem Gegenstand der Untersuchung, sondern auch der diesem Akt entsprechende Gegenstand, der nicht mehr der wirkliche Gegenstand, sondern der Gegenstand der intentionalen Wahrnehmung im Reich der transzendentalen Selbsterfahrung ist. Die transzendentale Phänomenologie sieht damit von dem Geltungsanspruch empirischer Gegenstände ab. Jede Realisierung eines Gegenstandes wird damit zu einer unter anderen möglichen Realisierungen, denen ein gemeinsames Wesen, ein Eidos zugrunde liegt. Diese verschiedenen Möglichkeiten lassen sich laut Husserl fingieren, im Zuge dessen dann das Eidos hervortritt. »[U]nter Enthaltung von ihrer Seinsgeltung« wird »das Faktum dieser Wahrnehmung« zu einer reinen Möglichkeit »unter anderen ganz beliebigen reinen Möglichkeiten – aber reinen Möglichkeiten von Wahrnehmungen«, in denen wir »seine Gestalt, die Farbe usw. willkürlich umfingieren«, d. h. variieren können. Das mit der Variation betretene »Reich der Unwirklichkeiten, des Als-ob«, wie Husserl sagt, liefert reine Möglichkeiten, »rein von allem« und d. h. »von allem, was an das Faktum und jedes Faktum überhaupt bindet«.

114 Ebd., S. 65. Das Bewusstsein der Phänomenologie ist ein reines, d. h. kein »menschliches oder sonst ein empirisches Bewußtsein« (Edmund Husserl: Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie. Vorlesungen 1906/07, in: ders.: Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie. Vorlesungen 1906/07 (Husserliana, Bd. XXIV), hrsg. von Ullrich Melle. Martinus Nijhoff: Dordrecht, Boston MA, Lancaster UK 1984, S. 1–355, hier S. 242; vgl. hierzu Bernet, Kern, Marbach: Edmund Husserl, S. 58 f.).

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In der freien Variation als Phantasiemöglichkeit und damit frei von jedem wirklichen Sein – »aller Faktizität enthoben« –, zeigt sich die Wahrnehmung als »Eidos Wahrnehmung«. 115 Dieses Eidos ist für Husserl das »in unmittelbarer Intuition aufweisbare[] Apriori«. 116 In seiner Allgemeinheit weist das Wesen Wahrnehmung einen »idealen Umfang alle[r] idealiter möglichen Wahrnehmungen« auf: Der ideale Umfang umgreift alle möglichen Realisierungen, denen das Wesen zugrunde liegt. 117 Jede Tatsache als ein in Raum und Zeit individuell realisierter Gegenstand ist ein »individueller Wirklichkeitsverhalt« und, wie Husserl sagt, »eidetische Notwendigkeit« zugleich – jeder wirkliche Gegenstand ist »Vereinzelung einer Wesensallgemeinheit« und geht mit Notwendigkeit aus dieser hervor. 118 »Diese Notwendigkeit gilt dann mit für alles Faktische: wir können sehen, daß alles, was zum reinen Eidos Farbe unabtrennbar gehört, z. B. das Moment der Helligkeit, auch zu jeder faktischen Farbe gehören muß.« 119 Bleiben wir bei dem Beispiel der Farbe Rot, dann kann das »reine Rot […] als Eidos«, d. h. als ein »Identisches und Allgemeines«, gerade nicht mittels Deduktion aus einer beliebigen Anzahl empirischer Realisierungen gewonnen werden, da das Eidos jeder möglichen empirischen Realisierung a priori vorausliegt. 120 Erst diese Form der Selbsterfahrung innerhalb des reinen Bewusstseins bietet laut Husserl einen »Untergrund für apodiktische Urteile« und erst wenn dieses neu gewonnene Arbeitsfeld der transzendentalen Selbsterfahrung methodisch erschlossen wird, ist »Aussicht vorhanden für eine Philosophie« – und Philosophie ist für Husserl gleichbedeutend mit einem »systematischen Bau apodiktischer Erkenntnisse von dem an sich ersten Erfahrungs- und Urteilsfeld aus«. 121 Laut Blumenberg findet die Phänomenologie unter »dem Titel der Kontingenz« vor, was sie dann voneinander trennt: Die Kontingenz wird in das Reich des Empirischen verbannt, die eidetische NotwenHusserl: Cartesianische Meditationen, S. 104. Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 309. Für Husserl ist reine Erkenntnis apriorische Erkenntnis (vgl. Husserl: Die reine Phänomenologie, ihr Forschungsgebiet und ihre Methode, S. 79 sowie Husserl: Formale und transzendentale Logik, S. 255 (Anm. 1); vgl. hierzu auch Bernet, Kern und Marbach: Edmund Husserl, S. 75). 117 Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 104. 118 Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 19. 119 Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, hrsg. von Ludwig Landgrebe. Academia: Prag 1939, S. 426 f. 120 Husserl: Phänomenologische Psychologie, S. 79. 121 Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 61. 115 116

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digkeit verbleibt im Reich der transzendental-phänomenologischen Selbsterfahrung. 122 Auf dem Boden dieser transzendental-phänomenologischen Selbsterfahrung zeigt sich die Grundstruktur des Bewusstseins: die Intentionalität. Dass das Bewusstsein Gegenstände intentional erfasst, bedeutet, dass diese dem Bewusstsein nicht primär von außen gegeben werden, sondern in ihrer Idealität bereits im Bewusstsein als Sinn beschlossen liegen. Bewusstsein ist stets »Bewußtsein von etwas« 123 und konstituiert in sich Sinn: Jedes intentionale Erlebnis trägt unabhängig von einer ihm transzendenten Sphäre in sich »so etwas wie einen ›Sinn‹«. 124 Das Interesse der Phänomenologie Husserls richtet sich auf diese »neuartige unendliche Seinssphäre«, die sich entlang der Korrelation von Sein und Seiendem im Bewusstsein konstituiert. 125 Husserl unterscheidet zwei Komponenten des intentionalen Bewusstseinserlebnisses: die »eigentlichen Komponenten der intentionalen Erlebnisse« und ihre »intentionalen Korrelate[]«. Die »eigentlichen Komponenten« stehen für die Noesis, den Bewusstseinsakt, deren »intentionale[] Korrelate[]« für das Noema, den Bewusstseinsinhalt. 126 Noesis und Noema, Bewusstseinsakt und Bewusstseinsinhalt sehen sich stets in strenger Korrelation aufeinander verwiesen: ein Parallelismus, der sich, wie Husserl sagt, »durchgängig […] bewährt«. 127 Gemeinsam konstituieren die noetischen und noematischen Komponenten Gegenständlichkeit in ihrer reinen Gegebenheit. In der reinen Anschauung, d. h. nach vollzogener Reduktion, sind die 122 Hans Blumenberg: Zu den Sachen und zurück. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Manfred Sommer. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2007, S. 253 f. 123 Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 72; vgl. auch Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 222. Zur Herkunft von Husserls Konzept der Intentionalität vor dem Hintergrund der philosophiegeschichtlichen Anleihen von Brentanos Konzept der Intentionalität vgl. Klaus Hedwig: Intention. Outlines for the History of a Phenomenological Concept, in: Philosophy and Phenomenological Research 39 (1979) 3, S. 326–340. 124 Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 202; vgl. hierzu Elisabeth Ströker: Intentionalität und Konstitution. Wandlungen des Intentionalitätskonzepts in der Philosophie Husserls [1984], in: dies.: Phänomenologische Studien. Vittorio Klostermann: Frankfurt a. M. 1987, S. 54–74, hier S. 63 sowie Bernet, Marbach und Kern: Edmund Husserl, S. 81. 125 Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 66. 126 Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 202. 127 Ebd., S. 299.

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»Wesensbeziehungen zwischen Noetischem und Noematischem, zwischen Bewußtseinserlebnis und Bewußtseinskorrelat« auszuweisen. 128 Die genaue Analyse des korrelativen Wechselspiels aus noetischen und noematischen Komponenten soll klären, »wie Bewußtsein in sich selbst, und vermöge seiner jeweiligen intentionalen Struktur« Sinn konstituiert. 129 In Frage steht damit nicht, wie das Bewusstsein zu etwas gelangt, das ihm äußerlich ist, sondern wie das Bewusstsein in sich Gegenständlichkeit als sinnhaft konstituiert. Innerhalb der Noesis selbst sind zwei Bestandteile zu unterscheiden: die Empfindungsinhalte und Sinnesdaten als Inhalt der Bewusstseinserlebnisse auf der einen, die Noesis im engeren Sinne auf der anderen Seite. 130 Die Empfindungsinhalte sind zwar selbst nicht-intentional, werden jedoch von der Noesis im engeren Sinne aufgenommen und intentional modifiziert. 131 Die noetischen Komponenten im engeren Sinne konstituieren »durch Beseelung« Sinn; sie sind »beseelende[] Auffassungen« der zuvor nicht intentional verfassten Komponenten. 132 Sie formen »die an sich sinn- und formlosen Empfindungsinhalte zu ›intentionalen Erlebnissen‹«. 133 Erst dadurch kommt den Bewusstseinsakten Sinn zu. Das Bewusstseinserlebnis ist »darum nicht nur überhaupt Erlebnis«, sondern vielmehr »sinnhabendes« und d. h. »›noetisches‹« Erlebnis. 134 In ihrer Funktion konstituieren die Noesen in verschiedenen Synthesen den subjektiven Akt, der auf Gegenständlichkeit gerichtet ist: Sie verknüpfen die einzelnen Bewusstseinserlebnisse synthetisch zu einer »Sinneszusammengehörigkeit« und führen sie in einer »ob-

Ebd., S. 228. Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 85. 130 Vgl. Tania Eden: Noema [Art.], in: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe (Philosophische Bibliothek, Bd. 555), hrsg. von Helmuth Vetter, unter Mitarbeit von Klaus Ebner und Ulrike Kadi. Felix Meiner: Hamburg 2004, S. 387–388, hier S. 387. 131 Vgl. Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 231 sowie hierzu Paul Janssen: Noesis [Art.], in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6: Mo–O, hrsg. von Joachim Ritter † und Karlfried Gründer in Verbindung mit Günther Bien, Ulrich Dierse, Wilhelm Goerdt et al. Schwabe: Basel, Stuttgart 1984, Sp. 870. 132 Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 230 f.; vgl. ebd. S. 227. 133 Tania Eden: Noesis [Art.], in: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe (Philosophische Bibliothek, Bd. 555), hrsg. von Helmuth Vetter, unter Mitarbeit von Klaus Ebner und Ulrike Kadi. Meiner: Hamburg 2004, S. 388–389, hier S. 389; vgl. Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 194. 134 Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 206. 128 129

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jektiven Einheit der Gegenständlichkeit« zusammen. 135 Die Leistung der Noesis liegt damit in der subjektiven Funktion der Sinnbildung und Konstitution bzw. »Seinssetzung« des Gegenstandes begründet: in ihrer belebenden und sinnbildenden Funktion sowie ihrer thetischen Funktion. 136 Im gemeinsamen Wechselspiel aus Empfindungsinhalten und der Noesis im engeren Sinne vollzieht sich die Sinngebung in Form der Belebung der an sich unbelebten Empfindungsinhalte und lässt unterscheiden, ob wir z. B. etwas sehen, an etwas glauben oder auf etwas hoffen. Die Noesen liegen innerhalb des reinen Bewusstseins beschlossen, sie sind diesem immanent, d. h., mit Husserl gesprochen, reell. 137 Das Noema ist nicht wie das noetische Moment reell im Bewusstsein enthalten, greift jedoch auch nicht auf die empirische Wirklichkeit aus. Vielmehr liegt das Noema zwischen der Noesis und dem intendierten Gegenstand und wird in der Noesis konstituiert. 138 Im Noema drückt sich damit die Beziehung des Bewusstseins auf Gegenständliches aus, insofern es den gegenständlichen Sinn als bloß vermeinten Sinn in sich trägt, d. h. intendiert. 139 Die noematischen Momente bestimmen Husserl zufolge »die Art, wie Reales im Bewußtsein selbst eben bewußt und speziell gegeben ist«, ohne auf dieses Reale selbst zu rekurrieren. 140 Husserl vermeidet dadurch, dass Residuen der empirischen Wirklichkeit den rein gefassten subjektiven Erkenntnisakt verunreinigen. Lässt die Noesis unterscheiden, ob wir z. B. etwas sehen oder an etwas glauben, so richtet sich das Noema darauf, wie wir das sehen, was wir sehen, das glauben, was wir glauben. Das Noema ist der zum Bewusstseinsakt korrelative Inhalt. Aufseiten der Noesis haben wir es mit den subjektiven Sein-setzenden, d. h. thetischen Akten zu tun, aufseiten des Noemas mit dem entsprechenden gegenständlichen Korrelat, das der noetischen Setzung Prädikate zuweist und die Noesis dadurch be-

Ebd., S. 196. Vgl. Janssen: Noesis [Art.]. 137 Vgl. Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 295. 138 Vgl. Eden: Noema [Art.], S. 388. 139 Vgl. Paul Janssen: Noema [Art.], in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6: Mo–O, hrsg. von Joachim Ritter † und Karlfried Gründer in Verbindung mit Günther Bien, Ulrich Dierse, Wilhelm Goerdt et al. Schwabe: Basel, Stuttgart 1984, Sp. 869–870, hier Sp. 869. 140 Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 228. 135 136

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stätigt. 141 Die Beziehung des Bewusstseins auf Gegenständlichkeit hat deshalb »vor allem seine noematische Seite«. Das Noema selbst hat in sich, so Husserl, eine »gegenständliche Beziehung, und zwar durch den ihm eigenen ›Sinn‹«. 142 Das Noema ist »der ›Sinn im Wie seiner Gegebenheitsweise‹«. 143 Analog zur Noesis besteht das Noema in sich aus zwei Komponenten, in diesem Fall aus Inhalt und Gegenstand. Der Gegenstand ist stets derselbe, auf den auch die entsprechende Noesis sich richtet. 144 Der »›Inhalt‹« des Noemas ist sein »›Sinn‹«, durch den sich das Noema auf »›seinen‹ Gegenstand« bezieht. 145 Es spricht dem Gegenstand, den es adressiert, damit einerseits bestimmte Merkmale, »Prädikate«, zu. 146 Der Gegenstand rückt dadurch, wie Husserl sagt, »im Wie seiner Bestimmtheiten‹« in den Blick. Andererseits fokussiert das Noema den Gegenstand als einen Flucht- bzw. »Einheitspunkt« aller möglichen noematischen Zuschreibungen und damit den »noematische[n] ›Gegenstand schlechthin‹«, d. h. unabhängig von einzelnen noematischen Zuschreibungen. 147 Die noematischen Gegenstände sind »Einheiten von noematischen Mannigfaltigkeiten«. 148 Diese Mannigfaltigkeiten bilden, wie Elisabeth Ströker pointiert, eine »identifizierbare Sinneinheit« und dadurch »einen eigenen Typus […] idealer Gegenständlichkeit« aus, der von allen möglichen noematischen Komponenten adressiert werden kann. 149

141 Die intentionalen Erlebnisse sind, so Paul Janssen »nach ihren noetischen Glaubens- und ihren noematischen Seinscharakteren aufzugliedern. Die doxischen oder Glaubenscharaktere eignen den Akten, sofern in ihnen etwas als in Gewissheit seiend, als vermutlich, fragend usw. seiend geglaubt wird. An ihnen zeigt sich, dass die Akte ›Sein-setzend‹, thetisch sind; und zwar schon in ihrer schlichten Vollzugsgestalt, ohne dass eine ausdrückliche Stellungnahme des Aktvollziehers zu seinen Akten hinzutreten müsste. Auf der noematischen Seite gehören den Glaubenscharakteren Seinscharaktere zu, durch die das Gegenständliche sich in seinem Seinsmodus bestimmt zeigt. Ein in Gewissheit geglaubtes Noematisches gilt als wirklich seiend, ein nur vermutetes als nur vermutlich seiend und dergleichen mehr.« (Paul Janssen: Edmund Husserl. Werk und Wirkung. Karl Alber: Freiburg, München 2008, S. 82.) 142 Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 296. 143 Ebd., S. 217. 144 Vgl. ebd., S. 297, 299. 145 Ebd., S. 297. 146 Ebd., S. 231. 147 Ebd., S. 303. 148 Ebd., S. 231 f. 149 Ströker: Intentionalität und Konstitution, S. 57.

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Die Noesen sind mit ihrer washaltigen Seite stets auf ihnen korrelierende Noemata gerichtet: Wir »finden die volle Noesis bezogen auf das volle Noema, als ihr intentionales und volles Was«. Im Vollzug der thetischen Seinssetzung eines Gegenstandes richtet sich das reine Bewusstsein mitsamt dem von der Noesis beseelten Erlebnis »als seinserfassendes, oder vermutendes, wünschendes usw. auf Gegenständliches«. Der subjektive noetische Akt geht im Zuge dessen, so Husserl, »durch den noematischen Kern« hindurch. Die »Beziehung des Bewusstseins auf sein Gegenständliches« sieht sich damit »auf ein innerstes Moment des Noema« verwiesen. Dieses innerste Moment fungiert als »›Träger‹« aller ihm »zugehörige[n] noematische[n] Eigenheiten« und steht »für die noematisch modifizierten Eigenschaften des ›Vermeinten als solchen‹«. 150 Zusätzlich zu Noesis und Noema bildet der Gegenstand selbst die dritte Komponente im Zuge der konstituierenden Leistungen des Bewusstseins. 151 Dieser ist nicht real im Bewusstsein enthalten, er wird intentional intendiert bzw. vermeint. 152 Der Gegenstand selbst bildet den Punkt, auf den Noesis und Noema im korrelativen Wechselspiel orientiert sind. Die Noesen – alles Wünschen, Hoffen und Begehren, alle beseelten Erlebnisse – werden in ihrem Wesen erfasst und auf den entsprechenden, noematisch in seiner Idealität gefassten Gegenstand ausgerichtet. Husserls Verfahren der Wesensschau eignet dadurch eine doppelte Bewegung: »Zunächst bezeichnete ›Wesen‹ das im selbsteigenen Sein eines Individuums als sein Was Vorfindliche. Jedes solches Was kann aber ›in Idee gesetzt‹ werden.« 153 Die Wesensschau stellt in einem ersten Schritt das Wesen heraus: Mittels phänomenologischer Reduktion wird das Allgemeine eines faktisch individuierten Gegenstandes als Eidos in den Blick genommen.

Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 299. Vgl. Ströker: Intentionalität und Konstitution, S. 57 f. 152 Vgl. Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 80. 153 Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 13. Diese doppelte Bewegung wird von Husserl nicht immer eigens markiert. Bezeichnend ist, dass Husserl unmittelbar im Anschluss an das soeben angegebene Zitat erneut das Herausstellen des Wesens als das Allgemeine jeder individuellen Realisierung mit dem Moment der Ideation kurzschließt und nur die erste Bewegung hervorhebt, nicht zuletzt, da diese im Kern die Möglichkeit der Wesensschau ausmacht: »Erfahrende oder individuelle Anschauung kann in Wesensschauung (Ideation) umgewandelt werden – eine Möglichkeit, die selbst nicht als empirische, sondern als Wesensmöglichkeit zu verstehen ist. Das Erschaute ist dann das das entsprechende reine Wesen oder Eidos […].« (Ebd.) 150 151

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Im Zuge dessen wird dieses Eidos zum Zentrum, auf das alle noetisch beseelten Sinnstiftungen noematisch orientiert werden. Alle subjektiven Leistungen sind ganz auf Wesen und Eidos konzentriert. Jedes Noema konstituiert sich in der ihm korrelativen Noesis. Noesis und Noema konstituieren in Wechselwirkung den Gegenstand in seiner Idealität: Die beseelten Erlebnisse werden so in einem zweiten Schritt »›in Idee gesetzt‹« und damit auf einen Gegenstand in seiner Idealität – in seiner Allgemeinheit, d. h. in Identität und Einheit – ausgerichtet. 154 Für Husserl wird dadurch »jede Art Seiendes, reales und ideales, verständlich« als intentionale Leistung einer transzendentalen Subjektivität. 155 Mit Blick auf die im Folgenden zu entwickelnde Geschichtsteleologie Husserls ist dies insofern von Bedeutung, als dass die phänomenologische Reduktion zunächst nur die »Freilegung des unendlichen Feldes transzendentaler Erfahrung« ist und noch gar keine Wissenschaft ausmacht. 156 Um strenge Wissenschaft zu sein, müssen die im intentionalen Vollzug erfahrenen Wesenseinsichten auch festgehalten, fixiert werden können. Auf Grundlage der Reduktion allein ist dies nicht möglich, denn in der Reflexion auf die eigenen Bewusstseinserlebnisse findet sich das Subjekt zunächst »in einem nie standhaltenden Fluß nie wiederkehrender Phänomene« wieder. 157 Ausweisbare Ergebnisse gewinnt die phänomenologische Erkenntnistheorie Husserl zufolge erst durch Idealisierung: Innerhalb des »unaufhörlichen Bewußtseinsflusses« lassen sich durch Idealisierung »so etwas wie stehend und bleibende gegenständliche Einheiten bewußt« machen. 158 Inmitten des fortwährend fließenden Bewusstseinslebens stellen diese Einheiten Haltepunkte dar, die die reine Anschauung auf sich konzentrieren. Der Phänomenologe ist imstande, Gegenstände ihren Möglichkeiten nach in den Blick zu nehmen. Diese Möglichkeiten kann er in Variation durchlaufen und so einen Gegenstand in seiner Idealität erfassen. Der intentionale Gegenstand begreift in seiner Allgemeinheit und Idealität alle möglichen ihm entHusserl: Ideen. Erstes Buch, S. 13. Edmund Husserl: Die Pariser Vorträge [1950], in: ders.: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Husserliana, Bd. I), hrsg. von Stephan Strasser. Martinus Nijhoff: Den Haag 21973, S. 3–39, hier S. 33. 156 Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 69. 157 Husserl: Die reine Phänomenologie, ihr Forschungsgebiet und ihre Methode, S. 79. 158 Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 85. 154 155

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sprechenden Realisierungsformen und intentionalen Zuschreibungen unter sich und ragt als ideale Einheit aus dem fortwährend fließenden Bewusstseinsleben heraus. Zusätzlich zur phänomenologischen Reduktion bildet deshalb die »eidetische Intuition« für Husserl »die Grundform aller besonderen transzendentalen Methoden«. 159 Erst die phänomenologische Reduktion und die eidetische Intuition zusammengenommen bestimmen damit »den rechtmäßigen Sinn einer transzendentalen Phänomenologie«. 160 Was sich in der Einstellung der transzendentalen Reduktion als fortwährend »strömende[s] Leben« noch der Fixierung entzogen hatte, kann nun fixiert werden und bietet in seiner Idealität Orientierung. 161 Das erkennende Subjekt bleibt in der transzendentalen Einstellung stets auf ideale Gegenstände gerichtet. Das teleologische Moment hält dort Einzug in die phänomenologische Erkenntnistheorie, wo Husserl davon spricht, dass die noetischen Sinngebungen »wesensmäßig« in den intentionalen Erlebnissen vorgezeichnet sind: Die transzendentale Phänomenologie betrachtet sie »unter dem ›teleologischen‹ Gesichtspunkt ihrer Funktion, ›synthetische Einheit‹ möglich zu machen«. 162 Was sich innerhalb der phänomenologischen Analyse als Sinn zeigt, ist das Resultat eines teleologischen Vollzugs der Intentionalität. Die phänomenologische Reduktion und eidetische Intuition in ihrer gegenstandskonstituierenden Funktion bilden die erkenntnistheoretischen Prinzipien der Phänomenologie und, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, die Grundlage der idealistischen Geschichtsteleologie Husserls. Durch die Konzentration des gesamten Bewusstseinslebens auf die Idealität der entsprechenden Gegenstände eignet der Phänomenologie Husserls ein normativer Zug, der in dessen Geschichtsauffassung deutlich zu Tage tritt. Alles Streben wird intentional modifiziert und auf das Telos der Geschichte orientiert. Die Geschichte wird, phänomenologisch gewendet, zum Gegenstand Geschichte.

Ebd., S. 106; vgl. hierzu Sonja Rinofner-Kreidl: Idealismus [Art.], in: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe (Philosophische Bibliothek, Bd. 555), hrsg. von Helmuth Vetter, unter Mitarbeit von Klaus Ebner und Ulrike Kadi. Felix Meiner: Hamburg 2004, S. 270–280, hier S. 275. 160 Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 106; vgl. Rinofner-Kreidl: Idealismus [Art.], S. 275. 161 Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 181 162 Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 197. 159

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Bevor von Husserls teleologischer Geschichtsauffassung zu sprechen sein wird, ist zunächst zu zeigen, weshalb Husserl eine solche überhaupt für notwendig hält. In seinem Spätwerk, der KrisisSchrift, diagnostiziert Husserl mit Beginn der Neuzeit eine historische Zäsur, deren Ursache er in der zunehmenden Dominanz der objektiven Wissenschaften begründet sieht. Diese haben sich, so die Kritik Husserls, ganz auf die Erkenntnis der objektiven Natur konzentriert, dem erkennenden Subjekt hingegen schenken sie keine Beachtung. Die fortdauernde Tendenz zur Objektivierung führt laut Husserl zu einem Verlust der Lebensbedeutsamkeit: Da auf das erkennende Subjekt keine Rücksicht mehr genommen wird, ist zunehmend unklarer ungeworden, welchen Zwecken die Erkenntnis der objektiven Wissenschaften überhaupt noch dienen soll. Sind die objektiven Wissenschaften darüber hinaus ins Zentrum des Selbstverständnisses einer ganzen Epoche aufgerückt, dann wirken sich die Entwicklungen, die innerhalb der Wissenschaften stattfinden, über deren Grenzen hinaus auf den alltäglichen Lebensvollzug aus. Der Verlust der Lebensbedeutsamkeit betrifft dann nicht mehr nur das wissenschaftliche Selbstverständnis. Diese Entwicklung stellt Husserl unter den Titel der Krisis der europäischen Wissenschaften, die seines Erachtens nur die Phänomenologie noch korrigieren kann. Zu diesem Zweck greift die Phänomenologie auf die Geschichte aus und instanziiert eine Geschichtsteleologie, deren Fortgang methodisch reguliert wird; zu diesem Zweck wendet Husserl die Grundlagen der Erkenntnistheorie der transzendentalen Phänomenologie auf die Geschichte an. Diese methodisch regulierte Geschichtsteleologie soll den Verlust der Lebensbedeutsamkeit restituieren und leisten können, was die objektiven Wissenschaften außer Acht lassen: eine Konzentration wissenschaftlicher Erkenntnis auf die Zwecke des Menschen.

2.2.2. Der Verlust der Lebensbedeutsamkeit Husserl zufolge hat die europäische Philosophie ihren Ursprung in »der griechischen Urstiftung«, 163 d. h. für Husserl, sie geht aus einer Vernunft hervor, die ursprünglich »für ›absolute‹, ›ewige‹, ›überzeitliche‹, ›unbedingt‹ gültige Ideen und Ideale« stand. Bereits an ihrem 163

Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 72.

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Ursprung verkörpert sie ein umfassendes Allgemeines und Ideales, das von der Phänomenologie jedoch erst mühsam wieder aufgedeckt werden muss, da die europäische Tradition den Blick auf diese Vernunft verstellt hat. Husserl schließt dem eigenen Selbstverständnis nach insofern an die antike Philosophie an, als seinerzeit die Philosophie ebendiese Vernunft verwaltet hat: In der Antike, so Husserl, galt die Philosophie als »Wissenschaft von den höchsten und letzten Fragen, […] deren Geist allen Erkenntnissen, denen aller anderen Wissenschaften, erst den letzten Sinn zumaß«. Als Metaphysik stiftete sie »eine sinnvolle Ordnung des Seins« und damit auch aller »Seinsprobleme«. In der Darstellung Husserls bricht die Neuzeit mit der Vorstellung dieses metaphysisch geordneten und sinnvollen Zusammenhangs, der Sein und Seiendes gleichermaßen umfasst und alles Seiende in einer Ordnung des Seins begreift: Das Seiende wird von der metaphysischen Ordnung des Seins geschieden und bildet einen eigenständigen Bereich aus, der nicht mehr von einer sinnvollen Ordnung des Ganzen des Seins abhängig ist. Es wird mit einem Mal separat in den Blick genommen. Die Philosophie verliert dadurch ihren Gegenstandsbereich und büßt an Ansehen ein; sie gilt nicht mehr als eine »allbefassende[] Wissenschaft«, der es noch um die »sinnvolle Ordnung des Seins« im Ganzen geht und verkommt zu einer Art metaphysischem »Restbegriff«. Im Gegenzug, so Husserls Diagnose, erstarken die mathematischen Naturwissenschaften, die sich nicht dem Sein im Ganzen, sondern einzelnen Seinsproblemen widmen: »Der Positivismus enthauptet sozusagen die Philosophie«. 164 Dass jedoch auch die mathematischen Naturwissenschaften nicht von einem Gesamtzusammenhang absehen können, davon zeugt Husserl zufolge noch die wissenschaftliche Methode der objektiven Wissenschaften: Diese soll imstande sein, die Welt auf Formeln zu bringen und in lückenlosen Kausalreihen zu erfassen, die es in einen umfassenden Kausalzusammenhang zu überführen gilt. Der Anspruch auf einen umfassenden Gesamtzusammenhang bleibt in Form einer »Wissenschaft von der

164 Ebd., S. 6 f. »Die Ausschließlichkeit, in welcher sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ganze Weltanschauung des modernen Menschen von den positiven Wissenschaften bestimmen und von der ihr verdankten ›prosperity‹ blenden ließ, bedeutete ein gleichgültiges Sichabkehren von den Fragen, die für ein echtes Menschentum die entscheidenden sind.« (Ebd., S. 5 f.)

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Totalität des Seienden« bestehen, die Idee der Wissenschaft selbst folgt jedoch keiner »sinnvolle[n] Ordnung des Seins« mehr. 165 Dies zeigt sich für Husserl daran, dass die neuzeitlichen Wissenschaften drohen, die einst umfassende Vernunft zu halbieren und mit einer technischen, rechnenden und berechnenden Rationalität gleichzusetzen. Sie verbannen damit die »spezifischen Menschheitsfragen aus dem Reiche der Wissenschaft«. 166 Diese positivistischen Tendenzen führen nachfolgend zu besagtem Verlust der Lebensbedeutsamkeit und geradewegs in die Krisis der europäischen Wissenschaften. Das Novum der Krisis-Schrift Husserls liegt in der historischen Darstellung. Über diese arbeitet Husserl eine theoretische Umstellung heraus, die zu Beginn der Neuzeit vollzogen wird und die nachfolgend in den Objektivismus der Naturwissenschaften mündet. Diese Entwicklung macht Husserl für den Verlust der »Lebensbedeutsamkeit« verantwortlich: Der Boden, auf dem »die Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins« einst gestellt werden konnten, scheint erodiert zu sein. 167 War die Vernunft der antiken Metaphysik darauf ausgelegt, diese Fragen zu beantworten, so ist sie in Form ihrer neuzeitlichen Realisierung, reduziert auf ihr technisches Vermögen, nicht mehr dazu imstande. Der Phänomenologie kommt deshalb die Aufgabe zu, ebenjene Lebensbedeutsamkeit zu restituieren, die die neuzeitlichen Wissenschaften preisgegeben haben. Zu diesem Zweck gilt es, an die Urstiftung der antiken Philosophie anzuschließen. Laut Husserl kulminiert die Tendenz zur Objektivierung mit der Physik Galileis in einer Mathematisierung der Natur. Diese entwickelt sich aus einem Wechselspiel von Theorie und Praxis, aus der Synthese von Geometrie und reiner Mathematik und deren Anwendbarkeit auf die Wirklichkeit. Nahm die antike Geometrie noch Maß an der »anschaulichen Umwelt« 168 und konstruierte aus der empirischen Anschauung ideale Gestalten, so zeichnet Husserl nach, wie sich im Laufe der Geschichte in Verbindung mit der reinen Mathematik die Möglichkeit auftut, ideale Gestalten »in absoluter Identität zu bestimmen«.

165 166 167 168

Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 6 f. Ebd., S. 5. Ebd., S. 3 f. Ebd., S. 22.

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Die antike Geometrie konnte ihre Gebilde zunächst nicht absolut, sondern nur in gradueller Annäherung an ein geometrisch abbildbares Ideal bestimmen, sie zweckt noch ganz von der empirischen Erfahrung ab, d. h. sie schaut ihre Gestalten der Wirklichkeit ab. Die Möglichkeit, ideale Gebilde absolut zu bestimmen, sollte der reinen Mathematik vorbehalten bleiben, deren Gegenstände deshalb »objektiv erkennbar und verfügbar« sind, da sie zu deren Konstruktion nicht eigens auf die empirische Anschauung rekurrieren muss. Die eigentliche Leistung der Geometrie sieht Husserl darin, die von ihr ins Auge gefassten Gestalten nicht mehr an der Erfahrung ablesen zu müssen. In Anlehnung an das Ideal mathematischer Exaktheit legt sie ihrer Gegenstandskonstruktion a priori Gestalten zugrunde, nach denen sie weitere Gestalten konstruiert: Es eröffnet sich, wie Husserl sagt, dadurch die Möglichkeit, »alle überhaupt erdenklichen idealen Gestalten in einer apriorischen, allumfangenden systematischen Methode konstruktiv eindeutig zu erzeugen«. 169 In der Darstellung Husserls eignet sich die Geometrie die mathematisch ideale Exaktheit an und überträgt sie auf ihre »Messmethodik«. 170 Dadurch eröffnet sich der Geometrie »eine unendliche und doch in sich geschlossene Welt idealer Gegenständlichkeiten als Arbeitsfeld«, das der empirischen Wirklichkeit a priori vorausliegt. 171 Das Problem dieser Entwicklung sieht Husserl darin begründet, dass es in der Folge zu einer zunehmenden Mathematisierung des menschlichen Umgangs mit der Welt kommt; unabhängig von der Erfahrung, ist die Geometrie im Bunde mit der Mathematik imstande, den menschlichen Erfahrungsraum vor aller Erfahrung zu konstruieren und zu bestimmen. Die Synthese aus Mathematik und Geometrie hält für alles »Extensionale an der Körperwelt eine völlig neue induktive Voraussicht« bereit und ist zugleich imstande, »von der Welt der Idealitäten wieder zur empirisch anschaulichen Welt« hinabzusteigen. Ohne auf empirische Anschauungen zurückgreifen zu müssen, wird die angewandte Geometrie und Anleitung der Mathematik »zu einer allgemeinen Methode der Erkenntnis von Realitäten«. 172 Diese Realitäten sind in einem Reich idealer Gegenständlichkeit vorgezeichnet. Das Reich der 169 170 171 172

Ebd., S. 23 f. Ebd., S. 26. Ebd., S. 23. Ebd., S. 30 f.

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geometrischen Idealität erzeugt konstruktiv eine Wirklichkeit, die der anschaulichen Wirklichkeit vorausliegt. Galilei überträgt diese Synthese aus reiner Mathematik und angewandter Geometrie auf die Physik, in deren Hintergrund der Anspruch auf eine »allbefassende[] Wissenschaft« steht: Die Physik Galileis möchte »Wissenschaft von der Totalität des Seienden«, d. h. »wissenschaftliche Erkenntnis von der Welt« im Ganzen sein. 173 Um diesem Anspruch gerecht zu werden, müssen die kausalen Verhältnisse, wie sie in der empirischen Welt zu beobachten sind, in einer universalen Methode erfasst werden. Das Reich der mathematischen Idealität verspricht die Möglichkeit, die kausalen Abläufe der Wirklichkeit unabhängig von den realen kausalen Abläufen exakt berechnen zu können. Mit der Physik Galileis wird es so möglich, die Welt als Ganze in kausalen Zusammenhängen zu begreifen, es kommt dadurch, so die Darstellung Husserls, zur Mathematisierung der Natur. Die Besonderheit des Verfahrens, das Husserl auf die Genese der Physik Galileis anwendet, kulminiert an diesem Punkt in dem Begriff der Rückfrage, auf den mit Ricœur noch einmal zurückzukommen sein wird. 174 Mit diesem Begriff zielt Husserl darauf ab, die Hintergrundannahmen herauszuarbeiten, die der Hypothese zugrunde liegen, die Natur sei als ein kausaler Gesamtzusammenhang aufzufassen. Was zu nachfolgenden Zeiten selbstverständlich scheint, war zur Zeit Galileis keineswegs selbstverständlich. 175 Husserl geht es darum, die von Galilei auf theoretischer Ebene getroffenen Vorentscheidungen herauszuarbeiten und darzustellen, die Galilei selbst nicht expliziert hat, die sich aber aus den theoretischen Leistungen, die dessen wissenschaftliche Methode bezeugt, erschließen lassen. Es geht Husserl nicht wie der Hermeneutik Diltheys darum, den individuellen Motivationsrückhalten nachzuspüren, die ein Subjekt zu diesen oder jenen Entscheidungen und Handlungen veranlasst haben, sondern vielmehr darum, die theoretischen Entscheidungen, Vorentscheidungen und Annahmen zu analysieren, die die Theorie nachfolgend bestimmt haben. Da diese von Galilei selbst nicht explizit verhandelt wurden, lassen sich diese nur implizit erschließen. Dies bedingt die Struktur der Fragerichtung: Die Rückfrage kann nur aus der Distanz nach den Entscheidungen fahnden, die einst getroffen 173 174 175

Ebd., S. 6, 29. Vgl. Kap. 4.4.1. Vgl. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 35.

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worden, die den handelnden Akteuren seinerzeit jedoch nicht bewusst gewesen sind und aufgrund dessen auch nicht expliziert werden konnten. 176 Da diese Entscheidungen auf impliziten Vorannahmen beruhen, schreiben sie die Geschichte auf eine Weise fort, die die Handelnden selbst nicht intendiert haben. Diese Eigendynamik der geschichtlichen Entwicklung fördert eine Ambivalenz zutage, die Husserl zufolge im Kern die Neuzeit bestimmt und sich personifiziert in Galilei widerspiegelt: Galilei erscheint ihm als ein »entdeckender und ver176 Galileis Hypothese einer apriorischen, umfassenden Kausalität liegen Husserl zufolge drei Annahmen zugrunde: erstens die Annahme einer allumfassenden Raumzeitform, die die reine Mathematik bereitstellt und die in Verbindung mit der Geometrie alle Körper in ihrer Gestalt umfassen soll, zweitens die Annahme, dass alle realen Körper zugleich aus Gestalten und den ihnen zugehörigen »Füllen«, d. h. sinnlichen Qualitäten bestehen – Gestalten und die zugehörigen Füllen sind »nicht real trennbare Momente eines Konkretum« (Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 34). Den zentralen Konflikt bildet für Husserl diese zweite Annahme, denn um die Anwendbarkeit der galileischen Hypothese zu gewährleisten mussten die sinnlichen Qualitäten in Quantitäten übersetzt werden, erst dann kann eine formale und mathematische Methode auch die Qualitäten einbeziehen. Ausgehend von der Hypothese der universalen Kausalität und der Quantifizierung der Qualitäten soll, so die dritte Annahme, Anwendbarkeit auf die anschauliche Welt gewährleistet werden. Das zentrale Problem ergibt sich daraus, dass jeder Gegenstand in seiner empirischen Anschauung nicht nur quantitativ messbare Merkmale aufweist, wie z. B. seine Gestalt, sondern ebenso sinnliche, d. h. qualitative Merkmale. Sinnliche Qualitäten, wie z. B. Kälte-, Wärme- oder Helligkeitsempfinden sind zunächst nicht messbar (vgl. ebd., S. 32). Um nicht auf die Dinge selbst und die Anschaulichkeit der Wahrnehmung zurückgehen zu müssen, wird den sinnlichen Qualitäten eine »extensive und intensive Unendlichkeit« untergeschoben, wie Husserl sagt. Es handelt sich hierbei um die Form der idealen Raumzeitlichkeit der Mathematik, die bereits den Quantitäten unterliegt. Den sinnlichen Qualitäten wird dadurch kein eigenes Reich der Idealität geschaffen, sondern sie werden dem Reich zugeschlagen, in dem bereits die idealisierten Körper der Geometrie Platz gefunden haben. Bei der Quantifizierung der sinnlichen Qualitäten handelt es sich deshalb um eine »Mitidealisierung«: »Die ganze konkrete Körperwelt wird so mit Unendlichkeiten, nicht nur der Gestalt, sondern auch der Füllen behaftet« (ebd., S. 37). Zusammengenommen ergeben die idealisierten Gestalten und die mitidealisierten sinnlichen Füllen bzw. Qualitäten eine idealisierte Welt im Ganzen, die erstens als quantitativ erfassbarer und umfassender Kausalzusammenhang begriffen werden kann und zweitens aufgrund der unterlegten Unendlichkeit den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt hervorbringt. Die ursprüngliche Hypothese einer umfassenden Kausalität bleibt für Husserl dadurch auf ewig Hypothese, die es fortwährend zu bestätigen gilt, und gerade dies ermöglicht den ins Unendliche sich fortsetzenden technisch-wissenschaftlichen Fortschritt (vgl. ebd., S. 41), eine Entwicklung, die die Neuzeit mit dem Verlust der Lebensbedeutsamkeit bezahlt.

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deckender Genius« zugleich. Mit der »›apriorische[n] Form‹ der ›wahren‹ (idealisierten und mathematisierten) Welt« entdeckt Galilei die Natur als eine mathematische Natur und das in ihr herrschende »›Gesetz der exakten Gesetzlichkeit‹, wonach jedes Geschehen der ›Natur‹ – der idealisierten – unter exakten Gesetzen stehen muß«. Die naturwissenschaftliche Forschung arbeitet fortan mit einer auf Formeln gebrachten, »an sich mathematische[n] Natur«. 177 Husserl zufolge sollte die wissenschaftliche Methode ursprünglich dem Leben dienen, sie sollte Voraussichten schaffen können: Die Berechenbarkeit der Natur, so das Versprechen, steigert die »empirische[] Gewißheit« dessen, was zu erwarten war. Voraussicht und Erwartbarkeit stellten die praktische Anwendbarkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse in Aussicht. Die wissenschaftliche Methode hatte damit, so die Darstellung Husserls, von Beginn an einen Bezug zur Praxis, nahm von der konkreten Erfahrungswelt ihren Ausgang und wurde dazu erdacht, »in der anschaulichen Welt des konkret wirklichen Lebens« auch zu wirken. Die wissenschaftliche Methode versprach einen Nutzen für das praktische Leben. Mit der zunehmenden Mathematisierung streift die wissenschaftliche Methode jedoch ihren Bezug auf die anschauliche und empirische Wirklichkeit ab. Sie bezieht sich mehr und mehr auf die idealisierten Gestalten und erschafft einen Raum reiner Idealität. Ihre Messungen und Maßeinheiten stehen nur mehr in funktioneller Abhängigkeit zu anderen Zahlverhältnissen, zu Sätzen und Gesetzen, die wiederum in Zahlen ausgedrückt werden und bewegen sich in »einem freien, systematischen, von aller anschaulichen Wirklichkeit völlig losgelösten apriorischen Denken über Zahlen überhaupt, Zahlverhältnisse, Zahlgesetze«. Diese Reduktion der ursprünglich anschaulichen Verhältnisse auf bloße Formeln kommt, so Husserl, einer »Sinnesveräußerlichung« gleich und führt zu einer »Entleerung« des der Methode ursprünglich innewohnenden Sinnes. 178 In dieser äußersten Erweiterung wird die Methode zur »Kunst, durch eine rechnerische Technik nach technischen Regeln Ergebnisse zu gewinnen«, sie bewegt sich in einer reinen Symbolsprache. In ihrer Selbstreferenzialität lässt diese Methode keine Anschaulichkeit mehr zu, die ihr ursprünglich innewohnende Sinngebung wird preisgegeben: »Man operiert mit Buchstaben, Verbindungs- und Bezie177 178

Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 53. Ebd., S. 43 f.

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hungszeichen (þ, � = usw.)«. Diese zunehmende Arithmetisierung bringt ein eigenes symbolisches Universum hervor, in dem das »ursprüngliche Denken, das diesem technischen Verfahren eigentlich Sinn und den regelrechten Ergebnissen Wahrheit gibt, […] ausgeschaltet« ist. Der Weg scheint damit vorherbestimmt, denn eine »Rückkehr in den eigentlichen wissenschaftlichen Sinn« ist, zumindest vom Standpunkt der mathematischen Naturwissenschaften aus, nicht mehr möglich. 179 Allein die Phänomenologie in der ihr eigenen Reflexionsform vermag laut Husserl einen Ausweg aufzuzeigen und das Fundament, von dem die neuzeitlichen Wissenschaften abheben, zu reflektieren. Husserl moniert weniger die wissenschaftliche Methode, ihre Leistung und die zutage geförderten Ergebnisse, als vielmehr das Vergessen der lebensweltlichen Motivationsrückhalte, aus denen die Methode ursprünglich hervorgegangen ist. In der Selbstreferenzialität des symbolischen Universums gefangen, vergessen die Wissenschaften, dass sie ursprünglich dem Leben dienen sollten. Das »Ideenkleid« oder, wie Husserl auch sagt, das »Kleid der Symbole« der mathematischen Naturwissenschaften hüllt die »Lebenswelt« ein, die mathematisch konstruierte Natur »vertritt« und »verkleidet« sie. Die Lebenswelt verschwindet unter diesem Ideenkleid und führt dazu, so Husserls Vorwurf, »daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist« – die »Ideenverkleidung« ist seines Erachtens die Ursache dafür, »daß der eigentliche Sinn der Methode, der Formeln, der ›Theorien‹ unverständlich blieb und bei der naiven Entstehung der Methode niemals verstanden wurde«. 180 Für Husserl ist der Verlust der ursprünglichen Sinngebung der wissenschaftlichen Methode selbst eingeschrieben, so dass die errungenen Fortschritte, die auf der einen Seite zur Verbesserung der Methode beitragen, auf der anderen Seite nur tiefer in den selbstreferentiellen Bereich der mathematischen Idealität hineinführen. Diese Fortschritte gehen in die Methode ein und werden akkumuliert. Auch ohne Nachvollzug der Genese wird dadurch Anwendbarkeit gewährleistet, d. h. die Leistungen, die diese Fortschritte herbeigeführt haben, müssen nicht jedes Mal von Neuem erbracht, geschweige denn expliziert werden, soll die Methode angewendet werden. Die verschiedenen Entwicklungsstufen werden als selbstver179 180

Ebd., S. 46. Ebd., S. 52.

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ständlich vorausgesetzt. weder müssen sie hinterfragt, noch eigens nachvollzogen werden. Die fortwährend sich neu aufbauenden Stufen bzw. Schichten, wie Husserl diese nennt, verdecken die ihr zugrundeliegenden Schichten und damit die Leistungen, die den vorherigen Erkenntnisstand herbeigeführt haben. Der ursprünglich anschaulich gegebene, lebensweltliche Bezug der Methode ist nicht mehr ersichtlich. Dieser Gefahr kann Husserl zufolge nur dann vorgebeugt werden, wenn »die ursprüngliche Sinngebung der Methode, aus welcher sie den Sinn einer Leistung für die Welterkenntnis hat, immerfort aktuell verfügbar bleibt«. 181 Es gilt, die lebensweltlichen Motivationsrückhalte zu restituieren, die das Ideenkleid der neuzeitlichen Wissenschaften verdeckt, um die ursprüngliche Sinngebung unter der »mehrfältigen Sinnverwandlung und Sinnüberdeckung« freizulegen und die »Sinnverschiebungen« zu korrigieren, die die Methode der neuzeitlichen Wissenschaften herbeigeführt hat. Husserls Ziel besteht in der »Rückbesinnung auf den eigentlichen Sinn«. 182 Indem Husserl das Selbstverständnis der Phänomenologie als Korrektur einer Entwicklung versteht, die er als historische Zäsur auffasst, sieht sich die Phänomenologie selbst auf die Geschichte verwiesen. Die Krisis-Schrift ist damit auch der Versuch einer historischen Standortbestimmung der Phänomenologie selbst. Zum »Gesamtsinn« der transzendentalen Phänomenologie gehört zwangsläufig »das Ineinander von historischer und durch sie motivierter systematischer Untersuchung«. Die Untersuchung dieses Ineinander von historischen und systematischen Zugriffen dient schlussendlich, so Husserl, der »Selbstbesinnung des Philosophen«. Rückbesinnung auf den eigentlichen Sinn ist Selbstbesinnung. Die Phänomenologie käme damit zu sich selbst. Die Möglichkeit zur Rück- und Selbstbesinnung als oberstes Ziel der Philosophie gründet Husserl zufolge bereits in der der Phänomenologie »eigentümlichen Reflexivität«. Diese setzt die phänomenologische Reduktion voraus, die sich von allem empirischen, d. h. in diesem Fall historischen Ballast zu befreien weiß: Obwohl die Phänomenologie sich auf die Geschichte verwiesen sieht, darf »keine vorgegebene Philosophie« vorausgesetzt werden, denn die Selbstbesinnung des Philosophen kann sich nur »in der eigentümlichen Re181 182

Ebd., S. 46 f. Ebd., S. 48.

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flexivität […] bewegen«, die allein die Phänomenologie aufweist. 183 Nur im Rückgang auf die Lebenswelt kann Husserls Forderung nach Selbstbesinnung erfüllt und die Lebensbedeutsamkeit restituiert werden – diesem Rückgang entspringt zugleich Husserls Verständnis der Geschichte als eines teleologischen Sinnvollzugs.

2.2.3. Lebenswelt und Vernunft: Die Restitution der Lebensbedeutsamkeit Die Lebenswelt steht Husserl zufolge erstens für ein vorwissenschaftliches, d. h. methodisch nicht reflektiertes Leben und damit für eine Welt, die jeder wissenschaftlichen Einstellung vorausliegt: Sie ist eine »vorwissenschaftliche[] Lebenswelt«. In ihr wurden auch vor der neuzeitlichen Wissenschaft auf der Grundlage von Erfahrungserkenntnissen »bestimmte Voraussichten« geschaffen, um das praktische Leben zu bewältigen. 184 Die neuzeitliche Wissenschaft erweitert diese Voraussichten methodisch, verdeckt dadurch jedoch letztlich Ursprung und Ziel dieser Voraussichten. Zweitens ist die Lebenswelt für Husserl ein transzendentaler Begriff. Als solcher wird dieser für Blumenberg zum Anstoß der Reflexion über die Lebenswelt. Entscheidend ist zunächst, dass die Lebenswelt im transzendentalen Sinne maßgeblich Husserls Geschichtsauffassung prägt. Transzendental gefasst, erweist sich die Lebenswelt als höchst ambivalent: Auf der einen Seite liegt die Lebenswelt aller Geschichte zugrunde: Die phänomenologische Analyse der Lebenswelt legt ein »historische[s] Apriori« frei, in dem die geschichtliche Entwicklung ihren Ursprung findet. 185 Die Lebenswelt ist insofern transzendental, als sie die notwendige und zugleich hinreichende Bedingung impliziert, die die Geschichte des europäischen Denkens als ein einheitliches und sinnhaftes Geschehen verstehen lässt. Auf der anderen Seite scheint die empirische Geschichte auf die Lebenswelt zurückzuwirken. Husserl zufolge hinterlässt die alltägliche Lebenspraxis durchaus Spuren in der Lebenswelt, die damit jedoch geschichtlichen Bedingungen unterworfen zu sein scheint. Die

183 184 185

Ebd., S. 364. Ebd., S. 42. Ebd., S. 380.

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Lebenswelt im vorwissenschaftlichen Sinne sowie im transzendentalen Sinne kommen an dieser Stelle zusammen. Jede Bezugnahme auf die Welt geht aus subjektiven Leistungen hervor, so auch jede Leistung der vermeintlich ausschließlich auf Objektivität konzentrierten mathematischen Naturwissenschaften. Dieses Argument hatte Husserl bereits im Zuge seiner Psychologismuskritik stark gemacht, insofern die Psychologie droht, die subjektiven Leistungen, aus denen noch die Psychologie selbst hervorgeht, zu objektivieren. Die Krisis-Schrift entfaltet die Kritik am Objektivismus als eine Kritik an der Modellbildung der mathematisch-konstruktiven Naturwissenschaften: Das symbolische Ideenkleid verdeckt den Bezug zur Lebenswelt und damit den Sachverhalt, dass noch das symbolische Ideenkleid ursprünglich aus subjektiven Leistungen hervorgegangen ist. Es wird als objektive Gegebenheit behauptet. Die objektiven Wissenschaften sind deshalb, so Husserls Diagnose, »allgemein […] unverständlich geworden«. In einem Reich reiner Selbstbezüglichkeit ist nicht mehr ersichtlich, welchen Zwecken die »Möglichkeit ihrer objektiven Leistung« überhaupt dienen soll. 186 Dass diese Zwecke einmal präsent waren, hat ursprünglich das wissenschaftliche Vorgehen legitimiert: Alles Leben beruht auf Voraussicht, auf »Induktionen«, wie Husserl sagt. 187 Mit ihrem Versprechen, diese Voraussicht erweitern zu können, wollte die Wissenschaft mehr Sicherheit im praktischen Lebensvollzug gewinnen. 188 Wissenschaft war ursprünglich auf die alltägliche Lebenspraxis bezogen. Die Lebenswelt ist für Husserl vor diesem Hintergrund zunächst »die raumzeitliche Welt der Dinge, so wie wir sie in unserem vor- und außerwissenschaftlichen Leben erfahren und über die erfahEbd., S. 125. Ebd., S. 51. Vgl. hierzu Ludwig Landgrebe: Das Problem der transzendentalen Wissenschaft vom lebensweltlichen Apriori [1963], in: ders.: Phänomenologie und Geschichte. Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn: Gütersloh 1967, S. 148–166, hier S. 151. Dass die Zwecke der Anwendung wissenschaftlicher Verfahren einst präsent waren, meint nicht, dass diese immer auch bewusst waren und reflektiert worden sind; Husserls Weg führt in der Krisis-Schrift von der unhinterfragten und unreflektierten Lebenspraxis, über den sukzessiven Abbau der unreflektierten Vorurteile zur Einstellung des Phänomenologen, oder: von einem Leben, das noch in der natürlichen Einstellung befangen ist, über den Abbau der natürlichen Einstellung mittels phänomenologischer bzw. transzendentaler Reduktion auf das reine Bewusstsein und die transzendentale Subjektivität. 188 Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 51. 186 187

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renen hinaus als erfahrbar wissen«. 189 In dieser Lebenswelt gewinnt das Leben in seiner Praxis, d. h. aufgrund von Erfahrungen, mehr und mehr an Sicherheit. Es schleichen sich Selbstverständlichkeiten in den täglichen Lebensvollzug ein, die das praktische Handeln erleichtern. Diese Selbstverständlichkeiten bringen Sicherheit mit sich. Sie sind »im voraus bekannt«. 190 Bevor wir handeln, müssen wir diese Selbstverständlichkeiten nicht eigens reflektieren, um überhaupt handeln zu können; vielmehr ermöglichen diese einen reibungslosen – und das meint durchaus einen unreflektierten – Handlungsvollzug. Die Lebenswelt ist dann »das Allerbekannteste, das in allem menschlichen Leben immer schon Selbstverständliche«. 191 Als selbstverständlich gilt, was sich von selbst versteht und gerade die »selbstverständlichsten Selbstverständlichkeiten« müssen nicht ein jedes Mal eigens expliziert und reflektiert werden. 192 Die Lebenswelt liegt auf einer transzendentalen Ebene. Sie ist ein Reich von Selbstverständlichkeiten, die Strukturen ausbilden, auf denen der praktische Lebensvollzug aufruht. Die geschichtliche, d. h. empirische Entwicklung scheint damit keinen Einfluss auf die Lebenswelt zu haben, insofern die Lebenswelt als ein Strukturmoment der transzendentalen Phänomenologie verstanden wird. Doch Husserls Suche nach den Ursachen der Krisis der europäischen Wissenschaften zeigt, dass die Geschichte nicht ohne Einfluss auf die Lebenswelt bleibt: Die Lebenswelt trägt selbst einen historischen Index, denn ohne die theoretische Umstellung zu Beginn der Neuzeit wäre die Lebenswelt gar nicht in den Blick gerückt. Als selbstverständlichste aller Selbstverständlichkeiten hätte sie keine Aufmerksamkeit erregen können. Erst das Verdecken der Lebenswelt hat für Irritationen gesorgt und auf diese aufmerksam werden lassen. Darüber hinaus hat jede Zeit ihre Selbstverständlichkeiten, die in die Lebenswelt eingehen und diese prägen; anders wäre es nicht denkbar, dass die neuzeitlichen Wissenschaften das lebensweltliche Fundament, aus dem sie selbst hervorgegangen sind, haben vergessen können. Der Methode der neuzeitlichen Wissenschaften wohnt eine Eigenlogik inne, die auf das Selbstverständnis der Neuzeit zurückwirkt. Sie wird selbst zur Selbstverständlichkeit, sinkt ihrerseits in 189 190 191 192

Ebd., S. 141. Ebd., S. 130. Ebd., S. 126. Ebd., S. 112.

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die Lebenswelt hinab und führt, so paradox es sich ausnehmen mag, zur Verdeckung und so zum Vergessen der Lebenswelt. Ebendiese Entwicklung bekommt Husserl zufolge nur der Phänomenologe in den Blick. Husserl verhandelt die Eigenlogik der mathematischen Naturwissenschaften in Anlehnung an deren technische Ausrichtung unter dem Stichwort der Technisierung bzw. der Formalisierung, das für ihn zum Signum der Neuzeit wird. Die Technisierung bildet ein intrinsisches Moment einer sich autonom fortschreibenden, technischen Rationalität, das die Lebenswelt längst vergessen hat: »Das ursprüngliche Denken, das diesem technischen Verfahren eigentlich Sinn und den regelrechten Ergebnissen Wahrheit gibt […], ist hier ausgeschaltet«. Als zentrales Moment der wissenschaftlichen Methode provoziert es den Verlust der Lebensbedeutsamkeit. Die Welt, auf Formeln gebracht, wird von der Technisierung auf die Natur einer mathematischen Symbol- und Formelwelt reduziert. Entscheidend ist, dass das Moment der Technisierung einen Fortschritt provoziert, der keine »Rückkehr in den eigentlichen wissenschaftlichen Sinn« mehr zulässt. 193 Ein Rückgang von der rein gewonnenen Idealität auf die empirische Anschaulichkeit ist nicht mehr möglich, man müsste von den gewonnenen Ergebnissen aus zurückrechnen. 194 Diese Entwicklung – ein »in der theoretischen Praxis sich instinktiv-unreflektiert vollziehende[r] Verwandlungsprozeß der Methode« – führt Husserl zufolge »in einer unaufhörlichen Bewegung der Fortbildung zu einer höchsten Stufe und zugleich Überhöhung der ›Arithmetisierung‹ : zu einer völlig universalen ›Formalisierung‹«. 195 Die wissenschaftliche Methode bleibt »auf sich selbst zurückbezogen«. In dieser äußersten Erweiterung wird sie »zu einer bloßen Kunst, durch eine rechnerische Technik nach technischen Regeln Ergebnisse zu gewinnen«. Auf diese Weise gewährleistet sie zwar den Fortschritt der technisch-mathematischen Naturwissenschaften, provoziert zugleich jedoch die von Husserl monierten »gefährliche[n] Sinnverschiebungen«. Das zentrale Problem sieht Husserl in der »unbefragten Traditionalität«, die diese Sinnverschiebungen herbeiführen. Die Anwendung der Methode erfolgt auf Grundlage ihres neuesten Stands, in den die bisherigen Entwicklungsschritte zwar 193 194 195

Ebd., S. 46. Vgl. ebd., S. 44. Ebd.

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eingegangen sind, die jedoch nicht mehr hinterfragt werden. Die Methode der neuzeitlichen Wissenschaften wird für Husserl zum Stigma einer ganzen Epoche: Soll die »ursprüngliche Sinngebung der Methode« restituiert werden, dann muss die Methode von ihrer Tradition, wie Husserl sagt, befreit werden. 196 Der Rückgang auf einen ursprünglichen Sinn ist nur möglich, so die hypothetische Vorannahme Husserls, weil jede Sinnverschiebung eine Modifikation und Weiterentwicklung eines ursprünglichen Sinns ist: Die Sätze und methodischen Bestandsstücke erheben stets »den Anspruch, Sedimentierungen eines ursprünglich evident zu machenden Wahrheitssinnes zu sein«. Sie werden, wie Husserl deutlich macht, auf dieselbe Art und Weise tradiert, wie die »sonstigen Kulturgebilde« auch. 197 Überlässt man diese Dynamik der Traditionsund Kulturbildung sich selbst, dann verdecken die kulturellen Errungenschaften und wissenschaftlichen Konstruktionen die ursprünglich sinnstiftenden Konstitutionsleistungen. Die Dynamik kultureller Tradierung ist für Husserl ein »beweglicher Fortgang von Erwerben zu Erwerben«, »eine kontinuierliche Synthesis, in der alle Erwerbe fortgelten«. Zusammengenommen bilden sie eine »Totalität« und zwar »derart, daß in jeder Gegenwart der Totalerwerb sozusagen Totalprämisse ist für die Erwerbe der neuen Stufe«. Wenngleich die Gegenwart nicht lediglich die Summe der Errungenschaften der Vergangenheit ist und der Ursprungssinn nicht immer präsent sein mag, so liegt dieser doch implizit im akkumulierten »Totalerwerb« der Gegenwart beschlossen. 198 Es muss deshalb möglich sein, diesen Ursprungssinn zu restituieren. Folgen wir Husserl, dann erscheint die europäische Geschichte und Tradition im Licht einer »kontinuierlichen lebendigen Fortarbeit« an einem einmal gestifteten, ursprünglichen Sinn, die er als Tradition bezeichnet. 199 Aus empirischer Perspektive ist der Ursprung der Sinnstiftung immer schon versunken und bleibt dies auch. 200 Doch Husserls Rückfrage nach der ursprünglichen Sinnstiftung fragt nicht nach einem historisch datierbaren Ursprung, sondern nach der ursprünglichen Stiftung dieses Sinns in seiner Idealität. Aus Perspek-

196 197 198 199 200

Ebd., S. 46 f. Ebd., S. 377. Ebd., S. 367. Ebd., S. 366 (Anm. 1). Vgl. ebd., S. 366.

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tive der natürlichen Einstellung und vorwissenschaftlichen Lebenswelt wirkt es, als sei der Ursprung verloren, da jede neue Sinnsicht die ihr vorhergehenden überlagert und die Sicht auf den Ursprung verdeckt. Was realiter verdeckt wird, bleibt Husserl zufolge jedoch idealiter erhalten. Um die ursprüngliche Sinnstiftung zu restituieren, bedarf es spezifischer methodischer Vorkehrungen, in einem ersten Schritt der phänomenologischen Reduktion. Die Geschichte soll, so Husserl, »nach allen Wesensmöglichkeiten« 201 umspannt werden: »Ohne einen streng wissenschaftlichen Anfang gibt es keinen streng wissenschaftlichen Fortgang.« 202 Und ohne diesen streng wissenschaftlichen Fortschritt fehlt innerhalb der eigenen Tradition und Geschichte Husserl zufolge jeder Anhalt zur Orientierung. Erst die Rückbesinnung auf »den allgemeinen Sinnesboden«, auf dem die Geschichte als Reich des Geistes erwächst, offenbart »das gewaltige strukturelle Apriori«, das der Geschichte zugrunde liegt und »alles Seiende im historischen Gewordensein und Werden oder in seinem wesensmäßigen Sein als Tradition und Tradierendes umgreift«. 203 Die echte historische Erklärung, die von der Phänomenologie gegeben werden muss, kann sich nur auf die innere Historie beziehen. In dieser liegt der ursprünglich gestiftete Sinn begründet. Noch die Kultur- und Tatsachengeschichte erfährt ihren Sinn nur »auf dem Fundament des universalen historischen Apriori«, das es durch einen Blick auf die innere Historie freizulegen gilt. 204 Mit der Einsicht, dass die äußere Geschichte auf die sie bestimmende innere Geschichte rückbezogen ist, vollzieht sich eine von Husserl sogenannte »Geltungsfundierung«. Die phänomenologische Reduktion muss zunächst die Selbstverständlichkeiten der vorwissenschaftlichen Lebenswelt abtragen und fördert dadurch das lebensweltliche Apriori zutage, das seinerseits aufgrund einer »idealisierende[n] Leistung« jede »höherstufige Sinnbildung und Seinsgeltung« zustande bringt. 205 Das lebensweltliche Apriori kann mittels eidetischer Intuition in den Blick genommen werden: In freier Variation lässt sich die LebensEbd., S. 301 (Anm. 1). Edmund Husserl: Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte (Husserliana, Bd. VII), hrsg. von Rudolf Boehm. Martinus Nijhoff: Den Haag 1956, S. 6.11 203 Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 380 f. 204 Ebd., S. 386. 205 Ebd., S. 143. 201 202

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welt »umdenken, umphantasieren«, so Husserl. 206 Unabhängig von »ihren Relativitäten« zeigt sich ihre »allgemeine Struktur« und diese »allgemeine Struktur, an die alles relativ Seiende gebunden ist, ist nicht selbst relativ«. 207 Auf dem Grund der Lebenswelt zeigt sich »ein wesensallgemeiner Bestand, der durch alle Varianten hindurchgeht«. 208 Das historische Apriori erweist sich als ein lebensweltliches Apriori und darin als ein unabänderliches Allgemeines der Lebenswelt. Im Prozess der »Geltungsfundierung« wird auf transzendentalphänomenologischer Ebene der Ursprung einer historischen Tradition der Sinnbildung begründet, deren ursprünglicher Sinn die nachfolgenden Sinnsedimentierungen legitimiert. Der »historische[] Unsinn« weicht dann der Einsicht in »das Walten eines absoluten Sinnes«, den »das europäische Menschentum« als »absolute Idee in sich trägt«. 209 Sind die verschiedenen Schichten an Traditionsbeständen phänomenologisch abgetragen, zeigt sich am Ursprung der Tradition Europas zugleich eine »Universalphilosophie«. 210 Mit diesem Anspruch auf Universalität verspricht Husserl zugleich die »Totalität aller Erkenntnisse« der europäischen Tradition bündeln zu können. 211 Diese Universalphilosophie bildet den Rahmen, in dem die Geschichte der europäischen Tradition allererst einen geordneten Verlauf erkennen lässt und es ermöglicht, ihr überhaupt einen Sinn zuzusprechen. Von einem empirischen Standpunkt aus lässt die Geschichte keine Ordnung erkennen, jedes Geschehen und jede Entwicklung scheint bloß kontingent zu sein. Fehlt es an der Einsicht der transzendentalen Phänomenologie, dann lassen sich Ursprung und Ziel der geschichtlichen Entwicklung nicht erkennen. Unter Anerkennung des »lebensweltlichen Apriori« 212 gelangt Husserl zu der von ihm intendierten strengen Wissenschaft zurück: »Nur ›in der Enthüllung dieses Apriori‹ kann es eine über alle historischen Faktizitäten, alle historischen Umwelten, Völker, Zeiten,

206 207 208 209 210 211 212

Ebd., S. 383. Ebd., S. 142. Ebd., S. 383. Ebd., S. 14. Ebd., S. 115; vgl. auch Husserl: Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil, S. 3. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 115. Ebd., S. 143.

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Menschen hinausreichende apriorische Wissenschaft geben«. Die Universalwissenschaft ist die Erfüllung der strengen Wissenschaft und damit die transzendentale Phänomenologie, die sich bereits auf dem Grund der europäischen Tradition abzeichnet. Der europäischen Tradition zeigt sich mit der Enthüllung dieses Apriori ihr Ursprung und ihre zu erfüllende Aufgabe: Sie steht damit, so Husserl, »vor dem großen und tiefen Problemhorizont der Vernunft«. 213 Mit diesem Problemhorizont eröffnet die transzendentale Phänomenologie den Bereich der Selbstbesinnung, die ihren Ursprung im Blick und ihr Ziel vor Augen haben muss. Vor dem Hintergrund des lebensweltlichen bzw. historischen Apriori erweist sich nicht nur der eigene Standpunkt als eine unter anderen »Denkmöglichkeiten«, der durch eine ursprüngliche Sinnstiftung legitimiert wird. Auch die menschliche Vernunft zeigt sich als eine unter anderen möglichen Realisierungen einer Vernunft, die in ihrer Idealität gefasst werden kann: »Vernunft ist kein zufällig-faktisches Vermögen, nicht ein Titel für mögliche zufällige Tatsachen, vielmehr für eine universale wesensmäßige Strukturform der transzendentalen Subjektivität überhaupt.« 214 Die Urstiftung der europäischen Philosophie ist die Stiftung einer umfassenden Vernunft, die innerhalb der europäischen Kultur das Richtmaß der Lebensbedeutsamkeit vorgibt. Am Ursprung Europas zeichnet die Urstiftung das Ideal »als ein Leben aus reiner Vernunft« vor. 215 Die Lebenswelt ist für Husserl damit kein spezifisches Korrelat einer theoretisch wissenschaftlichen Einstellung, sondern der Grund und Boden, von dem die menschliche Lebenspraxis abhebt und damit jeglichen, sei es praktischen, sei es theoretischen, Weltverhaltens. 216 Sie ist das transzendentale Fundament der menschlichen Lebenspraxis, das »Sinngebilde […] einer universalen letztfungierenden Subjektivität«. Auf dem Grund der Lebenswelt zeigt sich Husserl zufolge das lebensweltliche Apriori als ebendiese »anonyme[]«, d. h. transzendentale Subjektivität, deren Leistungen die Lebenswelt konstituieren. 217

Ebd., S. 385. Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 92; vgl. hierzu Landgrebe: Das Problem der transzendentalen Wissenschaft vom lebensweltlichen Apriori, S. 162. 215 Husserl: Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil, S. 9. 216 Vgl. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 124. 217 Ebd., S. 115. 213 214

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Wie Ricœur hervorhebt, ist die Entdeckung der Urstiftung zugleich »ein Entwurf im Horizont der Zukunft, eine Endstiftung«. 218 Sie gibt zugleich die Aufgabe vor, der die Philosophie nachzukommen hat. Husserl sieht in diesem Ideal »ein Leben, in dem der Mensch in unermüdlicher Selbstbesinnung und radikaler Rechenschaftsabgabe Kritik – letztauswertende Kritik – an seinen Lebenszielen und […] seinen Lebenswegen, an seinen jeweiligen Mitteln übt. Solche Rechenschaftsaufgabe und Kritik vollzieht sich […] durch Rückgang auf vollkommene Klarheit, ›Einsicht‹, ›Evidenz‹.« 219 Vernunft, so Husserl, ist »ein Titel für ›absolute‹, ›ewige‹, ›überzeitliche‹, ›unbedingt‹ gültige Ideen und Ideale«, 220 sie impliziert »Evident-machen und Evident-haben«. 221 Ausgehend von den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Phänomenologie wird die Arbeit der Philosophie auf den Erhalt der ursprünglich gestifteten Vernunft eingestellt. Die Entdeckung der umfassenden Vernunft in ihrer Idealität, bringt zugleich die Aufgabe mit sich, für den Erhalt dieser Vernunft zu sorgen – die Urstiftung ist zugleich Endstiftung. Was sich hier auf Ebene der Kultur und Geschichte zeigt, ist bereits in den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Phänomenologie enthalten. Noesis und Noema, Bewusstseinsakt und Bewusstseinsinhalt, sind stets nur in Korrelation zu erfassen und doch müssen beide »prinzipiell unterschieden werden«. 222 Die Noesis als sinngebender Bewusstseinsakt geht im Zuge des Zusammenspiels aus Noesis und Noema durch den noematischen Kern hindurch; Wünschen, Hoffen, Erwarten und dergleichen mehr: Alle Motivationsrückhalte des erkennenden Subjekts werden auf einen noematisch erfassten, idealen Gegenstand konzentriert. Der Akt des Bewusstwerdens ist stets das Bewusstwerden eines Gegenstandes in seiner Idealität. Wenn Husserl die Aufgabe der phänomenologischen Deskription als Auslegung der »universale[n] Struktur 218 Paul Ricœur: Husserl und der Sinn der Geschichte [1949], in: Hermann Noack (Hrsg.): Husserl (Wege der Forschung, Bd. XL), übers. von Klaus Stichweh. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1973, S. 231–276, hier S. 248; vgl. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 73. 219 Edmund Husserl: Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte (Husserliana, Bd. VII), hrsg. von Rudolf Boehm. Martinus Nijhoff: Den Haag 1956, S. 9. 220 Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 7. 221 Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 92. 222 Husserl: Ideen. Erstes Buch, S. 217.

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des transzendentalen Bewußtseinslebens in seiner Sinnbezogenheit und Sinnbildung« bestimmt, dann zeigt sich diese universale Struktur in vergrößertem Maßstab mit Blick auf die Geschichte, wie sie Husserls Phänomenologie begreift. 223 Im Zuge der noetisch-noematischen Analysen werden alle Motivationsrückhalte der erkennenden Subjektivität auf die Begründung und Bewahrung der einen umfassenden Vernunft abgestellt. Es gilt, alle theoretischen sowie praktischen Handlungen entlang dieser Vernunft zu orientieren: Husserl sucht, wie Richard Rorty betont, die Kultur »auf dem Wege der Inspektion von Noemata« zu begründen. 224 Was Ricœur in einem anderen Kontext unter dem Stichwort des »eidetischen Stil[s]« der Phänomenologie der Kritik unterzieht, wird an dieser Stelle zum Problem. 225 Den Grund hierfür sehen sowohl Ricœur als auch Blumenberg darin, dass Husserls Geschichtsauffassung letzten Endes der phänomenologischen Erkenntnistheorie entspringt, die Ursprung und Ziel der Geschichte als Korrelate ausweist, die sie, in kleinerem Maßstab, als Korrelation zwischen erkennendem Subjekt und wesenhaft erfasstem Objekt ausgearbeitet hat. Geschichte wird so zum Gegenstand Geschichte. Ursprung und Ziel, Sinn und Einheit der Geschichte gründen, wie Husserl selbst hervorhebt, »in der verborgenen Einheit intentionaler Innerlichkeit«. 226 In Form einer umfassenden Vernunftkritik erscheint Husserl die Philosophiegeschichte als die Geschichte der transzendentalen Phänomenologie, die mit der Entdeckung der transzendentalen Subjektivität zu sich selbst kommt. Husserls Geschichtsauffassung ist die Konstitution eines teleologischen Vollzugs eines unter der Oberfläche der Kultur und Geschichte sich vollziehenden Sinngeschehens. Am Ursprung Europas entfaltet sich, so Husserl, »eine durch die ganze Geschichtlichkeit hindurchgehende teleologische Vernunft […], die sich auf die Totalität der Geschichte und den ihr letztlich Einheit gebenden Gesamtsinn bezieht«, die Frage nach dem »universalen hisHusserl: Die Pariser Vorträge, S. 20. Richard Rorty: Philosophie als Wissenschaft, als Metapher und als Politik, übers. von Eva Knodt, in: Michael Benedikt und Rudolf Burger (Hrsg.): Die Krise der Phänomenologie und die Pragmatik des Wissenschaftsfortschritts. Edition S (Österreichische Staatsdruckerei): Wien 1986, S. 138–149, hier S. 142; vgl. Friederike Kuster: Wege der Verantwortung. Husserls Phänomenologie als Gang durch die Faktizität (Phaenomenologica, Bd. 138). Dordrecht, Boston MA, London 1996, S. 14. 225 Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 221. 226 Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 74. 223 224

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Die Grenzen der idealistischen Geschichtsteleologie Husserls

torischen Apriori« führt auf die »höchste[] Frage einer universalen Teleologie der Vernunft«. 227 Doch sowohl Ricœur als auch Blumenberg stehen dieser teleologischen Sinnstruktur der Geschichte skeptisch gegenüber.

2.3. Die Grenzen der idealistischen Geschichtsteleologie Husserls Blumenbergs Kritik an der husserlschen Geschichtsteleologie richtet sich im Wesentlichen gegen zwei Aspekte, die bereits angedeutet wurden: erstens gegen Husserls Auffassung, Geschichte als Vollzug eines Sinns zu begreifen, zweitens dagegen, dass das Subjekt im Kontext der husserlschen Geschichtsteleologie vollkommen anonym bleibt, beide Aspekte korrelieren. Die Anonymität des Subjekts bildet das entgegengesetzte Extrem zu einer Hermeneutik im Sinne Diltheys, die Singularitäten in Form von Individuen mitsamt deren persönlicher Lebenserfahrung zum Ausgangspunkt des Erkenntnisstrebens der Philosophie erklärt. Husserl setzt diesem Ansatz das Allgemeine und Universale der transzendentalen Subjektivität entgegen, individuelle Ausprägungen rücken hier nicht in den Blick. Das Subjekt geht, wie Husserl selbst deutlich macht, als Funktionär in die Methode einer Wissenschaft ein, die darauf ausgelegt ist, den einen Sinn der europäischen Identität zu wahren: die eine umfassende Vernunft. Für Husserl setzt sich jede Wissenschaft aus einer »offene[n] Generationenkette miteinander und füreinander Arbeitender« zusammen, ob nun »bekannter oder unbekannter Forscher«. Nicht nur deren Leistungen, sondern die Forscher selbst gehen als erkennende Subjekte ganz in diese Wissenschaft ein: Es bildet sich eine »für die gesamte lebendige Wissenschaft leistende[] Subjektivität« heraus, die transzendentale Subjektivität. 228 Strenge Wissenschaft ist damit eine »kollektive Arbeitsleistung der Forschergenerationen« und als solche »unpersönlich«. 229 Dieses Moment des Unpersönlichen ist die Bedingung, um das Subjekt überhaupt methodisch vereinnahmen zu können. An ebendiesem Punkt entzündet sich

227 228 229

Ebd., S. 386. Ebd., S. 367. Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 59.

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die Kritik Blumenbergs, mit der sich die vorliegende Untersuchung im Folgenden auseinanderzusetzen hat. Das unpersönliche Moment der transzendentalen Subjektivität ist für Husserl die notwendige und zugleich hinreichende Bedingung, die es ermöglicht, einen Rückfall in einen Relativismus sowie Skeptizismus in Form eines Psychologismus oder Historismus zu vermeiden. Um an dieser Stelle einen Ausdruck Ricœurs zu gebrauchen: Das »Gespenst des Relativismus« ist gebannt, erkauft jedoch um den Preis einer anonymen Subjektivität. 230 »Der Phänomenologe«, so Blumenberg, wird dadurch »so etwas wie der Funktionär der transzendentalen Subjektivität«, die transzendentale Subjektivität zu einem Kollektivsingular, die jedes Individuum durch Nivellierung seiner Individualität in sich aufnimmt. 231 Im Rahmen der transzendentalen Phänomenologie muss sich jede Wahrheit, auch die historische, im Vollzug des Sinngeschehens an der in der reinen Anschauung gegebenen Evidenz bewähren 232 – und dies ungeachtet des empirischen Vollzugs der Geschichte. In dem Versuch Kultur und Geschichte in die phänomenologische Erkenntnistheorie zu überführen, überschreitet die transzendentale Phänomenologie Husserls für Blumenberg jedoch die Belastbarkeit ihrer theoretischen Anlagen. Sie erweist sich für ihn dort als problematisch, wo es ihr nicht mehr nur darum geht, einen kohärenten erkenntnistheoretischen Rahmen für die Konstitution intentionaler Gegenständlichkeit zu schaffen, sondern darüber hinaus sucht, die »Kultur auf dem Wege der Inspektion von Noemata« zu begründen, um Rortys Aussage an dieser Stelle zu wiederholen. 233 Und diese Noemata sind ausschließlich eidetisch erfasst relevant: Nur in ihrer Idealität ringt der Phänomenologe der Kultur und Geschichte überhaupt Bedeutung ab. Jeder intentionale Bewusstseinsakt ist auf die im Kern phänomenologisch intendierte Gegenständlichkeit in ihrer Idealität konzentriert. Die Strukturen des Bewusstseins, die den Gegenstand inhaltlich bestimmen, zeichnen die Orientierung auf das Wesen des Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 162. Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, S. 246; vgl. hierzu auch Bernet, Kern und Marbach: Husserl, S. 74. 232 Vgl. Elisabeth Ströker: Husserls Evidenzprinzip. Sinn und Grenzen einer methodischen Norm der Phänomenologie als Wissenschaft [1978], in: dies.: Phänomenologische Studien. Vittorio Klostermann: Frankfurt a. M. 1987, S. 1–34, hier S. 34. 233 Rorty: Philosophie als Wissenschaft, als Metapher und als Politik, S. 142. 230 231

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intendierten Gegenstands strukturell vor. Alle Motivationsrückhalte werden ganz darauf ausgerichtet, das entsprechende Wesen zu erfassen und sind ihrerseits idealistisch überformt: Wir gehen nicht nur in aller Anonymität in die »kollektive Arbeitsleistung der Forschergenerationen« ein. 234 Darüber hinaus sind wir, wie Husserl selbst sagt, »Funktionäre der neuzeitlichen philosophischen Menschheit« und werden deshalb von einer durch alle »Erben und Mitträger […] hindurchgehenden Willensrichtung« getragen. 235 Ebendiese Willensrichtung sieht Husserl aus der griechischen Urstiftung hervorgehen, die damit »Nachstiftung und Abwandlung der griechischen Urstiftung« zugleich ist. 236 In seiner Freiburger Antrittsvorlesung macht Husserl unmissverständlich klar, dass es der transzendentalen Phänomenologie nicht um »verschiedene Bewertungen wie: gewisse Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit, Möglichkeit usw.« geht, sondern um das diesen Bewertungen zugrundeliegende Substrat. Dieser Sachverhalt liegt bereits im Begriff des Phänomens begründet: »Phänomen besagt hier also einen gewissen, dem betreffenden anschauenden Bewußtsein selbst einwohnenden Gehalt, der das Substrat ist der jeweiligen Wirklichkeitsbewertung.« Zwar umfasst der Begriff des Phänomens alle »Bewußtseinsarten: […] jederlei Fühlen, Begehren, Wollen mit seinen immanenten ›Inhalten‹« und damit alle »Gemüts- und Willenserlebnisse« sowie »die großen Kategorien von Gegenständen, wie alle Kulturgegenstände, alle Werte, Güter, Werke« – jedoch nur »als solche«. 237 Das Interesse an der Wirklichkeitsbewertung verblasst angesichts der Möglichkeit, das Substrat aller möglichen Wirklichkeitsbewertungen in den Blick nehmen zu können. Für Husserl gilt es, die verschiedenen »Bewußtseinsarten« in ihrer Wesensstruktur zu erschließen, die zwar »nur durch Beteiligung des Gemüts- und Willensbewußtseins erfahrbar bzw. nachverstehbar, vorstellbar sind«. 238 Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 59. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 72; vgl. hierzu auch Paul Ricœur: L’originaire et la question-en-retour dans la Krisis de Husserl [1980], in: ders.: À l’école de la Phénoménologie, Librairie philosophique J. Vrin: Paris 21987, S. 285–295, hier S. 287 f. 236 Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 72. 237 Husserl: Die reine Phänomenologie, ihr Forschungsgebiet und ihre Methode, S. 70 f. 238 Ebd., S. 71 f. 234 235

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Alle Gemüts- und Willensregungen müssen jedoch gleichermaßen auf die phänomenale Gegenständlichkeit in ihrem Wesen orientiert und damit idealisiert werden. Die transzendentale Phänomenologie verbleibt im Bereich der »Wesensanalyse« und der »Sphäre der unmittelbaren Evidenz«. 239 Blumenberg hebt hervor, dass Husserl absolute Evidenz als »alleiniges Kriterium« für die Gegenstände der phänomenologischen Erkenntnistheorie gelten lässt. Entscheidend ist, dass das Kriterium der absoluten Evidenz Blumenberg zufolge einen Maßstab setzt, der »gleichgültig dagegen [ist], welchen Wertbetrag jene Gegenstände aus sonstigen Motivationen des erkennenden Subjekts an sich zu ziehen vermögen«. 240 Die Phänomenologie kann ihren Objektbereich nur dann rein erhalten, wenn das Subjekt gleichermaßen vor einer Verunreinigung bewahrt wird; es muss deshalb als transzendentales Subjekt in die Geschichte eingehen. Nur dann können wir uns Husserl zufolge innerhalb der kontingenten und dementsprechend unübersichtlichen empirischen Geschichte überhaupt orientieren: indem wir von ihr absehen und uns auf das Fundament einer absoluten Vernunft stellen. Jede Möglichkeit zur Positionierung und Stellungnahme ist in Husserls Verständnis das Resultat einer alle Individuen des europäischen Kulturraums gleichermaßen tragenden »Willensrichtung«. 241 Der transzendentalen Phänomenologie eignet damit ein normativer Zug, der einen festen Stand und Orientierung in Zeiten der Desorientierung gewährleisten soll. Wenngleich die europäischen Wissenschaften Husserl zufolge die Krisis herbeigeführt haben, so betrifft diese am Ende doch nicht mehr nur die europäischen Wissenschaften, sondern »das europäische Menschentum« insgesamt. 242 Das Heilmittel, diese Krisis zu kurieren, ist die transzendentale Phänomenologie, die strengste aller Wissenschaften: »Die Not stammt hier von der Wissenschaft. Aber nur Wissenschaft kann die Not, die von Wissenschaft stammt, endgültig überwinden.« 243 Husserl setzt die Hoffnung ganz auf die eine absolute Vernunft, »die neben und über sich keine Autorität« 244 duldet: »Alles Leben ist Stellungnehmen, al239 240 241 242 243 244

Husserl: Die Idee der Phänomenologie, S. 14. Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, S. 175. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 72. Ebd., S. 14. Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 57. Ebd., S. 11.

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les Stellungnehmen steht unter einem Sollen, eine Rechtsprechung über Gültigkeit oder Ungültigkeit, nach prätendierten Normen von absoluter Geltung.« 245 Blumenberg zufolge wurde mit der Urstiftung der Vernunft ein Entschluss gefasst, der nicht nur »über die Möglichkeiten der europäischen Geschichte entschieden« hat, sondern darüber hinaus »auch zu ihrer Wahrnehmung und Ausschöpfung verpflichtet«: »Er hat die Logik dieser Geschichte begründet, ihre Identität geschaffen, die fortan die der bloßen rationalen Selbsterhaltung zu sein hatte. Deshalb denken und forschen wir historisch, suchen wir zu verstehen, was gewesen ist, weil nur Verstehen uns dessen versichert, daß und wie wir in der Identität dieser Geschichte stehen und fortan uns behaupten können.« 246 Husserl delegiert die Identität des Einzelnen an die Totalität einer methodisch ergriffenen, umfassenden Vernunft. Er identifiziert die »Identität der theoretischen Einstellung mit der europäischen Geschichte«. 247 Geschichte und Identität sehen sich untrennbar aufeinander verweisen. Blumenberg sieht diese Konzeption bereits in der Erkenntnistheorie der transzendentalen Phänomenologie angelegt. Die streng aufeinander verwiesenen noetisch-noematischen Korrelationen lassen Blumenberg zufolge für »jede […] Art von Gegebenheiten etwas« nachweisen, »was sich unter den Gesamttitel ›Stellungnahme‹ bringen läßt«. 248 Dieser Gesamttitel ist nichts anderes als das transzendentale Subjekt: »Das Subjekt ist wesentlich Stellungnahme.« Gemeint ist keine persönliche und individuelle Stellungnahme; gerade eine solche, so hatte Husserl selbst ausdrücklich betont, gilt es auszuklammern. »Stellungnahme«, so Blumenberg, ist bei Husserl »eben nicht so etwas wie freie Handlung, sondern das Korrelat zum Inhalt und seiner Gegebenheitsweise«. 249 Der eidetisch zugerichtete und intentional erfasste Gegenstandsbereich überformt das Subjekt, das seinerseits zum Korrelat des phänomenologisch gefassten Gegenstandsbereichs wird: »Subjekt und Objekt verschaffen

Ebd., S. 56. Hans Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, hrsg. von Manfred Sommer. Suhrkamp: Berlin 2010, S. 75. 247 Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit [1986]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2001 (Nachdruck), S. 325. 248 Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, S. 101 f. 249 Ebd., S. 109. 245 246

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sich in unauflöslicher Entsprechung ihre respektiven ›Reinheiten‹.« 250 An diesem Punkt ist für Blumenberg nicht mehr ersichtlich, weshalb das transzendentale Subjekt überhaupt noch dem höheren Ruf der Theorie nach Selbsterkenntnis folgen sollte: »Das reine Subjekt wäre das absolut uninteressierte Subjekt« 251 und damit »zwar das idealisierte Bewußtsein theoretischer Gegenständlichkeit; zugleich aber ist es das gegenüber der Theorie derart gleichgültige Bewußtsein, daß es paradoxerweise zum theoretischen zu werden verweigern müßte – weshalb sollte es?« Wäre Husserls Methode in aller Radikalität umsetzbar, sie würde sich selbst aufheben: »Das Paradox der phänomenologischen Reduktion ist der Verlust ihres Antriebs zugleich mit dem Erfolg ihres Verfahrens.« 252 Folgen wir Blumenbergs Kritik, dann muss Husserl an diesem Punkt auf einen Dezisionismus zurückgreifen, wie Blumenberg sagt, d. h. die theoretische Anlage der transzendentalen Phänomenologie allein kann nicht verständlich machen, weshalb die Stellungnahme einer Identifizierung mit der theoretischen Einstellung der europäischen Geschichte gleichkommen sollte: »Die Vernunft schafft es nicht, sich aus sich selbst zu Handlungen zu motivieren.« 253 Erst die 250 »Die Beteiligung von kontingenten Subjekten ist zwar in der faktischen Genese von Theorie ein Störfaktor, aber ein im Prinzip aufhebbarer: Zu sagen, der Gegenstand der Theorie existiere ›objektiv‹, heißt nicht nur, eine Mannigfaltigkeit von Subjekten sei der Vereinigung ihrer Bestimmungen dieses Gegenstandes fähig, sondern besagt vor allem, diese intersubjektive Geltung bedeute für jedes der beteiligen Subjekte seine Ersetzbarkeit durch jedes andere. Darin liegt sein Zugeständnis, der Gegenstand bestehe unabhängig vom Bewußtsein, das es von ihm habe. Das ist zugleich der schlechthin evidente Fall des Korrelationsapriori: Subjekt und Objekt verschaffen sich in unauflöslicher Entsprechung ihre respektiven ›Reinheiten‹.« (Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, S. 106 f.; vgl. auch ebd., S. 246, S. 253 f.) 251 Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, S. 249. 252 Ebd., S. 251; vgl. auch ebd., S. 246, 258. 253 Hans Blumenberg: Höhlenausgänge [1989]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 21996, S. 372. Der Begriff des Dezisionismus wird von Carl Schmitt in die deutsche Rechtssprache eingeführt, um wider die Behauptung einer lückenlosen Begründbarkeit der Rechtsordnung vonseiten des juristischen Positivismus ein voluntatives Entscheidungsmoment herauszuheben, das aus ebendieser Rechtsordnung normativ nicht ableitbar ist und doch zugleich konstitutiv für jeden individuellen Akt der Rechtsverwirklichung sein soll (vgl. Hasso Hofmann: Dezision, Dezisionismus [Art], in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2: D–F, hrsg. von Joachim Ritter in Verbindung mit Günther Bien, Jürgen Frese, Wilhelm Goerdt et al. Schwabe & Co.: Basel, Stuttgart 1972, Sp. 159–161, hier 160; vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel von der Souveränität. Duncker & Humblodt: München, Leipzig 21934, S. 41).

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von Husserl postulierte, umfassende Willensrichtung bestimmt, was er als Stellungnahme begreift: Orientierung »nach prätendierten Normen von absoluter Geltung«. 254 Was Blumenberg auf seine Art polemisch zuspitzt und als Dezisionismus ausweist, kann dennoch deutlich machen, worum es in der folgenden Darstellung – zunächst mit Blumenberg, dann mit Ricœur – geht: Kultur und Geschichte sind in erster Linie das Resultat menschlicher Handlungen und nicht das einer theoretischen Einstellung, nicht der Vollzug eines Sinns. Was Husserl als Geltungsfundierung ausweist, ist für Blumenberg ein Dezisionismus, der »einen sonst der Phänomenologie fremden Faktor« in die Phänomenologie einführt: »den Willen«. 255 Der, wie Ricœur sagt, »eidetische Stil« der Phänomenologie normiert sämtliche Motivationsrückhalte und stellt diese auf das eine Ziel ab: die Erhaltung der einen Vernunft, die nur die Phänomenologie in ihrer ganzen Tragweite ermessen kann. 256 Husserls Weg ist weder für Ricœur noch für Blumenberg ein gangbarer, beide lehnen dessen transzendentalphänomenologische Grundlegung von Identität und Geschichte ab, wenngleich sie durchaus Anleihen bei der Phänomenologie Husserls machen. Der Weg führt für beide in einem ersten Schritt vielmehr über einen Aspekt, den die Phänomenologie Husserls vernachlässigt und in dieser Form vernachlässigen muss: Die Motivationsrückhalte, die Erwartungen, Hoffnungen, Sehnsüchte und Interessen der Menschen der Vergangenheit lassen sich anhand der Bilder unseres Denkens ablesen. Diese schlagen sich in Texten nieder und werden in schriftlicher Form tradiert. Sie sind implizit oder explizit in den Werken

Spricht Blumenberg mit Blick auf die Phänomenologie Husserls von einem Dezisionismus, dann vernachlässigt er die politische Dimension des Begriffs, um das voluntative Moment hervorzuheben, das sich aus der theoretischen Anlage der Phänomenologie Husserls heraus weder begründen noch legitimieren lässt (vgl. Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 324, 326; Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, S. 256; 264 sowie Hans Blumenberg: Beschreibung des Menschen. Aus den Nachlaß hrsg. von Manfred Sommer. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2006, S. 343). Blumenberg spricht in diesem Zusammenhang deshalb auch immer wieder von einem Voluntarismus (vgl. Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 32, 332; Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, S. 158, 257 sowie Blumenberg: Beschreibung des Menschen, S. 110 f., 224). 254 Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 56. 255 Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, S. 256; vgl. auch Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 326. 256 Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 221.

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unserer Kultur enthalten und dem Bewusstsein damit zunächst äußerlich. Jede Kultur hat eine ihr eigene Geschichte, die sich maßgeblich in Bildern, in Metaphern und Symbolen manifestiert; für Ricœur ist Kultur denn auch »nichts anderes als die Epigenese, die Orthogenese dieser ›Bilder‹ des Erwachsen-Werdens der Menschen«. 257 Über deren Interpretation lässt sich die Dynamik der Kultur und der Geschichte nachvollziehen. Um die eigene Geschichte verstehen zu können und sich in ihr positionieren zu können, ist eine Auseinandersetzung mit den Symbolen, mit den Metaphern und Bildern, die unser Denken tragen, unumgänglich. Dass Husserl diese Auseinandersetzung umgeht, wiegt desto schwerer, wenn, wie zu zeigen sein wird, diese Bilder unseres Denkens nicht bloße Konstruktionen sind, sondern selbst Strukturen unseres Denkens darstellen. Die ganze Schwierigkeit, die im Folgenden die Hermeneutik auf den Plan ruft, liegt darin begründet, dass diese Bilder, obgleich sie Strukturen unseres Denkens darstellen, doch nur mittelbar in den Blick rücken: über die Werke der Kultur, in denen diese Bilder sich maßgeblich in Form sprachlicher Realisierungen niederschlagen. Der Weg Ricœurs sowie Blumenbergs ist im Gegensatz zur transzendentalen Phänomenologie Husserls ein mittelbarer und indirekter. Angesichts dessen jedoch kommt die Frage auf: »Was bleibt dem Menschen?« Was bleibt ihm angesichts der Enttäuschung, dass die Geschichte nicht die teleologische Realisierung des einen Sinns ist? Blumenbergs Antwort lautet: »Nicht die ›Klarheit‹ des Gegebenen, sondern die des von ihm selbst Erzeugten: die Welt seiner Bilder und Gebilde, seiner Konjekturen und Projektionen, seiner ›Phantasie‹ in dem neuen produktiven Sinne, den die Antike nicht gekannt hatte.« 258 Das erkennende Subjekt der husserlschen Phänomenologie, dessen Aufgabe Selbstbesinnung und -erkenntnis lautet, läuft laut Blumenberg in eine Sackgasse. Die »Selbsterkenntnis als einzige und vermeintlich absolute Form der Erkenntnis« führt auf das »Paradox«, »unaustilgbar als Voraussetzung« zu nehmen, was doch eigentlich

257 Paul Ricœur: Das Bewusste und das Unbewusste [1966], in: ders.: Konflikt der Interpretationen. Ausgewählte Aufsätze (1960–1969). Ausgewählt, herausgegeben und eingeleitet von Daniel Creutz und Hans-Helmut Gander. Herder: Freiburg i. Br. 2010, S. 135–161, hier S. 157. 258 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1998, S. 8.

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»Folge« sein soll: die »Einheit eines Bewußtseins«. 259 Husserl unterlegt ebenjene Einheit des Bewusstseins der Geschichte als Voraussetzung, so dass selbst noch die Geschichte als eine »Einheit intentionaler Innerlichkeit« erscheint. 260 Diese intentionale Innerlichkeit kennt keinen Umweg über die Bilder des Denkens, die zunächst nicht im Bewusstsein, sondern vielmehr kulturell realisiert vor uns liegen. Mit Blick auf Husserls KrisisSchrift zeigt sich dies noch symptomatisch daran, dass Husserl das symbolische Denken mit einem mathematisch-konstruktiven Denken identifiziert. Dieses Denken hat sich Husserl zufolge mit der Neuzeit zu einer eigenen Technik ausgewachsen, sich zunehmend verselbständigt und die Krisis herbeigeführt: Das symbolisch konstruierte Ideenkleid wird als wahre Wirklichkeit genommen. Symbole sind für Husserl lediglich Konstruktionen, Hilfsmittel eines konstruktiven Denkens, die die Anschaulichkeit abstreifen, die es dann phänomenologisch zu restituieren gilt. Das konstruktive Moment erzeugt mittels Symbolen Verfahren einer zunehmend rigideren, bloß konstruktiven Modellbildung, gegen die Husserl sich ausspricht. Nicht ohne Grund endet Husserls programmatischer Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft mit der Prognose, dass aus »der phänomenologischen Wesenserfassung« eine Wissenschaft erwachsen wird, »die ohne alle indirekt symbolisierenden und mathematisierenden Methoden« auskommt und dadurch »eine Fülle strengster und für alle weitere Philosophie entscheidender Erkenntnisse gewinnt«. 261 Ricœur und Blumenberg sind sich darin einig, dass Geschichte nicht der teleologische Vollzug des einen Sinns der Vernunft sein kann. 262 Nicht das Bewusstsein bildet den archimedischen Punkt, aus dem die Geschichte sich entspinnt, nicht die Vernunft gibt den Rahmen vor, in dem allein die Geschichte sich bewegt und als absolute behauptet werden kann. Allein auf dem Umweg über die Reflexion Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, S. 267. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 74. 261 Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 62. 262 Zu Ricœurs Kritik an der husserlschen Geschichtsauffassung vgl. Ricœur: Husserl und der Sinn der Geschichte; zu diesem frühen Aufsatz Ricœurs in Bezug zu Zeit und Erzählung vgl. Andris Breitling: Paul Ricœur und der Sinn der Geschichte, in: Günter Abel (Hrsg.): Französische Nachkriegsphilosophie. Autoren und Positionen (Schriftenreihe des Frankreich-Zentrums der Technischen Universität Berlin, Bd. 2). Berlin Verlag: Berlin 2001, S. 87–111. 259 260

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auf die Bilder unseres Denkens, unserer Kultur und Geschichte, ist es möglich, ein Selbstverständnis zu entwickeln. Für Ricœur sowie Blumenberg gilt gleichermaßen: »Das Bewußtsein ist nicht Ursprung, sondern Aufgabe« 263 – mit Blumenberg gesprochen: »Philosophie [ist] nichts anderes als werdendes Selbstbewußtsein des Menschen«. 264 Dieser Unterschied, das Bewusstsein nicht zum Ausgangspunkt der Philosophie zu erklären, sondern ans Ende eines Aufklärungsprozesses zu rücken, führt auf einen weiteren zentralen Aspekt, in dem sich die Hermeneutiken Ricœurs und Blumenbergs von der Phänomenologie Husserls unterscheiden: in der Frage nach dem Umgang mit dem Problem der Kontingenz. Die phänomenologische Reduktion ermöglicht die Unterscheidung zwischen dem Wesen eines Gegenstandes und dessen Zutaten, wie Blumenberg sagt. 265 Durch die »reelle[] Unterscheidbarkeit von existentia und essentia« ist es der Phänomenologie Husserls möglich, sich von der Kontingenz zu lösen. Was sie gemeinsam »unter dem Titel der Kontingenz« vorfindet, trennt sie voneinander: »Reduktion heißt, das Dasein preiszugeben, um das Wesen zu behalten.« 266 Diese »Trennbarkeit von Existenz und Essenz […] soll ermöglichen, daß bei allen Erlebnissen und Gegebenheiten davon abgesehen werden kann, ob es sie faktisch gibt oder nicht«. 267 Die Reduktionen der Phänomene auf das ihnen entsprechende Wesen sind immer auch »Schiedssprüche« mittels derer der Phänomenologie »zwischen Wertem und Unwertem« unterscheidet, so Blumenberg. 268 Einzig das Substrat der Bewertung der Wirklichkeit rückt in den Blick, das Problem der Kontingenz der Wirklichkeit wird dadurch aufgelöst. Doch für Blumenberg zeigt sich der »tiefste Konflikt, den das auf seine absolute Wurzel reflektierende Subjekt mit sich selbst haben kann«

Ricœur: Das Bewusste und das Unbewusste, S. 146. Hans Blumenberg: Die Bedeutung der Philosophie für unsere Zukunft, in: Amt für Kultur, Volksbildung und Schulverwaltung (Hrsg.): Europa-Gespräch 1961. Die voraussehbare Zukunft (Wiener Schriften, H. 16). Verlag für Jugend und Volk: Wien 1961, S. 127–140, hier S. 128. 265 Vgl. Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, S. 248. 266 Ebd., S. 253 f. 267 Ebd., S. 17. 268 Ebd., S. 248. »Wesen ist immer, was bleibt, wenn Dasein von einer Sache abgezogen worden ist.« (Ebd., S. 240) 263 264

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gerade in der »Feststellung seiner mundanen Kontingenz, seines Mangels an Notwendigkeit«. 269 Ricœur und Blumenberg entwickeln jeweils eigene Strategien, die diesem Konflikt mit der eigenen Kontingenz zu begegnen suchen und die sich durchaus ins Gespräch miteinander bringen lassen. Mit Blumenberg werden im Folgenden die Motivationsrückhalte und Beweggründe in den Blick zu nehmen sein, die zu Handlungen motivieren und anleiten, aus denen das entsteht, was wir als Geschichte begreifen. Der Weg zu einer solchen Hermeneutik kann auf der einen Seite nicht über Husserl führen, da dessen Phänomenologie gerade diese Motivationsrückhalte nicht berücksichtigt. Auf der anderen Seite ist auch der Rückgriff auf eine Hermeneutik im Sinne Diltheys nicht mehr möglich. Sowohl Ricœur als auch Blumenberg wählen einen Mittelweg: In Abgrenzung zu Husserl sowie zugleich in Anschluss an diesen führt der Weg beider auf eine Form der Hermeneutik, die zwar durchaus am Denken Husserls geschult ist und so einen Rückfall in einen Psychologismus vermeiden kann, im Unterschied zur Phänomenologie Husserls sucht jedoch weder die Hermeneutik Ricœurs noch die Hermeneutik Blumenbergs die Kontingenz aufzulösen, sondern diese vielmehr anzuerkennen und als Stimulans zu begreifen. Husserl fängt die Kontingenz methodisch ein und nivelliert sie. Die Kontingenz der Wirklichkeit und der Geschichte verschwindet unter dem Deckmantel der Teleologie des einen Sinns der Geschichte. Darauf gründet noch Husserls Dezisionismus, den Blumenberg ihm zum Vorwurf macht: Alle Motivationsrückhalte werden auf diesen einen Sinn konzentriert. Die Geschichte als »Einheit intentionaler Innerlichkeit« ist der Versuch, Ursprung und Ziel der Geschichte in Korrelation zueinander zu bringen: ein groß angelegter Versuch, der Kontingenz zum Trotz die Geschichte als »sinnhaftfinale Harmonie« vorzustellen. 270 Husserl idealistische Geschichtsteleologie steht damit unter dem Zeichen des Präsentismus: Die transzendentale Phänomenologie wird zum finalen Höhepunkt einer Entwicklung, die, wie maßgeschneidert, nur auf diese hat zulaufen können – früher oder später musste sie entdeckt werden und einmal entdeckt, gilt es an ihr festzuhalten. Zum Zwecke der Konsistenzbildung gelten ihr alle Philosophien vor 269 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos [1979]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1996 (Sonderausgabe der Ausgabe 51990 auf Grundlage der Ausgabe 31984), S. 298. 270 Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 74.

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ihr als Vorläufer auf dem Weg zur Entdeckung der transzendentalen Subjektivität, 271 alles, was abseits der von ihr abgesteckten Parameter liegt, ist keine Philosophie und trägt infolgedessen auch nicht zur Bewahrung der Identität der einen Vernunft bei. 272 Im Zeichen des Präsentismus unterdrückt die husserlsche Geschichtsteleologie das Problem der Kontingenz, indem sie dieses erkenntnistheoretisch harmonisiert und dadurch einhegt. Im Gegenzug stellt sich die Hermeneutik dem Problem der Kontingenz und sucht einen anderen Umgang mit diesem: »Zu wissen, daß die Menschen der Vergangenheit Erwartungen, Vermutungen, Wünsche, Befürchtungen und Vorhaben formuliert haben, heißt den historischen Determinismus aufzubrechen, indem man in der Rückschau wieder Kontingenz in die Geschichte einführt.« 273 Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie es im Zuge einer hermeneutischen Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und Geschichte möglich ist, ein Selbstverständnis zu entwickeln, das die Kontingenz nicht durch den einen Sinn der Geschichte einzuhegen und auszuschalten sucht. Unter Einbezug der Motivationsrückhalte gilt es, sich dieser zu stellen und produktiv in das eigene Schaffen zu integrieren. Hat die Frage der Analyse und Darstellbarkeit von Geschichte sich der Kontingenz jedoch nicht nur zu stellen, sondern integriert diese auch noch in das eigene Selbstverständnis, dann wird die Geschichte unter Einbezug besagter Motivationsrückhalte und Beweggründe zur gelebten Geschichte. 274 Mit Blumenberg wird in einem nächsten Schritt erstens ein Problembewusstsein dafür zu schaffen sein, weshalb Identität und Geschichte in der Moderne überhaupt ein Problem darstellen, das für Husserl aufgrund der Nivellierung der Kontingenz nicht zum Problem wird. Im Kontext seiner Geschichtsteleologie setzt dieser Geschichte und Identität in eins, so dass das Problem des Verhältnisses 271 Vgl. hierzu exemplarisch sowie paradigmatisch Husserl: Erste Philosophie (1923/ 24). Erster Teil. 272 Zum Präsentismus sowie zum Zusammenhang von Präsentismus und Kontingenz vgl. Ralf Konersmann: Kulturelle Tatsachen, S. 228–246, insbes. S. 232 f. 273 Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 587. 274 Was im Folgenden hermeneutisch gefasst und unter dem Titel der gelebten Geschichte geführt wird, hat Haefliger anthropologisch konturiert und unter das Stichwort der Mentalitätengeschichte gestellt (vgl. Haefliger: Imaginationssysteme, S. 129–138). Haefliger sucht hier das kognitive Potenzial von Metaphern und die Hermeneutik des geschichtlichen Hintergrunds, wie sie Goldstein formuliert (vgl. Anm. 246, S. 204), zusammenzuführen.

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von Identität und Geschichte nicht explizit zutage tritt. Für Blumenberg entsteht diese Problemlage mit dem Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit, im Zuge dessen wird auch die Kontingenz zu einem Problem; beide Aspekte werden im Folgenden darzustellen sein. Der mit Blumenberg erarbeitete Problemzusammenhang lässt die Position Husserls aus der Rückschau noch einmal deutlicher hervortreten. Zweitens gilt es, die Hermeneutik Blumenbergs zwischen Rhetorik und Poetik zu verorten. Beide Schritte zusammengenommen führen mit Blumenberg auf ein Plädoyer für die Anerkennung der Kontingenz, die unser modernes Verständnis der Wirklichkeit in dem Maße prägt, dass noch die Ausbildung unserer Identität auf dem Boden der Kontingenz steht – Kontingenz als Stimulans ist der Titel, unter den Blumenberg die Moderne stellt. Wie diese Art Ausbildung der Identität hermeneutisch zu fassen sein kann, die die Kontingenz als Antrieb begreift und in sich aufnimmt, wird im Anschluss mit Ricœur auszuführen sein, für den die Einbildungskraft und Phantasie – »in dem neuen produktiven Sinne, den die Antike nicht gekannt hatte« 275, wie Blumenberg sagt –, zum zentralen Vermögen wird, das im Hintergrund seiner Hermeneutik steht.

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Blumenberg: Paradigmen, S. 8.

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3. Hans Blumenberg: Gelebte Geschichte

Bereits in seiner Habilitationsschrift rückt die Frage nach dem Status der Geschichte ins Zentrum der Aufmerksamkeit Blumenbergs. In dieser Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls, so der Untertitel der Arbeit, gilt ihm die Geschichtlichkeit der Geschichte der Philosophie als »das verborgenste, vielleicht letzte Thema der Philosophie«. 1 Der Begriff der Geschichtlichkeit bezeichnet ihm zufolge eine geschichtliche »Wende jeweils eines Ganzen von Sinn«, anhand dessen sich Epochen und deren Grenzen ablesen lassen. Jede Epoche für sich bildet jeweils eine »Einheit eines Sinnganzen«. 2 Hans Blumenberg: Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls. Kiel 1950 (Habilitationsschrift, unveröffentlicht), S. 3. 2 Ebd., S. 7. In seiner Habilitationsschrift Die ontologische Distanz sucht Blumenberg die Nähe zu Heidegger, um Husserls Phänomenologie kritisch begegnen zu können (vgl. hierzu Flasch: Hans Blumenberg, S. 65 f.); diese Nähe klingt auch in diesem Zitat an. Dieser frühe Bezug Blumenbergs auf Heidegger hat Mende dazu veranlasst, Blumenbergs Hermeneutik, von Mende als Archäologie bezeichnet, als eine, wenn auch nicht unkritische, Fortführung der heideggerschen Seinsgeschichte zu deuten (vgl. Mende: Metapher – Zwischen Metaphysik und Archäologie, S. 165). Eine solche Nähe von Blumenbergs Geschichtsauffassung zu Heideggers Seinsgeschichte wäre über die frühen Qualifikationsschriften Blumenbergs herzustellen. Flasch hat diese eingehend untersucht sowie davon ausgehend das Verhältnis von Blumenberg zu Heidegger und Husserl dargestellt (vgl. Flasch: Hans Blumenberg, S. 55–231). Mende hingegen nimmt die Qualifikationsschriften Blumenbergs kaum in den Blick. Darauf, dass sich Blumenberg in späteren Jahren dezidiert gegen die heideggersche Phänomenologie wendet, wurde wiederholt hingewiesen (vgl. Müller: Sorge um die Vernunft, S. 19– 22, 47–63 sowie Manfred Sommer: Wirklichkeit [Art.], in: Robert Buch und Daniel Weidner (Hrsg.): Blumenberg lesen. Ein Glossar. Suhrkamp: Berlin 2014, S. 362–378, hier S. 365; vgl. hierzu auch Anm. 2, S. 17; zu Blumenbergs Kritik an und Polemik wider Heidegger vgl. Hans Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluß. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1987 sowie Hans Blumenberg: Was wäre würde Heidegger verstanden?, in: ders.: Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß. Philipp Reclam: Stuttgart 1997, S. 33–36 und Hans Blumenberg: Das Sein – ein MacGuffin [1987], in: ders.: Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß. Philipp Reclam: Stuttgart 1997, S. 157–161). 1

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Geschichte, so steht für Blumenberg fest, ist nicht der Titel »eines linearen Geschichtsverlaufes«. 3 Bereits anhand dieser frühen Schrift Blumenbergs lässt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen Blumenbergs eigener Geschichtsauffassung gegenüber der husserlschen Geschichtsteleologie markieren: Blumenbergs Aufmerksamkeit gilt der Frage nach Epochen und Epochengrenzen, den Brüchen, die sich in der Geschichte ereignen; die Einführung einer vernunftgeleiteten Teleologie erlaubt es der husserlschen Geschichtsauffassung hingegen, die geschichtliche Entwicklung in eine »sinnhaftfinale Harmonie« zu überführen. 4 Die Brüche, die sich für Blumenberg maßgeblich an Epochengrenzen auftun, werden von Husserl übersprungen, es wird Linearität hergestellt. Blumenberg wendet sich gegen diese Vorstellung eines linearen Geschichtsverlaufs, der in der husserlschen Geschichtsauffassung mit der Vernunftteleologie Einzug hält: Die empirische Geschichte ist für Husserl eine Geschichte der Um- und Irrwege, die erst die Vernunftteleologie zu einem Sinn zusammenknüpft und die zugleich jede Abweichung von diesem zu begründen weiß. Diese Deckung von Linearität und Teleologie, übertragen auf die Geschichte im Ganzen, lehnt Blumenberg ab, nicht die Teleologie selbst. Wenngleich Blumenberg sich von der husserlschen Geschichtsteleologie abgrenzt, so greift er doch an entscheidenden Stellen auf die Phänomenologie Husserls zurück. Im Folgenden wird zu zeigen sein, inwieweit Blumenbergs Darstellung der europäischen Geistesund Ideengeschichte von der husserlschen Phänomenologie beeinflusst ist. Im Folgenden werden deshalb die Motive der husserlschen Phänomenologie aufgegriffen, die sich produktiv in Blumenbergs Geschichtsauffassung integrieren lassen: Lebenswelt, Technisierung und die Wirklichkeitsbegriffe. Letztere ergeben sich aus der Analyse der Strukturen der Lebenswelt und lassen sich durch ein phänomenologisches Verfahren der Begriffsbildung gewinnen: durch Typisierung. Ein doppelter Boden unterliegt den Wirklichkeitsbegriffen insofern als sie historisch sind und darin eine bloß typologische Erfassung übersteigen. Im Zuge der Darstellung der historischen Wirklichkeitsbegriffe wird auch zu zeigen sein, inwieweit Blumenberg sich gegen Husserls Geschichtsteleologie wendet und über des-

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Blumenberg: Die ontologische Distanz, S. 9. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 74.

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Hans Blumenberg: Gelebte Geschichte

sen Phänomenologie hinausgeht. Dieser Schritt erfolgt über die Ästhetik und Poetik, die Blumenbergs hermeneutisches Geschichtsdenken flankieren. Blumenbergs Abwendung von Husserls Geschichtsteleologie, die auf die Realisierung eines Sinns zuläuft, führt zu einer Öffnung der Geschichte, die die Frage aufwirft, wie sich in Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur, Tradition und Geschichte Identität, d. h. ein mögliches Selbstverständnis ausbildet. Was sich im Kontext der Phänomenologie Husserls als Identität bezeichnen lässt, gründet auf einer Geschichtsteleologie und wurde von Husserl durch ein absolutes, transzendentalphänomenologisches Fundament abgesichert. Wie Blumenberg hervorhebt, ist mit der husserlschen Urstiftung der ratio des Kulturraums Europas nicht nur ein Entschluss gefasst worden, der »über die Möglichkeiten der europäischen Geschichte entschieden« hat, sondern der darüber hinaus »auch zu ihrer Wahrnehmung und Ausschöpfung verpflichtet«: Dieser Entschluss hat »die Logik dieser Geschichte begründet, ihre Identität geschaffen, die fortan die der bloßen rationalen Selbsterhaltung zu sein hatte«. 5 Blumenbergs Abwendung von der husserlschen Geschichtsteleologie zeigt sich bereits an dem Punkt, an dem Husserl die Geschichte Europas beginnen lässt: mit der Urstiftung der Vernunft als dem europäischen Ursprung des Geistes und der Philosophie. Philosophie jedoch, so Blumenbergs Auffassung, ist kein Produkt einer sich selbst setzenden Vernunft und die Form einer rein rationalen Selbsterhaltung, sondern zunächst das Resultat rhetorischer Auseinandersetzungen und Wechselwirkungen. Die Philosophie entspringt der Rhetorik und entbehrt gerade darin eines absoluten Ursprungs. Das folgende Kapitel besteht im Kern aus vier Teilen: erstens aus einer Darstellung der Rhetorik im Sinne Blumenbergs (Kap. 3.1.), auf die eine Darstellung von Blumenbergs Anschluss an den kantischen Symbolbegriff folgt (Kap. 3.2.), zweitens aus einer Darstellung der Hermeneutik (Kap. 3.3.), drittens der historischen Wirklichkeitsbegriffe (Kap. 3.4.) sowie viertens der Poetik Blumenbergs (Kap. 3.5.). Rhetorik, Poetik und Hermeneutik führen abschließend gemeinsam auf die Frage nach der Identität im Kontext der Hermeneutik Blumenbergs (Kap. 3.6.). In einem ersten Schritt wird damit Blumenbergs Rhetorikverständnis dargestellt, aus dem sich bereits ein wesentlicher Aspekt sei5

Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 75.

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Die Philosophie aus dem Geist der Rhetorik

nes Philosophieverständnisses ableiten lässt: Wenngleich nicht ausschließlich, so hat es die Philosophie doch zu einem Großteil mit der Reflexion auf Selbstverständlichkeiten zu tun. Blumenbergs Lebenswelttheorie wird in der folgenden Darstellung dadurch als ein integraler Bestandteil der Rhetorik aufgefasst. Die Darstellung des kantischen Symbolbegriffs, an den Blumenberg mit seinem Begriff der absoluten Metapher anschließt, bildet die Voraussetzung für die Entwicklung der Hermeneutik Blumenbergs. Aus den Begriffen und Funktionen dieser Hermeneutik, die es im Folgenden zu entwickeln gilt, speist sich Blumenbergs Darstellungsweise der Geistes- und Ideengeschichte. Die Poetik, von der im Anschluss zu sprechen sein wird, bildet das Komplement zur Rhetorik. Sie ergibt sich sukzessive aus der Lebenswelttheorie, der Hermeneutik und den historischen Wirklichkeitsbegriffen. Geht Blumenberg von einer Rhetorik aus und endet bei einer Poetik, so gestaltet sich dieses Verhältnis von Rhetorik und Poetik bei Ricœur anders, insofern die Poetik im Kern die Hermeneutik bestimmt, die am Ende in eine Rhetorik übergeht. Beiden Ansätzen gemeinsam ist jedoch, dass die Hermeneutik die Rhetorik sowie die Poetik gleichermaßen einbezieht und ins Gespräch mit der Philosophie bringt.

3.1. Die Philosophie aus dem Geist der Rhetorik Blumenbergs Integration der Rhetorik in seine Philosophie ist gleichbedeutend mit einer Aufwertung der Rhetorik gegenüber der sokratisch-platonischen Tradition, die die Philosophie und die Rhetorik gegeneinander ausspielt: Gilt dieser Traditionslinie die Philosophie als Liebe zur Weisheit, so die Rhetorik im Gegenzug als eine Technik, die der Überzeugung und bloßen Meinungsbildung dient. Die Rhetorik liegt fernab jedes Wahrheitsanspruchs. Die wesentliche Funktion der Rhetorik, so der Vorwurf, besteht darin, Wirkungen zu erzielen. Die Rhetorik ist nicht mehr als Sophistik und wird zum »Gegentypus« des sokratisch-platonischen Idealtypus eines Philosophen erklärt: Sophisten sind »Gefälligkeitsphilosophen«, sie passen ihre Lehren nach Belieben den Wünschen derer an, die dafür zahlen. 6 Für Blumenberg jedoch stellt die Rhetorik

6

Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 129.

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Hans Blumenberg: Gelebte Geschichte

nicht lediglich Regeln bereit, die der Meinungsbildung und Überzeugungsarbeit dienen. Da jede Rhetorik lehrt, ein Regelwerk anzuwenden, muss es ihr zugleich immer auch möglich sein, dieses Regelwerk zu reflektieren: Sie lehrt, von Meinungen zu überzeugen und kann zugleich darüber aufklären, welche Beweggründe die Menschen dazu veranlassen, sich ebendieser Meinung anzuschließen oder von dieser Abstand zu nehmen, sie kann faszinieren, provozieren oder zu Widerspruch herausfordern. Diese Ebene der Beweggründe und Motivationsrückhalte bleibt vorerst Gegenstand der Rhetorik und der Philosophie, aufgrund des selbst auferlegten Rhetorikverdikts, vorenthalten. Die ganze Widersprüchlichkeit der traditionellen Vorbehalte gegenüber der Rhetorik spiegeln sich für Blumenberg bereits im platonischen Höhlengleichnis wider: Der Philosoph begegnet der Wahrheit am Höhlenausgang als Solitär und müsste es streng genommen auch bleiben, denn ohne selbst Rhetorik anzuwenden, kann der Philosoph die in der Höhle Zurückgebliebenen kaum davon überzeugen, selbst den Weg zur Wahrheit anzutreten. 7 Noch diejenigen, die andere von der Wahrheit überzeugen möchten, müssen rhetorisch handeln, um überzeugen zu können oder sie bleiben mit ihrer Wahrheit alleine. 8 Für Blumenberg geht nicht nur die Philosophie, sondern darüber hinaus die gesamte europäische Geistes- und Ideengeschichte aus der Bewegung wechselseitiger Reaktionen aufeinander, aus Stellungnahmen und Rezeptionen hervor, aus Gegnerschaften 9 und Schuldbildungen, aus Verstehen und Missverstehen, kurzum: aus rhetorischen Handlungen – und diese erzeugen eine ganz eigene Dynamik. Die Rhetorik ist für Blumenberg ein wesentlicher Bestandteil der Philosophie. In dieser Synthese aus Philosophie und Rhetorik geht es ihm nicht darum, mittels Rhetorik »Wirkung zu erzielen«, sondern vielmehr darum, »solche Wirkung […] durchschaubar zu

Vgl. ebd., S. 88 f. Rhetorik mag nicht primär der Vermittlung von Wahrheit dienen und doch muss noch der, der Wahrheit behauptet, die Rhetorik bemühen, um überzeugen: »Noch das Verbot der Rhetorik ist ein rhetorischer Vorgang« (Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik [it.: 1971], in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Philipp Reclam: Stuttgart 1981, S. 104– 136, hier S. 132; vgl. auch ebd., S. 106, 121, 125 sowie Blumenberg: Höhenausgänge, S. 108, 657). 9 Vgl. Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 19. 7 8

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halten«. Die Rhetorik macht dann lediglich »Wirkungsmittel bewußt, […] indem sie expliziert, was ohnehin schon getan wird«. 10 Indem sie expliziert, was ohnehin schon getan wird, erweist sich die philosophische Reflexion rhetorischer Strategien und Mittel als ein Kerngeschäft der Philosophie. Diese Art der Reflexion auf die rhetorischen Handlungsvollzüge bezeichnet Blumenberg auch als »Abbau von Selbstverständlichkeiten«. 11 Diese Selbstverständlichkeiten bilden den der Philosophie und Rhetorik gemeinsamen Boden und lassen sich nicht ausschließlich durch Begriffe erfassen. Hierin liegt die Gegenbewegung Blumenbergs wider Philosophien, die ganz auf die Vernunft und die Arbeit am Begriff setzen: Diese Selbstverständlichkeiten manifestieren sich ihm zufolge maßgeblich in bildhaften Ausdrücken der Sprache, die die platonische Tradition als rhetorische Stilmittel abwertet. Infolge der Neubestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Rhetorik sieht sich die Philosophie nicht mehr nur auf den Begriff verwiesen, sondern zugleich mit den Bildern konfrontiert, die noch das begriffliche Denken tragen. Die von Platon geführte Polemik gegen die Sophisten und Rhetoriker diffamiert diese als Bildermacher: »Sie sind es, die Zauber ausüben durch Worte und durch Worte Bilder erzeugen«, 12 um durch »Wortzauberei Bilder durch die Ohren [zu] infiltrieren«. 13 Der Ideologieverdacht des Philosophen verurteilt die Bilder vorschnell als Erzeugnis eines »Verblendungszusammenhang[s]«. 14 Im Kontext des platonischen Höhlengleichnisses werden die Rhetoriker zu »Machinatoren der Schatten im Hintergrund der Höhle«, 15 denen der Philosoph entgegentritt, um die »Korruption durch das Bildhafte« 16 ab-

Blumenberg: Anthropologische Annäherung, S. 112. Ebd., S. 114. An der zitierten Stelle bezieht sich Blumenberg explizit auf die Anthropologie, bestimmt darüber hinaus die Phänomenologie »als Überführung von Selbstverständlichkeiten in Verständlichkeiten« (Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, S. 304; vgl. auch Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 39, 41 sowie Hans Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie [1963], in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Philipp Reclam: Stuttgart 1981, S. 7–55, hier S. 47 f.). 12 Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 113. 13 Ebd., S. 278. 14 Ebd., S. 117. 15 Ebd., S. 186; vgl. auch ebd., S. 278. 16 Ebd., S. 121. 10 11

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zuwehren. Sein Instrument ist der Logos als das Vermögen, die Dinge begrifflich zu fassen, so die Darstellung Blumenbergs. Blumenberg möchte diese Gegnerschaft zwischen Philosophie und Rhetorik nicht erneuern, im Gegenteil: »Die Verächtlichkeit der Philosophie gegen die Rhetorik wird überführt in die Aufmerksamkeit auf das, was die Rhetorik ihr abgenommen hatte, sogar auf das, was an ihr selbst längst rhetorisch gewesen war.« 17 In einem ersten Schritt fällt der Blick damit auf eine der Philosophie selbst innewohnende Selbstverständlichkeit: auf die Rhetorik, die laut Blumenberg seit jeher Teil der Philosophie gewesen ist. Zunächst ist das anthropologische Fundament zu skizzieren, auf dem Blumenbergs Rhetorikauffassung gründet (Kap. 3.1.1.) – »jede Rhetorik [hat] ihre anthropologischen Prämissen« – sowie das dieser Rhetorik implizite Prinzip zu definieren: das Prinzip des unzureichenden Grundes. 18 In einem zweiten Schritt wird der Rhetorik eine Lebenswelttheorie integriert (3.1.2.), wie Blumenberg diese in Anlehnung an Husserl sowie zugleich in Abgrenzung zu ihm entwirft. Diese Lebenswelttheorie führt nachfolgend über ihren Bezug zur Metapher (Kap. 3.1.3.) sukzessive auf die Hermeneutik Blumenbergs.

Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, S. 191. Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 329. Die folgende Darstellung der anthropologischen Prämissen dient nicht dazu, mit Blumenberg eine Anthropologie zu begründen. Blumenberg bezieht Rhetorik und Anthropologie in seiner Darstellung zwar aufeinander: Seines Erachtens gehen sowohl die Aktualisierung der Rhetorik als auch die der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert darauf zurück, dass der Mensch aus dem geschlossenen Rahmen der idealistischen Systeme und der Metaphysik herausgefallen ist und nunmehr – sowohl rhetorisch als auch anthropologisch – als ein Wesen beschrieben werden, dem es wesentlich mangelt. Zu betonen ist jedoch, dass die Rhetorik nicht in der Anthropologie aufgeht. Vielmehr ist die Anthropologie ein Resultat des aus der Idealität herausgefallenen Menschen und dieses Resultat ist rhetorisch zu begründen. Blumenberg selbst macht deutlich, dass die Anthropologie nicht das Fundament der Rhetorik bildet, sondern dass die Anthropologie sowohl in der Rhetorik angelegt ist, als auch schlussendlich in dieser aufgeht (vgl. Blumenberg: Anthropologische Annäherung, S. 107; für eine Deutung dieses Verhältnisses von Anthropologie und Rhetorik, das der Anthropologie das Primat zuweist, vgl. Josef Kopperschmidt: Was weiß die Rhetorik vom Menschen? Thematisch einleitende Bemerkungen, in: ders. (Hrsg.): Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus. Wilhelm Fink: München 2000, S. 7–37 sowie Müller: Sorge um die Vernunft, S. 261–302).

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3.1.1. Anthropologische Implikationen und das Prinzip des unzureichenden Grundes Ausgangspunkt von Blumenbergs Annäherung von Anthropologie und Rhetorik ist die von ihm behauptete Analogie zwischen diesen beiden Bereichen: Ebenso wie der Mensch aus Perspektive der philosophischen Anthropologie als ein Wesen aufgefasst wird, das »aus den Ordnungsleistungen der Natur« 19 herausgefallen ist, ist der Mensch geistes- und ideengeschichtlich aus dem Kosmos der Wahrheit herausgefallen, d. h. auf Ebene der Natur ist der Mensch ebenso wenig in eine Umwelt eingepasst wie auf Ebene der Kultur in eine Welt, die einen unmittelbaren Zugriff auf Wahrheit verspricht. 20 Dieser Mangel an Wahrheit provoziert die Rhetorik, die der Kompensation dieses Mangels dient. 21 Rhetorik ist damit erstens kein Luxusprodukt des Kulturwesens Mensch, sondern entspringt der Verlegenheit einer nicht unmittelbar zugänglichen Wahrheit. Zweitens versieht Blumenberg die Rhetorik mit einem historischen Index, insofern sie erst zu dem Zeitpunkt zentral das menschliche Selbstverständnis bestimmen konnte, als sich das mittelalterliche Wirklichkeitsverständnis, in dem sich der Mensch noch ganz in einen Kontext höherer Wahrheit eingebettet wusste, allmählich auflöste. 22 Erst als der Mensch aus diesem Kontext einer gottgegebenen, höheren Wahrheit herausfällt, tritt die Rhetorik nicht mehr als eine überflüssige Technik in Erscheinung, sondern als »Funktion einer spezifischen Verlegenheit des Menschen zutage«. Auf sich selbst zurückgeworfen muss der Mensch jene »Ordnungsleistungen« aus eigener Kraft erbringen, die weder die Natur noch ein metaphysischer Ordo zu erbringen vermag – Ordnungsleistungen, die er nunmehr rhetorisch erbringt. 23 »Rhetorik hat es zu tun mit den Folgen aus dem Besitz von Wahrheit oder mit den Verlegenheiten, die sich aus der Unmöglichkeit ergeben, Wahrheit zu erreichen.« 24 Blumenberg: Anthropologische Annäherung, S. 108. Vgl. ebd., S. 107 f. 21 Vgl. ebd., S. 105. 22 Vgl. ebd., S. 107. Dieser Aspekt spielt bereits auf Blumenbergs Bestimmung des mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriffs an, der weiter unten darzustellen ist (vgl. Kap. 3.4.2.). 23 Blumenberg: Anthropologische Annäherung, S. 108. 24 Ebd., S. 104. 19 20

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Den Mangel an Wahrheit, der den Menschen zu rhetorischem Verhalten zwingt, bringt Blumenberg auf den Begriff der Normentbehrung bzw. den des Evidenzmangels – und Normentbehrung bzw. Evidenzmangel ziehen Handlungszwang nach sich. 25 Weder findet der Mensch die Wahrheit in sich, noch halten die Natur oder eine metaphysische Ordnung diese für den Menschen bereit: Evidenzmangel und Handlungszwang sind deshalb, so Blumenberg, die »Voraussetzungen der rhetorischen Situation«. 26 Herausgefallen aus dem Ordnungsleistungen von Natur und Wahrheit, sieht sich der Mensch gezwungen zu handeln: »Handeln ist die Kompensation der ›Unbestimmtheit‹ des Wesens Mensch, und Rhetorik ist die angestrengte Herstellung derjenigen Übereinstimmungen, die anstelle des ›substantiellen‹ Fundus an Regulationen treten müssen, damit Handeln möglich wird.« 27 Diese Übereinstimmungen gehen aus dem intersubjektiven Geschehen rhetorischer Handlungsvollzüge und Wechselwirkungen der Individuen untereinander hervor: Es bilden sich Institutionen aus, die im Kontext der Rhetorik Blumenbergs auf das princiupium rationis insufficientis, den »Hauptsatz aller Rhetorik«, führen. 28 Dieses Prinzip des unzureichenden Grundes unterläuft eine prinzipiengeleitete Philosophie, die das, was sich als Wirklichkeit zeigt, aus einem Prinzip ableitet: dem Prinzip des Satzes vom zureichenden Grunde. 29 Das Prinzip des Satzes des unzureichenden Grundes gilt Blumenberg auf Ebene der Kultur als das Korrelat einer Anthropologie, die das Mängelwesen Mensch zu ihrem Ausgangspunkt erklärt. Um dieses Prinzip zu profilieren, rekurriert Blumenberg auf Leibniz, der das Prinzip des zureichenden Grundes erstmals als ein wesentliches Prinzip der Philosophie ausgewiesen hat. 30 Leibniz zu-

Vgl. ebd., S. 113, 117. Ebd., S. 117. 27 Ebd., S. 108. 28 Ebd., S. 124. 29 Blumenberg entlehnt das Prinzip des unzureichenden Grundes Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (vgl. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman [1930, 1932, 1943]. Rowohlt: Hamburg 1952, S. 136–138 sowie hierzu: Jörg Villwock: Mythos und Rhetorik. Zum inneren Zusammenhang zwischen Mythologie und Metaphorologie in der Philosophie Hans Blumenbergs, in: Philosophische Rundschau 32 (1985) 1/2, S. 68–91, hier S. 79). 30 Vgl. Hans-Jürgen Engfer: Principium rationis sufficientis [Art.], in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7: P–Q, hrsg. von Joachim Ritter † und Karlfried 25 26

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folge erfasst der Mensch ewige Wahrheiten und deren Abglanz mittels Reflexion in Form von Abstraktionen. 31 Die reflexiven Akte lassen zwei Prinzipien erkennen, die der Erkenntnis ewiger Wahrheiten zugrunde liegen: das Prinzip des Widerspruchs, dank dessen wir Widersprüchliches, Falsches und Wahres als solches erkennen, und das Prinzip des zureichenden Grundes, mittels dessen wir alles, was wir als wahr und existent anerkennen, auf einen zureichenden Grund zurückführen, auch wenn uns die Gründe im Einzelnen nicht bekannt sein mögen. 32 Leibniz leitet alles, was als Ding existiert, als Ereignis eintritt oder als Wahrheit gegeben ist, aus einem gemeinsamen Prinzip ab. 33 Logische, ontologische, kausale und teleologische Begründungen gelten ihm lediglich als verschiedene Realisierungen des einen zugrundeliegenden Prinzips: Der »letzte Grund der Dinge« liegt Leibniz zufolge »in einer notwendigen Substanz«, in der alles Einzelne zureichend begründet und miteinander verbunden ist: »es gibt nur einen Gott, und dieser Gott reicht zu«. 34 Der Mensch der nachmetaphysischen Moderne kann Blumenberg zufolge jedoch nicht mehr auf das Prinzip des zureichenden Grundes zurückgreifen und muss einer prinzipiengeleiteten Philosophie deshalb entsagen. Dem Satz des zureichenden Grundes als Kernstück einer prinzipiengeleiteten Vernunftmetaphysik setzt Blumenberg das Prinzip des unzureichenden Grundes als Hauptsatz seiner Rhetorik entgegen. Das Prinzip des unzureichenden Grundes unterläuft auf der einen Seite die Annahme, menschliche Handlungen gingen aus einem gemeinsamen, zugrundeliegenden Prinzip hervor und seien aus diesem zu verstehen. Auf der anderen Seite widersetzt es sich den Bestrebungen, Handlungen institutionell sowie auf Grundlage theoretischer Einsichten unter dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu normieren: »Im Geltungsbereich des Prinzips vom unzureichenden Grunde

Gründer in Verbindung mit Günther Bien, Ulrich Dierse, Gottfried Gabriel et al. Schwabe & Co.: Basel 1989, Sp. 1325–1336, hier Sp. 1325. 31 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, in: ders.: Monadologie und andere metaphysische Schriften. Französisch–Deutsch (Philosophische Bibliothek, Bd. 537), übers. von Ulrich Johannes Schneider. Felix Meiner: Hamburg 2002, S. 110/111–150/ 151, hier S. 123. 32 Vgl. Leibniz: Monadologie, S. 122/123–124/125. 33 Vgl. Engfer: Principium rationis sufficientis [Art.], Sp. 1326. 34 Leibniz: Monadologie, S. 127; »il n’y a qu’un Dieu et ce Dieu suffit« (ebd., S. 126).

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gibt es rationale Entscheidungsregeln, die nicht wissenschaftsförmig sind.« 35 Herausgefallen aus dem Ordo einer Vernunftmetaphysik entbehrt der Mensch von außen gegebenen, auferlegten Ordnungsstrukturen, die er nunmehr aus eigener Kraft erbringen muss. An die Stelle von Wahrheit und Evidenz treten vom Menschen selbst geschaffene Institutionen: »Rhetorik schafft Institutionen, wo Evidenzen fehlen«. 36 Handlungen folgen für Blumenberg zunächst weder Prinzipien, noch einer teleologischen Orientierung, die unmittelbar aus Erkenntnis und Einsicht entspringt. In Abgrenzung zu Husserls Begriff der Intentionalität macht Blumenberg deutlich, dass die Philosophie, die von einer Rhetorik ausgeht und damit Handlungen das Primat zuspricht, keine Unmittelbarkeit zwischen der teleologischen Struktur der Erkenntnis und den Handlungen annehmen kann. Dieses Argument Blumenbergs führt erneut auf den Vorwurf des Dezisionismus, den er an Husserl richtet: Die erkenntnisleitende teleologische Struktur normiert und überformt den menschlichen Willen und damit das menschliche Verhalten. 37 Ausgehend vom Prinzip des unzureichenden Grundes lässt sich hingegen keine unmittelbare »Verklammerung von Bewußtsein und Verhalten« nachweisen. 38 Jede Zweckorientierung menschlichen Verhaltens wird Blumenberg zufolge mittelbar geleitet, sofern sich der Mensch auf Ebene der Kultur orientierungsstiftende »Gehäuse« schafft, in denen er sich einrichtet – und der »Gattungsbegriff aller Gehäuse […], heißt Institutionen«. »Institutionen sind primär Reduktionen der Verarbeitungsbedürftigkeit der Realität«. Das menschliche Verhalten ist institutionalisiertes Verhalten. Institutionen führen zur Entlastung, insofern sie es ermöglichen, Gewohnheiten auszubilden: »Auswahl und Deutung der Reize und Herausforderungen brauchen nicht jedesmal von neuem vollzogen zu werden.« Was Blumenberg hier Realität nennt, ist »in Gewohnheiten[] kodifiziert«. 39 Es sind diese Gewohnheiten, die menschliches Verhalten leiten und nicht eine dem Bewusstsein immanente teleologische Struktur, die dieses unmittelbar bestimmt. Dass diese Gewohnheiten und Handlungen re-

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Blumenberg: Anthropologische Annäherung, S. 126. Ebd., S. 110. Vgl. Kap. 2.3. Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 442. Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 812.

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flektiert werden können, ändert für Blumenberg nichts daran, dass jede Zwecksetzung sich zunächst an Institutionen bricht, die Handlungsvollzüge durchaus behindern und auf andere Bahnen lenken können. Institutionen lassen Gewohnheiten entstehen, die Selbstverständlichkeiten ausbilden. Sie etablieren Strukturen, die dem Menschen zur Orientierung in der Wirklichkeit dienen. In Blumenbergs Auffassung der Rhetorik überlagern sich bei genauerem Hinsehen zwei Funktionen der Institutionen: eine, die die aktive Herstellung von Institutionen intendiert, sowie eine, die Institutionen als Selbstverständlichkeiten begreift; letztere liegen, ungeachtet der bewussten oder aktiven Herstellung, allem Handeln immer schon zugrunde. Beide Bedeutungen überlagern sich, werden von Blumenberg jedoch terminologisch auseinandergehalten: Mit Blick auf ihre Funktion, Handlungen zu ermöglichen, spricht Blumenberg von Institutionen als Selbstverständlichkeiten, mit Blick auf ihre Funktion, sich zu verständigen und möglichst Einverständnis zu erzielen von consensus. Dass Rhetorik Institutionen schafft, zeugt durchaus von einem Moment aktiver und produktiver Herstellung: Die Rhetorik als Technik dient durchaus der Überredung zur Herstellung von Übereinstimmung und damit der Meinungsbildung. So dient z. B. Sprache »primär der Herstellung der Verständigung, Zustimmung oder Duldung, auf die der Handelnde angewiesen ist«. 40 Dieses Moment der aktiven Herstellung eines consensus mittels Rhetorik tritt bei Blumenberg jedoch in den Hintergrund; sein Augenmerk gilt maßgeblich den Institutionen, die er als Selbstverständlichkeiten begreift. Ist ein consensus erreicht worden, dann entzieht sich dieser Blumenberg zufolge nach einiger Zeit dem bewussten und reflektierten Umgang mit dem, was er institutionalisiert. Die errungene Übereinstimmung wird zur Selbstverständlichkeit und Gewohnheit innerhalb einer kulturellen Gemeinschaft, sie wird institutionalisiert: »Rhetorik ist, auch unterhalb der Schwelle des gesprochenen oder geschriebenen Wortes, Form als Mittel, Regelhaftigkeit als Organ«. 41 Rhetorisches Verhalten produziert Selbstverständlichkeiten und lässt Gewohnheiten entstehen, die den Menschen im gemeinsamen Miteinander von besagter Anstrengung und vorsätzlichen Herstellung entlasten. Rhetorik ist »Institutionalisierung seines Verhal40 41

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tens«. 42 In Form von Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten bedingen Institutionen darüber hinaus menschliches Handeln: Wären die Bedingungen der Handlungsmöglichkeiten ein jedes Mal auszuhandeln, bevor zu handeln möglich wäre, wäre Handeln schlichtweg nicht möglich. Es muss ein gemeinsamer Boden vorausgesetzt werden, der allen Handlungen zugrunde liegt und von dem die Handlungen ausgehen. Diesen gemeinsamen Boden weist Blumenberg als Lebenswelt aus, von der sogleich zu sprechen sein wird. Zunächst gilt es, den Zusammenhang von Rhetorik und Institutionalisierung zu präzisieren, der Blumenbergs Verständnis der Dynamik von Kultur und Geschichte maßgeblich prägt. Institutionen bilden Traditionen aus, die sich über Generationen hinweg, oftmals unhinterfragt, vererben. 43 Diese Möglichkeit verdankt eine Kultur den Selbstverständlichkeiten, die die alltägliche Lebenswelt eines kulturellen Traditionszusammenhangs maßgeblich bestimmen. Diese selbstverständliche Vertrautheit mit den Institutionen bietet Verlässlichkeit und so die Möglichkeit, sich innerhalb der eigenen Kultur zu bewegen, ohne das eigene Verhalten permanent reflektieren zu müssen. Rhetorik ist für Blumenberg durchaus die »angestrengte Herstellung« eines consensus. Dadurch und darüber hinaus bietet sie jedoch die Möglichkeit, das institutionalisierte Verhalten, das sich in Form von Selbstverständlichkeiten in einer kulturellen Gemeinschaft niedergeschlagen und verfestigt hat, zu reflektieren. Rhetorik ist imstande, die Wirkungen, die sie erzielt, »durchschaubar zu halten«. 44 Die Philosophie kann sich dies zunutze machen und explizieren: Sie macht bewusst, was sich von selbst versteht. Nur unter Anerkennung und Integration der Rhetorik kann die Philosophie deshalb ihrem Kerngeschäft nachkommen, das Blumenberg zufolge u. a. im Abbau von Selbstverständlichkeiten besteht. Indem Rhetorik nur expliziert, was immer schon getan wird, sucht sie über die Selbstverständlichkeiten, die unsere Lebenswelt ausmachen, die Wirklichkeit zu einem Verständnis zu bringen. VerEbd., S. 123. Müller bringt diesen Aspekt auf die Formel: »Rhetorik ist Intersubjektivität« (Müller: Sorge um die Vernunft, S. 261). 43 »Institutionen beruhen gerade darauf, daß die Lebenszeit nicht das Maß aller Dinge ist, vielmehr Verfügungen über deren Grenzen hinaus getroffen, Traditionen über sie hinweg gesetzt und angenommen werden müssen.« (Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 83) 44 Blumenberg: Anthropologische Annäherung, S. 112. 42

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weisen die Selbstverständlichkeiten auf der einen Seite auf die den Menschen jederzeit umgebende und in ihrer Selbstverständlichkeit kaum wahrnehmbare Lebenswelt, so verweist der Begriff des consensus auf den Begriff der Wirklichkeit auf der anderen Seite. Der consensus dient »als Basis für den Begriff von dem, was ›wirklich‹ ist« – und das was wirklich ist, ist das, wovon alle überzeugt sind. 45 Das, wovon alle überzeugt sind, ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem, was sich von selbst versteht: Als lebensweltlicher Rückhalt bestimmen Selbstverständlichkeiten das jeweilige Wirklichkeitsverständnis maßgeblich. Doch die Lebenswelt als eine Welt, in der sich alles von selbst versteht, kennt streng genommen noch keine Wirklichkeit bzw. sind Lebenswelt und Wirklichkeit an diesem Punkt noch deckungsgleich. Die Wirklichkeit zeigt sich erst, wenn die Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt abgebaut werden und die Lebenswelt in ihrer Selbstverständlichkeit verlassen wird. Erst die Negation und Irritation dessen, was selbstverständlich scheint, verweist auf das, was wirklich ist. Der Abbau dessen, was sich von selbst versteht, führt zu Evidenzmangel und provoziert Handlungszwang: Die Wirklichkeit ist das, was der Mensch handelnd hervorbringt, wenngleich dieser Prozess sich nicht zwangsläufig auch stets bewusst vollzieht, im Gegenteil. Die Wirklichkeit mag aus menschlichen Handlungen hervorgehen, doch was Blumenberg als Wirklichkeitsbegriff fasst, lässt sich nicht unmittelbar aus diesen Handlungen ableiten, andernfalls unterstellten wir besagte unmittelbare »Verklammerung von Bewußtsein und Verhalten«. 46 Die Wirklichkeit wäre dann das Produkt intentionalen Sinnvollzugs. Blumenberg zufolge muss, was als Wirklichkeit auf den Begriff zu bringen ist, mittelbar aus der Analyse der Strukturen der Lebenswelt erschlossen werden. In dieser liegen die Rückhalte begründet, die menschliches Handeln motivieren. Bevor Blumenbergs Hermeneutik und Geschichtsauffassung sowie die historischen Wirklichkeitsbegriffe näher ins Auge zu fassen sind, ist zunächst Blumenbergs Lebensweltbegriff zu klären, den er in Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls gewinnt.

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Ebd., S. 108. Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 442.

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3.1.2. Die Lebenswelt als ein Reich der Selbstverständlichkeiten Im Kern, so Blumenberg, ist die Lebenswelt ein »Universum der Selbstverständlichkeit«. 47 Sie ist »der zu jeder Zeit unerschöpfliche Vorrat des fraglos Vorhandenen, Vertrauten und gerade in diesem Vertrautsein Unbekannten« 48 und »weder chronologisch noch soziologisch« 49 zu verorten. Ihr »einziges definitorisches Merkmal ist ihre Selbstverständlichkeit – und das heißt auch immer: ihre logische Unbedürftigkeit«. 50 Die Lebenswelt als Reich der Selbstverständlichkeit gewährt, in all ihrer Selbstverständlichkeit, keine Möglichkeit zur Reflexion: Was in der Lebenswelt erlebt wird, verweigert »jede Auskunft darüber […], wie es sich in ihr lebt«. Jede Reflexion auf die Lebenswelt bezeugt, dass sie bereits verlassen worden sein muss: »Wer in ihr lebte, wüßte von ihr nichts; wer von ihr weiß, kann in ihr nicht mehr und nicht einmal wieder leben.« 51 Diese Antinomie hindert Blumenberg jedoch nicht daran, die Lebenswelt als eine Hypothese anzuerkennen, die einen heuristischen Mehrwert mit sich bringt, auf den es im Folgenden ankommt. Über die Lebenswelt fingiert Blumenberg ein hypothetisches Ursprungsszenario: Sie gilt ihm in ihrer Selbstverständlichkeit als eine Ebene der Prämodalität und der Prähistorizität; erst mit dem Austritt aus der Lebenswelt kann – und hierin liegt für Blumenberg der heuristische Mehrwert des Lebensweltbegriffs – die Dynamik verständlich gemacht werden, aus der heraus der Mensch erstens Bewältigungsstrategien entwirft, um die Unmittelbarkeit und Selbstverständlichkeit der verlorengegangenen Lebenswelt zu kompensieren, und aus der heraus zweitens Geschichte entsteht. 52 Die Lebenswelt, so gesteht Blumenberg durchaus zu, dient deshalb »nicht dem Verständnis der Lebenswelt« selbst. 53 Der Austritt aus der Lebenswelt als ein Reich der Selbstverständlichkeit ist für Blumenberg gleichbedeutend mit einem Eintritt Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung, S. 27. Ebd., S. 23. 49 Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 350. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 59 f. 52 Goldstein spricht davon, dass Blumenberg an diesem Punkt, »eine spekulative Geschichte des Subjekts, seiner Wirklichkeit und seiner nachlebensweltlichen Selbsterhaltungsmittel« (Goldstein: Deutung und Entwurf, S. 211) entwirft. 53 Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 22. 47 48

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in die Geschichte und in die theoretische Einstellung, d. h. es wird ein Prozess der Modalisierung in Gang gesetzt. Beiden Perspektiven liegt das Merkmal der Selbstverständlichkeit zugrunde: In ihrer Selbstverständlichkeit lässt die Lebenswelt weder eine theoretische Einstellung, noch ein geschichtliches Bewusstsein zu, sie ist prämodal und prähistorisch. 54 Die logische Unbedürftigkeit innerhalb der Lebenswelt stellt Blumenberg unter den Begriff der Prämodalität. 55 Die Lebenswelt ist »prälogisch« und »vorprädikativ«, »nicht weil in ihr gegen die Logik verstoßen würde oder sie eine andere Logik hätte, sondern weil sie keine Differenzierung der Gegenstandsbeziehung kennt«. 56 Sie lässt keine logischen Bestimmungen und Differenzierungen zu. Dies hat zur Folge, dass noch keine Möglichkeit zur Negation dessen, was als wirklich empfunden wird, gegeben ist: »Alles, was in der Lebenswelt wirklich ist, spielt in das Leben hinein, wird genutzt und verbraucht, gesucht und geflohen, aber es bleibt in seiner Kontingenz verdeckt, d. h. nicht als auch-anders-sein-könnend empfunden.« 57 Was innerhalb der Lebenswelt wahrgenommen wird, ist, wie es ist: Es wird als nicht-anders-sein-könnend empfunden und ist darin selbstverständlich. Ebenso wie innerhalb der Lebenswelt keine »Differenzierung der Gegenstandsbeziehung« möglich ist, sind in ihr individuelle Erlebnisse noch nicht von dem Erfahrungshorizont der intersubjektiven Gemeinschaft geschieden. Sie bilden zusammengenommen »einen Kontext von eigenem Subjekt und anderen Subjekten sowie ihren gemeinsamen Erfahrungshorizonten«. 58 Die Lebenswelt ist ein »Erlebnisintegral«: 59 »Erwartung und Erfahrung, Lebenszeit und Weltzeit, Generation und Individuation« sind deckungsgleich und nicht voneinander zu unterscheiden. 60 Es gibt noch keine enttäuschten Erwartungen, keine Hoffnungen, keine Konflikte, keine Perspektivität, »Blumenberg kennt nur genau ein Merkmal, das die Lebenswelt auszeichnet: Selbstverständlichkeit.« (Manfred Sommer: Lebenswelt [Art.], in: Robert Buch und Daniel Weidner: Blumenberg lesen. Ein Glossar. Suhrkamp: Berlin 2014, S. 160–170, hier S. 165) 55 Vgl. Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 23, 105. 56 Ebd., S. 120. 57 Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung, S. 23. 58 Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 118. 59 Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 23. 60 Ebd., S. 65. 54

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keine Differenz zwischen Individuum und Gemeinschaft. Der Erfahrungs- und Erwartungshorizont ist ein allen Individuen gemeinsamer und vollkommen homogen und verweist darin auf einen idealen Kern. Die Lebenswelt hält damit stets, »was sie verspricht«, Erwartung und Erfahrung koinzidieren. 61 Noch nicht aus der Lebenswelt ausgetreten, ist der Mensch ganz seinen Erlebnissen hingegeben, noch kennt er keine Enttäuschungen, keine Erwartungen: Die Lebenswelt ist ein reiner Erlebnispark. 62 Das Erleben ist reine Gegenwart und Präsenz. Aufgrund der noch nicht vorhandenen Möglichkeit zur Differenzierung und Negation und der daraus resultierenden Unmittelbarkeit herrscht in der Lebenswelt ein »Zustand hochgradiger Stabilität«, der zugleich jedoch ein Zustand der »Unerfahrbarkeit geschichtlicher Kontingenz« ist. 63 Die Unmöglichkeit der Erfahrbarkeit von Kontingenz ist der Lebenswelt in ihrer Funktion als einer prämodalen sowie als einer prähistorischen Sphäre gemeinsam: Es ist, wie es ist, nichts scheint zufällig. Der von Blumenberg fingierte Urzustand der Lebenswelt ist ein Zustand, in dem noch kein Stück Wirklichkeit in die Lebenswelt eingebrochen ist, in der, was ist, sich von selbst versteht. Lebenswelt und Wirklichkeit sind deckungsgleich. Wird die Lebenswelt und damit der Zustand ihrer Stabilität jedoch verlassen, zeichnet sich eine Wirklichkeit ab, die sich dann gerade nicht mehr von selbst versteht. Die Wirklichkeit selbst ist fragil, deren Stabilität muss der Mensch nunmehr handelnd und d. h. aus eigener Kraft herstellen. Mit dem Austritt aus der Lebenswelt bricht zum einen die Koinzidenz von Erwartung und Erfahrung auf, zum anderen kommt es zu einem Abbau der Selbstverständlichkeit. Der Austritt aus der Lebenswelt ist zugleich der Eintritt in die Wirklichkeit und der Eintritt in die Wirklichkeit der Übergang in einen Zustand der Modalität und Geschichte: von der Fraglosigkeit der Lebenswelt in die Fragwürdigkeit der Wirklichkeit. Der Abbau der Selbstverständlichkeit fordert zugleich die Aufarbeitung dessen, was sich nun nicht mehr von selbst versteht: »Verlassen der Lebenswelt heißt, in die Kontingenz der Welt einzutreten und ihre Unselbstverständlichkeit als Antrieb zu ihrer Ebd., S. 49. Vgl. Sommer: Lebenswelt [Art.], S. 160. Zur Beschreibung der Lebenswelt als Erlebnispark vgl. Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 48–50. 63 Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 124. 61 62

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theoretischen Aufarbeitung weniger auferlegt als verhängt zu bekommen.« 64 Geschichte entsteht infolge des Austritts aus dem Reich der Selbstverständlichkeit: »Geschichte ist die Trennung von Erwartung und Erfahrung.« 65 Diese Trennung setzt die Dynamik von Kultur und Geschichte in Gang und gründet Blumenberg zufolge in einem Prozess, den Husserl in der Krisis-Schrift unter dem Stichwort der Technisierung für die Verdeckung der Lebenswelt verantwortlich macht. Die Selbstverständlichkeiten, mit denen es die Philosophie zu tun hat, werden durch Technisierung herbeigeführt. Für Husserl ist Technisierung ein Prozess der »Sinnentleerung der mathematischen Naturwissenschaft«. 66 Von der konkreten Anschaulichkeit von Erfahrungsgegebenheiten und der Natur, von der die antike Geometrie noch ausgegangen war, wurde im Laufe der Weiterentwicklung der mathematischen Naturwissenschaften zunehmend abgesehen, um zur Idealisierung ihrer Gegenstände fortzuschreiten; es folgte laut Husserl die Arithmetisierung, im Anschluss daran die Algebraisierung der Geometrie und schlussendlich eine »völlig universale[] ›Formalisierung‹«. Diese Formalisierung überführt den Bereich der Geometrie in »eine eigenartige Totalität […], mit der […] die formal-logische Idee einer ›Welt überhaupt‹ konstruiert wird«. 67 Es kommt in der Folge zu jenen »gefährliche[n] Sinnverschiebungen«, die eine »Rückkehr in den eigentlichen wissenschaftlichen Sinn« verhindern. 68 Mit einem Mal wird »mit einem unvermerkt verschobenen, ›symbolischen‹ Sinn« operiert, so Husserl, der nachfolgend als »eine vollbewußte methodische Verschiebung« anerkannt und in den Status einer bewusst geregelten Methode erhoben wird. 69 Die Hypostasierung dieser Methode führt zur Krisis der europäischen Wissenschaften – »daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist« 70 liegt in der Technisierung begründet: »Zum Wesen aller Methode gehört die Tendenz, sich in eins mit der Technisierung zu veräußerlichen. So unterliegt also die Naturwissenschaft einer mehr-

64 65 66 67 68 69 70

Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 350 f. Ebd., S. 66. Husserl: Krisis, S. 45; vgl. hierzu Kap. 2.2.3. Husserl: Krisis, S. 44 f.; vgl. Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung, S. 31. Husserl: Krisis, S. 46. Ebd., S. 44. Ebd., S. 52.

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fältigen Sinnverwandlung und Sinnüberdeckung.« 71 In letzter Konsequenz, so Husserl, konstruieren Technisierung und Formalisierung ein symbolisches Ideenkleid, das die Lebenswelt verdeckt, aus der die wissenschaftliche Methode doch allererst ihren Sinn empfangen kann. Vor dem Hintergrund des Anspruchs einer kritischen Ideengeschichte, wie Husserl sein historisches Programm einer vernunftgeleiteten Geschichtsteleologie auch nennt, kann die transzendentale Phänomenologie Husserls als Gegenprogramm zum Prozess der Technisierung, d. h. der Sinnentleerung der naturwissenschaftlichen Methode gelesen werden. Unter dem Titel der »Rückbesinnung« 72 und »Selbstbesinnung des Philosophen« 73 geht es Husserl um die Rückfrage auf die lebensweltlichen Sinnstiftungen, die auch der wissenschaftlichen Methode allererst ihren Sinn und Zweck zuweist. Angetreten, um die Krisis der europäischen Wissenschaften zu kurieren und die Lebensbedeutsamkeit zu restituieren, bezieht die transzendentale Phänomenologie ihre Legitimation aus der Stigmatisierung und Pathologisierung der konstruktiven Modellbildung der Naturwissenschaften. Im Gegenzug zu Husserl nimmt Blumenberg dem Prozess der Technisierung dieses Stigma. Technisierung ist für Blumenberg kein Spezifikum naturwissenschaftlicher Forschung, sondern ein regulärer Prozess menschlichen Bewusstseins. Wenn dieser Prozess auch für Blumenberg durchaus zu einer »Einbuße an Selbstverständnis und Selbstverantwortung« führen kann, so gilt es gerade deshalb, einen Umgang mit diesem zu finden und ihn nicht abzuweisen. 74 Blumenbergs Übernahme des Begriffs der Technisierung stützt sich auf Husserls Methodenbegriff: Jede wissenschaftliche Methode kann von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, ohne den Ballast der Leistungen mit sich zu führen, aus denen diese ursprünglich hervorgegangen waren. Blumenberg pointiert, dass, »[s]obald das Wissen die Kapazität eines Menschenlebens, es genuin zu erwerben, übersteigt, […] Voraussetzungen des Erkenntniserwerbs als fertiges Instrumentarium überliefert« werden. 75

71 72 73 74 75

Ebd., S. 48. Ebd., S. 50. Ebd., S. 364. Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung, S. 40. Ebd., S. 31.

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Methodisch regulierte Wissensvermittlung »verlangt […], daß das geschichtlich je schon Geleistete zur Voraussetzung des noch zu Leistenden gemacht werden kann«, ohne dass dasjenige, was einst geleistet worden war, auch eingesehen werden muss. 76 Das Verfahren der Methodisierung ermöglicht, die ursprünglich investierten Leistungen, die zum Erkenntniserwerb beigetragen haben, abzustreifen. 77 Die »Voraussetzungen des Erkenntniserwerbs« werden »als fertiges Instrumentarium überliefert«, in das die ursprünglichen Sinnstiftungen und Leistungen eingegangen sind. Die Anwendung einer Methode verlangt nicht, diese ursprünglichen Leistungen eigens zu explizieren, um die Methoden, Formeln und Sätze einer Wissenschaft auch anwenden zu können. 78 Entscheidend ist für Blumenberg, dass Husserl selbst deutlich macht, dass der von ihm vorgestellte Methodenbegriff die Tradierbarkeit von Wissen auf eine Weise gewährleistet, die sich von kulturellen Prozessen der Traditionsbildung nicht wesentlich unterscheidet. Die Trennung von ursprünglicher Sinngebung und methodischer Anwendbarkeit ist die Voraussetzung für die Tradierbarkeit von Kulturgebilden. Jede Methode der naturwissenschaftlichen Forschung kann – ebenso wie jedes Kulturgebilde – von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, ohne die Leistungen mit sich zu führen, aus denen sie ursprünglich hervorgegangen ist: »Alle Methodik will unreflektierte Wiederholbarkeit schaffen, ein wachsendes Fundament von Voraussetzungen, das zwar immer mit im Spiele ist, aber nicht immer aktualisiert werden muß.« 79 Verantwortlich für die Möglichkeit der methodischen Übertragbarkeit und Tradierbarkeit ist Blumenberg zufolge ebenjener Prozess, den Husserl gerade zu korrigieren gedachte: die Technisierung bzw. Formalisierung. Diese gewährleistet nicht nur den technischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt, sondern auch die Möglichkeit der Kulturbildung. Sie stellt Selbstverständlichkeiten her, die im Prozess der Tradierung unhinterfragt übernommen werden. Blumenberg illustriert diesen Sachverhalt anhand des Beispiels einer Türklingel: Das mechanische Modell einer Zugklingel lässt den 76 77 78 79

Ebd., S. 41. Husserl: Krisis, S. 68. Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung, S. 31. Ebd., S. 42; vgl. Husserl: Krisis, S. 377.

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Zusammenhang zwischen Handlung und herbeigeführtem Effekt unmittelbar einsehen, »zwischen der tätigen Hand und dem erklingenden Ton besteht ein adäquater Nexus«. Eine elektrische Klingel hingegen lässt ebendiesen Zusammenhang nicht mehr einsehen, der von der Handlung zum gewünschten Effekt führt: »die Verrichtung der Hand ist dem Effekt ganz unspezifisch und heteromorph zugeordnet – wir erzeugen den Effekt nicht mehr, sondern lösen ihn nur noch aus«. Handlung und Effekt werden voneinander getrennt, so dass nicht mehr nachvollziehbar ist, welche Leistungen investiert wurden, um den gewünschten Effekt herbeizuführen. Die »lange Vorgeschichte menschlicher Leistungen«, die »[h]inter jedem solchen Auslöser steckt«, wird in der Funktion aufgehoben. 80 Dass die ursprünglich investierten Leistungen in die Methoden und Kulturgebilde eingehen und nicht ein jedes Mal abgerufen werden müssen, um angewendet werden zu können, gewährleistet auf der einen Seite Tradierbarkeit. Auf der anderen Seite werden die lebensweltlichen Rückhalte, aus denen diese Leistungen entsprungen sind, dadurch verdeckt. Der Mensch sucht mittels Technisierung »›im Sprunge‹ voran[zu]kommen«. 81 »Die Technisierung macht die menschlichen Handlungen zunehmend unspezifisch«, der Mensch lässt dann, wie Blumenberg sagt, Geschichte aus und d. h. nicht nur die Geschichte der Innovationen, Leistungen und Errungenschaften der technischen und mathematischen Naturwissenschaften, sondern auch die der Kulturgebilde, anhand derer sich die Geschichte erschließen lässt. 82 Die Leistung der Technisierung sieht Blumenberg in der Konstituierung des Bodens, auf dem das gemeinsame Miteinander einer Kultur allererst statthat: Technisierung produziert Selbstverständlichkeiten, die menschliches Handeln überhaupt erst ermöglichen. 83 Blumenberg neutralisiert mit diesem Zug das negative Vorzeichen, das Husserl der Technisierung voranstellt. Nichtsdestotrotz gilt: Was auf der einen Seite als Gewinn erscheint, ist auf der anderen Seite Verlust, insofern das, was sich als selbstverständlich gibt, der Befragbarkeit entzieht und auf diese Weise die Verantwortung der eigenen Handlungskompetenz zu unterlaufen droht, wie Blumenberg anhand 80 81 82 83

Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung, S. 35 f. Ebd., S. 34. Ebd., S. 36; vgl. ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 37 f.

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des Beispiels der Türklingel veranschaulicht: Der Druck auf die elektrische Türklingel führt zwar wie selbstverständlich zum gewünschten Effekt, wie dieser jedoch herbeigeführt wird, bleibt verdeckt. Der Mechanismus geht ganz in die Funktion ein. Unter Auslassung der Geschichte und Verdeckung der investierten Leistungen sinkt das menschlich verfertigte Produkt – Maschinen, Apparate und Institutionen – »zurück in das ›Universum der Selbstverständlichkeiten‹, in die Lebenswelt«. 84 Im Gegensatz zu Husserl sieht Blumenberg in der Technisierung keine negative Abkehr von einem einmal in seiner Reinheit ursprünglich gestifteten Sinn, den es zu restituieren gilt. 85 In ihrer Prozesshaftigkeit bleibt die Technisierung ein auszeichnendes Merkmal des menschlichen Bewusstseins: »[A]uf der untersten elementaren Stufe seiner Leistungen ist der menschliche Intellekt stets schon in der Formalisierung Ebd., S. 37. Eine der wesentlichen Leistungen Husserls erblickt Blumenberg darin, ebendiese Antinomie »zwischen Leistung und Einsicht« herausgearbeitet und »für unsere geistige Situation spürbar und wirksam gemacht« (Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung, S. 51) zu haben. Blumenberg betrachtet Husserls Auffassung – die Phänomenologie sei in ihrer therapeutischen Funktion imstande, die Krisis abzuwenden, indem sie das nachhole, was die Technisierung im Sprung auslasse – durchaus kritisch, insofern Husserls Programm einer strengen Wissenschaft, das auch ein Programm der Wissenschaftskritik ist, an dieser Stelle droht, die Philosophie den Wissenschaften in »stellvertretender Funktion« beizuordnen. Wider Willen führte Husserls Anliegen, die Philosophie als erste und strengste aller Wissenschaften zu behaupten, so zur Degradierung der Philosophie als einer Hilfswissenschaft der mathematischen Naturwissenschaften. Wenn Blumenberg im Folgenden von der von Husserl zugestandenen »Legitimität der Technisierung« spricht, die der Philosophie nunmehr die Rolle zuweise »stellvertretend den Schatz der durch die Technisierung übersprungenen Sinnstrukturen [zu] verwalten« (ebd., S. 44), so lässt sich diese Auffassung wie dargestellt durchaus auf Blumenbergs Projekt übertragen – mit dem entscheidenden Unterschied, dass Blumenberg in der Technisierung kein Alleinstellungsmerkmal der technischen Naturwissenschaften sieht, sondern eine konstitutive Struktur menschlichen Bewusstseins, die nicht durch theoretische Letztbegründungen normiert werden kann. Husserls Vorhaben in einem, wie Blumenberg sagt, Prozess der »›Entselbstverständlichung‹« die »letzten und verstecktesten Selbstverständlichkeiten noch in Frage zu stellen« (ebd., S. 48) – oder überhaupt in Frage stellen zu können –, weist Blumenberg damit ab und setzt auf eine Reflexion von Selbstverständlichkeiten, die fortwährend neu produziert werden; wären wir imstande, noch die letzten Selbstverständlichkeiten aufzudecken, dann wäre einem gelingenden Kulturprozess der Boden entzogen. Vor diesem Hintergrund wird ihm der von Husserl diagnostizierte »Sinnverlust« zu einem »in der Konsequenz des theoretischen Anspruches auferlegte[n] Sinnverzicht« (ebd., S. 42). Eben darin besteht für Blumenberg die Legitimität der Technisierung.

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begriffen«. Technisierung und Formalisierung konstituieren fortwährend Selbstverständlichkeiten, die in die Lebenswelt eingehen: »[D]as im theoretischen Fragen unselbstverständlich Gewordene« kehrt »in die Fraglosigkeit« zurück. 86 Wenngleich sich an diesem Punkt Blumenbergs Philosophieverständnis noch nicht in Gänze fassen lässt, so spricht Blumenberg doch davon, dass die Philosophie mit Blick auf die Lebenswelttheorie im Abbau von Selbstverständlichkeiten besteht. Diese Selbstverständlichkeiten motivieren und leiten die menschlichen Handlungen, die damit ihrerseits auf lebensweltliche Bedürfnisse und Sinngebungen, Erwartungen und Hoffnungen zurückgehen. Sie folgen im Zuge dessen keinem Prinzip und entbehren jeder Form von Letztbegründung. Mit der, wenn auch mittelbaren, Reflexion auf die Wirkungszusammenhänge, zu denen sich die menschlichen Handlungen für den Betrachter zusammenschließen, sucht die Philosophie Blumenbergs eben diese Selbstverständlichkeiten in den Blick zu nehmen und daBlumenberg: Lebenswelt und Technisierung, S. 43 f. Blumenberg verweist darauf, dass die produzierten Selbstverständlichkeiten, einmal eingegangen in die Lebenswelt, ihrerseits »Bedürfnisse und Sinngebungen« (ebd., S. 37) hervorbringen. Die technischen Apparaturen lassen die in sie investierten Leistungen und in ihnen liegenden Mechanismen nicht mehr einsehen. Sie verstecken diese in Gehäusen, die zunehmend homogener gestaltet kaum mehr erkennen lassen, welcher Funktion sie dienen: »wie oft drückt man in einem Treppenhaus auf einen Klingelknopf, wenn man das Flurlicht ›gemeint‹ hatte« (ebd., S. 36). Als »›Produkt‹, das sich [nicht] in seine Eingeweide sehen läßt« (ebd., S. 36), weist es »nicht nur alle neugierigen Fragen von sich ab […], sondern es scheint alles zu tun, um Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen, […] vor allem solche nach der Existenzberechtigung. Das Immer-Fertige, das auf den Fingerdruck Auslösbare und Abrufbare rechtfertigt seine Existenz nicht, weder aus seiner theoretischen Herkunft noch aus den Bedürfnissen und Antrieben des Lebens, dem zu dienen es vorgibt. Es ist legitimiert, indem es bestellt, abgenommen, übernommen und in Betrieb gesetzt wird; Vorhandensein hat nicht sinngebende Bedürfnisse zur Voraussetzung, sondern es fordert und erzwingt seinerseits Bedürfnisse und Sinngebungen.« (Ebd., S. 36 f.) In dieser Funktion, so deutet Blumenberg an, kann der Prozess der Technisierung zu Zwecken der Manipulation und blinden Produktion instrumentalisiert werden, Selbstverständlichkeiten werden produzierbar: »Das Ideal solcher Manipulation ist die Umkleidung des künstlichen Produkts mit Selbstverständlichkeit; sie läßt alle Fragen verstummen, ob das notwendig, sinnvoll, menschenwürdig, irgendwie zu rechtfertigen sei.« (Ebd., S. 37) »Die Technisierung […] beginnt ihrerseits, die Lebenswelt zu regulieren, indem jene Sphäre, in der wir noch keine Fragen stellen, identisch wird mit derjenigen, in der wir keine Fragen mehr stellen, und indem die Besetzung dieses Gegenstandsfeldes gesteuert und motiviert wird von der immanenten Dynamik des technisch Immer-Fertigen, durch die der Naturgewalt sich gleichsetzende Unwiderruflichkeit der Produktion.« (Ebd., S. 37 f.)

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mit jene Bruchstelle, an der die Dynamik von Kultur und Geschichte entsteht, die zugleich die Grenze zu einer Transzendentalphilosophie markiert. Dem Betrachter tritt, was sich Geschichte nennt, damit als eine Geschichte von Rezeptionen, rhetorischen Handlungen und wechselseitigen Auseinandersetzungen vor Augen. Menschliches Verhalten im Sinne Blumenbergs auf das Prinzip des Satzes des unzureichenden Grundes zurückzuführen, bedeutet nicht, keine Gründe aufzeigen zu können, die menschliches Verhalten motivieren, nur kommen diese weder im Gewand zugrundeliegender Prinzipien noch unmittelbarer teleologischer Zielvorgaben daher. Im alltäglichen Handlungsvollzug verfolgen wir Ziele und setzen Zwecke; als Betrachter rhetorischer Wirkungszusammenhänge jedoch sind uns die die Handlungen ursprünglich motivierenden Rückhalte nicht einsichtig. Wir müssen sie deshalb indirekt und mittelbar erschließen, für Blumenberg über die Bilder und Begriffe, Symbole und Metaphern. Mit dem Austritt aus der Lebenswelt wird eine Welt verlassen, die zwar von ungestörter Einstimmigkeit zeugt, zugleich jedoch von Grund auf instabil und fragil ist. An »ihrer Peripherie« ist sie »immer schon undeutlich konturiert, leicht unbeständig, sozusagen ausgefranst zwischen ihrer konstanten Selbstverständlichkeit und den Invasionen von Unbekanntem«. Was dem Menschen an der Peripherie der Lebenswelt als Unbekanntes entgegentritt und zunächst als desorientierend empfunden wird, »wird ständig aufgefangen durch Aktionen der Bewältigung: durch Namengebung, durch metaphorische Eingliederung, schließlich durch begriffliche Subordination und Klassifizierung«. 87 Diese Aktionen der Bewältigung sind, so Blumenberg, Mechanismen zur Stabilisierung einer Wirklichkeit, die sich nicht mehr von selbst versteht. Die Lebenswelt als eine Welt der Selbstverständlichkeiten ist auch eine Welt, in der »es nicht den geringsten Anlaß [gab], auf Mittel zu sinnen, um Abwesendes anwesend zu machen: Magie, Bilder, Symbole, Namen, Begriffe«. Mit Verlassen der Lebenswelt bedarf der Mensch jedoch ebendieser Mittel, um einen Umgang mit dem zu finden, was ihm am Rand der Lebenswelt zunächst als Unbekanntes entgegentritt. Die Lebenswelt ist damit auch eine Sphäre der Unmittelbarkeit, die mit Eintritt in die Wirklichkeit der Mittelbarkeit weicht. In der 87

Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 135.

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Wirklichkeit angekommen motiviert der Mensch, so die Darstellung Blumenbergs, verschiedene Strategien, die die verlorengegangene Stabilität der Lebenswelt auffangen sollen. Philosophie ist für Blumenberg auch der Versuch zu lernen, mit diesen Strategien einen Umgang zu finden: »eine Disziplin zur Erfassung des Abwesenden und zur Kultivierung der Mittel für diese: der Begriffe und Symbole, der Urteile und Schlüsse«. 88 Diese Strategien sind vielfältig, kommen jedoch darin überein, die Wirklichkeit zu stabilisieren. Die für Blumenberg prominentesten Strategien sind Metaphern und das aus einem guten Grund: Sie fungieren als Vehikel zwischen Lebenswelt und Wirklichkeit und kaschieren ihre Funktion der Übertragungsleistung nicht. Sie vermitteln zwischen Lebenswelt und Wirklichkeit und legen zugleich den Abstand und die Differenz zwischen beiden offen. Sie lassen dadurch mittelbar Rückschlüsse auf die lebensweltlichen Motivationsrückhalte zu, aus denen menschliche Handlungen hervorgehen und um diese zu erschließen, bedarf es einer Hermeneutik. 89 Diese Hermeneutik führt auf Blumenbergs Metaphorologie, mit der gerade kein Programm intendiert wird, das über Metaphern individuelle lebensweltliche Motivationsrückhalte herauszuarbeiten sucht. Diese Annahme fiele erneut in einen Psychologismus zurück, wie ihn Husserl Dilthey zum Vorwurf macht. 90 Die Lebenswelt ist für Blumenberg ein transzendentaler Begriff. 91 Fällt der Blick auf die Strukturen der Lebenswelt, dann ist daran zu erinnern, dass in ihr Individualität und Gemeinschaft noch nicht voneinander geschieden sind – ein Prozess der Individualisierung vollzieht sich erst mit dem Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 34 f. Diese Leistung, die Metaphern zu erbringen imstande sind, ist mit Blick auf die verschiedenen Stabilisierungsmechanismen, die Blumenberg nennt, gerade nicht selbstverständlich. Bewegen sich Begriffe z. B. ausschließlich im Bereich der Wirklichkeit und erhalten ihre Orientierung durch Metaphern, so suchen Symbole Blumenberg zufolge ihre Herkunft zu verschleiern und verdecken damit, ganz im Sinne Husserls, ihren Bezug zur Wirklichkeit: »Die ›Entlastung‹ durch Symbole stabilisiert sich gerade dadurch, daß ihre Verweisungen auf ›das Wirkliche selbst‹ nicht wahrgenommen werden und nicht verfolgt zu werden brauchen.« (Hans Blumenberg: Lebenswelt und Wirklichkeitsbegriff [engl.: 1972], in: ders.: Theorie der Lebenswelt, hrsg. von Manfred Sommer. Suhrkamp: Berlin 2010, S. 157–180, hier S. 173) 90 Vgl. Kap. 2.1.1. 91 Vgl. hierzu auch Manfred Sommer: Nachwort des Herausgebers, in: Hans Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, hrsg. von Manfred Sommer. Suhrkamp: Berlin 2010, S. 243–247. 88 89

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Austritt aus der Lebenswelt, die mittelbare Reflexion auf die Lebenswelt erschließt intersubjektive Kontexte, die Hintergründe menschlichen Verhaltens. Die Lebenswelt als ein transzendentaler Begriff ist für Blumenberg ein Grenzbegriff der Kulturbildung, dessen Komplement, seinerseits ebenfalls ein Grenzbegriff der Kulturbildung, der Begriff der Wirklichkeit ist, der sich aus den Strukturen der Lebenswelt herausarbeiten lässt. Dadurch, dass sich die handlungsleitenden Motivationen nur über die Kontexte und Hintergründe sowie in Relation zu den Handlungen anderer Individuen erschließen lassen, rücken die Handlungen in den Blick, die auf Widerstände stoßen: Die hermeneutisch erfassten Erwartungen und Hoffnungen, aus denen Handlungen hervorgehen, sind stets die, die unerfüllt geblieben sind und sich am entsprechenden Wirklichkeitsverständnis brechen. Die Sehnsüchte, Erwartungen und Hoffnungen sind eingebettet in den Kontext einer Wirklichkeit und richten sich auf diese, suchen diese zu negieren oder zu bestätigen. Ebendiese Motivationsrückhalte lassen sich Blumenberg zufolge maßgeblich über Metaphern aufweisen und interpretativ erschließen, 92 Voraussetzung ist jedoch die Erarbeitung des entsprechenden Wirklichkeitsbegriffs. Die Wirklichkeit auf den Begriff zu bringen, ist Aufgabe der Philosophie. Dies gelingt ihr durch Integration der Phänomenologie, was es ermöglicht, die Wirklichkeitsbegriffe in einem Verfahren typisierender Begriffsbildung zu gewinnen, es wird darauf zurückzukommen sein. Wenngleich im Folgenden mit Blumenberg in Anschluss an Husserl eine Lebenswelttheorie im Vordergrund steht, über die Blumenberg sucht, die lebensweltlichen Motivationsrückhalte anhand von Metaphern zu erschließen, so sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass durchaus Cassirers Feststellung im Hintergrund der Metaphorologie Blumenbergs stehen mag, dass die Sprache bzw. die sprachliche Begriffsbildung, wie Recki mit Blick auf Cassirer betont, »als solche metaphorisch« (Birgit Recki: Der praktische Sinn der Metapher. Eine systematische Überlegung mit Blick auf Ernst Cassirer, in: Franz Josef Wetz und Hermann Timm (Hrsg.): Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1999, S. 142–163, hier S. 148) ist. Cassirer selbst, und darauf kommt es an dieser Stelle an, spricht von einer wahrhaft radikalen Metapher, die ihm zufolge »eine Bedingung der Sprachbildung sowie eine Bedingung der mythischen Begriffsbildung selbst ist« – »schon die primitivste sprachliche Äußerung [erfordert] die Umsetzung eines bestimmten Anschauungs- oder Gefühlsgehaltes in den Laut, also in ein diesem Inhalt selbst fremdes, ja disparates Medium« (Ernst Cassirer: Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen [1925], in: ders.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 41969, S. 71–158, hier S. 148).

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Entscheidend ist zunächst, dass das Grundprinzip dieser Hermeneutik in Blumenbergs Verständnis der Rhetorik begründet liegt. Der Satz des unzureichenden Grundes macht deutlich, dass menschliche Handlungen weder aus einem gemeinsamen, zugrundeliegenden Prinzip hervorgehen, noch einem teleologischen Prinzip folgen und damit auch keinem präformierten Sinnvollzug. Die menschlichen Handlungen erscheinen kontingent, da sie eines gemeinsamen Grundes entbehren – und »[w]as grundlos wird«, so Blumenberg, »hält sich nicht im Bewußtsein«. 93 An dieser Stelle greifen besagte Strategien zur Stabilisierung menschlicher Handlungen, die nicht von Prinzipien geleitet werden. Es bilden sich im weitesten Sinne Institutionen aus, die sich der Befragbarkeit auf einen letzten Grund entziehen und in ihrer Selbstverständlichkeit menschliches Handeln ermöglichen – zu diesen Institutionen zählt Blumenberg nicht nur z. B. die Sprache, sondern bereits die Bilder, von denen unser Denken abzweckt. Die Stabilisierung durch Handlungen erfolgt durch rhetorische Wirkungszusammenhänge: »Was nicht nur aufeinander, sondern auseinander gefolgt sein soll, läßt sich nur nach dem principium rationis insufficientis betrachten, das für rhetorische Wirkungszusammenhänge gilt. […] Das Verhältnis zu den Bildern hat eigene Regularien.« 94 Rhetorik ist »eine Gestalt von Vernünftigkeit selbst«, sie ist »das vernünftige Arrangement mit der Vorläufigkeit der Vernunft«, einer Vernunft, die sich nicht mehr absolut zu begründen weiß, sondern rhetorischen Strategien entspringt. 95 Blumenbergs rhetorische Grundlegung verlangt viel von der Vernunft, die sich nicht auf Prinzipien und Letztbegründungen berufen kann, sondern die sich der Prägnanz und den rhetorischen Figuren zu widmen hat, die insofern nicht auf den Begriff zu bringen sind, als dass Begriffe ihrerseits in den Kontexten stehen, die die Bilder, insbesondere die Metapher, eröffnen.

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Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 687. Ebd., S. 465. Blumenberg: Anthropologische Annäherung, S. 130.

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3.1.3. Lebenswelt und Metapher Mit dem Austritt aus der Lebenswelt sieht sich der Mensch vor die Herausforderung gestellt, sich aus eigener Kraft orientieren zu müssen. Die Selbstverständlichkeit der Lebenswelt geht verloren und der Mensch findet sich einer fragilen, noch ungeordneten Wirklichkeit gegenüber, die ihm zunächst fremd erscheint: »Emotional ist dieser Rand der Lebenswelt besetzt mit Vorgängen des Befremdens, des Erschreckens, des Entsetzens, der Furcht.« Die Strategien zur Bewältigung der Unbeständigkeit und Unbekanntheit der Wirklichkeit sind Blumenberg zufolge vielfältig und reichen von der Namensgebung, über die Schaffung von Symbolen und Allegorien, der Ausführung von Riten, der Erzählung von Mythen, über religiöse Kulte, bis hin zur naturwissenschaftlichen Erfassung der Wirklichkeit. Was unbekannt erscheint wird vom Menschen in Form von Bildern, Metaphern, Symbolen und Begriffen adressiert und besetzt und ist dadurch identifizierbar. Die »Bewältigung« der Vorgänge, die sich am Rand der Lebenswelt ereignen, »erfolgt, indem ihnen Identität zugesprochen wird«. Was zuvor als Unbekanntes erschien, wird im Zuge dieser identifizierbaren und identitätsstiftenden Beziehung zu Vertrautem und Bekanntem und ermöglicht dadurch allererst »Verantwortlichkeit für Handlungen und Beeinflußbarkeit durch Handlungen« mit dem vormals Unbekannten. 96 Der Mensch kann sich nicht unmittelbar auf die Wirklichkeit einlassen. Was ihm unmittelbar entgegentritt, muss er auf Distanz bringen, um handeln zu können. Blumenberg bezeichnet den menschlichen Wirklichkeitsbezug deshalb als »indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ›metaphorisch‹«. 97 Der Mensch ist ein auf Distanz handelndes Wesen, die Kultur, in der er steht und handelt, eine Kultur des Umwegs. 98 Die, im traditionellen Sprachgebrauch, rationale Bewältigung der Wirklichkeit in Form von Begriffen und Urteilen erscheint im Zuge dessen als sekundär. Für Blumenberg sind es in einem ersten Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 135. Blumenberg: Anthropologische Annäherung, S. 115; vgl. hierzu Ralf Konersmann: Metapher [Art.], in: Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 6), hrsg. von Christian Bermes und Ulrich Dierse. Felix Meiner: Hamburg 2010, S. 267–277, hier S. 267 f. 98 Vgl. Ralf Konersmann: Geduld zur Sache. Ausblick auf eine Philosophie für Leser, in: Neue Rundschau, 109 (1998) 1, S. 30–46, hier S. 37. 96 97

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Schritt die Bilder, Symbole und Metaphern, die die entstandenen Leerstellen im Zwischenraum von verlassener Lebenswelt und noch nicht beheimateter Wirklichkeit besetzen: »Nicht nur die Sprache denkt uns vor und steht uns bei unserer Weltsicht gleichsam ›im Rücken‹ ; noch zwingender sind wir durch Bildervorrat und Bilderwahl bestimmt, ›kanalisiert‹ in dem, was überhaupt uns sich zu zeigen vermag und was wir in Erfahrung bringen können.« 99 Im Prozess dieser Kompensations- und Bewältigungsstrategie, der Besetzung des Unbekannten und Unbestimmten mit Bildern, heften sich die »scheinbar primär emotionalen Vorzeichensetzungen« an besagte Bilder. 100 Was Blumenberg in seiner Theorie der Lebenswelt als eine Genese der Hervorbringung von Symbolen, Metaphern und der Begriffsbildung darstellt, streift im Kontext seiner Hermeneutik ebenjene Genealogie möglicher psychischer Motivationsrückhalte ab. Im Kontext einer Hermeneutik erhalten die Bilder das Primat zugesprochen. Die die Handlungen motivierenden Rückhalte sind nicht unmittelbar einsichtig, sondern müssen über diese Bilder erschlossen und interpretiert werden, an die sie sich heften – die zu interpretierenden Motivationsrückhalte können, wie zuvor bereits ausgeführt, nicht die eines Individuums sein. Sie sind eingelassen in die Lebenswelt, in der das Individuum und die intersubjektive Gemeinschaft ein und denselben Erfahrungshorizont teilen, in der »Erwartung und Erfahrung, Lebenszeit und Weltzeit, Generation und Individuation« noch deckungsgleich sind. 101 Diese Motivationsrückhalte zu interpretieren bedeutet, den Erfahrungszusammenhang der intersubjektiven Gemeinschaft zu rekonstruieren und zu interpretieren, von dem die Handlungen der Individuen abheben. Von den Bildern getragen, erfahren die Motivationsströme Orientierung und motivieren menschliche Handlungen. Im Kontext von Blumenbergs Theorie der Lebenswelt fungiert die Metapher als Brückenschlag zwischen der Lebenswelt, die in ihrer Selbstverständlichkeit die menschlichen Handlungen bestimmt, und der Wirklichkeit, die der Mensch handelnd hervorbringt. Es handelt sich bei den von Blumenberg sogenannten Selbstverständlichkeiten um Residuen der Lebenswelt; ihr Abbau, d. h. ein Blumenberg: Paradigmen, S. 91 f. Ebd., S. 16. 101 Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 65. 99

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Die Philosophie aus dem Geist der Rhetorik

Hinterfragen dieser Selbstverständlichkeiten ermöglicht einen mittelbaren Zugriff auf die Lebenswelt, die sich dem direkten Zugriff entzieht. 102 Eine Analyse der Metaphern erlaubt deshalb zwar keinen unmittelbaren Zugriff auf die Lebenswelt, doch immerhin ein Nachzeichnen der lebensweltlichen Motivationsströme. Noch die »vitale[] Sehnsucht« begrifflichen Denkens entspringt den Bildern, die das begriffliche Denken vermittelt an der Lebenswelt teilhaben lassen. 103 Als konstitutiver Bestandteil der Wirklichkeit bieten Metaphern »eine Orientierung für das Zurückfragen vom faktischen Status unseres theoretischen Weltverhaltens zu den ihm zugrundeliegenden ursprünglichen Motivierungen und lebensweltlichen Sinngebungen«. Anhand von »lebensweltlichen Leitfäden« führen sie zurück auf die »imaginativen Hintergründe, aus denen […] ständige Motivationsströme nachfließen«. Blumenbergs Metaphorologie wird so »zum Leitfaden der Hinblicknahme auf die Lebenswelt«, ohne die Lebenswelt selbst in den Blick zu nehmen. 104 Strukturell dienen Metaphern dazu, das »lebensweltlich Bekannte« und das »weltlich Unbekannte« miteinander zu vermitteln, um letzteres der eigenen Wirklichkeit zu integrieren. 105 Es gilt, die Kontingenz der Wirklichkeit zu bewältigen und Ordnung herzustellen, um einen Umgang mit dem zu finden, was zunächst als Unbekanntes entgegentritt. Die Metapher geht auf die rhetorische Figur der Analogie zurück, die zwei verschiedene Sinnbereiche aufgrund ähnlicher Verhältnisse zueinander in Bezug setzt. 106 Der Unterschied zwischen einer Analogie und einer Metapher besteht im Wesentlichen darin, dass das Wort, das den Vergleich herstellt, in der Metapher nicht explizit genannt wird. Es ist ein Unterschied, ob ›Achill wie ein Löwe losstürzte‹ oder stattdessen gesagt wird: ›Achill ist ein Löwe‹. Wird das vergleichende Wie gestrichen, wird Identität hergestellt, ohne die bei-

Vgl. ebd., S. 33. Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 661. 104 Hans Blumenberg: Hans: Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlaß hrsg. von Anselm Haverkamp. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2007, S. 100 f. 105 Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 137. 106 Aristoteles definiert die Metapher als »Übertragung eines Wortes das (eigentlich) der Name für etwas anderes ist, entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung oder von einer Art auf eine (andere) Art oder gemäß einer Analogie« (Aristoteles: Poetik, übers. von Arbogast Schmitt, in: ders.: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 5, hrsg. von Hellmut Flashar. Akademie Verlag: Berlin 2008, 1457b6–9). 102 103

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den Pole ›Achill‹ und ›Löwe‹ als zwei eigenständige Bereiche nebeneinander bestehen zu lassen. 107 Zunächst ist entscheidend, dass die Metapher insofern über die Analogie hinausgeht, als sie nicht bloß Ähnlichkeit, sondern Identität behauptet, ohne jedoch die beiden Sinnbereiche ineinander aufgehen zu lassen. Beide Bereiche lassen sich nach wie vor identifizieren, ohne zugleich unverbunden nebeneinander stehen zu bleiben. Diese Eigenschaft, die Herkunftsbereiche der Sinnbereiche, die die Metapher in Bezug zueinander setzt, nicht zu verleugnen, macht sich Blumenberg im Kontext seiner Hermeneutik zunutze. Eingelassen in rhetorische Wirkungszusammenhänge sind Metaphern Kristallisationen, Knotenpunkte im Gewebe der Kultur und Geschichte, die dieses Gewebe strukturieren; an den Metaphern lassen sich die rhetorischen, wechselseitigen Bezugnahmen, Wechselwirkungen und Auseinandersetzungen ablesen, insofern sich die Bereiche, die die Metapher in Bezug zueinander setzt, identifizieren lassen. Die mit dem Verlassen der Lebenswelt entstehenden Leerstellen zeugen von einer Distanz zur Lebenswelt, zugleich von einer Distanz zwischen Erwartung und Erfahrung. Diese Leerstellen und Distanzen werden von Metaphern überbrückt, sie vermitteln als »Technik des […] Grenzverkehrs« zwischen Lebenswelt und Wirklichkeit. 108 Aus diesem Grund sieht Blumenberg in Metaphern Kronzeugen der historischen Entwicklung, an der sich der historische Erkenntnisstand einer Zeit und noch die eigene Erkenntnis reflektiert: Mit dem Verlassen der Lebenswelt entsteht Geschichte, deren Dynamik maßgeblich von Metaphern abgebildet wird. Auf erkenntnistheoretischer Ebene bieten Metaphern ein »Modell der Reflexion«, 109 auf historischer Ebene bringt »der historische Wandel einer Metapher […] die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein« – »die Metaphorologie sucht an die Substruktur des Denkens heranzukommen, an den Untergrund, die Nährlösung, der systematischen Kristallisationen, aber sie will auch faßbar machen, »Der Vergleich sagt ›dieses ist wie das‹ ; die Metapher sagt: ›dieses ist das‹.« (Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 33 f.; vgl. ebd., S. 31–36) Ricœur hat sich mit dem Verhältnis zwischen Analogie und Metapher eingehender auseinandergesetzt als Blumenberg, es wird deshalb mit Ricœur darauf zurückzukommen sein (vgl. Kap. 4.2. sowie Anm. 379, S. 404). 108 Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 137. 109 Hans Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1987, S. 32. 107

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mit welchem ›Mut‹ sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist und wie sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft.« 110 Besondere Aufmerksamkeit lässt Blumenberg der von ihm sogenannten absoluten Metapher zukommen, deren Funktion er in Anlehnung an Kants Symbolbegriff veranschaulicht. Über den kantischen Symbolbegriff wird im Folgenden illustriert, inwieweit Metaphern Blumenberg zufolge ein Modell der Reflexion darstellen. Noch die Geistes- und Ideengeschichte entspinnt sich für Blumenberg maßgeblich aus der Dynamik metaphorischer Übertragungen und Verschiebungen. Lassen sich anhand von Begriffen oberflächlich die Resultate dieser Übertragungen und Verschiebungen ablesen, so anhand von Metaphern deren Substrukturen. 111

3.2. Vom Symbolbegriff Kants zur absoluten Metapher Blumenbergs Zu Beginn seiner Paradigmen zu einer Metaphorologie entwirft Blumenberg eine grobe Skizze des cartesischen Erkenntnisprogramms, von der er sein eigenes Projekt einer Metaphorologie abgrenzt: Die Erkenntnistheorie Descartes’ setzt, so Blumenberg, ganz auf die Vernunft und weist diese als ein Vermögen der Begriffsbildung aus. Descartes’ hypothetische Idealvorstellung begrifflicher Erkenntnis sucht unter dem Kriterium der »Klarheit und Bestimmtheit aller in Urteilen erfaßten Gegebenheiten« einem »Ideal voller Vergegenständlichung« zu entsprechen: Der Begriff definiert den Gegenstand in Klarheit und Bestimmtheit und der Gegenstand erfüllt den Begriff, Begriff und Gegenstand koinzidieren. Blumenbergs Kritik an dieser Vorstellung richtet sich erstens gegen die Geschichtslosigkeit des cartesischen Erkenntnisideals: 110 Blumenberg: Paradigmen, S. 13. Haverkamp verweist darauf, dass Blumenberg den Begriff der Metakinetik Walter Bröcker (1902–1992) entlehnt (vgl. Anselm Haverkamp: Das Skandalon der Metaphorologie. Hans Blumenbergs philosophische Initiative, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57 (2009) 2, S. 187–205, hier S. 198). Bröcker, langjähriger Schüler und ehemaliger Assistent Heideggers, war von 1948 bis zu seiner Emeritierung ordentlicher Professor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, an der Blumenberg 1947 von Ludwig Landgrebe promoviert wurde und an der er sich 1950 habilitiert hat. 111 Vgl. Eckard Rolf: Metapherntheorien. Typologie. Darstellung. Bibliographie. Walter de Gruyter: Berlin, New York NY 2005, S. 251.

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Lautete das Ziel der Philosophie, alle Erkenntnis in Klarheit und Bestimmtheit in Begriffen zu fixieren, dann müsste die Philosophie »mit der Erreichung ihres endgültigen begrifflichen Zustandes […] jedes vertretbare Interesse an der Erforschung der Geschichte ihrer Begriffe verlieren« – das Ideal begrifflicher Erkenntnis unterläuft jede »Geschichtserfahrung«. Zweitens richtet sich Blumenbergs Kritik gegen die Verdrängung des bildhaften durch ein rein begriffliches Denken. Das Ideal rein begrifflicher Erkenntnis suggeriert, es ließen sich alle bildhaften Ausdrücke der Sprache in Begriffe übersetzen, die Bilder unseres Denkens wären dann lediglich »logisch ›Vorläufiges‹«. In ihrer »funktionale[n] Übergangsbedeutung« 112 gelten sie nur mehr als »Restbestände«, sie sind »Rudimente auf dem Wege vom Mythos zum Logos« 113 und mit zunehmendem Erkenntnisfortschritt in die Begriffe der Vernunft zu überführen. Mit seinen Paradigmen zu einer Metaphorologie möchte Blumenberg im Gegenzug eine Logik der Phantasie begründen, die dem begrifflichen Erkennen nicht nur gleichberechtigt an die Seite zu stellen ist, sondern darüber hinaus auch aufzeigen soll, dass das bildhafte das begriffliche Denken überhaupt erst fundiert. Der Begriff mag ein Produkt der Vernunft sein, was jedoch nicht auch »die Umkehrung zu[lässt], Vernunft sei nur dort, wo es gelungen oder wenigstens angestrebt sei, die Wirklichkeit, das Leben oder das Sein – wie immer man die Totalität nennen will – auf den Begriff zu bringen«. Blumenberg zufolge »gibt [es] keine Identität zwischen Vernunft und Begriff«. 114 Der Begriff gilt ihm als eines unter anderen Mitteln der Erkenntnis, die unsere Wirklichkeit konstituieren: Ist die Unmittelbarkeit der Lebenswelt erst einmal verloren, droht die nunmehr einbrechende Wirklichkeit zur Bedrängnis und absolut zu werden; mittels Begriffen, Metaphern und Symbolen hält der Mensch die Wirklichkeit auf Distanz. 115 Vernunft ist der »Inbegriff solcher Leistungen auf Distanz« und erschöpft sich nicht im Begriff, im GegenBlumenberg: Paradigmen, S. 7 f. Ebd., S. 10. 114 Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 9. 115 Die fehlende Distanz zur Wirklichkeit führte auf den von Blumenberg sogenannten Absolutismus der Wirklichkeit, d. h. zu einer Erfahrung der Wirklichkeit als einer unbekannten, fremden und kontingenten Wirklichkeit. Eben diese Erfahrung sucht der Mensch präventiv zu kompensieren (vgl. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 9–39 sowie hierzu Odo Marquard: Entlastung vom Absoluten, in: Franz Josef Wetz und 112 113

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teil: Für Blumenberg sind es maßgeblich Metaphern, über die sich unsere Wirklichkeit konstituiert. 116 In Kants Symbolbegriff erblickt Blumenberg nicht nur einen Vorläufer dessen, was er als Metapher begreift, darüber hinaus bietet ihm der Anschluss an Kants Symbolbegriff zugleich die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Vernunft und Phantasie in ein neues Verhältnis zu setzen. 117 Im Folgenden gilt es deshalb, Kants Symbolbegriff so weit zu klären, wie dieser für Blumenbergs Verständnis der Metapher von Relevanz ist. In einem ersten Schritt werden deshalb die Grundlagen der kantischen Erkenntnistheorie skizziert, von denen der kantische Symbolbegriff abhebt; vermittelt über diesen wird in einem zweiten Schritt die absolute Metapher im Sinne Blumenbergs darzustellen sein. In der kantischen Erkenntnistheorie sind Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand streng aufeinander verwiesen. Jede Erkenntnis »entspringt zwei Grundquellen des Gemüts«, den sinnlichen Eindrücken und dem Vermögen, diese begrifflich zu fassen. »Anschauung und Begriffe machen […] die Elemente aller unsrer Erkenntnis aus«, 118 erst zusammengenommen ermöglichen sie Erkenntnis: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« 119 Jeder Begriff stellt Allgemeinheit vor, ohne im Zuge dessen zwangsläufig unmittelbar auf die konkrete empirische Anschauungen verwiesen zu sein, Kants Beispiel lautet: Wir besitzen einen Begriff ›Hund‹, selbst wenn wir gegenwärtig keinen Hund vor Augen haben. Sehen wir einen Hund, dann sind wir aufgrund des Hermann Timm (Hrsg.): Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1999, S. 17–27). 116 Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 9. 117 Wenngleich Ricœur nicht explizit den kantischen Symbolbegriff in den Vordergrund rückt, so schließt er doch explizit an das Verfahren an, das im Hintergrund des kantischen Symbolbegriffs steht (zum Verfahren der Symbolisierung bei Kant vgl. Birgit Recki: Die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft und die Methodenlehre des Geschmacks (§§ 55–60), in: Otfried Höffe (Hrsg.): Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft (Klassiker Auslegen, Bd. 33). Akademie Verlag: Berlin 2008, S. 189–210, hier S. 197–199). Der Prozess der Symbolisierung ist für Kant eine Leistung der reflektierenden Urteilskraft, die darin besteht, zwischen Verstand und Vernunft zu vermitteln. Auf die reflektierende Urteilskraft selbst wird mit Ricœur zurückzukommen sein, der diese in Anschluss an Kant zu einem Vermögen erklärt, das maßgeblich an der Konstitution einer narrativen Identität beteiligt ist (vgl. Kap. 4.6.). 118 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft [1781, 21787], Bd. 1–2 (Werkausgabe, Bd. 3–4), hrsg. von Wilhelm Weischedel. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1974, A 50/B 74. 119 Ebd., A 51/B 75.

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Begriffs imstande, diesen Hund als solchen zu erkennen. 120 Die Regel, die es erlaubt, Begriffe in ihrer Allgemeinheit auf singuläre empirische Anschauungen anzuwenden, nennt Kant das Schema der Einbildungskraft. 121 Die Leistung des Verstandes besteht in seiner Spontaneität, d. h. in dem Vermögen, durch Begriffe selbst Vorstellungen hervorzubringen, durch die dieser die empirischen Sinnesdaten zu ordnen und strukturieren imstande ist. Der Verstand überführt die rezeptiv empfangenen Daten der Sinnlichkeit in eine Einheit, um »verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen«. Er stellt dort Allgemeinheit her, wo die sinnlichen Empfindungen ohne eine solche Einheit nicht zu einer Anschauung zusammenfinden würden. Jede »Verstandeshandlung« ist »Synthesis«, »Verbindung der Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen«. 122 Von der bloß empirischen Begriffsbildung, wie z. B. dem Begriff ›Hund‹, der über das Schema der Einbildungskraft mit empirischen Anschauungen vermittelt wird, sind die reinen Verstandes- sowie die reinen Vernunftbegriffe zu unterscheiden. 123 Da jede Erkenntnis sich gleichwohl aus Anschauung und Begriff zusammensetzt, sind die Erkenntnisse aus reinen Verstandesbegrif-

120 Vgl. ebd., A 141/B 180. Das Beispiel Kants findet sich im Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft. Alle Hunde, die uns in der empirischen Wirklichkeit begegnen und uns als Anschauung sinnlich gegeben werden, werden vom Begriff ›Hund‹ umfasst: »Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgend eine einzige besondere Gestalt, die mir Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu sein.« (Ebd.) 121 Vgl. hierzu auch Rudolf Eisler: Schema., in: ders.: Kant-Lexikon. Nachschlagwerk zu Kants sämtlichen Schriften / Briefen und handschriftlichem Nachlaß [1930]. Georg Olms: Hildesheim 1961 (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1930), S. 476–478. 122 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 130 f. 123 Kant unterscheidet empirische Begriffe, wie z. B. den Begriff ›Hund‹, und reine Begriffe voneinander: »Der empirische Begriff entspringt aus den Sinnen durch Vergleichung der Gegenstände der Erfahrung und erhält durch den Verstand bloß die Form der Allgemeinheit. – Die Realität dieser Begriffe beruht auf der wirklichen Erfahrung, woraus sie, ihrem Inhalte nach, geschöpft sind.« (Immanuel Kant: Logik [1800], in: ders.: Schriften zur Metaphysik und Logik, Bd. 2 (Werkausgabe, Bd. 6), hrsg. von Wilhelm Weischedel. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 31981, S. 417–582, hier S. 522/A 141 (Anm. 1)) Auf die reinen Verstandes- und reinen Vernunftbegriffe, denen gerade keine sinnliche Anschauung zugrunde liegt und kein Gegenstand der Erfahrung korreliert, kommt es im Folgenden an.

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fen, aus Kategorien, sowie die Erkenntnisse aus reinen Vernunftbegriffen, aus Ideen, ebenso auf Anschauungen bzw. einen sinnlichen Anteil angewiesen, der nicht der empirischen Erfahrung entstammen darf – andernfalls handelte es sich nicht um reine, sondern um empirische Erkenntnis. Die Versinnlichung der reinen Begriffe, d. h. die Anwendbarkeit dieser auf Anschauungen, erfolgt durch die Urteilskraft; die bestimmende Urteilskraft verknüpft die reinen Verstandesbegriffe, die reflektierende Urteilskraft die reinen Vernunftbegriffe mit den ihnen entsprechenden Anschauungen. Die Urteilskraft gilt Kant als »Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel […] stehe oder nicht«. 124 Sie urteilt über das Verhältnis, in dem das Allgemeine des Begriffs und das Besondere der sinnlichen Anschauungen zueinander stehen. Diese Regel, nach der die bestimmende Urteilskraft die reinen Verstandesbegriffe und die entsprechenden Anschauungen miteinander verknüpft, nennt Kant das transzendentale Schema bzw. Schematismus. Dem Schematismus liegt die reine Anschauungsform der Zeit zugrunde, die dieser über die in den Verstandeskategorien angezeigten Verhältnisse mit dem empirischen Anschauungsmaterial verknüpft. Der Schematismus verhilft den Kategorien dadurch zum Ausdruck, er bezeugt deren Realität und gewährleistet die Anwendbarkeit der Kategorien auf Anschauungen: Er führt die heterogenen sinnlichen Anschauungen vermittels der reinen Anschauungsform der Zeit unter der Einheit der Kategorie zusammen, mit Ricœur wird darauf zurückzukommen sein. 125 Insofern die Urteilskraft die Allgemeinheit der reinen Verstandes- und Vernunftbegriffe auf singuläre Anschauungen anzuwenden gestattet, ist sie das »Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken«. 126 Die bestimmende Urteilskraft subsumiert alles Besondere, d. h. jede mögliche empirische Anschauung unter die ihr entsprechende Kategorie. Ihr wird das Gesetz »a priori vorgezeichnet«, d. h. sie fügt sich den Gesetzen, die der Verstand vorgibt – »sie hat also nicht nötig, für sich selbst auf ein Gesetz zu den-

Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 133/B 171. Vgl. Kap. 4.3.4. 126 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790] (Werkausgabe, Bd. 10), hrsg. von Wilhelm Weischedel. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1974, A XXIII/B XXV. 124 125

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ken, um das Besondere in der Natur dem Allgemeinen unterordnen zu können«. 127 Die Natur wie sie uns erscheint, ist Kant zufolge stets ein geordneter nach den Verstandeskategorien strukturierter Zusammenhang. Die Kategorien des Verstandes stellen die Natur nun zwar als einen objektiven, nach Gesetzen geordneten Zusammenhang vor. Allein auf der Grundlage von Naturgesetzen kann die Natur jedoch nicht als ein Gesamtzusammenhang vorgestellt und erfahren werden. 128 Die einzelnen Naturgesetze als Gesetze des Verstandes lassen keine größeren Zusammenhänge erkennen als die, die die Strukturen der Kategorien je für sich implizieren und allenfalls in ihrer Verweisung aufeinander ausbilden. So nehmen wir z. B. aufgrund der Kategorie der Kausalität Ursache-Wirkungs-Verhältnisse wahr, auf Grundlage dessen wir in der Natur Kausalreihen beobachten. Eine Natur jedoch, die alle Kausalreihen gleichermaßen unter sich zu begreifen imstande ist, lässt sich allein aufgrund der Verbindung einzelner Kausalreihen – und damit allein aufgrund der Leistung des Verstandes – nicht vorstellen. Die Möglichkeit, sich eine solche höhere Einheit dennoch bewusst zu machen, bietet nicht die bestimmende, sondern die reflektierende Urteilskraft. Ihr kommt die Aufgabe zu, die kategorial bestimmten gesetzlichen Zusammenhänge zu einer höheren Einheit zusammenzuführen. Im Unterschied zur bestimmenden Urteilskraft, die den Regeln des Verstandes folgt und die Natur in ihrer Objektivität bestimmt, kann die reflektierende Urteilskraft ihr Prinzip weder »anderwärts hernehmen (weil sie sonst bestimmende Urteilskraft sein würde)«, noch kann sie ihr Prinzip »der Natur vorschreiben«. Der reflektierenden Urteilskraft ist kein Gesetz vorgegeben, unter das sie Anschauungen subsumiert, ihre Funktion besteht vielmehr darin, zu einem gegebenen Besonderen das Allgemeine, »die Regel, das Prinzip, das Gesetz«, allererst zu finden. 129 Das Prinzip, das die reflektierende Urteilskraft im Zuge der Erkenntnis nach reinen Vernunfterkenntnissen nicht anderswoher nehmen kann, gibt sie sich selbst. Die Urteilskraft ist nicht nur das Ver-

Ebd., A XXIV/B XXVI. Vgl. Immanuel Kant: Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Kritik der Urteilskraft [1790] (Werkausgabe, Bd. 10), hrsg. von Wilhelm Weischedel. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1974, S. 7–68, hier S. 16, 21 f. 129 Kant: Kritik der Urteilskraft, A XXIV–XXV/B XXVI–XXVII. 127 128

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mögen, »das Besondere unter dem Allgemeinen (dessen Begriff gegeben ist) zu subsumieren, sondern auch umgekehrt, zu dem Besonderen das Allgemeine zu finden«. 130 Das Prinzip, das diesem Verfahren zugrunde liegt, ist das der Analogie: Die reflektierende Urteilskraft betrachtet die Verstandeserkenntnisse, als ob ein Verstand diese zu einer Einheit zusammengeführt hätte. 131 Dieses Prinzip liegt dem von Kant sogenannten Verfahren der Symbolisierung zugrunde. Im Zuge der Symbolisierung wendet die reflektierende Urteilskraft die Regel, die sie als bestimmende im Zuge des Verfahrens der Schematisierung anwendet, »nach einer bloßen Analogie« auf das Verhältnis von den reinen Verstandes- zu den reinen Vernunftbegriffen an. 132 Es ist ihr so möglich, die Gesetze, die der Verstand vorgibt, zu einer Einheit zusammenzuführen, um so z. B. die Natur über die Zusammenhänge der Verstandeskategorien hinaus als einen Gesamtzusammenhang vorstellen zu können. Auf Grundlage der Analogie wendet die Urteilskraft erstens »den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung an, und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erste nur das Symbol ist«. Auf dieses Verfahren der Symbolisierung sowie die Frage nach dem Status der reinen Vernunftbegriffe im Kontext der kantischen Erkenntnistheorie kommt es mit Blick auf Blumenbergs Verständnis von Metaphern an. Symbole sind »Ausdrücke für Begriffe«, sie bieten keine direkte Anschauung. Da sie auf das Prinzip der Analogie zurückgehen, ermöglichen sie jedoch eine indirekte Versinnlichung der reinen Verstandesbegriffe: Mittels einer Analogie, d. h. der »Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann«, wird den reinen Vernunftbegriffen eine Regel unterlegt, die im Fall empirischer Erkenntnis das Schema, im Fall reiner Verstandeserkenntnis der Schematismus beibringt. 133 Kant: Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, S. 22. Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, A XXV/B XXVII. 132 Ebd., A 252 (Anm.)/B 256. »[D]a einem Begriffe, den nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche unterlegt wird, mit welcher das Verfahren der Urteilskraft demjenigen, was sie im Schematisieren beobachtet, bloß analogisch, d. i. mit ihm bloß der Regel dieses Verfahrens, nicht der Anschauung selbst, mithin bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalte nach, übereinkommt.« (Ebd., A 251/B 254) 133 Kant: Kritik der Urteilskraft, A 253 f./B 256 f. 130 131

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Geht die Urteilskraft auf die Bestimmung der Natur, dann folgt sie darin den objektiven Prinzipien des Verstandes, als reflektierende Urteilskraft hingegen bringt sie diese in Übereinstimmung mit einem subjektiven Prinzip, das sich in der objektiven Natur nicht findet und das folglich auch nicht den Kategorien des Verstandes zugehört: mit dem Prinzip der Zweckmäßigkeit. Die reflektierende Urteilskraft nutzt den Vernunftbegriff des Zwecks bzw. Endzwecks und überträgt diesen auf die nach Verstandesgesetzen bestimmte Natur. In dieser Übertragungsleistung liegt die Zweckmäßigkeit als Prinzip der reflektierenden Urteilskraft begründet, das es der reflektierenden Urteilskraft ermöglicht, die objektive Natur nicht lediglich, wie Kant sagt, »mechanisch«, d. h. nach Naturgesetzen, zu erklären, sondern sie zugleich subjektiven Prinzipien der Reflexion »der Beurteilung desselben Gegenstandes« zu unterwerfen; die Erklärung der Natur ist dann »technisch«. 134 Die Zweckmäßigkeit als ein subjektives Prinzip stellt dort Einheit her, wo die Natur nach objektiven Gesetzen erfasst eine solche nicht erkennen lässt; diese Einheit bildet ein Allgemeines, das die gesetzlichen Zusammenhänge in ihrer Pluralität und Heterogenität überhaupt erst verständlich macht. Ohne diese Einheit blieben die Gesetze unverbunden nebeneinander stehen. Die reflektierende Urteilskraft sucht zu dem Besonderen das Allgemeine, supponiert dem Besonderen dieses Allgemeine und stiftet dadurch eine Einheit, die das Besondere unter sich befasst. Die reflektierende Urteilskraft zeigt sich in zwei verschiedenen Ausprägungen: als ästhetische sowie als teleologische Urteilskraft. Im Unterschied zur ästhetischen Urteilskraft unterlegt die teleologische Urteilskraft der Natur eine reale, d. h. eine objektive, nicht bloß subjektive Zweckmäßigkeit und stellt die kausalen Zusammenhänge der Naturgesetze in einem einheitlichen Gesamtzusammenhang vor, als ob diese innerhalb dieses Zusammenhangs einem Zweck folgten, anders ausgedrückt: Sie setzt in diesem Fall a priori eine Einheit voraus, die die Natur als ein nach Zwecken geordnetes Ganzes betrachtet, auf die sie die einzelnen Naturgesetze hin orientiert. 135 Ihre regulative Funktion besteht darin, die theoretische Erkenntnis in eine systematische Ordnung einzugliedern, ohne der Natur im Zuge dessen ein Gesetz vorzuschreiben; sie gibt sich selbst das Gesetz und betrachtet die Naturdinge als ob diese diesem Gesetz folgten. 134 135

Kant: Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, S. 31. Vgl. ebd., S. 46–51 sowie Kant: Kritik der Urteilskraft, A 294–A 300/B 298–B 304.

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Das Prinzip der ästhetischen Urteilskraft folgt derselben Struktur, beurteilt Erscheinungen jedoch nach dem Prinzip der subjektiven Zweckmäßigkeit, ihr Urteil ist ästhetisch. Sie affiziert das Subjekt im Zuge der Versinnlichung auf Grundlage des Prinzips der Analogie, d. h. symbolisch; mittels Symbolen supponiert sie a priori eine Einheit, die das Empfinden des Subjekts nach einer Regel leitet. Das ästhetische Urteil ist nicht Erkenntnis eines Objekts durch einen Begriff, sondern Erkenntnis nach ebendieser Regel, durch die sie die Einbildungskraft und den Verstand in Übereinstimmung bringt und dadurch z. B. die Erkenntnis des Schönen ermöglicht. 136 In beiden Fällen, sowohl in Hinblick auf die objektive als auch in Hinblick auf die subjektive Zweckmäßigkeit, geht »die besondere Vorstellung eines Ganzen […] der Möglichkeit der Teile« vorher. 137 Das Ganze ist »eine bloße Idee«, die nicht dazu dient, die Dinge in ihrer Objektivität naturgesetzlich zu bestimmen, sondern dazu, über die einzelnen Dinge als Teile eines Ganzen reflektieren zu können. Ohne diese Supposition wären die einzelnen Teile nicht als Teile eines Ganzen zu erkennen und blieben in ihrer Heterogenität zusammenhangslos nebeneinander stehen. Das Ganze stiftet Orientierung für die Teile, die es unter sich befasst. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass wir Kant zufolge dort ganzheitliche Zusammenhänge herstellen, wo die Natur zwar den Gesetzen unseres Verstandes folgt, aufgrund dessen aber gerade keinen Gesamtzusammenhang erkennen lässt. Folgen wir Kants transzendentalem Idealismus, dann haben wir keine Einsicht in die Natur an sich, sondern legen die Gesetze, denen die Natur folgt, selbst in diese hinein. Was uns ohne die Gesetze des Verstandes als bloß zufällig erscheinen würde, bringt der Verstand in eine gesetzmäßige Ordnung und dieser gesetzlich strukturierte Gesamtzusammenhang lässt keine Lücken: Die Natur macht keine Sprünge, wie Kant sagt. 138

Vgl. Kant: Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, S. 37 f. Ebd., S. 50. 138 Vgl. Kant: Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, S. 23. Diese Formel findet sich bereits bei den Eleaten sowie bei Aristoteles. Mit der Neuzeit wird die Formel natura no facit saltus zu einem paradigmatischen Prinzip in der Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie (vgl. Gunter Scholtz: Sprung [Art.], in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9: Se–Sp, hrsg. von Joachim Ritter † und Karlfried Gründer in Verbindung mit Günther Bien, Ulrich Dierse, Gottfried Gabriel, Wilhelm Goerdt et al. Schwabe & Co.: Basel 1995, Sp. 1541–1550). 136 137

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Hans Blumenberg: Gelebte Geschichte

Veränderungen in der Natur vollziehen sich nicht plötzlich und diskontinuierlich, sprunghaft, sondern kontinuierlich. Die Natur bildet einen lückenlosen Kausalzusammenhang, der als Gesamtzusammenhang jedoch erst über das Verfahren der reflektierenden Urteilskraft hergestellt wird. Dieses Verfahren kulminiert bei Kant in der Formel von der Gesetzmäßigkeit des Zufälligen. Was ohne diese Gesetzmäßigkeit für uns den Eindruck bloßer Zufälligkeit erwecken würde, wird gesetzlich überformt und steht dadurch schon immer in geordneten Zusammenhängen – wir sind es, die dem bloß Zufälligen diese Gesetzmäßigkeit auferlegen. Wie bereits angedeutet, beurteilen wir die Natur Kant zufolge als Gesamtzusammenhang technisch, nicht mechanisch. Vor diesem Hintergrund wird Blumenberg die kantische Formel von der Gesetzmäßigkeit des Zufälligen zum Programm seiner Poetik erheben, die er über die historischen Wirklichkeitsbegriffe entwickelt. 139 Über die Darstellung von Blumenbergs Wirklichkeitsbegriffen kann zugleich aufgezeigt werden, wie es zu dieser Ausgangslage bei Kant überhaupt hat kommen können: dass wir auf dem Boden des Zufälligen nach Gesetzmäßigkeiten suchen. Es zeichnet sich damit bereits das Problem der Kontingenz ab, das die vorliegende Untersuchung zu weiten Teilen bestimmt; es wird im Folgenden ausführlich darauf einzugehen sein. An dieser Stelle ist mit Blick auf Blumenberg zunächst zusätzlich das von Kant vorgestellte Prinzip der symbolischen Versinnlichung von Interesse sowie die Frage der Orientierung, die das Ganze mit Blick auf die unter ihm befassten Teile leistet. Blumenberg sieht in dieser Funktion die absolute Metapher am Werk. Um zu veranschaulichen, dass das Verfahren der Symbolisierung auf das Prinzip der Analogie zurückgeht, greift Kant auf das Beispiel der Analogie zwischen einem monarchischen Staat und dessen symbolischer Darstellung in Form einer Maschine, in diesem Fall einer mechanischen Handmühle zurück. Diese Darstellung eines Staates als Handmühle, so Kant, steht für die despotische Herrschaft eines einzigen Willens. Zwischen einem absolutistischen Staat und einer Handmühle selbst besteht zwar keine Ähnlichkeit, jedoch »zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren«. 140 Der absolutistische Staat und die Handmühle lassen sich aufgrund der Ähnlichkeit ihrer Regel in Bezug zueinander setzen, nicht 139 140

Vgl. Kap. 3.4. und 3.5. Kant: Kritik der Urteilskraft, A 253/B 256.

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Vom Symbolbegriff Kants zur absoluten Metapher Blumenbergs

aufgrund ihrer äußeren Erscheinung. Auf eben diese Regel lenkt die reflektierende Urteilskraft den Blick. Was Kant als Symbol bezeichnet, ist für Blumenberg nichts anderes als die Metapher, was Blumenberg als absolute Metapher ausweist, gleicht ihrer Funktion nach der Funktion, die in der kantischen Erkenntnistheorie die Vernunftideen übernehmen: Diese Ideen dienen dem Menschen zur Erkenntnis in praktischer oder theoretischer Absicht, sie dienen als praktische oder »regulative Prinzipien«, d. h. sie leiten das praktische Verhalten des Menschen und geben noch dem theoretischen Erkennen eine Richtung, sie stiften Orientierung. 141 In dieser orientierenden Funktion sieht Blumenberg Metaphern wirken. Um diese Funktion herauszuarbeiten, führt der Weg über Blumenbergs Abgrenzung gegenüber der sogenannten Substitutionstheorie der Metapher, die sich im Zuge der Rezeption der aristotelischen Rhetorik als eine klassische Position im Kontext der Metapherntheorien etabliert hat. Die Substitutionstheorie sieht in Metaphern lediglich ein schmückendes Beiwerk der Sprache: Metaphern sind bloßer Zierrat, sie ersetzen und bebildern, was sich anders auch präziser ausdrücken und auf den Begriff bringen lässt. Sie sind Mittel der Technik der Rhetorik. Da die Rhetorik jedoch kein Interesse an der Wahrheit zeigt, sondern ein Rhetor lediglich seine Zuhörer mittels schöner Worte und einer bildhaften Sprache von seiner Meinung zu überzeugen sucht und sie darin auch noch von der Wahrheit abbringt, scheinen Metaphern erkenntnistheoretisch irrelevant zu sein. Sie sind optional und können jederzeit durch Begriffe ersetzt werden. Die Grundlagen für die skizzierte Substitutionstheorie der Metapher liefert bereits Aristoteles. Aristoteles definiert die Metapher als »Übertragung eines Wortes das (eigentlich) der Name für etwas anderes ist, entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung oder von einer Art auf eine (andere) Art oder gemäß einer Analogie«. 142 Abseits der übrigen Beispiele, die Aristoteles anführt, ist das folgende vielleicht am eingängigsten: »Was das Alter in bezug auf das Leben ist, das ist der Abend in Bezug auf den Tag. Man wird also den Abend das Alter des Tages nennen, oder, wie Empedokles, das Alter den Lebensabend oder Lebensuntergang.« 143 Aristoteles legt die Metapher damit auf die Übertragung eines einzelnen Wor141 142 143

Ebd., A IV/B IV; vgl. ebd., A XI–A XXXIV/B XI–B XXVI. Aristoteles: Poetik, 1457b6–9. Ebd., 1457b22–25.

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tes fest: Es wird ein Wort durch ein anderes ersetzt, an die Stelle des Alters rückt der Lebensabend. 144 Ebendiese Bewegung der Übertragung beschreibt laut Blumenberg auch Kant, nur führt Kant diese Bewegung auf Symbole zurück, die doch eigentlich, so Blumenberg, Metaphern darstellen. Mit Blick auf Quintilians pratum ridet, die lachende Wiese, die Blumenberg als Beispiel nennt, verhält es sich, so Blumenberg, nicht anders. 145 An die Stelle der sommerlich blühenden Pracht auf einer Wiese rückt das menschliche Lachen und suggeriert: Die Wiese lacht und versinnbildlicht metaphorisch den Frühling. 146 144 Die Substitutionstheorie der Metapher wird in der Rezeption oftmals Aristoteles zugeschrieben. Rolf diskutiert diese Rezeption und macht darauf aufmerksam, dass es sich bei der aristotelischen Metapherntheorie gerade nicht um eine Substitutionstheorie handelt (vgl. Rolf: Metapherntheorien, S. 22–34, 93–126; vgl. zur Substitutionstheorie sowie zu dessen Rezeption auch: Harald Weinrich: Metapher [Art.], in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5: L–Mn, hrsg. von Joachim Ritter † und Karlfried Gründer in Verbindung mit Günther Bien, Ulrich Dierse, Wilhelm Goerdt et al. Schwabe & Co.: Basel 1980, Sp. 1179–1186). Ricœur zufolge legt Aristoteles durchaus eine Substitutionstheorie der Metapher nahe, geht zugleich jedoch darüber hinaus; mit Ricœur wird die Diskussion des aristotelischen Begriffs der Metapher noch einmal aufzunehmen und über eine Substitutionstheorie hinauszuführen sein (vgl. Kap. 4.2.). Eine einschlägige Bestimmung der Theorie der Metapher im Sinne der Substitutionstheorie findet sich in der Dissertationsschrift Sinnreichs: »Jede Theorie der Metapher stimmt mit der des Aristoteles darin überein, daß die Metapher ein übertragenes Wort ist. Entgegengesetztenfalls liefe sie auch Gefahr, von etwas anderem zu sprechen als von der Metapher, denn Metapher heißt einfach übertragenes Wort (metaphorá). […] Im Unterschied zum übertragenen Wort existiert das eigentliche Wort. Und das Verhältnis beider zueinander ist von jeher das ›Kreuz‹ der Theorie der Metapher gewesen.« (Johannes Sinnreich: Die Aristotelische Theorie der Metapher. Ein Versuch ihrer Rekonstruktion. Uni-Druck: München 1969, S. XXVI) Mende bezeichnet die Substitutionstheorie auch als Worttheorie und stellt diese einer Satztheorie der Metapher gegenüber, um deutlich zu machen, dass die Metapher stets einen Kontext einbezieht, d. h. in diesem Fall einen Satz. Sie ist damit nicht lediglich die Übertragung eines Wortes (vgl. Mende: Metapher – Zwischen Metaphysik und Archäologie, S. 174 f., 183–185). Diese Unterscheidung in eine Wortund eine Satztheorie entstammt Metapherntheorien aus dem Bereich der Linguistik. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird die Unterscheidung zwischen einer Substitutions- und einer Prädikationstheorie der Metapher getroffen, um deutlich zu machen, dass die Metapher nicht leidglich Sätze als Kontexte einbezieht. Der Kontext, auf den Metaphern sich beziehen, ist vielmehr immer schon die Wirklichkeit. Diese Grundannahme verweist bereits auf die ontologische Funktion der Metapher, auf die es mit Ricœur ankommen wird. 145 Vgl. Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 60. 146 »[W]enn man z. B. eine Wiese ›lachend‹ nennt, so heißt das nur: es besteht eine Verhältnisgleichheit zwischen einer Wiese und der Pracht ihrer Blumen einerseits

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Anhand der genannten Beispiele – des despotischen Staates als mechanische Handmühle und der lachenden Wiese – lässt sich Blumenberg zufolge leicht erkennen, »daß der Ausdruck ›symbolisch‹ bei Kant nichts anderes bedeutet als ›metaphorisch‹«, er fügt jedoch hinzu: »freilich mit der Verschärfung in Richtung auf die absolute Metapher«. 147 Mit dieser Verschärfung geht Blumenberg über die Substitutionstheorie der Metapher hinaus. Die Möglichkeit hierzu liegt bereits in der theoretischen Anlage des kantischen Symbolbegriffs begründet, an die Blumenberg anschließt. Die objektive Realität der Begriffe erweist sich für Kant an deren Versinnlichung. 148 In Bezug auf die reinen Vernunftbegriffe erfolgt diese symbolisch, »da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche unterlegt wird«. 149 Die reflektierende Urteilskraft stellt nicht Anschaulichkeit her, sondern trägt, was sie »im Schematisieren beobachtet«, der Vernunft zu und dies »bloß analogisch, d. i. […] bloß der Regel dieses Verfahrens, nicht der Anschauung selbst, mithin bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalte nach«. 150 Sie bringt die reinen Vernunftbegriffe in Übereinstimmung mit den Formen der Regeln und Prinzipien des Verstandes. Die reinen Vernunftbegriffe leiten und orientieren zwar das theoretische und praktische Verhalten des Menschen, im Hintergrund stehen jedoch die Symbole, die die Regeln und Strukturen ausbilden, in denen sich die Vermittlungsleistung zwischen Verstandes- und Vernunftbegriff spiegelt. Die symbolischen Vermittlungsleistungen strukturieren das Erfahrungsfeld menschlichen Handelns, es konstituiert sich an diesem Punkt die von Blumenberg sogenannte »Substruktur des Denkens«. 151 Von Bedeutung ist dieser Aspekt insofern, als dass Metaphern selbst keine Bilder darstellen, die im Geiste vor Augen stehen und und dem Menschen und seinem Lachen andererseits; es besteht also eine Ähnlichkeit des Verhältnisses.« (Thomas von Aquin: Summa Theologiae, übers. von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, hrsg. vom Katholischen Akademikerverband, Bd. 1: Frage 1–13. Gottes Dasein und Wesen. Anton Pustet: Salzburg 21933, S. 278) 147 Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 58. 148 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, A 251/B 255. 149 Ebd. 150 Ebd., A 251 f./B 255; vgl. hierzu Stephan Otto: Die Wiederholung und die Bilder. Zur Philosophie des Erinnerungsbewußtseins. Felix Meiner: Hamburg 2007, S. 110– 113. 151 Blumenberg: Paradigmen, S. 13.

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angeschaut werden. Metaphern sind insofern Bilder, als dass sie einen Ordnungsrahmen stiften, innerhalb dessen sich der menschliche Blick, das menschliche Verhalten zu orientieren imstande ist. Metaphern leiten die Anschauung, sie stellen dadurch mittelbar Anschauung her, indem sie Teil und Ganzes aufeinander beziehen. Das Bild ist seinerseits eine Metapher für die Metapher, es stiftet Zusammenhänge und gibt diesen, metaphorisch gesprochen, einen Rahmen. Umso deutlicher tritt diese Funktion hervor, wenn man berücksichtigt, dass Metaphern laut Blumenberg auf der Ausdrucksebene nicht einmal in Erscheinung zu treten brauchen, wie im Fall von Hintergrundmetaphern. 152 152 Zu Blumenbergs Begriff der Hintergrundmetapher vgl. Kap. 3.3.3. Die hier vorgeschlagene Bestimmung des Bildes als eine Metapher für die Metapher nähert sich der Auffassung Konersmanns, die Metapher als Bild anzuerkennen (vgl. Ralf Konersmann: Vorwort: Figuratives Wissen, in: ders.: (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern [2007]. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 32011, S. 7– 20, hier S. 14–16 sowie Konersmann: Metapher [Art.], S. 265 f.). Gehring hat gewichtige Einwände wider die Annahme vorgebracht, die Metapher sei ein Bild. Nicht ganz zu Unrecht warnt Gehring von einem inflationären Metaphernbegriff, der die Anschaulichkeit zum alleinigen Merkmal der Metapher erhebt: »Mit etwas Nachdenken weist noch der abstrakteste Terminus spätestens in der Wortwurzel auf Anschauliches zurück. Rede ich von ›Spaltung‹, so mag man zwar feststellen, dass der Ausdruck auf ›Spalt‹ verweist und man Spalten sehen kann. Das aber macht aus der ›Spaltung‹ noch keine Metapher.« (Petra Gehring: Metapherntheoretischer Visualismus. Ist die Metapher ein »Bild«?, in: Matthias Kroß und Rüdiger Zill (Hrsg.): Metapherngeschichten. Perspektiven einer Theorie der Unbegrifflichkeit. Parerga: Berlin 2011, S. 15–31, hier S. 21) Gehrings Warnung betrifft m. E. maßgeblich die oben angesprochene Wortbzw. Substitutionstheorie der Metapher (vgl. Anm. 144, S. 166), insofern Gehring die Gleichsetzung von Bild und Metapher dort kritisch sieht, wo die Metapher als Bild am Wort festgemacht wird; im Gegenzug, so Gehring, ist die Metapher als Funktion in einem Kontext zu bestimmen, d. h. wenngleich Metaphern als einzelne Worte realisiert werden können, dann darf doch nicht der Kontext vergessen werden, in dem diese stehen – solche »Ent-Kontextualisierungen« (ebd., S. 23) führten zu einem metapherntheoretischen Visualismus, der dann das Primat und die Evidenz der Anschaulichkeit der Metapher behauptet. Der Harmonisierung der Metapher in einem Verbund von Wort und Bild setzt Gehring die Funktion der Störung, den »Bruch im Normalverstehen« (ebd., S. 24) entgegen, den die Metapher herbeiführt. Dieser irritierende Effekt, der Gehring zufolge nur innerhalb eines Kontextes stattfinden kann, sorgt dafür, dass Metaphern selbst nicht in ihren Bedeutungen feststellen lassen. Wenngleich in der vorliegenden Untersuchung dennoch an dem Bild als Metapher für die Metapher festgehalten wird, so ist dies zum einen Ricœur und Blumenberg selbst geschuldet – Ricœur spricht explizit von der Metapher als einer Funktion, die uns die Dinge in einem bestimmten Licht sehen lässt (vgl. Kap. 4.2.), Blumenberg zufolge ist die Metapher durchaus eine Funktion bildhaften Denkens. Zum anderen scheint mir die in der vorliegenden Untersuchung vorgenommene Zusammenfüh-

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Vom Symbolbegriff Kants zur absoluten Metapher Blumenbergs

Angesichts dessen spricht Blumenberg auch von der Modellfunktion, die Metaphern übernehmen: »Die Idee gibt nicht eine Bestimmung von Gegenständen, sondern unseres Verhaltens zu Gegenständen.« 153 An dem Modell der Metapher kann, wie es Kant mit Blick auf das Symbol beschreibt, in Orientierung auf die Vernunftbegriffe »eine Regel der Reflexion gewonnen werden«. 154 Die reinen Vernunftbegriffe Kants sind Orientierungspunkte – vor diesem Hintergrund stehen absolute Metaphern im Sinne Blumenbergs in »pragmatischer Funktion«. 155 Diese pragmatische Funktion markiert die deutlichste Abwendung von der Substitutionstheorie der Meta-

rung von Bild und Metapher der Kritik Gehrings nicht zu widersprechen, insofern Metaphern Zusammenhänge, d. h. Kontexte stiften, innerhalb derer die Anschauung geleitet wird, sie stiften dadurch Orientierung. Zugleich ermöglichen sie es, darauf wird es mit Ricœur ankommen, Teil und Ganzes, Identität und Differenz zusammen zu denken, d. h. beide in einen Zusammenhang zu bringen und innerhalb dieses Zusammenhangs zu überblicken. Die zentrale Funktion der Metapher liegt in der Bildlichkeit und d. h., dass die Metapher stets den Kontext einbezieht, in dem sie steht und den sie im Fall der absoluten Metapher Blumenbergs selbst aufspannt – auch Ricœurs Begriff der lebendigen Metapher legt nahe, dass die Metapher selbst den Kontext festlegt (vgl. Kap. 4.2.). Die Metapher des Bildes steht damit für den Kontext, den die Metapher stets einbezieht bzw. den sie allererst selbst stiftet. Sie dient, metaphorisch gesprochen, als Rahmen, über den sie Teil und Ganzes, Identität und Differenz in einen überschaubaren Gesamtzusammenhang überführt und miteinander vermittelt. Mit Blick auf die Annahme der Bildlichkeit der Metapher unterscheidet sich die vorliegende Untersuchung von Gehrings Kritik – eine Unterscheidung, die jedoch eher an den Metaphern und Begriffen festzumachen ist als an der Sache selbst. Haverkamp verweist darauf, dass die Bildlichkeit der Metapher maßgeblich in Ricœurs Begriff der lebendigen Metapher (vgl. hierzu Kap. 4.2.) zu finden ist, wenngleich Haverkamp der Zuschreibung, die Metapher sei ein Bild, nicht minder kritisch als Gehring gegenübersteht (vgl. Anselm Haverkamp: Metapher. Die Ästhetik in der Rhetorik. Bilanz eines exemplarischen Begriffs. Wilhelm Fink: München 2007, S. 99–102; zum Thema vgl. auch Bernhard Asmuth: Seit wann gilt die Metapher als Bild? Zur Geschichte der Begriffe »Bild« und »Bildlichkeit« und ihrer gattungspoetischen Verwendung, in: Gert Ueding (Hrsg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften (Rhetorik-Forschungen, Bd. 1). Max Niemeyer: Tübingen 1999, S. 299–309). 153 Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 58. 154 Blumenberg: Paradigmen, S. 12. Kaulbach verweist explizit auf die Modellfunktion des kantischen Symbolbegriffs (vgl. Friedrich Kaulbach: Modell I [Art.], in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6: Mo–O, hrsg. von Joachim Ritter † und Karlfried Gründer in Verbindung mit Günther Bien, Ulrich Dierse, Wilhelm Goerdt et al. Schwabe & Co.: Basel, Stuttgart 1984, Sp. 45–47 sowie Friedrich Kaulbach: Schema, Bild und Modell nach den Voraussetzungen des kantischen Denkens, in: Studium Generale 18 (1965) 7, S. 464–475). 155 Blumenberg: Paradigmen, S. 12.

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pher: An die Stelle der Funktion der Substitution rückt die Funktion der Prädikation. Im Kontext der kantischen Vernunftideen eröffnet die »Idealität des reinen Vernunftbegriffs« Blumenberg zufolge einen Kontext, in dem die Symbole als Prädikate fungieren. Die Symbole sind Teil eines »Prädikatensystem[s]«, in dem die Idealität des reinen Vernunftbegriffs als Bezugspol fungiert, auf den die Symbole verweisen – dieser Bezugspol wird durch den Prozess der Symbolisierung und damit über den Kontext des Prädikatensystems überhaupt erst greifbar. 156 In Blumenbergs Modifikation und Adaption des kantischen Symbolbegriffs nehmen absolute Metaphern die Position der reinen Vernunftbegriffe ein. Dass die reinen Vernunftbegriffe der sinnlichen Anschauung entbehren, ist für Blumenberg ein Zeichen für eine extrem schwache Determination des Kontextes, in dem die Ideen stehen, d. h. die Ideen lassen »›Leerstellen für Besetzbarkeiten‹«. 157 Durch diese schwache Kontextdetermination können Metaphern in die Position rücken, die bei Kant die reinen Vernunftbegriffe einnehmen, sie werden dann zu absoluten Metaphern. Absolute Metaphern entstehen aus der Dynamik, die sich innerhalb eines Prädikatensystems vollzieht. Als »Prädikat eines unbestimmten Subjekts«, so Blumenberg, können Metaphern »in die Funktion des Subjekts ›hineinwachsen‹«. 158 An die Stelle des Subjekts gerückt ermangeln sie nun selbst der Anschaulichkeit und müssen ihrerseits mittels Metaphern adressiert, d. h. prädiziert werden; im Gegenzug spannen sie ein Prädikatensystem auf und übernehmen dadurch besagte orientierende Funktion; absolute Metaphern sind das Ganze, das den Teilen, d. h. den weiteren Mitteln unserer Erkenntnis: weiteren Metaphern, Symbolen und Begriffen, Orientierung bietet. Werden diese in den Blick genommen, dann werden mit ihnen zugleich die orientierenden Strukturen, die Metaphern ausbilden, in die Reflexion einbezogen. 159 Absolute Metaphern sind Blumenberg zufolge resistent »gegen ihre Auflösung in homogene, dem Kontext widerstandslos integrierte

Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 65. Ebd., S. 62. 158 Ebd., S. 65. 159 Rolf spricht mit Blick auf Blumenbergs Metaphorologie deshalb von einer Epistemologietheorie der Metapher (vgl. Rolf: Metapherntheorien, S. 243–258). 156 157

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Aussagemittel«. Sie sind Metaphern, »deren Kontextresistenz unüberwindbar erscheint« und das bedeutet im Umkehrschluss, dass sie nur über die Kontexte greifbar sind, in denen sie stehen, denn die absolute Metapher ist ein »Subjekt vom Typus der hochgradigen Abstrakta«. 160 Dass absolute Metaphern sich für Blumenberg nie isoliert, sondern immer nur über Kontexte, zumal historische Kontexte,

160 Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 65. »Je allgemeiner der Gegenstand ist, von dem wir sprechen, umso weniger vollziehen wir dieses Sprechen dadurch, daß wir den Gegenstand selbst zu erfassen und im Blick zu behalten suchen. Im Gegenteil: vom höchst Allgemeinen spricht es sich am besten, indem man von ihm ›absieht‹, auf etwas anderes oder das ganz andere hinsieht.« (Hans Blumenberg: Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff, in: Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 4 (1974), S. 3–10, hier S. 4) Blumenberg bezieht dieses Zitat auf den Begriff der Wirklichkeit, was sich jedoch ebenso gut auf absolute Metaphern übertragen lässt, insofern die Metapher Blumenberg zufolge dazu ermutigt, mit dem »allzu Abstrakten« einen Umgang zu finden: »Sie erschließt den Zugang zu den höchsten Abstraktionsgraden.« (Ebd.) Diese höchsten Abstraktionsgrade können als (absolute) Metaphern sowie als Begriffe konstituiert werden. Nicht alle Metaphern und Begriffe eignen sich jedoch gleichermaßen dazu, das Allgemeine anschaulich vorzustellen; für Blumenberg bilden Begriffe unter Umständen Totalitäten aus, die keine Anschauung mehr gestatten, wie z. B. die Begriffe Sein, Leben, Welt oder Geschichte. Solche Begriffe »geben zwar keine Antworten auf Fragen, nehmen sich aber so aus, als bliebe nichts zu fragen übrig« (Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 319; vgl. Hans Blumenberg: Beobachtungen an Metaphern, in: Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), S. 161–214, hier S. 168; Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 55 sowie Blumenberg: Das Sein – ein MacGuffin; vgl. hierzu auch Heidenreich: Mensch und Moderne, S. 54 sowie Stoellger: Metapher und Lebenswelt, S. 85). Konersmann verweist darauf, dass solche Begriffe aus Perspektive der Metaphorologie nicht die Aufgabe besitzen, inhaltlich zu präzisieren, was sich vielleicht ohnehin nicht präzisieren lässt. Ihre Leistung besteht vielmehr darin, »provisorisch zur Einheit zu bringen, wovon eine konkrete Anschauung und Evidenz überhaupt nicht zu gewinnen ist« (Konersmann: Kulturelle Tatsachen, S. 255). Vor dem Hintergrund der Rhetorik Blumenbergs steht die Metapher damit für »das vernünftige Arrangement mit der Vorläufigkeit der Vernunft« (Blumenberg: Anthropologische Annäherung, S. 130). Es ist darüber hinaus darauf zu verweisen, dass Blumenberg in absoluten Metaphern durchaus ein Armutszeugnis (vgl. Blumenberg: Anthropologische Annäherung, S. 130) des menschlichen Umgangs mit der Wirklichkeit sieht, insofern die Begriffsbildung auf Eindeutigkeit und Allgemeinheit tendiert und absolute Metaphern sich einer solch terminologischen Fassung gänzlich entziehen. Diese Wertung der Metapher redet jedoch keiner Deszendenztheorie das Wort, insofern die Armut der Metapher stets mit der Opulenz geistigen Schaffens zusammengedacht werden muss (vgl. Konersmann: Kulturelle Tatsachen, S. 257), denn Metaphern stoßen jene Motivationsrückhalte an, die zur Begriffsbildung geradezu auffordern – »noch die kühnsten Gedankenbewegungen […] verdanken« den Metaphern »ihre Konfiguration« (ebd.).

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Hans Blumenberg: Gelebte Geschichte

greifen lassen, macht gerade die Besonderheit seines geistes- und ideengeschichtlichen Ansatzes aus und ist für ein ideengeschichtliches Denken keine Selbstverständlichkeit. 161 Blumenberg geht jedoch noch einen Schritt weiter, insofern Metaphern nicht lediglich in Kontexten auftreten, sondern den Rahmen und Kontext vorgeben, in dem sich die europäische Geistes- und Ideengeschichte vollzieht. Blumenberg rückt die Metapher dort in die Nähe des kantischen Symbolbegriffs, wo es ihm um die Möglichkeit der Reflexion der orientierenden und handlungsleitenden Strukturen geht, die sich symbolisch respektive metaphorisch ausbilden. Innerhalb dieser orientierenden und handlungsleitenden Strukturen bewegt sich Blumenberg zufolge die europäische Geistes- und Ideengeschichte, deren Rahmen absolute Metaphern aufspannen. Die europäische Geistes- und Ideengeschichte kann folglich nicht ausschließlich als Begriffsgeschichte ausgewiesen und dargestellt werden. Die Kronzeugen historischer Entwicklung sind absolute Metaphern, in deren Prädikatensystem sich selbst noch Begriffe bewegen. Im Hintergrund der Metapher steht das Prinzip der Analogie. Dieses Prinzip wirkt jedoch im Bereich der Logik unserer Sprache und bleibt aufgrund dessen innerhalb des Rahmens, den die Substitutionstheorie der Metapher vorgibt. Die Analogie legt die Relata, die sie in Bezug zueinander setzt, als Bezugspole offen – dadurch, dass sie diese offenlegt, erscheint der eine Begriff so gut wie jeder andere, jede Metapher damit als bloße rhetorische Zugabe, die keinen Mehrwert erbringt. Dass Blumenberg und Ricœur auf die Metapher setzen, hat seinen Grund darin, dass diese über die Sprache hinaus auf die Geschichte, die Wirklichkeit und ein mögliches Selbstverständnis, mit Ricœur gesprochen die narrative Identität, verweist. Im Kontext einer Prädikationstheorie eröffnet die Metapher eine ontologische Dimension, die sich in Anlehnung an die Analogie im Kontext der Substitutionstheorie nur allzu leicht beiseitesetzen und mitsamt der Rhetorik verbannen lässt. Diese Ontologie scheint am Ende des BlumenbergKapitels bereits auf, wird jedoch erst mit Ricœur vollständig entwickelt werden können. Zunächst jedoch gilt es, Blumenbergs Hermeneutik zu entwickeln, in deren Kontext der Metapher eine zentrale Funktion zukommt.

161

Vgl. hierzu Kap. 5.

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Zur Hermeneutik: Zentrale Begriffe und Funktionen

3.3. Zur Hermeneutik: Zentrale Begriffe und Funktionen Für Blumenberg ist die Metapher mehr als bloß schmückendes Beiwerk der Sprache, nicht bloßes Mittel einer Technik der Rede, im Gegenteil: Die bildhafte und figurative Sprache fundiert unsere Terminologie. Metaphern gehören zum Grundbestand unserer Sprache und lassen sich nicht jederzeit in Begriffe übersetzen. Der »Bereich der Phantasie [ist] nicht nur als Substrat für Transformationen ins Begriffliche zu nehmen […], sondern als eine katalysatorische Sphäre, an der sich zwar ständig die Begriffswelt bereichert, aber ohne diesen fundierenden Bestand dabei umzuwandeln und aufzuzehren«. 162 Die Ebene des Figurativen und Bildhaften weiß mehr, als auf der Oberfläche der Texte bereitliegt und die Begriffe verraten. Dieses »Mehr an Aussageleistung« ist Blumenberg zufolge »immer schon in Metaphern erbracht worden«. 163 Im Folgenden gilt es deshalb, dieses Mehr an Aussageleistung in den Blick zu nehmen, denn »das Lachen einer Wiese oder eines Gefildes ist etwas anderes als das Lachen des Weltgeistes« und, so fügt Blumenberg hinzu, »es ist gar nicht so leicht zu beschreiben, worin die Differenz besteht«. 164 Gerade diese Differenz aber führt auf Blumenbergs eigenes Projekt einer Geistesund Ideengeschichte, die hermeneutisch über die Strukturen zu erschließen ist, die maßgeblich von Metaphern abgebildet werden – insofern das Mehr an Wissen und Aussageleistung »immer schon in Metaphern erbracht« wurde. 165 Im Folgenden werden die wichtigsten Begriffe und Funktionen vorgestellt, die Blumenberg zur Darstellung der europäischen Ideengeschichte heranzieht, Funktionen, die Blumenberg mitunter auch als heuristische Prinzipien bezeichnet. Die Dynamik der Geschichte des Geistes lässt sich maßgeblich anhand von absoluten Metaphern rekonstruieren, weshalb diese in einem ersten Schritt in ihrer Funktion in den Blick zu nehmen sind, die sie in historischen Kontexten übernehmen (Kap. 3.3.1.). Das Lachen des Weltgeistes kann dann nur eine Reaktion auf die Betrachtung dieser Dynamik sein, da die geschichtliche Dynamik kein übergeordnetes telos mehr erkennen lässt, sie 162 163 164 165

Blumenberg: Paradigmen, S. 11. Ebd., S. 9. Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 60. Blumenberg: Paradigmen, S. 9 (Hervorhebung nicht im Original).

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folgt gerade keinem linearen oder teleologischen Geschichtsverlauf im Ganzen. Die zentralen Begriffe und Funktionen sind aus der Beobachtung und Analyse ebendieser Dynamik herauszuarbeiten. Aus der Darstellung absoluter Metaphern ergibt sich Blumenbergs Auffassung von Paradigmen (Kap. 3.3.2.) und Epochenumbrüchen (Kap. 3.3.3.). Absolute Metaphern, Paradigmen und Epochenumbrüche – und mit letzteren die Funktion von Umbesetzungen und Hintergrundmetaphern – bilden die zentralen Funktionen über die Blumenberg sucht, die Dynamik der europäischen Geschichte des Denkens einzufangen und darzustellen. Dass absolute Metaphern sich nicht in eine feste Terminologie überführen lassen, bedeutet auf der einen Seite zunächst nur, dass das Wechselspiel zwischen Begriff und Metapher keine Auflösung in ein begrifflich systematisches Endstadium erfahren kann. Um die Geschichte auf der anderen Seite nicht vollends in der Dynamik metaphorischer Verschiebungen aufgehen zu lassen, bedarf es begrifflicher Fixierungen, die der Dynamik der Geschichte zu begegnen wissen. Den prominentesten Begriff im Kontext der Hermeneutik Blumenbergs bildet der Wirklichkeitsbegriff, von dem im Anschluss zu sprechen sein wird (Kap. 3.3.4.). Zusätzlich zu absoluten Metaphern bilden die Wirklichkeitsbegriffe übergeordnete Zusammenhänge aus. Sie etablieren eine Ordnung, die der Dynamik der Geschichte eine eigene Struktur gibt.

3.3.1. Von Fragen und Antworten: Absolute Metaphern als Kronzeugen historischer Dynamik Folgen wir Blumenberg, so führt der Nachweis absoluter Metaphern zur Inversion des Verhältnisses von Phantasie und Logos, von bildhaftem und begrifflichem Denken. Das Verhältnis zwischen Begriffen und Metaphern ist dynamisch. Metaphern können durchaus zu Begriffen werden und umgekehrt. Begriff und Metapher sehen sich stets aufeinander verwiesen. 166 Absoluten Metaphern kommt in 166 Vgl. Ralf Konersmann: Vernunftarbeit, Metaphorologie als Quelle der Historischen Semantik, in: Franz Josef Wetz und Hermann Timm (Hrsg.): Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1999, S. 121–141, S. 129. Kranz zufolge hat Blumenberg in den späteren Jahren zunehmend auf begriffsgeschichtliche Verfahren verzichten wollen und sich mit der Theorie der Unbegrifflichkeit, 1979 in Schiffbruch mit Zuschauer erschienen, ganz von diesen freizumachen versucht (vgl. Margarita Kranz: Blumenbergs Begriffsgeschichte. Vom

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Zur Hermeneutik: Zentrale Begriffe und Funktionen

diesem Verhältnis jedoch ein Sonderstatus zu, insofern sie resistent »gegenüber dem terminologischen Anspruch« sind, sie können »nicht in Begrifflichkeit aufgelöst werden«. 167 Absolute Metaphern sind »Grundbestände der philosophischen Sprache«, nicht lediglich »Restbestände«, »Rudimente auf dem Wege vom Mythos zum Logos«. 168 Der Sonderstatus absoluter Metaphern resultiert darüber hinaus aus ihrer Eigenschaft, Kontexte aufzuspannen, Prädikatensysteme, innerhalb derer sich die Begriffe und weiteren Metaphern bewegen, die unsere Wirklichkeit konstituieren. Der Kontext, den eine absoluten Metapher aufspannt, ist stets historisch situiert. Für Blumenberg steht deshalb fest: »Auch absolute Metaphern haben daher Geschichte. Sie haben Geschichte in einem radikaleren Sinn als Begriffe, denn der historische Wandel einer Metapher bringt die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein, innerhalb deren Begriffe ihre Modifikation erfahren.« 169 Geschichte, verstanden als Geistes- und Ideengeschichte, vollzieht sich maßgeblich in Metaphern. Die europäische Geschichte des Denkens ist aus Perspektive Blumenbergs eine Geschichte von Ideen und der unablässigen Rezeption dieser Ideen, eine Geschichte der Fragen, die sich dem Menschen angesichts seiner Endlichkeit stellen, und der Antwortversuche, die er Anfang und Ende aller Dienstbarkeiten, in: Cornelius Borck (Hrsg.): Hans Blumenberg beobachtet. Wissenschaft, Technik und Philosophie [2013]. Karl Alber: Freiburg, München 22014, S. 231–253). Unabhängig davon, ob Kranz’ Diagnose zutreffen mag oder nicht, bleiben Metaphern und Begriffe doch aufeinander verwiesen, selbst wenn begriffsgeschichtliche Verfahren und Nachweise nicht mehr aktiv in die Darstellung einbezogen werden sollten (das Verhältnis von Metaphorologie und Begriffsgeschichte wurde vielfach diskutiert, vgl. neben dem genannten Aufsatz von Kranz exemplarisch Dirk Mende: Vorwort: Begriffsgeschichte, Metaphorologie, Unbegrifflichkeit, in: Anselm Haverkamp und Dirk Mende (Hrsg.): Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2009, S. 7–32; Gottfried Gabriel: Kategoriale Unterscheidung und »absolute Metaphern«. Zur systematischen Bedeutung von Begriffsgeschichte und Metaphorologie, in: Anselm Haverkamp und Dirk Mende (Hrsg.): Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2009, S. 65–84; Dirk Mende: Technisierungsgeschichten. Zum Verhältnis von Begriffsgeschichte und Metaphorologie bei Hans Blumenberg, in: Anselm Haverkamp und Dirk Mende (Hrsg.): Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2009, S. 85–107). 167 Blumenberg: Paradigmen, S. 12. 168 Ebd., S. 10. 169 Ebd., S. 13.

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Hans Blumenberg: Gelebte Geschichte

unternimmt. 170 Aus diesem Verhältnis von Frage und Antwort entstehen die rhetorischen Wirkungszusammenhänge, aus denen sich die Dynamik der Geschichte der europäischen Tradition speist. Diese Dynamik rhetorischer Wirkungszusammenhänge lässt sich anhand 170 Signifikante Anhaltspunkte für Blumenbergs eigene Konzeption der europäischen Geistes- und Ideengeschichte als ein dynamisches Modell, das sich aus Fragen und Antworten ergibt, finden sich bereits in seiner Besprechung der Schriften Anneliese Maiers, die die Scholastik und Spätscholastik als Vorläufer der Neuzeit im Kontext einer Problemgeschichte behandelt. Blumenberg profiliert dort seinen eigenen Ansatz bereits kritisch gegenüber dem problemgeschichtlichen Ansatz Maiers; seine Kritik richtet sich in erster Linie gegen Maiers Tendenz zur Substanzialisierung der Probleme und deren Isolierung, die Blumenberg zufolge zu einer »doxographischen Betrachtungsweise« (Hans Blumenberg: Die Vorbereitung der Neuzeit, in: Philosophische Rundschau 9 (1961) 2/3, S. 81–133, hier S. 86) führt, so dass die entsprechenden Lösungsversuche ihrer Funktion beraubt werden und »die innere Dynamik der Probleme allein sozusagen geschichtslos zu bleiben scheint« (ebd., S. 85). Goldstein verweist darauf, dass im Hintergrund von Blumenbergs Abweisung substanzieller Konstanten in der Geschichte Ernst Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff von 1910 steht (vgl. Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik [1910], in: ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 6, hrsg. von Birgit Recki. Felix Meiner: Hamburg 2000). – entscheidend mit Blick auf Blumenberg ist, dass Cassirer die Entwicklung der Geschichte nicht auf substanzielle Annahmen zurückführt, sondern auf Funktionsbegriffe (vgl. Jürgen Goldstein: Selbstbehauptung [Art.], in: Robert Buch und Daniel Weidner (Hrsg.): Blumenberg lesen. Ein Glossar. Suhrkamp: Berlin 2014, S. 260–275, hier S. 261). Kopp-Oberstebrink zufolge setzt sich Blumenberg mit seiner Kritik am Substanzialismus des problemgeschichtlichen Ansatzes von Maier erstens von »problemgeschichtlichen Modellen in totum ab« (Herbert Kopp-Oberstebrink: Umbesetzung [Art.], in: Robert Buch und Daniel Weidner (Hrsg.): Blumenberg lesen. Ein Glossar. Suhrkamp: Berlin 2014, S. 350–362, hier S. 354) und doch, so Kopp-Oberstebrinks These, schleichen sich in Blumenbergs Frage-Antwort-Modell zweitens subkutan »substanzialisierende Tendenzen« (ebd., S. 361) ein, insofern die Fragen in Blumenbergs Modell als beharrendes und die Dynamik stabilisierendes Moment durchscheinen (vgl. ebd., S. 360 f.). Zu präzisieren ist an dieser Stelle erstens, dass Blumenberg substanzialisierende und verabsolutierende Ansätze in totum ablehnt – Blumenbergs Philosophie ist, so Marquard, »principiis obsta!«, »philosophischer Antiabsolutismus« (Odo Marquard: Laudatio auf Hans Blumenberg, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1980, Heidelberg 1981, S. 53–56, hier S. 54; vgl. hierzu auch Marquard: Entlastung vom Absoluten) –, nicht jedoch zwangsläufig auch problemgeschichtliche Ansätze. Blumenbergs hermeneutischer Zugriff geht im Zuge der Interpretation historischer Zeugnisse zugleich über diese Zeugnisse hinaus, um deren geschichtliche Hintergründe, die Implikationen des jeweiligen Wirklichkeitsverständnisses und die Substrukturen des Denkens aufzudecken. Unter dieser Zeugnisschicht legt die Hermeneutik, wie Blumenberg selbst deutlich macht, Probleme frei (vgl. Hans Blumenberg: Epochenschwelle und Rezeption [Sammelbesprechung zu André-Jean Festugière, Hans Jonas, Carl Schneider und Martin Wer-

176 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

Zur Hermeneutik: Zentrale Begriffe und Funktionen

von Metaphern und Begriffen ablesen. Sie vermitteln zwischen Lebenswelt und Wirklichkeit und tragen den Zusammenhang aus Fragen und Antworten, d. h. die rhetorischen Wirkungszusammenhänge. Es wird sogleich auf die Funktion absoluter Metaphern zuner], in: Philosophische Rundschau 6 (1958), S. 94–120, hier S. 102; vgl. hierzu Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 71). Nicht nur versteht Blumenberg die Fragen sowie die entsprechenden Versuche, diese zu beantworten, durchaus als Probleme – dieser Aspekt kommt in der folgenden Darstellung immer wieder zum Tragen –, darüber hinaus sind Metaphern selbst Problemanzeigen (vgl. Konersmann: Vernunftarbeit, S. 137), insofern sie oftmals auf etwas verweisen, für das zunächst die Sprache bzw. eine präzise Terminologie fehlt. Dies zusammengenommen mag noch keinen problemgeschichtlichen Zugriff in totum ausmachen, doch bilden problemgeschichtliche Zusammenhänge durchaus zentrale Elemente in Blumenbergs Darstellungsweise der europäischen Geistes- und Ideengeschichte. Im Gegensatz zur Darstellung Kopp-Oberstebrinks nähert sich die vorliegende Untersuchung den Schriften Goldsteins an. Goldstein weist Blumenbergs Hermeneutik dezidiert als einen problemgeschichtlichen Zugriff aus (vgl. Goldstein: Zwischen Texttreue und Spekulation; Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 42–58 und Goldstein: Deutung und Entwurf, S. 212). Abzuweisen ist zweitens die Annahme, Blumenbergs ideengeschichtliches Modell aus Fragen und Antworten impliziere einen Substanzialismus in Form sich durchhaltender Fragen. Wenn Blumenberg davon spricht, dass es »prinzipiell unbeantwortbare[] Fragen« gibt, die »nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte vorfinden« (Blumenberg: Paradigmen, S. 23), dann wendet Blumenberg die kantische Stoßrichtung zwar existenziell, zielt aber dennoch viel eher auf die Fragen ab, die sich der menschlichen Vernunft angesichts ihrer Endlichkeit stellen und die sie deshalb nicht abweisen kann; es sind Fragen, die den Menschen in seiner Existenz betreffen. Stehen diese Fragen im Hintergrund von Blumenbergs Darstellung von Geschichte, dann ergibt sich daraus die Konsequenz, dass diese Fragen auf Ebene der Geschichte mehr oder weniger, d. h. »relativ konstant« (Hans Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner. Erweitere und überarbeitete Neuausgabe von »Die Legitimität der Neuzeit« vierter Teil [1966]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1976, S. 17) bleiben, nicht jedoch absolut sind oder substanziell aufzufassen sind. Kopp-Oberstebrink erklärt an dieser Stelle den von Blumenberg für die Epochenwende vom Mittelalter zur Neuzeit veranschlagten »Fragenüberhang[]« (ebd., S. 78), dem die Neuzeit als ein Erbe des Mittelalters zu begegnen hat, zu einem Prinzip von Blumenbergs Philosophie und Geschichtsauffassung. Doch, so Blumenberg, wir »werden uns von der Vorstellung frei machen müssen, es gebe einen festen Kanon der ›großen Fragen‹, die durch die Geschichte in konstanter Dringlichkeit die menschliche Wißbegierde beschäftigen und den Anspruch auf Welt- und Selbstdeutung motivieren« (ebd.). Anders wäre mit Blumenberg auch nicht zu erklären, dass z. B. das Mittelalter in Form des Kontingenzbegriffs eine genuin christliche Antwort auf eine Frage gibt, die die Antike überhaupt nicht kannte. »Nicht immer gehen die Fragen den Antworten voraus« (Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 78), weshalb die Fragen z. T. erst kenntlich werden, wenn die Antworten bereits gegeben wurden. An Epochengrenzen erzeugen die verspätet auftretenden Fragen einen Fragenüberhang, der durchaus bestimmend

177 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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rückzukommen sein, zunächst gilt es, eine der wesentlichen Eigenarten der Hermeneutik Blumenbergs festzuhalten. Im Kern bestimmt das Verhältnis von Fragen und Antworten die Dynamik der europäischen Geistes- und Ideengeschichte. Innerhalb dieses Verhältnisses nimmt die Hermeneutik Blumenbergs zwar Prozesse des Verstehens in den Blick, diese vollziehen sich jedoch nie unmittelbar. Vielmehr sieht sich jedes Verstehen auf Umwege verwiesen, auf die Kontexte der Kultur und Geschichte. Mit Blick auf die historische Betrachtung kennt Blumenberg kein Konzept vollständig gelingenden Verstehens, anders ausgedrückt: Wir können nicht mit Sicherheit wissen, ob verstanden wurde, was verstanden werden sollte. Wir scheitern bereits an der Möglichkeit zur Einsicht in die ursprünglichen Intentionen dessen, was jemand eigentlich und ursprünglich verstanden wissen wollte. Mit Blick auf die Geistes- und Ideengeschichte steht für Blumenberg deshalb stets in Frage, was abhängig vom historischen Kontext seinerzeit überhaupt verstanden werden konnte. Im Zuge dessen beobachten wir Verstehensprozesse anderer, die sich uns als Rezeptionen darstellen und zu rhetorischen Wirkungszusammenhängen zusammenschließen. für die neue Epoche sein kann. Es werden dann neue Antworten auf bereits bestehende Fragen gesucht: »Wenn Glaubwürdigkeit und Geltung solcher Antworten dahinschwinden, etwa weil Inkonsistenzen im System sich herausstellen, hinterlassen sie die ihnen adäquaten Fragen, auf die dann eine neue Antwort fällig wird. Es sei denn« – und darauf kommt es mit Blick auf Blumenbergs ideen- und problemgeschichtlichen Rahmen aus Fragen und Antworten an – »daß es gelingt, die Frage selbst kritisch zu destruieren und am System der Welterklärung Amputationen vorzunehmen. Daß das nicht eine rein rationale Operation sein kann, lehrt, wenn überhaupt irgend etwas, die Geschichte.« (Ebd., S. 79) Eine solche Amputation nimmt z. B. das christliche Mittelalter vor, indem es die Fragen, die die gnostische Trennung von Heilsgott und Schöpfergott hinterlässt, zunächst verdeckt und dadurch unbeantwortet lässt (vgl. Kap. 3.4.3.). In Form des Kontingenzbegriffs gibt das Mittelalter eine Antwort vor, die eine Frage hervortreten lässt, die die Antike nicht stellen konnte. Diese Frage bricht mit dem Nominalismus am Ende des Mittelalters erneut auf und wird von der Neuzeit als Herausforderung angenommen: »Die Neuzeit hat Probleme [Hervorhebung nicht im Original] als sich aufgegeben angenommen, die das Mittelalter gestellt und vorgeblich beantwortet hatte, die aber nur und gerade deshalb aufgeworfen worden waren, weil man sich schon im Besitz der ›Antworten‹ glaubte.« (Ebd., S. 60) Blumenbergs ideengeschichtlicher Rahmen aus Fragen und Antworten bleibt auch mit Blick auf das Verhältnis von Fragen und Antworten dynamisch und bildet in diesem Sinne allenfalls ein heuristisches Prinzip, das den Funktionen, über die sich Geschichte darstellen lässt, einen strukturellen Rahmen gibt. Die Fragen und Antworten sind weder absolut noch substanziell, sie können verdeckt werden und wieder aufkommen und bilden damit allenfalls Konstanten auf Zeit.

178 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

Zur Hermeneutik: Zentrale Begriffe und Funktionen

Blumenberg verabschiedet das Verstehen als eine hermeneutische Grundfigur nicht, der Prozess des Verstehens ist für ihn lediglich nicht primär eine Aneignungsfigur, die ein gelingendes Verstehen voraussetzt, in dem sich die eigene Position der Position, die der Interpretation unterzogen wird, anschmiegt oder diese gar aufhebt, wie Gadamers Begriff der Horizontverschmelzung dies nahelegen mag. 171 Blumenberg zufolge handelt der Mensch zuerst, bevor er nachträglich zu verstehen sucht, was er unlängst in die Tat umgesetzt hat. Zu verstehen, was bereits verstanden wurde, ist eine rationale Kompensationsstrategie, eine nachträgliche Aufarbeitung dessen, was der Mensch im praktischen Lebensvollzug – auf dem Boden von Selbstverständlichkeiten – immer schon verstanden hat. Wenn wir aber immer schon verstanden haben, dann bedarf es keiner Hermeneutik, um den Prozess des Verstehens zu erhellen, sondern vielmehr um zu verstehen, was zu einer Zeit immer schon verstanden worden war. Was einst selbstverständlich war und vielleicht noch immer selbstverständlich ist, ist damit nicht bereits ausgemacht. Ebendies gilt es, zu prüfen, bevor vorschnell eine affirmative Übertragung der Vergangenheit auf die Gegenwart erfolgt, sei es im Kontext einer Geschichtsteleologie im Sinne Husserls oder im Sinne einer Aneignungshermeneutik Gadamers oder auch Ricœurs. Die im Folgenden zu erläuternden Begriffe und Funktionen suchen dieses Verhältnis von Frage und Antwort zu fassen zu bekommen, in dem sich für Blumenberg die Hermeneutik bewegt. Um die rhetorischen Wirkungszusammenhänge in den Blick zu bekommen, bedarf die Hermeneutik der Rhetorik als Komplement: 171 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960]. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck): Tübingen 31972, S. 290 f. Ricœur schließt an Gadamers Begriff der Horizontverschmelzung an, wenngleich unter deutlichen Modifikationen (vgl. Kap. 4.5.2.). Blumenberg richtet sich erstens gegen die gelingende Horizontverschmelzung bei Gadamer, zweitens gegen das damit verbundene wirkungsgeschichtliche Bewusstsein, das die Probleme, die sich dem Menschen stellen, in Fragen auflöst. Gadamer zufolge sind Probleme keine geschichtliche, sondern eine rhetorische Kategorie und aus der Hermeneutik zu verbannen (vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 358 f.) – sind die Probleme einmal in Fragen aufgelöst, dann erscheint jedes historische Zeugnis als Antwort auf die freigelegten Fragen. Dem setzt Blumenberg eine Dialektik von Frage und Antwort entgegen, in der die Antworten durchaus den Fragen vorhergehen können (vgl. Anm. 170 , S. 176); Ricœur schließt ebenso an die von Gadamer aufgeworfene Dialektik von Fragen und Antworten an, dies jedoch gerade in der Form, gegen die Blumenberg sich wendet. Es wird in der Schlussbetrachtung von diesem Unterschied zu sprechen sein (vgl. Kap. 5.).

179 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

Hans Blumenberg: Gelebte Geschichte

Die Philosophie bzw. Hermeneutik reflektiert auf die rhetorischen Wirkungszusammenhänge, die aus der Wechselwirkung individueller Handlungen heraus entstehen, um die Selbstverständlichkeiten herauszuarbeiten, auf denen menschliches Handeln aufruht. Das theoretische Verhältnis des Menschen zu sich selbst und seinen Handlungen bleibt dem praktischen Handlungsvollzug nachgeordnet, der maßgeblich von Selbstverständlichkeiten geleitet wird. Die theoretische Aufarbeitung dessen setzt einen Prozess in Gang, der nach letzten Antworten sucht, die es vielleicht gar nicht gibt. Dienen die Selbstverständlichkeiten dem gelingenden, praktischen Handlungsvollzug, so lässt ein Hinterfragen dieser Selbstverständlichkeiten diese mit einem Mal nicht mehr selbstverständlich erscheinen. Zunächst aber produziert der Mensch »ständig in Akten und Texten […], was er selbst nicht versteht, und es dennoch oder gerade deshalb wiederholt und ritualisiert, dabei aber erst spät und akzessorisch das Bedürfnis hervortreibt, sich für Sinn und Begreiflichkeit dessen, was er da tut, Versicherungen zu verschaffen – das ist eine unter den Bedingungen eines sich ständig theoretisch absichernden Zeitalters schwer zugängliche Einsicht«. Der Prozess theoretischen Verstehens sucht nachträglich das eigene praktische Verhalten zu reflektieren: »Der Mensch weiß nicht, was er tut, oder er hat den praktischen Kontext vergessen, in dem eine Handlung stand; aber eines Tages will er wissen, was dies bedeutet.« Entscheidend ist, dass Blumenbergs Hermeneutik dadurch das Verhältnis von Frage und Antwort auf den Kopf stellt. Es folgt nicht zwingend, wie wir gemeinhin annehmen, eine Antwort auf eine Frage; vielmehr sind die Antworten nur allzu oft bereits gegeben worden und die Fragen, die wir stellen, suchen der bereits gegebenen Antwort lediglich zu begegnen: Der Mensch hält »das Unverstandene für eine alte Antwort, zu der nur noch die passende Frage gesucht werden muß«. Dieses Unverstandene ist, was selbstverständlich scheint und was selbstverständlich scheint, entzieht sich dem Blick der theoretischen Aufmerksamkeit. Sind diese lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten, auf denen unser Handeln aufruht, nicht mehr selbstverständlich, dann treten Fragen hervor, auf die doch bereits eine Antwort gefunden worden war. Wenn das wirklich so ist, so Blumenberg, dann »wird verständlich, daß in solchem Zusammenhang die Fragen bedeutsamer werden als die vermeintlichen Antworten«. 172 172

Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos [1971], in:

180 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

Zur Hermeneutik: Zentrale Begriffe und Funktionen

Auf diese Antworten, in Form von Selbstverständlichkeiten, richtet Blumenbergs Hermeneutik den Blick. 173 Die alten, immer schon gegebenen Antworten, zu denen nur die passenden Fragen gesucht werden, sind im Kontext der Geistes- und Manfred Fuhrmann (Hrsg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption (Poetik und Hermeneutik, Bd. 4). Wilhelm Fink: München 21990 (Nachdruck), S. 11–66, hier S. 34. 173 Zusätzlich zu Selbstverständlichkeiten nennt Blumenberg Vertrautheit, archaische Weltzugehörigkeit und Bedeutsamkeit als Strukturen, die unser Verhältnis zur Wirklichkeit tragen (vgl. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 78), von denen der Begriff der Bedeutsamkeit am Rande von Interesse für die Hermeneutik Blumenbergs ist. Blumenberg arbeitet diesen Begriff laut Selbstaussage maßgeblich in Anschluss an Erich Rothacker aus (vgl. ebd., S. 77, 79 sowie Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 68; zum Begriff der Bedeutsamkeit bei Blumenberg vgl. Götz Müller: Rezension von Arbeit am Mythos [1981], in: Hans Blumenberg: Präfigurationen. Arbeit am politischen Mythos, hrsg. von Angus Nicholls und Felix Heidenreich. Suhrkamp: Berlin 2014, S. 67–78; Angus Nicholls und Felix Heidenreich: Nachwort der Herausgeber, in: Hans Blumenberg: Präfigurationen. Arbeit am politischen Mythos, hrsg. von Angus Nicholls und Felix Heidenreich. Suhrkamp: Berlin 2014, S. 83–147; Felix Heidenreich: Bedeutsamkeit [Art.], in: Robert Buch und Daniel Weidner (Hrsg.): Blumenberg lesen. Ein Glossar. Suhrkamp: Berlin 2014, S. 43–56 und Heidenreich: Mensch und Moderne sowie zum Kontext Müller: Sorge um die Vernunft, S. 188– 208). Bedeutsamkeit entsteht aus der Wechselwirkung von Subjekt und Objekt und steht zunächst für die »subjektive Wertbesetzung« der Dinge »in der geschichtlichen Kulturwelt des Menschen« (ebd., S. 77). Bedeutsamkeiten sind nicht das Produkt des menschlichen Vermögens, Sinn und Bedeutung aktiv hervorzubringen, sondern vielmehr Strukturen, die der Mensch in der Wirklichkeit erkennt und wiedererkennt, Beispiele, die Blumenberg nennt, sind »Gleichzeitigkeit, latente Identität, Kreisschlüssigkeit, Wiederkehr des Gleichen, Reziprozität von Widerstand und Daseinssteigerung, Isolierung des Realitätsgrades bis zur Ausschließlichkeit gegen jede konkurrierende Realität« (Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 80). Bedeutsamkeiten wahrnehmen zu können, setzt die Aufmerksamkeit auf die Strukturen und Intensitäten der Wirklichkeit voraus und entspricht eher einem rezeptiven Empfangen als einem aktiven Hervorbringen von Bedeutsamkeiten. Die individuelle Produktion von Bedeutsamkeit, wie sie Felix Heidenreich nahegelegt (vgl. Heidenreich: Bedeutsamkeit [Art.], S. 43 f.), wird von Blumenberg selbst m. E. nicht intendiert (vgl. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 80, 465). So sehr Blumenberg den Menschen mit der Neuzeit als ein auto-poietisches bzw. als ein »autotechnisches« (Hans Blumenberg: Technik und Wahrheit, in: Actes du XIème Congrès international de Philosophie, Bruxelles, Bd. 2. Nauwelaerts: Amsterdam 1953, S. 113–121, hier S. 119) Wesen begreift: »Auch wenn gilt, daß der Mensch die Geschichte macht, so macht er doch wenigstens eine ihrer Nebenwirkungen nicht, die in der ›Aufladung‹ von Bestandsstücken der menschlichen Welt mit Bedeutsamkeit besteht.« (Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 78; vgl. ebd., S. 465) Der Mensch arbeitet insofern an und mit Bedeutsamkeiten, als dass er sie narrativ darstellen und abbilden, steigern und depotenzieren kann, so auch Heidenreich (vgl. Heidenreich: Bedeutsamkeit [Art.], S. 49 f.). Blumen-

181 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

Hans Blumenberg: Gelebte Geschichte

Ideengeschichte nichts anderes als absolute Metaphern: »Absolute Metaphern ›beantworten‹ jene vermeintlich naiven, prinzipiell unbeantwortbaren Fragen, deren Relevanz ganz einfach darin liegt, daß sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte vorfinden.« 174 Kant hatte die Beantwortung dieser Fragen aufgrund ihrer theoretischen Unbeantwortbarkeit in den Bereich der Metaphysik verwiesen und zugleich in die praktische Philosophie überführt. Absolute Metaphern, einmal an die Stelle der kantischen Vernunftideen gerückt, übernehmen ebenjene orientierende und regulative Funktion der kantischen Vernunftideen, lösen jedoch die Fragen nicht auf, im Gegenteil: Sie provozieren fortwährend neue Fragen, da Metaphern als Antworten nicht zufrieden stellen und deshalb fortwährend aus dem Blick geraten. Die Darstellung der Geschichte der europäischen Tradition anhand der Untersuchung von Metaphern bringt Blumenberg zufolge »die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein«. 175 Dadurch wird jedoch die Hoffnung, eindeutige und abschließende Antworten auf die gestellten Fragen zu erhalten, enttäuscht: Fungieren Metaphern als Antworten, dann verweisen sie auf nichts davor oder dahinter, das auf eine Letztbegründung führte oder eindeutiger zu bestimmen wäre als sie selbst. Vor dem Hintergrund von Blumenbergs Theorie der Lebenswelt produziert jede Analyse und Aufdeckung von Selbstverständlichkeiten neue Selbstverständlichkeiten, jede Analyse von Metaphern neue Metaphern, die als selbstverständlich genommen werden. berg spricht deshalb auch von »Umgangsformen mit dem Bedeutsamen« (Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 78), die Produktion von Bedeutsamkeit aber bleibt »ein der Willkür entzogener Vorgang« (ebd.), er ist kontingent, wenn auch nicht beliebig (vgl. Heidenreich: Bedeutsamkeit [Art.], S. 48). Der Begriff der Bedeutsamkeit korreliert damit dem Verhältnis von Antwort und Frage, in dem nur allzu oft die Antworten den Fragen vorausgehen: Was der Mensch als bedeutsam wahrnimmt und darzustellen sucht, ergibt sich aus rhetorischen Wirkungszusammenhängen und trägt das Wirklichkeitsverständnis des Menschen, noch bevor er dieses überhaupt in den Blick zu nehmen imstande ist. Mit dem Begriff der Bedeutsamkeit unterläuft Blumenberg so die hermeneutische Vorstellung, dass der Mensch zuerst versteht und im Anschluss daran handelt (vgl. Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, S. 34 f.) – gerade die Umkehrung dieses Verhältnisses ist, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, grundlegend für Blumenbergs hermeneutischen Umgang mit der Geschichte. 174 Blumenberg: Paradigmen, S. 23; vgl. auch Blumenberg: Die Bedeutung der Philosophie für unsere Zukunft, S. 128. 175 Blumenberg: Paradigmen, S. 13.

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Zur Hermeneutik: Zentrale Begriffe und Funktionen

Absolute Metaphern entziehen sich der terminologischen Definierbarkeit und dem Ideal der Eindeutigkeit. Wer sie als Antworten befragt, beraubt sich der Möglichkeit, eindeutige Antworten zu erhalten. 176 Die Untersuchung von Metaphern führt lediglich die Dynamik der Geschichte vor Augen und verdeutlicht, unter welch enormen Anstrengungen und Mühen versucht wurde und noch immer versucht wird, jene unbeantwortbaren Fragen zu beantworten – Versuche, die im Versuch selbst Orientierung stiften und Halt gewähren, insofern absolute Metaphern als Orientierungspunkte fungieren, auf die sich die Fragen richten. In ihrer Funktion als erkenntnisleitende Modelle bilden Metaphern Strukturen aus, die nicht mehr nur das theoretische, sondern auch das praktische Verhalten leiten. Sie stellen den Rahmen bereit, »in dem […] sich uns zu zeigen vermag«, »was wir in Erfahrung bringen können«. 177 Blumenbergs Auffassung, dass die Dynamik der Geschichte sich aus rhetorischen Wirkungszusammenhängen und Wechselwirkungen ergibt, deren hermeneutischer Grundzug durch das Verhältnis von Frage und Antwort bestimmt wird, in dem die Antworten in Form von absoluten Metaphern auftreten, bringt für Blumenbergs Denken im Wesentlichen drei Konsequenzen mit sich. Mit der »Umkehrung des Verhältnisses von Motiv und Handlung, von Frage und Antwort« unterläuft Blumenberg erstens die Annahme, es gäbe zugrundeliegende Motivationsrückhalte, aus denen sich für einen Interpreten Handlungen ableiten und rekonstruieren ließen, die die Intentionen des Handelnden selbst aufdecken könnten. Nicht alles ist zugleich Text, Handlung und Sprache, gerade deshalb gilt es, mittels Sprache über die Sprache hinauszugehen. Mittel zum Zweck ist ein hermeneutisches Verfahren, das die Frage- und Antworthorizonte erschließt, die der Mensch »in Akten und Texten […] produziert«. 178 Die Motivationsrückhalte erweisen sich aus Perspektive der Hermeneutik als sekundäre Resultate. Sie lassen sich mittelbar über Metaphern in einem Verfahren der Interpretation erschließen. Sie nicht als Primat auszuweisen, aus denen der Interpret nachfolgend Handlungen ableitet, bewahrt die Hermeneutik davor, in einen Psycho-

176 177 178

Vgl. ebd., S. 24. Ebd., S. 91 f. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, S. 34.

183 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

Hans Blumenberg: Gelebte Geschichte

logismus zurückzufallen, die damit dem Vorwurf entgeht, den Husserl an Dilthey richtet. Die Analyse von Metaphern gewährt mittelbar Zugriff auf die Substruktur des Denkens und damit zugleich einen Blick unter die »Masse des Geredeten und Gedruckten«, die zu verdecken droht, was überhaupt in Frage stand – und vielleicht noch immer in Frage steht. 179 Absolute Metaphern sind Antworten, zu denen im Wechselspiel aus Antwort und Frage die entsprechenden Fragen gesucht werden. In ihrer Selbstverständlichkeit entziehen sie sich allzu schnell der theoretischen Aufmerksamkeit, so dass die Fragen die ganze Aufmerksamkeit beanspruchen. Sie werden dann »bedeutsamer […] als die vermeintlichen Antworten«. 180 Der zweite Aspekt betrifft diese vermeintlichen Antworten in Gestalt von Metaphern. Werden Metaphern in den Blick genommen, dann transformiert sich dem »historisch nicht unbesonnenen Nachdenken« die kantische Frage, »was wir denn wissen können« zu der Frage, »was es denn gewesen war, was wir wissen wollen«. 181 Um in Erfahrung zu bringen, was es denn eigentlich war, »was wir wissen wollten«, gilt es Blumenberg zufolge, Lesbarkeit herzustellen, d. h. den Boden freizulegen, auf dem die Fragen und Probleme der Philosophie überhaupt erwachsen, denn »wer immer verhindert haben mag, daß Erwartungen sich erfüllten«, in Frage steht doch: »welche waren es überhaupt gewesen?« 182 Erst der Blick auf die rhetorischen Wirkungszusammenhänge kann hier Klarheit bringen. Mit dem Vorhaben, Lesbarkeit herzustellen, richtet sich Blumenbergs Hermeneutik zugleich gegen das Objektivitätsversprechen der exakten Wissenschaften und folgt darin der kritischen Perspektive, die die husserlsche Krisis-Schrift bereits einnimmt. Mit Aufkommen der neuzeitlichen Wissenschaften hat sich Blumenberg zufolge ein Ideal der Erkenntnis durchgesetzt, das »auf das immer Andere und die immer Anderen« konzentriert ist und stets den aus-

Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung, S. 9. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, S. 34. 181 Hans Blumenberg: Ernst Cassirers gedenkend bei Entgegennahme des KunoFischer-Preises der Universität Heidelberg 1974 [1974], in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Philipp Reclam: Stuttgart 1981, S. 163–172, hier S. 164. 182 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt [1981]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2 1983, S. 9. 179 180

184 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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spart, »dem es um sich selbst geht«. 183 Im Kontext des Objektivitätsversprechens der neuzeitlichen Erkenntnistheorie ist kein Platz für ein Subjekt vorgesehen; dessen Beobachterperspektive soll im Kontext der experimentellen Zurichtung ausgespart werden. 184 Die hermeneutische Strategie, Lesbarkeit herzustellen, führt damit auf den dritten zentralen Aspekt im Kontext der Hermeneutik Blumenbergs: Lesbarkeit herzustellen bedeutet, den Antworten und damit auch den Fragen, die der Mensch sich seit jeher gestellt hat, nachzuspüren. Wider das erkenntnistheoretische Programm der neuzeitlichen Wissenschaften, das sich auf eine vermeintlich reine Objektivität, auf das immer Andere bezieht, gilt es zu dem zu kommen, dem es um sich selbst geht: »Lesbares zu lesen heißt, daß der Adressat sich dem nicht verweigert, was ihn betrifft oder betreffen könnte, auch wenn er nicht mehr glauben mag, er könne ›gemeint‹ sein.« 185 Der Weg zu einem möglichen Selbstverständnis führt mit Blumenberg über die Ideen und Probleme, die Fragen und Antworten der Geschichte der europäischen Tradition, über die Metaphern und Begriffe und deren Problemzusammenhänge, aus denen sich die Wirklichkeiten konstituieren, in denen wir leben. Vermittelt über Metaphern erschließt Blumenbergs Hermeneutik in einer Abkehrbewegung zu einer affirmativen Hermeneutik, die stets ein gelingendes Verstehen voraussetzt, die Beweggründe und Motivationsrückhalte; diese Abkehrbewegung wird mit Blumenberg zu einem späteren Zeitpunkt anschaulicher darzustellen sein. Von Bedeutung ist zunächst, dass der Mensch sich über diese Form der Hermeneutik in dem erfasst, »was in seinem Leben ›lebendig‹ ist«, er wird sich dadurch »selbst gegenwärtig […] in seinen Antrieben, Bedingtheiten und Möglichkeiten«. Der Philosophie kommt die Aufgabe zu, »zur Sprache zu bringen, was menschlich ist und was sich im Menschlichen zeigt«. Philosophie ist für Blumenberg »nichts anderes als werdendes Selbstbewußtsein des Menschen« und das meint den Versuch, den Reichtum unserer Wirklichkeit mittels der Möglichkeiten einzuholen, die uns zur Verfügung stehen: mittels der Armut unserer Sprache. 186 Bevor von Blumenbergs WirklichBlumenberg: Höhlenausgänge, S. 11. Blumenbergs Argumentation befindet sich an dieser Stelle in unmittelbarer Nähe zu Husserls Vorwurf des Objektivismus, den Husserl an die mathematischen Naturwissenschaften richtet (vgl. Kap. 2.2.2.). 185 Blumenberg: Lesbarkeit, S. 408 f. 186 Blumenberg: Die Bedeutung der Philosophie für unsere Zukunft, S. 128. 183 184

185 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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keitsbegriff zu sprechen sein wird, gilt es zunächst, die Funktion des Paradigmas sowie die der Epochenumbrüche darzustellen. Beides sind zentrale Funktionen, die Blumenberg dazu dienen, die Dynamik der Geschichte abzubilden.

3.3.2. Paradigmen Blumenberg entlehnt den Begriff des Paradigmas Thomas Samuel Kuhn. Seines Zeichens Wissenschaftshistoriker und -philosoph bezieht dieser den Begriff des Paradigmas auf den Fortschritt der exakten Naturwissenschaften: Paradigmen stellen wissenschaftliche Erkenntnisse bzw. Leistungen dar, die von der wissenschaftlichen Gemeinschaft als allgemein gültig anerkannt werden. 187 Sie liegen unterhalb der Ebene, auf der die Gegenstände, Problemstellungen und die wissenschaftliche Praxis selbst offen thematisiert werden. 188 Sie stehen im Hintergrund der theoretischen und praktischen Arbeit naturwissenschaftlicher Forschung und leiten die Entwicklung von Modellen und Verfahren. Sie lassen keine Kontroversen aufkommen und gewährleisten dadurch wissenschaftlichen Fortschritt, wie Blumenberg sagt: »Das Paradigma ist ein latenter Komplex von Prämissen, die als Implikationen der wissenschaftlichen Praxis gar nicht ausdrücklich formuliert werden müssen, sondern in die Methoden und Fragestellungen bereits eingegangen sind.« 189 Der Begriff des Paradigmas rückt damit in die Nähe zu den von Blumenberg beschriebenen lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten. Im Gegensatz zu diesen besitzt der Begriff des Paradigmas jedoch einen Vorteil, den die lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten im Sinne Blumenbergs nicht aufweisen: Er kann verständlich machen, wie es dazu kommt, dass die latenten und impliziten Strukturen die Aufmerksamkeit des Beobachters auf sich ziehen und nicht schlicht und einfach, latent und implizit, verborgen bleiben.

187 Vgl. Thomas Samuel Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen [1962], übers. von Hermann Vetter. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 21976, S. 186. 188 Vgl. Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle, S. 15. 189 Hans Blumenberg: Paradigma, grammatisch [1971], in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Philipp Reclam: Stuttgart 1981, S. 157–162, hier S. 158; zu den folgenden Ausführungen vgl. auch Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 75 f.

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Ein Paradigma stellt die Rahmenbedingungen bereit, innerhalb derer die theoretischen Prozesse, Modelle und Methoden einer Wissenschaft entwickelt bzw. weiterentwickelt werden. Die Erklärungsleistung eines Paradigmas kollidiert jedoch ab einem bestimmten Zeitpunkt mit der Weiterentwicklung der theoretischen Prozesse, mit den Modellen und Methoden, die es leitet. Die zunehmende »Verfeinerung und Präzisierung von Verfahren« erscheint nur solange als Fortschritt, wie innerhalb der Grenzen eines Paradigmas operiert wird. Sind dessen Grenzen jedoch erreicht, erschöpft sich auch dessen Erklärungsleistung, das Paradigma gerät in eine Krise. Im Zuge dessen kommt es zu einer »Störung der innerhalb des Paradigmas geweckten und bestehenden Erwartungen« 190 und schlussendlich zu einem »Wechsel der Paradigmata«. 191 Was sich auf der einen Seite als Fortschritt innerhalb der Paradigmen zeigt und Kontinuität verspricht, zeugt von Diskontinuität, sobald die Erwartungen, die sich an die Erklärungsleistung eines Paradigmas richten, enttäuscht werden. 192 Die Brüche und Diskontinuitäten entstehen dadurch, »daß im Bereich etablierter Theorien (Paradigmata, normierte Wissenschaft) überflüssige, der bloßen Schulverfestigung und Selbstbestätigung dienende Geschäftigkeiten stattfinden, wie etwa die übertriebene Verfeinerung von Meßgenauigkeiten über die Toleranzen hinaus, die zur Erhaltung der vorherrschenden Theorie erforderlich sind«. 193 Kein Paradigma ist von zeitloser Geltung. Die lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten fungieren ebenso wie die Paradigmen im Kontext wissenschaftlicher Forschung als permanenter Rückhalt theoretischen wie praktischen Verhaltens. 194 Für die Paradigmen sowie die Selbstverständlichkeiten gilt gleichermaßen, dass sie zunächst implizit und latent bleiben, das Paradigma im Sinne Kuhns macht jedoch deutlich, weshalb das, was Blumenberg Selbstverständlichkeiten nennt, überhaupt aus dem Schatten der Latenz und Implikationen heraustreten sollte: Erst wenn sich nicht mehr von selbst versteht, was sich soeben noch von selbst verstand, Blumenberg: Paradigma, grammatisch, S. 157. Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 23. 192 Vgl. Blumenberg: Paradigma, grammatisch, S. 158. 193 Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 22 f. 194 »Zeitalter erschöpfen sich eher in der Umwandlung ihrer Gewißheiten und Fraglosigkeiten in Rätsel und Inkonsistenzen als in deren Auflösung.« (Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle, S. 14) 190 191

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ist überhaupt erkennbar, was es war, das sich soeben noch von selbst verstand. Das Paradigma im Sinne Kuhns macht deutlich, dass ein solcher Bruch von Selbstverständlichkeiten dann eintritt, wenn die Erklärungsleistung der vormals selbstverständlichen Strukturen erschöpft ist. Der »Prozeß der Erkenntnis selbst« erzwingt an dieser Stelle »die Preisgabe seiner Voraussetzungen« und im Gegenzug die »Einführung neuer elementarer Annahmen«. 195 Blumenberg überträgt das Konzept des Paradigmas auf seine Darstellung der Geschichte und ihre Dynamik. 196 Der heuristische Mehrwert dieser Übertragung liegt für ihn in der Möglichkeit zur Bestimmung von Epochengrenzen, da sich Epochen Blumenberg zufolge nur über ihre Grenzen überhaupt bestimmen lassen. Diese Grenzen rücken in den Blick, sobald sich das, was eine Epoche implizit bestimmt und sich innerhalb dieser unhinterfragt von selbst versteht, in seiner Selbstverständlichkeit erschöpft. Im Umkehrschluss gilt, dass erst dann, wenn diese Grenzen deutlich zutage treten, überhaupt bestimmt werden kann, was eine Epoche im Kern bestimmt, d. h. was ihr als selbstverständlichste aller Selbstverständlichkeiten gilt. Blumenberg erblickt im Begriff des Paradigmas auf der einen Seite einen heuristischen Mehrwert, da dieser erstens verdeutlicht, wie es zu Epochenbildungen kommt. Zweitens kann dieser Begriff verdeutlichen, dass die Geschichte im Ganzen weder einem linearen, geschweige denn einem teleologischen Geschichtsverlauf folgt. Vielmehr bilden sich innerhalb der Geschichte einzelne Immanenzräume aus, deren Zentren in Form von Selbstverständlichkeit es zu bestimmen gilt. Auf der anderen Seite greift der Begriff des Paradigmas zu kurz, da dieser nicht zu erklären vermag, wie es innerhalb der Geschichte zu Neubildungen und -orientierungen kommt, sobald die Befragungstoleranzen einer Epoche bzw. eines Paradigmas erschöpft sind. 197 Der Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle, S. 16. Blumenberg verweist darauf, dass Kuhn den Begriff des Paradigmas auf Grundlage der Unterscheidung zwischen der Forschung entwickelt, wie sie die Sozialwissenschaften auf der einen und die exakten Naturwissenschaften auf der anderen Seite betreiben (vgl. Blumenberg: Paradigma, grammatisch, S. 158) – eine Unterscheidung, deren Grenzen bei Blumenberg verwischen, insofern Blumenberg jede Wissenschaft als ein Erzeugnis der Ideen- und Geistesgeschichte versteht. »Im Fortgang der Wissenschaft geschieht exemplarisch, fast wie im Präparat, mit größerer Deutlichkeit das, was in diffuseren Formen der Manifestation den geschichtlichen Prozeß überhaupt in Gang hält« (Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle, S. 16). 197 Vgl. Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle, S. 16 f.; vgl. hierzu: Goldstein: 195 196

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Begriff des Paradigmas kann die Brüche verständlich machen, nicht aber die Neubildungen: Mit dem ausschließlichen Blick auf die Brüche und Diskontinuitäten kommt bei Kuhn die Frage zu kurz, wie innerhalb der Geschichte die »Einführung neuer elementarer Annahmen« möglich ist. Den geschichtlichen Prozess ausschließlich als einen Prozess sich ablösender Paradigmen und Diskontinuitäten zu betrachten, führte zur Preisgabe der Identität einer Epoche. Zusätzlich zu den Diskontinuitäten bedarf es deshalb der Kontinuität, mit Blumenberg gesprochen: eines »Minimum[s] an Identität«, das sich zu Zeiten der Epochenumbrüche durchhalten muss, um die Einführung neuer Paradigmen und das Aufkommen einer neuen Epoche überhaupt erklären zu können. 198 Dieses Minimum an Identität wird durch Prozesse der Umbesetzung ermöglicht und von Hintergrundmetaphern koordiniert. Ein Minimum an Kontinuität, das es in Zeiten von Epochenumbrüchen zu wahren gilt, betrifft im Kern die Frage nach der neuzeitlichen Subjektivität und Identität.

3.3.3. Von Epochenumbrüchen, Umbesetzungen und Hintergrundmetaphern Im Hintergrund der Dynamik der Epochenwechsel steht bei Blumenberg die Funktion der Selbsterhaltung, die zur Wahrung und Aufrechterhaltung der Konstanz und Konsistenz der Strukturen dient, von denen der Mensch sich umgeben sieht. Die »Zusammenbrüche und Neuformierungen« der Geschichte werden durch die Selbsterhaltung saniert. 199 Sie steht in Funktion der »Identitätswahrung« Nominalismus und Moderne, S. 74–77 sowie Severin Müller: Paradigmenwechsel und Epochenwandel. Zur Struktur wissenschaftshistorischer und geschichtlicher Mobilität bei Thomas S. Kuhn, Hans Blumenberg und Hans Freyer, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 32 (1981), S. 1–30, hier S. 18 f. 198 Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle, S. 16. 199 Ebd., S. 14 f. Die Selbsterhaltung dient Blumenberg als heuristisches Prinzip, das Kongruenz zwischen den Strukturen der Wirklichkeit und dem menschlichen Bewusstsein herstellt und insofern ein anthropologisches Merkmal darstellt. Mit dem Epochenumbruch vom Mittelalter zur Neuzeit weist Blumenberg die Selbsterhaltung als Selbstbehauptung aus: Die Selbstbehauptung, historisch bedingt, setzt die Selbsterhaltung als anthropologisches Merkmal voraus (vgl. Goldstein: Selbstbehauptung [Art.]). Die Selbstbehauptung ist historischen Bedingungen unterworfen und deshalb gerade nicht »die nackte biologische und ökonomische Erhaltung des Lebewesens Mensch mit den seiner Natur verfügbaren Mitteln« (Blumenberg: Säkularisierung

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und wirkt der Fragilität und Diskontinuität, die die Dynamik der Geschichte mit sich bringt, entgegen. Die Möglichkeit, innerhalb der Geschichte Identität wahren zu können, d. h. Kontinuität aller Diskontinuität zum Trotz zu behaupten, geht Blumenberg zufolge auf einen Prozess der Umbesetzung zurück. Die Möglichkeit zur Identitätswahrung gründet Blumenberg zufolge in einem mehr oder minder anonymen Geschehen: Es ist der geschichtliche Prozess selbst, der »seine ›Umbesetzungen‹ als Sanierungen seiner Kontinuität« vornimmt. 200 Identität selbst, so zeichnet sich an dieser Stelle bereits ab, ist nicht einfach gegeben, sondern sieht sich auf die historischen Kontexte verwiesen und ergibt sich aus der Dynamik geschichtlicher Prozesse. Entscheidend ist zunächst, dass wir zwar davon ausgehen müssen, so Blumenberg, »daß der Mensch die Geschichte macht – wer sonst sollte sie für ihn machen –, doch ist das für uns an der Geschichte Erfahrbare nicht identisch mit dem, was jeweils ›gemacht‹ worden ist«. Dieser Aspekt eines anonymen Vollzugsgeschehens wird dort deutlich, wo Blumenberg das Konzept der Umbesetzung ins Spiel bringt, um die Kluft zu überbrücken, vor der der Begriff des Paradigmas Kuhns aus Perspektive Blumenbergs Halt macht. Die Geschichte geht zwar aus den Handlungen einzelner Akteure hervor und setzt sich aus diesen zusammen, ist jedoch nicht aus einzelnen Handlungen ableitbar. Aus diesem Grund stellt Blumenberg mit seiner Rhetorik weniger eine Handlungstheorie vor, wenngleich seiner Rhetorik die Annahme zugrunde liegt, dass der Mensch primär handelt und unter Handlungszwang steht. Im Kontext seiner Hermeneutik sind Handlungen für Blumenberg immer schon eingebunden in Kontexte und schließen sich zu Wirkungszusammenhängen zusammen. Dem Betrachter steht die Geschichte stets in Form von Kontexten, Wirkungs- und Epochenzusammenhängen vor Augen, über die sich Handlungen rekonstruieren lassen. Die Epoche, für Blumenberg »der Inbegriff aller Interferenzen von Handlungen zu dem durch sie ›Gemachten‹«, lässt keine »eindeutige[] Zuordnungsfähigkeit von Handlungen und Resultaten« zu. 201 und Selbstbehauptung, S. 159), sondern bildet für Blumenberg das Kernstück der neuzeitlichen Anthropologie (vgl. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 231). 200 Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle, S. 15. 201 Ebd., S. 30 f. Heidenreich spricht davon, dass sich Blumenberg »durchaus im Paradigma der Handlungstheorie« bewegt, nur dass für Blumenberg »die scheiternden

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Daraus ergibt sich für Blumenberg das »Paradox, daß Geschichte gemacht wird, aber sich nicht machen läßt«. 202 Dass »der Mensch die Geschichte mache«, bedeutet deshalb gerade nicht, »daß das derart Gemachte nur von den Absichten und den Regeln abhängig sei, aus denen und nach denen er hervorgegangen ist«. Für Blumenberg gilt deshalb, »daß die Geschichte ›sich macht‹«. Damit hält ein Moment Einzug, das sich der bewussten Steuerbarkeit entzieht. Wir machen zwar die Geschichte, haben diese jedoch nicht in der Hand. Es geht deshalb um die Frage, wie eine neue Epoche entsteht, wenn diese nicht bewusst und vorsätzlich eingeleitet wird, wie die Brüche und Diskontinuitäten saniert werden. Ein Blick auf die Geschichte verrät deshalb nichts über die ursprünglichen Beweggründe und Motivationsrückhalte, die in der Innerlichkeit eines Individuums verborgen liegen mögen; jeder Zugriff auf die Geschichte ist die Interpretation von Kontexten rhetorischer Wirkungszusammenhänge, abgelesen an den Bildern unseres Denkens: »An den Figuren erfassen wir eher die Resultate als die Faktoren.« Innerhalb ihres historischen Kontextes, sehen sich Individuen

Handlungen« in den Blick rücken, d. h. »jene Handlungen, die durch die Interferenz mit anderen Handlungen ihre Intention verfehlen« (Heidenreich: Mensch und Moderne, S. 165). Blumenberg setzt zwar intentionales Handeln voraus, seine Hermeneutik widmet sich gerade jenen Zusammenhängen, aus denen sich Handlungen rekonstruieren lassen. In Frage steht jedoch, ob es sich bei Blumenberg an diesem Punkt wirklich um eine Art von Handlungstheorie handelt oder nicht lediglich um eine Struktur seines hermeneutischen Zugriffs: Ebenso wie die Motivationsrückhalte handelnder Subjekte auch lassen sich Handlungen selbst nur in Hinblick auf bzw. in Abkehr von dem entsprechenden Wirklichkeitsbegriff, anderen Handlungen und Kontexten rekonstruieren. Der Blick fällt primär auf die Kontexte, die, wie Goldstein hervorhebt, Handlungsspielräume darstellen, über die Blumenberg »das Wirkungspotenzial geschichtlicher Subjekte« (Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 45) aufschließt. Hierüber leuchtet Blumenberg Handlungsmöglichkeiten aus, um aufzuzeigen, weshalb es gekommen ist, wie es gekommen ist – und weshalb es jederzeit hätte anders kommen können. Die Entscheidungen jedoch, anhand derer wir geschichtliche Entwicklungen ablesen, liegen gerade nicht, wie Goldstein betont, »im frei wählbaren Handlungsspielraum des Subjekts« (ebd.). »Die Geschichte macht sich selbst durch die Handlungen ihrer Akteure. Die Genese einer Epoche liegt somit außerhalb der hermeneutischen Verfügbarkeit ihrer Protagonisten, wenngleich sie ohne ihre Beteiligung nicht zustande käme.« (Goldstein: Zwischen Texttreue und Spekulation, S. 45) Aus diesem Grund wird der Hermeneutik Blumenbergs in der vorliegenden Untersuchung mit Ricœur eine Handlungstheorie an die Seite gestellt, die das aktive Moment menschlichen Handelns deutlicher in den Vordergrund rückt. 202 Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 546.

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bedingten Möglichkeiten, handeln zu können, gegenüber, sie stehen stets in einem »Spielraum der Wechselwirkung«. 203 Für Blumenberg gilt es, diesen Spielraum der Wechselwirkung, in dem sich die geschichtliche Dynamik entfaltet, als einen Raum der Handlungsmöglichkeiten in den Blick zu nehmen. Damit die geschichtliche Dynamik sich nicht in Diskontinuitäten und schlussendlich in Singularitäten auflöst, in ein Geschehen, das keine Zusammenhänge mehr erkennen lässt, muss ein mehr oder minder konstanter Bezugsrahmen vorhanden sein. 204 Dieser wird in Blumenbergs Darstellung der europäischen Geistes- und Ideengeschichte durch die Fragen begrenzt, auf die die Menschen in ihrer Zeit eine Antwort suchen. Der geschichtliche Prozess stabilisiert »das System der einmal aufgeworfenen Fragen« und übt dadurch, so Blumenberg, einen »Antwortzwang« aus, »der die Ablösung und Wiederbesetzung der vakant gewordenen Systemstellen auferlegt«. 205 Zerbrechen die bestehenden Antworten in Form von Selbstverständlichkeiten dann treten die Fragen hervor, auf die neue Antworten gesucht werden. Jedes geschichtliche Ereignis, alles, was sich als Neues in der Geschichte zeigt, ist damit nicht beliebig, sondern steht unter »einer Strenge vorgegebener Erwartungen und Bedürfnisse«. 206 Diese Erwartungen und Bedürfnisse sehen sich auf einen relativ konstanten Bezugsrahmen aus Fragen und Antworten verwiesen, innerhalb dessen Metaphern die Motivationsrückhalte leiten. Die Metapher liegt Blumenberg zufolge nicht nur im Vorfeld der Begriffsbildung und der theoretischen Einstellung. Als Bestandteil der Rhetorik weist sie zugleich in die entgegengesetzte Richtung: Sie geht »über den Bereich des theoretisch Gesicherten« hinaus, sie hat »etwas Vorgreifendes«. Diesen »orientierenden, aufspürenden, schweifenden Vorgriff verbindet [sie] mit einer Suggestion von Sicherungen«. 207 Die menschlichen Erwartungen und Bedürfnisse lassen sich zwar nicht auf einen Ursprung zurückführen. Aufgrund des vorgreifenden Entwurfscharakters von Metaphern, an die sich die Beweggründe und Motivationsrückhalte heften, lässt sich Blumenberg zuBlumenberg: Aspekte der Epochenschwelle, S. 30 f. Vgl. ebd., S. 17. 205 Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Erweitere und überarbeitete Neuausgabe von »Die Legitimität der Neuzeit« dritter Teil [1966]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1973, S. 92 f. 206 Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle, S. 17. 207 Blumenberg: Beobachtungen an Metaphern, S. 212. 203 204

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folge jedoch in den Blick nehmen, worauf die Erwartungen und Bedürfnisse gerichtet sind. Nur weil sich die Motivationsrückhalte verschiedener Individuen als »Präparat[e] der rhetorischen Inszenierung« 208 interpretieren lassen, ist Blumenberg zufolge überhaupt »so etwas wie ›Erkenntnis‹ von der Geschichte« möglich. 209 In Blumenbergs Darstellung treten Metaphern als Antworten auf die Fragen auf, die sich dem Menschen als endlichem Wesen unabweisbar aufdrängen. Obgleich sie angesichts mangelnder Eindeutigkeit als Antworten enttäuschen mögen, können sie doch verständlich machen, wie es im Zuge von Epochenumbrüchen zu einer Veränderung der Erwartungshaltungen und Bedürfnisse kommt, ohne die Geschichte in ihren Brüchen und Diskontinuitäten aufgehen zu lassen. Mit der Erschöpfung von Befragungstoleranzen neigt sich eine Epoche ihrem Ende zu. Die Übergänge zwischen den Epochen werden Blumenberg zufolge von einem Verfahren der Umbesetzung getragen, das seinerseits von Hintergrundmetaphern und deren Funktion der »Sichtlenkung« koordiniert wird. 210 Im Zuge der historischen Analyse erwecken die verschiedenen Positionen und Materialien nur allzu schnell den Eindruck von Zusammenhangslosigkeit und Heterogenität, ein Eindruck, der insbesondere zu Zeiten von Neuorientierungen entsteht. 211 Hintergrundmetaphern lassen die heterogenen Positionen im Zuge der historischen Analyse in Strukturzusammenhänge ein, wodurch diese sich überhaupt erst als Positionen innerhalb größerer Zusammenhänge, als Verhalten und Haltungen zu anderen Positionen zu erkennen geben. Zusätzlich zu dem Bezugsrahmen aus Fragen und Antworten sind maßgeblich Hintergrundmetaphern an der Sanierung der historischen Brüche und Diskontinuitäten beteiligt. Das Konzept der Hintergrundmetapher ist für Blumenberg ein »›implikatives Modell‹«, so dass Metaphern »gar nicht in der sprachlichen Ausdruckssphäre in Erscheinung zu treten brauchen«, um ihrer orientierenden und leitenden Funktion nachzukommen; »ein Zusammenhang von Aussagen schließt sich plötzlich zu einer Sinneinheit zusammen, wenn man hypothetisch die metaphorische Leit208 209 210 211

Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle, S. 30. Ebd., S. 17. Blumenberg: Paradigmen, S. 99. Vgl. Blumenberg: Beobachtungen an Metaphern, S. 168.

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vorstellung erschließen kann, an der diese Aussagen ›abgelesen‹ sein können«. 212 Hintergrundmetaphern sind Leitvorstellungen, sie bilden Sinneinheiten aus, umschließen die diversen Positionen und geben ihnen dadurch eine Richtung. Ohne diese umfassenden Sinneinheiten könnten »ausschließlich terminologische Aussagen«, so Blumenberg, »gar nicht verstanden werden«, 213 fehlten doch die Strukturzusammenhänge, die allererst einen Kontext stiften, in dem die vormals heterogenen Positionen nun als Positionen innerhalb eines gemeinsamen Bezugsrahmens erkennbar sind – und dies durchaus als »Präparat[e] der rhetorischen Inszenierung«. 214 Vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Bezugsrahmens können diese aufeinander bezogen und verortet werden. Historisches Verstehen vollzieht sich für Blumenberg stets vor einem umfassenden Hintergrund, vor dem terminologische Aussagen in einen übergreifenden Sinn- und Strukturzusammenhang gebracht werden können. Wie er an verschiedenen Stellen deutlich macht, werden innerhalb dieses Bereichs stets Vorentscheidungen getroffen: Aus der »Dualität von Risiko und Sicherung« entsteht durch die Metapher ein Bereich, in den hinein sich der Mensch mit seinen »Vermutungen, Wertungen, […] Sehnsüchte[n] und Enttäuschungen« entwirft. 215 Metaphern eröffnen einen Raum von »bestimmte[r] Unbestimmtheit«, in dem sich, bei aller Unsicherheit, der theoretische Blick und das praktische Verhalten des Menschen bewegen. 216 Sie geben Struktur und Orientierung und dies noch in Zeiten, in denen Epochen sich dem Ende neigen und Vertrautes und Selbstverständliches in seiner Vertrautheit und Selbstverständlichkeit schwindet. Um diesen Prozess zu illustrieren, wird im Folgenden die Hintergrundmetapher des Organischen und des Mechanischen zu Rate gezogen – die Hintergrundmetapher steht für das Kontinuum zwischen der Metapher des Organischen und der des Mechanischen, d. h. sie selbst bildet den Zwischenraum zwischen zwei Metaphern. Sie operiert auf einer vorprädikativen Ebene und verweist durch ihren Bezug auf die Metapher des Organischen und die des Mechanischen

212 213 214 215 216

Blumenberg: Paradigmen, S. 20. Ebd., S. 91. Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle, S. 30. Blumenberg: Paradigmen, S. 25. Blumenberg: Lesbarkeit, S. 16

194 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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zugleich auf die prädikative, sprachlich artikulierte Ebene. An dieser Schnittstelle zwischen der vorprädikativen und der prädikativen Ebene entsteht ein Raum von Erfahrbarkeit, in dem die Hintergrundmetapher den Blick auf die eine oder die andere Metapher, die des Organischen oder die des Mechanischen lenkt. Sie setzt sich aus der Metapher des Organischen und der des Mechanischen zusammen und geht doch darüber hinaus, insofern sie beide umgreift. Sie bleibt ein implikatives Modell und wird im Gegensatz zur Metapher des Organischen und der des Mechanischen sprachlich nicht realisiert. Sie wird nachfolgend für Blumenbergs Bestimmung der Neuzeit und Moderne entscheidend sein. Die zentrale Funktion, die die Hintergrundmetapher ausübt, bezeichnet Blumenberg als Funktion metaphorischer Sichtlenkung: Die Wahl, die »innerhalb des Dualismus organischer und mechanischer Leitvorstellungen« auf eine der beiden Metaphern fällt, ist immer auch eine Vorentscheidung zugunsten einer bestimmten Auslegung der Wirklichkeit. 217 Da die Wirklichkeitsbegriffe stets historisch gebunden sind, kann mit diesem Dualismus innerhalb der Geschichte folglich nicht beliebig operiert werden. 218 Blumenberg spricht an dieser Stelle auch von einer »geschichtlichen Sichtbedingtheit«, die die Hintergrundmetapher mit sich bringt. Sie entfaltet einen Spielraum, in dem Aussagen in einer bestimmten »Typik vorstellig gemacht werden können« – und ebendiese Typik stellt Blumenberg im Folgenden als Wirklichkeitsbegriffe vor, von denen sogleich zu sprechen sein wird. 219 Wie bereits angedeutet, liegt die Eigenart der Hintergrundmetapher darin, dass sie selbst nicht sprachlich realisiert werden muss. Ihre primäre Funktion besteht darin, ein Kontinuum auszubilden, dessen Enden den Raum entfalten, in dem der Blick des Menschen sich dem einen oder dem anderen Ende zuneigt. Was Blumenberg als Hintergrundmetapher bezeichnet, tritt selbst nicht in Erscheinung, sondern lässt sich nur über dualistische Optionen fassen. Sie bleibt stets im Hintergrund. Nichtsdestotrotz leiten Hintergrundmetaphern den Blick, der in dem genannten Beispiel entweder auf die Metapher des Organischen fällt, an der er Strukturen erkennt, die ein bestimmtes Weltbild prägen, oder auf die Metapher des Mechanischen. Wird 217 218 219

Blumenberg: Paradigmen, S. 91. Vgl. ebd., S. 94. Ebd., S. 91 f.

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der Blick von der Metapher des Organischen abgewendet, so fällt dieser nicht ins Leere, sondern wird auf eine kontrastierende Metapher, die des Mechanischen, gelenkt und findet dort neue Orientierung. Die Metapher des Organischen ist Blumenberg zufolge an die aristotelische Tradition gebunden, der die Technik als ein mimetisches Vermögen gilt: Alles vom Menschen technisch bzw. mechanisch Hergestellte und künstlich Verfertigte sieht sich in dieser Traditionslinie auf die Grenzen des Kosmos verwiesen, über die hinaus der Mensch nicht zu wirken imstande ist. Das mimetische Vermögen als Nachahmung fügt sich der »Vorzeichnung der Natur«: 220 »wer ein Haus baut, tut nur genau das, was die Natur tun würde, wenn sie Häuser sozusagen ›wachsen‹ ließe«. 221 Die Metapher des Organischen stellt einen Strukturzusammenhang bereit, innerhalb dessen sich das menschliche Erkenntnisvermögen und die praktischen Fertigkeiten des Menschen zu bewegen imstande sind. Dass die Antike sich nicht an mechanischen Deutungen der Wirklichkeit störte, hat seine Ursache darin, so Blumenberg, dass einer mechanischen Deutung der Wirklichkeit keine Deutungshoheit zukam; »das künstliche Modell, als ›Nachahmung‹ des natürlichen Sachverhalts, ist von vornherein als defizienter Behelf gesehen« worden und konnte schlichtweg nicht die »Dignität der Weltverfassung als ganzer haben«. 222 Die Metapher des Mechanischen und Technischen ist in ihrer Relevanz für die Auslegung der Wirklichkeit als Ganzer nebensächlich. Sie kann mit der Metapher des Organischen nicht konkurrieren, die die Auffassung der Wirklichkeit maßgeblich bestimmt. Die aristotelische Mimesis-Idee prägt Blumenberg zufolge noch bis in die Neuzeit hinein die Vorstellung der Möglichkeiten menschlichen Wirkens und Handelns. Bei drohender Übertretung der naturgegebenen Grenzen sorgt diese Vorstellung für ein »Gefühl der Illegitimität«. Im Umkehrschluss setzt erst die Übertretung dieser Grenzen das schöpferische Potenzial des Menschen frei; erst mit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit wird das Verdikt gegen ein technisch konstruktives Schaffen allmählich aufgehoben. Als spätes Beispiel dieser Entwicklung gilt Blumenberg die Erfindung der 220 Hans Blumenberg: »Nachahmung der Natur«. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen [1957], in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Philipp Reclam: Stuttgart 1981, S. 55–103, hier S. 55. 221 Blumenberg: »Nachahmung der Natur«, S. 55 f. 222 Blumenberg: Paradigmen, S. 94 f. Zum Begriff der Welt bei Blumenberg vgl. Anm. 369, S. 242.

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ersten Flugapparate, deren Konstruktion erst dann möglich geworden war, als die Orientierung an dem naturgegebenen Vorbild des Vogelflugs aufgegeben bzw. von dem organischen Bau eines Vogels abgesehen wurde. An die Stelle des Vogelflugs rückt die »Verwendung der Luftschraube«, ein Element »von reiner Technizität«, das der Natur fremd ist. 223 Orientierung stiftet im Zuge dessen die Metapher des Mechanischen, der Blick wendet sich zunehmend von der Metapher des Organischen ab. Die von Blumenberg geistesgeschichtlich als Novum begriffene technische Selbstauslegung und Wirklichkeitsauffassung des neuzeitlichen Selbstbewusstseins zweckt von einer vormals bekannten Typik ab und bewegt sich damit innerhalb eines Spielraums, in dem wir »Übertragungen […] wiederzuerwecken vermögen«. 224 Diese Übertragungen erwecken eine gewisse Vertrautheit, sie sind bereits bekannt, wenngleich sie lange Zeit unter anderen Vorzeichen standen und verdeckt wurden – so wurde das vom Menschen künstlich Hergestellte bis zur Neuzeit aus dem Geltungsbereich des Natürlichen und Organischen abgeleitet und besaß keinen eigenen Geltungsraum. Neue Ideen in der Geschichte setzen sich durch, weil »die durch jeweils homologe Ideen besetzten Stellen des aktualen geistigen Systems allererst frei wurden«. Es sind die von Blumenberg sogenannten Selbstverständlichkeiten, d. h. »die unfragwürdigen und als unantastbar geltenden Aussagen«, die die Geschichte bestimmen. Erst deren »Katalyse«, die »Zersetzung und Entmachtung eingesessener Vorstellungen« eröffnet neue Möglichkeiten. Ein jedes Mal, wenn eine solche Selbstverständlichkeit und alteingesessene Vorstellung sich zersetzt, wird eine Position innerhalb eines Erklärungszusammenhangs vakant, in die nun »funktional Passendes einrücken kann«. 225 Diesen Prozess koordiniert das Konzept der Hintergrundmetapher. 226 Folgen wir Blumenberg, so musste im Erklärungszusammenhang des Selbst- und Wirklichkeitsverständnisses eine Position zunächst frei und dann neu besetzt werden, damit das Technische und Schöpferische in den Rang des Selbst- und Wirklichkeitsverständnisses aufrücken konnte. Diese Entwicklung der entstehenden Vakanz und darauf folgenden Neubesetzung vollzieht sich sukzessive. Mit 223 224 225 226

Blumenberg: »Nachahmung der Natur«, S. 61. Blumenberg: Paradigmen, S. 91. Blumenberg: Die Vorbereitung der Neuzeit, S. 91 f. Vgl. Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 75.

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dem Übergang zur Neuzeit erfolgt die »Entfaltung einer absoluten Metapher«, auf die zunächst die Hintergrundmetapher den Blick lenkt: Das Mechanische, Technische und Schöpferische als »eine neue Konzeption der Leistung des menschlichen Geistes« besetzt mit der Neuzeit die Stelle, die in der christlichen Tradition des Mittelalters der Schöpfergott innehatte. 227 Was zuvor implizit als Hintergrundmetapher im Selbst- und Weltverständnis beschlossen lag, rückt in dessen Zentrum auf und wird zu einer absoluten Metapher. 228 In den Paradigmen zu einer Metaphorologie stellt Blumenberg einige Wahrheitsmetaphern in ebensolchen, d. h. in Paradigmen vor. Diese Paradigmen bilden zunächst nur »historische Längsschnitte« ab. Sie stehen mehr oder minder unverbunden nebeneinander und geben einen Einblick in die historische Varianz, in der die in verschiedene Metaphern gekleidete Wahrheit innerhalb der europäischen Tradition auftritt. Um jedoch »vollends faßbar zu machen, was die herangezogenen Metaphern jeweils ›bedeuten‹«, möchte Blumenberg zusätzlich »Querschnitte« legen. Diese Querschnitte kontextualisieren die entsprechenden Metaphern und bringen sie in Verbindung mit den Epochen, in denen sie auftreten. Sie können deshalb, »für sich betrachtet, nicht mehr rein metaphorologisch sein, sie müssen Begriff und Metapher, Definition und Bild als Ausdruckssphäre eines Denkers oder einer Zeit nehmen«. 229 Die entsprechenden Begriffe, mit denen Blumenberg die Metaphern im Kontext der von ihm dargestellten europäischen Geistesund Ideengeschichte maßgeblich ins Spiel bringt, sind die Wirklichkeitsbegriffe. Als Querschnitte korrelieren sie mit den metaphorischen Längsschnitten, die dadurch ein zusätzliches strukturgebendes Element an die Seite gestellt bekommen; die Wirklichkeitsbegriffe besitzen einen Status der Idealität, sie fungieren als Zentren, um das sich weitere Metaphern und Begriffe gruppieren lassen. Die Funktion der Umbesetzungen fungiert im Zuge dessen als Scharnier zwischen den Längs- und den Querschnitten. Es ist ein »heuristisches Prinzip«, das »ein Kriterium für das vor[gibt], was überhaupt noch an der Geschichte verstanden werden kann, wenn es in ihr tiefe Umbrüche, Blumenberg: Paradigmen, S. 98. Vgl. hierzu Birgit Recki: Auch eine Rehabilitierung der instrumentellen Vernunft. Blumenberg über Technik und die kulturelle Natur des Menschen, in: Michael Moxter (Hrsg.): Erinnerung an das Humane. Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie Hans Blumenbergs. Mohr Siebeck: Tübingen 2011, S. 39–61. 229 Blumenberg: Paradigmen, S. 49. 227 228

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Zur Hermeneutik: Zentrale Begriffe und Funktionen

Umwertungen, Wendungen gibt, die die gesamte Lebensstruktur betreffen«. 230 Für Blumenbergs Darstellung der europäischen Geistes- und Ideengeschichte ist die Funktion der Umbesetzung essentiell: Indem sie zwischen den unterschiedlichen Epochen bzw. zwischen den verschiedenen Wirklichkeitsbegriffen vermittelt, stellt sie Kontinuität her und ermöglicht dort ein Verstehen der Dynamik der Geschichte, wo Brüche und Diskontinuitäten diese zu fragmentieren drohen. Bevor die historischen Wirklichkeitsbegriffe im Einzelnen diskutiert werden, wird zunächst der Begriff der Wirklichkeit mit Blick auf seine Struktur und Funktion dargestellt.

3.3.4. Der Wirklichkeitsbegriff: Strukturen der Lebenswelt Solange das eigene Leben konfliktfrei verläuft, gibt es keinen Grund, die Wirklichkeit zu thematisieren. Was wirklich ist, versteht sich von selbst, so dass, was wirklich ist, nicht expliziert zu werden braucht, weiß doch jeder unmittelbar, was gemeint ist, wenn wir von dem sprechen, was wirklich ist. 231 Blumenberg gilt der Wirklichkeitsbegriff deshalb als ein implikatives Prädikat: Was wirklich ist, lässt sich nur aus den Implikationen des jeweiligen Wirklichkeitsverständnisses herausarbeiten. Dies »ist deshalb schwierig, weil wir gerade im Umgang mit dem, was uns als wirklich gilt, gar nicht bis zur prädikativen Stufe der ausdrücklichen Feststellung des Wirklichkeitscharakters vordringen«. 232 Der Weg zur Bestimmung dessen, was wirklich ist, führt deshalb zwangsläufig auf »den Umweg über das, was jeweils für unwirklich gehalten« 233 wird und damit über die Negation der Wirklichkeit: »Wirklich ist, was nicht unwirklich ist.« 234 Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle, S. 15. Vgl. Sommer: Wirklichkeit [Art.], S. 363. 232 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans [1964], in: Hans Robert Jauß (Hrsg.): Nachahmung und Illusion (Poetik und Hermeneutik, Bd. 1). Wilhelm Fink: München 31991 (Nachdruck 21969), S. 9–27, hier S. 10. 233 Blumenberg: Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff, S. 3; vgl. auch Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Staatstheorie, in: Schweizer Monatshefte 48 (1968) 2, S. 121–146, hier S. 128. 234 Blumenberg: Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff, S. 3; vgl. auch Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 532. Was sich zunächst tautologisch ausnimmt, gilt Blumenberg als Vorsichtsmaßnahme, die davor bewahren soll, den Wirklichkeitsbegriff aus einer bloßen »Wortgeschichte« (Blumenberg: Vorbemerkungen zum Wirklich230 231

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Wird der Wirklichkeitsbegriff erstens als ein implikatives Prädikat verstanden, das sich auf die Geschichte verwiesen sieht, dann kommt »die versteckteste Implikation einer Epoche, nämlich ihr Wirklichkeitsbegriff, erst zur Explikation […], wenn jenes Wirklichkeitsbewußtsein bereits gebrochen ist«. 235 Der Epochenumbruch steht hier Modell. Zweitens gehen die Wirklichkeitsbegriffe als historische auseinander hervor. Dies bedeutet, dass sie keinem linearen oder teleologischen Geschichtsverlauf folgen, sondern aus der Wechselwirkung rhetorischer Zusammenhänge hervorgehen und d. h., dass sie sich nur in Abgrenzung zueinander in den Blick nehmen lassen: über die Widersprüche und Brüche, über das, was sie gerade nicht mit ihren Vorläufern gemeinsam haben. 236 Im Zuge der Analyse der Wirklichkeitsbegriffe gilt es für Blumenberg, die Selbstverständlichkeiten einer Epoche deskriptiv zu erfassen: »Im Grunde geht es dabei um das, was einer Epoche als das Selbstverständlichste und Trivialste von der Welt erscheint und was auszusprechen ihr nicht der Mühe wert wird, was also gerade deshalb die Stufe der überlegten Formulierung kaum je erreicht.« 237

keitsbegriff, S. 3) abzuleiten, d. h. der primäre Zugriff auf das, was wirklich ist, ist über die Negation zu erschließen und damit gerade über das Moment, das innerhalb der Lebenswelt versagt geblieben ist (vgl. Kap. 3.1.2.). 235 Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 19 236 Wenngleich jeder neu ansetzende Wirklichkeitsbegriff das Resultat des ihm vorausgegangenen und damit in diesem bereits angelegt ist (vgl. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 11), macht Blumenberg deutlich, dass die Wirklichkeitsbegriffe nicht typologisch aufeinander folgen, d. h. sie lösen einander nicht schlicht und einfach »wie mutierende Typen« (ebd., S. 12 (Anm. 5)) ab. Blumenberg sucht zwar mittels der Wirklichkeitsbegriffe jeweils »die versteckteste Implikation einer Epoche« (ebd., S. 19) zu explizieren. Gleichwohl gilt, dass die Wirklichkeitsbegriffe sich nicht ausschließlich auf eine bestimmte Epoche beschränken müssen. In einer bestimmten Epoche können sich durchaus Merkmale und Aspekte anderer Wirklichkeitsbegriffe wiederfinden, so im Falle des dritten und vierten Wirklichkeitsbegriffs (vgl. Kap. 3.4.5. und 3.4.6.). Synonym zur Bestimmung des Wirklichkeitsbegriffs als implikatives Prädikat gilt Blumenberg der Wirklichkeitsbegriff auch als Kontrastbegriff, Wirklichkeit kann nur »in der Relation des Kontrastes begriffen« werden: »Realitäten qualifizieren sich als solche eben dadurch, daß sie gegen den Vorwurf der Irrealität verteidigt werden können.« (Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Staatstheorie, S. 128) Erst »in dem Augenblick, in dem einem praktischen Verhalten, einem theoretischen Satz ihr Realitätsbezug bestritten wird, kommt zutage, unter welchen Bedingungen jeweils von Wirklichkeit gesprochen werden kann« (Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 10). 237 Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 10.

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Werden die Selbstverständlichkeiten reflektiert, dann lassen diese den Wirklichkeitsbegriff als ein, wie Blumenberg sagt, durchgehendes Strukturmerkmal der Lebenswelt hervortreten; in Anlehnung an Husserls Verfahren der eidetischen Deskription möchte Blumenberg die Strukturmerkmale der Lebenswelt auf ihren gemeinsamen Kern konzentrieren. 238 Der Unterschied zu Husserl liegt in Blumenbergs hermeneutischem Zugriff begründet: Der Weg führt für Blumenberg über die Werke der Kultur, aus denen in einem Verfahren der Interpretation der entsprechende Wirklichkeitsbegriff herauspräpariert wird. Die Strukturen der Lebenswelt sind »fundierende[] historische[] Gegebenheiten«, das anhand dieser Strukturen gewonnene Präparat ist der Wirklichkeitsbegriff. 239 Die Möglichkeit, die von Metaphern getragene Dynamik der Geschichte, begrifflich zu erfassen, sieht er in »der Möglichkeit einer historischen Phänomenologie« begründet, so eine Charakterisierung von Blumenbergs Ansatz durch Hans Robert Jauß. 240 Das Verfahren der eidetischen Deskription dient der typologischen Erfassung; die heterogenen und durchaus individuell erlebten Wirklichkeiten lassen sich dadurch auf das ihnen Gemeinsame und Allgemeine konzentrieren und auf den Begriff bringen. In Abgrenzung zu Husserls Auffassung werden die Wirklichkeitsbegriffe Blumenbergs durch den ideengeschichtlichen Rahmen aus Fragen und Antworten bestimmt, der die europäische Geschichte des Denkens umgreift. Analog zu den Erklärungsleistungen und Befragungstole238 Vgl. Poetik und Hermeneutik: Diskussion. Sechste Sitzung. Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. Kunst und Natur in der idealistischen Ästhetik, Vorsitz: Wolfgang Iser [1964], in: Hans Robert Jauß (Hrsg.): Nachahmung und Illusion (Poetik und Hermeneutik, Bd. 1). Wilhelm Fink: München 31991 (Nachdruck 21969), S. 219– 227, hier S. 226. 239 Ebd., S. 226. »Über Endzustände freilich wage ich nichts zu sagen. Es geht mir um eine Analyse von Tendenzen. Dabei darf man den Vorwurf des Präparats nicht scheuen, denn Präparate machen Unsichtbares sichtbar.« (Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Staatstheorie, S. 137) 240 Hans Robert Jauß: Epilog auf die Forschungsgruppe ›Poetik und Hermeneutik‹, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard in Zusammenarbeit mit Matthias Christen (Hrsg.): Kontingenz (Poetik und Hermeneutik, Bd. 17). Wilhelm Fink: München 1998, S. 525–533, hier S. 529. Blumenberg bezeichnet sein eigenes Unterfangen vor diesem Hintergrund auch als eine »Phänomenologie der Geschichte« (Hans Blumenberg: Einleitung, in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Philipp Reclam: Stuttgart 1981, S. 3–6, hier S. 6).

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ranzen einer Epoche, die sich mit der Zeit erschöpfen, kommt es bei den Wirklichkeitsbegriffen zu einer »Ausschöpfung ihrer Implikationen«. Dieser Prozess führt zu einer »Überforderung ihrer Befragungstoleranzen« und treibt die Wirklichkeitsbegriffe in eine »Neufundierung«, die dann das jeweilige Selbstverständnis leitet, in neue Zusammenhänge überführt und damit Epochenzusammenhänge stiftet. 241 Diese Prozesse gehen aus den interpretativ gewonnenen Beweggründen und Motivationsrückhalten hervor und diese werden aus der Beobachtung und Analyse der Wechselwirkungen rhetorischer Handlungen gewonnen. Sie entsprechen damit gerade nicht den Noemata, auf denen Husserl die Kultur zu begründen sucht. 242 Das Verfahren der Typisierung ist phänomenologisch inspiriert, die Dynamik, aus der sich in der Darstellung Blumenbergs die Geschichte ergibt, lässt sich mittels eines ausschließlich phänomenologischen Zugriffs hingegen nicht fassen. Die Leistung des Wirklichkeitsbegriffs liegt gerade darin, weit auseinanderliegende und ganz heterogene Bereiche zusammenzuführen. Er fungiert als Inbegriff und subsumiert die verschiedenen Wirklichkeiten, in denen wir leben, unter sich und zeigt auf, dass wir »unleugbar dasselbe meinen, ohne das Gleiche zu sagen«. Der Wirklichkeitsbegriff führt die pluralen, heterogenen und individuell erlebten Perspektiven zusammen und lässt diese zugleich in ihrer Pluralität, Heterogenität und Individualität bestehen: Die Wirklichkeit ist für Blumenberg »eine gegen das Ideal der wissenschaftlichen Objektivität gerichtete […] Vieldeutigkeit«. 243 Im Kern bestimmt diese Vieldeutigkeit den Wirklichkeitsbegriff, auf dem Blumenberg seine Poetik begründet. 244 Blumenbergs Darstellung begreift die Poetik als Konsequenz, die sich aus der historischen Entwicklung der Wirklich241 Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 12 (Anm. 5); vgl. auch ebd., S. 11. Spätestens mit Blumenbergs Wirklichkeitsbegriff wird deutlich, dass Theorie und Praxis im Denken Blumenbergs immer schon miteinander verwoben sind: »Auf den Wirklichkeitsbegriff konvergieren theoretische und praktische Einstellung.« (Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Staatstheorie, S. 121) 242 Vgl. Kap. 2.2.3 und 2.3. 243 Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 686. 244 Wenngleich an dieser Stelle Kafka das entscheidende Stichwort gibt (vgl. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 685–689), entwickelt Blumenberg dieses Wirklichkeitsverständnis doch maßgeblich in Anschluss an Valéry. Über Kafka und Valéry nähert sich Blumenberg der modernen Ästhetik und Poetik und damit dem Wirklichkeitsbegriff der Moderne, mit dem er selbst operiert (vgl. Kap. 3.5.).

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keitsbegriffe ergibt, von ihr wird im Anschluss an die Darstellung der historischen Wirklichkeitsbegriffe zu sprechen sein. Festzuhalten ist an diesem Punkt, dass die Möglichkeit, die Wirklichkeit in den Blick zu nehmen, Blumenberg über Leitschemata gelingt: über Metaphern. Metaphern erschließen »den Zugang zu den höchsten Abstraktionsgraden«, indem sie diesen Anschaulichkeit verleihen, so auch im Falle der Wirklichkeitsbegriffe. Soll »die Rede von dem implikativen Wirklichkeitsbegriff nicht in die Sterilität abfallen«, dann gilt es, »den Weg zu einer solchen primären Anschaulichkeit freizulegen«. 245 Dieser Weg führt über die Beobachtung und Beschreibung der metaphorischen Verschiebungen und der Begriffsbildungen innerhalb der europäischen Geistes- und Ideengeschichte. Metaphern und Begriffe fungieren in diesem Kontext als prädikative Zuschreibungen, über die sich die Wirklichkeitsbegriffe in ihrer Allgemeinheit, wenn auch mittelbar, erfassen lassen. Durch die prädikativen Zuschreibungen gewinnen die Wirklichkeitsbegriffe an Anschaulichkeit und werden dadurch als historische Wirklichkeitsbegriffe greifbar.

3.4. Die historischen Wirklichkeitsbegriffe Begriffe und Metaphern sind stets wechselseitig aufeinander verwiesen. Der Raum bestimmter Unbestimmtheit, den Metaphern eröffnen, und die Bestimmtheit der Begriffe sind miteinander zu vermitteln, Zeugnis darüber legt Blumenbergs Analyse der historischen Wirklichkeitsbegriffe ab. Diese Analyse folgt einem hermeneutischen Prinzip, das sich aus der rhetorischen Grundlegung der europäischen Geistes- und Ideengeschichte ergibt: Die Geistes- und Ideengeschichte geht aus rhetorischen Wirkungszusammenhängen hervor, die dem Hermeneutiker in Form von Wechselwirkungen aus Fragen und Antworten entgegentreten. Den historischen Epochen bleiben die bereits gegebenen Antworten in Form von Metaphern verborgen. Im Zuge ihrer Analysen ist deshalb jedes Element – »Aussagen, Doktrinen und Dogmen, Spekulationen und Postulate« – als »Versuch einer Antwort« auf die seinerzeit noch »unformulierten Fragen« zu nehmen. Aus diesen Antwortversuchen und den sie leitenden Metaphern ergeben sich die Wirklichkeitsbegriffe. 245

Blumenberg: Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff, S. 4.

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Dass die Fragen irgendwann doch hervortreten, wird Blumenberg zum Anstoß für die Suche nach den Bedingungen, unter denen diese Fragen formuliert werden konnten. Da die Fragen zunächst nicht explizit formuliert wurden, müssen zunächst die bereits bestehenden Antworten in den Blick genommen und auf ihre Kontexte bezogen werden, um die Bedingungen aufzuzeigen, die die Fragen zur Explikation treiben. Diese Kontexte liegen nicht offen zutage, sondern müssen rekonstruiert werden: Jedes zu interpretierende Element ist als »Projektion auf den Hintergrund des Dokumentierten« zu betrachten. Dieser Hintergrund enthält die Bedingungen, unter denen die Antwortversuche einer Epoche die ihr zentralen Fragen hervortreiben und den es zu rekonstruieren gilt: »Daß diese Fragen nicht hätten formuliert werden können, daß sie nicht zufällig nicht in den Texten stehen, macht unsere hermeneutische Aufgabe aus.« 246 Im Folgenden werden die historischen Wirklichkeitsbegriffe vorgestellt, wie Blumenberg diese skizziert: Den ersten Wirklichkeitsbegriff bildet der Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz als der der Antike (Kap. 3.4.1.), den zweiten bildet der der garantierten Realität als der Wirklichkeitsbegriff des Mittelalters (Kap. 3.4.2.). Der Übergang vom Wirklichkeitsbegriff des Mittelalters zu dem der Neuzeit wird durch zwei Zwischenschritte eingeleitet: erstens durch den Epochenumbruch vom Mittelalter zur Neuzeit (Kap. 3.4.3.) und durch eine Darstellung der cartesischen Methodenidee (Kap. 3.4.4.). Insbesondere durch letzteren Schritt wird eine zunehmend deutlichere Abgrenzung gegenüber der husserlschen Phänomenologie erreicht, die im Folgenden über die Darstellung der Wirklichkeitsbegriffe der Neuzeit und Moderne präzisiert wird. Der erste dieser beiden Wirklichkeitsbegriffe ist der der Konsistenz eines einstimmigen und doch zugleich offenen Kontextes (Kap. 3.4.5.), der zweite der des Widerstands (Kap. 3.4.6.). Dem Epochenumbruch vom mittelalterlichen zu den neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriffen kommt im Folgenden besondere Aufmerksamkeit zu, da Blumenbergs Philosophie sich maßgeblich aus den neuzeitlichen bzw. modernen Wirklichkeitsbegriffen ableiten

246 Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle, S. 34. Goldstein spricht mit Blick auf Blumenberg deshalb von einer Hermeneutik des geschichtlichen Hintergrunds (vgl. Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 42–83 sowie Goldstein: Zwischen Texttreue und Spekulation).

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lässt und damit nicht zuletzt seine Poetik. Beide Wirklichkeitsbegriffe überlagern sich seit Beginn der Neuzeit und führen auf die Moderne. Es wird im Zuge der Darstellung dieser beiden Wirklichkeitsbegriffe noch einmal auf die zu Beginn formulierte Kritik an Husserls Geschichtsteleologie zurückzukommen sein. Am Ende der folgenden Darstellung bricht der Problemzusammenhang von Identität und Geschichte auf, dem Blumenberg im Kontext seiner Hermeneutik und Kulturphilosophie mittels einer Poetik zu begegnen sucht.

3.4.1. Antike: Der Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz Der Wirklichkeitsbegriff der Antike wird von Blumenberg als »Realität der momentanen Evidenz« bestimmt. Zur Illustration dient ihm das platonische Höhlengleichnis bzw. die platonische Ideenlehre; der Ausstieg aus der Höhle verspricht die Erkenntnis einer Wirklichkeit höherer Dignität und lässt die bisher als Wirklichkeit wahrgenommene Innenwelt der Höhle als unwirklich erscheinen: Es scheint selbstverständlich, »daß der menschliche Geist beim Anblick der Ideen sofort und ohne Zweifel erfährt, daß er hier die letztgültige und unüberschreitbare Wirklichkeit vor sich habe, und zugleich ohne weiteres zu erkennen vermag, daß die Sphäre des empirisch-sinnlich Gegebenen eine solche Wirklichkeit nicht war und nicht sein kann«. Der antike Wirklichkeitsbegriff ist nicht mit der platonischen Ideenlehre identisch, doch steht Blumenberg zufolge in deren Hintergrund und setzt voraus, »daß das Wirkliche sich als solches von sich selbst her präsentiert und im Augenblick der Präsenz in seiner Überzeugungskraft unwidersprechlich da ist«. 247 Im Umkehrschluss ist das platonische Höhlengleichnis als paradigmatischer Ausdruck des antiken Wirklichkeitsbegriffs zu nehmen. Es bildet die Implikationen des antiken Wirklichkeitsbegriffs ab, die in der Anerkennung einer letztgültigen und unüberbietbaren Wirklichkeit bestehen. 248 Der Überzeugungskraft der Präsenz in momentaner Evidenz lässt sich nicht widersprechen. Die letztgültige und unüberbietbare Wirklichkeit, momentane Evidenz und die Unmöglichkeit zum Widerspruch bilden

247 Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 10 f.; vgl. auch ebd., S. 11 (Anm. 3). 248 Vgl. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, S. 35.

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einen »formale[n] Merkmalskomplex« aus: den Wirklichkeitsbegriff der Antike. 249 Inwieweit Begriff und Metapher in Blumenbergs Betrachtung der europäischen Ideengeschichte miteinander verschränkt sind, wird deutlich, wenn der Blick auf die vielleicht eingängigste Metapher fällt, die Blumenberg im Kontext des antiken Wirklichkeitsbegriffs hervorhebt: das Licht als Metapher der Wahrheit. Unter Zuhilfenahme der Metapher des Lichts artikuliert dieser Zusammenhang einprägsam die zentrale Selbstverständlichkeit des antiken Weltund Selbstverständnisses: »Wahrheit ist Licht am Sein selbst, Sein als Licht, das bedeutet: Sein ist Selbstdarbietung des Seienden.« 250 Dieser formale Merkmalskomplex des antiken Wirklichkeitsbegriffs bewahrt seine Gültigkeit bis an die Grenzen der Spätantike. Die christliche Rezeption der Lichtmetapher verweist erst dort auf ein verändertes Wirklichkeitsverständnis, wo der Mensch und die Dinge nicht mehr unmittelbar vom Licht erfasst werden, sondern zwischen Subjekt und Objekt mit einem Mal eine vermittelnde Instanz einrückt. 251 Der Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz verliert damit zunehmend seine Selbstverständlichkeit für das Selbst- und Weltverständnis des Menschen, er kann nicht länger bezeugen, was wirklich ist und was nicht. Wahrheit ist nicht länger Selbstdarbietung des Seienden, sie zeigt sich nicht von selbst, sondern muss vermittelt werden. Die Wirklichkeitsbegriffe sowie die sie veranschaulichenden Metaphern laufen nicht synchron, sondern weisen jeweils eine eigene Dynamik auf. Auf der einen Seite stehen die Wirklichkeitsbegriffe für formale Merkmalskomplexe, die Epochen auf ein ideales Zentrum konzentrieren, um das sich die verschiedenen Positionen innerhalb einer Epoche gruppieren lassen. Auf der anderen Seite setzen sich Metaphern über die formalen Grenzen der Wirklichkeitsbegriffe hinweg. Sie lassen sich durchaus auf die ihnen entsprechenden Wirklichkeitsbegriffe konzentrieren, sind jedoch nicht auf deren Grenzen restringiert, sie wandeln sich und sind imstande, sich den Kontexten anzupassen. Das Licht als Metapher der Wahrheit lässt sich durchaus

Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 11. Hans Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit [1957], in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, hrsg. von Anselm Haverkamp. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2001, S. 139–171, hier S. 142. 251 Vgl. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 12. 249 250

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in unterschiedlichen Epochen nachweisen, nimmt zu unterschiedlichen Zeiten jedoch andere Bedeutungen an. Handelt es sich um absolute Metaphern, dann ist die veränderte Bedeutung als ein Indiz für gewandelte Kontexte zu nehmen. So findet sich die absolute Metapher des Lichts auch im Kontext des mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriffs wieder.

3.4.2. Mittelalter: Der Wirklichkeitsbegriff der garantierten Realität Eine Eigenart des mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriffs besteht darin, dass Blumenberg diesen von seinen Grenzen aus bestimmt: mit Augustinus aus Perspektive der Spätantike und mit Descartes aus Perspektive der beginnenden Neuzeit. An diesen Grenzen zeigt sich der antike Wirklichkeitsbegriff Blumenberg zufolge am deutlichsten und bleibt implizit für das gesamte Mittelalter bestimmend. Den mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriff selbst weist Blumenberg als »garantierte Realität« aus. Die momentane Evidenz des Wirklichen besitzt keine Gültigkeit mehr für das menschliche Selbst- und Wirklichkeitsverständnis. Fortan muss, was Wirklichkeitsstatus beanspruchen möchte, durch Gott ausgewiesen werden. Gott wird zum »verantwortliche[n] Bürge[n] für die Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis«, die sich nunmehr an ein »Schema der dritten Instanz«, an den »absoluten Zeugen« Gott verwiesen sieht. 252 Dieses Schema einer dritten, vermittelnden Instanz, das das gesamte Mittelalter bestimmen wird, sieht Blumenberg erstmals explizit von Augustinus formuliert. Der menschliche Bezug zur Wahrheit muss vermittelt werden: »Der Mensch kann sich selbst nicht Licht sein«. 253 Der Wirklichkeitsbegriff der garantierten Realität steht damit für die Mittelbarkeit des menschlichen Wirklichkeitsbezugs. Doch wenngleich sich die Wahrheit nicht mehr unmittelbar zeigt, so ist dem mittelalterlichen Denken aufgrund dieser Garantie vonseiten einer dritten Instanz doch ein »tief verwurzeltes Vertrauen« eingeschrieben, »daß die Wahrheit sich ›herausstellt‹, von sich selbst her sich durchsetzt«. 254

252 253 254

Ebd., S. 11 f. Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit, S. 157. Hans Blumenberg: Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik des Be-

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Dieses Schema der dritten Instanz, sieht Blumenberg, wie bereits angedeutet, erstmals von Augustinus zu Zeiten der Spätantike pointiert und zu Beginn der Neuzeit systematisch bei Descartes artikuliert. Descartes’ radikaler Zweifel ist ein Versuch, alle Meinungen und ererbten Wissensbestände von sich zu weisen, um zu einer von Vorurteilen bereinigten Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen, die rein der menschlichen Rationalität entspringt. Letztlich jedoch sei Descartes nicht imstande, das Versprechen auf eine autonome, sich selbst begründende Rationalität einzulösen: Die entscheidende Rückversicherung auf dem Weg zur Wahrheit bietet ihm noch immer die Existenz Gottes. 255 Blumenberg zufolge wird Gott bei Descartes zum deus verax, der dadurch, dass er die Wahrheit spricht, zugleich »Wirklichkeitsdignität« verspricht. 256 Erst aus der Existenz Gottes folgt, dass alle »unsere Ideen oder Grundbegriffe«, die Wirklichkeit bezeugen, von Gott gestiftet sind. 257 Der ontologische Gottesbeweis sichert die Möglichkeit der Wahrheit für das menschliche Erkenntnisvermögen. Gott wird zu der von Blumenberg sogenannten dritten Instanz, zum alleinigen Bürgen, der imstande ist, auszuweisen, was wirklich ist und was nicht. Als sinnliches Wesen ist der Mensch damit noch nicht zugleich auch vor Täuschung gefeit – die Erfahrung kann jederzeit trügen –, doch zumindest die Vernunft erkennt, dass die Begriffe und Ideen, die dem Menschen zur Verfügung stehen, auf ein von Gott gestiftetes Fundament zurückgehen, das Wahrheit verbürgt. 258 Descartes wird die Wirklichkeit erst »durch eine Garantie [verlässlich], deren sich das Denken in einem umständlichen metaphysischen Verfahren versichert, weil es nur so den Verdacht eines ungeheuerlichen Weltbetruges, den es aus eigener Kraft nicht zu durchschauen vermöchte, eliminieren kann«. 259

griffs der wissenschaftlichen Methode, in: Studium Generale 5 (1952) 3, S. 133–142, hier S. 134. 255 Vgl. René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie [1641]. Auf Grund der Ausgaben von Artur Buchenau neu hrsg. von Lüder Gäbe. Durchgesehen von Hans Günter Zekl. Felix Meiner: Hamburg 1993 (Nachdruck 1960), S. 47–50. 256 Blumenberg: Die ontologische Distanz, S. 22. 257 René Descartes: Discours de la Méthode [1637], übers. von Cristian Wohlers. Felix Meiner: Hamburg 2011, S. 67; vgl. auch ebd., S. 69. 258 Vgl. Descartes: Discours, S. 71. 259 Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 12.

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Da der Mensch nicht ausschließlich reines Vernunftwesen, sondern zugleich ein sinnliches Wesen ist, kann er sich trotz allem täuschen. Gott ermöglicht dem Menschen mittelbar die Erkenntnis der Wahrheit, bewahrt ihn jedoch nicht davor, von der Wahrheit abzufallen. An dieser Stelle der Darstellung Blumenbergs tritt die Metapher des Lichts erneut auf den Plan: Die Wahrheit bedarf der methodischen Sicherung, da die »Schönheit dieses unermeßlichen Lichtes« sich nicht selbst Bahn bricht. 260 Eben diese methodische Absicherung führt Descartes Blumenberg zufolge über die »Wirklichkeitsdignität des mittelalterlichen Glaubensbewußtseins« hinaus und hinüber auf den Boden des neuzeitlichen Rationalismus. 261 Das Vertrauen des Mittelalters darauf, dass die Wahrheit sich von selbst zeigt und durchsetzt, schwindet. Im Zuge der neuzeitlichen Entwicklung der Naturwissenschaften wird Gott aus der Gleichung der Wirklichkeitserkenntnis gestrichen. Mit seiner wissenschaftlichen Methode, die jeden Irrtum im Zuge des menschlichen Erkenntnisprozesses auszuschließen verspricht, nimmt Descartes die Neuzeit ein Stück weit vorweg: Die methodisch kontrollierte Erkenntnissicherung verlässt sich nicht mehr auf die dritte Instanz des mittelalterlichen Bürgen, sie setzt ganz auf die menschliche Rationalität als Erkenntnisinstrument auf dem Weg zur Wahrheit. Bevor nachfolgend die Wirklichkeitsbegriffe der Neuzeit und Moderne expliziert werden können, gilt es, die Entwicklung vom Mittelalter zur Neuzeit nachzuzeichnen, die sich für Blumenberg als Epochenumbruch darstellt. Der entscheidende Entwicklungsschritt, der sich mit diesem Epochenumbruch vollzieht, lässt sich als Modalisierung der Kontingenz bezeichnen: Mit dem Epochenumbruch vom Mittelalter zur Neuzeit entrückt der Begriff der Kontingenz der mittelalterlichen Theologie und wird im Kontext der Neuzeit, die ganz auf die menschliche Rationalität setzt, zu einer Modalkategorie; als solche finden wir sie paradigmatisch in der kantischen Kategorientafel aufgeführt. Über die Darstellung der Hermeneutik Blumenbergs hinaus bietet diese Entwicklung zugleich die Grundlage für die Hermeneutik Ricœurs, nicht ohne Grund wird mit Ricœur noch einmal Descartes: Meditationen, S. 48. Blumenberg: Die ontologische Distanz, S. 22. Descartes’ Denken selbst erweist sich für Blumenberg damit als höchst ambivalent, da Descartes mit einem Bein auf dem Boden des mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriffs stehen bleibt – für Blumenberg wird Descartes dadurch zum letzten Scholastiker (vgl. Sommer: Wirklichkeit [Art.], S. 374) –, mit dem anderen schreitet er in Richtung Neuzeit voran (vgl. Kap. 3.4.4.). 260 261

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auf Kant zurückzukommen sein. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, inwieweit der Begriff der Kontingenz das moderne Selbstverständnis prägt, mit Blumenberg gesprochen: Es gilt zu zeigen, wie es dazu kam, dass der Begriff der Kontingenz in den Rang der selbstverständlichsten Selbstverständlichkeit einer Epoche aufrücken konnte. Das Anliegen, aufzuzeigen, dass gerade diese Entwicklung nicht selbstverständlich ist, macht Blumenbergs Hermeneutik aus. Die Funktion, die der Kontingenz in dieser Umbruchsphase zu begegnen weiß, ist Blumenberg zufolge die humane Selbstbehauptung. Sie nimmt sich dem Problem der Kontingenz an, noch bevor sie zur Selbstverständlichkeit einer ganzen Epoche werden sollte.

3.4.3. Der Epochenumbruch vom Mittelalter zur Neuzeit: Kontingenz und Selbstbehauptung Die folgende Darstellung der Genealogie des Kontingenzbegriffs ist darauf aus, die historische Entwicklung der Bedingungen aufzuzeigen, die Blumenberg zufolge die Möglichkeiten geschaffen haben, aufgrund derer der Mensch sich in der Neuzeit und Moderne als ein produktives und schöpferisches Wesen versteht. In der Darstellung Blumenbergs kommt diese Entwicklung einer Befreiung aus der Abhängigkeit und den Zwängen der Theologie des christlichen Mittelalters gleich, ist jedoch nicht mit einer bloßen Selbstermächtigungsgeste der Neuzeit gleichzusetzen. 262 Vielmehr muss der Mensch mit der beginnenden Neuzeit seine Existenzsicherung mit einem Mal aus eigener Kraft erbringen, wurde er doch zuvor noch ganz von den Strukturen der christlichen Heilsgeschichte aufgefangen. Den Rahmen der Analyse der Genealogie des Kontingenzbegriffs bilden die Wirklichkeitsbegriffe des Mittelalters und der Neuzeit. Steht der Wirklichkeitsbegriff der Antike für momentane Evidenz, so der des Mittelalters für garantierte Realität; stellt sich die Wirklichkeit in der Antike unmittelbar dar und lässt keinen Zweifel an ihrer Wahrheit, so schiebt sich im Mittelalter zwischen die Wirklichkeit und den Menschen eine dritte Instanz, die Wirklichkeit und Wahrheit allererst verbürgen muss. Die antike Unmittelbarkeit weicht der mittelalterlichen Mittelbarkeit und doch hat der Mensch noch keinen Grund, an der Verlässlichkeit der Wirklichkeit zu zwei262

Vgl. Anm. 308, S. 223.

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Die historischen Wirklichkeitsbegriffe

feln. Der Unterschied zwischen diesen beiden Wirklichkeitsbegriffen kulminiert Blumenberg zufolge in einer Frage, die die Antike sich nicht gestellt hatte und sich noch nicht stellen konnte. 263 Diese mit dem Mittelalter neu aufkommende Frage ist eine jener Fragen, auf die seinerzeit bereits eine Antwort formuliert worden war, mit dem Unterschied, dass die Antwort, die das Mittalter für sich gefunden hatte, laut Blumenberg in diesem Fall keine absolute Metapher darstellt, sondern im Begriff der Kontingenz kulminiert – der Platz, den Selbstverständlichkeiten einnehmen ist nicht exklusiv für Metaphern reserviert und wird in diesem Fall von einem Begriff besetzt. Als Begriff liegt diese Selbstverständlichkeit offen zutage und muss nicht erst als eine Struktur, die im Hintergrund wirkt, herausgearbeitet werden, wie im Falle von Hintergrundmetaphern. Entscheidend für die folgende Darstellung ist, dass die Antwort in Form des Kontingenzbegriffs bereits gegeben worden war, bevor die wesentlichen Fragen, die das Mittelalter beschäftigen sollten, überhaupt formuliert werden konnten. Im Kontext der christlichen Metaphysik steht der Kontingenzbegriff zunächst für eine Welt, die durch den göttlichen Willen erhalten wird. Der Kontingenzbegriff als Antwort ist, so Blumenberg, »die überschwengliche Behauptung einer ständigen, innigsten, radikalsten Abhängigkeit der Welt von Gott, der nicht nur ihr einmaliger Schöpfer, nicht nur ihr Regent und Verwalter, sondern ›Erhalter‹ im striktesten Sinne sein mußte.« Das Mittelalter selbst erzeugt Blumenberg zufolge einen »Problemüberhang«, der mit den Mitteln und Möglichkeiten jedoch nicht mehr zu lösen war, die dem Menschen im Rahmen des mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriffs zur Verfügung standen. 264 Dieser Problemüberhang führt zur Überlastung der Befragungstoleranzen des mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriffs, die Erklärungsleistung des Kontingenzbegriffs erschöpft sich mit Ende des Mittelalters und provoziert den Übergang zur Neuzeit. Dass der Kontingenzbegriff das gesamte Mittelalter hindurch als Antwort fungiert, bedeutet zugleich, dass er bestimmte Fragen zunächst unterdrückt. Im Gegenzug wird der Kontingenzbegriff mit

263 Vgl. Hans Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität [1970], in: Hans Ebeling (Hrsg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1996, S. 144–207, hier S. 156. 264 Ebd., S. 156.

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der Erschöpfung der Erklärungsleistung des mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriffs freigesetzt und lässt eben diese Fragen aufbrechen, mehr noch: Die Antwort hat, so Blumenberg, das Bedürfnis nach der Frage überhaupt erst geschaffen. 265 Die folgende Darstellung des Epochenumbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit erfolgt in zwei Schritten. In einem ersten Schritt ist der mittelalterliche Kontingenzbegriff sowie dessen Genese darzustellen. Im Zuge dessen geht es, wie so oft bei Blumenberg, auch um die Vorgeschichte der Geschichte, die zu erzählen ist; ohne ihre Vorgeschichte ist die zu erzählende Geschichte in diesem Fall nicht zu verstehen. 266 Epochengrenzen sind nicht absolut, sondern relativ, Epochen gehen fließend ineinander über. Die Vorgeschichte des Kontingenzbegriffs beginnt deshalb bereits mit der Spätantike und bestimmt das gesamte Mittelalter. Am Ende des Mittelalters mündet die Entwicklung dieses Begriffs dann in den von Blumenberg sogenannten theologischen Absolutismus, der im Gegenzug die humane Selbstbehauptung provoziert. Die humane Selbstbehauptung ist in einem zweiten Schritt zu illustrieren; diese nimmt sich dem in seiner Bedeutung veränderten Begriff der Kontingenz an, so dass, was sich nunmehr Kontingenz nennt, zum Signum der Neuzeit und Moderne wird. Der mittelalterliche Kontingenzbegriff ist laut Blumenberg einer »der wenigen Begriffe spezifisch christlicher Herkunft in der Geschichte der Metaphysik«. 267 Dem Mittelalter dient er als Antwort auf eine Problemstellung, die bereits die spätantike Gnosis hervorgebracht hat: Der Kontingenzbegriff des christlichen Mittelalters konnte die gnostische Trennung zwischen Heilsgott und Schöpfergott nur scheinbar überwinden. Er konserviert dadurch den Problemgehalt und tradiert diesen bis zum Ende des Mittelalters. In der Darstellung Blumenbergs bricht das Problem, mit dem sich das christliche Mittelalter auseinanderzusetzen hat, dort überhaupt erst auf. Der Schöpfergott war verantwortlich für das Übel in der Welt. Das Diesseits entspricht nicht der von Gott verfügten Ordnung, diese Ordnung selbst war das Versprechen Gottes auf ein Jenseits, das der transzendente Heilsgott nach der Zerstörung der Welt für den MenVgl. ebd. Vgl. Anm. 427, S. 424. 267 Hans Blumenberg: Kontingenz [Art.], in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 3, hrsg. von Kurt Galling, in Gemeinschaft mit Hans Freiherr von Campenhausen, Erich Dinkler, Gerhard Gloege et al. Mohr Siebeck: Tübingen 31959, Sp. 1793–1794, hier Sp. 1793. 265 266

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schen bereithielt. Angesichts dieses Versprechens stellt sich die Frage nach dem Übel in der Welt nicht: »Die Gnosis bedarf keiner Theodizee«, da der transzendente Heilsgott in die Erschaffung der Welt gar nicht involviert war. Er hebt nur die »illegitime Schöpfung des Demiurgen« auf und stellt dadurch das ursprüngliche Gleichgewicht wieder her. 268 Die gnostische Vorstellung einer symmetrischen Zuordnung von Schöpfung und Heilserwartung unterdrückt die Frage nach Grund und Ursache der Schöpfung, Vertrauen und Hoffnung gingen ganz in der Heilserwartung auf. Blumenberg zufolge kommt es im Mittelalter durch ein »Arrangement des Christentums mit der antiken Metaphysik« zunächst zu einem »neuen Kosmoskonservatismus«. Es ist der Versuch des christlichen Mittelalters, sich in der fortdauernden Schöpfung einzurichten. Der Anschluss an die antike Metaphysik restituiert noch einmal das Vertrauen auf eine naturgegebene, kosmische Ordnung. Die Frage nach Grund und Ursache der Schöpfung Gottes und den in der Welt enthaltenen Übeln tritt in den Hintergrund und lässt vergessen, »daß das Heil des Menschen gerade von der Zerstörung des Kosmos erwartet worden war«. 269 Um im Jenseits aufgehen zu können, musste das Diesseits weichen, so dass die von der Gnosis geschaffene Symmetrie von Schöpfung und Heilserwartung im christlichen Mittelalter keine Relevanz für den Wirklichkeitsbegriff besitzt. Ihre Plausibilität für das frühe Christentum gewann die Gnosis aufgrund der Begründung einer Eschatologie: Sowohl die Existenz der Welt als auch die Übel in ihr besaßen ihre Berechtigung angesichts ihrer eschatologischen Aufhebung in der Transzendenz. Da die Heilsbedeutung gesichert war, galt die Vernichtung der Welt als legitimer Weg. 270 Mit Blick auf die jenseitige Erlösung erschien das Diesseits lediglich als eine Zwischenstation und insofern als bedeutungslos: Weshalb der »Frage nach der Erschaffung und dem Herrn ihrer Geschichte nach[…]gehen, wenn diese Episode alsbald ihr Ende finden sollte«? 271

Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 147 f. Ebd., S. 152. 270 Die Erhaltung der Welt, ihre »conservation«, ist nur »der Aufschub des der Schöpfung symmetrisch zugeordneten Aktes der Vernichtung« (Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung, S. 150). 271 Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 150 f. 268 269

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Es war Marcion, der Blumenberg zufolge für ein Ungleichgewicht innerhalb des gnostischen Systems gesorgt hat, insofern der Heilsprozess von ihm der Zerstörung der Welt nicht mehr symmetrisch zugeordnet wird. 272 Marcion radikalisiert dadurch die gnostische Trennung von Heilsgott und Schöpfergott. Die Heilslehre gründet bei ihm nicht mehr auf einer im Hintergrund wirkenden Ordnung, so dass die Destruktion sowohl des Vertrauens auf die antike Kosmosmetaphysik als auch »des Weltvertrauens, das sich durch den biblischen Schöpfungsbegriff hätte sanktionieren lassen«, den Menschen nicht mehr »in die transzendente Heimat« zurückkehren, sondern ihn in einer ihm unbekannten Fremde aufgehen lassen. 273 Die ursprüngliche Ordnung wird nicht restituiert. Diese Entwicklung, in der Gnosis angelegt und bei Marcion zum Durchbruch gekommen, bezeichnet Blumenberg als Ordnungsschwund. Dieser wird am Ende des Mittelalters in potenzierter Form wiederkehren. Für Blumenbergs Darstellung ist zunächst entscheidend, dass der Versuch des Mittelalters, das Vertrauen auf die antike Kosmosmetaphysik zu restituieren, missglückt. Die gnostische Trennung von Schöpfergott und Heilsgott kann das Mittelalter nicht überwinden. Die Gnosis konnte das frühe Christentum noch davon überzeugen, dass die Zerstörung der Welt durch die Heilsbedeutung, die diesem Ereignis zugleich zukommt, aufgewogen wird. 274 Blumenberg zufolge musste das Ausbleiben der Vernichtung der Welt jedoch »wieder die alten Fragen nach ihrer Herkunft und ihrer Verläßlichkeit auf sich« ziehen. Für das Christentum war die Vorstellung unerträglich, »daß diese Welt der Kerker des Bösen sein sollte und dennoch von der Macht des nach seiner Offenbarung zur Erlösung entschlossenen Gottes nicht zerschlagen wurde«. Damit war das Böse in der Welt. Das Christentum hatte keine andere Wahl und musste sich »auf die Vgl. ebd., S. 148. Der Extremwert der gnostischen Dogmatik Marcions gegenüber anderen gnostischen Systemen liegt für Blumenberg darin, dass »der Heilsprozeß nicht symmetrisch zur Vorgeschichte des Unheils ist«. Marcion lässt die »Menschen […] nicht aus der Fremde der Welt in die transzendente Heimat zurück[kehren], die sie nach der Ordnung der Dinge nie hätten verlassen dürfen, sondern – wie Harnack schwärmerisch sagt – eine herrliche Fremde ist aufgetan und wird ihnen zur Heimat« (Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 150). In Anschluss an Harnacks These, der Katholizismus habe sich gegen Marcion formiert (vgl. ebd.), gilt Blumenberg das Mittelalter als ein »Versuch der endgültigen Absicherung« (ebd., S. 150) wider die gnostische Dogmatik Marcions. 274 Vgl. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 150. 272 273

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Spielregeln der vorgegebenen und fortbestehenden Welt einrichten«. 275 Die Möglichkeit hierzu bietet dem Christentum gerade der Kontingenzbegriff. Blumenberg zufolge formuliert dieser Begriff zunächst eine Antwort, die das christliche Mittelalter auf die Frage nach der Herkunft der Welt bereithält. Er soll insofern gerade verhindern, dass die Frage nach der Existenz der Welt und der Übel überhaupt virulent wird und lenkt den Blick von den Fragen nach der Herkunft der Welt und dem Übel in ihr ab und orientiert diesen in Richtung Transzendenz. Erst wenn diese Antwort in Form des Kontingenzbegriffs in ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit irritiert wird, kann die im Hintergrund stehende Frage nach dem Übel in der Welt und dem Grund ihrer Schöpfung aufbrechen. Der Kontingenzbegriff geht Blumenberg zufolge auf eine Modifikation der aristotelischen Logik zurück, die innerhalb der mittelalterlichen Ontologie vollzogen wird: Die Notwendigkeit, bei Aristoteles noch als logische Modalkategorie gefasst, wird mit dem christlichen Mittelalter in den Bereich der Ontologie und Metaphysik hineingetragen. Die aristotelische Metaphysik, so die Darstellung Blumenbergs, kannte zwar den Gegensatz von Möglichkeit und Wirklichkeit, auf ontologischer Ebene korrelieren beide: Der antike Kosmos »war die volle Ausschöpfung des eidetisch Seinsmöglichen« und »weder in seinem Ursprung noch in seinem Bestand einem absoluten Willensakt zugeordnet«. 276 Es ist der antike Wirklichkeitsbegriff, der hier im Hintergrund steht; Möglichkeit und Wirklichkeit sind deckungsgleich. Der Unterschied von Möglichkeit und Notwendigkeit findet sich in der aristotelischen Metaphysik jedoch nicht; vielmehr ist dieser bei Aristoteles ausschließlich im Kontext der logischen Modalitäten anzutreffen, so Blumenberg. Das Mittelalter trägt die logische Kategorie der Notwendigkeit in die ontologische Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit hinein. 277 Die Kategorie der Notwendigkeit bekommt dadurch ontologische Dignität zugesprochen und bindet, was wirklich und möglich scheint an den Willen Gottes. Die Existenz der Welt wird an der Notwendigkeit »der Idee des unbedingten und notwendigen Seienden gemessen«. 275 276 277

Ebd., S. 151. Blumenberg: Kontingenz [Art.], Sp. 1794. Vgl. ebd., Sp. 1793.

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Der christliche Kontingenzbegriff bringt die Existenz der Welt damit in Abhängigkeit zum »absoluten Willensakt« Gottes. Diese Entwicklung artikuliert Blumenberg zufolge bereits Augustinus: »Seitdem […] Augustin auf die Frage, warum Gott die Welt geschaffen habe, mit dem ›Quia voluit‹ geantwortet hatte […], beruhte die Welt auf einem unbefragbaren Hoheitsakt«. Der Kontingenzbegriff steht für eine Wirklichkeit, die ihr eigenes Existenzrecht nicht in sich selbst trägt, sondern vollkommen abhängig von Gottes Wille ist. Zugleich entzieht sich jedoch der göttliche Schöpfungsakt der Befragbarkeit; die Antwort auf die Frage, aus welchem Grund Gott die Welt geschaffen hat, lautet: Weil er es wollte. Diese einfache Setzung weist jede mögliche Frage nach weiteren Ursachen ab. Augustinus’ Quia voluit bringt zwar bereits zur Zeit der Spätantike die Abhängigkeit der Existenz der Welt vom göttlichen Willen zum Ausdruck, doch der mittelalterliche Kosmoskonservatismus lässt die Frage nach Grund und Ursache des göttlichen Willensaktes zunächst nicht aufkommen. Erst die Ontologisierung der Kategorie der Notwendigkeit führt zu einer Steigerung dieser Abhängigkeit der Existenz der Welt vom göttlichen Willen. Die Kontingenz, noch verstanden als Abhängigkeit der Existenz vom Willen Gottes, führt erst ab dem Moment zu einem Konflikt innerhalb des menschlichen Selbstverständnisses, ab dem die Schöpfung Gottes und der Wille Gottes einander nicht mehr entsprechen. In der Folge kommt es, und darauf liegt Blumenbergs Augenmerk, zu einer »Ontologisierung des ›possibile contingens‹«. 278 Diese Entwicklung vollzieht sich Blumenberg zufolge mit dem Nominalismus und findet ihren Höhepunkt bei Wilhelm von Ockham. Auf begriffsgeschichtlicher Ebene zeigen sich die Probleme, die der mittelalterliche Nominalismus zum Ausdruck bringt, für Blumenberg bereits im Zuge der scholastischen Auslegung der christlichen Schöpfungstheologie. Die Scholastik sucht »die theologische Schöpfungslehre von der aristotelischen Theorie der Bewegung her zu interpretieren«. Zu diesem Zweck musste der unbewegte Beweger Aristoteles’ »mit dem Attribut der Weltschöpfung« ausgestattet werden; die Welt wäre dann jedoch abhängig von einem Moment der »Fremderhaltung«. 279 Die Welt wäre dann von etwas ihr Äußerlichem abhängig, das antike Kosmosvertrauen würde schwinden. 278 279

Ebd., Sp. 1793 f. Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung, S. 166.

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Um das Vertrauen in den Kosmos zu restituieren, musste Gott als Schöpfer sich der kosmischen Ordnung fügen, um auf diese Weise zu verhindern, dass der Begriff der Erhaltung, die conservatio, in die Nähe der Zeitlosigkeit und Ewigkeit, der creatio continua, rückt. Unter Ausschluss des Moments der Fremderhaltung rückt Thomas von Aquin den Schöpfergott zugunsten einer fortdauernden Schöpfung in den Hintergrund. 280 Die Verlässlichkeit des antiken Kosmos wird in Form einer fortdauernden Schöpfung vorerst noch ein letztes Mal restituiert. Im Zuge einer Gegenbewegung kommt es mit dem Nominalismus zu einer Aufwertung des Gottes- bzw. Schöpfungsbegriffs, das Vertrauen in den Kosmos rückt hier in den Hintergrund. Wilhelm von Ockham ermöglicht, was Thomas von Aquin noch zu verhindern versucht hat: den Erhaltungsbegriff der Welt und den Schöpfungsbegriff Gottes zusammenzudenken. Zu diesem Zweck löst Ockham den Begriff der conservatio aus seinem Zusammenhang mit der aristotelischen Philosophie und überführt ihn in die Theologie. 281 Blumenberg zufolge hindert die »begriffskritische Preisgabe der Unterscheidung von creatio und conservatio«, von Schöpfung und Erhaltung der Welt, Ockham daran, in der positiven Bestimmung beider Begriffe überhaupt noch eine Differenz zuzulassen. In ihrer negativen Bedeutung unterscheiden sich beide Begriffe jedoch noch immer voneinander: Die Schöpfung impliziert »die Negation […], daß die Welt unmittelbar vor dem schöpferischen Akt existiert hat, die Erhaltung, daß sie in ihrer Existenz unterbrochen wird«. Fortdauernde Schöpfung und Erhaltung der Welt, creatio continua und conservatio, kommen darin überein, dass die fortdauernde Erhaltung der Welt nur gedacht werden kann, wenn ihr die Existenz vor der Schöpfung abgesprochen wird – die Negation beider Begriffe lässt den Gedanken zu, dass eine Existenz der Welt vor der Schöpfung gleichbedeutend mit der Unterbrechung ihrer fortdauernden Erhaltung ist. Die von Ockham aufgeworfene »Symmetrie zwischen creatio und annihilatio« spielt Blumenberg zufolge deshalb eine so bedeutende Rolle, weil diese Synthese aus dem Schöpfungsbegriff und dessen Negation nicht mehr nur für einen Eingriff des Schöpfergottes in

Vgl. ebd., S. 179. Zu den folgenden Ausführungen vgl. auch Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 11–16, 84–106. 280 281

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die fortdauernde Schöpfung steht. 282 Darüber hinaus spricht Ockham dem Schöpfergott die Möglichkeit zu, seine Schöpfung auch jederzeit vernichten zu können. Die Erhaltung der Welt ist dann absolut abhängig vom Willen Gottes: »Das Sein der Welt nimmt Gnadencharakter an.« 283 Diese Steigerung der Abhängigkeit der Existenz der Welt vom Willen Gottes stellt Blumenberg unter die Überschrift des mittelalterlichen Voluntarismus, der unter anderen Vorzeichen wiederholt, was bereits der Gnosis dem Mittelalter als ungelöstes Problem hinterlassen hatte: »die Frage nach dem Ursprung des Übels in der Welt«. 284 Für Blumenberg gerät das Mittelalter dadurch insgesamt zu einem groß angelegten Versuch einer »endgültigen Absicherung gegen das gnostische Syndrom«. 285 Die gnostische Trennung von Schöpfergott und Heilsgott spiegelt sich in dem Versuch des Mittelalters wider, auf der einen Seite das Vertrauen in den Kosmos zu retten, um so den göttlichen Schöpfungsakt und dessen faktische Schöpfung miteinander zu harmonisieren – diese Entwicklung vollzieht sich Blumenberg zufolge von Augustinus bis in die Hochscholastik hinein. Auf der anderen Seite zeichnet Blumenberg eine Entwicklungslinie nach, die er als theologischen Absolutismus bezeichnet und im Nominalismus realisiert sieht. Der theologische Absolutismus führt dazu, dass der göttliche Wille und die Welt des Menschen voneinander getrennt werden. Der Mensch sieht sich mit dem Ausgang des Mittelalters deshalb vor die Aufgabe einer »zweite[n] Überwindung der Gnosis« gestellt. 286 Die erste Überwindung der Gnosis mit der Hinwendung zum Christentum scheint damit gescheitert. Der mittelalterliche Kosmoskonservatismus kann die Virulenz des Kontingenzbegriffs zunächst zwar verdecken, weiß die Spannung der gnostischen Trennung von Heilsgott und Schöpfergott jedoch nicht aufzulösen. Das Mittelalter konserviert und tradiert diese Spannung unbeachtet, bis sie am Ende des Mittelalters erneut aufbricht. An diesem Punkt nimmt der Kontingenzbegriff in der Darstellung Blumenbergs seine für das Mittelalter zentrale Bedeutung an: Er Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung, S. 180. Blumenberg: Kontingenz [Art.], Sp. 1794. Zur Kritik an Blumenbergs Nominalismus-Deutung vgl. Goldstein: Nominalismus und Moderne. 284 Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 146. 285 Ebd., S. 150. 286 Ebd., S. 158. 282 283

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steht für »die ontische Verfassung einer aus dem Nichts geschaffenen und zum Vergehen bestimmten, nur durch den göttlichen Willen im Sein gehaltenen Welt […], die an der Idee des unbedingten und notwendigen Seienden gemessen wird«. 287 Der von Blumenberg sogenannte Voluntarismus ist wesentlicher Bestandteil des mittelalterlichen Kontingenzbegriffs: Grund und Ursache der Schöpfung sind für den Menschen nicht einsehbar, die Vernichtung der Welt scheint jederzeit möglich; »weil die Schöpfung grundlos ist, […] demonstriert sie die Radikalität des unbegründeten und alles begründenden Willens«. 288 Der Nominalismus kennt als Antwort auf die Frage nach Grund und Absicht der Schöpfung der Welt nur das augustinische Quia voluit, das die Fragen des Menschen jedoch ins Leere laufen lässt und abweist. 289 Die Allmacht Gottes beschränkt sich nicht darauf, Macht auszuüben und die Welt in ihrer Existenz zu halten, sondern impliziert darüber hinaus die Möglichkeit ihrer Negation: »Die Kontingenz der Schöpfung ist über die Bedürftigkeit nach Erhaltung hinaus verschärft zur Möglichkeit der Vernichtung«. 290 In deutlichem Gegensatz zum antiken Wirklichkeitsbegriff, dem die Wirklichkeit als Realisierung alles Seinsmöglichen gilt, steigert der mittelalterliche Wirklichkeitsbegriff den Gott vorbehaltenen Bereich der Möglichkeiten gegenüber der faktischen Schöpfung Gottes: »Vieles von dem, was er schaffen kann, will er nicht schaffen«. 291 Eine Antwort auf die Frage, weshalb Gott die Welt geschaffen hat, wie er sie geschaffen hat, wenngleich er aus einem Reservoir unendlicher und nicht realisierter Möglichkeiten – und vielleicht besserer Möglichkeiten – hätte schöpfen können, bleibt er schuldig. Folgen wir der Darstellung Blumenbergs, dann verschieben sich im Zuge dieser Entwicklung die Relationen, in denen Möglichkeit und Notwendigkeit, Wirklichkeit und Kontingenz zueinander stehen, eine Verschiebung, die den Boden bereitet, auf dem die Neuzeit und Moderne erwachsen.

Blumenberg: Kontingenz [Art.], Sp. 1793. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 176. 289 Vgl. ebd., S. 146, 174. 290 Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung, S. 181. Wird der »absolute Wille« zum »metaphysische[n] Prinzip« erklärt, dann kann die »Verläßlichkeit der Welt nicht begründet werden« und steht unter dem »Vorbehalt des Widerrufs« (Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 172). 291 Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 176. 287 288

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Die Aufwertung des Schöpfergottes führt zu einer Steigerung seiner Macht. Die faktische Realität wird im Gegenzug abgewertet und erscheint als eine, durchaus defizitäre, Realisierung unter anderen möglichen. »Nie ist das Gegebene, die faktische Welt ebensowenig wie die faktische Gnade, das Maximum des Möglichen.« Das Ungenügen der Welt angesichts der unverwirklichten Möglichkeiten, die Gott vorbehalten bleiben, ist Blumenberg zufolge Ausdruck der »Ohnmacht der endlichen Vernunft«. 292 Der theologische Absolutismus des Nominalismus verweigert den »Einblick in die Rationalität der Schöpfung«, die der Mensch rational nicht mehr zu rechtfertigen weiß. 293 Der zentrale Konflikt des ausgehenden Mittelalters liegt für Blumenberg damit in der Konfrontation von göttlicher Allmacht und menschlicher Vernunft begründet: »Göttlicher und menschlicher Geist, schöpferischeres und erkennendes Prinzip verfahren gleichsam ohne Rücksicht aufeinander.« 294 Gott wird für den Menschen zu einem verborgenen Gott, ein Gott, dessen Schaffen und Wirken für den Menschen undurchsichtig und innerhalb der mittelalterlichen Theologie verborgen bleiben. Den von Blumenberg sogenannten Voluntarismus wendet Wilhelm von Ockham auf das logische Prinzip der Widerspruchsfreiheit an – in Blumenbergs Darstellung mit verheerenden Folgen. Ockham unterwirft nicht nur den göttlichen Willen, sondern auch die Frage nach der Schöpfung und, so Blumenberg, selbst noch Gott dem logischen Prinzip der Widerspruchsfreiheit. 295 Gottes Wille ist dann darin absolut, dass der Wille zur Schöpfung gerade »nicht den Willen zur Ebd., S. 188. Ebd., S. 172. 294 Ebd., S. 178. Das entscheidende Ereignis, das die Ohnmacht der Vernunft herbeiführt, bildet für Blumenberg die Verurteilung von 219 Thesen, die aus der Aristoteles-Rezeption des 13. Jahrhunderts hervorgegangen sind. Verantwortlich für die Verurteilung dieser Thesen ist der Pariser Bischoff Stephan Tempier, für den es galt, die Irrlehren der aristotelischen Scholastik, die die göttliche Allmacht beschränkten, zum Wohle der Theologie zurückzuweisen (vgl. hierzu Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 12–14, 99–103). Vor dem Hintergrund der nicht einsehbaren göttlichen Ordnung wird die Macht Gottes dadurch über das erträgliche Maß hinaus gesteigert: Wie sollte z. B. der aristotelische Beweis der »Einzigkeit der Welt« aufrechterhalten werden können, bedeutete dies doch eine »Einschränkung der göttlichen Allmacht« (Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 186). 295 Ockham weitet, so Blumenberg, die »ursprünglich eng gefaßte theologische These« von der Unendlichkeit möglicher Welten »zu der sehr allgemeinen Feststellung aus, daß das Wirken der Gottheit nur am Prinzip des Widerspruchs seine Grenze habe« (Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 187). 292 293

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Vernichtung ausschließt«. 296 Gott ist imstande, sich selbst zu widersprechen und seine Schöpfung zu negieren. Gott kann alles tun, solange sein Handeln nur keinen Widerspruch einschließt. 297 Im Hintergrund des Prinzips des Widerspruchs steht auf ontologischer Ebene kein Idealtypus mehr, der Verbindlichkeit stiftet und auf den die möglichen Welten, die Gott zu schaffen imstande ist, zurückzuführen sein könnten. Fällt dieser Maßstab weg, dann enthält das Notwendige Blumenberg zufolge keine Rechtfertigung der Kontingenz mehr. Die Frage weshalb Gott gerade diese und keine andere Welt geschaffen hat, bleibt unbeantwortet, die Gründe für die Schöpfung der faktisch geschaffenen Welt sind für den Menschen rational nicht mehr nachvollziehbar. Der Begriff der Kontingenz wird dann, so Blumenberg, gleichbedeutend mit Zufälligkeit. 298 Gerade in dieser Bedeutung bildet der Begriff der Kontingenz das zentrale Moment des neuzeitlichen und modernen Wirklichkeitsbegriffs. 299 Die neuzeitliche Philosophie gewinnt ihre Autonomie für Blumenberg in Abgrenzung zur Heteronomie der mittelalterlichen Theologie. 300 Mit Beginn der Neuzeit ist der »Ausweg […] in die Transzendenz« versperrt, die Heilserwartung besitzt keine »humane Relevanz« mehr. 301 Die beginnende Neuzeit versteht Blumenberg als eine Reaktion auf den theologischen Absolutismus und stellt diese unter den Titel der »Selbstbehauptung der Vernunft«. 302 Die Selbstbehauptung bildet eine Funktion, die für Blumenberg im Hintergrund der Identitätsstiftung auf dem Boden der Neuzeit und Moderne wirkt. Der spätmittelalterliche Nominalismus bringt den Menschen mit Beginn der Neuzeit in eine Situation, in der dieser seine Identität aus eigener Kraft erbringen muss. 303 Hat der mittelalterliche Wirklichkeitsbegriff ein Moment der Mittelbarkeit in das Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 187 f. Vgl. Goldstein: Selbstbehauptung [Art.], S. 267. 298 Vgl. Blumenberg: Kontingenz [Art.], S. 1794 sowie Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 187. 299 Vgl. Kap. 3.4.5 und 3.4.6. 300 Vgl. Hans Blumenberg: Autonomie und Theonomie [Art.], in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 1, hrsg. von Hans Freiherr von Campenhausen, Erich Dinkler, Gerhard Gloege et al. Mohr Siebeck: Tübingen 31959, Sp. 788–792. 301 Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 158. 302 Ebd., S. 156. 303 Vgl. Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 55, 58 f. 296 297

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Verhältnis des Subjekts zu den Dingen getragen und Gott als Vermittlungsinstanz eingesetzt, so fällt diese Vermittlungsinstanz mit einem Mal weg. Der Mensch muss die Mittelbarkeit selbst überbrücken. Mittel zum Zweck ist ihm seine Vernunft, die zugleich dafür Sorge tragen muss, seine Identität zu wahren. Die Fremderhaltung einer Welt, in der für den Menschen immer schon ein Platz vorgesehen war, weicht mit der Neuzeit der Selbsterhaltung eines Subjekts, das nicht mehr auf eine von außen gegebene Ordnung zurückgreifen kann. 304 Zweck und Absicht der Welt folgen keiner kosmisch-naturgegebenen oder gottverfügten Ordnung mehr. In der Schöpfung ist kein Platz mehr für den Menschen vorgesehen. Blumenberg zufolge trägt der Nominalismus die Teleologie in den Bereich der Theologie und enthält sie damit der Philosophie vor. Vor dem Hintergrund einer Vielzahl möglicher Welten ist nicht mehr nur die »Frage nach der Qualität der Welt […] sinnlos«, sondern mit der »Ausschaltung der teleologischen Annahmen der Tradition« darüber hinaus auch die Frage »nach ihrem Zweck«. 305 Die dem Menschen nicht zugängliche Ordnung lässt die Teleologie, Sinn und Zweck der Welt sowie der eigenen Existenz in ihr fraglich werden. »Der Leitfaden des Schöpfungsgedankens für das menschliche Selbstverständnis war abgerissen«. 306 Für Blumenberg ist der Ordnungsschwund des ausgehenden Mittelalters zugleich ein Telosschwund – und die neuzeitliche Selbstbehauptung sucht dem Ordnungs- sowie dem Teleosschwund gleichermaßen zu begegnen. Der Teleosschwund zieht die Konsequenz nach sich, »daß der Mensch sich auf die Auseinandersetzung mit der nicht für ihn eingerichteten Welt seinerseits einrichten muß, um der Rücksichtslosigkeit der Prozesse zuvorzukommen und den Mangel ihrer Erträge durch Herstellung auszugleichen«. 307

304 Vgl. hierzu Hans Ebeling: Vorbemerkung des Herausgebers, in: ders. (Hrsg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1976, S. 7–40, hier S. 23–28. 305 Vgl. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 201 f. sowie Hans Blumenberg: Teleologie [Art.], in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 6, hrsg. von Hans Freiherr von Campenhausen, Erich Dinkler, Gerhard Gloege et al. Mohr Siebeck: Tübingen 3 1959, Sp. 674–677, hier Sp. 675 f. 306 Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 207. 307 Ebd., S. 235.

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Was Blumenberg als Selbstbehauptung begreift, steht für die »Rückholung der verlorenen Antriebe« und bewirkt eine »neue[] Konzentration auf das Interesse des Menschen an sich selbst«. 308 Die mittelalterliche Theologie hatte das Interesse ganz auf Gott konzentriert und dadurch eine Gegenbewegung provoziert: Unter dem Titel der neuzeitlichen Selbstbehauptung konnte Blumenberg zufolge »das Interesse des Menschen an sich selbst und seine Sorge um sich selbst absolut werden«. Zwar wird der Mensch sich selbst nicht Gott, doch rückt er Blumenberg zufolge an die Position, an die der Mensch zuvor seine Fragen gerichtet hat, d. h. er besetzt die Stelle der »theologischen Ansprechbarkeit« Gottes. Die Fragen des Menschen, die Gott abgewiesen hat, muss der Mensch sich nun selbst beantworten. Ebd., S. 209. Diese Rückholung bezeichnet keine Inversion der teleologischen Struktur, sondern eine Aufnahme und Umlenkung der teleologischen Antriebe (vgl. Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung, S. 144 f.). Um die prekäre Ausgangslage der Neuzeit schärfer zu konturieren, unterzieht Blumenberg den spätmittelalterlichen Nominalismus zusätzlich einem Vergleich mit der antiken Atomistik, denn ebenso wie für den spätmittelalterlichen Nominalismus ist der Ursprung der Welt für die antike Atomistik rational nicht einsehbar, doch zieht sie andere Konsequenzen daraus als der spätmittelalterliche Nominalismus. Die antike Atomistik überlässt den Weltursprung zwar dem Zufall, dieser enthält jedoch noch immer seine Garantien: Für Epikur, so Blumenberg, ist es die Natur, die diese Garantien gewährt, indem sie einen »teleologischen Rückhalt« (Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 183) stiftet. Sie wird als ein »Modus der Prozesse genommen, die aus sich selbst und von selbst verlaufen« (ebd., S. 184). Die daraus resultierende Zuverlässigkeit sorgt dafür, dass der Mensch sich um die Natur nicht zu kümmern braucht, es kommt bei Epikur dadurch zu einer »innerweltliche[n] Selbstberuhigung« (ebd., S. 179). Ebendieses Vertrauen auf die Zuverlässigkeit der natürlichen Prozesse weist der spätmittelalterliche Nominalismus nicht auf, die teleologischen Rückhalte verschwinden hier in der Undurchsichtigkeit des theologischen Absolutismus. Da der Willkürgott des Nominalismus seine Schöpfung jederzeit zu vernichten imstande ist, schlägt, was zuvor als Beruhigung empfunden wurde, in Beunruhigung um. Die verlorengegangene teleologische Einrichtung der Welt »erzwingt die ruhelose Weltinventur, die sich als Antrieb des Zeitalters der Wissenschaft bezeichnen läßt« (Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 149). Am Ende des Mittelalters steht der Mensch damit scheinbar am Ende einer Sackgasse: Weder scheint ihm der Weg in die rettende Transzendenz, der Weg der christlichen Heilsgeschichte, noch der Weg in die innerweltliche Selbstberuhigung, der Weg der antiken Atomistik, gangbar (vgl. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 152). Die Vorstellung einer bloßen Immanentisierung eines vormals transzendenten Schemas greift für die Darstellung Blumenbergs damit zu kurz, insofern der Mensch in der Neuzeit die Bewältigung der Wirklichkeit nunmehr aus eigener Kraft erbringen muss, angetrieben durch die Unruhe und Verunsicherung, die aus den verlorengegangenen teleologischen Rückhalten resultiert. 308

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»Die theozentrische Struktur bedingt und erzwingt die anthropozentrische.« 309 Die in den Untiefen des theologischen Absolutismus verschwundene Teleologie nimmt der Mensch in die eigene Hand. Die objektive Teleologie einer aristotelischen causa finalis, bis in das späte Mittelalter hinein gültig, wird zu einer Struktur subjektiver Potenzialität. 310 Die Selbsterhaltung ist Blumenberg zufolge ein anthropologisches Merkmal, insofern der Mensch immer schon auf Hilfsmittel und Werkzeuge angewiesen war, um seine Lebensbedürfnisse zu sichern und darin ein Merkmal der menschlichen Rationalität. 311 Für die vorliegende Darstellung ist jedoch weniger die anthropologische Bedeutung von Interesse, als vielmehr die Frage nach dem historischen Kontext, der die Bedingungen schafft, unter denen der Mensch die Möglichkeit zur Selbsterhaltung in die eigene Hand nimmt. Vor dem Hintergrund des mittelalterlichen Kontingenzbegriffs ist die Erhaltung der Welt abhängig von Gottes Wille. Von der Erhaltung des eigenen Selbst kann in diesem Kontext streng genommen nur in Bezug auf ein Wesen gesprochen werden, das nicht in Abhängigkeit zu anderen Wesen steht: Im Kontext des mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriffs kommt damit ausschließlich Gott so etwas wie 309 Hans Blumenberg: Ordnungsschwund und Selbstbehauptung. Über Weltverstehen und Weltverhalten im Werden der technischen Epoche [1962], in: ders.: Geistesgeschichte der Technik, hrsg. von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2009, S. 99–136, hier S. 125. 310 Vgl. Hans Blumenberg: Der kopernikanische Umsturz und die Weltstellung des Menschen. Eine Studie zum Zusammenhang von Naturwissenschaft und Geistesgeschichte, in: Studium Generale 8 (1955) 10, S. 637–648, hier S. 642 sowie mit Blick auf Blumenberg hierzu Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 117 f. und Zambon: Das Nachleuchten der Sterne, S. 76, 83–89; mit Blick auf die Frage der causa finalis bei Aristoteles und der Rezeption teleologischen Denkens vgl. Gerald Hartung: Teleologie und Leben. Kants Kritik teleologischen Denkens, in: Petra Bahr und Stephan Schaede (Hrsg.): Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 1. Mohr Siebeck: Tübingen 2009, S. 365–382 sowie ausführlich zum teleologischen Denken in der europäischen Tradition Robert Spaemann und Reinhard Löw: Natürliche Ziele. Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens. Klett-Cotta: Stuttgart 2005. Dumberger ist an dieser Stelle zu widersprechen, wenn er davon ausgeht, dass Blumenberg in seinem Werk »nicht die Frage nach einer humanen Teleologie« (Dumberger: Lebenssinn und Gerechtigkeit, S. 107) stellt – diese humane Teleologie, von der Dumberger spricht, bildet für Blumenberg gerade ein Moment, das die humane Selbstbehauptung im Kern antreibt und ein mögliches Selbstverständnis befördert (vgl. Kap. 5.). 311 Vgl. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 159 sowie hierzu Goldstein: Selbstbehauptung [Art.], S. 263.

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Selbsterhaltung zu. Selbsterhaltung ist damit zunächst ein theologisches Attribut. 312 Erst die für den Menschen rational nicht mehr einsehbare Ordnung des theologischen Absolutismus zwingt zu einem »Ausbrechen[] der Rationalität aus dem spätmittelalterlichen System […] in die Autonomie und Selbsterhaltung« des Menschen. 313 Das transitive theologische Modell der Fremderhaltung der Existenz der Welt führt nach dem Epochenumbruch zu intransitiven Erhaltungsaussagen, die die neuzeitliche Rationalität bestimmen. 314 Bedingt durch den historischen Kontext wird die Selbsterhaltung vom Menschen zu einer bewusst ergriffenen Möglichkeit, um das eigene Dasein gegenüber dem theologischen Absolutismus zu behaupten: »aus der Notwendigkeit der Selbsterhaltung [wird] die Wendigkeit der Selbstbehauptung«. 315 Die Vernunft macht sich die Funktion der Selbsterhaltung zunutze und ist, neuzeitlich gewendet, im Kern Selbstbehauptung. Sie ist ein »Daseinsprogramm, unter das der Mensch in einer geschichtlichen Situation seine Existenz stellt und in dem er sich vorzeichnet, wie er es mit der ihn umgebenden Wirklichkeit aufnehmen und wie er seine Möglichkeiten ergreifen will«. 316 Die Wendigkeit der Selbstbehauptung führt zur Entdeckung der schöpferischen Potenz des Menschen und in die theoretische Einstellung der technischen und mathematischen Naturwissenschaften. Den entscheidenden Argumentationsschritt bildet an dieser Stelle der Telosschwund, der uns laut Blumenberg die Neuzeit unter dem Titel der Selbstbehauptung überhaupt erst erschließen lässt. Die Kritik an der Teleologie löst »die Klammer der Verbindlichkeit zwischen Welt und Mensch«, infolgedessen die »Naturwelt Gottes und die Werkwelt des Menschen […] als in sich geschlossene Funktionskreise auseinander[treten]«. 317 Die Neuzeit hat sich nicht im Widerspruch gegen das Mittelalter, »sondern als Erwiderung auf die immanente Infragestellung des Mittelalters formiert«. 318 Sie geht aus einem Problem hervor, das den mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriff

Vgl. Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung, S. 148, 191. Ebd., S. 181 f. 314 Vgl. ebd., S. 200. 315 Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 13; vgl. Anm. 199, S. 189. 316 Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 159. 317 Blumenberg: Ordnungsschwund und Selbstbehauptung, S. 126. 318 Ebd., S. 129. 312 313

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an die Grenzen seiner Belastbarkeit getrieben hat und das zugleich ein genuin mittelalterliches Problem darstellt: der Kontingenzbegriff. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass sich die historische Dynamik für Blumenberg aus rhetorischen Wirkungszusammenhängen ergibt, die auseinander, nicht aufeinander folgen. Sie ergeben sich aus Erwiderungen und Widersprüchen, aus rhetorischen Handlungen und folgen keiner Linearität oder Teleologie. Die Zäsur des Epochenumbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit lässt damit keine Linearität oder Teleologie erkennen. Die Kontinuität im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit stiftet laut Blumenberg allein der Überhang der Probleme, die das Mittelalter aufgeworfen hat und selbst nicht lösen konnte. Die Neuzeit sucht, eben diese »Hypothek der Probleme« zu tilgen. 319 Ausdruck dessen ist die mit der Neuzeit gewandelte Bedeutung des Kontingenzbegriffs. Indem die Werkwelt des Menschen von der Naturwelt Gottes geschieden wird, reagiert die Neuzeit auf die vom Mittelalter nicht aufgelöste Spannung zwischen der Welt als natürlichem Kosmos und der Welt als Schöpfung. Dadurch, dass beide Welten auseinandertreten, wird die technisch-mathematische und naturwissenschaftliche Einstellung zu einem wesentlichen Merkmal des neuzeitlichen Selbstverständnisses. Diese Einstellung ist ontologisch nicht mehr auf die Notwendigkeit eines von Gott verfügten absoluten Seienden restringiert. 320 Grundlegend für die Darstellung der Wirklichkeitsbegriffe der Neuzeit und Moderne ist die Bestimmung der Möglichkeit in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit. In der Antike entsprachen Möglichkeit und Wirklichkeit einander, der antike Kosmos galt als »die volle Ausschöpfung des eidetisch Seinsmöglichen«. 321 Der christliche Kontingenzbegriff sorgt für eine erste Umkehr dieses Verhältnisses, insofern alles Wirkliche im christlichen Mittelalter in Abhängigkeit von einem absoluten und notwendigen Seienden steht: Das Gegenmotiv der Theologie gegen die Teleologie ist, so Blumenberg, die »unbefragbare Selbstverherrlichung Gottes in der Schöpfung«. 322 Die ontologische Verbindlichkeit zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit wird auf-

Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 60. Vgl. Ralf Konersmann: Kultur [Art.], in: Robert Buch und Daniel Weidner (Hrsg.): Blumenberg lesen. Ein Glossar. Suhrkamp: Berlin 2014, S. 146–159, hier S. 153. 321 Blumenberg: Kontingenz [Art.], Sp. 1794. 322 Blumenberg: Teleologie [Art.], Sp. 675. 319 320

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gelöst, der Bereich des Möglichen bleibt, für den Menschen nicht einsehbar, Gott vorbehalten und die Wirklichkeit des Menschen demgegenüber defizitär. Mit der Neuzeit erschließt sich der Mensch jedoch einen eigenen Bereich des Möglichen: Die ruhelose Weltinventur der Neuzeit provoziert die konstruktive Erschließung der Welt als einer technischen. Der »immanenten Teleologie der menschlichen Selbstbehauptung« ist das Moment konstruktiver Welterschließung eingeschrieben. 323 Der Mensch restituiert die verlorengegangenen teleologischen Rückhalte, die mit dem theologischen Absolutismus in den Untiefen der Theologie verschwunden waren, aus eigener Kraft. Nachdem er sich die Welt als einen konstruktiv erschließbaren Bereich angeeignet hat, kann er sich in ihr einrichten und wieder auf seine Zwecke hin orientieren. Die Neuzeit bindet das teleologische Moment der Selbstbehauptung an die theoretische und technisch-konstruktive Einstellung. 324 Blumenberg zufolge befreit sie sich dadurch aus der Klammer des mittelalterlichen Kontingenzbegriffs, so dass dieser die Vorzeichen wechselt. Wenn die Welt des Menschen weder die Ausschöpfung des Seinsmöglichen, noch an die Notwendigkeit des göttlichen Willens gebunden ist, dann verbleibt ein Spielraum des Möglichen, den diese Welt gerade ihrer Zufälligkeit verdankt. In dieser Bedeutung bloßer Zufälligkeit ist die Kontingenz nicht mehr Ausdruck einer Heteronomie, sondern Ausdruck der menschlichen Autonomie: Nicht mehr abhängig von Gottes Gnade, wird die Welt als »Natur auf ihre pure Materialität« reduziert, die es dem Menschen ermöglicht, sie technisch und wissenschaftlich zu erschließen. Ab diesem Zeitpunkt reagiert die Neuzeit unter dem Titel der Selbstbehauptung nicht mehr nur auf den Ordnungsschwund des Mittelalters, sondern treibt »die Nivellierung der vorgegebenen Weltstruktur« selbst voran. 325 Sie befördert die Trennung zwischen der Welt Gottes und der Welt des Menschen aus eigenem Antrieb. Blumenberg sieht diese Trennung der Welt des Menschen vom Reich Gottes pointiert von Descartes zum Ausdruck gebracht: Der mittel-

Blumenberg: Ordnungsschwund und Selbstbehauptung, S. 131. Darin gründet für Blumenberg »das tiefe Mißtrauen«, das die Neuzeit »gegen jede theoretisch nicht verifizierbare Teleologie entgegenbringen sollte« (Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 71). 325 Blumenberg: Ordnungsschwund und Selbstbehauptung, S. 132 f. 323 324

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alterliche Telosschwund zieht das Verbot nach sich, »für die Erkenntnis der Natur irgendwelche Aussagen aus einem Zweck, den Gott oder die Natur sich bei ihren Hervorbringungen gesetzt haben könnten, abzuleiten«. 326 Die endliche Vernunft des Menschen kann die Konstruktionsprinzipien der unendlichen Macht Gottes nicht einsehen und damit auch nicht ausmachen, ob ihre eigenen Hypothesen über die Konstruktionsprinzipien der Welt mit den Prinzipien Gottes übereinstimmen. Eine übergeordnete Teleologie wird dadurch preisgegeben. 327 Diesen Aspekt bezeichnet Blumenberg als »theoretisches Bescheidenheitspostulat«. 328 Dieses Postulat restringiert die theoretische Anstrengung auf die Hypothesen, die die menschliche, d. h. endliche Vernunft hervorbringt: »Der Mensch […] akzeptiert seine Endlichkeit, indem er sich jeweils auf die für ihn konstruierbare Möglichkeit beschränkt.« 329 Die Welt des Menschen wird zu einem »Reservoir an Material«, an dem die Neuzeit das »›Ausgangsniveau‹ für eine konstruktive Neukonzeption« der Welt gewinnt. 330 Das theoretische Bescheidenheitspostulat beschränkt den Erkenntnisanspruch auf das, was die endliche Vernunft selbst hervorgebracht hat und dadurch einzusehen imstande ist. Der Kontingenzbegriff in seiner Bedeutung bloßer Zufälligkeit und die Selbstbehauptung legen den Grundstein für Blumenbergs Verständnis der Neuzeit und Moderne sowie für die Frage nach dem Zusammenhang von Identität und Geschichte. Erstens rückt die Kontingenz in den Rang einer Modalkategorie auf und ist damit Teil der menschlichen Rationalität selbst und nicht etwas, das dem Menschen fremd und äußerlich gegenübersteht. Zweitens sucht die Selbstbehauptung dieser Zufälligkeit zu begegnen und provoziert in der Darstellung Blumenbergs im Wesentlichen zwei Strategien, die einen Umgang mit der Kontingenz gewährleisten sollen: die Wissenschaft und die Kunst, die im Folgenden mit dem dritten und dem vierten Wirklichkeitsbegriff darzustellen sind. Um diese in den Blick nehmen zu können, bedarf es einer weiteren Voraussetzung, die auf das neuzeitliche Wissenschaftsverständnis führt und bereits angedeutet wur-

326 327 328 329 330

Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 208. Vgl. Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 135. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 241. Blumenberg: Ordnungsschwund und Selbstbehauptung, S. 131. Ebd., S. 133.

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de: die Idee der wissenschaftlichen Methode, die Blumenberg zufolge Descartes erstmals paradigmatisch entwirft.

3.4.4. Die Methodenidee Descartes’ Der Kontingenzbegriff in seiner Bedeutung bloßer Zufälligkeit löst die ontologische Verbindlichkeit der Welt des Menschen gegenüber Gottes Schöpfung auf. Die Welt des Menschen als zufällig, nicht notwendig realisierte auszuweisen, impliziert die Nivellierung des göttlich verfügten und in seiner Qualität einzigartigen Kosmos auf die Natur als ein Zusammenhang von Quantitäten, der sich im Gegensatz zu einem qualitativ einzigarten, gottgeschaffenen Kosmos methodisch erschließen lässt: Für den Menschen war zwar nicht gleichgültig, so Blumenberg, »welche der möglichen Welten Gott tatsächlich geschaffen hatte; aber da der Mensch dieser Entscheidung nicht auf den Grund gehen konnte, mußte sie gleichgültig gemacht werden«. Da der Mensch nicht mehr nachvollziehen konnte, welche Welt von Gott geschaffen worden war, sah er sich gezwungen, ein Instrumentarium zu entwickeln, das auf jede mögliche Welt anwendbar sein musste. Die in der frühen Neuzeit einsetzende »Mathematisierung und […] Materialisierung der Natur« erschließt die »Gesetzlichkeit einer beliebigen Welt«. 331 Dieses Instrumentarium wird in Form der neuzeitlichen Methodenidee realisiert und maßgeblich, so Blumenberg, von Descartes auf den Weg gebracht. Die Reduktion der Natur auf quantitative Größen, d. h. ihre Mathematisierung und Materialisierung, ist eine Reaktion des Menschen auf eine Ordnung, in der kein Platz mehr für ihn vorgesehen war. Sie geht aus der neuzeitlichen Selbstbehauptung hervor. 332 Das Reich der Möglichkeiten, zur Zeit des Nominalismus allein Gott vorbehalten, für den Menschen nicht einsehbar und bis zum Grad bloßer Zufälligkeit gesteigert, entwirft der Mensch in Form einer technischmechanischen Gegenwelt und unterwirft sie seinen eigenen Bedürfnissen: »An der Differenz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit,

331 Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 190 f. Diese beliebige Welt war, so Blumenberg, »die apriorische, ›reine‹ Naturwissenschaft, die, mit Kant zu sprechen, von dem Begriff einer Natur überhaupt ausging und sich die letzten Bestimmungen einer unspezifischen Materie zum Gegenstand machte« (ebd.). 332 Vgl. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 175.

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zwischen unendlicher Allmacht und faktischer Welt entdeckte der am Ärgernis der Unbegründbarkeit sich stoßende Mensch, daß er etwas anderes als ein Nachahmer der Natur sein konnte.« 333 Die Auflösung der ontologischen Verbindlichkeiten in Form der »Identität von Sein und Natur« führt zu einem »Entwertungsprozeß der Natur« auf der einen, zur »Überwindung der Mimesis-Bindung« auf der anderen Seite. Wie zuvor bereits angedeutet war der aristotelische Mimesis-Begriff bis zum Beginn der Neuzeit auf die ontologischen Vorgaben der Natur als Kosmos restringiert und an der Metapher des Organischen orientiert. 334 Diese Orientierung behält bis in die Hochscholastik hinein ihre Gültigkeit. Erst die Trennung von den ontologischen Verbindlichkeiten mit dem Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit provoziert einen Blickwechsel und damit eine Orientierung an der Metapher des Mechanischen, die ihren Ausdruck in der Nivellierung der Natur auf ihre Materialität findet. Es kommt damit zur Überwindung der MimesisBindung. Das menschliche Schaffen sieht sich nicht länger an den Rahmen gebunden, den die antike Kosmologie und Ontologie vorgegeben hat, der Mensch begreift sich nunmehr selbst als ein schöpferisches Wesen. Die Materialisierung der Natur erweitert den Spielraum seiner konstruktiven Möglichkeiten: »Die Welt als Faktum […] ist die ontologische Voraussetzung für die Möglichkeit […] im Spielraum des Unverwirklichten, […] das originär Menschliche zu setzen«. 335 Seit Descartes können wir Blumenberg zufolge jedoch »nicht mehr mit Gewißheit sagen, welche dieser Möglichkeiten in der Natur verwirklicht ist, sondern nur, mit welcher dieser Möglichkeiten wir funktional zurechtkommen«. 336 Welche der möglichen Welten auch immer geschaffen worden sein mag, wird dann gleichgültig, wenn die Gesetze und Prinzipien imstande sind, jede mögliche Welt zu erfassen – die Gesetze der einen realisierten Welt sind dann erfassbar. Sinn und Zweck der Welt, Ziel und Absicht des göttlichen Wirkens bleiben dem menschlichen Blick verborgen. Descartes’ Idee der wissenschaftlichen Methode zieht die Konsequenz daraus und steht der Frage,

333 334 335 336

Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle, S. 91. Blumenberg: »Nachahmung der Natur«, S. 92 f. Ebd., S. 83. Ebd., S. 92.

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welche Welt aus dem Reich des Möglichen geschaffen wurde, gleichgültig gegenüber. Descartes überwindet die »Krise der Erkenntnisgewißheit« des ausgehenden Mittelalters durch die methodische Neuausrichtung des Erkenntnisanspruchs. 337 Die endliche Vernunft versichert sich ihrer Möglichkeiten durch die »Zurückführung der Welt auf pure Materialität« und lernt so den Fragen, die das Mittelalter aufgeworfen und unbeantwortet gelassen hatte, mit eigenen Mitteln zu begegnen – was mit dem Ausgang des Mittelalters »an Wirklichkeit zugunsten des Menschen nicht mehr vorgefunden wird, erweist sich als Möglichkeit für ihn«. 338 Voraussetzung ist die Annahme, dass die Bedingungen zur Erlangung von Wahrheit im Denken selbst begründet liegen. Das neuzeitliche Verhältnis des Menschen zur Wahrheit führt Blumenberg zufolge jedoch zu einer entscheidenden Verschiebung in der Auffassung der Konzeption der Subjektivität, auf die die Wahrheit noch immer bezogen ist. Wenngleich auch das Mittelalter durch die von Blumenberg sogenannte dritte Instanz ein mittelbares Verhältnis des Menschen zur Wahrheit vorstellt, so scheint dennoch selbstverständlich zu sein, »daß ein einzelner Mensch den Ordo der Wahrheit wenigstens in seinen wesentlichen Zügen umfassen und entfalten könne«. Die Wahrheit war im Mittelalter stets auf den einzelnen Menschen bezogen – der Einzelne war »Träger des Heilsschicksals« und »Zielpunkt des göttlichen Heilswillens«. Die methodische Ausrichtung des Erkenntnisgangs in der Neuzeit hat zur Folge, dass der einzelne Mensch nicht mehr imstande ist, die Wahrheit noch in Gänze aufzunehmen. Die Methodenidee Descartes’ überfordert die erkenntnistheoretische Fassungskraft des Einzelnen, sie erfordert »ein umfassenderes Subjekt als das individuelle«, um die gewonnenen Erkenntnisse überhaupt noch auf ein Subjekt bzw. eine Subjektivität beziehen zu können. Descartes’ Methodenidee integriert deshalb die einzelnen Individuen »als sich ablösende Funktionäre« in eine umfassende Subjektkonzeption. 339 Sie sind »Exemplare eines gattungshaften Tuns« und gehen in das umfassende Subjekt der Methodenidee ein. ZuBlumenberg: Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik, S. 135. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 246 f. 339 Blumenberg: Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik, S. 135. »Die Methode integriert die Vielheit der Funktionäre der neuen Wissenschaft im Prinzip zu einem Subjekt, indem sie ihre Erkenntnistätigkeit so einrichtet, daß sie von ihnen wie eine einzige geistige Aktion vollzogen wird« (ebd.). 337 338

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gleich wird die Methode zu einem Werkzeug, zu einem bloßen Instrument, das von den einzelnen Individuen ablösbar ist. Diese Ablösbarkeit gewährleistet Tradierbarkeit. Unter Absehung vom einzelnen Individuum können die Methode und die methodisch gewonnenen Ergebnisse »von einem auf den anderen beliebig übertragen, von Generation zu Generation übernommen werden«. Dieser Prozess hat zwei Bedingungen zur Voraussetzung, eine ontologische und eine logische. Auf ontologischer Ebene setzt die Methode erstens die Homogenität des gegenständlichen Bereichs voraus, auf logischer Ebene zweitens die Homogenität der Subjekte. Die Homogenität im Objektbereich erreicht die Methode durch Nivellierung der qualitativen Eigenschaften der Gegenstände. Objektivität als Ideal wissenschaftlicher Erkenntnis ist »als wesentlich quantifizierende« bestimmt. 340 Um die einzelnen Individuen in einem methodisch zugerichteten Gesamtsubjekt zusammenfassen zu können, bedarf es ebenso der Homogenität aufseiten des Subjekts. An diesem Punkt lässt sich deutlich erkennen, dass Blumenberg an Descartes die gleiche Kritik formuliert, die er Husserls methodischem Zugriff entgegenbringt: Die Methode, die zur Erkenntnis von Gegenständen dienen soll, überformt das Subjekt. 341 Um die Homogenität aufseiten des Subjekts zu gewährleisten, muss »die ganze Differenziertheit individueller Anlagen und Fähigkeiten, historischer Mitgiften und Bedingungen als reduzierbare Überlagerung eines festen, unwandelbaren Kerns erscheinen«. Der radikale Zweifel Descartes’ legt Blumenberg zufolge ebendiesen Kern frei: Er fördert eine Vernunft zu Tage, die bei allen Subjekten der Anlage nach von gleicher Konstitution ist. Diese Vernunft kennt keine individuellen Eigenschaften und Besonderheiten, sondern rückt dessen ungeachtet die »Konstitutionselemente des einen wissenschaftlichen Generalsubjektes« in den Vordergrund. Der Methodenidee Descartes’ liegt die Voraussetzung zugrunde, den Menschen unabhängig von seiner Individualität auf das, was allen gleichermaßen zukommt, zu nivellieren: auf eine ihrer Konstitution nach gleiche Vernunft. Diese Vernunft ermöglicht ihrerseits die Konstitution einer Methode, die alle Individuen unter sich begreift. Die Metapher des Lichts tritt an diesem Punkt in Blumenbergs Dar340 341

Blumenberg: Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik, S. 135 f. Vgl. Kap. 2.3.

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stellung erneut auf, insofern nunmehr die Vernunft den Weg beleuchtet, dem es zu folgen gilt: Das natürliche Licht der Vernunft »ist in seinem Grundbezug zur Wahrheit nicht an individuelle und geschichtliche Bedingungen gebunden«, sondern muss methodisch geleitet werden, um Wahrheit zu erringen. 342 Die Objektivität wird zum Erkenntnisideal erhoben und normiert rückwirkend das Subjekt: Die einzelnen Subjekte sind homogen und austauschbar; ihre Funktion erfüllen sie als Teil des wissenschaftlichen Generalsubjektes«. Für Blumenberg ist entscheidend, dass Descartes’ Methodenidee die Individualität und Geschichte des Subjekts für gleichgültig erklärt. Für den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt werden sie zu »gleichgültigen und reduzierbaren Momenten«. 343 Descartes’ Methodenidee prägt, wie zu zeigen sein wird, maßgeblich den dritten Wirklichkeitsbegriff. Der vierte Wirklichkeitsbegriff richtet sich gegen diese die Subjektivität in ihrer Individualität nivellierende Tendenz der Methodenidee. Reduziert auf seine Rationalität geht der Mensch in die Methode ein. Seine Individualität findet im Zuge dessen keine Beachtung: »Die Selbstentäußerung des realen individuellen Subjekts wird zur Bedingung der Selbsterfüllung des hypothetischen Generalsubjekts.« Die humane Selbstbehauptung, zu Beginn der Neuzeit doch soeben erst errungen, droht dadurch, ihr Vorzeichen des Humanen preiszugeben. Blumenberg sieht im neuzeitlichen Erkenntnisfortschritt eine Umkehr der Struktur eschatologischer Heilsversprechen: »Nicht mehr die Welt ist der Durchgang, den der Mensch zu seinem jenseitigen Ziel passieren muß, sondern dieser Mensch selbst wird zum Durchgang, den ein universaler Prozeß zu seinem Ziel jenseits des 342 Blumenberg: Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik, S. 136. Die »gewährgebende Instanz des wissenschaftlichen Denkens liegt nicht zuerst in der ›veritas ontologica‹, der Wahrheit der Dinge, sondern in der ›veritas logica‹, der Wahrheitsfähigkeit der Vernunft« (ebd.). Mit Blick auf die Hintergrundmetapher des Organischen und Mechanischen zeichnet sich bei Descartes eine deutliche Abgrenzung gegenüber der Metapher des Organischen ab, die noch das Mittelalter zu weiten Teilen bestimmt hat und die die Metapher des Lichts als Metapher der Wahrheit leitet. Das natürliche Licht der Vernunft ist in der Neuzeit »nicht mehr die schöpfungsmäßig gegebene, unverfügbare Bedingung der Wahrheit […], sondern instrumentales ›Licht‹, das durch die Methode in den ›richtigen Gebrauch‹ genommen wird« (ebd.). Die Methode, orientiert an der Metapher des Mechanischen, leitet nunmehr das menschliche Vernunftvermögen. 343 Blumenberg: Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik, S. 136 f.; vgl. hierzu Renn: Die Verbindlichkeit der Geschichten, S. 317.

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Menschen nimmt.« Das Individuum wird zu einem bloßen Funktionär der Methode; ganz eingegangen in diese Methode entscheidet der Mensch kaum mehr über die Frage, welchen Zwecken der Erkenntnisgewinn dienen soll. Ungeachtet der individuellen Bedürfnisse kommt es zu einer zunehmenden Selbstreferenzialität der wissenschaftlichen Methode, die droht, die mit Ende des Mittelalters freigesetzte Teleologie vollständig in sich aufzunehmen. Technik und Wissenschaft, zu Beginn der Neuzeit als ein Mittel ergriffen, um die mit Ende des Mittelalters verlorengegangene Ordnung zu restituieren und auf die Zwecke des Menschen zu konzentrieren, scheinen die Möglichkeit zur Orientierung auf diese Zwecke wieder preiszugeben. Die wissenschaftliche Methode würde damit den Telosschwund des theologischen Absolutismus in anderer Form wiederholen: Nur aufgrund der Entsagung von den endlichen Kapazitäten der individuellen Subjektivität kann »die Methode selbst zur unendlichen« werden. Sie verliert »ihre genuine Teleologie«. 344 »›Objektivität‹, als Ideal der neuen Wissenschaftlichkeit, bedeutet wesentlich: Ausschließung aller teleologischen Kategorien aus der Erkenntnis«. 345 Die Selbstrefenzialität der Methode ist in der Methode selbst angelegt und droht die Möglichkeit zur Orientierung auf die menschlichen Zwecke zu unterlaufen. Der Mensch kann den methodischen Fortschritt nicht sich selbst überlassen und muss diesen in die eigene Hand nehmen. Blumenberg erinnert daran, dass schon bei Descartes die Methode den Zwecken des Menschen dienen sollte. In letzter Absicht, so Blumenberg, wollte Descartes eine durch wissenschaftliche Erkenntnis erschlossene, absolut zweifelsfreie Moral begründen. 346 Die wissenschaftliche Erkenntnis steht hier ganz im Dienst des Menschen. Blumenberg zufolge hat die Selbstreferenzialität von Technik und Wissenschaft die Ausrichtung des methodischen Erkenntnisgewinns auf ein höheres, humanes Ziel jedoch vergessen lassen. Blumenberg widerspricht zwar, einen »Mythos des ›objektiven Geistes‹ zu schreiben«, der die Geschicke des Menschen lenken würde. 347 Doch er gesteht zu, dass sich in der neuzeitlichen Methodenidee die Motivationsrückhalte, die die Objektivierung und Mathematisierung der 344 345 346 347

Blumenberg: Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik, S. 140 f. Blumenberg: Der kopernikanische Umsturz, S. 642. Vgl. Blumenberg: Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik, S. 137 f. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 208.

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Natur zu Beginn der Neuzeit vorangetrieben hatten, in der Selbstreferenzialität der wissenschaftlichen Methode aufzugehen drohen. Wissenschaft und Technik scheinen eine Eigenlogik auszubilden, die sich der Zwecksetzung des Menschen entzieht. Die Wissenschaft wird dadurch zur zentralen Selbstverständlichkeit des neuzeitlichen Selbstverständnisses. Blumenbergs Anliegen lautet deshalb hinter die erkenntnistheoretische Frage, »was wir denn wissen können«, zurückzublicken, um zu fragen, was es denn gewesen war, das wir »wissen wollten« 348 – und vielleicht noch immer »wissen wollen«. 349 Technik und Wissenschaft sind nur zwei Formen der Verselbständigung von geistigen Objektivationsformen, die sich, vom Menschen hervorgebracht, den Zwecken des Menschen entziehen und als Selbstverständlichkeiten in die Lebenswelt eingehen. Sie bilden deshalb jedoch noch lange keinen Mythos des objektiven Geistes; da sie vom Menschen hervorgebracht wurden, lässt sich deren Eigenlogik reflektieren und auf einen Gesamtzusammenhang beziehen: auf einen Wirklichkeitsbegriff. An diesem Punkt tritt das integrative Moment der Hermeneutik Blumenbergs hervor. Es geht, im Kontext der maßgeblich durch Naturwissenschaften bestimmten Neuzeit, nicht darum, den technischen und mathematischen Naturwissenschaften nachzutragen, was diese vielleicht selbst nicht einmal mehr reflektieren und unlängst in deren Methoden eingegangen ist, als vielmehr darum, die Ergebnisse und Erkenntnisse der Wissenschaften nach innen zu transzendieren, d. h. auf die Wirklichkeit, in der wir leben. 350 Die in die Methode der neuzeitlichen Wissenschaften eingegangenen teleologischen Rückhalte sind, so Blumenberg, zurückzuholen. Eine solche »Rückholung der verlorenen Antriebe« soll einer »neuen Konzentration auf das Interesse des Menschen an sich selbst« zugutekommen, d. h. einem Menschen, für den weder zur Zeit des theologischen Absolutismus, noch im Kontext der neuzeitlichen Methodeni-

Blumenberg: Lesbarkeit, S. 9. Blumenberg: Ernst Cassirers gedenkend, S. 164. 350 Vgl. Hans Blumenberg: Weltbilder und Weltmodelle, in: Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 30 (1961), S. 67–76, hier S. 74; vgl. hierzu Cornelius Borck: Philosophie als »Transzendenz nach innen«. Einleitende Bemerkungen zu Hans Blumenbergs Ortsbestimmung der Philosophie zwischen Wissenschaft und Technik, in: ders. (Hrsg.): Hans Blumenberg beobachtet. Wissenschaft, Technik und Philosophie. Karl Alber: Freiburg, München 22014, S. 9–22. 348 349

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dee ein Platz in der Wirklichkeit vorgesehen ist. 351 Aus dieser Ambivalenz zwischen dem Versuch, das Individuum in einen alle Individuen gleichermaßen umfassenden Zusammenhang einzugliedern, wie Descartes’ Methodenidee dies vorstellt, und den Individuen, die suchen, dieser Tendenz ihrer Nivellierung aktiv entgegen zu treten, speisen sich Blumenbergs Wirklichkeitsbegriffe der Neuzeit und Moderne. Die Neuzeit ist für Blumenberg nicht mehr die Epoche eines homogenen Wirklichkeitsbegriffs, in ihr überlagern sich zwei Wirklichkeitsbegriffe und damit die Neuzeit und Moderne: Der dritte Wirklichkeitsbegriff fasst die Wirklichkeit als einen offenen und in sich einstimmigen Kontext. Er sucht der Methodenidee Descartes’ zu entsprechen und geht aus dieser hervor. Der vierte Wirklichkeitsbegriff weist Wirklichkeit als Erfahrung von Widerstand aus und führt auf die neuzeitliche Kunst und Ästhetik sowie nachfolgend auf Blumenbergs eigene Auffassung der Poetik, die die neuzeitliche Kunst und Technik in sich aufnimmt. Der vierte Wirklichkeitsbegriff geht aus dem dritten hervor und ebnet den Weg von der Neuzeit in die Moderne. Er ist eine Reaktion auf die Implikationen des dritten Wirklichkeitsbegriffs: auf die Eigenlogik bzw. »Eigengesetzlichkeit« 352 der Methode der neuzeitlichen Wissenschaften. 353

3.4.5. Neuzeit und Moderne I: Der Wirklichkeitsbegriff des offenen und in sich einstimmigen Kontextes In Abkehr vom mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriff fasst der dritte Wirklichkeitsbegriff Wirklichkeit als »Realisierung eines in sich ein-

Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 209. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 14. 353 Der dritte und der vierte Wirklichkeitsbegriff bilden zusammengenommen die Wirklichkeitsbegriffe der Neuzeit und der Moderne; eingedenk der Möglichkeit, dass sich mit zunehmender zeitlicher Distanz doch ein homogener neuzeitlicher Wirklichkeitsbegriff herauskristallisieren könnte, verweist Blumenberg auf die Offenheit seiner Analysen: »Jedenfalls müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß die Neuzeit nicht mehr die Epoche eines homogenen Wirklichkeitsbegriffes ist, oder daß die Herrschaft eines bestimmten ausgeprägten Realitätsbewußtseins sich gerade in der Auseinandersetzung mit einer anderen schon formierten oder sich formierenden Möglichkeit, von Wirklichkeit betroffen zu werden, vollzieht.« (Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 14) 351 352

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stimmigen Kontextes«. 354 Die mittelalterliche »Realitätsbürgschaft Gottes« verliert hier ihre Bedeutung. 355 Die Wirklichkeit wird nicht länger durch eine externe Instanz vermittelt, sondern methodisch reguliert; sie ist eine Leistung der menschlichen Rationalität. Zugleich wird das Subjekt methodisch auf das Niveau des am Erkenntnisprozess beteiligten Objekts nivelliert. Im Prozess dieser methodischen Angleichung von Subjekt und Objekt erzeugt die wissenschaftliche Methode einen Gesamtzusammenhang und Kontext, der den dritten Wirklichkeitsbegriff maßgeblich prägt: Die Methode erzeugt durch die Normierung von Subjekt und Objekt Einstimmigkeit, durch die die Wirklichkeit, die diesem Erkenntnisprozess entspringt, an Konsistenz gewinnt: Die »interne Konsistenz alles Gegebenen [ist] mit der möglichen Solidität von Wirklichkeit identisch«. 356 Zusätzlich zur Konsistenz bestimmt Blumenberg den Kontext des dritten Wirklichkeitsbegriffs als einen offenen Kontext; diese Offenheit impliziert zugleich, dass dieser imstande ist, neue Erkenntnisse und individuelle Abweichungen zu integrieren und wieder in Konsistenz zu überführen. Die Wirklichkeit, verstanden als ein offener Kontext, setzt sich aus den verschiedenen Perspektiven der einzelnen Individuen zusammen, die sie unter sich begreift. Jedes Individuum spiegelt eine mögliche Perspektive auf die Wirklichkeit wider und doch ist die Wirklichkeit nicht lediglich die Summe dieser einzelnen Perspektiven. Sie weist vielmehr einen Status der Idealität auf: »Wirklichkeit als sich konstituierender Kontext ist ein der immer idealen Gesamtheit der Subjekte zugeordneter Grenzbegriff, ein Bestätigungswert der in der Intersubjektivität sich vollziehenden Erfahrung und Weltbildung.« 357 In dieser idealen Gesamtheit übersteigt die Wirklichkeit die Erfahrung des Einzelnen. Die Methodenidee, zur Selbstverständlichkeit des neuzeitlichen Selbstverständnisses geronnen, bestimmt die Wirklichkeit in dieser Hinsicht maßgeblich: Die Reduktion des Subjekts auf seine Vernunft hat zur Konsequenz, dass die individuellen Unterschiede verwischen und das Subjekt als Ganzes, d. h. mitsamt der ihm eigenen und individuellen Erfahrungen, innerhalb der Wirklichkeit nicht mehr zu positionieren weiß. Die Wirklichkeit weist die mensch354 355 356 357

Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 12. Ebd., S. 18. Blumenberg: Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff, S. 6. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 13.

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lichen Hoffnungen, Wünsche und Begehren, die individuellen Erfahrungen ab. Sie ist diesen gegenüber steril. Die methodische Nivellierung des Subjekts provoziert dadurch, wie Blumenberg sagt, eine »Standortneutralisierung«. 358 Diesen Sachverhalt nimmt der dritte Wirklichkeitsbegriff in sich auf. Die eigene Perspektive und der eigene, individuelle Standort gehen hier im Kontext auf und sind ganz auf diesen konzentriert. Im Hintergrund steht an dieser Stelle Blumenbergs Lesart der Phänomenologie Husserls, die den Wirklichkeitsbegriff des offenen und einstimmigen Kontextes seines Erachtens maßgeblich expliziert. 359 Die Intersubjektivitätstheorie Husserls, die an dieser Stelle das Vorbild abgeben mag, kann an dieser Stelle nicht eingeholt werden. 360 Das Blumenberg: Der kopernikanische Umsturz, S. 642. Vgl. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 12 (Anm. 5). 360 Die vorliegende Untersuchung stellt Husserl in eine Reihe mit der neuzeitlichen Erkenntnistheorie, der die Stimmigkeit und Konsistenz des dritten Wirklichkeitsbegriffs eingeschrieben ist. Dies hat seinen Grund darin, dass Blumenbergs Kritik an Husserls Geschichtsteleologie sich mit der Kritik an Descartes’ Methodenidee trifft – Blumenberg moniert in beiden Fällen die methodische Überformung des Subjekts durch die Instanziierung einer Erkenntnistheorie, die darauf ausgelegt ist, objektive Erkenntnis zu gewährleisten (zur Kritik Blumenbergs an Husserl vgl. Kap. 2.3.). Husserl gilt Blumenberg »als ein Repräsentant neuzeitlichen Denkens schlechthin« (Müller: Sorge um die Vernunft, S. 55). Was in der vorliegenden Untersuchung allzu kritisch erscheint und sich insbesondere aus Blumenbergs Kritik an der husserlschen Geschichtsteleologie ergibt, lässt sich in Anschluss an Husserl auch positiv, d. h. mit Blick auf Blumenberg deutlich affirmativer gegenüber der Phänomenologie Husserls wenden, wenn auch der Umgang Blumenbergs mit Husserl nicht minder kritisch bleibt. Der Weg führt dann über die von Sommer herausgegebenen Nachlassschriften Blumenbergs, maßgeblich über die Beschreibung des Menschen sowie Zu den Sachen und zurück, und auf eine Intersubjektivitätstheorie, die sich in Anlehnung an sowie in kritischer Abwendung von Husserl herausarbeiten lässt, wie Zambon gezeigt hat (vgl. Zambon: Das Nachleuchten der Sterne, S. 88 f., 101–106). Dieser Weg ist mit Blumenberg über die Nachlassschriften auch durchaus gangbar. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Untersuchung bedeutet dies, dass der dritte den vierten Wirklichkeitsbegriff, wie er im Folgenden vorgestellt wird, wieder einholt. Möglich ist dies, da beide Wirklichkeitsbegriffe, wie Blumenberg deutlich macht, interferieren (vgl. hierzu auch Müller: Sorge um die Vernunft, S. 121). Die husserlsche Phänomenologie wird Blumenberg dann zu einer Philosophie, die das Methodenbewusstsein der neuzeitlichen Wissenschaften teilt, ohne das Subjekt jedoch zugleich dem Objektivismus der Erkenntnistheorie anheim zu geben; die Subjektivität kommt hier zu ihrem Recht, ganz wie es der vierte Wirklichkeitsbegriff fordert – eine offene Frage muss an dieser Stelle allerdings bleiben, ob eine Phänomenologie tatsächlich eine Ästhetik und Poetik im Sinne Blumenbergs, wie sie abschließend dargestellt wird, zu integrieren weiß 358 359

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Anliegen, das hier im Hintergrund steht, lässt sich jedoch ebenso gut über die zuvor dargestellte Geschichtsteleologie Husserls skizzieren: Das einzelne, empirische Bewusstsein bildet im Kontext von Husserls Geschichtsauffassung nur eine Perspektive im Kontext der von ihm sogenannten Ideengeschichte; erst nachdem das Subjekt methodisch eingestellt wurde, kann es Position beziehen und geht dadurch ganz in der europäischen Identität auf. Diese bildet einen Kontext, der alle Subjekte, ungeachtet ihrer individuellen Ausprägung, unter sich zu subsumieren weiß. Es ist die Idee der einen umfassenden Vernunft in ihrer Idealität, die in diesem Fall Einheit stiftet und die die Solidität des Kontextes gewährleistet. Die Identität ist die Geschichte einer allzeit aktualisierbaren, sich unterhalb der empirischen Geschichte durchhaltenden Vernunft. Die Individualität geht in diese ein, die eigene Identität entspricht dann genaugenommen der Idealität des Kontextes und kann aus ebendieser abgeleitet werden. Angesichts des von Blumenberg diagnostizierten Telosschwunds erweist sich die husserlsche Geschichtsteleologie als eine unter anderen Strategien, die verlorengegangene Teleologie zu restituieren. Husserls Unterfangen lässt das Subjekt und mit ihm die Teleologie in die Methode eingehen: Die teleologische Verlaufsrichtung der Geschichte vollzieht sich über die Individuen hinweg. Blumenberg zufolge befördert die theoretische Anlage der Phänomenologie unter dem Vorzeichen der Reduktion und eidetischen Variation maßgeblich die bereits angesprochene Standortneutralisierung, die Blumenberg zufolge von der kopernikanischen Wende provoziert wurde und die er in der Methodenidee Descartes’ für die menschliche Rationalität aufbereitet und fixiert sieht. 361 oder ob sie nicht vielmehr sucht, die Widerständigkeit der Ästhetik und Poetik und die Kontingenz fortwährend zu nivellieren. Dem steht dann ein ästhetisches und poetisches Programm entgegen, dass der Kontingenz und Widerständigkeit Raum gibt, ohne diese zu unterdrücken. Gerade diese Spannung und Ambivalenz zeichnet dann das Verhältnis von Neuzeit und Moderne aus. Nichtsdestotrotz behält auch im Kontext einer möglichen Phänomenologie und Anthropologie Blumenbergs Kritik an der Geschichtsteleologie und Erkenntnistheorie Husserls ihre Gültigkeit. 361 Die Ursache der Neutralisierung des eigenen Standorts ist für Blumenberg ein Resultat der kopernikanischen Wende, die die Erde aus dem Zentrum des Universums verbannt. Der Wechsel vom geo- zum heliozentrischen Weltbild wirkt zurück auf den Betrachter, das Subjekt ebendieser Welt, das mit dieser zugleich seine Zentrierung einbüßt. Die kopernikanische Wende hat Blumenberg im Umfeld seiner Schriften zur Legitimität der Neuzeit bearbeitet und ausführlich in Die Genesis der kopernikanischen Welt dargestellt (vgl. Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen

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Der dritte Wirklichkeitsbegriff ist der eines offenen und zugleich einstimmigen Kontextes: In seiner Offenheit ist er zugleich »auf Vermeidung des Unerwarteten, auf Eindämmung, auf Konsistenz gegen den Fall der Unstimmigkeit angelegt«. 362 Diese Synchronizität der Offenheit und Einstimmigkeit zeigt sich in aller Deutlichkeit im Erkenntnisfortschritt der mathematischen und technischen Naturwissenschaften, der alle zukünftigen Erkenntnisse bereits integriert hat, bevor diese überhaupt gewonnen werden. Die wissenschaftliche Methode steckt den Rahmen ab, der im Vorfeld bestimmt, was als Gegenstand gilt und unter welchen Bedingungen dieser als Gegenstand überhaupt in den Blick rückt. Und was diesen Bedingungen nicht genügt, gilt nicht als Gegenstand und ist des Wissens nicht wert. Diese Einstimmigkeit erzeugt nicht zuletzt die methodisch herbeigeführte Entsprechung von Subjekt und Objekt. Erst die methodische Nivellierung beider ermöglicht die Entsprechung von Rationalität und Wirklichkeit. 363 Die Erfahrung des einzelnen Menschen »ist auf Kategorien reduziert, deren Reichweite […] a priori den Grenzfall des ganz und gar Irregulären ausschließt«. 364 Die neuzeitliche Erkenntnistheorie schließt alles aus dem Bereich des Erkennbaren aus, was nicht methodisch normiert ist. Was sich den erkenntnistheoretischen Bedingungen nicht fügt, geht nicht nur nicht in den methodischen Erkenntnisprozess, sondern auch nicht in die Konstitution der Wirklichkeit ein. Die individuellen Erfahrungen sind dann nicht Bestandteil dieser Wirklichkeit. Sie würden die Konsistenz des Kontextes durchbrechen, da sie an der Objektivität des Gegenstandes nicht nachweisbar sind. Welt, Bd. 1: Die Zweideutigkeit des Himmels. Eröffnung der Möglichkeit eines Kopernikus [1981]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 21989; Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt, Bd. 2: Typologie der frühen Wirkungen. Der Stillstand des Himmels und der Fortgang der Zeit [1981]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 21989; Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt, Bd. 3: Der kopernikanische Komparativ [1981]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 21989; vgl. hierzu maßgeblich Zambon: Das Nachleuchten der Sterne). 362 Blumenberg: Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff, S. 9. 363 Auch der methodische Zugriff Husserls lässt sich für Blumenberg einem solchen Verfahren zuordnen (vgl. Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, S. 9 f.). Zambon hat in dieser Hinsicht treffend formuliert, dass für Husserl »die Welt ist, was der Fall ist; was aber auch anders sein könnte, also nicht notwendig und allgemeingültig ist, ist laut Husserl der Philosophie nicht würdig.« (Zambon: Das Nachleuchten der Sterne, S. 87) 364 Blumenberg: Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff, S. 9.

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Die Eigenlogik der wissenschaftlichen Methode sieht vor, solche Störungen zu vermeiden. Um der Einstimmigkeit und Konsistenz der Wirklichkeit willen bleiben die individuellen, qualitativen Erfahrungen außen vor. Ebendieser Ausschluss provoziert im Gegenzug den vierten Wirklichkeitsbegriff, denn Standortneutralisierung setzt Blumenberg zufolge jederzeit »Standortbewußtsein voraus« – »und erzeugt es in ständig wachsender Schärfe«. 365

3.4.6. Neuzeit und Moderne II: Die Wirklichkeit als Erfahrung von Widerstand Die Wirklichkeit als offener und in sich einstimmiger Kontext bildet in ihrer idealen Gesamtheit der Subjekte einen kollektiven Erfahrungszusammenhang, der die Erkenntnisleistung des einzelnen Subjekts übersteigt. Für Blumenberg ist der Mensch der Neuzeit deshalb auch »das überflutete Wesen«. 366 Die Erschließung der Wahrheit kann nicht mehr sinnvoll auf den einzelnen Menschen bezogen werden; Wahrheit ist nunmehr Ideal und Grenzbegriff eines intersubjektiven Gesamtzusammenhangs, der die einzelnen Erkenntnisse zwar in sich aufnimmt, den das Individuum jedoch nicht mehr zu verarbeiten weiß und das angesichts des immensen Wissens, das akkumuliert wird, überfordert scheint. Den Gesamtzusammenhang zu überblicken, ist dem einzelnen Individuum damit nicht mehr möglich. Die methodische Regulierung von Subjekt wie Objekt dient deshalb dazu, diese Überforderung zu kompensieren, indem sie Konsistenz herstellt. Diese umgibt den Menschen der Neuzeit zugleich jedoch nicht mehr nur diffus in Form der selbstverständlichsten aller Selbstverständlichkeiten, d. h. in Form der Wirklichkeit, sondern steht ihm darüber hinaus in Form von technischen Apparaten und Maschinen anschaulich vor Augen. Der neuzeitliche Gegenentwurf zum Kontingenzbewusstsein des Mittelalters kulminiert in einer technischen Welt, die für eine zunehmende »Realisierung des Möglichen« steht. Die »Ausschöpfung des Spielraums der Erfindung und Konstruktion« führt »zu einer in sich konsistenten, aus Notwendigkeit sich rechtfertigenden Kulturwelt«. 367 365 366 367

Blumenberg: Der kopernikanische Umsturz, S. 643. Blumenberg: Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff, S. 9. Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung, S. 47.

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Die Konsistenz und Einstimmigkeit des dritten Wirklichkeitsbegriffs dient zunächst zur Bewältigung der Kontingenz, die mit dem ausgehenden Mittelalter zu einem Problem geworden war. Aus dieser Strategie der Kontingenzbewältigung resultiert jedoch eine Wirklichkeit, die zunehmend durch Technik und Wissenschaft bestimmt wird. Was in der Methodenidee theoretisch entworfen wird – ein einstimmiger und konsistenter Gesamtzusammenhang –, zeitigt mit einem Mal praktische Konsequenzen, die dort auf Widerstand stoßen, wo das Subjekt droht, dem Objektbereich subsumiert zu werden. Technik und Wissenschaft entziehen sich in ihrer Eigenlogik der Funktion, zu deren Zweck sie einst erdacht worden waren. Die Welt, die sie hervorbringen, ist für Blumenberg »hier das ganz und gar Unverfügbare«. 368 Dass die Welt, dem Menschen äußerlich, unverfügbar zu werden droht, bedeutet jedoch nicht, dass der Mensch sich diese nicht als Wirklichkeit handelnd anzueignen imstande ist: Aus der Welt in ihrer Eigenlogik wird die durch Handlungen hergestellte Wirklichkeit. 369 Der vierte Wirklichkeitsbegriff droht den Unterschied zwischen Welt und Wirklichkeit zu verwischen, die Wirklichkeit tritt dem Menschen dann »als das dem Subjekt nicht Gefügige, ihm Widerstand Leistende« entgegen. 370 Es gilt deshalb, die Solidität und Konsistenz des dritten Wirklichkeitsbegriffs zu durchbrechen – einen Wirklichkeitsbegriff, der als Welt dort unverfügbar zu werden droht, wo der Mensch zwar als Teil in den Gesamtzusammenhang der Welt eingeht, ohne jedoch als Individuum noch aktiv über die Zwecke zu entscheiden, denen diese Welt und die vom Menschen hervor-

Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 14. Sommer hebt Blumenbergs Unterscheidung zwischen den Begriffen Welt und Wirklichkeit hervor. Zwar stehen sowohl der Begriff der Wirklichkeit als auch der der Welt für ein und dasselbe Ganze, jedoch mit dem Unterschied, dass der Begriff der Welt das von außen gegebene Ganze umfasst, der der Wirklichkeit hingegen für die Weise steht, »wie dieses Ganze in sich verfasst, aus seinen Teilen gewebt und gewirkt ist« (Sommer: Wirklichkeit [Art.], S. 363). Wir stehen inmitten der Wirklichkeit, die wir uns handelnd aneignen: Die Wirklichkeit ist damit nicht etwas, das dem Menschen gegenübersteht, sondern etwas, in dem er »lebt« und das er zugleich »selbst ist« (Blumenberg: Ursprung und Kritik des Begriffs der wissenschaftlichen Methode, S. 139). 370 Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 13 f. Sommer leitet aus Blumenbergs viertem Wirklichkeitsbegriff dessen Anthropologie ab (vgl. Sommer: Wirklichkeit [Art.], S. 374). 368 369

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gebrachten Erzeugnisse in ihr dienen sollen. 371 Für Blumenberg gehen die wissenschaftliche und die alltägliche Erfahrung an diesem Punkt auseinander: Die alltägliche Erfahrung »ist in der Spannung von Objektivität und Subjektivität in eigentümlicher Weise indifferent«. Die subjektive und individuelle Erfahrung erscheint im Kontext der methodisch regulierten Erkenntnis als eine Abweichung, die die Methode zu korrigieren sucht. In einem Prozess der Nivellierung und Objektivierung werden individuelle Erfahrungen mithilfe der »Rationalität der Modelle« gedeutet und noch der Beobachterstandpunkt wird »den Bedingungen der Rationalität« unterworfen. Die der Methode unterworfene Subjektivität ist, wie Blumenberg sagt, »unzentriert, mittelpunktfrei« und gewährleistet dadurch lediglich einen Beobachterstandpunkt, der in seiner Objektivität jeder mögliche Standpunkt sein könnte. Vor dem Hintergrund der kopernikanischen Wende gewährt jeder Standpunkt »dieselbe Illusion«. Es scheint gleichgültig zu sein, von wo aus wir auf das Universum blicken, es bietet sich stets der gleiche Anblick. Mit Blick auf die Wirklichkeitsbegriffe Blumenbergs entsteht der Konflikt zwischen dem dritten und dem vierten Wirklichkeitsbegriff an dem Punkt, an dem deutlich wird, dass der dritte Wirklichkeitsbegriff die einzelnen Subjekte zwar auf die Idealität des Kontextes verweist und in den Kontext eingehen lässt, jedoch vom Kontext nicht zurück auf die Subjekte führt; die eigene Standortbestimmung geht ganz im Kontext auf. Jeder mögliche Standort ist so gut wie jeder andere, jede Perspektive bietet ein und denselben Anblick. Dieser Tendenz widersetzt sich Blumenberg zufolge bereits die alltägliche Erfahrung des Subjekts. Ungeachtet der wissenschaftlichen Erkenntnisse lassen wir, so Blumenberg, die Sonne noch immer auf- und untergehen und noch immer empfinden wir »das Licht des Mondes […] nicht als geborgten Glanz« – und dies »obwohl wir die objektiven Verhältnisse genau ›wissen‹ und gegen sie aufzubegehren kaum jemand in den Sinn kommt«. Die Erfahrung des Menschen ist Blumenberg zufolge nicht lediglich das Resultat der Vernunft, sondern geht in gleichem Maße aus der Emotionalität hervor und alle Emotionalität ist »wesentlich Zentrierung der Wirklichkeit auf das Subjekt«. Die menschliche Emotionalität wirkt korrigierend auf die Rationalität und prägt ebenso die menschlichen 371

Vgl. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 14.

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Erfahrungen. Wider das objektive bestärkt sie »das subjektive Moment aller Erfahrung in seinem Recht«. In der Darstellung Blumenbergs hat die wissenschaftlich gefasste Rationalität sich dem Anspruch der Emotionalität widersetzt und diese in einen anderen Bereich abgedrängt, der dadurch mit der Neuzeit »eine einzigartige, mit ihrer vorausgehenden Geschichte unvergleichliche, Bedeutung erlangt hat: die Sphäre der Kunst«. 372 Die Einstimmigkeit und Konsistenz des Kontextes auf der einen, die Unstimmigkeit als Widerstand gegen die Nivellierung des Subjekts auf der anderen Seite erzeugen eine Ambivalenz, mit der die »theoretische Einstellung des Wissenschaftlers« nichts anfangen kann, weil sie darauf eingestellt ist, die Unstimmigkeit in die Konsistenz der Einstimmigkeit zu überführen. 373 Husserls Geschichtsteleologie legt hiervon Zeugnis ab, insofern die Störungen im Gesamtzusammenhang Geschichte, die durch individuelle und empirische Erfahrungen verursacht werden könnten, eidetisch zugerichtet und methodisch in eine »sinnhaft-finale Harmonie« überführt werden. 374 Die Methode sucht hier jeden Widerstand zu überwinden, den die Wirklichkeit der Methode entgegensetzen könnte, um die Konsistenz und Einstimmigkeit der Wirklichkeit zu wahren. Mit ebendiesem Widerstand aber »arbeitet die ästhetische Einstellung«. Sie »richtet sich gegen die Enttäuschung, die im Gelingen der Konsistenz nur das öde Undsoweiter des immer schon Gegebenen sieht«. Dieses öde Undsoweiter ist der sich in Unendlichkeit nach den ewig selben Parametern vollziehende technische und wissenschaftliche Fortschritt. Die ästhetische Einstellung erträgt den »gelingenden Vollzug der theoretischen« jedoch nicht. 375 Von Interesse kann für sie nur werden, was gerade nicht im Vorfeld in seiner Gegenständlichkeit bestimmt ist und damit den Bedingungen der wissenschaftlichen Rationalität unterliegt. Blumenberg zeigt im Durchgang durch die Geistes- und Ideengeschichte auf, wie es im Zuge der Entwicklung der theoretischen und technischen Einstellung sowie der neuzeitlichen und modernen Kunst und Ästhetik zunehmend zu einer Erweiterung des Spielraums kommt, in dem der Mensch, frei von Bindungen an eine naturgege372 373 374 375

Blumenberg: Der kopernikanische Umsturz, S. 643 f. Blumenberg: Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff, S. 9. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 74. Blumenberg: Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff, S. 9.

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bene oder gottverfügte Ordnung, sein schöpferisches Potenzial entfaltet. Voraussetzung ist und bleibt die technische Einstellung: »Die Welt als Faktum – das ist die ontologische Voraussetzung für die Möglichkeit der Erwägung, schließlich für den Antrieb und die Lockung, im Spielraum des Unverwirklichten, durch das Faktische nicht Ausgefüllten, das originär Menschliche zu setzen, das authentisch ›Neue‹ zu realisieren, aus dem Angewiesensein auf ›Nachahmung der Natur‹ ins von der Natur Unbetretene hinaus vorzustoßen.« 376 Blumenbergs Darstellung des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit ist damit auch die Darstellung der »Geschichte der Zersetzung und Entwurzelung der Mimesis-Idee«. 377 Die aristotelische Mimesis-Idee hat das schöpferische Vermögen des Menschen auf die Grenzen des natürlichen Kosmos verwiesen, deren Überwindung erst mit Beginn der Neuzeit erfolgt. Die Voraussetzung schafft die technische Einstellung. Ihr gelingt es, »die Kontingenzbedrängnis im neuzeitlichen Selbstbewußtsein« abzuwehren und die Kontingenz produktiv zu nutzen. 378 Die Bedrängnis der Kontingenz wird transformiert, die Zufälligkeit der Welt wird als Anreiz empfunden und als Antrieb genutzt. Die Bedrängnis der Kontingenz wird dadurch überwunden. Blumenbergs Formel, unter der er die Moderne stellt, lautet »Kontingenz als Stimulans«. Sie steht für die »Bewußtwerdung der demiurgischen Potenz des Menschen« und damit im Hintergrund der technisch-wissenschaftlichen, aber auch der ästhetischen Einstellung, die auf Blumenbergs Poetik führt. 379 Die Neuzeit arbeitet zwar durchaus mit der Kontingenz, ihre Voraussetzung ist, dass sie die Kontingenz als Stimulans begreift, nur erkennt sie diese nicht zugleich auch an. Kontingenz ist die Bedingung der Möglichkeit der technischen Einstellung, die die Neuzeit jedoch sucht zu kompensieren. Die methodische Zurichtung verlangt, dass die Kontingenz in Notwendigkeit, in Konsistenz und Einstim-

Blumenberg: »Nachahmung der Natur«, S. 83. Ebd., S. 77. 378 Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 618 f. »Die äußerte Steigerung des einen, des mittelalterlichen Kontingenzbewußtseins, bringt das andere, das neuzeitliche Kreativitätsbewußtsein, hervor.« (Josef Früchtl: Die Idee des schöpferischen Menschen. Eine Nachgeschichte zu ihrer Vorgeschichte, in: Franz Josef Wetz und Hermann Timm (Hrsg.): Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1999, S. 226–243, hier S. 230) 379 Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung, S. 47. 376 377

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migkeit überführt wird – gerade das macht das Gelingen und den Fortschritt von Wissenschaft und Technik im neuzeitlichen Sinne allererst möglich. Die Moderne entdeckt das Potenzial der Kontingenz auf eine andere Weise und findet einen freieren, spielerischen Umgang mit ihr. Diesen entwickelt sie Blumenberg zufolge maßgeblich im Bereich der Ästhetik und Poetik. Die ästhetische Einstellung lässt die Kontingenz im Gegensatz zur theoretischen und technischen Einstellung gewähren und sucht sie nicht in Einstimmigkeit und Konsistenz zu überführen. Das bedeutet, dass an diesem Punkt der vierte den dritten Wirklichkeitsbegriff ablösen müsste, doch beide überlagern und ergänzen sich, wie zu zeigen sein wird. 380 In einem nächsten Schritt wird die moderne Ästhetik und Poetik im Sinne Blumenbergs dargestellt, im Zuge dessen wird bereits ein Aspekt zu bedenken sein, der nachfolgend unter dem Stichwort der Hermeneutik aufgegriffen wird: Lässt sich der dritte Wirklichkeitsbegriff Blumenbergs anhand der husserlschen Geschichtsteleologie veranschaulichen, die die Kontingenz durch eine übergeordnete und umfassende Teleologie verdeckt und dadurch noch die Identität an diese Teleologie der einen Vernunft und Geschichte bindet, kommt mit dem vierten Wirklichkeitsbegriff, der auf die moderne Ästhetik und Poetik führt, die Frage auf, welche Konsequenzen dies für die Identität mit sich bringt, wenn die Kontingenz freigesetzt und nicht mehr eingehegt und verdeckt wird, sondern vielmehr das Fundament für Identität und Geschichte darstellt.

3.5. Ästhetik und Poetik Bevor die Poetik Blumenbergs entwickelt werden kann, gilt es zunächst, einen genaueren Blick auf die ästhetische Einstellung zu werfen, die die von Blumenberg diagnostizierte Mimesis-Bindung überwindet und hinter sich lässt. Unter dem Titel der Ästhetik subsumiert Blumenberg nicht lediglich die »Leistungen und Gebilde des ästhetischen Schaffens und Genießens« sowie die technisch hergestellten Erzeugnisse, sondern alles, was der Mensch handelnd hervorbringt: »alles, was menschlichem Handeln und Schaffen seinen

380

Vgl. hierzu auch Anm. 360, S. 238.

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Ursprung verdankt, also historische, politische, kulturelle Realität überhaupt«. 381 Die ästhetische Einstellung sieht sich nicht mehr nur auf keine naturgegebene kosmische Ordnung verwiesen, sondern überwindet darüber hinaus noch die Konsistenz und Solidität des methodischen Zusammenhangs, den die theoretische Einstellung erzeugt. Der Gesamtzusammenhang aus Wissenschaft und Technik droht die subjektiven, d. h. qualitativen und emotionalen Aspekte zu nivellieren, so dass der Mensch in seiner Individualität ganz in diesem Gesamtzusammenhang aufgehen müsste; die Wirklichkeit wäre dann eine rein objektiv bestimmte Welt. Die ästhetische Einstellung kann jedoch bewusst machen, dass Technik und Wissenschaft, gleich was für eine Welt sie hervorbringen mögen, ihrerseits »aus einem freien und konstruktiven Prozeß des Erdachtwerdens« hervorgegangen sind. 382 Sie sind Erzeugnisse des Menschen. Dank dieses Bewusstseins verweisen Kunst und Ästhetik »nicht mehr auf ein anderes exemplarisches Sein«, das sie lediglich mimetisch nachahmen und abbilden, vielmehr erlangen die vom Menschen hervorgebrachten Werke einen eigenen Wirklichkeitsrang. Die Werke selbst sind »dieses für die Möglichkeiten des Menschen exemplarische Sein: das Kunstwerk will nicht mehr etwas bedeuten, sondern es will etwas sein«. 383 Die ästhetische Einstellung ist nicht länger an die Nachahmung der Natur gebunden, sondern verweist auf die Werke der Kultur, die ein Reich eigenen Rechts ausbilden. Sowohl die theoretische als auch die ästhetische Einstellung gehen auf die Kontingenz in ihrer mit der Neuzeit gewonnenen Bedeutung von Zufälligkeit zurück. Dass die ästhetische Einstellung als Korrektiv zur theoretischen Einstellung fungiert, liegt in der Art und Weise begründet, wie sie ihre Gegenstände in den Blick nimmt. Die theoretische Einstellung stellt, was sie als Gegenstand begreift, in den Dienst der Methode und sucht diesen eindeutig zu bestimmen. Bevor die theoretische Einstellung ihren Gegenstand überhaupt in den Blick nimmt, weiß sie bereits um die an ihm zu messenden Quantitäten. Der Gegenstand ist methodisch präformiert, da die wissenschaftliche Methode immer schon weiß, worauf es ihr ankommt und was sie erwartet. 381 382 383

Blumenberg: Der kopernikanische Umsturz, S. 644. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 14. Blumenberg: »Nachahmung der Natur«, S. 93.

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Dem steht die ästhetische Einstellung entgegen. Sie nimmt den Gegenstand in seiner Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit in den Blick und bricht dort mit der intrinsischen Logik der theoretischen Einstellung, wo diese die Kontingenz unter die Notwendigkeit ihrer Formelwelten stellt. Die Ästhetik nimmt den Gegenstand, bevor sie etwas über ihn aussagt, in seiner kontingenten Gegebenheit und Unbestimmtheit. Der ästhetische Gegenstand provoziert zwar »für sich selbst Charaktere einer letzten Gegebenheit«, d. h. er motiviert Deutungen und regt zur Interpretation an. Diese Deutungen bleiben Blumenberg zufolge jedoch insofern unbestimmt, als dass sie sich nicht auf eine bestimmte Deutung reduzieren lassen: Am ästhetischen Gegenstand überlagern sich diverse Deutungen, die an diesem selbst zu keinem Abschluss kommen. 384 In dieser Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit wiedersteht der ästhetische Gegenstand der Vereinnahmung durch die theoretische Einstellung und erweist seine Wirklichkeit am Widerstand gegen das unhinterfragte Eingehen in die Solidität der methodisch zugerichteten Wirklichkeit. Er sucht mit dieser Wirklichkeit zu brechen und ist darin konstitutiv für den vierten Wirklichkeitsbegriff: »Diese Paradoxie ist symptomatisch für die Essentialität der Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes.« 385 An die Stelle der eindeutigen Bestimmbarkeit, die die theoretische Einstellung mit ihrem Ideal von Objektivität verspricht, rückt die Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstands als dessen unauflösbare Eigenschaft. Nur in der Pluralität und, wie Blumenberg sagt, Mitpräsenz der sich überlagernden Sinnzuschreibungen und Deutungsangebote erlangt der ästhetische Gegenstand Wirklichkeitsstatus. 386 In dieser Eigenschaft eröffnet er den Bereich menschlichen Schaffens als einen Bereich autonomen Schaffens. Er konzentriert diverse Perspektiven und Deutungen auf sich, ohne in einer der Perspektiven aufzugehen; dieser Multiperspektivismus zerrinnt jedoch nicht in eine bloße Beliebigkeit der Perspektiven. Er verhilft dem ästhetischen Gegenstand vielmehr zu einer ihm eigenen Solidität. Dadurch, dass die diversen Perspektiven sich auf ihn konzentrieren

384 Vgl. Hans Blumenberg: Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes [1966], in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, hrsg. von Anselm Haverkamp. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2001, S. 112–119, hier S. 114. 385 Ebd. 386 Vgl. ebd.

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und er diese zugleich unter sich vereint, erhält er einen eigenen »Charakter der Objektivität«, der jedoch gerade nicht methodisch konstruiert wird. Die ästhetisch erzeugten Produkte »werden nicht erfunden, sondern vorgefunden«. 387 Sie sind Produkte der Kultur und rhetorischen Wechselwirkungen. Indem wir uns auf einen ästhetischen Gegenstand beziehen und uns um diesen positionieren, bringen wir ihn gemeinsam hervor. 388 Die Werke der Kultur sind damit nicht mehr allein das Produkt ihrer Urheber. Blumenberg spricht davon, dass Produzent und Rezipient gleichermaßen Anteil am ästhetischen Gegenstand haben: »Ihre Stellen sind vertauschbar.« Das »Verhältnis des Rezipienten zum ästhetischen Gegenstand ist genauso authentisch, so hoffnungsvoll im Gelingen des deutenden Zugriffs, wie das des Autors«. Der vierte Wirklichkeitsbegriff ermöglicht dadurch, was der dritte dem Subjekt noch vorenthalten hatte: Eine Rückwirkung von der Wirklichkeit auf das Subjekt. Die Auseinandersetzung mit den Werken der Kultur ermöglicht es, sich innerhalb der Wirklichkeit zu positionieren, die der ästhetische Gegenstand aufspannt. Innerhalb dieser Wirklichkeit können alle gleichermaßen einen eigenen Standpunkt beziehen, den sie durch die Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Gegenstand, d. h. im Zuge der Interpretation gewinnen. Der ästhetische Gegenstand zwingt »dem Betrachter die Wahl des Deutungsstandpunktes nicht mehr« auf, sondern lässt ihn frei darüber entscheiden, sein Standpunkt ist Interpretation und Deutung. 389 Die moderne Ästhetik im Sinne Blumenbergs entzieht sich jedem Versuch einer Vereindeutigung und Verabsolutierung. Desto mehr sich der Realitätsgrad des ästhetischen Gegenstands verdichtet und auf Vereindeutigung seiner Deutung tendiert, desto mehr Widerstand übt er zugleich gegen seine Vereindeutigung aus. Die Partizipation all derer, die sich auf ihn beziehen und ihm dadurch zur Realität verhelfen, entreißen ihn zugleich einer eindeutigen Bestimmtheit. Die ästhetische Einstellung eröffnet einen Raum gleichwertiger Partizipation. Im Gegensatz zur theoretischen Einstellung leistet die ästhetische weniger, dies jedoch, so Blumenberg, weil sie zugleich

Ebd., S. 115. Der »Realitätsgrad« der »ästhetischen Produkte« wird durch die »Fiktion einer Intersubjektivität, einer Vertauschbarkeit der Positionen« (ebd., S. 116) gesteigert. 389 Blumenberg: Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes, S. 116 f. 387 388

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mehr aushält. 390 Sie leistet weniger, weil sie keine Bestimmtheit im Sinne theoretisch objektivierbarer Erkenntnisse produziert und damit auch keinen technischen und wissenschaftlichen Fortschritt hervorbringt. Sie hält im Gegenzug jedoch mehr aus, gerade weil sie auf Vereindeutigung und Verabsolutierung verzichtet: Sie lässt »den Gegenstand für sich stark sein […] und ihn nicht in den an ihn gestellten Fragen in seiner Objektivierung aufgehen«. 391 Für Blumenberg steht fest, dass die ästhetische Einstellung nur »formuliert wird […], um sich mit anderen zu messen, um sich gegen andere zu behaupten, aber dies im Sinne einer pluralistischen Versicherung der Relevanz des Gegenstandes, nicht primär der ›Richtigkeit‹ der eigenen Position«. 392 Die Widerständigkeit des ästhetischen Gegenstands wider seine Vereindeutigung bezeugt die Wirklichkeit, die der Gegenstand eröffnet. Die Auseinandersetzung mit ihm ist aktive Partizipation an der Konstitution von Wirklichkeit. Der Gegenstand selbst rückt im Zuge dessen in den Vordergrund, an ihm hängt, so Blumenberg, das »Realitätsbewußtsein«. 393 Die Wirklichkeit des vierten Wirklichkeitsbegriffs ist nicht rein objektiv und quantitativ bestimmt, nicht ausschließlich das Produkt einer Methode, von Wissenschaft und Technik, sondern vielmehr emotional durchsetzt. Es ist die Wirklichkeit, die die Menschen handelnd hervorbringen, deren Wünsche, Begehren, Hoffnungen und Enttäuschungen bestimmen sie qualitativ. Wie sich mit Blick auf Blumenbergs Bestimmung des ästhetischen Gegentands bereits abzeichnet, ist die Ästhetik im Sinne Blumenbergs nicht ohne Rhetorik zu realisieren. Im Kontext der Philosophie Blumenbergs sind genuin ästhetische Gegenstände Metaphern – an diesem Punkt finden Rhetorik, Hermeneutik und Poetik zusammen, es wird sogleich davon zu sprechen sein. Die Metaphern, die für Blumenberg von Interesse sind, stehen nie isoliert in Texten, sondern zeigen sich nur innerhalb von Kontexten; sie gehen aus historisch bedingten, rhetorischen Wirkungszusammenhängen hervor.

Vgl. ebd., S. 118. Ebd., S. 119. 392 Ebd., S. 117. 393 Ebd., S. 114; vgl. auch Hans Blumenberg: Sokrates und das ›objet ambigu‹. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes [1964], in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, hrsg. von Anselm Haverkamp. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2001 S. 74–111, hier S. 105. 390 391

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Metaphern bilden Kontexte aus, Prädikatensysteme. 394 Sie vereinigen verschiedene Perspektiven unter sich und lassen diese zugleich nebeneinander bestehen. Sie ermöglichen es, sich in Relation zu anderen zu positionieren. Die Auseinandersetzung mit ästhetischen Gegenständen ist nie bloßer Genuss, wie Blumenberg bereits mit Blick auf die neuzeitliche Kunst deutlich macht, sondern immer schon »Zentrierung der Wirklichkeit auf das Subjekt«. 395 Diese Zentrierung erfordert die Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Gegenstand, die die Philosophie zur Sprache bringt – und der Aspekt der Sprache führt in einem nächsten Schritt auf die Poetik Blumenbergs. Blumenberg unterscheidet die poetische Sprache von der wissenschaftlichen sowie der traditionell philosophischen Sprache. Die wissenschaftliche und die philosophische Sprache suchen ihm zufolge, wenngleich jede auf ihre Art, Objektivität und Eindeutigkeit in Form von Begriffen herzustellen. 396 Zu diesem Zweck müssen sie die Vieldeutigkeit reduzieren, die bereits die Alltagssprache impliziert. Die poetische Sprache hingegen sucht einen Umgang mit der Vieldeutigkeit und verzichtet auf Vereindeutigung. Unter Einbezug der Poetik macht sich die Philosophie ein Verfahren der Poetisierung zunutze: Sie nimmt sich der Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes an und setzt die ihm implizite »Multiplizität der Bedeutung« frei. Poetisierung ist ein Verfahren zur »Bildung neuer Deutigkeiten«. 397 Diese Gegenbewegung zur Vereindeutigung und Objektivierung der theoretischen Einstellung darf Blumenberg zufolge jedoch nie nur Poetik sein, sondern bedarf als Komplement stets einer Hermeneutik. Im Kontext der Poetisierung als eines Verfahrens zur Erschließung und Vervielfältigung von Bedeutungen, muss die Hermeneutik dafür Sorge tragen, dass die multiplen Sinnangebote sich nicht, wie Blumenberg sagt, »im reinen Nonsense« verlieren: »der hermeneutische Glaube bzw. die hermeneutische Glaubwürdigkeit bleiben Bedingungen der Möglichkeit des ästhetischen Genusses«. 398 Ihre Funktion erfüllt die Hermeneutik in Form der Zentrierung und Positionierung des Subjekts. Dies wird deutlicher, wenn ein Blick auf Vgl. Kap. 3.2. Blumenberg: Der kopernikanische Umsturz, S. 644. 396 Vgl. Hans Blumenberg: Sprachsituation und immanente Poetik [1966], in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Philipp Reclam: Stuttgart 1981, S. 137–156, hier S. 142 f. 397 Ebd., S. 144 f. 398 Ebd., S. 147. 394 395

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Blumenbergs Interpretation der Ästhetik bzw. Poetik Valérys geworfen wird. Valéry ist der entscheidende Stichwortgeber für die Poetik Blumenbergs. Blumenberg entlehnt Valérys Ästhetik erstens die Konzeption des ästhetischen Gegenstands, wie diese bereits dargestellt wurde – der ästhetische Gegenstand ist im Kern durch die »Unüberwindlichkeit seiner Vieldeutigkeit« bestimmt und bringt dadurch die moderne Ästhetik hervor. Blumenberg zufolge geht Valéry zweitens über diese Konzeption des ästhetischen Gegenstands hinaus: Die Ästhetik kann den Gegenstand auf sich beruhen lassen, ohne ihn methodisch zu normieren und dadurch eindeutig zu bestimmen. Im Zuge der Deutung und Interpretation setzt sie »an die Stelle der fremden Unauflösbarkeit [des ästhetischen Gegenstands] die eigene, menschliche Unauflösbarkeit«. 399 Im Bereich der Ästhetik bekommt es der Mensch mit sich selbst zu tun, die Wirklichkeit weist zurück auf das Subjekt, das den ästhetischen Gegenstand und mit diesem die Wirklichkeit handelnd hervorbringt: Der Mensch erfasst sich in all seiner Unbestimmtheit und damit »in seinen Möglichkeiten, um sich seiner Wirklichkeit nicht ausgeliefert zu sehen«. 400 Die Ästhetik untersteht nicht einer von außen auferlegten Ordnung. In ihr bringt der Mensch die Ordnung selbst hervor, in der er sich bewegt. Ästhetik ist Bewältigung der dem Menschen kontingent begegnenden Wirklichkeit. Er begreift sich selbst als Schöpfer von Möglichkeiten, um darin der Wirklichkeit begegnen zu können. In den Werken der Kultur erkennt der Mensch nicht etwas ihm gegenüber Verschlossenes und bloß von außen Gegebenes, sondern etwas genuin Menschliches, das er auf sich selbst zu beziehen imstande ist. In der Unauflösbarkeit der Werke der Kultur entdeckt er seine eigene Unauflösbarkeit. Jede Interpretation hat die gleiche Berechtigung und ist eine unter anderen möglichen. Jede Deutung lässt andere Deutungen zu und geht nur in die rhetorische Auseinandersetzung, um den Gegenstand in den Blick zu nehmen, über den sich die Wirklichkeit konstituiert. Der Mensch wird sich dadurch, so das Anliegen der Hermeneutik Blumenbergs, »selbst gegenwärtig […] in seinen Antrieben, Bedingtheiten und Möglichkeiten«. 401 Blumenberg: Sokrates und das ›objet ambigu‹, S. 105 f. Hans Blumenberg: Paul Valérys mögliche Welten [1982], in: ders.: Lebensthemen. Aus dem Nachlaß. Philipp Reclam: Stuttgart 1998, S. 141–152, hier S. 152. 401 Blumenberg: Die Bedeutung der Philosophie für unsere Zukunft, S. 128. 399 400

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Zu diesen beiden Aspekten gesellt sich ein weiterer, den Blumenberg Valéry entlehnt und der in einem nächsten Schritt auf die Hermeneutik Blumenbergs führt: In seinen Leonardo-Essays sucht Valéry Leonardo da Vinci mit den Mitteln der Ästhetik als historische Persönlichkeit darzustellen. 402 Blumenberg hebt hervor, dass Valéry »dem möglichen Leonardo den Vorzug vor dem wirklichen« gibt. 403 Historische Fakten bieten Valéry gerade nicht die Grundlage für seine Darstellungsweise. Sein Verfahren der Ästhetisierung nimmt die historische Wirklichkeit als Indiz für das, was einst möglich schien: Die Wirklichkeit in Form historischer Fakten rückt in den Hintergrund und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten ästhetischer Gestaltung, die Blumenberg zufolge einen »Spielraum der Freiheit der Selbstgestaltung einer Existenz« eröffnen. Dieser von Valéry eröffnete Spielraum erschließt sich für Blumenberg im Zuge der Interpretation von Geschichte als ein Spielraum der Wechselwirkung, in dem sich rhetorische Wirkungszusammenhänge ausbilden. In Anschluss an Valéry ist dieser Spielraum für Blumenberg nicht mehr nur ein Bereich, in dem die theoretische Einstellung operiert und in dem sich anhand des technisch und konstruktiv Realisierten eine längst realisierte Fortschrittsgeschichte erzählen lässt, sondern die Geschichte öffnet sich noch einmal als ein Bereich des Möglichen, als ein Bereich, der noch nicht abgeschlossen ist: »Das Thema des geschichtlichen Verstehens ist das Verhältnis von Potentialität und Entscheidung, also die Freiheit, aus der Geschichte zum Faktum wird, nicht dieses Faktum als solches.« 404 Das Vorhaben, die Geschichte als einen Bereich des Möglichen aufzuschließen, gelingt Blumenberg zufolge nur der ästhetischen Einstellung. Ihr Weg führt über die Werke, die nicht als feststehende Fakten genommen werden, sondern als Anhaltspunkte, um die in ihnen schlummernde Potenzialität freizulegen: »Das Faktum ist zum 402 Vgl. Paul Valéry: Leonardo. Drei Essays [1895, 1919, 1928, 1933], übers. von Karl August Horst. Insel: Frankfurt a. M. 1960. 403 Blumenberg: Paul Valérys mögliche Welten, S. 144. 404 Blumenberg: Sokrates und das ›objet ambigu‹, S. 88 (Anm. 7); vgl. hierzu Matthias Koch: Valéry, Blumenberg und die Phänomenologie der Geschichte, in: Reinhard Babel, Nadine Feßler, Sandra Fluhrer et al. (Hrsg.): Alles Mögliche. Sprechen, Denken und Schreiben des (Un)Möglichen. Königshausen & Neumann: Würzburg 2014, S. 35–50; über die hier gegebene Deutung hinaus und die Frage nach der Bedeutung Valérys für das Denken Blumenbergs vgl. Ralf Konersmann: Stoff für Zweifel. Blumenberg liest Valéry, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie (1995) 1, S. 46–66.

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bloßen Indiz für das Feld der Möglichkeiten, in dem es auftaucht, zu nehmen. Vom Möglichen kann der Rückblick nicht wissen, ob das eine oder andere verwirklicht worden ist«. 405 Die Vergangenheit, auf diese Weise in den Blick genommen, weiß noch nichts von den Entscheidungen und Ereignissen der Zukunft. 406 Kontingenz bedeutet vor diesem Hintergrund, dass es jederzeit so, aber auch anders hätte kommen können. In ihrer Bedeutung von Zufälligkeit ist Kontingenz dennoch nicht mit Beliebigkeit gleichzusetzen. In Blumenbergs Werk finden sich immer wieder Hinweise darauf, unter welchen Umständen die Geschichte einen anderen Lauf hätte nehmen können. Erst der historische Kontext bedingt, weshalb es gekommen ist, wie es gekommen ist. Blumenbergs Aufmerksamkeit gilt deshalb den Vorgeschichten und Präfigurationen, den Seitenwegen und den abgebrochenen, wiederaufgenommenen und unerledigten Rezeptionen. 407 Der historische Kontext wirkt regulierend auf die schier unendlichen Möglichkeiten, die Ästhetik und Poetik freilegen. Die ontologische Voraussetzung ist, wie Blumenberg deutlich macht, die Kontingenz. Sie ermöglicht es, die Geschichte als einen Raum des Möglichen zu begreifen, den der Mensch handelnd hervorbringt – auch wenn der Mensch, was er in diesem Fall macht, nicht auch zugleich bewusst lenken kann. Die Geschichte wird für Blumenberg zu einem Raum möglicher Selbstgestaltung. Die Ästhetisierung des historischen Rückblicks bewirkt, dass sich Geschichte nicht mehr als konsequenter Vollzug eines linearen oder teleologischen Verlaufs darstellen lässt. Dies zeigt sich noch an der Darstellung historischer Persönlichkeiten bzw. der historischen Akteure, sowohl in der Darstellung Valérys als auch in der Blumenbergs. Die Pluralisierung möglicher Deutungen und die Aufwertung der Möglichkeit gegenüber der Wirklichkeit scheinen das Denken 405 Hans Blumenberg: »Mon Faust« in Erfurt, in: Akzente: Zeitschrift für Literatur 30 (1983) 1, S. 42–57, hier S. 50; zu dieser Übertragung des über die Ästhetik entwickelten Multiperspektivismus auf die Geschichte vgl. Goldstein: Deutung und Entwurf. 406 Die Kontingenz historischer Ereignisse ist gleichbedeutend mit ihrer, wie Angehrn pointiert, »Nicht-Antizipierbarkeit der Maßstäbe und kategorialen Formen […], unter denen die historische Welt beschrieben und bewußtseinsmäßig konstituiert wird; historische Vernunft sprengt die Fesseln des gesetzgebenden Verstandes, der die Strukturen der Welt im voraus entwirft.« (Angehrn: Geschichte und Identität, S. 92) 407 Zum Begriff der Präfiguration bei Blumenberg vgl. Nicholls und Heidenreich: Nachwort der Herausgeber.

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Leonardos, wie Valéry selbst betont, »nicht an eine besondere Individualität« zu knüpfen: »Ein Mensch, der sehr hoch steht, ist nie ein Original. Seine Persönlichkeit hat nicht mehr zu bedeuten als nötig ist.« 408 An diesem Punkt zeigt sich die Ambivalenz, die sich aus dem vierten Wirklichkeitsbegriff für Blumenbergs eigenes Verfahren ergibt, das der Darstellung der Geschichte dient. Dieses Verfahren ist kein Verfahren bloßer Historisierung, es hat die ästhetische Einstellung zur Voraussetzung. Diese Einstellung lässt historische Akteure in die Kontexte ein, in denen diese gelebt und über die hinaus sie gewirkt haben und lässt deren Identität und Individualität bisweilen nahezu diffundieren – ein Verfahren, das rückwirkt auf den Betrachter und Interpreten der Geschichte. Blumenbergs Anschluss an Valérys Verfahren der Ästhetisierung der historischen Betrachtung gesteht der Möglichkeit gegenüber einer Wirklichkeit historischer Fakten einen Mehrwert zu; dennoch ist dem Verfahren der Ästhetisierung und Poetisierung für Blumenberg stets eine Hermeneutik an die Seite zu stellen, denn der Möglichkeit den Vorzug vor der Wirklichkeit zu geben und auf Ebene der Sprache zugleich die Pluralisierung der Bedeutungsvielfalt zu forcieren, lässt die Konturen der eigenen Identität unscharf werden. Dieser Unschärfe soll die Hermeneutik entgegenwirken. Sie ermöglicht es, ausgehend von der Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstands trotz Pluralität und Heterogenität Position beziehen zu können. Die moderne Ästhetik bestimmt zwar die Grundeinstellung, über die Blumenberg die Geschichte in den Blick nimmt und ist essentieller Bestandteil seiner Metaphorologie und Hermeneutik. Sie darf jedoch nicht dazu verleiten, die hermeneutische Betrachtung der Geschichte als Ästhetizismus bzw. ästhetische Spekulation auszuweisen. 409 Blumenbergs Hermeneutik bleibt auf die historischen Zeugnisse und die Werke der Kultur gerichtet. Der Kontext, in dem diese stehen, ist stets historisch bedingt und stets in den Blick zu nehmen. Die Geschichte über die Ästhetik als einen Raum der Möglichkeit der Ausbildung der eigenen Existenz zu begreifen, eröffnet 408 Valéry: Leonardo, S. 111. Blumenberg hat dieses Verfahren im zweiten Teil seiner Genesis der kopernikanischen Welt umgesetzt und hier, so der Untertitel, die Eröffnung der Möglichkeit eines Kopernikus gegeben (vgl. Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt, Bd. 1, S. 147–299). 409 Davor warnt auch Goldstein (vgl. Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 46 f.).

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eine ontologische Dimension, die die Ästhetik zwar aufschließt, die jedoch der Philosophie als Hermeneutik zu überantworten ist.

3.6. Hermeneutik, Geschichte und Identität In Husserls Geschichtsteleologie ist der Ursprung der Philosophie zugleich der Beginn der Geschichte, die Geschichte entpuppt sich, wie Blumenberg sagt, als ein »Prozeß der Sinnbegründung und Sinnentfaltung«. 410 Aus Perspektive Husserls ermöglicht der Prozess der Technisierung und Formalisierung den neuzeitlichen Wissenschaften, diesen Prozess der Sinnbildung zu unterlaufen – wie Blumenberg in Anschluss an Husserl sagt, lässt der Mensch dann Geschichte aus, d. h. der Mensch vollzieht die Geschichte und Entwicklung der Sinnbildungsprozesse nicht ein jedes Mal nach. 411 Die Geschichte des Sinns, die in diesem Prozess ausgelassen wird, möchte Husserl restituieren und entfalten. Die von Husserl diagnostizierte Spannung zwischen Sinnbildung und Sinnentzug, zwischen »Leistung und Einsicht«, ist für Blumenberg eine Fortführung dessen, was er bereits in Descartes’ Methodenidee begründet sieht. 412 Das empirisch und emotional in einer Lebenswelt beheimatete Subjekt steht einem rein rational und methodisch konstruierten Subjekt gegenüber; so sehr Husserl das Gegenteil intendiert haben mag, so sehr provoziert er doch im Rahmen der von ihm sogenannten Ideengeschichte diese Ambivalenz und lässt das Subjekt ganz in die Methode eingehen. Gilt Husserls Anliegen der Fortarbeit an dem einen Sinn der Geschichte, dann sucht sein Programm einer Phänomenologie den Prozess der Technisierung zu korrigieren und d. h. den Prozess, in dem der Mensch seine Geschichte auslässt. Das geschichtliche, lebensweltliche und das geschichtslose, methodisch konstruierte Subjekt stehen sich einander unversöhnlich gegenüber. Die wissenschaftliche Methode überführt die Kontingenz in Notwendigkeit – gerade dies garantiert einen gelingenden technischen und wissenschaftlichen Fortschritt und auch Husserls Geschichtsteleologie folgt noch diesem Prinzip der Kontingenzbewälti-

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Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung, S. 21. Vgl. Kap. 3.4.4. Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung, S. 51.

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gung. Das Problem liegt für Blumenberg an dieser Stelle weniger in der Übertragung der Spannung zwischen Sinnbildung und Sinnentzug, Leistung und Einsicht auf die Geschichte, sondern in Husserls Versuch, diese Spannung in einem umfassenden teleologischen Sinngeschehen aufzulösen. Erst Ursprung und Ziel lassen die Geschichte im Licht dieses teleologischen Sinnvollzugs erscheinen. Die Bedrängnis der Kontingenz soll dadurch abgewehrt werden. Blumenberg möchte diese Spannung zwischen Sinnbildung und Sinnentzug nicht auflösen, im Gegenteil: Er integriert sie seinem hermeneutischen Zugriff in Form der Lebenswelttheorie. Die Geschichte ist die fortwährende Dynamik zwischen Sinnproduktion und Sinnentzug, ohne dass dieser Prozess jedoch einen Ursprung kennt oder in einem Ziel aufgeht. Die Werke, die der Mensch hervorbringt, entziehen sich der bewussten Steuerbarkeit des Einzelnen, sobald sie einmal dem intersubjektiven Geschehen der Kultur und Geschichte überantwortet sind – dies gilt in besonderem Maße für die Kultur und Geschichte selbst, da diese weder einen Urheber noch einen Ursprung im strengen Sinne haben. Der »Einzelne« ist »immer schon ›umschlossen‹ von Geschichte« und das bedeutet, dass »wir […] von einem solchen Anfang keine Erfahrung haben können«. 413 Blumenberg erteilt einem möglichen Sinnvollzug im Ganzen damit eine deutliche Absage. Die methodische Integration des Subjekts in ein teleologisches Gesamtgeschehen kann die geschichtliche, lebensweltliche Erfahrung des Individuums weder tilgen, noch ist sie imstande Individuum und Geschichte angemessen miteinander zu vermitteln. Geschichte ist für Blumenberg die Wechselwirkung der Individuen untereinander in Auseinandersetzung mit den Werken der Kultur. In seiner Geschichtsteleologie unterwirft Husserl sowohl das Individuum als auch die Geschichte der Methode, das Individuum wird ganz dem Kontext in seiner Idealität zugeschlagen, den die Geschichte zur Darstellung bringen soll. Vor dem Hintergrund von Blumenbergs viertem Wirklichkeitsbegriff wird deutlich, dass das Individuum die methodisch zugerichtete Wirklichkeit zunehmend als Widerstand empfindet. Erst dadurch zeigt sich, dass die Geschichte im Kontext des dritten Wirklichkeitsbegriffs überhaupt zu einem Problem wird, das weder die Antike,

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noch das Mittelalter als ein solches empfunden haben: »Geschichte als bedrängende Erfahrung ist ein neuzeitliches Phänomen«. 414 Im Mittelalter noch ganz Teil eines eschatologischen Heilsversprechens war die Geschichte selbst nur Übergang vom Diesseits ins Jenseits und konnte insofern nicht zum Problem werden, Geschichte war Heilsgeschichte. Mit dem Epochenumbruch vom Mittelalter zur Neuzeit wird sie jedoch aus der teleologischen Struktur der Eschatologie entlassen, ebenso wie die Kontingenz, die nun nicht mehr an den Willen eines Gottes gebunden die Bedeutung von Zufälligkeit annimmt und mit einem Mal für die Verfassung der Welt als Ganzer steht. Die Bedrängnis der Kontingenz führt zur Bedrängnis der Geschichte. Eine Möglichkeit, der Bedrängnis der Kontingenz Abhilfe zu schaffen, ist die theoretische Einstellung der mathematischen und technischen Naturwissenschaften, die jedoch das Subjekt in seiner geschichtlichen und emotionalen, lebensweltlichen Erfahrung außen vor lässt. Husserls Programm einer Phänomenologie mag sich dem Objektivismus der mathematischen und technischen Naturwissenschaften widersetzen, in Gestalt einer Geschichtsteleologie jedoch fällt sie auf den dritten Wirklichkeitsbegriff zurück. Dass die Geschichte mit der Neuzeit zu einer bedrängenden Erfahrung wird, ist eine der Implikationen, die sich für Blumenberg erst über die rhetorischen Wirkungszusammenhänge, die Metaphern, die diese leiten, und den Wirklichkeitsbegriff gleichsam ex negativo herausarbeiten lassen. Nehmen wir Husserls Geschichtsteleologie ohne die entsprechenden Kontexte in den Blick, dann erweckt sie gerade nicht den Eindruck, Geschichte sei Bedrängnis, sondern suggeriert auf ihre Weise die methodische Verfügbarkeit über das Subjekt und die Indienstnahme einer teleologisch zu verwirklichenden Vernunft, die Husserl unter dem Titel der Geschichte zusammenführt. 415 BezieBlumenberg: Sprachsituation und immanente Poetik, S. 148. Damit soll nicht behauptet werden, Blumenberg schlage Husserls Denken ausschließlich dem neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriff und damit der Methode der objektiven Wissenschaften bzw. diesen selbst zu, denen Husserl entschieden entgegentritt (vgl. Kap. 2.). Beide Positionen teilen lediglich das Methodenbewusstsein. Wenngleich sich dieses bei Husserl ganz anders ausnimmt als bei den objektiven Wissenschaften, liegt das Problem für Blumenberg doch darin begründet, dass die Methode vor dem Hintergrund des dritten Wirklichkeitsbegriffs als Modell fungiert, das noch Husserls Geschichtsteleologie strukturell bestimmt: Das Individuum geht hier ganz in die Methode ein. Husserl nimmt für Blumenberg dadurch eine ganz ähnliche Position ein, wie Descartes: Macht Blumenberg Descartes zum letzten Scholastiker auf dem Boden 414 415

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hen wir Husserls Position jedoch auf die Hintergrundmetapher des Organischen und Mechanischen sowie auf den dritten und vierten Wirklichkeitsbegriff, dann erweist sich Husserls Phänomenologie als ein Programm zur methodischen Abwehr von Kontingenz. Die Überzeugungskraft der theoretischen Einstellung macht in diesem Fall selbst noch Glauben, die Geschichte sei das methodisch verfügbare Sinngeschehen der einen zu verwirklichenden Vernunft. Über Blumenbergs Verfahren lassen sich besagte Motivationsrückhalte in den Blick nehmen, die sich, folgen wir ausschließlich der Darstellung Husserls, nicht zeigen. Was Husserl antreibt ist die Abwehr der Bedrängnis der Kontingenz und Geschichte. Dass gerade diese Hoffnung auf ein teleologisch sich durchhaltendes und zugleich methodisch regulierbares Sinngeschehen sich nicht erfüllt hat, hinterlässt die Aufgabe und Herausforderung, der sich die Philosophie Blumenbergs in Form einer Hermeneutik zu stellen sucht. Sie steht ihrerseits auf dem Boden des dritten und vierten Wirklichkeitsbegriffs. Im Kontext des vierten Wirklichkeitsbegriffs setzt sich das Subjekt in seiner Individualität gegen die methodische Vereinnahmung zur Wehr und fügt sich nicht als Funktionär in die Methode, gleich welcher Art diese sein mag. Die Frage, die mit dem Übergang vom dritten zum vierten Wirklichkeitsbegriff bei Blumenberg dann aufgeworfen wird, ist die Frage nach der Möglichkeit zur Positionierung innerhalb einer Geschichte, die weder einen Ursprung kennt, noch ein Ziel für den Menschen bereithält. Die Absage an einen teleologischen Geschichtsverlauf, der die Identität des Subjekts an ebendiese Teleologie bindet, setzt nicht nur die Frage nach dem Umgang mit der Geschichte in ihrer Kontingenz frei, sondern provoziert die Frage der Identität in der Geschichte, die damit gleichermaßen von der Kontingenz eingeholt wird. Marquard macht mit Blick auf Blumenberg darauf aufmerksam, dass die »Schwierigkeiten mit der Teleologie« zugleich auf die Frage nach der Identität führen: »der neuzeitliche ›Telosschwund‹ etabliert als Schwundtelos die Identität«. 416 der Neuzeit (vgl. Anm. 261, S. 209), so wird ihm Husserl zum letzten neuzeitlichen Denker auf dem Boden der Moderne. Husserls Versäumnis besteht aus dieser Perspektive darin, auf eine Erkenntnistheorie statt auf eine Ästhetik gesetzt zu haben. Für Blumenberg weiß allein die Kunst und Ästhetik bzw. Poetik eine Zentrierung auf das Subjekt wider den Objektivismus der neuzeitlichen Wissenschaften herbeizuführen. 416 Odo Marquard: Identität: Schwundtelos und Mini-Essenz – Bemerkungen zur Genealogie einer aktuellen Diskussion [1979], in: ders. und Karlheinz Stierle (Hrsg.):

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Die für Blumenberg geeignetste Technik, diesem Schwundtelos zu begegnen, ist die Hermeneutik, die die Rhetorik und die Poetik integriert. Die Poetik dient dazu, die Bedeutungsvielfalt freizusetzen, die den Werken der Kultur eignet, um sich, so die Aufgabe der Hermeneutik, selbst über die Werke der Kultur zu finden. Die Poetik als Verfahren zur Pluralisierung und Freisetzung der Bedeutungsvielfalt kann Blumenberg zufolge auf ganz verschiedene Weisen erfolgen, zwei davon betreffen im Kern die Metapher: entweder durch die Verknüpfung zweier »extrem weit auseinanderliegende[r] Bereiche«, 417 d. h. dadurch dass Begriffe verschiedenster Provenienz zusammengeführt werden oder dadurch, »daß historisch-philologisch indiziertes und erkaltetes Material neu eingesprengt« wird – was in der Geschichte verborgen und begraben zu sein scheint, soll für die Rezeption aufgeschlossen und erneut als Möglichkeit begriffen werden. 418 Beide Funktionen übernimmt die Metapher. Die erste Funktion kommt der herkömmlichen Vorstellung der Metapher nahe, die auf dem Prinzip der Analogie beruht, 419 die zweite Funktion übernimmt die Hermeneutik mit Blick auf absolute Metaphern. Diese tragen, deutlicher als andere Metaphern und Begriffe, einen historischen Index und weiten den Blick für die Hintergründe und Substrukturen der Dynamik der Geschichte des Geistes und der Ideen. Die Freisetzung neuer und die erneute Freisetzung alter Bedeutungsspielräume bricht mit der Einstimmigkeit und Konsistenz des dritten Wirklichkeitsbegriffs. Die Metapher ist ein ästhetischer Gegenstand, der dem wissenschaftlichen Fortschrittsdenken des öden Undsoweiter die Kontingenz der Geschichte entgegenhält und dadurch dem Harmonisierungsbedürfnis methodischer Regulation trotzt. Vor dem Hintergrund seiner Lebenswelttheorie spricht Blumenberg davon, dass der »ästhetische Effekt«, den die Metapher herbeiführt, nicht nur mit der Konsistenz und Einstimmigkeit des Kontextes, sondern dadurch zugleich auch mit der Selbstverständlichkeit der Lebenswelt bricht. Der ästhetische Effekt ist »zunächst die Über-

Idenität (Poetik und Hermeneutik, Bd. 8). Wilhelm Fink: München 21996, S. 347–369, hier S. 358. 417 Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 28. 418 Blumenberg: Sprachsituation und immanente Poetik, S. 146. 419 Vgl. Kap. 3.2.

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raschung am Vertrauten, […] das Heraustreten des Selbstverständlichen aus der Sphäre der als solcher unbeachteten ›Lebenswelt‹«. 420 Die ästhetische Einstellung korrigiert die theoretische, denn »[w]as sich als lebensweltlicher Rückhalt auf vertraute Erfahrungstypik angeboten hatte, wird von der wissenschaftlichen Erkenntnis als Gerüst in ihrem Rücken abgebrochen, dem nachsetzenden Mitvollzug der Zeitgenossenschaft unbegehbar gemacht«. 421 Das intrinsische Moment der technischen und mathematischen Wissenschaften, die Technisierung bzw. Formalisierung, produziert fortwährend Selbstverständlichkeiten und wird selbst noch zur selbstverständlichsten aller Selbstverständlichkeiten, so dass Husserl, der seine Phänomenologie in der Krisis-Schrift explizit gegen dieses zentrale Moment der wissenschaftlichen Methode konzipiert, in Gestalt der Geschichtsteleologie selbst noch der Methodenidee folgt. Vor diesem Hintergrund ist Blumenbergs Metaphorologie ein Verfahren, diesen Mitvollzug wieder herzustellen, den der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt abzubrechen droht. Absolute Metaphern sind insofern absolut, als sie sich der Aufmerksamkeit entziehen und gerade darin noch unser theoretisches sowie praktisches Handeln orientieren. Sie gehören zu jenen Selbstverständlichkeiten unserer Lebenswelt, die im Handlungsvollzug unbeachtet bleiben; nicht minder Hintergrundmetaphern, die unsere Aufmerksamkeit über andere Metaphern leiten, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Fällt unser Blick auf solche Metaphern und beziehen wir sie in die Reflexion ein, dann wird etwas Selbstverständliches unselbstverständlich: Werden solche Metaphern »wieder hörbar ›beim Wort genommen‹, so zerbricht eine Selbstverständlichkeit in der Lebenswelt aller […]. Etwas historisch Entschlafenes wird ins Leben zurückgerufen.« 422 Mit dieser Anknüpfung an die Lebenswelt überschreitet Blumenberg den Bereich der Ästhetik und Poetik auf die geschichtliche Dimension. Mit dem Aufbrechen der in der Lebenswelt gründenden Selbstverständlichkeiten durchbricht die Poetik die Geschichtslosigkeit des in sich einstimmigen Kontextes des dritten Wirklichkeitsbegriffs und schließt, was in der Geschichte verborgen scheint, für die eigene Wirklichkeit (wieder) auf. Blumenberg: Sprachsituation und immanente Poetik, S. 146. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 409. 422 Hans Blumenberg: Quellen [2009], in: ders.: Quellen, Ströme, Eisberge, hrsg. von Ulrich von Bülow und Dorit Krusche. Suhrkamp: Berlin 2012, S. 7–77, hier S. 18. 420 421

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Das Anliegen der Hermeneutik Blumenbergs lautet deshalb Lesbarkeit herzustellen. Zu diesem Zweck bedarf sie der Poetik, um die Bedeutungsspielräume als Handlungsspielräume zu öffnen und sie auf den Interpreten selbst zu beziehen: »Lesbares zu lesen heißt, daß der Adressat sich dem nicht verweigert, was ihn betrifft oder betreffen könnte, auch wenn er nicht mehr glauben mag, er könne ›gemeint‹ sein.« 423 Über das Motiv der Lesbarkeit und die Poetik, die den Raum der Geschichte als einen Raum der Möglichkeiten begreift, zeichnet sich auf dem Boden des vierten Wirklichkeitsbegriffs eine Möglichkeit zur Versöhnung ab, die aus dem Konflikt zwischen dem dritten und dem vierten Wirklichkeitsbegriff resultiert: dort die Konsistenz und Einstimmigkeit des Kontextes und die Geschichtslosigkeit des methodisch gefassten Subjekts, hier der ästhetische Widerstand, die Geschichte und der Anspruch des Subjekts auf Individualität. Diese Ambivalenz und Unversöhnlichkeit zwischen der Endlichkeit und Geschichte des lebensweltlichen Subjekts auf der einen und der geschichtslosen Unendlichkeit des methodisch regulierten Erkenntnisfortschritts auf der anderen Seite hat Blumenberg mit seinem Werk Lebenszeit und Weltzeit in den Rang eines Titels erhoben. Das einzelne Subjekt ist in der Lebenswelt noch nicht von den anderen Subjekten geschieden, alle Subjekte gemeinsam sehen sich auf ein und denselben Erfahrungshorizont verwiesen: »Erwartung und Erfahrung, Lebenszeit und Weltzeit, Generation und Individuation« sind noch nicht getrennt voneinander. 424 Doch bereits mit dem Austritt aus der Lebenswelt geraten »Lebenszeit und Weltzeit in Divergenz«. Husserls »transzendentale[] Spekulationen über die absolute Subjektivität« potenzieren diese Divergenz zwischen Lebenszeit und Weltzeit, die mit Austritt aus der Lebenswelt erstmals Einzug hält: Sie führen zur »Entdeckung eines […] verborgenen Programms der Geschichte […], die in dem Maße ihrer Selbstentfaltung auch die Zeitdimension der unendlichen Arbeit freilegt«. 425 Die Weltzeit wird methodisch, wie Husserl selbst sagt, auf die »kontinuierliche[] lebendige[] Fortarbeit« an dem einmalig und ursprünglich gestifteten Sinn der europäischen Identität und damit auf die unendliche Fortarbeit an

423 424 425

Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 408 f. Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 65; vgl. hierzu Kap. 3.1.2. Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 95.

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der transzendentalen Phänomenologie abgestellt. 426 Diese Arbeit übersteigt in seiner Unendlichkeit die Lebenszeit des einzelnen Subjekts: Lebenszeit und Weltzeit divergieren. Wenngleich der vierte Wirklichkeitsbegriff diese Divergenz zwischen Lebenszeit und Weltzeit nicht harmonisieren und auflösen kann, sucht er diese doch in sich aufzunehmen: Die ersten drei Wirklichkeitsbegriffe implizieren jeweils eine charakteristische, ihnen eigene zeitliche Ausrichtung: Der Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz (Antike) ist auf die Gegenwart konzentriert, die Wahrheit zeigt sich selbst im Augenblick, sie ist Präsenz, der Wirklichkeitsbegriff der garantierten Realität (Mittelalter) sieht sich mit dem Ereignis der Schöpfung auf die Vergangenheit verwiesen und der Wirklichkeitsbegriff des offenen und einstimmigen Kontextes (Neuzeit und Moderne I) sieht sich auf die Zukunft verwiesen; letzterer ist die fortwährende Realisierung einer in sich einstimmigen und konsistenten Realität, die alles in Zukunft Erwartbare methodisch präformiert und bereits im Blick hat, bevor es sich zeigt. 427 Die daraus resultierende Methode bleibt, so auch bei Husserl, höchst flexibel und anpassungsfähig und wahrt dadurch Konsistenz, die nur noch die lebensweltliche Erfahrung des Subjekts zu durchbrechen imstande ist. Der vierte Wirklichkeitsbegriff (Neuzeit und Moderne II) subsumiert diese drei Wirklichkeitsbegriffe insofern unter sich, als er deren zeitliche Struktur aufhebt, ohne sie zu nivellieren. Die Geschichte ist dann nicht mehr Durchgang zur Realisierung eines höheren Sinns, sondern öffnet sich als ein Raum, den der Mensch als Kultur selbst verwirklicht und in der er sich als Mensch wiedererkennt: »Denkwürdig ist, was Menschen je gedacht haben; es zu lesen, wo es lesbar gemacht werden kann, ein Akt von ›Solidarität‹ über die Zeit.« 428 Die Geschichte ist gelebte Geschichte: Die Vergangenheit wird als ein, um mit Ricœur zu sprechen, Möglichkeitshorizont begriffen, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überlagern. Der, wie Blumenberg sagt, nachsetzende Mitvollzug wird der Gegenwart wieder zugänglich gemacht, die Möglichkeiten der Vergangenheit können als potenzielle Möglichkeiten der eigenen Wirklichkeit begriffen werden. Die Geschichte ist, wie Blumenberg in Anschluss an Valéry Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 366 (Anm. 1). Vgl. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 12 f. 428 Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 409; vgl. Villwock: Mythos und Rhetorik, S. 70 f. 426 427

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deutlich macht, ein Raum, in dem wir unsere eigenen Existenzmöglichkeiten entfalten. Wir können unsere Zukunft nicht entwerfen, ohne auf die Geschichte zu blicken; die Geschichte machen wir zwar, doch wir haben sie, wie Blumenberg betont, nicht in der Hand. Es ist mit Blumenberg deshalb viel eher die Geschichte, die wir entwerfen, als unsere Zukunft. Unsere Erwartungen und Hoffnungen richten sich auf eine unbestimmte Zukunft, mit Blumenberg gesprochen: Es gilt »faßbar [zu] machen, mit welchem ›Mut‹ sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist und wie sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft«. 429 Der Weg hierzu ist ein hermeneutischer und das gänzlich »Unbekannte ist niemals Gegenstand von Hermeneutik«. 430 Bekanntheit ist jedoch nicht gleichzusetzen mit Eindeutigkeit. Eindeutigkeit bleibt für Blumenberg ein unerreichbarer »Idealfall für ›Hermeneutik‹«. 431 Der Mensch sieht sich bei Blumenberg mit dem vierten Wirklichkeitsbegriff in den Bereich des Möglichen hineingestellt, in dem er produktiv tätig ist: Identität versteht Blumenberg als ein mögliches Selbstverständnis, das der Mensch in der Auseinandersetzung mit den Werken der Kultur gewinnt. Wenngleich die Hermeneutik bei Blumenberg dafür Sorge trägt, dass die Bedeutungsvielfalt, die die Poetik freilegt und multipliziert, auf die eigene Identität konzentriert werden kann, so ist Blumenbergs Hermeneutik doch keine Aneignungshermeneutik, wie sie Ricœur entwirft. Die Hermeneutik sieht sich bei Blumenberg stets auf Kontexte verwiesen und droht immer wieder in diesen aufzugehen. Wir scheinen nicht nur die Geschichte, die wir machen, nicht in der Hand zu haben, sondern auch unsere eigene Identität scheint sich uns stets ein Stück weit zu entziehen. Ein mögliches Selbstverständnis ist nicht gleichzusetzen mit Selbsterkenntnis. Suggeriert Selbsterkenntnis Bekanntheit des Selbst in Eindeutigkeit, so unterläuft das Selbstverständnis gerade diese Möglichkeit: Das Selbstverständnis regelt lediglich »die Selbsteinfügung in öffentliche und private Zusammenhänge, die Verträglichkeit von Wünschen und Absichten«, es ermög-

Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 409. Hans Blumenberg: Ich-bin und Urgleichzeitigkeit, in: ders.: Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß. Philipp Reclam: Stuttgart 1997, S. 213–219, hier S. 213. 431 Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 728. 429 430

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licht innerhalb von rhetorischen Wirkungszusammenhängen einen Standpunkt zu beziehen, der relativ zu anderen Standpunkten steht. 432 Die Metaphern verweisen unsere Identität auf die Kontexte der Ideen- und Geistesgeschichte, sie bilden deren Bewegung ab und spannen deren Kontexte auf. Die eigene Identität bleibt im Zuge dessen offen und unbestimmt. Es wirkt beinahe ironisch, wenn Blumenberg als Antwort auf die Frage nach der Identität nicht mehr eine bestimmte Metapher bereithält, die in seiner Darstellung der europäischen Geistes- und Ideengeschichte oftmals als verdeckte Antworten fungieren, sondern die Metapher selbst identitätsstiftende Funktion übernimmt: Bereits die Konstitution des Menschen ist »potentiell metaphorisch«. 433 Mit dem Austritt aus der Lebenswelt trennen sich Blumenberg zufolge Erwartung und Erfahrung, aus dieser Trennung entsteht Geschichte. Was Blumenberg als Identität begreift, sieht sich stets zugleich auf die Geschichte, auf die der Mensch zurückblickt, sowie auf die Zukunft verwiesen, die der Mensch über den Umweg der Geschichte entwirft: »Erinnerung und Erwartung sind die Erlebnisformen der Identität«. Und sie sind es, so fährt Blumenberg fort, »gerade wegen der unbestimmten Leerräume, über die hinweg sich das Erlebnis vollzieht«. 434 In diesen Leerräumen bildet sich für Blumenberg Identität aus, die maßgeblich die Bilder und Zeichen der Kultur stabilisieren. Wir haben, so Blumenberg, »die Erinnerung, ihre Requisiten und Bilder und Stichworte inmitten der Ichverlorenheit, der Aussichtslosigkeit, sich wiederzufinden« und doch, »bei aller Not«, »ein mögliches Selbstverständnis zu erzwingen«. 435 Für Blumenberg geht die Hermeneutik der ästhetischen Einstellung voraus, sie achtet darauf, dass sich die Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstands nicht im Nonsens und der Beliebigkeit ästhetischer Spekulationen verliert. Zugleich umgreift sie die Ästhetik und Poetik mitsamt der Rhetorik, um die auf diese Weise freigelegten Hans Blumenberg: Einleitung. Das Unselbstverständliche [1983], in: ders.: Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß. Philipp Reclam: Stuttgart 1997, S. 9–18, hier S. 10. 433 Blumenberg: Anthropologische Annäherung, S. 147. 434 Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, S. 142. 435 Hans Blumenberg: Erinnerung an das verlorene Ich, in: ders.: Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß. Philipp Reclam: Stuttgart 1997, S. 41–45, hier S. 45. 432

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Bedeutungs- und Handlungsspielräume auf ein mögliches Selbstverständnis zu konzentrieren. Die Hermeneutik nimmt damit die Herausforderung an, die bereits die neuzeitliche Kunst formuliert hat: für eine Zentrierung der Wirklichkeit auf das Subjekt zu sorgen. Im Zuge der Interpretation bringt die Hermeneutik jedoch eher identitätsstiftende Kohäsionseffekte hervor, als dass sie Identität in Eindeutigkeit erzeugen würde; in Frage steht bis zuletzt, auch mit Ricœur, ob dies überhaupt das Ziel einer Kulturphilosophie und Hermeneutik sein kann. Für Blumenberg zumindest steht fest, dass der Mensch nicht primär bei sich selbst ist, er »hat zu sich kein unmittelbares, kein rein ›innerliches‹ Verhältnis«. 436 Er sieht sich auf die Kontexte verwiesen, in denen er steht. Sein Wirklichkeitsbezug ist »indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ›metaphorisch‹«. 437 Erst mittelbar kommt er zu sich, er »begreift sich nur über das, was er nicht ist, hinweg.« 438 Identität ist infolgedessen nicht absolut, sondern stets nur relativ zu bestimmen, mehr noch: »Jeder Mensch hat nur ein Leben; ob es aber auch eine Identität einschließt, wissen wir nicht.« 439 Verwiesen auf die Kontexte, getragen von Metaphern, wird, was Blumenberg als Identität begreift, zu einer Chiffre, um deren Dechiffrierung wir uns fortwährend bemühen. Blumenbergs Darstellung des Epochenumbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit bestimmt bereits, was er als Identität bezeichnet. Mit diesem Epochenumbruch kommt es zu einem »Identitätsverlust des Geschichtssubjekts«, wie Blumenberg sagt. Dieser Identitätsverlust vollzieht sich in dem Moment, in dem das Geschichtssubjekt »sich selbst eigentlich keinen rechten Anfang und demgemäß auch kein rechtes Ende zu setzen wußte. Es hatte die Bestimmtheit seiner Kontur preisgegeben.« 440 Ohne Anfang und Ende der einen Geschichte, sind es Geschichten in Begriffen und Metaphern, die uns Aufschluss über unsere Identität versprechen. Was Blumenberg als Identität bezeichnet, bleibt eigentümlich unbestimmt. 436 Blumenberg: Anthropologische Annäherung, S. 115. Dumberger spricht davon, dass Blumenbergs »metaphorische[s] Persönlichkeitskonzept […] eher identitätsstiftend denn identitätserhellend zu verstehen« (Dumberger: Lebenssinn und Gerechtigkeit, S. 104) ist. 437 Blumenberg: Anthropologische Annäherung, S. 115. 438 Ebd., S. 134. 439 Hans Blumenberg: Ein Leben – eine Identität?, in: ders.: Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß. Philipp Reclam: Stuttgart 1997, S. 39 f., hier S. 39. 440 Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 621.

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An diesem Punkt gilt es, die Untersuchung mit Ricœur fortzusetzen. Blumenberg selbst geht den zuletzt aufgeworfenen Fragen nach dem Zusammenhang von Identität und Geschichte im Kontext einer genetischen bzw. phänomenologischen Anthropologie nach. 441 Statt diesen Weg ebenfalls zu gehen und die Hermeneutik und Kulturphilosophie Blumenbergs mindestens in einer solchen Anthropologie kulminieren, wenn nicht sogar aufgehen zu lassen, sollen die Probleme und Fragen, die Blumenberg aufgeworfen hat, mit Ricœur aufgegriffen und im Rahmen seiner Hermeneutik und Kulturphilosophie in den Blick genommen werden. Im Wesentlichen bestimmen drei Aspekte den weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung. 1.) Ricœur nimmt die von Blumenberg diagnostizierte Spannung zwischen Erwartung und Erfahrung, die beiden Erlebnisformen der Identität, zum Ausgangspunkt seines Werks Zeit und Erzählung und damit zum Ausgangspunkt seiner Hermeneutik und Theorie narrativer Identität. Diese bezieht ebenso die Poetik sowie die Rhetorik ein, wenn auch auf ihre Weise. 2.) Ricœur entwickelt seine Theorie der narrativen Identität auf dem Boden einer Geschichtsauffassung, die der Blumenbergs insofern nahekommt, als dass sie die Geschichte als einen Kontingenzraum begreift, in dem es gilt, einen produktiven Umgang mit der Kontingenz zu finden; innerhalb dieses Kontingenzraums entwerfen wir unsere eigene Existenz und Identität. Für Blumenberg ist der Kontingenzraum der Geschichte maßgeblich von Metaphern bestimmt, die uns dank ihres Modellcharakters Orientierung innerhalb dieses Kontingenzraums bieten. Anhand dieses zweiten Aspekts lässt sich bereits ein wesentlicher Unterschied zwischen der Hermeneutik Blumenbergs und der Ricœurs festmachen. Blumenbergs Zugriff auf die Geschichte eröffnet Spielräume der Wechselwirkung, d. h. Handlungsspielräume. Blumenberg macht durchaus bewusst, dass menschliche Handlungen innerhalb dieser Spielräume auf freien Entscheidungen beruhen. Diese mögen nicht immer die intendierten Zwecke erreichen und zu ungewünschten Resultaten und Nebeneffekten führen, doch menschliches Handeln unterliegt zumindest keinen von außen auferlegten Zwecken, die das Handeln leiteten und determinierten. Es sind die Handlungen Anderer, die unsere Handlungen kreuzen. Diese Wech441

Vgl. Anm. 46, S. 45, sowie Anm. 47, S. 45.

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selwirkungsprozesse nimmt Blumenberg in den Blick, eine Handlungstheorie im eigentlichen stellt er jedoch nicht vor. 442 Dies mag in seiner Aktualisierung der Rhetorik begründet liegen: »Zielt die klassische Rhetorik wesentlich auf das Mandat zum Handeln, so wirbt die moderne Rhetorik für die Verzögerung des Handelns oder zumindest um ein Verständnis für diese«. 443 Im Bund mit der Rhetorik und Poetik entzerrt Blumenbergs Hermeneutik die Objektivationsformen des Geistes, die in ihrer Eigenlogik dazu neigen, sich den Individuen und deren Möglichkeiten des Zugriffs zu entziehen. Sie eröffnet dadurch Handlungsmöglichkeiten, die bereits verloren gegangen schienen. Öffnet Blumenberg die Geschichte als einen Kontingenzraum und damit als einen Raum von Handlungsmöglichkeiten, so wird mit Ricœur eine Handlungstheorie zu entwickeln sein, die innerhalb dieses Kontingenzraums operiert. Sie fragt danach, wie wir in die Geschichte eingreifen, um sie darzustellen. Die historischen Bedingungen, auf denen diese Handlungstheorie aufruht, reflektiert diese Handlungstheorie hingegen nicht, Ricœur setzt sie als gegeben voraus. So bedeutet Kontingenz für Ricœur wie selbstverständlich Zufälligkeit. Ricœur versteht seine Hermeneutik als ein Plädoyer für die Anerkennung der Kontingenz, die mit Blumenberg jedoch erst gelingen kann, wenn die historischen Bedingungen reflektiert worden sind. Ungeachtet dieser Differenz zwischen der Hermeneutik Blumenbergs auf der einen, Ricœurs auf der anderen Seite – es wird in der Schlussbetrachtung darauf zurückzukommen sein (Kap. 5.) – lässt sich Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität an die historisch kontextualisierende Hermeneutik Blumenbergs anschließen: Ricœurs Handlungstheorie operiert nicht nur innerhalb dieses Kontingenzraums, dessen historische Genese Blumenberg nachzeichnet, sondern möchte zugleich verständlich machen, wie wir innerhalb der Geschichte, die uns als kontingent erscheint, Geschichte analysieren und darstellen, erklären und verstehen. So sehr es Blumenberg um die Möglichkeit geht, Geschichte noch verstehen zu können, wo sie sich allzu brüchig zeigt, so bleibt seine Hermeneutik auf theoretischer Ebene doch eher der Rezeption verpflichtet: Wir analysieren, beobachten und stellen Begriffe und Metaphern in ihrer geschichtlichen 442 443

Vgl. Anm. 201, S. 190. Blumenberg: Anthropologische Annäherung, S. 124.

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Entwicklung, d. h. in Geschichten dar und zeichnen ihre Bewegungen und Rezeptionswege nach. Ricœurs Handlungstheorie hingegen wirft eher einen Blick auf die Frage nach der Art und Weise der Produktion von Geschichte, d. h. sie fragt danach, was wir tun, wenn wir diese Geschichten schreiben und darstellen. 3.) Ricœur sowie Blumenberg weisen gleichermaßen eine umfassende Teleologie eines geschichtlichen Sinnvollzugs ab. Mit Ricœur wird dennoch zu fragen sein, ob nicht spätestens auf Ebene der Darstellung von Geschichte teleologische und auch durchaus kausale Strukturen Einzug halten, so der dritte wesentliche Aspekt, der die weitere Darstellung bestimmt. 444 Wenn wir die Entwicklung der Geschichte darstellen, gleich welche Wege diese Entwicklung genommen haben mag und unabhängig davon, an welchen Punkten die Rezeptionen abgebrochen sind und wieder aufgenommen wurden: Suchen wir nicht trotz allem, Ursachen aufzuzeigen, weshalb es so und nicht anders gekommen ist? Die Geschichte als einen Kontingenzraum zu öffnen, bedeutet zunächst nur, dass es auch stets hätte anders kommen können. Dies zu Bewusstsein zu führen und auch darzustellen, unterläuft eine Teleologie der Geschichte, nicht aber zwingend auch zugleich von Geschichten. Der Abweis einer übergeordneten Teleologie schärft das Bewusstsein dafür, dass teleologische Strukturen das Resultat menschlicher Zweckhandlungen sind. Inwieweit hier von kausalen und teleologischen Strukturen gesprochen werden kann, wird zu klären sein. Die Handlungstheorie Ricœurs bildet den Kern einer Aneignungshermeneutik. An diesem Punkt zeigt sich ein weiterer, wesentlicher Unterschied zur Hermeneutik Blumenbergs, die allenfalls mittelbar und indirekt eine Form der Aneignungshermeneutik ist. Dies wird auch an Blumenbergs Bestimmung der Identität deutlich. Blumenberg gilt das Prinzip der Selbstbehauptung als identitätsstiftendes Prinzip – es dient heuristischen Zwecken und soll den Epochenumbruch vom Mittelalter zur Neuzeit überbrücken, um dort Identität zu wahren, wo die Geschichte diese zu zersetzen droht. 445 444 Heidenreich verweist mit Blick auf den Begriff der Bedeutsamkeit in Blumenbergs Arbeit am Mythos darauf, dass die Teleologie bei Blumenberg auf Ebene der Darstellung historischer Entwicklungen nicht ganz aus dessen Werk verschwindet (vgl. Heidenreich: Mensch und Moderne, S. 54, 57). 445 Der Blick von der Selbstbehauptung, als ein historisches Phänomen, das den Epochenumbruch vom Mittelalter zur Neuzeit saniert, auf die Selbsterhaltung, die als anthropologisches Minimum im Hintergrund ihrer geschichtlichen Realisierung als

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Hans Blumenberg: Gelebte Geschichte

Wider den theologischen Absolutismus des ausgehenden Mittelalters findet die Wendigkeit der Selbstbehauptung diverse Mittel und Wege, die verlorengegangene Ordnung zu kompensieren: So sind Wissenschaft und Kunst nur die Gattungsnamen unter denen sich ganz verschiedene Disziplinen und Strömungen ausbilden, die in ihrer zunehmenden Pluralität und Diversität kaum mehr zu überblicken sind; es wird sogleich darauf zurückzukommen sein. Entscheidend ist zunächst, dass sich diese Entwicklung zugleich an unserem Metaphern- und Begriffsgebrauch ablesen lässt. Die metaphysischen Restbegriffe werden aufgelöst und von Blumenberg als Metaphern oder, wie im Falle der Geschichte, gar als absolute Metaphern entlarvt. 446 Die Geschichte, im Singular, wird auf dem Boden der Kontingenz zur Bedrängnis. Um dieser Bedrängnis zu begegnen, zersetzt die Selbstbehauptung solche Absolutismen und ermöglicht dadurch, einen Umgang mit diesen zu finden. Ist die Geschichte als absolute Metapher erkannt und wird in die Reflexion einbezogen, dann wird sie »ins Leben zurückgerufen«. 447 Aus dem Singular wird ein Kollektivsingular, der nur noch über die Geschichten zu greifen ist, die sich innerhalb der Geschichte ereignen; es wird dadurch mittelbar möglich, einen Umgang mit der Geschichte zu finden. Wie Goldstein deutlich macht, sind es für Blumenberg nicht nur Wirklichkeiten, in denen wir leben, sondern auch Geschichten, im Plural, in denen wir unsere Identität ausbilden. 448 Noch hier zeigt sich die Pluralisierung und Diversifizierung. Die eine Geschichte, als absolute Metapher erkannt, ist nichts Selbstverständliches mehr, und eben so wenig das, was wir unter Identität verstehen: »Man hat sich daran gewöhnt, daß Identität nichts Selbstverständliches ist. Identitätsschwierigkeiten zu haben oder gehabt zu haben gehört inzwischen in jeden ordentlichen Lebenslauf. Aber: Wie schwierig kann es damit werden?« 449

Selbstbehauptung steht (vgl. Anm. 199, S. 189), führt auf die Anthropologie bei Blumenberg. Selbsterhaltung und -behauptung sind Funktionen der Identitätswahrung bzw. -stiftung (vgl. Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 54–58), über die Identität selbst sagen sie jedoch nichts aus. 446 Vgl. Blumenberg: Beobachtungen an Metaphern, S. 168. 447 Blumenberg: Quellen, S. 18. 448 Vgl. Goldstein: Nominalismus und Moderne, S. 77. 449 Hans Blumenberg: ›Identität‹ [1985], in: ders.: Begriffe in Geschichten. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1998, S. 87.

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Hermeneutik, Geschichte und Identität

Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität stellt ein Modell dar, das der Frage nachgeht, wie wir imstande sind, auf dem Boden der Kontingenz eine Identität auszubilden, ohne die Kontingenz zu unterdrücken: »Eine bemerkenswerte Eigenschaft der narrativen Funktion besteht darin, daß sie die Kontingenz anerkennt und sogar, wenn ich so sagen darf, in Ehren hält« – sie verkörpert eine »der Narrativität eigene Intelligibilität«. Außerhalb der Geschichten, die wir uns erzählen, sind Ereignisse vollkommen kontingent, sie sind bloße Vorfälle und erscheinen uns dadurch tatsächlich bloß zufällig. Etwas könnte auf eine bestimmte Art und Weise geschehen sein, »aber auch anders oder überhaupt nicht«. 450 Bloße Zufälle sind jedoch belang-, d. h. bedeutungslos. Erst innerhalb von Geschichten werden diese für Ricœur zu Ereignissen, sie nehmen Bedeutung an. Auch wenn es stets hätte anders kommen können, bleibt doch zu zeigen, weshalb es gekommen ist, wie es gekommen ist. Kontingenz ist auch in diesem Fall nicht gleichbedeutend mit bloßer Zufälligkeit. Die narrative Funktion ist die zentrale Funktion im Kontext von Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität. Sie geht auf eine Erweiterung der Funktion der Metapher zurück. Bei Blumenberg durchmisst die Metapher den Raum der Geschichte, bei Ricœur wird sie zur Bedingung der Möglichkeit der Ausbildung der narrativen Identität. Zu diesem Zweck bedarf es einer Erweiterung der Funktion der Metapher um eine ontologische Dimension. Was sich bei Blumenberg bereits implizit als eine mögliche Ontologie abzeichnet, macht Ricœur explizit. Die Metapher ist dann die Funktion, die es uns ermöglicht, Geschichte und Identität noch zusammenzudenken. Die Narrativität fungiert in ihrer die Identität integrierenden Funktion als Korrektiv zu der von Blumenberg diagnostizierten Divergenz von Lebenszeit und Weltzeit. 451

450 Paul Ricœur: Zufall und Vernunft in der Geschichte [1986] (Tübingen Rive Gauche), übers. von Helga Marcelli. konkursbuchVERLAG: Tübingen 1986, S. 11. 451 Renn verweist bereits darauf, dass mit Ricœurs Narrativitätstheorie eine angemessene Antwort auf die von Blumenberg diagnostizierte Spannung zwischen Lebenszeit und Weltzeit formuliert werden kann (vgl. Renn: Die Verbindlichkeit der Geschichten, S. 321 f.).

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4. Paul Ricœur: Narrative Identität

Ricœurs Werk erlaubt verschiedene Zugriffe auf das Thema der Hermeneutik. Im Folgenden steht die Hermeneutik der narrativen Identität im Zentrum der Untersuchung, die von der Poetik und Rhetorik im Sinne Ricœurs nicht zu trennen ist. 1 Bevor von dieser zu sprechen sein wird, gilt es vorab, Ricœurs Symbolhermeneutik in Umrissen zu skizzieren, die er selbst auch unter den Titel der Interpretation stellt. Die Interpretation eröffnet eine kulturphilosophische Dimension, über die sich im Folgenden erstens die Grenzen abstecken lassen, innerhalb derer Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität operiert. 2 Ricœur konzipiert diese als eine mögliche Antwort auf eine Zum Kontext sowie zur Rezeptionsgeschichte der Theorie der narrativen Identität seit ihrem Entstehen in den 1980er Jahren sowie mit Blick auf die Aktualität von Ricœurs Ansatz vgl. Tengelyi: Paul Ricœur und die Theorie der narrativen Identität. 2 Ricœur selbst profiliert seine eigene Hermeneutik in Abgrenzung zur Hermeneutik Schleiermachers und Diltheys auf der einen sowie zu der Heideggers und Gadamers auf der anderen Seite; beide Seiten ordnet Ricœur jeweils einer spezifischen hermeneutischen Strömung zu. Mit Schleiermacher und Dilthey sieht Ricœur auf der einen Seite eine Strömung realisiert, die an einer hermeneutischen Epistemologie arbeitet, insofern es ihr darum geht, die Prozesse des Erklärens bzw. primär den des Verstehens aufzuklären. Auf der anderen Seite operiert die Hermeneutik Heideggers und Gadamers, die als eine Ontologie die existenzielle Dimension des Menschen einbezieht; zwischen diesen beiden Strömungen verortet Ricœur seine eigene Hermeneutik (vgl. Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, S. 237–249; Andris Breitling: Paul Ricœur und das hermeneutische Als, in: Stephan Ort und Andris Breitling (Hrsg.): Vor dem Text. Hermeneutik und Phänomenologie im Denken Ricœurs (Schriftenreihe für Philosophie und Kulturtheorie, Bd. 4). Technische Universität Berlin: Berlin 2002, S. 79–97, S. 83 f.; Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn, S. 66–72 sowie Kearney: On Paul Ricœur, S. 20–22; einen kritischen Blick auf die weitere Entwicklung der Hermeneutik im Spätwerk Ricœurs wirft Rainer Adolphi: Das Verschwinden der wissenschaftlichen Erklärung. Über eine Problematik der Theoriebildung in Paul Ricœurs Hermeneutik des historischen Bewußtseins, in: Andris Breitling und Stefan Orth (Hrsg.): Erinnerungsarbeit. Zu Paul Ricœurs Philosophie von Gedächtnis, Geschichte und Vergessen (Schriftenreihe des Frankreich-Zentrums der Technischen Universität Berlin, Bd. 9). Berliner Wissen1

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Paul Ricœur: Narrative Identität

Problemstellung, auf die Blumenberg gleichermaßen verweist: die zunehmende Diversität, Heterogenität und Pluralität der Strategien, über die versucht wird, einen Umgang mit der Kontingenz zu finden. Diese Pluralisierung macht sich noch innerhalb der Philosophie bemerkbar, auffällig an der philosophischen Disziplinenbildung ist für Ricœur nur, dass die diversen Disziplinen sich auf einem Gebiet treffen: auf dem der Sprache. 3 Soll der zunehmenden Diversifizierung und Pluralisierung selbst noch der philosophischen Disziplinenbildung begegnet werden können, dann gilt es – hierin sind sich Ricœur sowie Blumenberg einig – eine Hermeneutik zu entwickeln, die sich der Sprache annimmt, um so, mit Blumenberg gesprochen, die verlorengegangenen teleologischen Rückhalte wieder auf die Zwecke des Menschen zu konzentrieren: Ob Philosophie wesentlich als Geschichte des Geistes, als Erkenntnistheorie, als Anthropologie oder Ontologie, als Ethik oder formale Logik betrieben wird – letzten Endes sind dies alles nur Spielarten einer homogenen Teleologie: was menschlich ist, drängt zur Sprache hin […]. Sprachwerdung

schaftsverlag: Berlin 2004, S. 141–171). Bereits Schleiermacher, darauf sei an dieser Stelle verwiesen, deckt das für Ricœur zentrale Problem auf, das die weitere Entwicklung der Hermeneutik aus Perspektive Ricœurs bestimmen sollte und an dem sich Ricœur abarbeiten wird: Ricœur zufolge hat Schleiermacher seine Hermeneutik nicht nur auf den Weg gebracht, um die Lücke zu schließen, die Kant zwischen der theoretischen und der praktischen Philosophie, zwischen der Physik und der Ethik, gelassen hat, sondern darüber hinaus wollte Schleiermacher zugleich die der kantischen Philosophie zugrundeliegende Subjektkonzeption revolutionieren. Da Kant, so die Darstellung Ricœurs, seine Anstrengungen ganz darauf konzentriert, die allgemein gültigen, objektiven Strukturen menschlicher Erkenntnis ausschließlich im Bereich der Physik und der Ethik nachzuweisen, gewinnt bei ihm lediglich ein unpersönliches Subjekt (un esprit impersonnel) an Konturen. Dieses Subjekt fungiert als Träger der Bedingungen der Möglichkeit universal gültiger Urteile; diese Urteilsformen betreffen jedoch nicht das Individuum, sondern lediglich das erkennende Subjekt, das in seiner erkenntnistheoretischen Anlage allen anderen Subjekten gleicht und darin gerade seine Individualität preisgegeben hat (vgl. Ricœur: La tâche de l’herméneutique, S. 79–81). Abseits dieser Selbstverortung Ricœurs sind zwei Aspekte für die vorliegende Darstellung von Interesse: Erstens sucht Ricœur, wie bereits angedeutet, die diltheysche Unterscheidung von erklären und verstehen in seiner Hermeneutik zusammenzuführen (vgl. Kap. 4.4.1.), zweitens entlehnt er der gadamerschen Hermeneutik das Konzept der Horizontverschmelzung, das eine über die Zeichen und Symbole der Kultur vermittelte Aneignungshermeneutik konstituiert (vgl. Kap. 4.5.2. sowie Anm. 398, S. 413). 3 Vgl. Paul Ricœur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud [1965], übers. von Eva Moldenhauer. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1969, S. 15.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

ist Humanisierung, und das gilt auch und gerade für die Wissenschaften und ihr theoretisches Verhalten. 4

Mit dem Begriff der Sprachwerdung intendiert Blumenberg ein hermeneutisches Programm, das der Philosophie überantwortet wird: Über die Philosophie sucht der Mensch »sich in dem zu erfassen, was in seinem Leben an Antrieben, Bedingtheiten und Möglichkeiten ›lebendig‹ und wirksam ist, er wird sich selbst gegenwärtig, indem er seine Sache vor sich selbst zur Sprache bringt«. 5 Sprachwerdung ist Humanisierung, ist Selbstbehauptung und damit identitätsstiftend. Philosophie unter dem Vorzeichen der Hermeneutik als Sprachwerdung ist die Reflexion auf die Strukturen der Wirklichkeit, die der Mensch handelnd hervorbringt. Das bedeutet auch, dass die Philosophie die Selbstverständlichkeiten in den Blick zu nehmen hat, die unserem Handlungsvollzug zugrunde liegen, um die »Subjektivität unseres Handelns und Lebens« gerade nicht »an vorgeformte und sich uns darbietende Objektstrukturen« preiszugeben. Diese Objektstrukturen bilden mitunter eine Eigenlogik bzw. einen Eigensinn aus, entziehen sich im Zuge dessen dem menschlichen Zugriff und rufen, wie Blumenberg sagt, »Aktionen und Leistungen« hervor, die der Mensch selbst nicht intendiert hat. 6 Das Resultat sind Nebenprodukte, die ihrerseits die menschlichen Motivationsrückhalte und Beweggründe bestimmen und dadurch neue, ursprünglich nicht intendierte Zwecke und Ziele vorgeben und hervorbringen können. Was Blumenberg vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls als Technisierung bezeichnet, führt, bezogen auf das Verhältnis des handelnden Menschen zur Wirklichkeit, zu einer »zunehmende[n] Inkongruenz von Handeln und Bewußtsein«. Diese Inkongruenz reflexiv einzuholen führt ins Zentrum von Blumenbergs Philosophie, denn »bevor unser Handeln sich an einem Sollen messen und ausrichten kann, muß es sich seiner selbst bewußt in seiner Motivation durchsichtig geworden sein, mit einem Wort, muß es überhaupt erst aus der bloßen Verrichtung und Verhaltensweise zum Handeln geworden sein. ›Handeln‹ bedeutet, daß wir wissen, was wir tun, um uns fragen zu können, ob es das ist, was wir tun sollen.« Blumenberg: Weltbilder und Weltmodelle, S. 68. Ebd., S. 67 f. 6 Blumenberg: Die Bedeutung der Philosophie für unsere Zukunft, S. 129; vgl. Anm. 86, S. 146. 4 5

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Paul Ricœur: Narrative Identität

Die Aufgabe der Philosophie sieht Blumenberg darin, wider diese Inkongruenz »die Integration des Bewußtseins zu vollziehen«. 7 Es gilt, Bewusstsein und Handlungsvollzug aufeinander abzustimmen und d. h. zunächst nur, ein Bewusstsein für das zu schaffen, was wir tun und tun können. Blumenberg führt dieser Weg auf die Reflexion der Bilder und Zeichen der Kultur und Geschichte, eine mögliche Handlungstheorie, oder gar eine Ethik, die danach fragt, was wir tun sollen, rückt im Zuge dessen in den Hintergrund. 8 Es sind die Substrukturen unseres Denkens, auf die Blumenberg das Augenmerk richtet. Diese Substrukturen sind durchaus handlungsleitend, eine Handlungstheorie im eigentlichen Sinne hat Blumenberg jedoch nicht ausgearbeitet. Dadurch ändert sich auch die Zielrichtung der Frage, »was wir tun, um uns fragen zu können, ob es das ist, was wir tun sollen«. 9 Blumenberg fragt eher danach, was wir tun und getan haben, um in Erfahrung zu bringen, »was wir wissen wollten« 10 bzw. »was es denn gewesen war, was wir«, vielleicht noch immer, »wissen wollen«. 11 Unter Rückgriff auf die Analyse rhetorischer Wirkungszusammenhänge und die Lebenswelttheorie richtet Blumenberg den Blick auf die nichterfüllten Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen – »wer immer verhindert haben mag, daß Erwartungen sich erfüllten«, in Frage steht doch: »welche waren es überhaupt gewesen?« 12 Was in der Philosophie Blumenbergs in den Hintergrund rückt, soll im Folgenden mit Ricœur in den Vordergrund gestellt und entwickelt werden: eine Handlungstheorie, die als Komplement zur Hermeneutik Blumenbergs fungieren kann. Blumenbergs Hermeneutik erschließt die Hintergründe und Handlungsspielräume, innerhalb derer sich Handlungen zu Wirkungszusammenhängen zusammenschließen. Dieser ist mit Ricœur eine Hermeneutik an die Seite zu stellen, die im Kern eine Handlungstheorie darstellt. Der Mehrwert dieser Handlungstheorie für die vorliegende Untersuchung liegt ersBlumenberg: Die Bedeutung der Philosophie für unsere Zukunft, S. 129. Schmitz und Lepper verweisen darauf, dass Blumenbergs Werk durchaus eine politisch-ethische Dimension eignet, die in den zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften kaum offen zutage tritt, die jedoch durch die Nachlassschriften wieder kenntlich gemacht werden kann (vgl. Schmitz und Lepper: Nachwort, S. 255). 9 Blumenberg: Die Bedeutung der Philosophie für unsere Zukunft, S. 129. 10 Blumenberg: Lesbarkeit, S. 9. 11 Blumenberg: Ernst Cassirers gedenkend, S. 164. 12 Blumenberg: Lesbarkeit, S. 9. 7 8

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Paul Ricœur: Narrative Identität

tens darin, dass Ricœur mit dieser ein Modell vorstellt, das verständlich machen kann, was wir, auf dem Boden der Kontingenz, eigentlich tun, wenn wir Geschichte interpretieren und darstellen, d. h. erklären und verstehen, zweitens führt sie auf die Ausbildung einer narrativen Identität – insofern folgt die Handlungstheorie Ricœurs dem Anliegen Blumenbergs, die verlorengegangenen teleologischen Rückhalte wieder auf den Menschen zu konzentrieren: Sie dient der Identitätsbildung. Entscheidend ist, dass diese mit Ricœur zu entwickelnde Handlungstheorie maßgeblich auf die Funktion zurückgeht, die bei Blumenberg die Dynamik der Geschichte bestimmt: die Metapher. Das Problem des Zusammenhangs von Geschichte und Identität entsteht für Blumenberg mit der beginnenden Neuzeit, ein Problem, das die husserlsche Geschichtsteleologie potenziert und verschärft. Vermittelt über die historische Funktion von Metaphern bei Blumenberg und die Metapher als zugrundeliegende Funktion der Identitätsstiftung bei Ricœur kann die Metapher, so die Hauptthese der folgenden Darstellung, einen Zusammenhang zwischen Geschichte und Identität stiften. Die Metapher tritt dort als eine mögliche Antwort auf den Plan, wo die Geschichte von sich aus keine Identität verbürgen kann, da sie keinem ihr vorgegebenen Sinn mehr folgt. Der Metapher in ihrer Funktion den Raum der Geschichte aufzuspannen, wird mit Ricœur eine Ontologie der Metapher an die Seite zu stellen sein, auf der die narrative Funktion aufbaut, die es ermöglicht, eine narrative Identität auszubilden. Diese steht im Zentrum von Ricœurs Kulturphilosophie und Hermeneutik, die das genaue Gegenteil der von ihm sogenannten Reflexionsphilosophie ist. Ricœur zufolge geht die Reflexionsphilosophie davon aus, dass das Subjekt sich in Form des Bewusstseins selbst unmittelbar gegeben und aufgrund dessen imstande sei, sich selbst im Zuge der Reflexion in aller Klarheit zu erkennen. Erstmals sieht Ricœur diese Art Philosophie bei Descartes realisiert, insofern Descartes’ Cogito, ergo sum Denken und Existieren in einem Akt setzt: »Ich bin, ich denke; Existieren ist für mich Denken; ich existiere, insofern ich denke. Weil diese Wahrheit nicht als eine Tatsache verifiziert noch in einer Schlußfolgerung deduziert werden kann, muß sie in der Reflexion gesetzt werden.« 13 13

Paul Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (II) [1962],

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Vor diesem Hintergrund zählt Ricœur noch die Phänomenologie Husserls zu den Reflexionsphilosophien, 14 die die Reflexion in diesem Fall mit der »Rückkehr zur angeblichen Evidenz des unmittelbaren Bewußtseins« 15 gleichsetzt. Eine solche Rückkehr gibt es nicht, wenn das Selbstverständnis stets über die »Vorstellungen, Handlungen, Werke, Institutionen und Denkmale« vermittelt werden muss, von denen das Selbst »objektiviert wird« – viel eher, als dass es diese in aller Klarheit und Bestimmtheit konstituiert und im Zuge dessen objektiviert und das bedeutet, »daß ich zunächst nicht besitze, was ich bin« und damit auch nicht wiedererlangen kann, was ich zuvor nicht besessen habe. 16 Der Unmittelbarkeit von Existenz und Reflexion widersetzt sich die Hermeneutik Ricœurs, insofern der Mensch ein mögliches Selbstverständnis nur über den Umweg der Kultur erringen kann. Die Darstellung dieser Kulturphilosophie und Hermeneutik erfolgt in einem ersten Schritt über die bereits angedeutete Symbolhermeneutik Ricœurs (Kap. 4.1.), die erstens der Verortung von Ricœurs

übers. von Johannes Rütsche, in: ders.: Der Konflikt der Interpretationen. Ausgewählte Aufsätze (1960–1969), hrsg. von Daniel Creutz und Hans-Helmuth Gander. Karl Alber: Freiburg i. Br. 2010, S. 219–238, S. 230. 14 Vgl. Paul Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (I) [1961], übers. von Johannes Rütsche, in: ders.: Der Konflikt der Interpretationen. Ausgewählte Aufsätze (1960–1969), hrsg. von Daniel Creutz und Hans-Helmuth Gander. Karl Alber: Freiburg i. Br. 2010, S. 184–217, S. 185; zu dieser Kritik an Husserls Phänomenologie vgl. Kearney: On Paul Ricœur, S. 15–20. Ricœur bezeichnet seine eigene Hermeneutik nichtsdestotrotz als eine hermeneutische Variante der Phänomenologie. Zur wechselseitigen Durchdringung und Bedingtheit von Phänomenologie und Hermeneutik vgl. insbes. Paul Ricœur: Phénoménologie et herméneutique en venant de Husserl [1974], in: ders.: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique, Bd. 2. Éditions du Seuil: Paris 1986, S. 39–73 sowie hierzu Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, S. 237–249 und Mattern: Zwischen kultureller Symbolik und allgemeiner Wahrheit, S. 39–51. 15 Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (II), S. 230. 16 Ebd., S. 231 f. Wenn Ricœur davon spricht, dass die Reflexion im Kontext der Reflexionsphilosophien »das Bemühen [ist], das ego des ego cogito im Spiegel seiner Objekte, seiner Werke und schließlich seiner Akte zurückzugewinnen« (ebd., S. 230), dann trifft sich an diesem Punkt Ricœurs Lesart des husserlschen Begriffs der Intentionalität (vgl. Kap. 2.1.2. sowie Ricœur: De l’interprétation, S. 26), der er seiner eigenen Hermeneutik produktiv integriert, zugleich mit seiner Kritik an dem Anspruch Husserls, über die Reflexion ein reines Bewusstsein freizulegen, das den Ursprung eines möglichen Selbstverständnisses darstellt: »Reflexion ist keine Intuition.« (Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (II), S. 230)

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Paul Ricœur: Narrative Identität

Hermeneutik der narrativen Identität innerhalb der Philosophie Ricœurs selbst dient. Zweitens impliziert diese Symbolhermeneutik Strukturen und Dynamiken, die Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität im Kern bestimmen. Diese Strukturen und Dynamiken gilt es, herauszuarbeiten, um daran anschließend über Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität eine Handlungstheorie zu entwickeln, die der Identitätsstiftung in Auseinandersetzung mit der Kultur und Geschichte dient. Im Anschluss daran wird mit Ricœur die Funktion der Metapher darzustellen sein (Kap. 4.2.). Diese bildet die Grundlage für die darauf folgende Darstellung der narrativen Funktion, die der Ausbildung der narrativen Identität dient; von der narrativen Funktion selbst wird im Anschluss an die Darstellung der Funktion der Metapher zu sprechen sein (Kap. 4.3.). Der narrativen Funktion werden im Folgenden die für Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität zentralen Funktionen und Vermögen zu- und untergeordnet: Die Funktion der Mimesis in ihrer dreifachen Ausprägung und das Kant entlehnte Vermögen der produktiven Einbildungskraft. Wurde mit Blumenberg auf den Symbolbegriff Kants rekurriert, der im Hintergrund der Metaphernauffassung Blumenbergs steht, so ist mit Ricœur auf das Verfahren der Schematisierung einzugehen, das es erlaubt, die Zeit zu refigurieren. Dieser Prozess, so wird zu zeigen sein, findet innerhalb der Strukturen statt, die die Metapher konstituiert. Der Prozess der Refiguration reagiert auf eine Problemlage, von der Ricœurs Werk Zeit und Erzählung seinen Ausgang nimmt: die aporetische Zeiterfahrung, die, wie Blumenberg sagt, aus der Spannung zwischen Lebenszeit und Weltzeit, zwischen subjektivem Zeitempfinden und objektivem Zeitmaß hervorgeht. Mit der Funktion der Metapher und der narrativen Funktion ist das Grundgerüst geschaffen, das es ermöglicht, die, wie Ricœur sagt, beiden großen narrativen Modi der europäischen Tradition in den Blick zu nehmen: die Geschichte und die Fiktion (Kap. 4.4.). Es wird an diesem Punkt erstens besagte Handlungstheorie auszuarbeiten sein, die Ricœur über die Auseinandersetzung mit Theorien der Geschichtsschreibung entwickelt; an diesem Punkt wird auch zu zeigen sein, inwieweit Ricœur die diltheysche Unterscheidung von erklären und verstehen überwindet und seiner eigenen Hermeneutik im Kern integriert. Zweitens wird den Möglichkeiten zur Konfiguration der Zeit im Rahmen narrativer Fiktionen nachzuspüren sein. Mit Ricœurs Auseinandersetzung erstens mit der Geschichte und zwei278 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

Die Interpretation zwischen Archäologie, Teleologie und Eschatologie

tens mit der Fiktion vollzieht sich sukzessive der Übergang von der Hermeneutik, die sich der Interpretation der Kultur und Geschichte verschrieben hat, zu einer Hermeneutik, die sich der Ausbildung einer narrativen Identität auf dem Boden ebendieser Kultur und Geschichte widmet. Bevor die Ausbildung einer narrativen Identität aktiv erfolgen kann, wird die aporetische Struktur der Zeiterfahrung von Ricœur jedoch noch einmal verschärft, um Geschichte und Fiktion an diesem Punkt zusammenzuführen und sie im Anschluss der Hermeneutik der narrativen Identität zuzuführen. Die Aufhebung der Aporie der Zeiterfahrung in dieser Hermeneutik erfolgt im Zuge der Überkreuzung der Referenzmodi von Geschichte und Fiktion (Kap. 4.5.). Ricœur überführt seine Poetik und Hermeneutik an diesem Punkt sukzessive in eine Rhetorik, mit der die Handlungstheorie Ricœurs in eine Theorie der Ausbildung der narrativen Identität mündet. Die narrative Identität beschließt die vorliegende Darstellung der Hermeneutik Ricœurs (Kap. 4.6.). Was sich mittels Hermeneutik und Kulturphilosophie als Identität bestimmen lässt, bleibt der Theorie nachgelagert. Sie ist das Resultat von Selbstverständigungsfiguren und entsteht im Zuge der Auseinandersetzung und Interpretation mit der eigenen Geschichte und Kultur auf dem Boden der Kontingenz. Die narrative Identität bleibt der Dynamik der Kultur und Geschichte ausgesetzt und damit ihrerseits unbestimmt und offen. Sie ist das Ergebnis dieser Dynamik, nicht deren Ausgangspunkt und Voraussetzung. Die Hermeneutik der narrativen Identität steht aus diesem Grund dezidiert einer Reflexionsphilosophie entgegen, die die Gewissheit eines sich selbst bewussten Subjekts an den Anfang der Philosophie stellt. Für Ricœur gilt vielmehr, dass wir uns über die Zeichen und Werke der Kultur verlieren müssen, um uns zu finden.

4.1. Die Interpretation zwischen Archäologie, Teleologie und Eschatologie Bevor Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität entwickelt werden kann, ist diese innerhalb seiner Philosophie zu verorten, insofern die Hermeneutik der narrativen Identität in ein größeres Programm eingebettet ist, das Ricœur unter dem Titel der Interpretation führt. Was Ricœur als Interpretation begreift, stellt eine Symbolhermeneu-

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Paul Ricœur: Narrative Identität

tik dar, die beabsichtigt, ganz heterogene philosophische Disziplinen über den Symbolbegriff auf eine gemeinsame Sprache zu führen. 17 Diese Symbolhermeneutik bewegt sich zwischen zwei verschiedenen Strömungen der Hermeneutik. In einem ersten Schritt wird damit der Ort aufzuzeigen sein, an dem sich Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität konstituiert: zwischen einer Archäologie des Subjekts und einer Eschatologie des Sinns. Bleibt Ricœurs Hermeneutik der Weg der Reflexionsphilosophie insgesamt versperrt, so gilt es, der Dezentrierung des Subjekts, von Ricœur unter den Titel einer Archäologie des Subjekts gestellt, Rechnung zu tragen, nicht jedoch ohne den verlorenen, ursprünglichen Sinn mittels einer Eschatologie des Sinns im Nachhinein wieder einzuholen (Kap. 4.1.1.). In einem zweiten Schritt wird die von Ricœur in Anschluss an Hegel sogenannte Teleologie des Geistes zu isolieren und darzustellen sein (Kap. 4.1.2.). Diese Teleologie des Geistes prägt den Bereich nachhaltig, in dem sich Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität ausbildet; sie ist für die vorliegende Darstellung insofern von Bedeutung, als dass sie die Handlungstheorie Ricœurs fundiert. Sie gibt die Strukturen vor, denen wir im Zuge der Erkenntnis und Darstellung der Entwicklung und Dynamik von Kultur und Geschichte folgen.

4.1.1. Archäologie und Eschatologie: Die Dezentrierung des Subjekts und die Wiedereinsammlung des Sinns Die zunehmende Diversifizierung und Pluralisierung wissenschaftlicher Disziplinen, die selbst noch im Bereich der Philosophie zu beobachten ist, bringt Ricœur zufolge das Problem mit sich, dass jeder In seinem Freud-Buch fixiert Ricœur die Unterscheidung zwischen Hermeneutik und Interpretation terminologisch: Die Hermeneutik bildet das theoretische Grundgerüst von Regeln, die zur Interpretation von Texten dienen (vgl. Ricœur: Die Interpretation, S. 20). Die Interpretation bezieht hingegen immer schon die existenzielle Dimension des Menschen mit ein. Sie »geht von der mehrfachen Determinierung der Symbole aus« (ebd., S. 24) und bezieht deren Gehalt auf die Existenz, sie ist mehr als ein bloßes Regelwerk zur Auslegung von Texten. Das Regelwerk jeder Hermeneutik liegt innerhalb der Grenzen, die die doppelte Verweisungsstruktur des Symbols aufmacht: »Hermeneutik [ist] jede Disziplin, die interpretierend vorgeht, und [ich] verstehe unter dem Begriff Interpretation im strengen Sinne des Wortes die Erkenntnis eines verborgenen Sinnes in einem offenkundigen Sinn.« (Paul Ricœur: Die Frage nach dem Subjekt, S. 170)

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Bereich für sich eine eigene Sprache zu entwickeln scheint. Eine gemeinsame Sprache, die die unterschiedlichen Bereiche und Disziplinen noch zusammenhalten oder zwischen ihnen vermitteln kann, gibt es nicht; gegenwärtig ist deshalb, so die Diagnose Ricœurs, »die Einheit des menschlichen Sprechens […] zum Problem geworden«. Mit seiner Hermeneutik der Symbole möchte Ricœur eine Antwort auf »die Frage nach der Rückgliederung der menschlichen Rede« finden, um ihrem Zerfallen in einzelne, zusammenhangslose, technische Fachsprachen entgegenzuwirken. 18 Es geht Ricœur nicht darum, eine umfassende Sprachphilosophie zu entwickeln, sondern vielmehr darum, den Punkt in den Blick zu nehmen, an dem sich die verschiedenen Disziplinen kreuzen, die es maßgeblich mit Sprachbildung zu tun haben: Das Fundament, von dem alle Fachsprachen unabhängig von ihrer spezifischen Ausrichtung abheben, bildet für Ricœur das Symbol. Die menschliche Sprache ist laut Ricœur grundlegend symbolisch verfasst. Über seine Hermeneutik der Symbole sucht Ricœur die symbolischen Strukturen in den Blick zu nehmen, denen die menschliche Rede entspringt. Sie hat es zwangsläufig mit unterschiedlichen Sprachen zu tun, die ganz unterschiedliche Symbolsysteme ausprägen, wie die Psychoanalyse und die Religionsphänomenologie – so die beiden von Ricœur identifizierten Hauptströmungen der zeitgenössischen Hermeneutik, von beiden wird im Folgenden zu sprechen sein. Ricœur möchte die verschiedenen Ausprägungen der Hermeneutik miteinander vermitteln und sie an die großen Symbole der Kultur zurückbinden. Diesen Weg ist er paradigmatisch in den beiden Bänden seiner Phänomenologie der Schuld gegangen; Gegenstand der Untersuchung ist hier das Böse als eines der großen Symbole unserer Kultur. 19 In seiner Phänomenologie der Schuld begreift Ricœur das Symbol als eine Funktion des Mythos. Das Vermögen der Symbolfunktion des Mythos sieht er darin begründet, »die Bindung des Menschen an das ihm Heilige zu entdecken«. Das Symbol ist auf dem Boden einer säkularen Moderne durchaus noch imstande, das Heilige Ricœur: Die Interpretation, S. 15 f. Vgl. Paul Ricœur: Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld, Bd. 1 [1960], übers. von Maria Otto. Karl Alber: Freiburg, München 1971; Paul Ricœur: Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld, Bd. 2 [1960], übers. von Maria Otto. Karl Alber: Freiburg, München 1971; vgl. hierzu auch Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (I), S. 186–194.

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zum Ausdruck zu bringen und dies gerade weil der Mythos ebendies nicht mehr vermag. Für die Gegenwart besitzt er keine erklärende Kraft mehr, er ist »bloß Mythos«. Die historische Kritik und die moderne Geschichtswissenschaft lassen keine Anbindung des modernen Denkens an den Mythos mehr zu. Sie suchen ihre Gegenstände objektiv zu erfassen, d. h. frei von mythischen Elementen. Für Ricœur gilt es, diese Bewegung zunächst mitzugehen. Ein erneuter Anschluss an ein mythisches Denken kann erst im Nachhinein erfolgen, d. h. mit Blick auf Ricœurs eigenes Projekt: erst nachdem eine Analyse der Symbole mit den Mitteln der modernen Hermeneutik erfolgt ist. Die Reflexion auf die Symbolfunktion »entmythologisiert« den Mythos in einem ersten Schritt, um dessen symbolische Strukturen freizulegen, und stellt in einem zweiten Schritt den Bezug zum Mythos über die Symbole wieder her. 20 Für Ricœur stellt das Symbol die Hermeneutik vor eine doppelte Aufgabe: Auf dem Boden der Moderne führt eine Reflexion auf die Symbole zu einer Entmythologisierung des Mythos, die in einem ersten Schritt notwendig zu sein scheint. Die Hermeneutik wird deshalb »als Entmystifizierung, als Illusionsabbau« auf der einen Seite wahrgenommen. Auf der anderen Seite soll sie den Sinn, den sie als Illusion entlarvt, restituieren, sie ist dann »die Manifestation und Wiederherstellung eines Sinns«. 21 Diese Spannung resultiert daraus, dass das Symbol, wie Ricœur sagt, eine »doppelte Intentionalität« aufweist. 22 Das Symbol geht, ebenso wie die Metapher, auf die Funktion der Analogie zurück: Jedes Symbol weist einen wörtlichen Sinn bzw. eine »wörtliche Intentionalität« auf und zugleich einen analogen Sinn, d. h. eine zweite Intentionalität, die sich über die erste, wörtliche Intentionalität legt. »Im Gegensatz […] zu den technischen Zeichen, die, vollkommen durchsichtig, nichts sagen als was sie sagen wollen, indem sie das Bezeichnete setzen, sind die symbolischen Zeichen undurchsichtig, weil der wörtliche, augenscheinliche Erstsinn analogisch einen Zweitsinn meint, der nicht anders als durch ihn gegeben wird«. 23 Ricœur: Symbolik des Bösen, S. 11. Ricœur: Die Interpretation, S. 40. 22 Ricœur: Symbolik des Bösen, S. 11. 23 Ricœur: Symbolik des Bösen, S. 22; vgl. auch: Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (I), S. 186–188. Ricœur grenzt sich im Kontext seiner Symbolhermeneutik von Cassirers Symbolbegriff ab, da Cassirer Ricœur zufolge in der symbolischen Funktion eine »allgemeine Vermittlungsfunktion sieht, mit Hilfe 20 21

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So steht der Ausdruck Befleckung bzw. das Befleckte oder Unreine auf wörtlicher Ebene eines konventionellen Zeichens für den Fleck; über dieser konventionellen Intentionalität baut sich jedoch »eine zweite auf, die durch den physischen ›Schmutz‹ hindurch eine bestimmte Situation des Menschen im Sakralen meint, nämlich die, befleckt, unrein zu sein«. Diese zweite Intentionalität zielt auf die existenzielle Dimension des Menschen und geht über den bloß wörtlichen Sinn hinaus. Sie verdankt ihre Möglichkeit der Funktion der Analogie, insofern »der wörtliche und handgreifliche Sinn […] über sich hinaus etwas [meint], das wie ein Flecken ist«. Die existenzielle Dimension des Symbols bekundet sich in der Unauflösbarkeit des mittels der Analogie hergestellten Zusammenhangs: Die Analogie ist eine »nicht schließende Denkform«, d. h. sie legt die Relationen und deren Relata offen: »A verhält sich zu B wie C zu D«. 24 Im Gegensatz dazu lässt sich diese Relation im Symbol nicht objektivieren. Die Bezugspole, die das Symbol in einen Zusammenderer der Geist, das Bewußtsein seine sämtlichen Welten der Wahrnehmung und der Rede konstruiert«. Die symbolische Funktion bildet dann »den gemeinsamen Nenner aller Arten, die Realität zu objektivieren« und wird zur »universelle[n] Vermittlung des Geistes zwischen uns und dem Realen« (Ricœur: Die Interpretation, S. 22). Ricœur hält Cassirer zwar zugute, dass die symbolische Vermittlung bei ihm für die Mittelbarkeit der menschlichen Wirklichkeitserkenntnis steht und der von der Reflexionsphilosophie postulierten Unmittelbarkeit damit entgegensteht. Ricœur zufolge nivelliert Cassirers Symbolbegriff jedoch die doppelte Verweisungsstruktur des Symbols und verwischt dadurch den Unterschied »zwischen eindeutigen Ausdrücken und vieldeutigen Ausdrücken«. »Indem Cassirer alle Vermittlungsfunktionen unter dem Titel ›Symbolisches‹ vereint, verleiht er diesem Begriff einen ebenso großen Umfang wie einerseits dem Begriff der Realität und andererseits dem der Kultur« (Ricœur: Die Interpretation, S. 23; vgl. hierzu auch Ricœur: Existenz und Hermeneutik, S. 22). Cassirers für Ricœur zu weit gefasster Symbolbegriff nivelliert den Doppelsinn der symbolischen Struktur und unterläuft dadurch die konstitutiven Bedingungen der Interpretation im Sinne Ricœurs. Für Ricœur entsteht das »hermeneutische Problem« allererst aus den doppelten Sinnverweisungen, die sich innerhalb des Symbols überlagern – hier ein wörtlicher, dort ein analogischer Sinn, beide vereint das Symbol in sich. »Etwas anderes sagen wollen, als man sagt, das ist die symbolische Funktion« (Ricœur: Die Interpretation, S. 24; vgl. ebd. S. 31), die zur Interpretation herausfordert. Weist Ricœur den Symbolbegriff Cassirers an dieser Stelle kritisch von sich, so sucht er im Kontext seiner Narrativitätstheorie wieder den Anschluss an diesen: Die symbolische Ebene bildet dort die Ebene eines kulturellen Vorverständnisses, die aus symbolischen Verweisungszusammenhängen besteht (vgl. Kap. 4.3.2.): »D’une manière ou d’une autre, tous le systèmes de symboles contribuent à configurer la realité.« (Ricœur: De l’interprétation, S. 17) 24 Ricœur: Symbolik des Bösen, S. 22 f.

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hang bringt, überlagern sich und legen die Struktur ihres Zusammenhangs nicht offen. Dies liegt darin begründet, dass das Symbol nicht auf einer Ebene operiert, wie die Analogie auf Ebene der Logik unserer Sprache, sondern zwei Ebenen miteinander in Verbindung bringt: Sie geht über die Ebene der Sprache hinaus und zielt auf die der menschlichen Existenz. Das Symbol lässt uns dadurch »am verborgenen Sinn teilhaben […], ohne daß wir die Ähnlichkeitsbeziehung mit unserem Verstand radikal erfassen könnten«. 25 Die existenzielle Ebene überlagert die Ebene des wörtlichen Sinns unserer Sprache und das Symbol ist die Funktion der Vermittlung zwischen diesen beiden Ebenen. Dadurch, dass es die existenzielle Dimension einbezieht, stehen wir selbst inmitten symbolischer Sinnverweisungen und werden von diesen getragen – »während ich im ersten Sinn lebe, werde ich durch ihn über ihn selbst hinausgezogen: der Symbolsinn wird im Wortsinn und durch ihn gebildet, welcher die Analogie schafft, indem er das Analoge gibt«. 26 Für Ricœur liegt das Symbol in seiner existenziellen Dimension jeder Form der Hermeneutik zugrunde. 27 Das Symbol ist deshalb, so Ricœur, »wurzelhafter als der Mythos«. Ricœurs Theorie der narrativen Identität ist eingebunden in eine Kultur, die maßgeblich symbolisch verfasst ist. Noch der Mythos, verstanden als Fabel und Erzählung, ist »eine Art Symbol, ein in Erzählform entwickeltes Symbol«. Als solcher sieht sich der Mythos an bestimmte kulturell tradierte Strukturen und Erzähltraditionen gebunden, die älter sind als die von den modernen Wissenschaften behaupteten Strukturen, über die diese suchen, selbst noch die Geschichte abzubilden. Die Symbole hingegen irritieren das rationale Selbstverständnis der modernen Wissenschaften und forcieren, wie Ricœur deutlich macht, »radikale Kontingenz« und damit auch die Kontingenz der Geschichte. 28 Wir sind immer schon in die kontingenten symbolischen Verweisungszusammenhänge der Kultur hineingestellt, die jeder Form von Notwendigkeit entsagen. Bevor von der Hermeneutik der narrativen Identität zu sprechen sein wird, gilt es, ein Moment zu isolieren, das verdeutlichen kann, 25 26 27 28

Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (I), S. 187. Ricœur: Symbolik des Bösen, S. 23. Vgl. ebd., S. 24. Ebd., S. 26 f.

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weshalb wir im Zuge unserer Darstellungsweise der Geschichte, die uns als kontingent erscheint, dazu tendieren, eine teleologische Orientierung der geschichtlichen Entwicklung anzunehmen: Die Ursache liegt in der Teleologie des Geistes begründet. Diese Struktur ergibt sich für Ricœur aus einer Dynamik des Erkenntnisprozesses, auf die wir uns verwiesen sehen, wenn es nicht mehr nur um die erkenntnistheoretische Relation von Subjekt und Objekt geht, sondern infrage steht, wie wir kulturelle, d. h. geistige Objektivationsformen in ihrer Entwicklung zu verstehen und zu erklären suchen. Die Teleologie des Geistes situiert Ricœur zwischen zwei Ausprägungen der Hermeneutik: zwischen einer Hermeneutik des Verdachts und des Illusionsabbaus auf der einen Seite, hier situiert Ricœur die Psychoanalyse, und einer Hermeneutik der Wiederherstellung des Sinns auf der anderen Seite, hier sieht Ricœur die Religionsphänomenologie am Werk. Beide Arten der Hermeneutik gehen aus der Modalität des Symbols selbst hervor. Ricœur zufolge weist die Struktur des Symbols drei verschiedene Modalitäten auf: die Expressivität, den Doppelsinn und die poetische Imagination, letztere wird für die weitere Darstellung von Belang sein. Die Modalität der Expressivität besagt, dass alle Ausdrücke aus dem Bereich des Heiligen durch das Symbol zur Sprache gelangen und nichts neben oder hinter der Sprache bezeichnen: »erst im Universum der Rede erhalten diese Realitäten ihre symbolische Dimension«. Die Expressivität verweist zugleich auf die zweite Modalität: »Die Expressivität der Welt gelangt zur Sprache durch das Symbol als Doppelsinn.« In diesem Fall ist es gleich, ob es sich um Hierophanien oder Theophanien aus dem Bereich des Heiligen handelt oder um die Deutung des Traumhaften durch die Psychoanalyse: Beide Bereiche folgen der Struktur des symbolischen Doppelsinns, um über einen manifesten einen »verborgenen Sinn« zu erschließen. 29 Die dritte Modalität des Symbols, die poetische Imagination, liegt zwischen dem Heiligen, dem sich die Religionsphänomenologie widmet, und dem des Traumhaften, den die Psychoanalyse erschließt. Damit ist der Ort ausgewiesen, an dem die Hermeneutik der narrativen Identität operiert, die als Synthese aus der produktiven Einbildungskraft und der narrativen Funktion auf die Modalität der poetischen Imagination zurückgeht: zwischen einer Archäologie des

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Ricœur: Die Interpretation, S. 27.

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Subjekts, der Psychoanalyse, und der Wiederherstellung des Sinns, der Religionsphänomenologie. Diese dritte Modalität des Symbols, die poetische Imagination, provoziert eine dritte Art der Hermeneutik, der sich Ricœur maßgeblich widmet: die Hermeneutik der narrativen Identität. Zugleich provoziert diese dritte Modalität allererst die Funktion, die es ermöglicht, den Bereich der Sprache zu öffnen, um die Sprache selbst mittels Sprache auf eine existenzielle und ontologische Ebene hin zu übersteigen. Sie schafft eine Vermittlung zwischen der Ebene archaischer Symbole und den Symbolen des Heiligen. Ricœur betont jedoch, dass es keine allgemeine und einheitliche Hermeneutik gibt und dementsprechend auch keine einheitliche Methode vorliegt, die als Hermeneutik bezeichnet werden kann. 30 Vielmehr lassen sich Ricœur zufolge zwei Hauptströmungen ausmachen, denen sich verschiedene hermeneutische Ansätze zuordnen lassen: Die Hermeneutik des Verdachts auf der einen Seite, die Ricœur auf Marx, Nietzsche und Freud zurückführt, 31 die Hermeneutik als Wiederherstellung des Sinns auf der anderen Seite, die er mit Untersuchungen aus dem Bereich der Religionsphänomenologie von Mircea Eliade, Gerardus van der Leeuw oder Maurice Leenhardt in Verbindung bringt. 32 Diesen beiden Hauptströmungen der Hermeneutik entsprechend sieht Ricœur die Aufgabe der Interpretation in Verbindung mit der philosophischen Reflexion auf der einen Seite in einer Archäologie des Subjekts, in diesem Bereich operiert die Hermeneutik des Verdachts, auf der anderen Seite in einer Eschatologie, an der die Hermeneutik als Wiederherstellung des Sinns arbeitet; diese nimmt die »Zeichen als Symbole des Heiligen«, jene als »Symptome des Unbewußten«. 33 Die Hermeneutik des Verdachts provoziert die zuvor bereits angesprochene Kritik an der Reflexionsphilosophie. Die von Descartes beeinflusste Reflexionsphilosophie »zweifelt nicht daran, daß das Bewußtsein so ist, wie es sich selbst erscheint; in ihm fallen Sinn und Vgl. Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (II), S. 220; Ricœur: Die Interpretation, S. 40 sowie Ricœur: Existenz und Hermeneutik, S. 30. 31 Vgl. Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (II), S. 234 f. sowie Ricœur: Die Interpretation, S. 38–40, 45–49. 32 Vgl. Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (II), S. 221– 223 sowie Ricœur: Die Interpretation, S. 19, 26 f., 41–45. 33 Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (I), S. 234. 30

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Die Interpretation zwischen Archäologie, Teleologie und Eschatologie

Bewußtsein des Sinns zusammen«. Die Hermeneutik des Verdachts ist »Abbau von Illusionen und Lügen des Bewußtseins« – Ricœur geht davon aus, dass Marx, Nietzsche und Freud als Hauptvertreter der Hermeneutik des Verdachts die Intention eint, die Vorstellung eines sich selbst bewussten Bewusstseins als ein falsches Bewusstsein zu entlarven. 34 Das Subjekt wird dezentriert, das Bewusstsein ist nicht mehr Herr im eigenen Haus, es regiert das Unbewusste. In der Nachfolge von Marx, Nietzsche und Freud kann sich die philosophische Reflexion Ricœur zufolge nicht mehr darauf verlassen, dass sich die Gewissheit im Erkenntnisprozess unmittelbar herausstellt, sie muss die »Dezentrierung des Bewußtseins akzeptieren« und »sich verlieren, um sich zu gewinnen«. 35 Sie sieht sich auf die Kultur und die Symbole verwiesen. Mittel zum Zweck, um trotz allem zu sich zurückzufinden, ist die Hermeneutik des Verdachts, der Ricœur auch die freudsche Analyse zurechnet. Sie gestattet über die Analyse der Symbole einen mittelbaren Zugriff auf das Unbewusste und gewährleistet dadurch die Möglichkeit zur Interpretation der Strukturen, von denen das Bewusstsein abhängig ist. Ebendies macht eine Archäologie des Subjekts aus: »Vermittels der Interpretationsarbeit entdeckt das Cogito hinter sich selbst so etwas wie eine Archäologie des Subjekts. Durch diese Archäologie hindurch wird die Existenz sichtbar, doch bleibt sie stets in den Entzifferungsvorgang den sie veranlaßt, eingebunden.« 36 Die Hermeneutik als Wiedereinsammlung des Sinns wirkt als Gegenpol zur Dezentrierung des Bewusstseins, die den Ursprung des Bewusstseins in das Unbewusste verlegt. In Entsprechung dazu orientiert die Hermeneutik als Wiedereinsammlung des Sinns das Bewusstsein auf ein Ziel. Der Weg führt auch in diesem Fall über die Symbole, das Heilige ist »gebunden an und gebunden durch« die Symbole – auf der einen Seite ist »das Heilige an seine primären, wörtlichen, sinnlichen Bedeutungen«, »auf der anderen Seite ist die wörtliche Bedeutung durch den symbolischen Sinn gebunden, der in ihr liegt«. 37 Über die Symbole des Heiligen restituiert die hermeneutische Reflexion einen Sinn, auf den sie das dezentrierte Bewusstsein ver34 35 36 37

Ricœur: Die Interpretation, S. 45 f. Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (II), S. 235. Ricœur: Existenz und Hermeneutik, S. 33. Ricœur: Die Interpretation, S. 44.

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weist, das zuvor seines eigenen Sinns beraubt wurde. Was Ricœur als Interpretation begreift, soll ermöglichen, auf dem Boden der säkularen Moderne wieder glauben zu können, ohne ein bloßes Bekenntnis abzuverlangen: Der Glaube ist nunmehr das Produkt der Arbeit der Interpretation. Die Aufgabe der Reflexion liegt darin, eine Archäologie und eine Eschatologie miteinander zu vermitteln: »[N]ur indem wir interpretieren, können wir glauben«. 38 Vor diesem Hintergrund ist die Interpretation inklusive ihrer theoretischen Grundlegung in Form der Hermeneutik für Ricœur eine Errungenschaft der Moderne: Die »vor-kritische[] Form eines unmittelbaren Glaubens« weicht der Mittelbarkeit der »›moderne[n]‹ Weise des Glaubens in Symbolen«. 39 Folgt die Interpretation den drei Modalitäten des Symbolischen, der Expressivität, der poetischen Imagination und dem Doppelsinn, dann hebt sich die Reflexion auf und zwar in dem Maße, »als sie eine Archäologie, eine Teleologie und eine Eschatologie entwickelt«. 40 Die Archäologie und die Eschatologie bilden zwei Pole auf dem Kontinuum der Interpretation und in der von Ricœur so bezeichneten Eschatologie des Sinns wird die Reflexion aufgehoben, sie kommt zur Ruhe; Ricœur spricht deshalb davon, dass die Symbole das Ende »verheißen«. 41 Der im Zuge der Dezentrierung des Subjekts und eines sich selbst luziden Bewusstseins verlorengegangene Sinn, wird dadurch restituiert. Zwischen der Archäologie und der Eschatologie liegt die Teleologie, von der sogleich zu

Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (I), S. 197. Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (I), S. 197 f.; vgl. auch Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (II), S. 225 f. Mit seinem Frühwerk Phänomenologie der Schuld sucht Ricœur nach einer Möglichkeit eines solchen Glaubens und dadurch einen Umgang mit Phänomenen zu finden, die der Mensch weder verstehen, noch erklären kann, da sie sich der theoretischen Analyse entziehen. So übersteigt das Böse die Fassungskraft der menschlichen Rationalität, es betrifft den Menschen in seiner Existenz. Der Weg einer bloßen Rationalisierung des Bösen trägt nicht zur Bewältigung der Erfahrung des Bösen bei. Ricœur sucht nach einer Möglichkeit noch das, was sich weder erklären lässt, noch wir zu verstehen imstande sind, handelnd in das eigene Selbst- und Weltverständnis zu integrieren (vgl. Jean Grondin: Von Gadamer zu Ricœur. Kann man von einer gemeinsamen Auffassung von Hermeneutik sprechen?, in: Burkhard Liebsch (Hrsg.): Bezeugte Vergangenheit oder Versöhnendes Vergessen. Geschichtstheorie nach Paul Ricœur (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 24). Akademie Verlag: Berlin 2010, S. 61–76, hier S. 72). 40 Ricœur: Existenz und Hermeneutik, S. 36. 41 Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (II), S. 236. 38 39

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sprechen sein wird – nicht zufällig, darauf sei an dieser Stelle verwiesen, liegt die poetische Imagination zwischen der Expressivität und dem Doppelsinn, ebenso wie die Teleologie zwischen der Archäologie und der Eschatologie. Teleologie und poetische Imagination kommen bei Ricœur an diesem Punkt zusammen, sie konstituieren gemeinsam den Bereich, in dem die Hermeneutik der narrativen Identität operiert. Die Wiedereinsammlung des Sinns, von Ricœur im Kontext der Interpretation auf eine Eschatologie des Sinns verwiesen, wird von der Hermeneutik der narrativen Identität auf das Maß der Endlichkeit des Menschen reguliert. Damit wird der zu restituierende Sinn nicht sogleich auf eine Eschatologie verwiesen, sondern wird, noch bevor die Hermeneutik der Interpretation in Richtung des Heiligen folgt, auf die narrative Identität konzentriert. 42 Der in diesem Kontext von Ricœur ins Spiel gebrachte Sinnbegriff zeigt sich gegenüber der Forderung nach einer eschatologischen Wiedereinsammlung des Sinns deutlich reduziert. Der Sinn liegt nicht in einem transzendenten Bereich des Heiligen, sondern innerhalb der Kultur und Geschichte begründet: in den Werken der Kultur. Unsere Darstellungsweise der Dynamik und Entwicklung der Kultur geht für Ricœur auf die Teleologie des Geistes zurück.

4.1.2. Zur Teleologie des Geistes Die Archäologie des Subjekts, die Teleologie des Geistes und die Eschatologie des Sinns bilden zusammengenommen die »ontologischen Implikationen der Interpretation«. 43 Jeder Bereich weist eine eigene Dynamik auf: Die Archäologie des Subjekts, wie sie die Psychoanalyse vorstellt, besitzt ein regressives Moment; sie verweist die Hermeneutik zwar auf eine Existenz, die sich der Psychoanalyse jedoch als Wunsch, als Drang und Begehren zeigt. Der Wunsch, so Ricœur, verweist zwar auf den Ursprung der Sinnkonstitution, dieser

42 Breitling zufolge besteht das Sinnangebot, das Ricœur in Zeit und Erzählung unterbreitet, erstens darin, das zeitliche Geschehen sinnstiftend zu artikulieren und zweitens in der Fabel selbst, die er als eine »zeitliche Sinnfigur« (Breitling: Paul Ricœur und der Sinn der Geschichte, S. 97) versteht – die Aneignung des Sinns und das Resultat dieser Aneignung, die narrative Identität, zählt Breitling nicht dazu. 43 Ricœur: Existenz und Hermeneutik, S. 34.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

liegt jedoch hinter dem Subjekt. Auch die Teleologie verschiebt den Ursprung der Sinnbildung, verlegt diesen zwar ebenso wenig in ein menschliches Bewusstsein, zugleich jedoch nicht hinter, sondern vor das Subjekt. 44 In Anschluss an Hegels Phänomenologie des Geistes spricht Ricœur davon, dass die Teleologie des Geistes »uns zu einer Bewegung auf[fordert], derzufolge jede Gestalt [des Geistes] ihren Sinn nicht in der vorangehenden, sondern in der folgenden findet«. Wir folgen hier einer fortschreitenden Sinnstruktur, die auf die Realisierung des Geistes zurückgeht, die sich in einer fortschreitenden Dynamik vollzieht, im »Übergang von einer Gestalt zu andern«. Ricœur spricht davon, dass diese Dynamik des Geistes das Subjekt auf der einen Seite »aus seiner Kindheit herausholt, seiner Archäologie entreißt« und auf der anderen Seite »in Richtung auf einen fortschreitenden Sinn« und damit auf eine Eschatologie verweist. 45 Der Weg über die Symbole führt von der Archäologie über die Teleologie zur Eschatologie – die Teleologie entreißt den Menschen seiner Kindheit, d. h. seinem bloßen Wunsch und Begehren. Die Kultur, die der Struktur der Teleologie folgt, ist für Ricœur aus dieser Perspektive »nichts anderes als die Epigenese, die Orthogenese dieser ›Bilder‹ des Erwachsen-Werdens des Menschen«, d. h. die fortwährende Interpretation dieser Bilder, die nicht mehr bloß Wunsch und Begehren ist, sondern eine Sprache findet, die eine mögliche Eschatologie aufschließt. 46 Das eigene, reflektierende Selbst folgt diesen Strukturen und findet dadurch seinen »Brennpunkt […] im Geist, d. h. in der Dialektik der Gestalten selbst. Das ›Bewußtsein‹ ist die Verinnerlichung dieser Bewegung, die man in der objektiven Struktur der Institutionen, der Denkmale, der Kunst- und Kulturwerke wiederzuentdecken hat.« 47 Die Kultur bildet für Ricœur den Bereich, innerhalb dessen die Hermeneutik der narrativen Identität operiert, ein Bereich, in dem die Erkenntnis dieser Dynamik der Kultur der Teleologie des Geistes folgt, die wir in den Werken der Kultur entdecken. Im Zuge der Reflexion auf diese Werke, die stets Teil der Kultur sind, d. h. der

44 45 46 47

Vgl. ebd., S. 33. Ebd. Ricœur: Das Bewusste und das Unbewusste, S. 157. Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (II), S. 228.

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Zusammenhänge, in denen sie stehen, folgen wir der Dynamik des Geistes: »[D]er Geist begreift den Geist«. 48 Die progressive Struktur, die wir in der Dynamik der Objektivationsformen des Geistes erblicken, prägt unsere Erkenntnis- und DarPaul Ricœur: Struktur und Hermeneutik [1964], übers. von Johannes Rütsche, in: ders.: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen, Bd. 1. Kösel: München 1973, S. 37–79, hier S. 51. In dieser Formel kulminiert Ricœurs Abwendung von der diltheyschen Hermeneutik. Diltheys Diktum »Leben erfaßt hier Leben« (Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 136) führt Ricœur zufolge unweigerlich in einen Psychologismus. Wider Dilthey macht Ricœur deutlich, dass wir nur vermittelt über das Leben sprechen können, indem wir die Objektivationsformen des Geistes in den Blick nehmen. Meuter wirft der Hermeneutik insgesamt einen »gängigen Antinaturalismus« vor, der ihm zufolge durch eine konsequente »Nichtthematisierung der Natur zum Ausdruck« (Norbert Meuter: Ricœurs (Nicht-) Verhältnis zur Sphäre der Natur, in: Stefan Ort und Andris Breitling (Hrsg.): Vor dem Text. Hermeneutik und Phänomenologie im Denken Paul Ricœurs (Schriftenreihe für Philosophie und Kulturtheorie, Bd. 4). Technische Universität Berlin: Berlin 2002, S. 209–215, hier S. 210) kommt, so auch bei Ricœur. Meuter ist zwar zuzustimmen, dass Fragen nach dem Verhältnis von Natur und Kultur im Kontext der Hermeneutik Ricœurs keine Rolle spielen, dies jedoch, da Ricœur seine Hermeneutik als eine Philosophie des Geistes versteht, die die zweite Natur, die Kultur, zum Ausgangs- und Endpunkt hat. Bereits früh macht Ricœur in Anschluss an Hegel deutlich, dass das Leben gerade »nicht von Grund auf ein Bedeutungsträger ist«, sondern die Bedeutungen, die das Leben »in sich enthält« ein Produkt der begrifflichen Arbeit des Geistes sind. Wenn das Leben selbst keinen »Ansatzpunkt« für das Verstehen liefert: »Muß man sich nicht gerade dann heimlich alle Mittel einer Philosophie des Geistes in die Hand geben, wenn man eine Philosophie des Lebens schaffen will?« (Ricœur: Existenz und Hermeneutik, S. 14) Einschlägig für eine Bestimmung der Hermeneutik Ricœurs als Philosophie des Geistes ist Ricœurs Interpretation der aristotelischen Poetik in Die lebendige Metapher: Die Möglichkeit, Aristoteles zum Vorläufer einer Philosophie des Geistes zu machen, sieht Ricœur darin begründet, dass Aristoteles auf den Anschluss an die platonische Nachahmungstheorie verzichtet, die in der Nachahmung primär eine Nachahmung der Natur sieht (vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 47–50). Was Ricœur mit Aristoteles als Nachahmung bezeichnet, liegt im Bereich der Poetik (vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 52–55; Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 59). Sie ist stets Nachahmung menschlicher Handlungen. Die Mimesis als Nachahmung menschlicher Handlungen integriert Ricœur seiner Hermeneutik und diese Hermeneutik operiert innerhalb der Kultur. Meuters Kritik ›von außen‹ geht am Selbstverständnis der Hermeneutik Ricœurs vorbei, die eine Philosophie des Geistes und eine Kulturphilosophie ist, die die Differenz von erster und zweiter Natur, Natur und Kultur nicht explizit zum Thema macht (wenngleich sich auch in dem folgenden Aufsatz eine deutliche Tendenz zur Philosophie des Geistes abzeichnet, so hat Ricœur das Verhältnis von Natur und Kultur an dieser Stelle doch zumindest nicht unbeachtet gelassen, vgl. Paul Ricœur: Nature et liberté, in: Existence et Nature, hrsg. von der Société languedocienne de Philosophie unter Mitwirkung des Centre National de la Recherche Scientifique. P.U.F.: Paris 1962, S. 125–137). Zum einen

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stellungsweise der Dynamik von Kultur und Geschichte. Ein mögliches Selbstverständnis gewinnen wir nicht, indem wir die Werke der Kultur isoliert betrachten, sondern nur, indem wir sie kontextualisieren und stets in Bezug zu anderen Objektivationsformen setzen. Wir gehen von gegenwärtigen Objektivationsformen aus und suchen diese aus vorhergehenden abzuleiten: Wir versuchen deren Dynamik in Form von Übergängen zu verstehen und zu erklären, unabhängig davon, wie fragil diese auch sein mögen. Der Versuch, diese Übergänge von einer Objektivationsform zu einer anderen zu verstehen, lässt uns nach Ursachen forschen, um darzustellen, wie das, was geworden ist, sich entwickelt hat. Im Zuge dessen implantieren wir unserer Darstellungsweise kausale und teleologische Strukturen, die im Kern die Handlungstheorie Ricœurs bestimmen; diese sind damit nicht, und darauf kommt es an dieser Stelle an, bloße Konstruktionen, sondern entspringen der Struktur und Dynamik des Geistes, in die wir immer schon eingebunden sind. Durch die Einbettung der Hermeneutik in die Interpretation verhindert Ricœur, dass sich diese progressive Struktur und Dynamik des Geistes zu einer Fortschrittsgeschichte teleologischen Zuschnitts auswächst, die die Geschichte insgesamt umfasst und auf einen bestimmten Sinn konzentriert. Die Interpretation bezieht immer schon die existenziale und ontologische Ebene ein, sie bewegt sich zwischen der Archäologie des Subjekts und der Eschatologie des Sinns. Die progressive Dynamik des Geistes wird hier regressiv rückgebunden und zugleich auf den Sinn im Bereich des Heiligen verwiesen und in dieser Spannung in eine zirkuläre Strukturdynamik eingebettet; zirkulär meint an dieser Stelle nur, dass wir uns auf die großen Symbole der Kultur verwiesen sehen, die wir fortwährend und immer wieder von

wäre zu prüfen, inwieweit Ricœurs Anthropologie und Existenzphilosophie diese Grenze von Natur und Kultur überschreitet, Anhaltspunkte dafür liefert z. B. Dumberger, der aufzeigt, inwieweit Ricœurs Anthropologie die Spannung zwischen Natur und Freiheit zum Ausgangspunkt der menschlichen Selbstverwirklichung nimmt (vgl. Dumberger: Lebenssinn und Gerechtigkeit, S. 19–40). Tengelyi entwickelt in Anschluss an Ricœur eine Leibphänomenologie, die explizit im Kontext der phänomenologischen Hermeneutik Ricœurs steht (vgl. László Tengelyi: Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, Bd. 33). Wilhelm Fink: München 1998, S. 195, 198–202). Zum anderen wäre mit Meuter der von Adolphi diagnostizierte versteckte Naturalismus zu diskutieren, den Adolphi in Gestalt einer Ontologie in Ricœurs Gedächtnis, Geschichte, Vergessen ausmacht (vgl. Adolphi: Das Verschwinden der wissenschaftlichen Erklärung).

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Neuem der Interpretation unterziehen. 49 Was mit dem Blick auf die teleologische Dynamik des Geistes allein den Eindruck von Fortschritt erweckt, wird in den Kultursymbolen aufgehoben: Die Symbole subsumieren die »regressiven und prospektiven Vektoren, auf Dosse spricht in Anlehnung an Ricœurs Hegel-Kritik davon, dass Ricœur die Philosophie nicht als ein geschlossenes System vorstellt, das in sich zyklisch oder zirkulär strukturiert wäre (non pas du tout cyclique ou circulaire); vielmehr sorgt das narrative Moment in der Philosophie Ricœurs für eine baumartige Struktur (le déploiement d’un schématisme arborescent), die nachfolgend die Geschichte der Philosophie und des Denkens bestimmt (vgl. François Dosse: Paul Ricœur. Un philosophe dans son siecle. Armand Colin: Paris 2012, S. 209 f.). Dies ist insofern zutreffend, als dass der narrative Schematismus – und nicht zuletzt die Metapher – eine Pluralisierung der Bedeutungsvielfalt herbeiführt (vgl. Kap. 4.5.1.). Daraus resultiert eine Öffnung der Geschichte, deren heterogene Entwicklungslinien dadurch durchaus vervielfältigt werden. Wie Dosse darstellt, erteilt Ricœur damit der hegelschen Totalität und der auf sie konzentrierten Teleologie eine Absage, die unter ganz ähnlichen Vorzeichen steht wie die in der vorliegenden Untersuchung zuvor entwickelte Kritik an der husserlschen Geschichtsteleologie (vgl. Kap. 2.3.). Ricœurs Kritik an Hegel richtet sich gegen die Annahme, die Vernunft sei das Telos der Geschichte, da diese die Kontingenz der geschichtlichen Entwicklung nivelliert. Die Teleologie, auf das Ganze der Geschichte übertragen, unterdrückt die Kontingenz und verkennt dadurch, so Ricœur, die Narrativität, die sich gerade der Anerkennung und Bewältigung der Kontingenz verschrieben hat (vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3: Die erzählte Zeit [1985] (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, Bd. 18/III), übers. von Andreas Knop. Wilhelm Fink: München 1991, S. 312–333 sowie hierzu Dosse: Paul Ricœur. Un philosophe dans son siecle, S. 208 und Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn, S. 208–225). Dosse spricht deshalb von einer Geschichtlichkeit ohne Teleologie (une historicité sans téléologie; vgl. Dosse: Paul Ricœur. Un philosophe dans son siecle, S. 207–224), vernachlässigt jedoch den Kontext der Symbolhermeneutik sowie spezifische Strukturen innerhalb der Hermeneutik der narrativen Identität. Im Kontext der Symbolhermeneutik zeigt sich erstens, dass die Interpretation der großen Kultursymbole nicht nur ein Erinnern, sondern stets ein Wiedererinnern ist; diese Art der Zirkularität mag noch keine zyklische Struktur mit sich bringen, insofern jedes Wiedererinnern ein Anknüpfen an die alten Symbole unter neuen, d. h. historisch bedingten Vorzeichen ist. Dass wir die Symbole ganz verschieden auslegen und diese unterschiedliche Bedeutungen für uns annehmen können, mag eine baumartige Struktur der Dynamik der Interpretationen und Rezeptionen befördern, nichtsdestotrotz entfaltet sich diese, wie Ricœur deutlich macht, innerhalb der Symbole. Zweitens weist noch Ricœurs Hermeneutik der Narrativität eine zirkuläre Struktur auf, insofern die dreifache Mimesis, wie sie im Folgenden dargestellt wird (vgl. Kap. 4.3.), eine zirkuläre Struktur bildet. Ricœur selbst spricht nicht nur von dem Kreis der dreifachen Mimesis, sondern darüber hinaus von einer Dynamik, die sich als endlose Spirale entfaltet (vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 115; vgl. hierzu Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn, S. 110– 122, 129 f.). Darüber hinaus sind die Ebene der Geschichtlichkeit und die Ebene der Darstellung von Geschichte, wie sie im Folgenden thematisiert wird, auseinander-

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die sich die verschiedenen, gegensätzlichen Hermeneutiken gründen« unter sich und verweisen sie aufeinander. 50 Die Kultur weist in dieser Hinsicht eine doppelte Strukturdynamik auf: erstens eine Struktur einer zirkulären Dynamik, die auf die symbolische Konstitution der Kultur zurückgeht, zweitens eine Struktur einer progressiven Dynamik, die der Art und Weise unserer Erkenntnis der Gestalten und Objektivationsformen des Geistes entspringt. Aufgrund ihres Doppelsinns weisen Symbole einen Sinnüberschuss auf, der es ermöglicht, immer wieder an die Symbole anzuschließen, um die Auslegung und Interpretation alter Symbole immer wieder von Neuem zu vollziehen. 51 Im Gegensatz zu den Reflexionsphilosophien, die ein sich selbst bewusstes Ich zum Ausgangspunkt nehmen, sieht sich die Interpretation auf die Sinnstrukturen und -zusammenhänge der Symbole verwiesen – nicht erst die Hermeneutik, sondern bereits die Interpretation »setzt in der Mitte der Sprache an, die schon stattgefunden hat und in der alles bereits auf irgendeine Weise gesagt worden ist«. Die Aufgabe der Interpretation sieht Ricœur deshalb nicht darin, »einen Anfang zu setzen, sondern sich aus der Mitte des Wortes wiederzuerinnern«, ihre Dynamik bleibt zirkulär. 52 Die »Dynamik der großen Kultursymbole« folgt nicht der progressiven Struktur des Geistes, sondern stellt vielmehr einen ambivalenten Prozess dar, der sich zwischen der Anreicherung und der Verarmung des Bedeutungsreichtums der Symbole bewegt. 53 Der Übergang von einem Symbol zu einem anderen bedeutet, in die Tiefe eines neuen Symbols ein- und zugleich aus der Tiefe eines alten Symzuhalten. Dass die Geschichte keine immanente Teleologie aufweist, bedeutet nicht, dass nicht auf Ebene der Darstellung von Geschichte doch teleologische Strukturen Einzug halten – diese sind der Geschichte nicht immanent, sondern werden von uns in die Geschichte hineingetragen (vgl. Kap. 4.4.1.). Ricœur selbst macht deutlich, dass eine Kritik an Hegel nicht auch zugleich eine vollständige Absage an Hegel sein kann (vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 332) – unter Absage an das Absolute und die Teleologie der Geschichte im Ganzen verbleibt, wie dargestellt, die zentrale Struktur der hegelschen Vorstellung der Dynamik des Geistes: die Teleologie. Wenngleich diese nicht mehr auf einen Endzweck und ein Absolutes orientiert ist, prägt sie doch unsere Logik der Erkenntnis der Dynamik von Kultur und Geschichte und damit unsere Darstellungsweise ebendieser. 50 Ricœur: Existenz und Hermeneutik, S. 35. 51 Vgl. Ricœur: Struktur und Hermeneutik, S. 63. 52 Ricœur: Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (I), S. 184 f. 53 Ebd., S. 188.

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bols aufzutauchen. 54 Diese Tiefe lässt sich nie vollständig ausschöpfen, deren Interpretation ist stets Gewinn und Verlust, »Verinnerlichung« und »Verarmung des Bedeutungsreichtums« zugleich. 55 Wider die Formalisierung unserer Sprache, möchte Ricœur wieder von der Fülle der Sprache ausgehen, in der sich Wunsch und Begehren und das Heilige gleichermaßen aussprechen. Diese Fülle unserer Sprache liegt in den Symbolen begründet, die der Kultur eine Tiefendimension verleihen, die sich nicht als progressive Teleologie einer Fortschrittsgeschichte darstellen lässt, sondern stattdessen die Zirkularität der Kulturdynamik in den Vordergrund rückt. Innerhalb dieser sprechen wir von Geschichte und Fortschritt und folgen hierin nur der Teleologie und Dynamik des Geistes, die damit keine Fortschrittsgeschichte im Ganzen sein kann. Die Hermeneutik der Symbole bildet den Rahmen, innerhalb dessen die Hermeneutik der narrativen Identität operiert. Ricœur erscheint die ausschließliche Zuspitzung der Hermeneutik auf eine Symbolhermeneutik, wie er diese in Die Symbolik des Bösen entwickelt, bald zu eng gefasst und erweitert sie um eine Archäologie und Eschatologie, entwirft im Anschluss daran eine Text- und Werkhermeneutik und vermittelt über diese eine Hermeneutik der narrativen Identität. 56 Im Kern geht die Hermeneutik der narrativen Identität auf die Funktion der Metapher zurück – eine Funktion des menschlichen Geistes, die »innerhalb des Symbols« operiert, d. h. innerhalb der Strukturen, die das Symbol als Kultur entfaltet. 57 Vgl. ebd., S. 187–189. Ebd., S. 188. 56 Vgl. Ricœur: De l’interprétation, S. 30 f. 57 Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 278. Wenn Ricœur an anderer Stelle davon spricht, dass es darum geht, »von den Symbolen aus und nicht mehr in den Symbolen zu denken« (Ricœur: Symbolik des Bösen, S. 403), dann wendet sich Ricœur lediglich gegen ein unmittelbares Denken in Symbolen, nicht jedoch gegen ein Denken in Symbolen überhaupt. Die Hermeneutik nimmt den Weg zur Aneignung über die Reflexion. Die Aneignung im Kontext der Symbolhermeneutik ist gerade darauf aus, sich den in Symbolen enthaltenen Sinn wieder anzueignen (vgl. auch Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn, S. 62); mit den späteren Schriften, insbesondere mit Die lebendige Metapher und Zeit und Erzählung verschiebt sich für Ricœur die Problemlage, ohne dass er jedoch die Symbolhermeneutik durch die Hermeneutik der narrativen Identität ersetzt. Vielmehr ist letztere anschlussfähig an die Symbolhermeneutik. Tengelyi spricht davon, dass die Metapher in den späteren Schriften Ricœurs frühere Verwendung des Symbols ersetzt (vgl. Tengelyi: Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte, S. 148), ganz ähnlich auch Breitling, der davon ausgeht, dass die philosophische Hermeneutik in Ricœurs Werk, d. h. die Hermeneutik der narrativen 54 55

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Wenngleich sowohl die zentrale Eigenschaft des Symbols, der Doppelsinn des Symbols, als auch die zentrale Eigenschaft der Metapher, die doppelte Referenz der Metapher, auf dasselbe Prinzip zurückgehen, das der Analogie, so liegt doch ein wesentlicher Unterschied zwischen Ricœurs Symbol- und Metaphernbegriff darin begründet, dass wir auf der einen Seite immer schon in Symbole hineingestellt sind und die Interpretation ein Versuch ist, einen Umgang mit diesen zu finden – die Symbole treten uns entgegen, wir empfangen sie rezeptiv und produzieren sie nicht aktiv. Die Metapher hingegen ist eine Struktur des menschlichen Geistes, die, wie Ricœur in Anschluss an Kant deutlich macht, der produktiven Einbildungskraft entspringt. 58 Dieses produktive Moment eröffnet die Möglichkeit zur Ausbildung einer narrativen Identität. Zu betonen bleibt, dass die Hermeneutik der narrativen Identität den Sinn nicht auf eine Eschatologie verweist, sondern diesen über die Werke der Kultur erschließt und auf die narrative Identität konzentriert. Ricœur selbst situiert seine Hermeneutik der narrativen Identität zwischen der Archäologie und der Eschatologie: »Die Zwischenstufe in Richtung auf die Existenz ist die Reflexion, die das Verstehen der Zeichen mit dem Selbstverständnis (compréhension de soi) verknüpft.« 59 Diese Reflexion und damit die Frage nach der Verknüpfung zwischen den Zeichen der Kultur und einem möglichen Selbstverständnis steht im Folgenden im Zentrum der Untersuchung. Den Bereich der Kultur zwischen Archäologie und Eschatologie bestimmen im Kern zwei Aspekte: die poetische Imagination und die Teleologie des Geistes, beide kommen im Folgenden zum Tragen. Zunächst jedoch gilt es, die Funktion der Metapher in den Blick zu nehmen, da sie die Grundlage der Hermeneutik der narrativen Identität bildet. Identität, die theologische, d. h. die Symbolhermeneutik, ablöst; die Archäologie des Subjekts und die Wiedereinsammlung des Sinns bleiben Breitling zufolge nicht nur unverbunden nebeneinander stehen, sondern schließen einander sogar aus (vgl. Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn, S. 61–66). Im Gegensatz dazu hat bereits Böhnke gezeigt, dass Ricœurs Metaphernbegriff – und damit auch die von Ricœur weiterentwickelte Hermeneutik – durchaus anschlussfähig an die theologische resp. Symbolhermeneutik Ricœurs ist (vgl. Michael Böhnke: Konkrete Reflexion. Philosophische und theologische Hermeneutik. Ein Interpretationsversuch über Paul Ricœur (Disputationes Theologiae, Bd. 15). Peter Lang: Frankfurt a. M., Bern, New York NY 1983). 58 Vgl. Kap. 4.3.4. 59 Ricœur: Existenz und Hermeneutik, S. 27.

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Die Funktion der Metapher

4.2. Die Funktion der Metapher Ricœur entwickelt sein Verständnis der Metapher ausgehend von und in Auseinandersetzung mit der aristotelischen Rhetorik sowie Poetik. Ricœur zufolge galten Rhetorik und Poetik in der Antike zwar als getrennte Disziplinen, mit Aristoteles jedoch bietet sich ihm die Möglichkeit, beide Bereiche miteinander zu verbinden – den Brückenschlag erlaubt die Metapher, die Aristoteles in beiden Werken verhandelt. Wie Blumenberg auch wertet Ricœur die Metapher gegenüber der philosophischen Tradition auf. Wenngleich, so die Darstellung Ricœurs, die Tradition jahrhundertelang der Auffassung anhängt, die Metapher sei lediglich schmückendes Beiwerk der Sprache, so sieht Ricœur doch bereits in der aristotelischen Poetik ein Verständnis der Metapher begründet, das diese nicht lediglich als bloßen Zierrat der Sprache betrachtet. 60 Ebenso wie bei Blumenberg geht Ricœurs Aufwertung der Metapher zugleich mit einer Kritik an der Substitutionstheorie der Metapher einher. 61 Auch Ricœurs Begriff der lebendigen Metapher ist der Prädikationstheorie der Metapher zuzurechnen, die im Folgenden aus zwei verschiedenen Perspektiven in den Blick genommen wird. Erstens sucht Ricœur die Verschiebung von der Substitutionszu einer Prädikationstheorie der Metapher im Werk Aristoteles’ selbst nachzuweisen, um Aristoteles für seine eigene Interpretation fruchtbar zu machen. Der Weg führt von der aristotelischen Rhetorik zur Poetik, ohne vollständig in der Poetik aufzugehen, und führt zugleich auf die narrative Funktion, auf die es im Anschluss ankommen wird. Zweitens entwickelt Ricœur sein Metaphernverständnis in kritischer Abgrenzung zur strukturalen Linguistik. Im Zuge dieser Kritik setzt Ricœur der Substitutionstheorie der Metapher, wie er sie im Bereich der strukturalen Linguistik realisiert sieht, die Prädikationstheorie der Metapher entgegen: Die Metapher ist keine Funktion der Übertragung, die lediglich einzelne, voneinander isolierte Worte substituiert, sondern ist stets auf Kontexte verwiesen, in denen sie die Funktion eines Prädikats übernimmt. Beide Wege zusammengenommen führen auf Ricœurs Begriff der lebendigen Metapher.

60 61

Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 21. Vgl. Kap. 3.2.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

In seiner Auseinandersetzung mit der Rhetorik und der Poetik Aristoteles’ hebt Ricœur zunächst hervor, dass Aristoteles die Metapher sowohl in der Rhetorik als auch in der Poetik als die Übertragung eines Wortes definiert: als »Übertragung eines Wortes das (eigentlich) der Name für etwas anderes ist, entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung oder von einer Art auf eine (andere) Art oder gemäß einer Analogie«. 62 Die Metapher wird in ihrer Übertragungsfunktion an das einzelne Wort bzw. Nomen gebunden. 63 In dieser Funktion verbindet sie einen Ursprungsbereich, den des üblichen und wörtlichen Sprachgebrauchs, mit einem der Sprache ungewohnten Bereich, der einen metaphorischen Sinn aufweist. Der wörtliche Sinn wird dann metaphorisch, d. h. in diesem Fall indirekt adressiert. 64 Im Gegensatz zum wörtlichen Sinn, ist die metaphorische Verwendung dem gewohnten Sprachgebrauch fremd: Die Metapher substituiert ein herkömmliches und dem gewohnten Sprachgebrauch bekanntes Nomen durch ein neues, in diesem Kontext noch unbekanntes Nomen. Die Metapher wird dadurch als eine Abweichung vom bekannten Sprachgebrauch und als eine Entlehnung von etwas Neuem definiert; sie substituiert eine bekannte durch eine neue Verwendungsweise. Aus Perspektive der Substitutionstheorie erscheint die metaphorische Rede als überflüssige rhetorische Beigabe, die die Rede schmücken mag, nicht aber notwendig ist, da sich doch ebenso gut der herkömmliche, nicht-metaphorische Sprachgebrauch anwenden ließe – »wäre die Abweichung immer eine Substitution, […] die Metapher wäre eine dem Dichter anheimgestellte freie Variation«. 65 Die Metapher besäße keinen ihr eigenen Informationsgehalt und wäre bloß schmückendes Beiwerk der Sprache. Wenngleich die aristotelische Rhetorik eine Substitutionstheorie der Metapher intendieren mag, so sieht Ricœur in der aristotelischen Definition der Metapher doch zugleich eine Struktur begründet, die über den Rahmen einer bloßen Substitutionstheorie hinausführt, insofern die Metapher von Aristoteles als Übertragung »von der Gattung auf die Art oder von der Art

62 63 64 65

Aristoteles: Poetik, 1457b6–9. Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 20. Vgl. ebd., S. 21–24. Ebd., S. 25.

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Die Funktion der Metapher

auf die Gattung oder von einer Art auf eine (andere) Art oder gemäß einer Analogie« definiert wird. 66 Für Ricœurs eigenes Verständnis der Metapher sind drei Aspekte von Bedeutung, die sich aus dieser Struktur ergeben. Erstens impliziert diese Struktur ein Regelwerk: Es geht nicht, wie die Substitutionstheorie annimmt, um den Austausch einzelner Worte; nicht der Sinn eines einzelnen Wortes oder Nomens wird verschoben, sondern die Metapher steht immer schon inmitten von Relationen, ohne die sie selbst nicht in Erscheinung treten könnte. Die Metapher ist nie ein einzelnes Wort, sondern, wie Ricœur sagt, stets ein »Paar von Begriffen oder Verhältnissen, zwischen denen die Übertragung stattfindet: von der Gattung zur Art, von der Art zur Gattung, von einer Art zur anderen, vom zweiten zum vierten Glied einer Verhältnisbeziehung und umgekehrt«. Indem die Metapher Relationen zwischen verschiedenen, durchaus kategorial voneinander getrennten Bereichen herstellt, die für gewöhnlich nicht in Bezug zueinander stehen, überschreitet sie die Grenzen einer bekannten Ordnung und verstößt gegen diese – so z. B. gegen eine bekannte hierarchische Ordnung, wie im Fall der Übertragung von der Art auf die Gattung. Es handelt sich bei der Metapher deshalb um einen »kalkulierten Irrtum«. Dieser ersetzt nicht ein Wort durch ein anderes, sondern verletzt eine bestehende Ordnung, indem er Bezüge über bereits bestehende, kategoriale Grenzen hinweg herstellt. Die Metapher wirkt auf ein ganzes Beziehungsgeflecht, auf einen Kontext: »Um ein einziges Wort in Bewegung zu setzen, muß die Metapher durch eine aus der Art schlagende Zuschreibung ein ganzes Netz von Beziehungen durcheinanderbringen.« Zweitens folgt daraus, dass die Metapher zwar durchaus eine Störung einer bestehenden Ordnung darstellt, zugleich jedoch produziert sie durch diese Störung Sinn. Nur deshalb ist sie für Ricœur überhaupt von Interesse: Die »Kategorienverwechslung«, die unter dem Titel der Metapher geführt wird, ist für Ricœur nur die »Kehrseite einer Logik der Entdeckung«. Die Metapher besitzt damit durchaus einen eigenen Informationsgehalt, »weil sie die Wirklichkeit ›neu Aristoteles: Poetik, S. 67/1457b8–9. Ricœur betont, dass Aristoteles den Gegensatz zwischen einem eigentlichen, ursprünglichen und wörtlichen auf der einen und einem übertragenen, metaphorischen Wortsinn auf der anderen Seite selbst nicht intendiert; dieser Gegensatz wird erst zu einem späteren Zeitpunkt postuliert und bestimmt nachfolgend die Wertung und Rezeption der Metapher (vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 25).

66

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beschreibt‹«, sie erzeugt eine neue Ordnung. 67 Diese schafft sie nicht aus dem Nichts, da jede neue Ordnung aus Abweichungen resultiert, die die Metapher »innerhalb einer vorgegebenen Ordnung bewirkt«. 68 Die Leistung der Metapher liegt darin begründet, dass sie die gegebene und gewohnte Ordnung durchbricht und dadurch ermöglicht, die Wirklichkeit aus einer neuen Perspektive wahrzunehmen. Ebendiese Leistung, im Zuge der Ordnungsstörung zugleich Sinn zu produzieren, bestimmt die Poetik und Hermeneutik Ricœurs im Kern, insofern die narrative Funktion auf die Funktion der Metapher zurückgeht und ihr Potenzial maßgeblich der Möglichkeit der metaphorischen Neubeschreibung der Wirklichkeit verdankt. Die ontologische Funktion der Metapher deutet sich an diesem Punkt bereits an. Drittens ist die Metapher aufgrund ihrer Kontextgebundenheit diskursiv. 69 Der diskursive Charakter der Metapher ist für Ricœur von Interesse, weil die Metapher zwar Identität herstellt, indem sie zwei Bereiche aufeinander bezieht und in diesem Bezug durchaus Identität behauptet – dies jedoch zugleich, ohne ihren diskursiven Charakter aufzugeben. Dort, wo ein bloßer Vergleich die beiden in Relation zueinander gesetzten Bereiche und deren Differenz offenlegt, behauptet die Metapher im Gegenzug Identität. Erst wenn wir nicht mehr vergleichend sagen ›Achill stürzte los wie ein Löwe‹, sondern stattdessen sagen ›Achill ist ein Löwe‹, stellen wir Identität her. ›Achill‹ und ›Löwe‹ sind in der Metapher als Bezugspole erkennbar und doch auf einen gemeinsamen Bezugspunkt konzentriert: »Der Vergleich sagt ›dieses ist wie das‹ ; die Metapher sagt: ›dieses ist das‹.« 70 Es kommt dadurch zu einer »Annäherung zwischen der zu benennenden und der fremden Sache«, die der Vergleich noch auf Distanz hält. 71 Diese Distanz überbrückt die Metapher zwar, sie hebt diese jedoch nicht auf, sondern bewahrt sie, wie Ricœur sagt, in einem »verkürzten Ausdruck«. 72 Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 27 f. Ebd., S. 29. 69 Vgl. ebd., S. 27 sowie differenzierter zum Status des Diskurses im Kontext der Metapherntheorie Ricœurs und zu den folgenden Ausführungen Rolf: Metapherntheorien, S. 195–204. 70 Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 33 f.; vgl. ebd., S. 31–36, insbes. S. 34. 71 Ebd., S. 32. 72 Ebd., S. 35. 67 68

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Die Funktion der Metapher

Für Ricœur bildet die Eigenschaft der Metapher, neue Aspekte der Wirklichkeit aufdecken zu können, eine wesentliche Funktion seiner eigenen Hermeneutik: Die Metapher ist imstande, vor Augen zu führen und anschaulich zu gestalten, was bloß begrifflich erfasst abstrakt und unanschaulich bleibt. »Die Metapher […] ›schafft ein Bild‹« und stellt darin »das Abstrakte konkret« dar. Sie ist Vergleich und Bild zugleich: »Ein und dieselbe Metapher kann somit das logische Moment der Verhältnismäßigkeit und das sinnliche Moment der Bildlichkeit in sich tragen.« 73 Deutlicher als andere rhetorische Figuren kann die Metapher »das Leblose als Lebendiges« zeigen; leblose Dinge auf Ebene der Sprache lebendig darzustellen, bedeutet, so Ricœur, »sie selbst gleichsam in actu zeigen«. 74 Die Metapher ist dann lebendige Metapher. Dieser Aspekt, die Dinge in actu zeigen zu können, verweist noch auf die rhetorische Funktion der Metapher: Sie vermag zu überzeugen, weil sie imstande ist, Abstraktes bildhaft vor Augen zu führen. Ricœur konzipiert den Begriff der lebendigen Metapher auf der einen Seite auf der Grundlage seiner Lektüre der aristotelischen Rhetorik und Poetik; vollständig erfassen, was Ricœur unter der lebendigen Metapher versteht, lässt sich auf der anderen Seite jedoch erst über Ricœurs Kritik an der strukturalen Linguistik. Diese Kritik richtet sich im Kern gegen die Auffassung der strukturalen Linguistik, die Sprache bilde ein geschlossenes System (langue). Die strukturale Linguistik muss ihren Gegenstandsbereich isolieren, um diesem den Status der Wissenschaftlichkeit zu sichern und sich als Wissenschaft selbst zu legitimieren: Nur wenn das System Sprache (langue) frei von äußeren Einflüssen bleibt, lässt sich ausschließen, dass die Sprache fortwährend Veränderungen ausgesetzt wird, die erstens aus dem System selbst heraus nicht mehr erklärt werden könnten und zweitens verhindern würden, dass eine einheitliche Methode den Gegentand Sprache zu erfassen imstande wäre. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 43; vgl. hierzu auch Anm. 152, S. 168. Das verbindende Element zwischen dem Bild und der Metapher ist Ricœur zufolge der griechische Begriff εἰκών, der in der aristotelischen Rhetorik zum einen für den Vergleich steht, d. h. für die in Relation zueinander gesetzten Bereiche; das Prinzip des Vergleichs liegt der Metapher zugrunde, im Umkehrschluss verdankt die Metapher ihrer vergleichenden Funktion gerade ihren diskursiven Charakter. Der griechische Begriff εἰκών steht damit zum anderen für das Bild, in das die Metapher abstrakte Verhältnisse zu bringen vermag (vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 31 f.). 74 Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 43. 73

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Paul Ricœur: Narrative Identität

Was die strukturale Linguistik als Sprache begreift, muss jede Veränderung aus sich selbst heraus erklären können. Das System Sprache (langue) impliziert deshalb Zeichen, die keinen Bezug zu einer äußeren Wirklichkeit mehr aufweisen und sich gegenseitig bestimmen. Unter all den Zeichen hat die strukturale Linguistik jedoch, wie Ricœur hervorhebt, keinen Platz für das Wort vorgesehen, das in der lebendigen und gesprochenen Sprache realisiert wird und stets auf die Wirklichkeit verweist: »Immer ist ein gesprochenes Wort (parole) notwendig um die Welt aufzugreifen«. 75 Die Sprache (langue) ist im Kontext der strukturalen Linguistik jedoch die Sprache (langage) abzüglich des Sprechens (parole), die Wirklichkeit bleibt außen vor. 76 Innerhalb der Rahmenbedingungen der strukturalen Linguistik kann das lebendige Wort »nur am Kreuzungspunkt von parole und langue hervortreten«. 77 Wird es jedoch in der gesprochenen Sprache realisiert und auf die Wirklichkeit bezogen, dann wird es mit neuen Bedeutungen angereichert, die es über die Kontexte aufnimmt, in denen es realisiert wird. Sie trägt diese neuen Bedeutungen in das System Sprache (langue) hinein und bereichert es, obwohl die strukturale Linguistik doch die Abgeschlossenheit (clôture) dieses Systems versprochen hatte. 78 Das Wort setzt sich über die Grenzen des Systems Sprache (langue) hinweg und macht dadurch deutlich, dass die Trennung der Sprache (langage) in eine gesprochene Sprache (parole) auf der einen und das System Sprache (langue) auf der anderen Seite lediglich eine Abstraktion darstellt. Die Sinnveränderungen, die das Wort selbst noch in das System der strukturalen Linguistik hineinträgt, kann das abstrakt gefasste System nicht erklären. Das lebendige Wort besitzt, wie Ricœur sagt, einen kumulativen Charakter, d. h. es ist imstande, neue Bedeutungen an- und in sich aufzunehmen. Es öffnet die Sprache für die Wirklichkeit. Die Sprache ist damit kein geschlosseRicœur: Existenz und Hermeneutik, S. 23. Dies betont bereits Saussure, Gründervater der strukturalen Linguistik: »Die Sprache ist für uns die menschliche Rede (langage) abzüglich des Sprechens (parole).« (Ferdinand de Saussure: Grundfragen der Sprachwissenschaft [1916], hrsg. von Charles Bally und Albert Séchehaye unter Mitwirkung von Albert Riedlinger, übers. von Herman Lommel, mit neuem Register und einem Nachwort von Peter von Polenz. Berlin 21967, S. 117; vgl. ebd., S. 93–119) 77 Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 78. 78 Vgl. Ricœur: Die Struktur, das Wort, das Ereignis. 75 76

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Die Funktion der Metapher

nes System, sondern kann selbst noch Neuschöpfungen und Sinnveränderungen Rechnung tragen, die sprachlich zuvor gar nicht realisiert worden sind. 79 Ricœur zählt die Metapher zu den Sinnveränderungen, die strukturalistische Ansätze nicht in den Blick bekommen, da diese Sinnveränderungen primär auf Ebene der gesprochenen Sprache (parole) auftreten, von der die strukturale Linguistik gerade abstrahiert: Jede »Neuschöpfung [ist] von der parole abhängig«. 80 Was die strukturale Linguistik Metapher nennt, wäre nicht mehr als die Ersetzung von Zeichen durch Zeichen und gehörte damit der Substitutionstheorie zu. In strikter Abwendung von der Substitutionstheorie zeigt sich Ricœurs Begriff der lebendigen Metapher: Die lebendige Metapher ist eine »semantische Neuschöpfung«, eine Innovation, die in keinem Wörterbuch auftritt, sondern nur in der Rede (discours) realisiert wird – in der Rede als Diskurs bedeutet in diesem Fall, dass die Rede in einem Kontext realisiert wird und auf diesen bezogen ist. 81 Als semantische Innovation deckt die Metapher neue Aspekte der Wirklichkeit auf, d. h. »Eigenschaften der Dinge oder Gegenstände, die noch nicht bedeutungsmäßig erfaßt wurden«. Diese »aufblitzende neue Bedeutung« stammt Ricœur zufolge gerade nicht aus der bereits bestehenden Sprache. Neue Bedeutungen bringen Eigenschaften der Dinge und der Wirklichkeit zum Ausdruck, für die die Sprache bisher weder ein Wort noch ein Zeichen besessen hat. Eine lebendige Metapher ist eine genuin neue Metapher, »eine momentane Sprachschöpfung, eine semantische Innovation«, 82 die »metaphorische Attribution« ist »lebendiges Wort«. 83 Die Sprache ist nicht Selbstzweck und autonomes System, wie die strukturale Linguistik behauptet, sondern Vermittlung zwischen Mensch und Wirklichkeit und ebendies verdeutlicht die Metapher paradigmatisch, da sie es ermöglicht, der Wirklichkeit und den Dingen in ihr neue Eigenschaften zuzuschreiben. Die Substitutionstheorie der Metapher ist für Ricœur nicht falsch, aber sie greift zu kurz: Die metaphorisch aufgedeckten, neuen Bedeutungen heften sich an das Wort, das stets der »Träger der metaphorischen Sinnwirkung«

79 80 81 82 83

Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 71. Vgl. ebd., S. 75. Ebd., S. 94. Ebd., S. 165. Ebd., S. 163.

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bleibt, d. h. die »semantische Identität wird in der Rede durch das Wort gewährleistet«. 84 Insofern bleibt die Substitutionstheorie durchaus gültig. 85 Sie greift jedoch dort zu kurz, wo die »Bedeutungsveränderung […] den gesamten Beitrag des Kontextes erfordert«, den die Metapher stets einbezieht. 86 Mit diesem Schritt ist für Ricœur der Weg geebnet, um von einer Wort- zur Satz- und Texttheorie respektive Prädikationstheorie der Metapher überzugehen. Diese führt in einem nächsten Schritt auf die poetische Funktion der Metapher, die sich nicht mehr nur über die Rhetorik erfassen lässt. Die Metapher sieht sich stets auf einen Kontext verwiesen, d. h. für Ricœur: Sie wird in einem Diskurs realisiert und entfaltet ihr schöpferisches Potenzial dort, wo sie nicht auf das Wort reduziert wird. Sie fungiert in diesem Moment als Prädikat, sie bezieht sich auf die gesamte Aussage und nimmt dadurch selbst die Form einer Aussage an. Die metaphorische Attribution besteht im Kern im »Aufbau des Netzes von Wechselwirkungen […], das einen bestimmten Kontext zu einem aktuellen und einzigartigen macht«. Sie tritt als »semantisches Ereignis […] am Schnittpunkt mehrerer semantischer Felder« auf, die durch den metaphorischen Aufbau dieses Netzes in Bezug zueinander gesetzt werden: »Der Aufbau dieses Netzes ist die Art und Weise, durch die alle Worte zusammengenommen einen Sinn erhalten.« 87 Die Leistung der Metapher liegt dann darin begründet, dass sie Sinnbereiche miteinander in Verbindung bringen kann, deren wörtlicher Sinn keinen Zusammenhang erkennen lässt; sie bewirkt einen Zusammenbruch des primären, d. h. des wörtlichen Sinns und im Zuge dessen zugleich eine »Innovation des Sinnes auf der Ebene der gesamten Aussage« – und eben diese »Innovation des Sinnes bildet die lebendige Metapher«. Auf »den Trümmern des wörtlichen Sinnes« lässt die Metapher eine neue Ordnung entstehen: »eine neue semantische Pertinenz«. 88 An die Stelle einer Substitutionstheorie Ebd., S. 8. Vgl. auch Paul Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik [1972], in: ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übers. und hrsg. von Peter Welsen. Felix Meiner: Hamburg 2005, S. 109–134, hier S. 110 f. sowie hierzu Rolf: Metapherntheorien, S. 196. 86 Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, S. 111. 87 Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 165. 88 Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 226. Sowohl den Begriff der Pertinenz (pertinence) als auch den der Impertinenz (impertinence) übernimmt Ricœur von dem 84 85

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Die Funktion der Metapher

der Metapher rückt bei Ricœur eine Prädikationstheorie: Die Metapher fungiert als Prädikat, das Teil und Ganzes aufeinander bezieht und den Gesamtzusammenhang, den sie herstellt, aus einer neuen Perspektive sehen lässt. In ihrer prädikativen Funktion erhält die Metapher dadurch eine »Orientierung aufs Ganze«. 89 Selbst wenn die Metapher nur im Augenblick ihrer Realisierung eine lebendige Metapher ist, so wirkt sie doch nachhaltig, insofern sie eine neue Ordnung herbeiführt, die bestehen bleibt, selbst wenn die Metapher ihrer Lebendigkeit längst beraubt und als Begriff in das Lexikon einer Sprache eingegangen ist. Die Möglichkeit zur Orientierung aufs Ganze kann die Metapher sowohl im Bereich der Rhetorik als auch im Bereich der Poetik umsetzen, wenngleich sich die Art der Umsetzung jeweils anders ausnimmt. 90 Das der Metapher implizite »logische Moment der Verhältnismäßigkeit«, das ihr zur Orientierung aufs Ganze dient, wird im Bereich der Rhetorik in »das sinnliche Moment der Bildlichkeit« überführt. 91 Die Orientierung aufs Ganze dient in diesem Fall dazu, durch Bilder zu überzeugen. Was zuvor abstrakt schien, ist dank der Metapher nachvollziehbar. Im Kontext der aristotelischen Poetik sieht sich die Metapher auf die Erzählung, den Mythos verwiesen – Ricœur entlehnt sein Verständnis des Mythos der aristotelischen Poetik, die als eine Poetologie die Struktur und den Aufbau der Tragödie in den Blick nimmt. Den Mythos begreift Ricœur in Anschluss an Aristoteles als ein, wenn Strukturalisten und Literaturtheoretiker Jean Cohen (vgl. Jean Cohen: Structure du langage poétique. Flammarion: Paris 1971). Ricœur zufolge gelten Cohen rhetorische Figuren innerhalb des strukturalen Systems als Abweichungen von den immanenten Regeln, d. h. von den Strukturen des Systems selbst. In einer Aussage, in der die Wörter »in ihrem buchstäblichen Sinn« (Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 87) genommen werden, wirkt eine rhetorische Figur als Störung, da der Sinn, ›beim Wort genommen‹, durch die doppelte Sinnstruktur irritiert wird. Die Metapher soll solche Irritationen reduzieren: Sie stellt einen neuen Sinn her, um die Strukturen und Regeln mit den sich überlagernden Sinnverweisen ab- und anzugleichen; diese Angleichung bewirkt dann eine Nivellierung zum Zweck der Aufrechterhaltung des Systems Sprache (langue). Die Metapher ist dann eine Funktion eines Normalisierungsund Nivellierungsprozesses, ihr produktives Potenzial rückt in den Hintergrund (vgl. Paul Ricœur: La métaphore vive. Éditions du Seuil: Paris 1975, S. 191–200), das Ricœur jedoch gerade in den Vordergrund rückt (vgl. hierzu auch Konersmann: Metapher [Art.], S. 269). 89 Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 51. 90 Vgl. ebd., S. 40. 91 Ebd., S. 43.

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nicht als das zentrale Element der Tragödie und damit als Erzählung und Fabel: Der Mythos dient dem Aufbau der Handlungen, er strukturiert diese und bezieht die einzelnen Handlungen auf das Ganze der Erzählung. 92 Im Folgenden wird unter dem Stichwort der narrativen Funktion ausführlicher darauf einzugehen sein, zunächst gilt die Aufmerksamkeit ganz der Funktion des Mythos, Teil und Ganzes aufeinander beziehen und dadurch das Ganze als einen Gesamtzusammenhang vorstellig machen zu können. Ebendiese Funktion geht auf die Funktion der Metapher zurück. In ihrer Funktion, Teil und Ganzes miteinander vermitteln zu können, wirkt die Metapher im Hintergrund des Mythos und ermöglicht diesem, die einzelnen Handlungsstränge und -ebenen einer Erzählung auf die Erzählung insgesamt zu beziehen. Sie wirkt integrativ. Diese Orientierung aufs Ganze im Bereich der Poetik ist für Ricœur durchaus mit dem Moment vergleichbar, das in der Rhetorik der Überzeugung dient: Dadurch, dass die Funktion der Metapher Teil und Ganzes miteinander vermittelt, gewährleistet sie Nachvollziehbarkeit. 93 Im Bereich der Rhetorik überführt sie Teil und Ganzes, metaphorisch gesprochen, in ein Bild, im Bereich der Poetik in den Gesamtzusammenhang einer Erzählung.

Vgl. ebd., S. 45 f. Im Kontext seiner Symbolhermeneutik sorgt Ricœur in einem ersten Schritt für eine Entmythologisierung des Mythos (vgl. Kap. 4.1.1.), das Mythische und Heilige in den Symbolen weicht einer Strukturanalyse der Symbole mittels einer modernen Hermeneutik. Die Restitution des Sinns, die am Ende steht, ist auch eine Restitution des Mythischen und Heiligen. Die Hermeneutik der narrativen Identität, auf die es im Folgenden ankommt, bezieht sich ausschließlich auf einen entmythologisierten Mythos, d. h. den Mythos verstanden als Fabelkomposition, d. h. als Struktur der Erzählung. 93 Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 51. Der gemeinsame Nenner, der es Ricœur zufolge ermöglicht, dass die Metapher sowohl im Bereich der Rhetorik als auch in dem der Poetik Anwendung findet, ist die lexis, d. h. die Rede oder die Redeweise. In der Rhetorik steht die lexis für die Art und Weise, auf die sich ein Redner an den Hörer wendet (vgl. ebd., S. 41). Im Gegensatz dazu steht die lexis in der Poetik für die Verskunst und sorgt für die »Veräußerlichung und Entfaltung der inneren Ordnung des Mythos« (ebd., S. 47). Die Poetik rückt die Strukturmerkmale des Mythos ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Den wesentlichen Grundzug des Mythos sieht Ricœur in dessen »Ordnungs-, Struktur-, Dispositionscharakter« (ebd., S. 46), der sich in den Handlungen der in ihm auftretenden Charaktere widerspiegelt. Diese im Mythos angelegte Ordnung, Struktur und Disposition wird durch die lexis zum Ausdruck gebracht, der noch die Metapher zugehört. Vermittelt über die lexis liegt die Metapher so dem Mythos und damit noch der narrativen Funktion zugrunde. 92

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Die Funktion der Metapher

Die Metapher lässt dort Ähnlichkeiten erkennen, wo die Differenzen unüberbrückbar zu sein scheinen: Sie besteht, wie Ricœur sagt, aus einer »Spannung zwischen Identität und Differenz«. 94 Sie löst diese Spannung nicht auf, sondern lässt sie bestehen. Weder stellt die Metapher ausschließlich Identität zweier Sinnbereiche her und lässt den einen in dem anderen aufgehen, noch verweist sie diese ausschließlich auf ihre Differenzen. Mit Blick auf den Wechsel von der Ebene der Rhetorik zur Poetik manifestiert sich die Identität, die die Metapher herstellt, zwar in einem Wort, die Metapher trägt diese Identität jedoch zugleich über die Grenzen des einzelnen Wortes hinaus und verweist sie auf den Kontext, den die Metapher stets einbezieht. 95 In ihrer Funktion Teil und Ganzes, Identität und Differenz bestehen zu lassen und zugleich miteinander zu vermitteln, leistet die Metapher, was die Modellbildung im Bereich der Naturwissenschaften leistet: Sie ist »ein heuristisches Instrument«, das dazu dient, Neues in Zusammenhänge zu überführen; diese Zusammenhänge stiften Übersichtlichkeit und Nachvollziehbarkeit, die Metapher schafft dadurch Anschaulichkeit. Dieses heuristische Instrument verdankt sich der poetischen Imagination und soll, wie Ricœur sagt, »vermittels der Fiktion eine inadäquate Interpretation sprengen und einer neuen, adäquateren den Weg bahnen«. 96 Im Bereich der Wissenschaft bildet die Imagination Modelle, um an diesen neue Relationen auszuprobieren; das Ziel und Anliegen lautet, Zusammenhänge in einem neuen Licht zu sehen. 97 Die Bildung neuer Modelle soll neue, d. h. bisher unbeachtete Bereiche der Wirklichkeit erschließen. Diese »Logik der Entdeckung« ist der Modellbildung und der Metapher gemeinsam: Es wird eine Sprache eingeführt, die neue Zusammenhänge aufdeckt. 98 Die Metapher ist imstande, die Relationen, in denen Identität und Differenz zueinander stehen, zu variieren und dadurch neue Perspektiven auf diese Relationen zu eröffnen: »Die Dinge selbst werden ›gesehen als‹«. 99 Diese Funktion des ›Sehen als‹ hebt Ähnlichkeiten an Dingen hervor, die zuvor einander unähnlich erschienen. Diese Funktion je94 95 96 97 98 99

Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 9. Vgl. ebd., S. 8. Ebd., S. 228. Vgl. ebd., S. 230 f. Ebd., S. 228, 230; vgl. ebd., S. 231. Ebd., S. 232.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

doch übt die Metapher aus, bevor innerhalb der Sprache Begriffe oder Metaphern für die Ähnlichkeiten existieren, auf die sie verweist. Das ›Sehen als‹ steht Ricœur zufolge für »die nichtsprachliche Vermittlung der metaphorischen Aussage«, d. h. für eine vorprädikative Struktur. 100 Über diese nichtsprachliche Vermittlung sucht Ricœur die Nähe zum kantischen Begriff des Schemas bzw. des Schematismus. Durch das ›Sehen als‹ vermag die Metapher etwas vor Augen führen: Sie »›schafft ein Bild‹« und stellt darin »das Abstrakte konkret« dar. 101 Zugleich ist die Metapher stets die Abweichung von einer gegebenen und im Zuge dessen zugleich die Konstitution einer neuen Ordnung, sie ist in ihrer Grundstruktur paradox: »Eben dies nennt ja der Grieche para-doxa, also Abweichung von einer früheren doxa«. 102 Im Prozess der Herstellung einer neuen Ordnung sieht Ricœur die produktive Einbildungskraft am Werk: »Als Schema betrachtet weist das Bild eine sprachliche Dimension auf« und diese sprachliche Dimension des Bildes ist Ricœur zufolge der Ort, an dem die neuen Bedeutungen entstehen. 103 Der Metapher kommt dann eine ganz ähnliche Aufgabe zu, wie dem Schema im Kontext der kantischen Erkenntnistheorie. Sie operiert innerhalb einer gegebenen Ordnung und sorgt im Zuge der Abweichung von dieser zugleich für Regelhaftigkeit – jede Abweichung findet innerhalb einer gegebenen Ordnung statt. Die daraus entstehenden Strukturen gewährleisten Nachvollziehbarkeit und Regelhaftigkeit, was die Anwendung bereits bekannter Begriffe und Metaphern auf die neue Ordnung gestatten. Neues entsteht nicht aus dem Nichts. Die Metapher ermöglicht, dass Neues stets in Zusammenhängen steht, so dass Teil und Ganzes aufeinander bezogen und in den Relationen, in denen sie zueinander stehen, nachvollzogen werden können. Sie lässt die Wirklichkeit dadurch aus einer neuen Perspektive sehen, sie lässt ›sehen als‹ und operiert an diesem Punkt auf einer nichtsprachlichen Ebene. Ebendiese Brücke zur Anschaulichkeit, ohne selbst direkt die Anschauung beizubringen, schlägt im Kontext

100 Ebd., S. 207. Breitling leitet diese vorprädikative Struktur der Metapher bei Ricœur aus der Phänomenologie, insbesondere der Heideggers, ab (vgl. hierzu Breitling: Paul Ricœur und das hermeneutische Als, S. 80–83, 85–88 sowie Anm. 376, S. 403). 101 Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 43. 102 Ebd., S. 35. 103 Ebd., S. 191.

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Die Funktion der Metapher

der kantischen Erkenntnistheorie das Schema der Einbildungskraft. 104 Ricœur spricht deshalb auch vom »Schematismus der metaphorischen Attribution«. Die Metapher operiert auf einer nichtsprachlichen und auf der sprachlichen Ebene zugleich; sie konstituiert neue Strukturen und Zusammenhänge unter den Dingen und ermöglicht dadurch, was Blumenberg als Sprachwerdung bezeichnet: Die Möglichkeit, eine neue Sprache zu finden für Aspekte und Zusammenhänge der Wirklichkeit, für die bisher keine Sprache zur Verfügung stand. Für Ricœur ist die Metapher »der Ort in der Rede, der diesen Schematismus sichtbar macht, weil Identität und Differenz hier nicht verschmolzen sind, sondern im Widerstreit miteinander stehen«. 105 Die Metapher veranschaulicht diesen Widerstreit, insofern sie der produktiven Einbildungskraft entspringt, die Ricœur als »Methode zur Konstruktion von Bildern« 106 bezeichnet: Die produktive Einbildungskraft ist der »Entstehungsort des bildlichen Sinnes im Spiel von Identität und Differenz« und dieses Spiel bringt die Metapher zum Vorschein. 107 Die Metapher führt damit kein Bild vor Augen, sie sorgt nicht unmittelbar für eine Anschauung, sondern sie selbst ist dieses Bild, d. h. eine bestimmte Funktion, um Relationen in Ordnungsgefügen zu koordinieren und Zusammenhänge herzustellen; sie übernimmt dadurch orientierende Funktion, ganz ähnlich wie Blumenberg diese der Metapher zuweist. Die Metapher des Bildes steht bei Ricœur für das ›Sehen als‹, d. h. für die Möglichkeit der Zusammenführung von Teil und Ganzem, Identität und Differenz, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit. Sie lässt diese innerhalb eines Kontextes nebeneinander bestehen. Identität und Differenz zusammenzuführen, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zugleich erkennen zu können, darin besteht für Ricœur »natürlich beim Dichter, aber auch beim Philosophen der Geistesblitz der Metapher, der Poetik und Ontologie vereint«. 108 Diese Ontologie gilt es, im Folgenden näher zu beleuchten, sie kann jedoch erst an dem Punkt entfaltet werden, an dem die Hermeneutik der narrativen Identität und die Poetik Ricœurs gemeinsam das Fun-

104 105 106 107 108

Vgl. hierzu Kap. 3.2. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 191. Ebd., S. 194. Ebd., S. 191. Ebd., S. 36.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

dament für eine Ontologie der Metapher geschaffen haben, auf dem die narrative Identität erwachsen kann. Der Weg hierzu führt zunächst von der Funktion der Metapher zur narrativen Funktion. Den Übergang von der Funktion der Metapher zur narrativen Funktion stiftet die doppelte Referenz der Metapher: Das Wort gewährleistet semantische Identität, die Metapher lässt jedoch nicht zu, dass diese Identität absolut wird. Die Identität wird »durch die Metapher angegriffen« und auf den Kontext verwiesen – ebendies hat bei Blumenberg dazu geführt, dass die metaphorische Bestimmung der Identität unbestimmt bleiben musste. 109 Ricœur geht an diesem Punkt einen Schritt weiter und sucht in der Struktur der Metapher nach einer Möglichkeit, über das bloße Spiel von Identität und Differenz hinauszugehen. Für Ricœur ergibt sich diese Unbestimmtheit der Identität aus der doppelten Referenzfunktion der Metapher: Die aus der Metapher resultierende »Sinnschöpfung« 110 hebt die wörtliche Referenz auf und modifiziert sie; die Metapher wird dadurch zur »Bedingung zur Freisetzung einer Referenz zweitens Grades«. 111 Diese Referenz zweiten Grades sieht sich nicht ausschließlich auf einen wörtlichen Sinn oder die gegebene Wirklichkeit verwiesen, sondern führt Ricœur zufolge auf die Fiktion, sie ist poetisch. Sie führt nicht auf die Wirklichkeit, sondern auf Möglichkeiten. 112 Das »Geheimnis der Metapher als Sinnverschiebung auf der Ebene der Worte [liegt] in der Erhöhung des Sinnes auf der Ebene des mythos«. 113 Die Möglichkeit, neue Zusammenhänge herzustellen, ist ein produktiver Akt, der auf Ebene des Mythos »das Vermögen bestimmter Fiktionen, die Wirklichkeit neu zu beschreiben, freisetzt«. 114 Alle Elemente der Tragödie, so auch der Mythos, unterstehen der Mimesis und dienen der Nachahmung menschlicher Handlungen. 115 Die MiEbd., S. 8; vgl. Kap. 3.6. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 8. 111 Ebd., S. 10. 112 Vgl. Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn, S. 76. 113 Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 52. 114 Ebd., S. 10. 115 Mythos und lexis sind die für Ricœur entscheidenden Elemente der Tragödie (zur lexis vgl. Anm. 93, S. 306). Er verweist jedoch darauf, dass die Tragödie insgesamt sechs Bestandteile enthält, die in der Mimesis als Nachahmung der Handlung zusammenkommen: »Mythos, Charakter (ēthē), Rede (lexis), Absicht (dianoia), Szenerie (opsis) und Musik (melipoia)« (Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 45; vgl. auch Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 58). 109 110

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Die Funktion der Metapher

mesis sieht sich einerseits auf die Wirklichkeit verwiesen, in der sie die Handlungen vorfindet, die es nachzuahmen und in die Erzählung zur überführen gilt, andererseits eröffnet sie abseits der Wirklichkeit ein Reich der Dichtung und Fiktion. Die Mimesis steht in einer »Spannung zwischen Unterwerfung unter das Wirkliche – menschlicher Handlung – und schöpferischer Arbeit, der Dichtung selbst«. Der der Mimesis ursprüngliche Bezug auf die Wirklichkeit ist von ihrer poetischen und d. h. schöpferischen Dimension nicht zu trennen. Mythos und Mimesis dienen nicht lediglich der Wiedergabe menschlicher Handlungen, wie sie in der Wirklichkeit anzutreffen sind, sondern deren »Neuordnung«. Sie sind darauf aus, die Handlungen »in einer geschlossenen Form« und zugleich in einer »erhöhende[n] Gestaltung« dazustellen. Der Mythos sorgt für die geschlossene Form. Er setzt einen Anfang und ein Ende und bettet in diesen Zusammenhang die Handlungen ein, die die Mimesis ihm zuträgt. Die Handlungen stehen dadurch stets in Bezug zu dem Anfang und dem Ende der Erzählung insgesamt. Die Erzählung bildet stets ein Ganzes. Die Mimesis ist die »Wiedergabe des Menschlichen nicht nur seinem Wesen nach, sondern auch in vergrößernder, veredelnder Form«. 116 Sie ist imstande, bestimmte Aspekte der Handlungen zu isolieren und deutlicher herauszuheben und dadurch Charaktere schlechter oder besser erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit sind. Die Mimesis ist damit keine bloße Kopie der Wirklichkeit. 117 Die Möglichkeit zur Neuordnung und erhöhenden Gestaltung von Handlungen, die zugleich auf einen Gesamtzusammenhang in Form einer Erzählung bezogen werden können, verdanken Mythos und Mimesis der Funktion der Metapher – nicht zuletzt ist das Metaphorische im Kontext der aristotelischen Poetik ein Merkmal des Mythos selbst, wie Ricœur deutlich macht. 118 In ihrer poetischen Funktion eröffnet die Metapher die Möglichkeit, »einen weniger bekannten Bereich – das Menschliche – durch die Beziehungen eines fiktiven, doch besser bekannten Bereichs – der tragischen Fabel – zu beschreiben und dabei alle Möglichkeiten ›systematischer Entfaltbarkeit‹ zu benutzen, die in dieser Fabel enthalten

116 117 118

Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 50. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 235.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

sind«. 119 Das Menschliche, das mittels einer Erzählung besser in den Blick rückt, wird über die Nachahmung von Handlungen vor Augen geführt, über die Mimesis, die die Handlungen in vergrößernder Form darstellt. Die Mimesis entspricht dann, so Ricœur in Anschluss an Mary B. Hesse, der metaphorischen Referenz: Sie bildet menschliche Handlungen ab und dient zugleich ihrer Neubeschreibung. 120 Über den eigentlichen Sinn legt sie einen zweiten Sinn. Die Mimesis ist die metaphorische Referenz, die von der Wirklichkeit abzweckt und auf die Erzählung, den Mythos angewendet wird. Die Dinge vor Augen führen und in actu zeigen, bedeutet dann »die Dinge als Handlungen zu sehen«. 121 Über den Mythos, verstanden als Element der Fabel, das dem Aufbau der Handlungen dient, 122 eröffnet die metaphorische Referenz einen Raum der Fiktion. Dieser zweckt stets von der Wirklichkeit ab und bleibt auch auf diese verwiesen. In diesem Raum des Fiktiven kann der Mensch das Menschliche besser in den Blick nehmen, da die Mimesis charakteristische menschliche Züge typologisch heraushebt. Die Mimesis ist für Ricœur der Begriff für die metaphorische Referenz im Kontext seiner Narrativitätstheorie. In Zeit und Erzählung entwickelt Ricœur den Begriff der Mimesis differenziert weiter; wenngleich die Funktion der Metapher als strukturelles Grundgerüst der Mimesis erhalten bleibt, geht die Mimesis doch über die Eigenschaften der metaphorischen Referenz hinaus, wie diese anhand der Lebendigen Metapher herausgearbeitet wurden. Die Erweiterung des Begriffs der Mimesis in Zeit und Erzählung wirkt zugleich zurück auf den Begriff der Metapher. Im Folgenden gilt es aufzuzeigen, inwieweit die Narrativitätstheorie Ricœurs die Metapher um eine ontologische Dimension erweitert. Zugleich sind die Grenzen der Funktion der Metapher darzustellen. 123 Die Metapher bildet zwar die Ebd. Vgl. ebd., S. 235 sowie Mary B. Hesse: The explanatory function of Metaphor [1966], in: dies.: Revolutions and reconstructions in the philosophy of science (Harvester Studies in philosophy, Bd. 17). Harvester Press: Brighton 1980, S. 111–124. 121 Ricœur: Die Struktur, das Wort und das Ereignis, S. 294. 122 Vgl. ebd., S. 45 f. 123 In den letzten beiden Kapiteln der Lebendigen Metapher entwickelt Ricœur eine Ontologie der Metapher, die, wenngleich sie über Texte und Werke vermittelt bleibt, in Anlehnung an Heidegger durchaus in eine existenziale Ontologie der Gestimmtheit übergeht und damit sehr viel deutlicher aufseiten einer hermeneutischen Phänomenologie agiert, als die vorliegende Darstellung nahelegen mag (vgl. Anm. 376, S. 403). Diese Art Ontologie der Metapher bleibt auch im Folgenden nicht auf der 119 120

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Die narrative Funktion

Grundlage für die narrative Funktion, die Konstitution der narrativen Identität bleibt ihr jedoch nicht alleine überlassen. Diese entspringt erst dem Zusammenspiel aus Metapher und narrativer Funktion.

4.3. Die narrative Funktion Mit Zeit und Erzählung schließt Ricœur an Die Lebendige Metapher an und nimmt die dort gewonnenen Erkenntnisse zum Ausgangspunkt seiner Theorie der Narrativität. Die narrative Funktion, die produktive Einbildungskraft und die Referenzfunktion der Metapher bilden die wesentlichen Aspekte, auf denen Ricœurs Theorie der Narrativität aufbaut. Hinzu kommen die für die Erzählung spezifischen Merkmale, allen voran die Mimesis als Nachahmung menschlicher Handlungen. Der Begriff der Fabel bzw. der Fabelkomposition (mise en intrigue) – mit dem Ricœur den aristotelischen Begriff des Mythos für sich übersetzt – bildet den Rahmen seiner Narrativitätstheorie. Zusätzlich zum Mythos bildet die Mimesis das wichtigste Element dieser Narrativitätstheorie. 124 Für Ricœur gehören Mythos und Mimesis, die Zusammensetzung der Handlung zum Ganzen einer Erzählung und die Nachahmung der Handlungen, untrennbar zusammen. Nur in ihrem wechselseitigen Bezug aufeinander lassen sie sich definieren, wie Ricœur sagt. 125 Die mimetische Tätigkeit ist nicht leStrecke, wird jedoch über Ricœurs Proust-Lektüre in Zeit und Erzählung entwickelt (vgl. Kap. 4.4.2. sowie 4.5.1.) und dringt dadurch nicht in dem Maße in die Phänomenologie ein, wie Ricœur dies in der Lebendigen Metapher selbst intendiert. Die Ontologie der Metapher, auf die es im Folgenden ankommt, sieht sich maßgeblich auf Ricœurs Begriff der Spur verwiesen (vgl. Kap. 4.5.1.). 124 Ricœur bespricht im Zuge der aristotelischen Poetik fast ausschließlich die Strukturen und Merkmale der Tragödie, die ihm als Vorlage für seine Narrativitätstheorie dienen. Um die Übertragung des aristotelischen Begriffs des Mythos, den Aristoteles selbst für die Tragödie reserviert, auf andere literarische Gattungen zu übertragen und letztlich als Erzählung auszuweisen, diskutiert Ricœur mögliche Vorbehalte gegenüber dieser Übertragung am Ende des zweiten Bandes von Zeit und Erzählung (vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 2: Zeit und literarische Erzählung [1984] (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, Bd. 18/II), übers. von Rainer Rochlitz. Wilhelm Fink: München 1989, S. 260–264). 125 Im Französischen Original heißt es »de définir l’une par l’autre« (Paul Ricœur: Temps et Récit, Bd. 1. Éditions du Seuil: Paris 1983, S. 59), d. h. Nachahmung und Handlungsaufbau definieren sich wechselseitig (vgl. hierzu auch Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 59, 64 f.).

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Paul Ricœur: Narrative Identität

diglich abbildend, sondern zugleich schaffend, nicht nur passiv, sondern aktiv und produktiv. Die Mimesis ist zugleich mimēsis praxeōs und darin eine produktive Kraft, die einem Prinzip folgt: »dem Prinzip der Zusammensetzung der Handlungen (zum System)«. 126 Was Ricœur an dieser Stelle System nennt, steht für den aristotelischen Begriff des Mythos und dieser, so Ricœur, steht für das, was wir Fabel bzw. Fabelkomposition oder auch Erzählung nennen. Im Hintergrund wirkt das produktive Vermögen der schöpferischen Einbildungskraft, das dazu dient, die Handlungen in einer Erzählung, d. h. zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzuführen; auf das Vermögen der produktiven Einbildungskraft wird im Folgenden zurückzukommen sein. Entscheidend ist zunächst der Begriff der Mimesis. Dieser steht für Ricœur in einem engen Bezug zu zwei Aspekten der Erzählung, die bereits mit Blick auf die Funktion der Metapher zur Sprache gekommen sind: die Orientierung auf das Ganze und die Typisierung. Wenngleich das Ganze mehr als nur die Summe seiner Teile ist, setzt sich das Ganze der Erzählung zunächst strukturell aus Anfang, Mitte und Ende zusammen; was den Anfang ausmacht, ist »nicht, daß ihm nichts vorhergeht, […] sondern das Fehlen einer Notwendigkeit

126 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 60. Wie Ricœur stets betont, bildet die Mimesis die Wirklichkeit nicht lediglich ab und kopiert sie, sondern sie ist selbst produktiv und bildet mit der Erzeugung einer historischen Darstellung oder der Fiktion eine eigene narrative Wirklichkeit, die dem praktischen Verhalten des Menschen als Beispiel und Vorbild dienen kann. Ricœur spricht deshalb auch davon, dass die Mimesis stets mimēsis praxeōs ist, d. h. sie ist produktiv und wirkt praktisch. Der Begriff der mimēsis praxeōs verweist darüber hinaus auf den Bereich der Ethik, weshalb der Begriff der mimēsis praxeōs in der vorliegenden Untersuchung im Folgenden ausgespart wird. Bereits im Kontext der aristotelischen Poetik, so Ricœur, ist der Begriff der mimēsis praxeōs auf den Bereich der Ethik orientiert, insofern der tragische Mythos als »Kontrastpunkt« zur Ethik auftritt: Die Ethik »lehrt, wie das Handeln durch die Ausbildung der Tugenden zum Glück führt«, der tragische Mythos hingegen führt »Schicksalswendungen«, d. h. ausschließlich Wendungen »vom Glück ins Unglück« (Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 78) vor Augen. Da der Dichter den tragischen Mythos seiner theoretischen Anlage nach im Ausgang von der Ethik entwickelt, weist noch die von Ricœur sogenannte Ebene der Mimesis I, wie sie im Folgenden dargestellt wird, durchaus ethische Implikationen auf (vgl. ebd., S. 79 f.; zur mimēsis praxeōs bei Ricœur vgl. Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, S. 290–298). Ricœurs Vorhaben, die aristotelische Poetik der Tragödie aus ihren Gattungsgrenzen zu lösen, um die narrativen Strukturen der Erzählung im Allgemeinen in den Blick zu nehmen, lässt in Zeit und Erzählung auch die Orientierung auf die Ethik in den Hintergrund rücken.

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Die narrative Funktion

in der Abfolge«. Der Anfang einer Erzählung wird gesetzt, er ist kontingent und voraussetzungslos. Das Ende ergibt sich stets aus den Handlungen. Die Ereignisse und Handlungen zwischen Anfang und Ende verbinden Anfang und Ende miteinander. Die gesamte Erzählung wird durch die zwischen Anfang und Ende liegenden Ereignisse und Handlungen strukturiert und lässt einen mindestens wahrscheinlichen, wenn nicht gar notwendigen Ablauf und Gesamtzusammenhang erkennen: Das Ganze der Erzählung untersteht einem Konsistenz- und Kohärenzprinzip, das durch das »Nichtzufällige[]« und die »Übereinstimmung mit den Forderungen der Notwendigkeit oder der Wahrscheinlichkeit« charakterisiert ist, »denen die Abfolge zu entsprechen hat«. Dieses Konsistenz- und Kohärenzprinzip ist ein Merkmal der Erzählung selbst. Ricœur betont an dieser Stelle, dass die Übereinstimmung im logischen Aufbau des Ganzen einer Erzählung gerade nicht aus der empirischen Erfahrung des Menschen hervorgeht, da die empirische Erfahrung stets an einzelne Ereignisse gebunden bleibt: »[E]s handelt sich nicht um Züge der tatsächlichen Handlung«, die in der Erzählung auf ein Ganzes bezogen werden, »sondern um Wirkungen, die aus dem Aufbau des Gedichtes hervorgehen«. 127 Aus diesem Grund spricht Ricœur auch von einem narrativen Schematismus, der im Folgenden noch näher zu betrachten sein wird: Die Strukturen der Narrativität sind nicht lediglich Abbildungen empirischer Handlungen, im Gegenteil. Vielmehr eröffnet die Narrativität eine eigene Welt, in der die Handlungen nicht den tatsächlichen Handlungen entsprechen und dadurch imstande sind, ein Modell für wirkliche Handlungen abzugeben. Diesen Modellcharakter nehmen die Handlungen innerhalb der Erzählung erstens dadurch an, dass sie auf ein Ganzes der Erzählung bezogen werden und die Erzählung diese Handlungen dadurch orientiert und strukturiert; im Zuge der Wechselwirkung zwischen dem Ganzen der Erzählung und den einzelnen Handlungen unterwirft der Bezug auf das Ganze das Dargestellte zweitens einem Verfahren der Typisierung. Die Mimesis als Nachahmung menschlicher Handlungen ist zugleich »Wiedergabe des Menschlichen« – und dies, wie bereits dargestellt, »in vergrößernder, veredelnder Form«. 128 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 66 f. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 50. Personen in einer Erzählung besser oder schlechter darzustellen, als sie in Wirklichkeit sind, ist Typisierung. Der Leser findet 127 128

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Paul Ricœur: Narrative Identität

Dieses Verfahren der Typisierung bezieht sich erstens auf die Möglichkeit, das typisch Menschliche nachahmend darzustellen, zweitens auf die wechselseitige Bedingtheit von Teil und Ganzem. Dieses Verfahren schwankt »zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen und zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen«. Die Erzählung bzw. die Fabel sieht von den konkreten empirischen Details ab und hebt allgemeine und spezifische Aspekte hervor. Sie berichtet deshalb viel eher von dem, was möglich ist, als von dem, was sich wirklich zugetragen hat, und stellt dieses Mögliche als Allgemeines und Typisches dar. Je allgemeiner das Thema der Erzählung, desto mehr Leser werden sich mit dem dargestellten Allgemeinen identifizieren und auf sich bzw. ihre individuelle empirische Lebenswelt beziehen können. Anteil daran besitzt auch die Mimesis, die charakteristische, typische Merkmale des Menschlichen über Handlungen in der Fiktion, d. h. in einem Raum des Möglichen darstellt. Das Mögliche und Allgemeine ist Ricœur zufolge deshalb »nirgendwoanders als in der Zusammensetzung der Handlungen zu suchen, da eben diese Verkettung notwendig oder wahrscheinlich sein muß. Kurz, was typisch sein muß, ist die Fabel.« 129 Die Mimesis bricht zunächst mit der Wirklichkeit; Ricœur beschreibt dies im Kontext des dreifachen mimetischen Zirkels unter dem Stichwort der Mimesis II. Diese kopiert die Wirklichkeit nicht einfach, d. h. sie bildet Ereignisse und Handlungen der Erfahrungswelt nicht lediglich ab, sondern sie ahmt diese nach, d. h. sie unterwirft diese im Zuge der Nachahmung ihrer eigenen Logik, die am Allgemeinen und Typischen orientiert ist. Der Bruch, den die Mimesis mit der Wirklichkeit herbeiführt, ist der »Bruch, der den Fiktionsraum eröffnet«. »Der Wortkünstler erzeugt keine Dinge, nur QuasiDinge; er erfindet ein Als ob.« 130 Dieser Bruch eröffnet ein Reich eigenen Rechts, ein Reich »Als ob«. In Analogie zur phänomenologiin einer Erzählung menschliche Charakter- und Handlungsvollzüge auf Wesenszüge reduziert. Dies gewährleistet eine Komplexitätsreduktion, die es ermöglicht, die einzelnen Handlungen und das Ganze der Erzählung aufeinander abzustimmen. 129 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 69 f. 130 Ebd., Bd. 1, S. 77. Dieser Bruch mit der Wirklichkeit führt nicht zwangsläufig auf die narrative Fiktion, insofern Ricœur narrativen Fiktionen gleichberechtigt historische Darstellungen an die Seite stellt, die ebenfalls aus einem Bruch mit der Wirklichkeit, die sie darzustellen suchen, hervorgehen (vgl. Kap. 4.4.1.). Zur Bedeutung des Als bzw. in Anlehnung an Heidegger des hermeneutischen Als im Werk Ricœurs vgl. Breitling: Paul Ricœur und das hermeneutische Als; Breitling: Möglichkeitsdichtung und Wirklichkeitssinn, S. 158–163, 287 f.

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Die narrative Funktion

schen Reduktion der husserlschen Phänomenologie wird auf Ebene der Mimesis II der Bezug zur Wirklichkeit suspendiert, so dass eine Erzählung konfiguriert werden kann, ohne durch die Wirklichkeit determiniert zu sein. Nichtsdestotrotz gilt, dass die Strukturen der Wirklichkeit auf Ebene der Mimesis II implizit bleiben. Der trennenden Funktion der Mimesis, die den Bruch mit der Wirklichkeit herbeiführt, möchte Ricœur eine verbindende Funktion an die Seite stellen: Die Mimesis erzeugt einen synthetischen Gesamtzusammenhang und dadurch zugleich Kohärenz. Diese Kohärenz ist das Resultat des typisierenden und verallgemeinernden Verfahrens der Erzählung. In diesem Prozess in Orientierung auf das Mögliche und Allgemeine wird, was kontingent und in der Wirklichkeit allzu heterogen und unverbunden erscheint, in den Gesamtzusammenhang der Erzählung eingebunden. Im Zuge der Zusammensetzung der Handlungen stellt die Erzählung Kohärenz her, die sich auf die gesamte Struktur der Erzählung bezieht: »Sache der Nachahmung oder der Darstellung ist die logische Forderung der Kohärenz.« 131 Die Erzeugung von Kohärenz ist Kontingenzbewältigung. An diesem Punkt zeichnet sich bereits ab, dass Ricœurs Narrativitätstheorie eine mögliche Antwort auf die Frage bietet, wie mit der Kontingenz umzugehen sein kann, die, wie Blumenberg deutlich macht, einmal aus den metaphysischen Rückhalten des mittelalterlichen Ordo entlassen, auf dem Boden der Moderne nur mehr die Bedeutung bloßer Zufälligkeit angenommen hat. Die Kontingenz wird im Bereich der Fiktion aufgefangen und in Wahrscheinlichkeit, wenn nicht gar Notwendigkeit überführt. 132 Die Erzeugung einer Fiktion verweist erstens bereits auf die Konfiguration, die Mimesis II. Die Mimesis II entwirft eine Erzählung, die als Vorlage für mögliche Handlungsweisen in der eigenen Wirklichkeit betrachtet werden kann. Sie verweist damit zweitens bereits auf die Refigurationstätigkeit, die Mimesis III. Wird der Referenzbezug zur Wirklichkeit auf Ebene der Mimesis II suspendiert, so wird diese Referenz mit dem Übergang zur Mimesis III wiederhergestellt. Die Mimesis III stellt in Anschluss an die Mimesis II die Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 79. Vgl. Paul Ricœur: Narrative Identität [1987], in: ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übers. und hrsg. von Peter Welsen. Felix Meiner: Hamburg 2005, S. 209–225, hier S. 213. 131 132

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Möglichkeit bereit, die in der Fiktion entworfenen möglichen Welten auf die eigene Wirklichkeit zu beziehen. Sowohl auf die Mimesis II als auch auf die Mimesis III wird im Folgenden näher einzugehen sein, beide jedoch sehen sich auf ein Vorverständnis verwiesen: die Mimesis I, die zunächst in den Blick zu nehmen sein wird. Sie bildet die Ebene des kulturellen Vorverständnisses; die Möglichkeiten, in der narrativen Fiktion neue Welten sowie innerhalb dieser mögliche Handlungen und Zeiterfahrungen zu entwerfen, bleibt stets an ein kulturelles Vorverständnis gebunden. Dieses verhindert, dass die Narrativitätstheorie Ricœurs in die bloße Virtualität und Fiktionalität abrutscht. Unabhängig von dem Bruch, den sie mit der Wirklichkeit herbeiführt, wird dieser Bruch doch nie absolut, insofern das kulturelle Vorverständnis die Strukturen und Regeln bereitstellt, die noch die Konfiguration einer Erzählung bestimmen und leiten. Die narrative Funktion ergibt sich in der Darstellung Ricœurs aus dieser Neubestimmung der aristotelischen Mimesis-Lehre, die das theoretische Grundgerüst bildet, das der zeitlichen Erfahrung zwischen Erinnerung und Erwartung begegnen können soll. Bestimmt Blumenberg Erinnerung und Erwartung als die beiden Erlebnisformen der Identität, so nimmt Ricœur diese beiden Erlebnisformen in Zeit und Erzählung zum Ausgangspunkt seiner Theorie der narrativen Identität. 133 Bezieht man Erinnerung und Erwartung aufeinander, dann bilden diese Ricœur zufolge ein Paradox zeitlicher Erfahrung, das sich nicht auflösen lässt; dieses Paradox bestimmt Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität im Kern. Wird an diesem Punkt die weitere Auseinandersetzung mit Ricœur gesucht, so auch deshalb, weil Blumenberg hier auf eine phänomenologische Anthropologie bzw. genetische Phänomenologie ausweicht. 134 Ricœur nimmt diese beiden Erlebnisformen zwar zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung. Durch die narrative Transformation dieser Erlebnisformen wird es jedoch möglich, sie im Kontext einer Hermeneutik unter den Koselleck entlehnten Begriffen des Erfahrungsraums und des Erwartungshorizonts weiter zu verfolgen, ohne in eine Anthropologie oder Phänomenologie überzugehen. In einem ersten Schritt gilt es, das Paradox der zeitlichen Erfahrung darzustellen (Kap. 4.3.1.). Insofern die Narrativität eine AntVgl. Kap. 3.6. Vgl. hierzu maßgeblich Zambon: Das Nachleuchten der Sterne, hier insbes. S. 161–266. 133 134

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Die narrative Funktion

wort auf dieses Paradox der Zeitlichkeit bieten soll, bedarf es Ricœur zufolge einer Neubestimmung der Mimesis-Lehre. In einem zweiten Schritt ist der Bereich der Mimesis I als ein Bereich der Präfigurationen näher in den Blick zu nehmen (Kap. 4.3.2.), der die Mimesis II, die Ebene der narrativen Kompositions- bzw. Konfigurationstätigkeit, zumindest implizit an die Wirklichkeit bindet. Im Anschluss daran ist zunächst die Mimesis II (Kap. 4.3.3.), die Konfiguration darzustellen. In einem Zwischenschritt von der Mimesis II zur Mimesis III sind die produktive Einbildungskraft und die narrative Funktion zu beleuchten (Kap. 4.3.4.); beide zusammengenommen ermöglichen die Ausbildung der narrativen Identität. Erst auf Ebene der Mimesis III (Kap. 4.3.5.) erfolgt mit der Refiguration die Ausbildung der narrativen Identität, d. h. die Aneignung der zuvor narrativ entworfenen Welt. An diesem Punkt wird Ricœurs Hermeneutik zu einer Aneignungshermeneutik: Der Leser kann sich auf die Welt hin entwerfen, die ein Text entfaltet und darüber neue Möglichkeiten seiner eigenen Existenz erkunden. Die Konfigurationstätigkeit der Mimesis II bildet das Zentrum des mimetischen Zirkels, die Mimesis I das Vorher, die Mimesis III das Nachher dieser Konfigurationstätigkeit. Die Konfiguration bleibt an die Präfiguration gebunden, und dadurch, vermittelt über die Mimesis II, auch die Refiguration. Auf Ebene der Refiguration zeigt sich die Erweiterung der Funktion der Metapher um eine ontologische Dimension. Diese bietet die Grundlage dafür, dass wir als Leser und Rezipienten imstande sind, eine narrative Identität auszubilden. Prä-, Kon- und Refiguration müssen zusammengedacht werden, sie bilden innerhalb der Narrativitätstheorie eine zirkuläre Struktur und sehen sich aufeinander verwiesen. Erst »durch die Verbindung der drei Stufen der mimēsis« kommt die »Vermittlung zwischen Zeit und Erzählung« zustande, der Vermittlung zwischen der Funktion der Metapher und der narrativen Funktion entspringt die narrative Identität. 135 Das Paradox zeitlicher Erfahrung, die narrative Funktion und die dreifache Mimesis-Lehre bilden zusammengenommen den Ausgangspunkt von Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität.

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Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 114.

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4.3.1. Die Dissonanz der Zeiterfahrung und die Konsonanz der Erzählung Zeit und Erzählung nimmt mit Ricœurs Interpretation der augustinischen Analyse der Zeiterfahrung ihren Ausgang. Die Zeiterfahrung hebt Ricœur zufolge grundlegend von zwei Paradoxen der zeitlichen Erfahrung ab, auf die Augustinus in den Bekenntnissen stößt. 136 Das erste Paradox ergibt sich aus der Frage nach dem ontologischen Status der Zeit. In der Darstellung Ricœurs ist Augustinus durchaus skeptisch, auf die Frage, was Zeit ist, überhaupt antworten zu können: »[D]ie Zeit hat kein Sein, da die Zukunft noch nicht, die Vergangenheit nicht mehr ist und die Gegenwart keine Dauer hat. Und doch sprechen wir von der Zeit, als hätte sie Sein: wir sagen von den künftigen Dingen, daß sie sein werden, von den vergangenen, daß sie waren, und von den gegenwärtigen, daß sie vergehen. Selbst vergehen ist nicht nichts«. 137 Der gewöhnliche Sprachgebrauch setzt zwar ein Sein der Zeit voraus, da wir auf sinnvolle Art und Weise von der Zeit sprechen, doch auf die Frage, was die Zeit ist, können wir nicht sinnvoll antworten. Wie Ricœur deutlich macht, gerät der gewöhnliche Sprachgebrauch an dieser Stelle in Widerspruch mit sich selbst, doch lassen sich den drei Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft drei positive ontologische Attribute zuweisen: ›war‹, ›ist‹ und ›wird sein‹. Werden diese positiven Attribute als Verben gefasst – ›vergangensein‹, ›sein‹ und ›eintreten‹ – dann lassen sie sich mit drei negativen ontologischen Attributen kontrastieren, mit den Adverbien ›nicht mehr‹, ›nicht immer‹ und ›noch nicht‹. 138 Die Frage, was die Zeit ist, bleibt zwischen diesen Zuschreibungen gefangen und muss unbeantwortet bleiben. Dieses von Ricœur sogenannte ontologische Paradox lässt sich nicht auflösen, im Gegenteil, es führt auf ein weiteres Paradox: »[W]ie kann die Zeit sein, wenn die Vergangenheit nicht mehr, die Zukunft noch nicht und die Gegenwart nicht immer ist?« Die Zeit ist und ist zugleich nicht; sie ist flüchtig und vergeht und ist doch Ricœur bezieht sich das 11. Buch der Bekenntnisse Augustinus’ (vgl. Augustinus: Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch-deutsch, übers. von Wilhelm Timme. Artemis & Winkler: Düsseldorf, Zürich 2004, S. 529–589) und damit Bläser zufolge auf den »Gründungstext der modernen Zeitphilosophie« (Bläser: Erzählte Zeit – erzähltes Selbst, S. 3). 137 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 18. 138 Vgl. ebd., S. 18 f. 136

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Die narrative Funktion

Gegenwart, bevor sie zugleich vergeht und naht. Wie also soll sich die Zeit messen lassen, wenn sie einen solch fragwürdigen ontologischen Status aufweist: »Wie läßt sich messen, was nicht ist?« An diesem Punkt führt der gewöhnliche Sprachgebrauch nur scheinbar eine Lösung herbei, indem dieser sucht, die »Tatsache der Messung zu bezeugen« – »wir nennen eine Zeit lang oder kurz und beobachten in gewisser Weise die Dauer und nehmen Messung vor«. Die Frage jedoch, wie die Zeit sich messen lässt, bleibt gleichermaßen unbeantwortet, auch »das Wie entgleitet«. 139 Da die Konzentration auf die Vergangenheit und die Zukunft keine Auflösung des Paradoxes herbeiführen kann, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart, die eine Lösung bieten können soll. Da die Frage nach dem Wie nicht beantwortet werden kann, stellt sich für Augustinus in der Darstellung Ricœurs die Frage nach dem Wo: Wenn sich schon nicht bestimmen lässt, wie sich die Zeit messen lässt, dann gilt es, »einen Ort für die künftigen und die vergangenen Dinge zu suchen« und dies »soweit sie erzählt oder vorhergesagt werden«. Ricœur zufolge erkennt Augustinus, dass wir nicht der Zeit als solcher ein Sein zusprechen, weder in der Vergangenheit, noch in der Gegenwart oder in der Zukunft. Vielmehr sind Vergangenheit und Zukunft »Zeitqualitäten, die in der Gegenwart existieren können, ohne daß die Dinge, von denen wir sprechen, wenn wir sie erzählen oder vorhersagen, noch oder schon existieren«. Als Qualitäten sind sie qualitative Erstreckungen, zeitliche Ausdehnungen der Gegenwart, Augustinus weist ihnen »ihren Ort ›in‹ der Seele zu«. 140 Sie stellen kein objektives Sein der Zeit dar und sind quantitativ demnach nicht messbar. Für Ricœur ist entscheidend, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Qualitäten ihren Sitz in der Seele haben, was bedeutet, dass nicht die vergangenen Dinge erinnert oder die zukünftigen in ihrem zeitlichen Sein antizipiert werden, sondern vielmehr, dass die Bilder von diesen Dingen auf die Vergangenheit und die Zukunft bezogen werden. Diese Bilder hinterlassen »Abdrücke[] in der Erinnerung« und bringen »Vorzeichen in der Erwartung« hervor. 141 Ereignisse hinterlassen Abdrücke und Bilder in der Seele, die erinnert werden; im Fall der Vorhersage stimulieren sie die Erwartung. Sie 139 140 141

Ebd., S. 19. Ebd., S. 22 f. Ebd., S. 34.

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fungieren als Zeichen und Ursache des Zukünftigen, sie erzeugen ein Vorgefühl: Die Erwartung ist analog zur Erinnerung zu betrachten und damit, so Ricœurs Analyse, sind die Zeitqualitäten Vergangenheit und Zukunft implizit in der Erzählung der Vergangenheit und der Vorhersage der Zukunft enthalten: »Die Erzählung setzt folglich Erinnerung, die Vorhersage Erwartung voraus.« 142 In der Darstellung Ricœurs heftet Augustinus die Vergangenheit an die Erinnerung, die Zukunft an die Erwartung und entwickelt dieses Verhältnis zu einer Dialektik von Erinnerung und Erwartung weiter, die sich in der Gegenwart vollzieht: Erinnerung und Erwartung treten dann als Modalitäten der Gegenwart auf. 143 Diese dialektische Auffassung der Gegenwart kulminiert in dem unaufhebbaren Gegensatz von zwei Wesenszügen, die Augustinus der menschlichen Seele zuschreibt: in dem Gegensatz von intentio und distentio animi. Die intentio steht für die Aufmerksamkeit der Seele in der Gegenwart. Die Gegenwart »ist kein Punkt, ja nicht einmal ein Durchgangspunkt, sondern eine ›gegenwärtige Anspannung‹«, jeder Durchgang durch die Gegenwart »ein aktives Durchgehen«, das die Seele aufmerken lässt. 144 Die Aufmerksamkeit ist die Gespanntheit der Seele auf Vergangenheit und Zukunft hin, so dass diese »Theorie der dreifachen Gegenwart« die drei zeitlichen Orientierungsfelder nicht miteinander harmonisiert, sondern in der Spannung zueinander bestehen lässt. Deutlich tritt dies mit dem Begriff der distentio animi hervor, den Ricœur ins Zentrum seiner Analysen rückt. Erinnerung, Erwartung und Aufmerksamkeit stehen in Wechselwirkung zueinander und bringen die zeitliche Ausdehnung, die distentio, hervor. Die Gespanntheit der Seele äußert sich in der Gegenwart als Aufmerksamkeit auf Erinnertes und Erwartetes; Erinnerung, Erwartung und Aufmerksamkeit sind eine Tätigkeit der Seele, in der sie Künftiges in Vergangenes überführt. In der Einigkeit ihrer Tätigkeit bringt die Seele die distentio hervor und diese ist »nichts anderes als der Riß, das Nichtzusammenfallen der drei Modalitäten der Tätigkeit«. 145 Die Aufmerksamkeit der Seele »zerspannt« sich (se distend), »indem [sie] sich anspannt« (se tend). Im Zuge der »Zurückführung der Ausdehnung (extension) der Zeit auf die Zerspannung 142 143 144 145

Ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 20, 24. Ebd., S. 35. Ebd., S. 37.

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(distension) der Seele« löst Augustinus diese Spannung Ricœur zufolge nicht auf; vielmehr verknüpft er die Zerrissenheit der Seele mit dem Riss, der sich »in die dreifache Gegenwart einschleicht: als Riß zwischen der Gegenwart der Zukunft, der Gegenwart der Vergangenheit und der Gegenwart der Gegenwart«. 146 Die distentio animi ist die Zerrissenheit der Seele. 147 Zwischen Erinnerung und Erwartung bleibt die Seele zerspannt, wie Ricœur sagt, sie kommt in der Gegenwart nicht zur Ruhe. Die Dissonanz lässt sich nicht auflösen, sie ist die Ausdehnung der Seele selbst. Über die Verbindung der Zerrissenheit der Seele mit den drei Dimensionen der Zeitlichkeit lässt sich das Rätsel der Dissonanz, das wir selbst sind, zwar nicht lösen, doch zumindest zu einem Verständnis bringen, was zugleich Aufklärung über uns selbst versprechen soll. 148 Für Ricœur überwiegt in Augustinus’ Analyse der Zeitlichkeit das Moment der Dissonanz zwischen Erinnerung und Erwartung, dem wir uns im Zuge der Analyse nähern und uns darin verstehen lernen. Um der Dissonanz begegnen zu können, die Augustinus in den Vordergrund rückt, bedarf es für Ricœur eines ausgleichenden Faktors und ebendiesen sieht er bei Aristoteles als Poetik realisiert. Die von Aristoteles ausgearbeitete Fabelkomposition (mise en intrigue) des tragischen Gedichts bildet für Ricœur das Komplement zur Dissonanz der Zeiterfahrung der Zerrissenheit der Seele bei Augustinus. »Augustinus seufzt infolge des existentiellen Zwanges der Dissonanz«, Aristoteles hingegen ist die Konfiguration einer Fabelkomposition gleichbedeutend mit einem »Triumph der Konsonanz über die Dissonanz«. 149 Die Konsonanz steht nicht wie die Kohärenz für den strukturellen Aufbau der Erzählung, die sich aus Anfang, Mitte und Ende zusammensetzt, sondern für die Möglichkeit zur Konfiguration der empirischen Zeiterfahrung. Die empirische Zeiterfahrung nimmt sich höchst ambivalent und dissonant aus, wie Ricœur anhand von Augustinus’ Zeitanalysen herausarbeitet. Die Tätigkeit der Konfiguration soll diese in Konsonanz überführen können. Dass die Zeit bei Augustinus ihren Sitz in der Seele hat, bedeutet für Ricœur, dass wir sie, mit Blick auf bereits Geschehenes, erzählen oder, mit Blick auf das, was wir erwarten, vorhersagen. Mit diesem 146 147 148 149

Ebd., S. 39. Vgl. ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 31. Ebd., S. 54.

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Argument sieht Ricœur die Möglichkeit gegeben, Augustinus’ Analysen der Zeit und Aristoteles’ Poetik aufeinander zu beziehen. Die Dissonanz kann, so die Hauptthese Ricœurs, poetisch modifiziert und in Konsonanz überführt werden. Bis zuletzt lautet Ricœurs Anliegen nicht, die Spannung der paradoxen Zeiterfahrung aufzulösen, vielmehr sucht er dieser in Form der aristotelischen Poetik zu begegnen und ihr mit dieser eine Gesprächspartnerin an die Seite zu stellen. Die aristotelische Poetik soll eine Antwort auf die Unauflösbarkeit der paradoxen Zeiterfahrung formulieren können, das Paradox auflösen kann sie nicht: Die »Spekulation über die Zeit [ist] eine nichtabschließende Grübelei […], auf die nur das Erzählen eine Antwort gibt«. 150 Um mittels der aristotelischen Poetik der Dissonanz der Zeiterfahrung begegnen zu können, bedarf es Ricœur zufolge besagter Erweiterung des Mimesisbegriffs. Die Mimesis gilt Ricœur nicht mehr nur als Nachahmung menschlicher Handlungen, wie bei Aristoteles, sondern darüber hinaus als »schöpferische[] Nachahmung der lebendigen Zeiterfahrung vermittels der Fabel«. 151 Die Erzählung soll imstande sein, dort Konsonanz herzustellen, wo die augustinische Analyse der Zeiterfahrung die Dissonanz in den Vordergrund rückt. Die Erzählung fungiert dann als Modell der Konsonanz und wird zur »inversiven Figur des augustinischen Paradoxes«. 152 Ricœur geht an diesem Punkt deutlich über die aristotelische Poetik hinaus und entwickelt die Mimesis auf drei Ebenen weiter, um der Dissonanz der Zeiterfahrung narrativ begegnen zu können. Die erste Ebene ist die Mimesis I: das Vorverständnis unserer Kultur.

4.3.2. Die Präfiguration (Mimesis I): Zur Vorform der Lesbarkeit Die Mimesis I steht für das »Vorher der dichterischen Kompositionsarbeit«. 153 Sie bildet einen kulturellen Hintergrund, der der Konfigurationstätigkeit auf Ebene der Mimesis II zugrunde liegt. Bevor Handlungen in einer Erzählung dargestellt werden, besitzt jeder Erzähler ein kulturelles Vorverständnis, d. h. einen gewissen Erfah150 151 152 153

Ebd., S. 17. Ebd., S. 54. Ebd., S. 66. Ebd., S. 78.

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rungsschatz im Umgang mit empirischen Handlungen und eigene Zeiterfahrungen. Die Kultur ist die Voraussetzung der narrativen Konfiguration und steht als Vorher der Kompositionsarbeit für ein »Vorverständnis der Welt des Handelns«. 154 Die Mimesis II als Nachahmung von Handlungen sieht sich dadurch zwangsläufig auf die Mimesis I verwiesen, deren Erzeugnis, die Fabel, Ricœur zufolge in dreifacher Hinsicht im Vorverständnis der Welt des Handelns gründet: erstens in den Sinnstrukturen, zweitens in den symbolischen Ressourcen und drittens im zeitlichen Charakter. 155 Wenn die Nachahmung von Handlungen Nachahmung sein soll, dann bedarf es einer der Erzählung »vorgängige[n] Kompetenz«, um Handlungen an »ihren Strukturmerkmalen«, d. h. an ihren Sinnstrukturen, überhaupt als Handlungen erkennen zu können. Diese Fähigkeit, die der Handlung vorausliegenden Sinnstrukturen erkennen zu können, bildet das erste wesentliche Merkmal der Mimesis I, das Ricœur unter den Titel einer »Semantik der Handlung« stellt. 156 Ricœur zufolge verwenden wir auf sinnvolle Art und Weise ein Begriffsnetz, das den Bereich der Handlung fundiert und zugleich strukturiert. 157 Da eine Handlung nie isoliert und losgelöst von ihrem Kontext ausgeführt wird, steht jede Handlung in Zusammenhang mit anderen Begriffen dieses Netzes, wie z. B. mit dem Begriff des handelnden Subjekts, mit dessen Werk oder Tat, dessen Zielen, Motiven, mit dem Begriff der Interaktion und dem des Ausgangs der Handlung. Diese Begriffe verschaffen z. B. Klarheit darüber, wer und aus welchen Motiven heraus jemand handelt, was Gegenstand der Handlung ist oder wie die Handlung ausgeführt wird. Praktisches Verstehen zeichnet sich für Ricœur dadurch aus, dass man »das Begriffsnetz im ganzen und jeden Begriff als Element dieses Ganzen« beherrscht und diese Begriffe in Beziehung zueinander setzen kann, d. h. eine Handlung als Handlung erkennen zu können. All diese Begriffe stehen in »Wechselbedeutung«, d. h. sie können ihrem Sinn nach aufeinander bezogen werden, um Klarheit über die Handlung, die Akteure, deren Motive etc. zu schaffen. 158 In ihrer Wechselbedeutung sind diese Begriffe »synchroner Art«, sie beruhen

154 155 156 157 158

Ebd., S. 90. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 91 f.

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auf einer paradigmatischen Ordnung, »da die Beziehungen der ›Wechselbedeutung‹, die zwischen Zwecken, Mitteln, Handelnden, Umständen und dem übrigen bestehen, vollständig umkehrbar sind«. Wir können aus Zwecken, die verfolgt werden, erklären, weshalb welche Mittel eingesetzt und genutzt werden, können ebenso gut aus der Wahl der Mittel die Zwecke erklären, diese aus den Umständen ableiten oder über die gebrauchten Mittel oder verfolgten Zwecke auf den Charakter des Handelnden schließen. Die Art und Weise, wie wir auf das Begriffsnetz zugreifen, um Handlungen zu erklären, ist nicht determiniert; eine Handlung lässt sich stets aus verschiedenen Perspektiven darstellen. Diese Umkehrbarkeit der verschiedenen Aspekte und Implikationen von Handlungen schließt eine zeitliche Ordnung zunächst aus, wir können Motive, Mittel etc. beliebig variieren. Eine zeitliche Ordnung führt erst die syntagmatische Ordnung der Rede ein. Jede Erzählung geht über die bloße Vertrautheit mit einem bereits bestehenden Begriffsnetz voraus, insofern sie diesem »die diskursiven Merkmale hinzu[fügt], die sie von einer bloßen Abfolge von Handlungssätzen unterscheiden«. Diese diskursiven bzw. syntagmatischen Merkmale gehören selbst jedoch nicht mehr diesem Begriffsnetz an. Innerhalb dieses Netzes besitzen die Begriffe lediglich eine »virtuelle Bedeutung«, eine »bloße Verwendungseignung« wie Ricœur sagt. In der Übertragung auf die syntagmatische Ebene wird ihre virtuelle Bedeutung erstens aktualisiert, d. h. sie erhalten innerhalb eines bestimmten Kontextes eine konkrete Bedeutung, und zweitens integriert, d. h. »so heterogene Begriffe wie Handelnde, Motive und Umstände werden miteinander vereinbar gemacht und wirken in tatsächlichen Zeittotalitäten zusammen«. 159 Die syntagmatische Ebene konstituiert zeitliche Folgen, die aus der Zusammenführung der heterogenen Begriffe des Begriffsnetzes zu einer Handlung entstehen. Im Zuge dieser Zusammenführung und Kontextualisierung tritt die Handlung als Ganze in Erscheinung; die einzelnen Begriffe werden aufeinander bezogen und ergänzen sich wechselseitig. Im Übergang von der Ebene des Paradigmas zur Ebene des Syntagmas wird das praktische Verstehen mit dem narrativen Verstehen vermittelt: Die Narration überträgt die Elemente praktischen Verstehens, die zuvor nur paradigmatisch überschaut werden müssen, 159

Ebd., S. 92 f.

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auf eine diskursive und syntagmatische Ordnung. Das Verstehen einer Erzählung setzt voraus, dass wir diese Regeln der Kombination der paradigmatischen und syntagmatischen Ebene beherrschen; wir verstehen sowohl die Möglichkeit der Umkehrbarkeit innerhalb der synchronen Ordnung als auch die diachrone Ordnung einer Geschichte, in der die virtuellen Bedeutungen aktualisiert und kontextualisiert werden. 160 Das zweite Merkmal der Mimesis I bilden die symbolischen Ressourcen. Um Handlungen narrativ zu gestalten, genügt es nicht, die Sinnstrukturen der Handlungen zu erkennen. Das Begriffsnetz bildet den kulturellen Hintergrund, auf den sich die Mimesis im Zuge der Nachahmung implizit bezieht. 161 Um das Begriffsnetz zu explizieren und die Sinnstrukturen in eine Erzählung einzubetten, muss die paradigmatische Ordnung wie dargestellt in eine syntagmatische Ordnung überführt werden. Zu diesem Zweck ist »eine zusätzliche Kompetenz erforderlich: das Vermögen, die […] symbolischen Vermittlungen der Handlung zu erkennen«. 162 Das Hauptmerkmal der Handlung besteht Ricœur zufolge in ihrer symbolische Vermittlung. Die symbolischen Strukturen bzw. Ressourcen praktischen Handelns bestimmen Ricœur zufolge, welche Aspekte praktischer Handlungen überhaupt in eine Erzählung überführt werden können. 163 Die Möglichkeit ihrer Erzählbarkeit liegt darin begründet, dass eine Erzählung ihrerseits »in Zeichen, Regeln und Normen artikuliert: immer schon symbolisch vermittelt ist«. Diese symbolische Grundstruktur von Erzählung und Handlung ermöglicht die Vermittlung zwischen beiden: In Anlehnung an Cassirer spricht Ricœur davon, dass Symbole »kulturelle Prozesse [sind], in denen die gesamte Erfahrung artikuliert wird«, es sind kulturelle Symbole. 164 Handlungen Vgl. ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 80. 162 Ebd., S. 90. 163 Vgl. ebd., S. 94. Auf dieser Ebene der symbolischen Handlungsvermittlung sieht Ricœur Cassirers Symbolbegriff am Werk, den er im Rahmen seiner Kulturhermeneutik noch kritisch von sich weist (vgl. Anm. 23, S. 282). 164 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 94; vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache [1923]. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 101994; Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken [1925]. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 91994 und Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis [1929]. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 101994. 160 161

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sind symbolisch präformiert, jeder Handlungsvollzug aktualisiert die impliziten symbolischen Ressourcen und damit die kulturellen Symbole. Das Symbol weist Ricœur zufolge drei wesentliche Merkmale auf: Es ist erstens öffentlich, zweitens ist es nie isoliert, sondern stets Teil des Symbolnetzes einer Kultur und drittens führt es dadurch, dass es dem individuellen Handlungsvollzug vorausliegt, Regeln ein, die die Kultur und dadurch den individuellen Handlungsvollzug bestimmen. Die Kultur ist das Produkt symbolisch vermittelter Handlungen, davon rückt Ricœur auch in Zeit und Erzählung nicht ab. In Anlehnung an Clifford Geertz betont Ricœur, dass das das Symbol schon deshalb öffentlich ist, weil es Bedeutung ist: Das Symbol ist »kein psychologischer Vorgang […], der die Handlung leiten soll, sondern eine Bedeutung, die der Handlung immanent ist und an ihr von den anderen Akteuren des gesellschaftlichen Spieles entschlüsselt werden kann«. 165 Wie die Begriffe Ricœur zufolge in einem Begriffsnetz stehen, so steht jedes Symbol, wie bereits angedeutet, in einem »Symbolnetz der Kultur«. Das Symbol sieht sich damit stets auf Symbolverweisungen und -zusammenhänge verwiesen, die untereinander Strukturen ausbilden. Dieser symbolische Strukturzusammenhang bildet einen Kontext aus, der jeder Interpretation einzelner Symbole zugrunde liegt. »Bevor die Symbole der Interpretation unterzogen werden, sind die Symbole handlungsinterne Interpretanten.« Die Ebene der symbolischen Konstitution von Handlungen stellt dadurch eine »Vorform der Lesbarkeit« dar: Symbole liefern die Interpretationsund »Bedeutungsregeln […], nach denen ein bestimmtes Verhalten interpretiert werden kann«. Sie geben »dem Leben Form, Ordnung und Richtung«, bevor dieses Leben gedeutet und interpretiert wird und dadurch die Grundlage für Erzählungen abgibt. 166 Die symbolischen Ressourcen implizieren bereits, was Ricœur als drittes wesentliches Merkmal der Mimesis I ausweist: Die symbolische, handlungsleitende Struktur ist zeitlich. Die von Augustinus ausgewiesene dreifache Gegenwart übersetzt Ricœur in die eine zeitliche Struktur der Handlung, die jeder narrativen Modifikation zu-

165 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 95; vgl. Clifford Geertz: The Interpretation of Cultures. Selected Essays. Basic Books: New York NY 1973. 166 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 95 f.

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grunde liegt und so noch unser alltägliches Handeln bestimmt. Bevor die Zeit gemessen und in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingeteilt wird, ist sie »unser Verhältnis zur Zeit als das, ›worin‹ wir täglich handeln«. 167 Die Handlung birgt in sich ein »Wechselverhältnis« zwischen den zeitlichen Dimensionen der dreifachen Gegenwart, in dem meine Erfahrung des Vergangenen mir mein eigenes Handlungsvermögen vor Augen führt und mir bewusst macht, dass ich dieses oder jenes in Zukunft tun kann. 168 Jede narrative Verarbeitung und Modifikation geht auf diese »pränarrative[] Struktur der Zeiterfahrung« zurück. 169 Diese drei Merkmale, die Semantik, die Symbolik und die Zeitlichkeit des Handelns bilden zusammengenommen die Mimesis I: »ein Vorverständnis vom menschlichen Handeln«. Sie bilden eine Ebene der Präfiguration dessen, was wir überhaupt in den Blick bekommen und narrativ zu konfigurieren, d. h. in eine Erzählung zu überführen imstande sind. Sie konstituieren und strukturieren zunächst die Welt praktischen Handelns, mit Blick auf die Narrativitätstheorie bedeutet dies: eine Vorform der Lesbarkeit. Literatur insgesamt wäre, so Ricœur, »unrettbar unverständlich, wenn sie nicht etwas gestaltete, was in der menschlichen Handlung bereits Gestalt hat« und für uns im alltäglichen Lebensvollzug bereits wirklich ist. 170 Dieses Vorverständnis präfiguriert die konfigurierbaren, d. h. narrativ modifizierbaren Strukturen. Die Sinnstrukturen, die symbolischen Ressourcen und der zeitliche Charakter bilden Strukturen und Regeln aus, denen die Mimesis II im Zuge der Konfiguration folgt.

Ebd., S. 100. »Was heißt Gegenwart der Zukunft? Daß ich mich von nun an, also schon jetzt dazu verpflichte, dies morgen zu tun. Was heißt Gegenwart der Vergangenheit? Daß ich jetzt die Absicht habe, dies zu tun, weil ich gerade eben gedacht habe, daß … Was heißt Gegenwart der Gegenwart? Daß ich jetzt dies tue, weil ich es jetzt tun kann: die tatsächliche Gegenwart des Tuns bezeugt die virtuelle Gegenwart des Tunkönnens und konstituiert sich zur Gegenwart der Gegenwart.« (Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 99) 169 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 98; vgl. ebd., S. 103. 170 Ebd., S. 103 f. 167 168

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4.3.3. Die Konfiguration (Mimesis II): Im Reich des Schöpferischen Die Mimesis II bezeichnet Ricœur auch als »schöpferische[] mimēsis«. 171 Sie eröffnet den Fiktionsraum der Narration als besagtes Reich ›Als ob‹ (royaume du comme si). 172 Die Ebene der Komposition und Konfiguration steht für Ricœur in Anlehnung an den von Aristoteles in der Poetik entwickelten Begriff des Mythos für die Zusammensetzung der Handlungen zu einer Erzählung. Der wesentliche Unterschied zwischen der Mimesis I als kulturelles Vorverständnis und der Mimesis II als Konfigurationstätigkeit liegt darin begründet, dass das kulturelle Vorverständnis auf Ebene der Mimesis II implizit bleibt. Als Präfiguration stiftet sie ein Vorverständnis der zeitlichen Strukturen sowie der Handlungsabläufe und -kontexte; aufgrund dieses Vorverständnisses ist die Ebene der Konfiguration davor gefeit, fernab der Wirklichkeit bloße Fiktion zu sein, sie bleibt stets an die Wirklichkeit gebunden. Zugleich jedoch konstituiert die Konfiguration eine Erzählung nach ihren eigenen Merkmalen. In Anlehnung an die phänomenologische Reduktion Husserls wird der Bezug zur Wirklichkeit und Kultur auf dieser Ebene eingeklammert, bleibt jedoch implizit präsent. Die Konfiguration weist nicht nur ein implizites Vorverständnis der Kultur auf, sondern ist darüber hinaus in ihrer Referenz auch auf die Kultur und Wirklichkeit des Lesers gerichtet – wenngleich sie den ihr impliziten Strukturen und Regeln der Wirklichkeit folgt, kann sie eine Erzählung doch nach ihren eigenen Mitteln konfigurieren, ohne durch das ihr implizite Vorverständnis der Kultur vollständig determiniert zu sein. 173 Narrationen sind Modelle möglicher Erfahrungshorizonte, Erzählungen bieten für Ricœur deshalb die Möglichkeit, das eigene Leben zu bereichern. Der Bruch mit der Wirklichkeit ist damit nicht absolut. Die Vermittlungsfunktion zwischen der Mimesis I als Präfiguration und der Mimesis II als Refiguration äußert sich auf Ebene der Konfiguration auf drei verschiedene Arten: Erstens vermittelt die Mimesis II »zwischen individuellen Ereignissen oder Vorfällen und einer als Ganzes betrachteten Geschichte«, zweitens fügt sie »so heterogene Faktoren wie Handelnde, Ziele, Mittel, Interaktionen, Umstände, unerwartete 171 172 173

Ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. 104. Vgl. auch Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, S. 338 f.

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Resultate usw.« zu einer Erzählung im Ganzen zusammen und drittens vermittelt sie »ihre eigenen Zeitmerkmale«. 174 Die Vermittlung zwischen individuellen Ereignissen und der Geschichte als Ganzer verwandelt einzelne Ereignisse in eine Geschichte. Im Kontext einer Erzählung steht ein Ereignis nie isoliert; was das Ereignis ausmacht, ist der Anteil, den das Ereignis zur Entwicklung der Erzählung beiträgt. 175 Außerhalb des Kontextes, den eine Erzählung stiftet, trägt ein Ereignis keine Bedeutung. Im Umkehrschluss muss die Erzählung mehr sein als eine bloße Aufzählung oder Chronik. Sie muss die heterogenen Ereignisse »zu einer intelligiblen Totalität gestalten«. Diese Totalität führt auf das Thema einer Erzählung, das die heterogenen Handlungen und Ereignisse unter sich subsumiert und dadurch einen Rahmen vorgibt, innerhalb dessen sie diese orientiert. Aus der »bloßen Abfolge« von Ereignissen wird im Zuge der Komposition die Konfiguration. Die Konfiguration bildet bereits das zweite und zentrale Merkmal der Mimesis II. Ricœur stellt die Erzählung auch unter das Stichwort der dissonanten Konsonanz: Die Konfiguration überführt die Charaktere, deren Handlungen und weitere heterogene Aspekte in einen stimmigen Gesamtzusammenhang. In ihrer Vermittlungsfunktion greift die Erzählung auf die Paradigmen zurück, die sie auf Ebene der Handlungssemantik vorfindet, d. h. auf Ebene der Mimesis I, und überführt sie in eine syntagmatische Ordnung: Die Erzählung bzw. Fabel ist »Synthesis des Heterogenen«. Diese Synthesis führt auf das dritte Merkmal der Mimesis II, insofern sie die einzelnen, heterogenen Bestandteile einer Erzählung nicht mehr nur logisch zusammenführt, Teil und Ganzes aufeinander bezieht und unter einem gemeinsamen Thema subsumiert, sondern diese auch zeitlich in einen kohärenten Zusammenhang bringt. »Dieser Akt des Konfigurierens besteht darin, die Einzelhandlungen oder was wir die Vorfälle der Geschichte nannten, ›zusammenzunehmen‹ ; aus dieser Vielfalt von Ereignissen macht er die Einheit einer zeitlichen Totalität.« 176 An dieser Stelle scheint Augustinus’ Paradox der Zeit durch; Ricœur nutzt die aristotelische Poetik gerade deshalb, weil sie das augustinische Paradox der Zeiterfahrung nicht spekulativ auf-

174 175 176

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 105 f. Vgl. ebd. Ebd., S. 106 f.

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zulösen sucht, wie Augustinus noch selbst, sondern dieses poetisch konfiguriert. 177 Da das Paradox zeitlicher Erfahrung trotz Orientierung auf eine Ganzheit nicht aufgelöst werden kann, stellt Ricœur die Fabel unter den Begriff der dissonanten Konsonanz: Die Dissonanz zeitlicher Erfahrung bleibt in der Konsonanz erhalten, die die Fabel in Form einer Ganzheit herstellt. Was der alltäglichen Erfahrung paradox erscheint, wird narrativ konfiguriert. Die Narration ermöglicht auf diese Weise einen Umgang mit Erfahrungen, die im empirischen Lebensvollzug die Seele nicht zur Ruhe kommen lassen, so Ricœur in Anschluss an Augustinus. Der Akt der Fabelkomposition gewinnt »einer zeitlichen Abfolge eine Konfiguration« ab. 178 Diese Konfigurationstätigkeit sieht Ricœur im aristotelischen Begriff der poiēsis begründet. 179 Die poiēsis ist Herstellung, sie ist Konfiguration und arrangiert auf logischer sowie zeitlicher Ebene die Zusammenhänge der heterogenen Aspekte einer Erzählung. Sie reflektiert nicht einfach das augustinische Paradox der Zeit, sondern vermittelt beide Pole dieses Paradoxes, die einzelnen Ereignisse und die Erzählung als Ganze miteinander. 180 Der dichterische, konfigurierende Akt führt die einzelnen Ereignisse in ihrer zeitlichen Abfolge zusammen oder, wie Ricœur auch sagt: Der Akt der Konfiguration gewinnt »einer zeitlichen Abfolge eine Figur« ab. 181 Diese der zeitlichen Abfolge im Zuge der Konfiguration abgewonnene Figur gewährleistet die Nachvollziehbarkeit der Erzählung beim Hörer bzw. Leser. 182 Die poiēsis führt an diesem Punkt auf die Mimesis III, d. h. auf die Refiguration der Zeit, die vom Hörer bzw. Leser selbst vollzogen wird. Zunächst jedoch bleibt festzuhalten, dass der Akt der KonfiguVgl. ebd., S. 106. Ebd., S. 107. 179 Vgl. ebd. 180 Der Begriff der poiēsis bildet für Ricœur in gewisser das Komplement zum Begriff der mimēsis praxeōs (vgl. Anm. 126, S. 314). Die mimēsis praxeōs verkörpert zwar ein produktives Moment der Mimesis II, sie bleibt jedoch an die Ethik gebunden, d. h. sie hat es mit der Nachahmung des Tugendhaften zu tun. Die poiēsis steht gleichermaßen für das produktive Moment der Mimesis II, ohne jedoch wie die mimēsis praxeōs an die Ethik gebunden zu sein. 181 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 107. 182 Vgl. ebd. »Cet acte, dont nous venons de dire qu’il extrait une figure d’une succession, se révèle à l’auditeur ou au lecteur dans l’aptitude de l’histoire à être suivie.« (Ricœur: Temps et Récit, Bd. 1, S. 104) 177 178

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ration Nachvollziehbarkeit gewährleistet. Nachvollziehbarkeit bedeutet für Ricœur, »inmitten von Kontingenzen und Peripetien unter der Anleitung einer Erwartung voranzuschreiten, die ihre Erfüllung im Schluß (conclusion) findet«. Der Schluss einer Erzählung »ist nicht im logischen Sinne in vorausgehenden Prämissen enthalten«, vielmehr setzt der Schluss einer Erzählung einen Punkt, der einen »Gesichtspunkt (point de vue) beibringt«. Aus der Perspektive dieses Stand- oder Gesichtspunkts lässt sich die Geschichte als Ganze wahrnehmen: »Die Geschichte verstehen heißt zu verstehen, wie und warum die einander folgenden Episoden zu diesem Schluß geführt haben, der keineswegs vorhersehbar war, doch letztlich als annehmbar, als mit den zusammengestellten Episoden kongruent erscheinen muß.« Diese Annehmbarkeit, die Kongruenz und Kohärenz einer Geschichte geht, wenngleich der Mimesis II ein kulturelles Vorverständnis vorausliegt, doch nicht unmittelbar aus diesem Vorverständnis hervor, sondern ist vielmehr das Ergebnis des produktiven, poietischen Akts der Konfiguration. Für Ricœur bildet die Nachvollziehbarkeit das entscheidende Moment im Zusammenspiel aus dem augustinischen Paradox der Zeit und der aristotelischen Theorie des Mythos: Die Nachvollziehbarkeit einer Erzählung bildet »die dichterische Lösung des Paradoxes von distentio und intentio«. Auf der Ebene der Mimesis II wird die Nachvollziehbarkeit auf den Weg gebracht, die einzelnen heterogenen und kontingenten Aspekte werden in einer Konfiguration zusammengeführt. Auf Ebene der Mimesis III gelangt diese Bewegung zu einem, zumindest vorläufigen, Abschluss: An diesem Punkt verwandelt die »Nachvollziehbarkeit der Geschichte […] das Paradox in lebendige Dialektik«. 183 Auf diese lebendige Dialektik, die erst im Zusammenspiel aus Mimesis I, II und III vollständig entfaltet wird, wird sogleich zurückzukommen sein. Zunächst ist Ricœurs Bezug zu Kants Kritik der Urteilskraft einzuholen: Der Akt der Konfiguration ist für Ricœur eine Tätigkeit der produktiven Einbildungskraft. Sie überführt den kulturellen Hintergrund der Mimesis I in die Fiktion der Mimesis II und fungiert als narrative Funktion, die, in Anlehnung an Kant, einen Prozess der Schematisierung darstellt. Im Unterschied zu Kant ist dieser Prozess im Kontext der Narrativitätstheorie Ricœurs jedoch historisch bedingt: Ihm eignet ein Traditionscharakter. 183

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 108.

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4.3.4. Produktive Einbildungskraft und narrative Funktion: Schematisierung und Traditionscharakter Das Vermögen der produktiven Einbildungskraft bringt für Ricœur die Möglichkeit der Konfigurationstätigkeit hervor. Das ihr eigene Verfahren ist das des narrativen Schematismus. Ricœur schließt an diesem Punkt an das kantische Verfahren des Schematismus an. 184 Ganz wie bei Kant auch, übernimmt der Schematismus bei Ricœur die Funktion der Strukturierung der Zeitlichkeit, im Gegensatz zu Kant stellt Ricœur jedoch die von Kant ausgewiesene Hierarchie des Verhältnisses von Raum und Zeit auf den Kopf: Wenngleich wir stets an ein kulturelles Vorverständnis gebunden bleiben, sind wir in der Fiktion doch nicht vollständig durch die Wirklichkeit determiniert, sondern sehen uns vielmehr auf mögliche Welten verwiesen, die die Fiktion eröffnet. Dies impliziert, dass dem Raum das Primat zukommt, auf dessen Grundlage die Möglichkeit zur Refiguration der Zeit gegeben ist. Die narrative Identität steht am Schluss der Narrativitätstheorie, die letzte Stufe auf dem Weg zu ihr ist die Refiguration der Zeit. Damit bildet der Schematismus zwar auch bei Ricœur das Bindeglied zwischen Raum und Zeit, im Gegensatz zum kantischen Schematismus jedoch wird dessen Orientierung umgekehrt, der Schematismus infolge dessen zum narrativen Schematismus: Im Kontext der Narrativitätstheorie Ricœurs liegt der Raum der Zeit zugrunde. Die wesentliche Funktion, die der Schematismus im Kontext der Narrativitätstheorie Ricœurs übernimmt, ist die Konfiguration einzelner Bestandteile zu einem Ganzen einer Erzählung. Mittels dieser Synthese ermöglicht er es, die Erzählung als Ganze erfassen zu können. Wie zuvor bereits mit Blick auf Blumenbergs Anschluss an den kantischen Symbolbegriff dargestellt, sucht Kant im Kontext seiner Transzendentalphilosophie und Erkenntnistheorie die Anwendbarkeit der begrifflichen Erkenntnisvermögen auf die Erscheinungen

184 Zum Schematismus bei Kant vgl. Gerhard Seel: Die Einleitung in die Analytik der Grundsätze, der Schematismus und die obersten Grundsätze (A130/B169–A158/ B197), in: Georg Mohr und Marcus Willaschek (Hrsg.): Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft (Klassiker Auslegen, Bd. 17/18). Akademie Verlag: Berlin 1998, S. 217–246, hier S. 221–240 sowie Ernst Robert Curtius: Das Schematismuskapitel in der Kritik der reinen Vernunft. Philologische Untersuchung, in: Kant Studien 19 (1914) 3, S. 338–366.

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der empirischen Wirklichkeit nachzuweisen. 185 Diese Leistung erbringt die Einbildungskraft mittels eines transzendentalen Schemas, das das Muster für den Schematismus und das Symbol abgibt. Der Schematismus wirkt im Hintergrund der reinen Verstandesbegriffe und schlägt eine Brücke von den Kategorien des Verstandes zu den empirischen Anschauungen. In der Transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft arbeitet Kant heraus, dass die Zeit a priori allen Erscheinungen zugrunde liegt: »In ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich.« 186 Die Zeit ist die reine Form der sinnlichen Anschauung, d. h. die subjektive Bestimmung der Verhältnisse der Dinge, wie sie uns »unserm innern Zustande« nach, d. h. in der reinen Anschauungsform der Zeit erscheinen. Der Raum liegt allen äußeren Erscheinungen zugrunde und ist als äußerer Sinn auf diese beschränkt. Die Zeit hingegen gibt, wie Kant sagt, »keine Gestalt«. 187 Als die Form des inneren Sinnes und Bedingung aller Erscheinungen a priori ist sie nicht unmittelbar auf die äußeren Anschauungen gerichtet, sondern zunächst auf den äußeren Sinn. Die Zeit liegt dem Raum und damit die innere der äußeren Form der reinen Anschauung zugrunde: »[A]lle Erscheinungen überhaupt, d. i. alle Gegenstände der Sinne, sind in der Zeit, und stehen notwendigerweise in Verhältnissen der Zeit.« 188 Das Verfahren, das die Kategorien des Verstandes mit den Erscheinungen vermittelt, ist, wie bereits angedeutet, die transzendentale Zeitbestimmung: der Schematismus. Die Zeit als formale Bedingung des inneren Sinnes stellt a priori Allgemeinheit vor, dies hat sie mit den reinen Verstandesbegriffen gemeinsam, die das Mannigfaltige sinnlicher Erscheinungen a priori – in Allgemeinheit unter einer Einheit – unter sich begreifen. Mit den sinnlichen Erscheinungen teilt die transzendentale Zeitbestimmung, dass sie in jeder dieser empirischen Vorstellungen enthalten ist: Alle Erscheinungen sind in der Zeit. Dadurch, dass sie Allgemeinheit vorstellt, ebenso wie die reinen Verstandesbegriffe, und alle Erscheinungen umfasst und aufgrund dessen zugleich in jeder dieser Erscheinungen enthalten ist, ist es der transzendentalen Zeitbestimmung möglich, eine Brücke zwischen 185 186 187 188

Vgl. Kap. 3.2. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 31/B 46. Ebd., A 33/B 50. Ebd., A 34/B 51.

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den Kategorien und den Erscheinungen zu schlagen. Das Verfahren des Schematismus subsumiert auf diese Weise empirische Vorstellungen unter die diesen Erscheinungen entsprechenden Kategorien. Das transzendentale Schema der reinen Verstandesbegriffe stellt »Einheit nach Begriffen« her, die die Kategorien zum Ausdruck bringen – das transzendentale Schema ist ein »transzendentales Produkt der Einbildungskraft«. 189 Die produktive Einbildungskraft bildet eines der zentralen Vermögen der Narrativitätstheorie Ricœurs. Sie ermöglicht die Konfiguration sowie die Refiguration der Zeit. Diese Möglichkeit realisiert die produktive Einbildungskraft durch das Verfahren der semantischen Innovation, das sie auf zwei verschiedene Weisen umsetzen kann: entweder als Funktion der Metapher oder als narrative Funktion. 190 Die semantische Innovation in ihrer Realisierung als Metapher ist eine momentane Sprachschöpfung. Sie zeigt Aspekte an den Dingen der Wirklichkeit auf, die zuvor unbekannt waren und bereichert dadurch die sprachliche bzw. sprachlich vermittelte Sinn- und Bedeutungsvielfalt. 191 Der Konfigurationsvorgang unterbricht diesen ontologischen Bezug der Metapher auf die Wirklichkeit – ein Bezug, den es mit Ricœur nachfolgend wieder zu restituieren gilt. Mit Blick auf die narrative Funktion ist zunächst von Bedeutung, dass sie der Metapher die Funktion entlehnt, Teil und Ganzes aufeinander zu beziehen und im Zuge dessen Identität herstellen zu können, ohne die Differenz der aufeinander bezogenen Sinnbereiche zugleich aufzulösen. Die semantische Innovation als Erzählung macht sich diese Funktion zunutze, sie operiert jedoch innerhalb eines anderen Bezugsrahmens: Die Metapher sieht sich auf einen Kontext verwiesen, der bereits ein Satz sein kann und ermöglicht so von einem bestimmten Standpunkt aus eine neue Perspektive auf die Wirklichkeit einzunehmen. Über die Sprache vermittelt die Metapher zwischen den vorprädikativen Strukturen des menschlichen Wirklichkeitsbezugs und der Wirklichkeit selbst. Die Erzählung hingegen bildet ein Werk und damit eine eigene fiktive, mögliche Welt; der Bezug zur WirkEbd., A 142/B 181. Vgl. Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, S. 296. Kearney betont, dass die semantische Innovation den Kern von Ricœurs hermeneutischem Denken ausmacht und gegenüber anderen Philosophien, die die produktive Einbildungskraft ins Zentrum ihrer Überlegungen rücken, ein Alleinstellungsmerkmal darstellt (vgl. Kearney: On Paul Ricœur, S. 38 f.). 191 Vgl. Kap. 4.2. 189 190

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Die narrative Funktion

lichkeit ist nicht aufgehoben, doch zunächst suspendiert, wie Ricœur mit Blick auf die Ebene der Mimesis II deutlich macht. Verweist die Metapher zunächst auf die Wirklichkeit, in der wir handeln, so die narrative Funktion zunächst auf eine fiktive Welt. Mit dem Begriff der Welt bezeichnet Ricœur »die Gesamtheit der Referenzen […], die durch alle Arten von deskriptiven oder dichterischen Texten zugänglich gemacht werden, die ich gelesen, gedeutet und geliebt habe« – die Welt ist die Gesamtheit der Referenzen, die die fiktive Welt entwirft. 192 Die semantische Innovation bringt mit der Fabel die Möglichkeit zur Orientierung aufs Ganze hervor und vermittelt dadurch zwischen Teil und Ganzem. Sie lässt eine mögliche Welt entstehen, die neue Möglichkeiten entdecken lässt. 193 Sowohl in der Metapher als auch in der Erzählung kommt »Neues – noch Ungesagtes, Unerhörtes – zur Sprache: hier die lebendige Metapher, also eine neue Pertinenz in der Prädikation, dort eine fingierte Fabel, also eine neue Kongruenz in der Anordnung der Vorfälle«. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass die semantische Innovation als Metapher maßgeblich logisch und räumlich operiert. Die Metapher ist imstande, sich »über den Widerstand der gewöhnlichen Kategorisierungen der Sprache hinwegzusetzen« und neue Bedeutungen zu erzeugen. Die Metapher führt, wie Ricœur betont, eine »Distanzveränderung im logischen Raum« herbei, indem sie voneinander entfernte und scheinbar disparate Sinnbereiche aufeinander bezieht und dadurch neue Bedeutungen produziert. 194 Aufgrund dieser Distanzveränderung zeugt die Metapher durchaus von »Bewegung« und »Dynamik«. 195 Ihr eignet eine von Grund auf dynamische und dadurch implizit auch zeitliche Struktur, doch sie arbeitet nicht Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 127. Ricœur reklamiert den Symbolbegriff an dieser Stelle zwar nicht für sein Verfahren, sondern rekurriert auf die produktive Einbildungskraft als das Vermögen, das die semantische Innovation als Metapher sowie als Erzählung ermöglicht; dennoch wird deutlich, dass Ricœur an dieser Stelle implizit auf das kantische Verfahren der Symbolisierung zurückgreift (vgl. auch Kevin Jon Vanhoozer: Philosophical Antecedents to Ricœur’s Time and Narrative, in: David Wood (Hrsg.): On Paul Ricœur. Narrative and Interpretation. Routledge: London, New York NY 1999, S. 34–54, hier S. 38–41), das Blumenberg in Anlehnung an Kants Symbolbegriff auf die Metapher überträgt: Es werden Gesamtzusammenhänge geschaffen, die es ermöglichen, Teil und Ganzes aufeinander zu beziehen. Es wird in der Schlussbetrachtung darauf zurückzukommen sein (vgl. Kap. 5). 194 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 7 f. 195 Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 279. 192 193

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produktiv mit dieser. Ihre Aufgabe besteht maßgeblich in der Organisation besagter Distanzveränderungen im logischen Raum. Den Übergang von dem logischen Raum, den die Metapher eröffnet, zur Zeit stiftet der narrative Schematismus. Aus diesem Grund rekurriert Ricœur nicht explizit auf den kantischen Symbolbegriff, sondern schließt an den kantischen Schematismus an: Im Kontext der Hermeneutik der narrativen Identität wäre ohne die Möglichkeit zur Refiguration der Zeit noch nicht viel gewonnen; den Bezug zur Zeitlichkeit stiftet erst der narrative Schematismus. Der narrative Schematismus organisiert im Hintergrund zugleich die semantische Innovation: Die semantische Innovation kann in beiden Fällen »auf die schöpferische Einbildungskraft […] bezogen werden« – »genauer auf den Schematismus […], der ihre Bedeutungsmatrix ist«. 196 Die produktive Einbildungskraft erzeugt in ihrer synthetischen Funktion eine, wie Ricœur sagt, »gemischte Verständlichkeit« (intelligibilité mixte). Sie überträgt die Funktion der Metapher, Teil und Ganzes aufeinander beziehen zu können, auf die Struktur der Erzählung. Inmitten einer Vielzahl von heterogenen Aspekten und Ereignissen verknüpft die produktive Einbildungskraft erstens Teil und Ganzes auf einer logischen bzw. räumlichen Ebene miteinander und setzt dadurch zweitens, inmitten einer fortlaufenden Ereigniskette, die weder Anfang noch Ende zu haben scheint, auf zeitlicher Ebene einen Ausgangs- und einen Endpunkt der Erzählung: Sie hebt das Thema der Erzählung heraus und konzentriert die heterogenen Aspekte und Ereignisse auf ebendieses Thema. Indem die produktive Einbildungskraft »das Thema, den ›Gedanken‹ der erzählenden Geschichte« und aufseiten der »anschaulichen Darstellung […] Umstände, Charaktere, Episoden und Schicksalswendungen« aufeinander bezieht, bewirkt sie allererst »die Auflösung des Handlungsknotens«. Anfang und Ende lassen die Erzählung als Ganze greifbar werden. Diese synthetische Funktion der produktiven Einbildungskraft, Teil und Ganzes überhaupt erst aufeinander zu beziehen, einen Anfang und ein Ende setzen zu können, bezeichnet Ricœur als »Schematismus der narrativen Funktion«. 197 Im Gegensatz zum kantischen Schematismus liegt der narrative Schematismus Ricœurs nicht a priori im menschlichen Erkenntnisvermögen begründet, sondern konstituiert sich innerhalb der Traditi196 197

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 7. Ebd., S. 110.

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Die narrative Funktion

on und Kultur, er ist geschichtlich bedingt: »Was ich die Schematisierung der Fabelkomposition nenne, existiert nur in dieser historischen Entwicklung.« 198 Es geht Ricœur mit dem Begriff der Tradition nicht um die bloße Vermittlung historischer Bestände, sondern um die »lebendige Weitervermittlung einer Neuschöpfung«. Diese lebendige Weitervermittlung hebt von einer Tradition ab und kann innerhalb der Tradition durch den konfigurierenden Akt der schöpferischen Einbildungskraft stets von neuem realisiert und reaktiviert werden. Dem produktiven Moment des konfigurierenden Akts, der Schematisierung, eignet damit zugleich ein »Traditionscharakter«, der dem Schematismus von der ahistorischen transzendentalen Ebene bei Kant auf das Niveau der Tradition und Geschichte der Kultur hebt. 199 Alles Neue, das die produktive Einbildungskraft über die semantische Innovation hervorbringt, bleibt für Ricœur stets ein »regelbestimmtes Verhalten: die Arbeit der Einbildungskraft kommt nicht aus dem Nichts«. 200 Der narrative Schematismus hebt von einem bestimmten historischen Niveau ab, das diesem zugleich inhärent ist. Er bestimmt dadurch den Blick auf die Welten, die wir in Form von Erzählungen entwerfen, d. h. er impliziert die kulturell tradierten narrativen Strukturen und Erzählformen und bedingt dadurch zugleich die Rezeptionsmuster dieser Strukturen. Was sich als Neues zeigt, baut auf Altem auf, sinkt seinerseits mit der Zeit zurück in die Kultur und bildet Paradigmen, Typologien aus und so mittelbar eine Tradition, die stets auch eine Kultur der Erzähltraditionen ist – wie Ricœur mit Merleau-Ponty zu Beginn der Lebendigen Metapher hervorhebt: »Alles Neue hebt sich […] von einem sedimentierten Erwerb ab.« 201 Im Zuge der Traditionsbildung bindet Ricœur den Konfigurationsakt der Mimesis II an die Mi-

Ebd., S. 111 (Anm. 21). Ebd., S. 110. 200 Ebd., S. 112. 201 Ricœur: Die lebendige Metapher, S. I. Für Ricœur beruht die »Konstitution einer Tradition auf dem Wechselspiel von Neuschöpfung und Sedimentierung« (Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 110). Ricœur nähert sich damit der husserlschen Analyse im Kontext der Krisis-Schrift an (vgl. Kap. 2.2.3.). Im Zuge der Sedimentierung bilden sich die innerhalb einer Kultur ausgeprägten Erzählformen zu Paradigmen aus und schlagen sich in einer »Typologie« (Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 110) nieder. Die für Ricœur typische Erzählform der europäischen Kultur ist die von ihm ins Zentrum von Zeit und Erzählung gestellte dissonante Konsonanz, deren typische Gattung die der Tragödie ist. 198 199

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mesis I: Die Mimesis I, das Vorverständnis in Form eines kulturellen Hintergrunds, gewährleistet Nachvollziehbarkeit und bildet die Grundlage jedes Verstehensprozesses, insofern alles Neue von bereits Bekanntem ausgehen muss, um überhaupt verstanden werden zu können. Vollkommen Neues, das keinerlei Bezug zu etwas bereits Bekanntem aufwiese, würden wir als solches nicht erkennen, geschweige denn verstehen können. Dieser Verstehensprozess findet seinen Abschluss auf Ebene der Mimesis III, dem Akt der Refiguration. Die beiden Aspekte der Mimesis II, Schematisierung und Traditionscharakter, konstituieren im Kontext der Narrativitätstheorie Ricœurs ein Verständnis einer Erzählung, das über die Auffassung eines Werkes als bloßes Produkt seines Urhebers hinausgeht. Die Werke der Kultur sind vielmehr das Produkt ihrer Produktion und Rezeption zugleich: »Schematisierung und Traditionscharakter sind von vornherein Kategorien der Wechselwirkung zwischen dem Tätigkeitscharakter des Schreibens und dem des Lesens.« Der Akt des Lesens begleitet Ricœur zufolge »die Konfiguration der Erzählung und aktualisiert ihre Nachvollziehbarkeit«, denn eine Geschichte nachzuvollziehen bedeutet, »sie lesend zu aktualisieren«; es wird sogleich auf den Akt des Lesens zurückzukommen sein, der sich auf Ebene der Mimesis III vollzieht. 202 Zunächst bleibt festzuhalten, dass die Provokation Ricœurs nicht nur darin besteht, dem Schematismus ein historisches Fundament zu unterlegen 203 – Schematisierung und Traditionscharakter stehen stets in Wechselwirkung miteinander –, sondern auch und vielleicht viel eher darin, die kantische Hierarchie der beiden reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit im Kontext der Narrativitätstheorie auf den Kopf zu stellen: Der metaphorisch erschlossene Raum stellt das historisch bedingte Fundament bereit, auf dem die Zeit zu refigurieren allererst möglich wird. Die Metapher liegt der narrativen Funktion zugrunde, die Vermittlung zwischen beiden leistet der narrative Schematismus, dessen Orientierung sich bei Ricœur im Gegensatz zum kantischen Schematismus umkehrt. Der narrative Schematismus sieht sich nicht mehr wie der Schematismus im Kontext der Transzendentalphilosophie Kants von der reinen Anschauungsform der Zeit auf die des Raumes verwiesen, sondern vom Raum auf die

202 203

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 121. Vgl. Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, S. 312 f.

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Zeit – im Kontext der Narrativitätstheorie Ricœurs sind Raum und Zeit kulturell tradiert und geschichtlich bedingt. 204 Als Bedeutungsmatrix der schöpferischen Einbildungskraft orientiert und koordiniert der Schematismus der narrativen Funktion die Sinnstrukturen einer Erzählung, die, getragen von der Referenzfunktion der Sprache, auf die Wirklichkeit verweisen und auf Ebene der Mimesis III Bedeutung annehmen. Im Akt des Lesens bezieht der Leser die über die Referenzfunktion der Erzählung eröffnete Welt auf sich und verortet sich in dieser. Diese Erzählungen und Texte zu verstehen bedeutet, die Welt, die die Fiktion entwirft, als Möglichkeit der Gestaltung der eigenen Welt und des eigenen Selbst wahrzunehmen. Diese möglichen Welten der narrativen Fiktion sind nicht bloße Fiktionen, sondern stellen uns mögliche Existenzweisen in Aussicht. Vermittelt über die Fiktion ist das, »was in einem Text interpretiert wird, der Vorschlag einer Welt […], in der ich wohnen und meine eigensten Möglichkeiten entwerfen« kann. 205 Die Mimesis III entfaltet eine mögliche Welt, die der Leser sich aneignen kann – und diese Welt ist stets »eine kulturelle Welt«. 206 Das Anliegen der Hermeneutik der narrativen Identität Ricœurs richtet sich nicht auf »die Absicht des Autors hinter dem Text«, sondern auf die Explikation des Vorgangs, »durch den ein Text eine Welt gleichsam vor sich ausbreitet«, der eben dadurch einen möglichen Existenzhorizont vor uns entfaltet, innerhalb dessen wir uns die Möglichkeiten, die die Konfiguration eröffnet, anzueignen imstande sind. 207 Diese Explikation als Bedingung der Möglichkeit zur Aneignung und Ausbildung einer

204 Damit soll nicht behauptet werden, dass Ricœur sucht, die kantische Transzendentalphilosophie außer Kraft zu setzen; es handelt sich hierbei lediglich um einen Perspektivwechsel: Raum und Zeit werden nicht als reine Anschauungsformen im Kontext einer Transzendentalphilosophie in den Blick genommen, sondern als kulturell tradierte und historisch bedingte Formen, die unsere Art und Weise bestimmen, wie wir Geschichte schreiben und fiktive Erzählungen konfigurieren. Über die Geltung und Legitimität von Raum und Zeit im Kontext einer Transzendentalphilosophie sagt die Narrativitätstheorie und Hermeneutik nichts aus und bestreitet diese auch nicht. Wie dargestellt findet dieser Wechsel der Hierarchie von Raum und Zeit im Übergang von der Ebene der Mimesis I zur Mimesis II statt, d. h. von der Präfiguration menschlicher Handlungen und Zeitlichkeit zu deren Konfiguration, und ist die Voraussetzung zu deren Refiguration, d. h. zu deren Aneignung. 205 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 127. 206 Ebd., S. 86. 207 Ebd., S. 127.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

narrativen Identität vollzieht sich auf Ebene der Mimesis III als Refiguration der Zeit.

4.3.5. Die Refiguration (Mimesis III): Auf dem Weg zur Aneignung Auf Ebene der Mimesis III kommt die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung zum Tragen, die Ricœur Husserl entlehnt. 208 Ricœur überträgt diese erstens auf die Referenzfunktion kultureller Werke. Zweitens kommt es mit der Refiguration zu einer Erweiterung bzw. Explikation der Referenzfunktion der Metapher um eine ontologische Dimension. Diese bildet die Grundlage für die Ausbildung der narrativen Identität. Das Ziel und Anliegen der mimetischen Tätigkeit liegt für Ricœur »nicht allein im dichterischen Text, sondern auch im Zuschauer oder Leser«. 209 Die Mimesis III bildet das Nachher der Konfigurationstätigkeit. Es gilt, die Mimesis I und das konfigurierte Werk an die Stelle des psychischen Innenlebens eines Autors zu rücken; wir erleben nicht das psychische Innenleben eines Autors nach, wenn wir Texte interpretieren, sondern beziehen uns im Zuge dessen auf die dem Text immanenten Sinnstrukturen; interpretieren wir, dann aktualisieren wir diesen Sinn, er wird zur Bedeutung. Aus der Perspektive, die das Werk bzw. der Text auf den kulturellen Kontext bietet, lässt sich dieser in dem Maße erschließen, in dem dieser das Werk geprägt hat und in dieses eingegangen ist. An diesem Punkt jedoch macht die Hermeneutik Halt. Die Motivationsrückhalte und Beweggründe des Urhebers lassen sich aus einem Werk nicht ableiten, ein Rückfall in einen Psychologismus, wie Ricœur diesen Dilthey attestiert, wird dadurch verhindert. 210 Die Mimesis III beugt der Gefahr vor, dass die Erzählung sich als ein autonomes Reich vor der Wirklichkeit verschließt, wie Ricœur dies in der strukturalen Linguistik realisiert, die die Sprache als System Sprache (langue) und damit als autonom behauptet. 211 Jede Poetik, »deren Hauptakzent auf den immanenten Textstrukturen 208 209 210 211

Vgl. Kap. 2.1.2. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 78. Vgl. hierzu Ricœur: La tâche de l’herméneutique, S. 81–87. Vgl. Kap. 4.2.

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liegt«, geht Ricœur zufolge zugleich zwangsläufig über die Abgeschlossenheit bloß werkimmanenter Strukturen hinaus. 212 Die Mimesis III ist ihrer Funktion nach gerade die Überschreitung der Immanenz eines Werkes. Erst das Zusammenspiel aus den drei Formen der Mimesis bannt, was Ricœur in der Lebendigen Metapher als »Gespenst des Relativismus« bezeichnet, insofern erst zwischen Werk und Leser für Ricœur die dissonante Konsonanz als eine kohärente und in sich konsistente Sinnstruktur entsteht. 213 Die Erzählung als dissonante Konsonanz ist »ihrem Wesen nach das gemeinsame Produkt von Werk und Publikum«, sie hebt von einem kulturellen Hintergrund ab und ist auf die Kultur des Rezipienten hin orientiert, d. h. auf dessen Wirklichkeit als eine Wirklichkeit menschlichen Handelns. 214 Sie gleitet damit nicht in einen Relativismus ab, sondern sorgt für Orientierung, d. h. sie ermöglicht Positionierung aufseiten des Lesers. Die Mimesis III bildet den »Schnittpunkt zwischen der Welt des Textes und der des Zuhörers oder Lesers«. Erst mit Erreichen der Ebene der Mimesis III erhalten die drei Stufen der Mimesis ihren »letzten Sinn«, so Ricœur. 215 Erstens nimmt der Akt des Lesens den Konfigurationsakt auf und bringt diesen zu einem Abschluss. In der Wechselwirkung aus Schreiben und Lesen, Produktion und Rezeption, Schematisierung und Traditionscharakter entsteht das Werk: »Eine Geschichte mitvollziehen heißt, sie lesend zu aktualisieren.« Der Sinn, der immanent im Werk beschlossen liegt, wird im Akt des Lesens aktualisiert und nimmt für den jeweiligen Leser Bedeutung an. Auf der einen Seite bestimmen die Paradigmen, sedimentiert in Form des kulturellen Hintergrunds, die Erwartungshaltung des Lesers, auf der anderen Seite bringt der Leser das Werk überhaupt erst zu einem Abschluss: Der Akt des Lesens »begleitet […] die Konfiguration der Erzählung Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 81. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 162. Die dissonante Konsonanz als eine kohärente und in sich konsistente Sinnstruktur stellt der Leser her. Immanent weist die Erzählung nach wie vor Unstimmigkeiten und einen Sinnüberschuss auf, die zusammengenommen ermöglichen, dass die Fabel immer wieder rezipiert und neu konfiguriert werden kann. Die Spannung zwischen der Konsonanz und der Dissonanz bleibt somit bestehen und wird nicht aufgelöst (vgl. Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn, S. 124–126). 214 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 85. 215 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 113 f. 212 213

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und aktualisiert ihre Nachvollziehbarkeit«. »Der Text wird erst in der Wechselwirkung zwischen Text und Rezipienten zum Werk.« 216 Wie bereits angedeutet steht an dieser Stelle Ricœurs Übertragung der husserlschen Unterscheidung von Sinn und Bedeutung auf seine Werk- und Texthermeneutik im Hintergrund. Der Sinn eines Werkes ist dem Werk immanent und entsteht aus dem Zusammenspiel von Mimesis I und Mimesis II. Der Sinn nimmt das Vorverständnis der Kultur als kulturellen Kontext in sich auf und weist zugleich einen Status der Idealität auf. Aufgrund dessen setzt sich der Sinn des Werkes seinem kulturellen und geschichtlichen Kontext zum Trotz, über die Zeit hinweg und kann als ein und derselbe identifiziert und jederzeit reaktiviert werden und dies von beliebig vielen Rezipienten. 217 Der Sinn eines Werkes bleibt idealer Zielpunkt der Rezeption. Er wird vom Leser rezipiert und im Zuge dessen als Bedeutung aktualisiert. Der Akt des Lesens fungiert Ricœur zufolge als Operator, der die Ebene der Konfiguration mit der der Refiguration verbindet. 218 Ricœur sieht in dieser Tätigkeit das Vermögen der Urteilskraft am Werk: Das Urteil selbst besteht in einem synthetischen Akt, der die Mannigfaltigkeit der Handlung in der Einheit einer Erzählung zusammenführt. Das Werk ist dann das gemeinsame Produkt von Produzent und Rezipient. Im Akt des Lesens sieht sich die Erfahrung auf das Typische und Allgemeine der Erzählung verwiesen, die Erzählung nimmt dadurch »Modellcharakter« an. 219 Der Leser erkennt in der Erzählung typische Muster und Strukturen, Paradigmen wieder, die er auf die eigene Erfahrung zu beziehen imstande ist. Die Erzählung fungiert insofern als Modell, als sie Handlungen typisiert, d. h. in Allgemeinheit abbildet. Sie präfiguriert, was der Leser rezipiert bzw. refiguriert. Die Paradigmen verleihen der Erzählung einen Traditionscharakter und gewährleisten Nachvollziehbarkeit, der Akt des Lesens aktualisiert diesen Traditionscharakter und gibt ihm Bedeutung: Er setzt die Wechselwirkung zwischen Tradition bzw. Sedimentierung und Innovation in Bewegung, die ihrer Möglichkeit nach auf die metaphorische Referenz zurückgeht.

216 217 218 219

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 121 f. Vgl. Ricœur: Appropriation, S. 184, 192. Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 122. Ebd., S. 121.

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Die narrative Funktion

Die praktische Funktion der Mimesis liegt für Ricœur darin, dass die narrative Funktion auf Grundlage der Mimesis nicht nur darstellt, abbildet und beschreibt, sondern eine mögliche Welt erschafft, die die Handlungen des Lesers ihrerseits zu präfigurieren und im Prozess der Refiguration zu leiten imstande ist. Die Erzählung dient dann als Muster, an dem wir uns ein Beispiel nehmen können. Das produktive Moment aktiver Gestaltung der Mimesis III liegt darin begründet, dass die Mimesis III die Handlungen fiktiver Charaktere nicht lediglich abbildet, sondern den Handlungen des Rezipienten in seiner Wirklichkeit Orientierung geben kann. Ricœur veranschaulicht dies anhand der Referenzfunktion der Sprache und der Metapher: Die Referenzfähigkeit der Sprache erschöpft sich nicht in ihrer deskriptiven Funktion. Sie steht nicht lediglich im Dienst einer bloß nachahmenden Funktion und bleibt damit nicht auf die Immanenz der Sprache und des Werkes restringiert. Vielmehr weist die poetische Sprache einen ihr eigenen Referenzmodus auf: die metaphorische Referenz, die sich auf die Welt bezieht, die das Werk entfaltet. Die metaphorische Referenz führt dadurch einen Ereignischarakter herbei, d. h. sie lässt die Sprache in den Dialog mit der Wirklichkeit des Lesers eintreten. »Ereignischarakter und […] Dialogfunktion« erschöpfen sich jedoch noch nicht darin, dass eine Wirklichkeit adressiert wird und »jemand das Wort ergreift«. Die metaphorische Referenz zielt vermittelt über den Ereignischarakter und die Dialogfunktion darauf ab, »eine neue Erfahrung zur Sprache bringen«. 220 Die Metapher ermöglicht es aufgrund ihrer Referenzfunktion, neue Erfahrungen zu artikulieren. Sie vermittelt Sinn und Bedeutung insofern miteinander, als jede Aktualisierung eines werkimmanenten Sinns als Bedeutung einen für den Leser neuen Erfahrungsraum aufschließt. Die neu gewonnenen Erfahrungen überführt die Metapher in das Reich der Sprache und der möglichen Welt, die sie eröffnet – »auf den Trümmern des wörtlichen Sinnes« stellt die metaphorische Referenz eine »neue semantische Pertinenz« her. 221 Sie verweist nicht bloß auf eine Welt, sondern wirkt zurück auf die Sprache und vermittelt neue Erfahrungen und den bestehenden Status der Sprache miteinander; doch sie bereichert die Sprache nicht nur, sondern führt

220 221

Ebd., S. 123. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 226.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

darüber hinaus zu einer Ontologisierung der poetischen Sprache, die die narrativen Gestaltungsmöglichkeiten als mögliche Existenzweisen begreift – diese narrativen Gestaltungsmöglichkeiten sind nicht mehr nur bloße Fiktion. Die »ontologische Voraussetzung der Referenz« besteht Ricœur zufolge darin, dass die Sprache »keine Welt für sich« ist bzw. »überhaupt keine Welt«, sondern stets auf eine Wirklichkeit verweist. Den Begriff der Welt fasst Ricœur als die Gesamtheit der Referenzen, die die Referenzfunktion eines Werkes aufschließt. Die metaphorische Referenz ermöglicht es, vormals Unbekanntes in die bestehende Wirklichkeit des Rezipienten zu integrieren, so auch die durch die Referenzen des Werkes aufgeschlossenen Möglichkeiten. Sie verbindet bereits Bekanntes, d. h. sedimentierte Paradigmen, mit neuen Erfahrungen des Lesers. Die neuen Erfahrungen prägen zugleich die Interpretation des Werkes und die Handlungen des Lesers innerhalb der Wirklichkeit. Es ist maßgeblich diese Funktion der metaphorischen Referenz, die auf diese Ontologie im Sinne Ricœurs führt. Diese Ontologie ist eine Ontologie der Möglichkeit einer Welt und der zeitlichen Refiguration in ihr, einer Welt, die narrativ entfaltet wird und ihren Zielpunkt aufseiten des Lesers hat: »Was ein Leser rezipiert, ist nicht nur der Sinn des Werkes, sondern durch seinen Sinn hindurch seine Referenz, also die Erfahrung, die es zur Sprache bringt, und letztlich die Welt und ihre Zeitlichkeit, die es vor sich entfaltet.« 222 Die Hermeneutik Ricœurs möchte »den Vorgang explizieren […], durch den ein Text eine Welt gleichsam vor sich ausbreitet«. Im Zuge dessen öffnet sich nicht nur eine mögliche Welt, sondern diese Welt ermöglicht darüber hinaus, neue »Aspekte unseres In-der-Welt-seins« zu entdecken, neue Möglichkeiten der eigenen Existenz aufzuschließen. Die metaphorische Referenz eröffnet die Möglichkeit für »ein radikaleres Vermögen der Referenz«. In dieser neugewonnenen Radikalität rückt sie gerade jene Aspekte unseres Verhaltens in und unseres Umgangs mit der Wirklichkeit in den Blick, »die nicht direkt ausgedrückt werden können«. 223 Diese Möglichkeit schafft erst die lebendige Metapher, die imstande ist, neuen Erfahrungen zur Sprache zu verhelfen. Zu diesen Aspekten gehört auch die zeitliche Erfahrung,

222 223

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 123 f. Ebd., S. 126 f.

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Die narrative Funktion

für die angesichts ihrer paradoxen Struktur die Sprache fehlt und die im Kontext der Narrativitätstheorie auf den Strukturen gründet, die die metaphorische Referenz stiftet. Die Funktion der Metapher eröffnet die Möglichkeit zur Refiguration der Zeiterfahrung, sie koordiniert diese selbst jedoch nicht. An dieser Stelle greift die narrative Funktion: Sie refiguriert auf Ebene der Mimesis III die Handlungen und deren zeitliche Struktur. Der Funktion der Metapher in ihrer ontologischen Erweiterung ist die narrative Funktion an die Seite zu stellen, insofern die narrative Funktion »die Welt in ihrer zeitlichen Dimension in dem Maße neubedeutet (résignifie), wie erzählen, rezitieren ein Nachvollzug der Handlung ist, zu dem die Dichtung auffordert«. 224 Die narrative Funktion umfasst die dreifache Mimesis, die produktive Einbildungskraft und den narrativen Schematismus; mit diesen Begriffen ist das Grundgerüst von Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität geschaffen. Im Folgenden ist mit Ricœur die Vermittlung der beiden großen narrativen Modi unserer Kultur nachzuzeichnen: die Vermittlung zwischen Geschichtsschreibung und Fiktion. Diese Vermittlung führt im Anschluss auf eine Phänomenologie der Zeit, über die Ricœur sucht, ebenjenem Anspruch gerecht zu werden, den Blumenberg mit dem vierten Wirklichkeitsbegriff intendiert: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander zu vermitteln, um so Erinnerung und Erwartung im Kontext seiner Hermeneutik wechselseitig aufeinander beziehen zu können. 225 Aus diesen Vermittlungen von Geschichte und Fiktion, von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft entspringt die narrative Identität. Wenngleich diese Form der Identität sich der Offenheit ausgesetzt sieht, die die Vermittlung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit sich bringt, und damit ihrerseits offen bleibt, bietet sich mit der narrativen Identität Ricœurs doch ein Begriff an, der der Unbestimmtheit des Identitätsbegriffs, wie dieser von Blumenberg ausgewiesen wird, schärfere Konturen verleihen kann.

224 225

Ebd., S. 128. Vgl. Kap. 3.6.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

4.4. Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit Der Weg zur Ausbildung einer narrativen Identität führt Ricœur in einem nächsten Schritt von einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Theorien der Geschichtsschreibung über eine nicht minder differenzierte Auseinandersetzung von semiotischen Ansätzen sowie Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts bis hin zu einer Phänomenologie der Zeitlichkeit. Diese Schritte sind mit Ricœur im Folgenden insoweit nachzuvollziehen, als sie für die Handlungstheorie Ricœurs sowie den Begriff der narrativen Identität von Bedeutung sind. In einem ersten Schritt wird Ricœurs Konfrontation der Geschichtsschreibung mit der Narration verfolgt (Kap. 4.4.1.). In Frage steht für Ricœur an diesem Punkt, inwieweit die Geschichtsschreibung narrative Elemente enthält, obwohl sie doch allem Anschein nach einen Wahrheitsanspruch erhebt, der fernab der literarischen Fiktion zu liegen scheint. Wenngleich die Frage nach dem Wahrheitsanspruch der historischen Darstellungsweise bzw. der Geschichte im Folgenden nicht explizit nachgegangen wird, so sei dennoch darauf verwiesen, dass Ricœur an diesem Punkt die Auseinandersetzung mit einem Thema fortsetzt, das ihn zeitlebens beschäftigt hat und nicht nur bereits die frühe Aufsatzsammlung Geschichte und Wahrheit bestimmt, sondern noch sein letztes großes Werk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen prägt. In Geschichte und Wahrheit fällt auch das für die vorliegende Untersuchung titelgebende Stichwort der gelebten Geschichte (l’histoire vécue). Die gelebte Geschichte ist für Ricœur zum einen die von den Menschen gelebte Geschichte, die keine Ordnung und keinen Sinn erkennen lässt. Die gelebte Geschichte erscheint vollkommen kontingent, in ihr zeigen sich »die Gewalt, der Wahnsinn, die Macht, die Begierde«. 226 Zum anderen ist die gelebte Geschichte für Ricœur die zur Darstellung gebrachte Geschichte, die die singulären historischen Ereignisse in eine verständliche Darstellung überführt. 227 Die gelebte Geschichte steht für Ricœur für das Zusammenspiel aus Subjektivität und Objektivität der geschichtlichen Darstellung, für die 226 Paul Ricœur: Philosophiegeschichte und Geschichtlichkeit [1961], in: ders.: Geschichte und Wahrheit [1955], übers. von Roman Leick. List: München 1974, S. 70– 87, hier S. 74. 227 Vgl. ebd., S. 86.

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Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit

Macht, den Wahn und die Begierde auf der einen und den Anspruch, die subjektive und singuläre Ereignishaftigkeit trotz allem in eine objektive Darstellung zu überführen auf der anderen Seite. Ricœurs Augenmerk gilt auch hier bereits dem Zusammenhang von Geschichte und Kultur sowie der Frage, wie der Prozess der Traditionsbildung als ein lebendiger Prozess der Sinnbildung verstanden und als ein solcher lebendig fortgeführt werden kann. 228 Ricœurs Referenzautoren dieser frühen Aufsätze aus den 1950er und 1960er 229 Jahren sind maßgeblich Hegel und Marx, eine Hermeneutik der narrativen Identität ist an dieser Stelle noch nicht explizit am Werk, ebenso wenig die Handlungstheorie, wie sie Ricœur in Zeit und Erzählung ausarbeitet und auf die es im Folgenden ankommt. Geschichte und Wahrheit ist geprägt von der zu Beginn dargestellten Symbolhermeneutik, d. h. einer philosophischen Hermeneutik, die sich zwischen einer Archäologie und einer Eschatologie zu konstituieren sucht. 230 Dass dem Stichwort der gelebten Geschichte – mehr als ein Stichwort ist es bei Ricœur nicht – zuvor mit Blumenberg nachgegangen wurde, obgleich sich dieser Begriff in seinem Werk nicht findet, hat seinen Grund darin, dass Blumenberg einer gelebten Geschichte der Sache nach im Kontext einer Hermeneutik nachspürt, in deren Zentrum darüber hinaus die Metapher steht. Mit Blumenberg ermöglicht eine Reflexion auf die Metaphern, was Ricœur mit dem Stichwort der gelebten intendiert, wenn auch unter andere Vorzeichen: Das subjektive Moment der gelebten Geschichte zur Darstellung zu bringen. Was bei Blumenberg die Dynamik der Geschichte konstituiert, bedingt bei Ricœur die Möglichkeit zur Ausbildung einer narrativen Identität: die Metapher. Es wird am Ende der vorliegenden Untersuchung noch einmal darauf zurückzukommen sein.

228 Vgl. exemplarisch Paul Ricœur: Weltzivilisation und nationale Kulturen [1961], in: ders.: Geschichte und Wahrheit [1955], übers. von Roman Leick. List: München 1974, S. 276–293, hier S. 288 f. Die Frage der Möglichkeit einer lebendigen Traditionsbildung (tradition vivante) ist eine der Kernfragen, die Ricœur umtreibt und durchaus noch Zeit und Erzählung bestimmt (vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 349). 229 Ricœur hat Geschichte und Wahrheit in drei Auflagen veröffentlicht (1955, 21964, 31967) und bis zur dritten Auflage sukzessive um weitere Artikel erweitert. 230 Vgl. hierzu Roman Leick: Einleitung. Paul Ricœur und die Wahrheit der Existenz, in: Paul Ricœur: Geschichte und Wahrheit [1955], übers. von Roman Leick. List: München 1974, S. 9–30.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

Im Folgenden werden mit Ricœur in einem ersten Schritt die narrativen Implikationen der Geschichtsschreibung dargestellt und im Zuge dessen die der narrativen Identität zugrundeliegende Handlungstheorie entwickelt. In einem zweiten Schritt gilt es, die narrative Fiktion in den Blick zu nehmen – im Bereich der Fiktion bietet sich die Möglichkeit, die Zeit unabhängig von der Wirklichkeit und deren Zeitmaß zu variieren; es zeichnet damit die Möglichkeit zur Refiguration der Zeit ab. Ricœur führt dies über verschiedene Erzähltechniken anhand verschiedener Romane vor. Zwei dieser Interpretationen Ricœurs, Virginia Woolfs Mrs. Dalloway und Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, werden im Folgenden in den Blick genommen (Kap. 4.4.2.); kann das Beispiel Mrs. Dalloway gut veranschaulichen, inwieweit die narrative Fiktion die Zeit zu konfigurieren imstande ist, so macht Ricœur bei Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Anleihen, die seine eigene Hermeneutik der narrativen Identität nachhaltig prägen. In einem dritten Schritt greift Ricœur die mit Augustinus anfänglich diagnostizierte Aporie der Zeiterfahrung erneut auf, um sie über eine Phänomenologie der Zeitlichkeit, die er maßgeblich in Auseinandersetzung mit Heidegger entwickelt, an ihre Grenze zu führen (Kap. 4.4.3.). Ricœur selbst möchte zeigen, dass die Narrativität ihr ganzes Potenzial dort entfaltet, wo Theorie und Spekulation mit Blick auf die Frage der Zeitlichkeit an ihre Grenzen stoßen. Im Zuge der Darstellung dieser Phänomenologie der Zeitlichkeit gilt es, zwei Begriffe herauszuarbeiten, die Ricœur seiner eigenen Hermeneutik integriert: den Begriff der Geschichtlichkeit und den der Wiederholung; insbesondere der heideggersche Begriff der Wiederholung lässt sich erst in Anschluss an Ricœurs Interpretation von Prousts Werk deutlich herausstellen. Wenngleich die Phänomenologie der Zeitlichkeit die Aporie der Zeiterfahrung, wie sie bisher von Ricœur entwickelt wurde, nur potenziert, so werden doch im Folgenden über die Auseinandersetzung mit der Geschichte und der Fiktion die Grundlagen zur Ausbildung der narrativen Identität geschaffen. Diese Grundlagen bestehen darin, die beiden »großen Modi des Narrativen« unserer Kultur, Geschichte und Fiktion, gemeinsam in eine Hermeneutik zu überführen, der zusätzlich die Begriffe der Geschichtlichkeit und der Wiederholung zu integrieren sind. 231 231

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 339.

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Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit

4.4.1. Geschichte und Narrativität: Die Geschichte als Kontingenzraum Die Geschichtswissenschaft ist Ricœur zufolge indirekt mit der narrativen Konfiguration verknüpft: Sie ist für Ricœur eine »zweideutige, halb literarische, halb wissenschaftliche Disziplin«. Seine Aufgabe sieht Ricœur darin, die narrativen Strukturen und Elemente herauszuarbeiten, die der Arbeit des Historikers zugrunde liegen, um den »Ableitungszusammenhang« zu rekonstruieren, kraft dessen die Geschichtsschreibung sich aus der Mimesis II herleitet und dadurch mit den zeitlichen Strukturen der Wirklichkeit verbunden ist. 232 Das Gelingen dieses Vorhabens bildet die Voraussetzung dafür, Geschichte und Narrativität bzw. Fiktion zusammendenken zu können. Das Problem der modernen Geschichtstheorie entsteht für Ricœur an dem Punkt, an dem wir zugestehen müssen, dass wir historische Ereignisse dadurch erklären, dass wir sie auf Ursachen zurückführen und die historische Entwicklung in der Darstellung durchaus teleologisch abbilden; wir suchen nach Ursachen, um historische Ereignisse zu erklären und zu verstehen und lassen ausgehend von diesen Ursachen Handlungen und Ereignisse auf das Ereignis zulaufen, das es zu erklären gilt. Wir unterlegen der geschichtlichen Entwicklung damit kausale und teleologische Strukturen. Die ganze Schwierigkeit liegt für Ricœur darin, dass diese kausalen und teleologischen Strukturen gerade nicht mit einem naturwissenschaftlichen Verständnis von Kausalität vereinbar sind; wäre die historische Entwicklung determiniert, dann müssten wir lediglich die im Hintergrund wirkenden Gesetze ausfindig machen, um die historische Entwicklung zu erklären und vorhersagen zu können. 233 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 137 f. Den Ausgangspunkt von Ricœurs Überlegungen bildet das deduktiv-nomologische Modell Hempels, das bereits in der Einleitung kurz dargestellt wurde. Im Hintergrund der Überlegungen Ricœurs steht die im Kontext der Geschichtstheorie des 20. Jahrhunderts bereits klassisch gewordene Auseinandersetzung zwischen Hempel und William Herbert Dray – letzterer unterzieht das positivistische Geschichtsmodell Hempels einer eingängigen Kritik (vgl. William Herbert Dray: Laws and Explanation in History [1957]. Oxford University Press: London 1960 (Nachdruck) sowie zur Auseinandersetzung zwischen Hempel und Dray Angehrn: Geschichte und Identität, S. 115–124). Die Debatte selbst ist nicht von Interesse für den weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung, entscheidend ist, dass Ricœur sucht, narratives Verstehen und historisches Erklären aufeinander zu beziehen und zu diesem Zweck an das von Georg Henrik von Wright entwickelte Modell kausaler Erklärung anschließt, 232 233

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In Frage steht für Ricœur, welcher Art die kausalen und teleologischen Strukturen sind und wie diese in die Darstellung der Geschichte einbezogen werden. In einem ersten Argumentationsschritt sucht Ricœur zu verdeutlichen, dass wir in der Wirklichkeit, in der wir handeln, nicht in demselben Sinne von Gesetzen sprechen, wie wir dies mit Blick auf die Gesetze der Naturwissenschaften tun. Die Annahme, unsere Wirklichkeit, in der wir handeln, unterliege denselben Gesetzen, wie wir diese auf die Natur anwenden, stellt für Ricœur weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung zur Analyse geschichtlicher Entwicklung dar. Wenn wir eine Ereigniskette rekonstruieren und auf ihre Ursache zurückführen, um sie zu erklären, dann ist eine solche Erklärung noch nicht hinreichend, da sie sich nicht dazu eignet, weitere Ereignisse vorherzusagen, selbst wenn diese unter ähnlichen Bedingungen entstünden. Ricœur veranschaulicht dies anhand des Beispiels eines beschädigten Motors: »Um die Ursache auf einen Ölverlust zurückzuführen, genügt es nicht, die verschiedenen in Frage kommenden physikalischen Gesetze zu kennen; man muß außerdem eine kontinuierliche das sich in diese Debatten einreiht. Dieses Modell, das Ricœur von Wright entlehnt, dient ihm dazu, die mechanische Vorstellung von Ursache-Wirkungs-Verhältnissen innerhalb der Geschichte, wie es Hempel durchaus nahelegt, zu verabschieden. Im Gegenzug gilt es für Ricœur, deutlich zu machen, dass historische Ereignisse nicht monokausalen Strukturen unterworfen sind, sondern in der Relation von Wirklichkeit und Möglichkeit und damit auf dem Boden der Kontingenz stehen – Angehrn spricht in Anschluss an Luhmann von einem Funktionalismus, der kritisch wider das deduktiv-nomologische Modell gerichtet ist und exakt dies leisten soll, so dass die geschichtliche Erfahrung zur Kontingenzerfahrung wird, d. h. zu einer Erfahrung des Wirklichen im Horizont des Möglichen (vgl. Angehrn: Geschichte und Identität, S. 122 f.). Historische Ereignisse sind damit nicht determiniert und vorhersagbar, sondern kontingent und zu rekonstruieren. Dieses Moment der Rekonstruktion, und darauf kommt es im Folgenden an, ermöglicht es Ricœur, in einer schwächeren Form von teleologischen und kausalen Strukturen zu sprechen, die im Zuge der Darstellung eines historischen Ereignisses zur Geltung kommen; die Darstellung des Ereignisses selbst erscheint dann als eine unter anderen möglichen, mit Angehrn gesprochen: »Im Blick steht nicht in erster Linie die Ursache, die für das Eintreten eines bestimmten Ereignisses verantwortlich ist, sondern dasjenige, was das infrage stehende Phänomen zu dem macht, was es ist.« (Angehrn: Geschichte und Identität, S. 139) Angern selbst ist in seiner Schrift Geschichte und Identität darauf aus, dem deduktiv-nomologischen Modell Hempels alternative Modelle entgegen zu stellen, die Ereignisse als kontingente, nicht gesetzlich determinierte historische Tatsachen zu analysieren imstande sind (vgl. ebd., S. 109–230). Angehrns Vorhaben übersteigt den Rahmen der vorliegenden Untersuchung jedoch, die von Ricœur entwickelte Alternative wird von Angehrn nicht diskutiert.

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Folge von Vorfällen zwischen dem Ölverlust und der Motorbeschädigung feststellen können.« Es kommt an diesem Punkt auf die kontinuierliche und lückenlose Ereigniskette an, um die Ursache ausfindig zu machen: Den Ölverlust als Ursache des beschädigten Motors identifiziert und damit die Ereigniskette, die zur Beschädigung des Motors geführt hat, lückenlos rekonstruiert zu haben, bedeutet noch nicht, dass ein beschädigter Motor ein jedes Mal einen Ölverlust zur Ursache hat. Im Zuge der Rekonstruktion von Ursachen nehmen wir in einem solchen Fall »Ereignisse niedrigster Stufe« an, an der die Frage nach den Ursachen Halt macht; diese Ereignisse niedrigster Stufe lassen eine Abfolge erkennen, »die keine anderen niederstufigen Ereignisse als die genannten zuläßt«. Ist die Ereigniskette geschlossen, fragen wir nicht weiter hinter die identifizierten Ursachen zurück. Für Ricœur ist jeder Zwischenschritt, der zusätzlich zur Erklärung einer Ursache hinzugezogen wird, um die Lückenlosigkeit und Kontinuität der Erklärung zu gewährleisten, gleichbedeutend mit einer zunehmenden Teilung der Zeit, in der sich das Ereignis vollzogen hat. Diese Teilung endet an dem Punkt, an dem die Ereignisse niedrigster Stufe ausfindig gemacht wurden. Hierin sieht Ricœur eine Analogie zum Verfahren der Erklärung in der historischen Betrachtung: »[D]ie Teilbarkeit der Zeit hört dort auf, wo die detaillierteste Analyse endet«. Wir geben uns mit einer Ereignisfolge zufrieden, wenn sie einen lückenlosen Zusammenhang zu rekonstruieren erlaubt; diese Rekonstruktion formuliert jedoch kein Gesetz, das jederzeit auf weitere empirische Ereignisse übertragbar wäre – stellen wir fest, dass die Ursache für den beschädigten Motor nicht der Ölverlust war, dann müssen wir zwar noch immer auf unser Wissen über mechanische und physikalische Gesetze zurückgreifen, doch wir müssen andere Ursachen ausfindig machen und eine andere Ereignisfolge rekonstruieren. Insofern stets andere oder weitere Ursachen mit im Spiel sind, ist die rekonstruierte Ursache keine hinreichende Bedingung. Darüber hinaus ist die Erklärung historischer Ereignisse durch Gesetze für Ricœur nicht notwendig, da der Historiker singuläre Ereignisse in den Blick nimmt. Diese weisen Details auf, die spezifisch für das entsprechende Ereignis sind und nicht auf andere Ereignisse übertragen werden können. Streng genommen müsste es, wollten wir Gesetze in der Geschichte annehmen, für jedes historische Ereignis ein eigenes Gesetz geben: »Logisch würde nur ein einziges Gesetz den 353 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

Paul Ricœur: Narrative Identität

Historiker binden«. 234 Ein Gesetz, das nur einen empirischen Fall abdeckt, ist jedoch kein Gesetz. Die Erklärung des Historikers untersteht damit, so Ricœur, gar keinem Gesetz. Dies lässt sich noch daran beobachten, dass zwei Historiker, die ein und dasselbe Ereignis zu erklären suchen, unterschiedliche Erklärungen finden, abhängig von den Faktoren, die sie in die Untersuchung einbeziehen. 235 Wenn die historische Erklärung trotz allem hinreichende und notwendige Bedingungen zu Rate zieht, die nicht die Form von Gesetzen annehmen, dann gilt es, ein schwächeres Modell von kausaler Verursachung und teleologischen Strukturen zu entwickeln als das naturwissenschaftliche Modell. Ricœur spricht in einem ersten Schritt deshalb von einer »kausale[n] Kriteriologie«, die »zwei Prüfungen« umfasst, die die Erklärung des Historikers zu einer kausalen machen: Die erste Prüfung erfolgt induktiv, d. h. »der fragliche Faktor muß wirklich notwendig sein; […] ohne ihn wäre das zu erklärende Ereignis nicht eingetreten«. Die zweite Prüfung ist pragmatisch: »[E]s muß einen Grund geben, die fragliche Bedingung unter denen auszuwählen, die alle zusammen die hinreichende Bedingung des Phänomens bilden«. 236 Die Frage nach den Gründen ist bereits eine Frage, die auf die Motivationsrückhalte menschlichen Handelns abzielt und mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht mehr greifbar ist. Wurde zuvor mit Blumenberg der Frage nachgegangen, inwieweit die im Hintergrund menschlicher Handlungen stehenden Motivationsrückhalte einem hermeneutischen Zugriff überhaupt zugänglich sind, so zielt Ricœur an diesem Punkt auf die Frage der Motivationsrückhalte des Historikers ab, anders ausgedrückt: Derjenige, der Geschichte analysiert und darstellt, hat selbst Gründe, diese oder jene Ereignisse und Handlungen als Ursachen anzunehmen, andere hingegen nicht. Die Berücksichtigung der pragmatischen Dimension bezieht den Historiker als Akteur in die Rekonstruktion und Darstellung von Geschichte ein. In Anlehnung an Raymond Aron macht Ricœur deutlich, dass die Geschichtsschreibung schon deshalb keinem Ideal der Objektivität verpflichtet sein kann, wie es die mathematischen Naturwissenschaften vorstellen, weil die Rekonstruktion des Geschehenen, stets denjenigen impliziert, der es rekonstruiert. Der Historiker ist 234 235 236

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 183 f. Vgl. ebd., S. 186. Ebd., S. 188.

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Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit

Teil der Darstellung. Dessen Perspektive bestimmt den Blick auf die dargestellte Geschichte – die dargestellte »Geschichte [ist] die Beziehung des Historikers zur Vergangenheit« und der Historiker damit kein »störende[r] Faktor«, der »auszumerzen« und einem Ideal wissenschaftlicher Objektivität zu unterwerfen wäre. 237 Er selbst steht inmitten der notwendigen und hinreichenden Bedingungen, die sich ihm im Zuge der Analyse zeigen und von ihm in die Darstellung überführt werden. Zusammengenommen macht dies das Verfahren der Interpretation aus. Aus diesem Grund spricht Ricœur davon, dass Gesetze »im narrativen Geflecht« der historischen Darstellung »interpoliert werden«. 238 Diese Gesetze liegen der Narration und Geschichte nicht zugrunde, sie determinieren sie nicht. Sie ergeben sich vielmehr im Zuge der Analyse und kommen in der Darstellung zur Geltung, die aufzeigt, unter welchen Umständen es so und nicht anders hat kommen können – und dass es unter anderen Umständen auch durchaus hätte anders kommen können. 239 Die in das narrative Geflecht der Geschichte interpolierten Gesetze stellen einen wahrscheinlichen, wenn nicht gar notwendigen Ereignisablauf her. 240 Entscheidend ist, dass sich an dieser Stelle Geschichtstheorie und Handlungstheorie überschneiden. Indem wir historische Ereignisse erklären, handeln wir: Wir greifen in die Geschichte ein und rekonstruieren die historische Entwicklung. Das zentrale Moment dieser Handlungstheorie entlehnt Ricœur Georg Henrik von Wrights analytischer Geschichtstheorie. Ricœur findet in von Wrights Modell kausaler Erklärung eine Antwort auf die Frage, wie wir kausale und teleologische Strukturen in die Geschichte hineintragen. 241 Ebd., S. 147. Ebd., S. 190. 239 Dies macht Ricœur zufolge im Kern das Verfahren induktiver Prüfung aus: Der Historiker stellt sich in einer Art Gedankenexperiment vor, unter welchen Bedingungen sich der Verlauf der Geschichte nicht anders hat ergeben können, als er sich ergeben hat. Kann eine vermeintlich notwendige Ursache ausgelassen werden und der Historiker kommt zu dem Schluss, dass das Ereignis trotz allem eingetreten wäre, dann handelt es sich nicht um eine notwendige Bedingung (vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 189) und die Suche nach weiteren Bedingungen muss fortgesetzt werden. 240 Vgl. Ricœur: Narrative Identität, S. 213 f. 241 Vgl. Georg Henrik von Wright: Explanation and Understanding. Routledge: London 1971. Während Breitling davon ausgeht, dass Ricœur das Modell von Wrights dem deduktiv-nomologischen Modell Hempels und Oppenheims (vgl. Kap. 1 sowie 237 238

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Paul Ricœur: Narrative Identität

Von Wright spricht vor dem Hintergrund seines Modells kausaler Erklärung, so die Darstellung Ricœurs, zunächst nicht von Ereignissen, sondern von Zuständen, die jeweils für »die Welt in einem gewissen Gesamtzustand« stehen, d. h. einmal für den Gesamtzustand der Welt vor dem Ereignis und einmal für den Gesamtzustand der Welt nach diesem Ereignis. 242 Von Wrights Annahmen führen die Geschichte dadurch weder auf absolute Ursprünge zurück, noch wird sie auf bestimmte Ziele hin orientiert. Der Übergang von einem Zustand zu einem anderen, das Ereignis selbst, ist zunächst nicht von Bedeutung und wird formal als Verknüpfungszeichen dargestellt; ein Zustand p und ein Zustand q sind durch das Symbol T, das Ereignis, miteinander verbunden: pTq. Es geht zunächst nur um die Vorstellung zweier Systemzustände, p und q, die als Fragmente, d. h. als statische Ausschnitte der Geschichte genommen werden. In Frage steht für Ricœur, auf welche Weise diese beiden Zustände kausal aufeinander bezogen werden können. Ricœur unterscheidet zur weiteren Veranschaulichung das Modell der Kausalanalyse von dem der kausalen Erklärung; letztere entspricht dem Modell von Wrights, das Ricœur seiner eigenen Handlungstheorie integriert, erstere steht für das naturwissenschaftliche Verfahren zur Auffindung von Ursachen. Die Kausalanalyse sucht innerhalb eines Systemzustands, einen gegebenen Endzustand auf seine notwendigen und hinreichenden Bedingungen bzw. Ursachen zurückzuführen; es soll nicht die Verbindung von p zu q oder umgekehrt konstruiert werden, vielmehr operiert die Kausalanalyse innerhalb von p oder q und forscht innerhalb von p oder q nach kausalen Zusammenhängen, d. h. innerhalb statischer Zustandsbedingungen. Sind in diesem Fall die notwendigen und hinreichenden Bedingungen aufgewiesen, dann ist es nicht möglich, dass zusätzlich andere Ursachen mit im Spiel waren. Im Gegensatz zur Kausalanalyse operiert die kausale Erklärung nicht innerhalb eines gegebenen Systemzustands p oder q, sondern sucht die Ursachen eines Zustands in einem anderen Welt- bzw. SysAnm. 233, S. 351) zuschlägt und aufgrund dessen ablehnt (vgl. Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn, S. 136), verweist Scharfenberg darauf, dass Ricœur dieses Modell seiner Narrativitätstheorie und dem Modus narrativen Verstehens integriert (vgl. Scharfenberg: Narrative Identität im Horizont der Zeitlichkeit, S. 299– 312, hier insbes. 305–308). Wie im Folgenden gezeigt wird, ist diese Integration unerlässlich für Ricœurs Narrativitätstheorie. 242 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 200.

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Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit

temzustand, um die beiden Zustände p und q miteinander zu vermitteln, sie übersteigt darin die beiden Systemzustände. Die Kausalanalyse nimmt ihren Gegenstand als eine Zusammensetzung aus notwendigen und hinreichenden Faktoren, sie ist progressiv: p’ bringt q’ hervor (innerhalb des statischen Systemzustands p oder q). Die kausale Erklärung hingegen möchte q erklären, indem sie auf p zurückgeht, sie ist regressiv. Von Interesse ist für Ricœur die Struktur der kausalen Erklärung: Der Versuch, historische Ereignisse und Entwicklungen zu erklären, kommt für Ricœur einem Handlungsvollzug gleich, den die kausale Erklärung zu erklären weiß, da sie zwischen den Systemzuständen p und q eine Lücke T lässt und damit Raum für eine Handlungstheorie, die exakt an dieser Stelle ansetzt und in diese Lücke eingreift. Der regressive Weg der kausalen Erklärung ermöglicht dadurch, die Suche, ausgehend von einem Endzustand, nach den entsprechenden Ursachen als einen Eingriff, als eine Handlung zu verstehen. Im Zuge der Erklärung greift der Historiker auf einen bestimmten, in sich geschlossenen Ausgangszustand p zurück. Diese Geschlossenheit und Isolierung von Systemzuständen gewährleistet, dass der Ausgangszustand nicht auf vorausliegende hinreichende Bedingungen zurückgeführt wird. Ein System wird von äußeren kausalen Einflüssen abgelöst, aus dem Weltlauf isoliert und dadurch ein künstlicher Ausgangszustand geschaffen. Innerhalb der Relationen der isolierten Systemzustände lassen sich mögliche Entwicklungslinien erkennen: »Der Akteur lernt dies, indem er das System von einem durch ihn ›herausgelösten‹ Anfangszustand aus in Bewegung setzt.« Für Ricœur ist dieses »In-Bewegung-setzen« ein Eingriff, der nur am »Schnittpunkt« zwischen Akteur und System möglich ist, d. h. für Ricœur, das derjenige, der den Eingriff vornimmt, die Bedingungen des Systems bereits kennen muss, um diesen Eingriff überhaupt vornehmen zu können. 243 Die historische Darstellung ist keine bloße Fiktion, sondern historischen Tatsachen verpflichtet: Die »Bedingung für den Eingriff« liegt »in der Struktur der Systeme selbst«. Dadurch treffen sich, und darauf kommt es Ricœur an, die Begriffe Handlung und Verursachung. Über die Isolierung von Systemzuständen und die kausale Erklärung sieht Ricœur die Möglichkeit gegeben, die Ursache zugleich als eine Handlung zu verstehen, die etwas bewirkt: »Die Idee des Systems schließt 243

Ebd., S. 203.

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somit keineswegs den Eingriff von freien und verantwortlichen Subjekten aus«. 244 Wir sind es, die einen Anfang innerhalb des Ganzen, das wir Geschichte nennen, setzen, indem wir diesen von anderen vorausliegenden Zuständen und möglichen Ursachen isolieren, mit Blumenberg gesprochen: »Anfänge gibt es in der Geschichte nicht; sie werden dazu ›ernannt‹.« 245 Die Handlung, verstanden als Bewirkung und Verursachung, entrückt einem historischen Determinismus. Auf der Grundlage der kausalen Erklärung ist die Handlung »nicht die Ursache ihres Ergebnisses« – wir haben nicht ein historisches Ereignis vor Augen und bilden lediglich ab, wie es sich zugetragen hat –, sondern umgekehrt: »[D]as Ergebnis ist Teil der Handlung«, aber auch nur Teil der Handlung. Das Ergebnis ist das Ergebnis der Interferenz von Handlung und System. Wir erfinden und konstruieren Geschichte nicht nach Belieben, sondern rekonstruieren diese, d. h. ein Ausgangszustand wird mit einem Ergebnis in Verbindung gebracht, die Darstellung dieser Verbindung ist durch einen Eingriff, eine Handlung hervorgebracht worden – und das Ergebnis hat, wie Ricœur betont, »einen nicht-kausalen Sinn«. 246 Wie bereits angedeutet, muss derjenige, der zu erklären sucht, die Bedingungen des Systems kennen, um in das System überhaupt eingreifen und innerhalb des Systems Zustände isolieren zu können. Über diesen Aspekt sucht Ricœur, erklären und verstehen miteinander zu vermitteln, insofern dieses Vorverständnis des Systems auf struktureller Ebene narrative Elemente betrifft, die jeder Geschichtsdarstellung zugrunde liegen: Der historischen Erklärung geht stets das narrative Verstehen voraus, es bildet ein Vorverständnis, das der historischen Erklärung als Leitfaden dient. Wird das Verfahren des Historikers als Handlung verstanden, dann ist die narrative Grundstruktur handlungsleitend für das historische Erklären. Im Hintergrund des Modells kausaler Erklärung, das Ricœur in Anlehnung an von Wright entwickelt, stehen die drei zentralen Merkmale des Mythos: Ganzheit, Geschlossenheit und Kohärenz. Den handlungsleitenden Rahmen bildet die Fabel, denn sie umfasst »als Synthese des Heterogenen […] in einer begreifbaren Totalität

244 245 246

Ebd., S. 201 f. Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin, S. 11. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 204.

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Umstände, Ziele, Interaktionen und ungewollte Resultate«. 247 Das narrative Verstehen ist kein der historischen Erklärung äquivalenter Modus und soll das Verfahren der historischen Erklärung nicht ersetzen, sondern lediglich offenlegen, »auf welcher vorgängigen Verstehensmodalität die Erklärung beruht«. 248 Die Vermittlung der kausalen Erklärung mit dem narrativen Verstehen macht deutlich, dass erklären und verstehen nicht voneinander zu trennen sind, sie finden in ein und demselben Prozess statt. 249 In einem letzten Schritt dieser Handlungstheorie entlehnt Ricœur Arthur Coleman Danto das Modell eines narrativen Satzes, dessen Struktur den Eingriff, den der Historiker im Zuge der kausalen Erklärung vornimmt, veranschaulichen soll. Narrative Sätze beziehen sich in der historischen Erklärung auf zwei Ereignisse bzw. Systemzustände, die zeitlich voneinander getrennt sind und in der Vergangenheit liegen, p und q. Der narrative Satz enthält Ricœur zufolge damit drei Zeitpositionen: erstens das Verhältnis des Ereignisses p, das als Ursache eines anderen Ereignisses q beschrieben wird, zweitens die des beschriebenen Ereignisses selbst, das das erste Ereignis herbeiführt, und drittens die Zeitposition des Erzählers. Mit der historischen Erklärung wird eine, wie Ricœur in Anschluss an Danto sagt, »rückwirkende Neugliederung« durchgeführt. 250 Die Zuschreibung einer Ursache erfolgt nachträglich, d. h. von der Zeitposition des Historikers aus, die aus Perspektive des Ereignisses in der Zukunft liegt: Die kausale Erklärung folgt einer regressiven Struktur. Sie sucht, q auf p zurückzuführen; die Zeitposition des Historikers liegt außerhalb der Struktur pTq und ermöglicht dadurch besagte rückwirkende Neugliederung. Von seiner PerspekEbd., S. 213. Ebd., S. 215. Einen kurzen Überblick zum Zusammenhang von erklären und verstehen im Werk Ricœurs gibt Friedrich von Petersdorff: Verstehen und historische Erklärung, in: Andris Breitling und Stefan Orth (Hrsg.): Erinnerungsarbeit. Zu Paul Ricœurs Philosophie von Gedächtnis, Geschichte und Vergessen (Schriftenreihe des Frankreich-Zentrums der Technischen Universität Berlin, Bd. 9). Berliner Wissenschaftsverlag: Berlin 2004, S. 127–140. 249 Vgl. auch Paul Ricœur: Expliquer et comprendre. Sur quelques connexions remarquables entre la théorie du texte, la théorie de l’action et la théorie de l’histoire [1977], in: ders.: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique, Bd. 2. Éditions du Seuil: Paris 1986, S. 161–182. 250 Arthur Coleman Danto: Analytische Philosophie der Geschichte [1965], übers. von Jürgen Behrens. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1974, S. 270; vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 220. 247 248

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tive bzw. Zeitposition aus überblickt der Historiker die Ereignisse der Vergangenheit. In dieser rückwirkenden Neugliederung sieht Ricœur »die eigentlich narrative Beschreibung der Handlung«, 251 die Geschichte, die daraus resultiert, ist »gerade die Art von Geschichte […], die nur ein Historiker erzählen kann«. Ricœurs Beispiel lautet: »1717 wurde der Verfasser von Rameaus Neffe geboren«. 252 Zur Zeit der Geburt Diderots konnte dieser Sachverhalt nicht zum Ausdruck gebracht werden, erst aus der Retrospektive ist dies möglich: Im Kontext der historischen Erklärung beschreibt der narrative Satz das erste Ereignis, Diderots Geburt, vom Standpunkt des zweiten Ereignisses aus, dem Schreiben des Werkes. Die historische Erklärung folgt der regressiven Struktur der kausalen Erklärung. 253 Dieses Beispiel veranschaulicht auch, dass die historische Erklärung es nicht mit den Motivationen und Intentionen der Personen selbst zu tun hat, über die sie berichtet, ebenso wenig wie sie die Handlungen abbildet, wie diese sich seinerzeit tatsächlich zugetragen haben. Vielmehr schwächt die historische Erklärung, wie Ricœur sagt, »den intentionalen Akzent der Handlung« ab und setzt die Handlung in Verbindung mit späteren Ereignissen. 254 Handlungen stehen, mit Blumenberg gesprochen, in einem Beziehungsgeflecht von Wirkungszusammenhängen. Die Handlung ist als Teil des Ereignisses von Bedeutung, nicht an sich. Die doppelte Referenz des narrativen Satzes zielt auf das ursächliche und auf das darauf folgende Ereignis und rekonstruiert zwischen diesen beiden Polen die Handlung, die von einem Ereignis bzw. Systemzustand zu einem anderen führt. Dies bewahrt die historische Erklärung davor, in einen Psychologismus zurückzufallen; sie steht nicht »im Verhältnis zu den Absichten und den Gründen des Handelnden selbst«, sondern rekonstruiert diese. 255 Die historische Erklärung fragt über die Ereignisse hinaus nach den Gründen, den Motivationen, die einen bestimmten Zustand verursacht und durch Handlungen herbeigeführt haben und rekonstruiert diese über HandRicœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 220. Ebd., S. 218 f. Es scheint als hätte Ricœur hier eine kleine Finte gelegt und auf den dritten Teil von Zeit und Erzählung vorgegriffen, in dem es um den Status der Fiktionalität in der Erzählung geht; Diderot wurde 1713 geboren. 253 Vgl. auch von Petersdorff: Verstehen und historische Erklärung, S. 138–140. 254 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 220. 255 Ebd., S. 224. 251 252

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Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit

lungen: »Die Erklärung ist […] nur historisch, wenn sie den Umweg über die Handlung einschlägt«. 256 Um die Zeitpunkte der beiden Ereignisse des narrativen Satzes zu einer Geschichte bzw. Handlung zusammenzuführen, bedarf es Ricœur zufolge mehr als nur der rückwirkenden Neugliederung: Es muss Nachvollziehbarkeit gewährleistet sein, d. h. die Möglichkeit, der Geschichte folgen zu können. 257 Jeder Erklärung liegt, wie bereits angedeutet, immer schon eine narrative Struktur zugrunde, die zugleich »die Matrix und die Rezeptionsstruktur der Erklärung« darstellt und diese leitet: das narrative Verstehen. Das narrative Verstehen greift nicht in die Struktur der Erklärung selbst ein, doch begründet diese dadurch, dass sie Nachvollziehbarkeit gewährleistet, indem sie die »aufeinanderfolgenden Handlungen, Gedanken und Gefühle« einer »bestimmte[n] Gerichtetheit« unterwirft. Das vorgängige narrative Verstehen entspricht einem Vorverständnis, das als solches unsere Erwartungshaltung bestimmt und damit zugleich die Art und Weise strukturiert und orientiert, wie wir erklären; sie ist teleologisch auf ein noch unbekanntes Ende gerichtet, das die Struktur der Konfiguration, die Mimesis II, antizipiert, indem sie Anfang und Ende zugleich, als einen Zusammenhang, setzt und damit voraussetzt. Die Mimesis II erweist sich aus dieser Perspektive als das narrative Komplement zur Teleologie des Geistes. Indem sie Anfang und Ende setzt, richtet sie unsere Erwartungshaltung auf ein offenes, noch unbestimmtes Ende und folgt darin nur der erkenntnisleitenden Struktur der Teleologie des Geistes. Die teleologisch orientierten Handlungen und Motivationsrückhalte sind weniger die der historischen Personen, sondern viel eher die, die wir ihnen zuschreiben und die dadurch narrativ abgebildet werden können, dass sie auf das Ende der Erzählung gerichtet sind. Die Motivationsrückhalte spiegeln sich in den Handlungen wider, die die Erzählung strukturieren, d. h. die, die der Historiker zu rekonstruieren imstande ist. Die Absichten und Gründe der Handelnden, deren Motivationsrückhalte und Beweggründe rekonstruieren wir als Außenstehende anhand der Parameter der narrativen Strukturen. Diese

Ebd., S. 210. Ricœur entwickelt das Kriterium der Nachvollziehbarkeit unter Rückgriff auf Walter Bryce Gallies’ Begriff der followability (vgl. Walter Brice Gallie: Philosophy and the historical understanding [1964]. Schocken Books: New York NY 21968; vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 223–233). 256 257

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Paul Ricœur: Narrative Identität

gewähren jedoch keinen Einblick in die ursprünglichen Absichten der historischen Akteure, die Rekonstruktion folgt im Kontext der Narrativitätstheorie Ricœurs dem Kriterium der Wahrscheinlichkeit. Das Ende einer Geschichte ist zwar zu Beginn einer Lektüre nicht absehbar, doch es muss, so Ricœur, annehmbar sein. Das Kriterium der Nachvollziehbarkeit verbindet die »Kontingenz der Vorfälle« mit der »Annehmbarkeit der Schlüsse«. 258 Unsere Erwartungshaltung setzt voraus, dass die berichteten Ereignisse und dargestellten Handlungen auf ein Ende zulaufen, das sich mit Wahrscheinlichkeit, ggf. Notwendigkeit, aus diesen ergibt. Das narrative Verstehen, dass die historische Erklärung leitet, widerspricht damit der Annahme von Naturgesetzen in der Geschichte, die Kontingenz unterläuft die Möglichkeit der Annahme eines historischen Determinismus. Bereits das narrative Verstehen sucht dies zu kompensieren und zielt auf das Kriterium der »inneren Stimmigkeit einer Geschichte [ab], in der sich Kontingenz und Annehmbarkeit verbinden«. 259 Das Modell kausaler Erklärungen trägt »zu unserer Fähigkeit bei, einer Geschichte zu folgen«; und einer Geschichte zu folgen, bedeutet, sie nachzuvollziehen, d. h. zu verstehen. Vermittelt durch den Begriff der Nachvollziehbarkeit und verwiesen auf die Geschichte als Ganze korrelieren erklären und verstehen unmittelbar. Die Besonderheit der historischen Erzählung liegt für Ricœur darin begründet, dass sie sich im Gegensatz zu einer Erzählung nicht aus sich selbst heraus erklärt: Die narrative Konfiguration einer fiktiven Erzählung setzt einen Anfang und ein Ende und stellt alle möglichen Handlungen, Motivationsrückhalte und Gefühlsregungen auf die Entwicklung der dargestellten Geschichte ab, die durch einen Anfang und ein Ende Geschlossenheit aufweist; eine Erzählung trägt alle Aspekte, die notwendig sind, um sie zu verstehen, in sich; sie ist Fiktion. Die historische Erzählung hingegen muss diese Stimmigkeit, die eine fiktive Erzählung aufweist, vermittelt über kulturelle und historische Tatsachen allererst herstellen. Hinzu kommt, dass der Historiker selbst inmitten der Geschichte steht, d. h. er ist seinerseits vertraut mit bestimmten Darstellungen der Geschichte; seine Forschung fördert neue Erkenntnisse oder Zeugnisse zu Tage, die sich in die bisherige Geschichtsdarstellung nicht lückenlos fügen. Es entstehen 258 259

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 224 f. Ebd., S. 226.

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Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit

Unstimmigkeiten, aufgrund dessen er sich veranlasst sieht, erneut Stimmigkeit und Kohärenz herzustellen. Wir stehen immer schon inmitten der Rezeption: »Schreiben heißt umschreiben.« 260 Die Erarbeitung einer stimmigen Geschichte ist ein synthetischer Urteilsakt, ein Erzeugnis der reflektierenden Urteilskraft, wie Ricœur, in Anlehnung an Louis O. Mink, hervorhebt – »in einem Urteilsakt zu ›verstehen‹« bedeutet, sämtliche Faktoren, die als Ursachen aufgefasst werden, »zusammen zu erfassen, statt sie seriatim durchzugehen«. 261 Sie zusammen zu erfassen bedeutet, sie einem Gesamtzusammenhang zu integrieren, der das zu erklärende Ereignis und die einzelnen Faktoren, Teil und Ganzes in gleichem Maße umfasst. Ricœurs Darstellung macht erstens deutlich, dass die Geschichtsschreibung nicht lediglich vereinzelte narrative Elemente impliziert, sondern dass jeder historischen Darstellung eine Fabelkomposition, ein Gesamtzusammenhang der zu beschreibenden Ereignisse, zugrunde liegt. Die Fabelkomposition ist eine Operation, die, wie Ricœur sagt, »allen Ebenen der narrativen Artikulierung ihre Dynamik verleiht«; sie ist deshalb »viel mehr als nur eine Ebene unter anderen: sie vermittelt den Übergang zwischen dem Erzählen und dem Erklären«. 262 Erklären und verstehen finden in ein und demselben Prozess statt, in der Erzählung. Die diltheysche Unterscheidung von erklären und verstehen wird von Ricœur insofern aufgehoben, als dass er sie zusammenführt und untrennbar aufeinander verweist. Zweitens öffnet das historische Verstehen die Geschichte dank der ihr zugrundliegenden narrativen Strukturen als einen »Kontingenzraum«, in den wir eingreifen, wenn wir Geschichte zu verstehen und zu erklären suchen. Dieser steht einem Verfahren bloßer Historisierung und einer determinierten Geschichtsauffassung entgegen. Wenngleich die Geschichtsschreibung maßgeblich an der historischen Wirklichkeit und weniger an der Möglichkeit der Dichtung orientiert ist, so bildet sie doch die wirkliche Geschichte nicht lediglich ab. Vielmehr rücken im Zuge historischen Verstehens noch einmal die Möglichkeiten in den Blick, die einst gegeben waren: Es wird dem Modell der kausalen Erklärung folgend zunächst ein regressiver Weg beschritten, den wir in der Darstellung dann noch einmal »vor260 261 262

Ebd., S. 231 f. Ebd., S. 234. Ebd., S. 254.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

wärtsschreitend […] durchlaufen«. 263 Wir bringen im Zuge dessen den Prozess der Teleologie des Geistes zur Darstellung. Wir analysieren auf regressivem Weg, um in der Darstellung den progressiven Weg zu beschreiten. Diese Aspekte führt Ricœur unter dem Begriff der historischen Intentionalität zusammen, der seines Erachtens das zentrale Moment der Methode der historischen Forschung ausmacht und damit die Eigenlogik der historischen Forschungs- und Darstellungsweise bestimmt. Die Geschichtswissenschaft kann zwar, wie Ricœur betont, keine einheitliche Methode im strengen Sinne vorweisen, da sie ihre Darstellung ein jedes Mal den kontingenten Faktoren ihres Gegenstands anpassen muss. 264 Dennoch weist Ricœur auf Grundlage des Modells der kausalen Erklärung und Handlungstheorie einen der Geschichtswissenschaft eigenen methodischen Zugriff aus. In Anlehnung an Husserl bezeichnet er diesen als Rückfrage. 265 Der Begriff der Rückfrage weist bei Ricœur im Gegensatz zur husserlschen Definition jedoch einen wesentlichen Unterschied auf: Husserl bindet die Rückfrage im Rahmen des erkenntnistheoretischen Programms der transzendentalen Phänomenologie an die Geltungsfundierung. Die Rückfrage fördert das historische Apriori als Ursprung der europäischen Philosophie und mit dieser zugleich deren Identität zutage; unsere Identität liegt hinter uns. Ist der Ursprung einmal aufgewiesen, dann gilt es, die Identität ganz auf diesen abzustellen. Um unsere Identität freizulegen, müssen die historisch gewachsenen und kulturell sedimentierten Schichten abgetragen, d. h. phänomenologisch reduziert werden. Die Rückfrage dringt durch den historisch und kulturell gewachsenen Boden hindurch, um der Vernunft der europäischen Identität in einem Prozess der Idealisierung zur Geltung zu verhelfen. 266 Ricœurs Begriff der Rückfrage steht zwar ebenso wie bei Husserl auf dem Boden der kontingenten Geschichte und Kultur, die ein Vorverständnis abgeben – dieses Vorverständnis gilt es jedoch gerade nicht zu reduzieren, sondern in seiner Kontingenz anzuerkennen und einzubeziehen. Kultur und Geschichte bilden den tragenden

Ebd., S. 237. Vgl. ebd., S. 258 f. 265 Vgl. ebd., S. 269–271, 288 f.; vgl. auch Ricœur: L’originaire et la question-en-retour dans la Krisis de Husserl. 266 Zur Rückfrage bei Husserl vgl. Kap. 2.2.2. sowie 2.2.3. 263 264

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Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit

Grund der Hermeneutik. Der Begriff der Rückfrage nimmt bei Ricœur nicht nur bei der Kultur seinen Ausgang, sondern zielt auch »auf eine schon strukturierte kulturelle Welt« ab. Ebenso wie der narrative Schematismus bleibt die Rückfrage bei Ricœur in doppelter Hinsicht an die Kultur gebunden, insofern sie einen Durchgang des historischen Wissens durch die drei Formen der Mimesis bewirkt: Sie hebt von »handlungsimmanenten Präfigurationen« der Kultur ab, geht über die Konfigurationen der Fabelkompositionen und mündet in die Refigurationen, die die Werke der Kultur und die alltägliche Lebenswelt der Leserinnen und Leser zusammenführt. Die Rückfrage ist die Praxis einer Kultur, die als eine »Welt der Handlung bereits durch eine narrative Tätigkeit konfiguriert ist«. 267 Die Integration der narrativen Strukturen der drei Formen der Mimesis in die Geschichtsschreibung erfolgt Ricœur zufolge erstens über die Einbeziehung der kausalen Erklärung, zweitens der, wie Ricœur sagt, Entitäten der Geschichtsschreibung und drittens der Zeitlichkeit. 268 Erstens spricht Ricœur in Anschluss an von Wright auch von einer quasi-kausalen Erklärung, um deutlich zu machen, dass im Zuge der kausalen Erklärung die Intentionen und Beweggründe der dargestellten historischen Personen »mit den Segmenten teleologi-

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 269 f. Der zweite Aspekt kann im Folgenden vernachlässigt werden, insofern es der vorliegenden Untersuchung erstens maßgeblich um die Frage nach der Struktur der Darstellung von Geschichte sowie zweitens um den Zusammenhang von Geschichte und Zeitlichkeit in der Darstellung Ricœurs geht. Mit dem Blick auf die Entitäten der Geschichtsschreibung sucht Ricœur den zeitgenössischen Entwicklungen der Strukturgeschichte, maßgeblich im Kontext der französischen Geschichtsschreibung, Rechnung zu tragen (vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 141–166). Abseits der methodischen Aspekte der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft, die Ricœur an dieser Stelle bespricht, geht es ihm im Wesentlichen darum, die dargestellte, an Individuen gebundene Handlungstheorie auf Akteure auszuweiten, die größere Gruppen und Gemeinschaften darstellen (vgl. ebd., S. 297). Die Möglichkeit hierzu bietet die von Ricœur sogenannte »teilnehmende[] Zugehörigkeit« (ebd., S. 295), die er in Anlehnung an Heidegger auch als »Phänomen des Mitseins« bezeichnet, d. h. dass Individuen Teil einer Gesellschaft sind, bevor sie Individuen sind: Sie sind primär »Handlungsträger als Mitglieder von …« (ebd.); die Gesellschaft geht nicht aus der Summe der Individuen hervor, sondern die Individuen aus der Gesellschaft (vgl. ebd., S. 298). Diese Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft bzw. Gemeinschaft soll die Zurechenbarkeit von Handlungen zu überindividuellen Zusammenschlüssen gewährleisten: Kollektive, Gemeinschaften und Gesellschaften werden dadurch zu Akteuren, die ebenso wie Individuen verantwortlich für ihre Handlungen sind (vgl. ebd., S. 288– 308). 267 268

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scher Schlussfolgerung identifiziert« werden. 269 Der attributive Zusatz ›quasi‹ steht für die »Verwendung narrativer Kategorien in der Geschichtswissenschaft«, d. h. im Hintergrund wirkt stets das Prinzip der Analogie. 270 Der Historiker beschreibt Handlungen als ob die entsprechenden Personen diese wie beschrieben ausgeführt haben – ob dies tatsächlich der Fall gewesen ist, können wir nicht mit Gewissheit sagen. Der Historiker setzt Intentionen historischer Personen voraus, die zu Handlungen führen; im Hintergrund steht hier die Möglichkeit des Eingriffs, die von Ricœur an dieser Stelle jedoch nicht als Eingriff des Historikers verstanden wird, sondern als Handlung der historischen Akteure: Die Rekonstruktion von Handlungen beruht auf der Überzeugung, dass der »Akteur selbst glaubt, das, was er tut, auch tun zu können«. 271 Der Historiker setzt voraus, dass die Intentionen der Akteure Zwecken folgen und rekonstruiert deren Handlungen auf Grundlage einer zweckgerichteten, teleologischen Struktur unter Berücksichtigung der ihm bekannten Umstände und Kontexte. 272 Welche Aspekte seinerzeit auch immer präsent gewesen sein mögen – der Historiker erfasst nur, was ihm teleologisch, d. h. auf Zwecke orientiert, überliefert durch Dokumente und Zeugnisse, in den Blick rückt. Dreh- und Angelpunkt sind die historischen Ereignisse, über die die historische Rekonstruktion Handlungen und Ziele identifiziert. Die teleologische Struktur liegt bereits auf Ebene der Mimesis I begründet, sie beruht Ricœur zufolge auf einem Vorverständnis, das wir von intentionalen Handlungen haben. Dieses Vorverständnis steht für »unsere Vertrautheit mit der logischen Struktur des Etwastuns (etwas bewirken, veranlassen). Etwas bewirken heißt nun aber, in einen Ereignisablauf eingreifen, indem man ein System in Bewegung setzt und dadurch dessen Geschlossenheit sichert.« Die quasikausale Erklärung setzt teleologische Schlussfolgerungen, intentionales Verstehen und den praktischen Eingriff in Handlungszusammenhänge voraus und gilt nur für »Einzelfälle von GattungsphänoRicœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 273. Ebd., S. 344. 271 Ebd., S. 212. 272 Die teleologische Rekonstruktion erfolgt, so Ricœur, auf formaler Ebene nach Art eines praktischen Syllogismus: »A hat die Absicht, p zu bewirken. A meint, p nicht bewirken zu können, wenn er nicht a tut. A tut daher a.« (Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 212) 269 270

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menen«, d. h., so Ricœur, für Ereignisse, Prozesse und Zustände. Diesen Prozess bezeichnet Ricœur als »einzelne[] Kausalzurechnung«, da die rekonstruierte Kausalität nur für den Wechsel von einem Systemzustand zu einem anderen gilt. 273 Die einzelne Kausalzurechnung ist erstens nicht verallgemeinerbar, sie lässt sich nicht als Gesetz ausweisen. Zweitens nähert sich dieser Prozess dem Ideal der aristotelischen Poetik an, Handlungen als wahrscheinlich darzustellen. Die Fabel hat das Mögliche und Allgemeine, das Typische zum Gegenstand, das »nirgendwoanders als in der Zusammensetzung der Handlungen zu suchen« ist – und diese Zusammensetzung muss »notwendig oder wahrscheinlich sein«. 274 Die narrative Struktur, die der historischen Erklärung unterliegt, fordert Kohärenz und veranschlagt als Mindestmaß Wahrscheinlichkeit: Die kontingenten Ereignisse, Prozesse und Zustände sind in einen kohärenten und stimmigen Gesamtzusammenhang zu integrieren, der plausibel erscheint. Im Hintergrund der von Ricœur sogenannten Logik der Wahrscheinlichkeit wirkt die Einbildungskraft, die verschiedene Ereignisabläufe rekonstruiert und die wahrscheinlichsten mit dem zu erklärenden Ereignis abgleicht. Diese »probabilistische Konstruktion durch die Einbildungskraft« weist Ricœur zufolge eine doppelte Affinität auf: auf der einen Seite zur Fabelkomposition, auf der anderen Seite zur kausalen Erklärung. 275 Den Unterschied zwischen der Fabel und der Darstellung von Geschichte sieht Ricœur darin begründet, dass der Historiker nicht bloß erzählt ist: »[E]r gibt Gründe an, aus denen er diesen oder jenen Faktor statt eines anderen für die hinreichende Ursache dieses oder jenes Ereignisablaufs hält«. Die Fabel enthält zwar ebenfalls kausale Strukturen, diese dienen jedoch nicht der Argumentation. Der Dichter bringt in erster Linie eine Erzählung hervor, der Historiker stellt in erster Linie die Geschichte dar: »Der eine produziert, der andere argumentiert.« 276 Der probabilistische Charakter der kausalen Erklärung verleiht »der Vergangenheit die Unvorhersehbarkeit, die die Zukunft kennzeichnet, und gibt dem Rückblick eine ereignishafte Ungewißheit«. Die Öffnung der Geschichte als ein Kontingenzraum ist zugleich eine 273 274 275 276

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 273 f. Ebd., S. 70; vgl. auch ebd., S. 67. Ebd., S. 275. Ebd., S. 278 f.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

Öffnung der Gegenwart und damit implizit ein »Plädoyer für die Kontingenz der Gegenwart«. 277 Im Bewusstsein der Kontingenz der eigenen Gegenwart sucht der Historiker nicht nur Hypothesen mittels kausaler Erklärungen zu bestätigen und wägt im Zuge dessen verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten der Geschichte ab. Er ist darüber hinaus imstande, diese erkenntnistheoretische Ebene der Geschichtswissenschaft zu überschreiten. Indem er die Geschichte als einen Kontingenzraum öffnet und sie einem Determinismus entreißt, ist er imstande, die drei Dimensionen der Zeit neu zu definieren. Vergangenheit und Gegenwart scheinen nicht minder offen zu sein als die Zukunft. Für Ricœur steht fest, dass wir, beschreiten wir diesen Weg, »eine Art wissenden Staunens wiederherstellen«, die Kontingenzen erlangen dadurch »einen Teil ihres ursprünglichen Überraschungsvermögens« wieder. 278 Das Staunen, aus dem Platon die Philosophie hervorgehen lässt, 279 ist Ricœur zufolge noch mit Blick auf die Geschichte möglich. Obwohl sie doch vergangen und abgeschlossen scheint, lässt sie uns auf dem Boden der Kontingenz wieder staunen, das geschichtlich Vergangene ist nicht abgeschlossen, sondern zeigt sich als Neues. 280 Das methodische Versatzstück der Rückfrage öffnet die Geschichte als einen Kontingenzraum, in dem der historische Verlauf nicht vollständig determiniert zu sein scheint. Auch diesen Aspekt markiert Ricœur durch das Attribut ›quasi‹, im Hintergrund wirkt hier stets die Analogie – die narrative Grundstruktur des historischen Verfahrens ermöglicht uns unter Berücksichtigung der historischen Intentionalität, d. h. der Rückfrage, die Geschichte als einen Bereich des Möglichen aufzuschließen. Die Fabel verbindet »Kontingenz und Wahrscheinlichkeit, ja Notwendigkeit« miteinander und ist insofern Kontingenzbewältigung. 281 Wird die Kontingenz jedoch nicht wie bei Husserl auf den einen Sinn der Geschichte abgestellt, dann bedarf es Kompensationsstrategien, um die Kontingenz nicht absolut werden zu lassen. Wie Ebd., S. 281. Ebd., S. 237. 279 Vgl. Platon: Theätet, übers. von Otto Apelt, in: ders.: Sämtliche Dialoge, Bd. 4: Theätet – Parmenides – Philebos, hrsg. von Otto Apelt, in Verbindung mit Kurt Hildebrandt, Constantin Ritter und Gustav Scheider. Felix Meiner: Hamburg, S. 1–195/St. 142a – 210d, hier S. 51/St. 155d. 280 Vgl. hierzu auch Angehrn: Geschichte und Identität, S. 92 f. 281 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 310. 277 278

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Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit

Blumenbergs Analysen deutlich machen, wird die Kontingenz mit Beginn der Neuzeit als Modalkategorie gefasst, die uns dazu auffordert, einen Umgang mit ihr zu finden. Nur weil die Geschichte uns von Grund auf kontingent erscheint, hält sie überhaupt Überraschungen, noch Unentdecktes und neue Möglichkeiten bereit, obwohl sie doch vergangen und abgeschlossen zu sein scheint. Durch die Vermittlung von Geschichte und Narrativität wird die Kontingenz in die Fabel integriert und im Kontext der rekonstruierten Ereignisse nachvollziehbar d. h. »mit der Notwendigkeit und der Wahrscheinlichkeit harmonisiert«. 282 An diesem Punkt scheint die Frage nach der Art und Weise, wie wir auf dem Boden der Kontingenz Geschichte erklären und verstehen, darstellen und analysieren, mit Ricœur zu einem zumindest vorläufigen Abschluss gekommen sein. Die Frage der narrativen Identität baut hierauf auf, bedarf jedoch zusätzlich der zeitlichen Vermittlung. Nicht zuletzt vermittelt die Nachvollziehbarkeit der Fabel die historische und die narrative Zeit miteinander. Die Darstellung von Geschichte ist selbst ein Akt der Konfiguration, der von einem kulturellen Hintergrund, der Mimesis I, abhebt und auf eine Refiguration des Handlungsraums des Menschen, die Mimesis III, orientiert ist. Der Kontingenzraum der Geschichte zielt aufgrund seiner narrativen Strukturen »indirekt auf den Bereich der menschlichen Handlung und deren Grundzeitlichkeit«; die »Refiguration des Praxisbereichs« ist zugleich die Refiguration der Zeit und dadurch erst eine Erweiterung möglicher Existenzweisen. 283 Inwieweit die Fiktion imstande ist, die Zeit zunächst in der Fiktion zu konfigurieren, d. h. die Erfahrung von Zeitlichkeit narrativ zu arrangieren, die in der Wirklichkeit zwar erfahren werden kann, aber objektiv nicht abbildbar ist, führt Ricœur anhand von drei Romanen vor, die sich explizit der Auseinandersetzung mit der Zeit verschrieben haben. Zwei dieser Interpretationen Ricœurs werden im Folgenden dargestellt: Virginia Woolfs Mrs. Dalloway sowie Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Dient ein kurzer Blick auf Ricœurs Interpretation von Mrs. Dalloway zur Illustration des narrativen Arrangements zeitlicher Strukturen, so gilt es, bei Proust genauer hinzuschauen, insofern Ricœur zentrale

Ricœur: Narrative Identität, S. 213. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 138. Ricœur versteht darunter die »Intentionalität des Geschichtsdenkens« (ebd.), die er zu Tage fördern möchte. 282 283

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Paul Ricœur: Narrative Identität

Motive bei Proust findet, die er seiner eigenen Hermeneutik integriert.

4.4.2. Zeit und Fiktion: Die Konfiguration der Zeiterfahrung Ein wesentlicher Unterschied zwischen der historischen Erzählung und der Fiktion literarischer Werke liegt für Ricœur in dem Wahrheitsanspruch begründet, der sich in jedem der beiden Bereiche anders ausnimmt: Sieht sich die Geschichtswissenschaft ihrem Anspruch nach auf die Darstellung der Wirklichkeit verwiesen, so die Fiktion literarischer Werke auf fiktive, mögliche Welten, ohne wirklichen Begebenheiten gegenüber auf Wahrheit verpflichtet zu sein. Gemeinsam ist beiden, dass sie auf dem Konfigurationsprozess der Mimesis II beruhen, auf den es im Folgenden ankommt. Die Konfigurationstätigkeit öffnet auf der einen Seite die Geschichte als einen Kontingenzraum, auf der anderen Seite ist sie imstande, in der Fiktion eine mögliche Welt zu entwerfen: »die Welt des Werkes«. Ziel und Anliegen wird nachfolgend sein, die Referenzfunktion der beiden großen narrativen Modi, Geschichte und Fiktion, miteinander zu konfrontieren. Für Ricœur gilt es zunächst jedoch, die Möglichkeiten zur Konfiguration fiktiver Zeiterfahrungen in den Blick zu nehmen, die Ricœur als eine Antwort auf die Aporien der Zeiterfahrung konzipiert. Im Akt der Lektüre folgen wir »der transzendierenden Bewegung […], mit der jedes Werk der Fiktion […] eine Welt aus sich heraussetzt«. Jedes fiktive Werk entwirft eine Welt und mit ihr bestimmte »Weisen des Bewohnens« dieser Welt und eine dieser Weisen ist die fiktive Zeiterfahrung. 284 In der narrativen Fiktion können Zeit und entworfene Welt in Beziehungen zueinander treten, die die alltägliche Erfahrung auf diese Weise nicht kennt. Die fiktive Zeiterfahrung ist imstande, Zeitlichkeit auf eine Weise erfahrbar zu machen, die weder die an der Wirklichkeit orientierte Geschichtswissenschaft vorzuführen imstande ist, noch die Philosophie, die sich an diesem Punkt in Aporien verstrickt. Diese Aporien kann auch die fiktive Zeiterfahrung nicht auflösen, doch sie ist imstande, die Dissonanz der aporetischen Zeiterfahrung in die Konsonanz der Narration zu überführen, ohne die eine in der anderen aufgehen zu lassen. 284

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 2, S. 13.

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Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit

Ricœur nähert sich der Untersuchung der fiktiven Zeiterfahrung im Wesentlichen über drei Unterscheidungen aus dem Bereich der Literaturwissenschaft und -theorie: erstens über die Unterscheidung zwischen narrativer Stimme und Standpunkt, sowie zweitens über die Unterscheidung von Aussageakt (énonciation) und Aussage (énoncé) und drittens über die Unterscheidung von erzählter Zeit und Erzählzeit, der die fiktive Zeiterfahrung entspringt. Die erste Unterscheidung zwischen Standpunkt und narrativer Stimme leitet den Leser, sie führt ihn durch die fiktive Welt. Der Begriff des Standpunkts ermöglicht einen Überblick über die »Erlebnissphäre« der Romanfigur. Der Begriff der narrativen Stimme ermöglicht es, eine Redeinstanz, d. h. einen Erzähler anzunehmen, der sich an den Leser wendet, ohne mit diesem Erzähler zugleich auf einen realen Autor zu verweisen. Die narrative Stimme stellt die fiktive Welt dar. Beide zusammengenommen schlagen eine Brücke zwischen dem Erzähler und der Romanfigur: »[D]ie erzählte Welt ist die Welt der Romanfigur und wird vom Erzähler erzählt«. An diese Unterscheidung schließt die zweite Unterscheidung zwischen Aussageakt und Aussage an, beide können in jeder Erzählung auseinandergehalten werden. Jede beschriebene und dargestellte Gefühlsregung der Figuren, jede Handlung wird als Aussage der Figur verstanden, der aufseiten des Erzählers der Aussageakt entspricht: »[D]er Aussageakt wird […] zur Rede des Erzählers, die Aussage zur der der Figur«. 285 Die narrative Stimme und der Standpunkt stehen in einem engen Zusammenhang mit dem zentralen Merkmal der narrativen Fiktion, das für Ricœur darin besteht, »die Rede eines Erzählers hervorzubringen, der die Rede fiktiver Figuren erzählt«. Über den Standpunkt einer Erzählung lässt sich das Verhältnis zwischen Aussageakt und Aussage bestimmen: Der Standpunkt ist dann die »Orientierung des Erzählerblicks auf seine Figuren und die des Blicks der Figuren aufeinander«, 286 die narrative Stimme hingegen übersteigt die Ebene der Konfiguration bereits und wendet sich an einen Leser, sie liegt am »Schnittpunkt zwischen Konfiguration und Refiguration«. 287 Im Zuge dessen gehen die Welt des Textes und die Welt des Lesers ineinander über. Der Standpunkt richtet den Blick des Betrachters auf die 285 286 287

Ebd., S. 149 f. Ebd., S. 158 f. Ebd., S. 169.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

Perspektiven der Figuren und des Erzählers aus, die narrative Stimme eröffnet dem Leser die Welt der narrativen Fiktion. Aus der Unterscheidung von Aussage und Aussageakt gehen die fiktiven Merkmale der narrativen Zeit hervor, die in der dritten Unterscheidung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit kulminiert. Die Erzählzeit entspricht der Zeit des Lesens, die erzählte Zeit der in der Erzählung dargestellten Zeit. Aus der Überschneidung von Erzählzeit und erzählter Zeit ergibt sich die fiktive Zeiterfahrung. Die Konfiguration der Zeit vollzieht sich zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit. 288 Die Erzählzeit korreliert dem Aussageakt des Erzählers, die erzählte Zeit den Aussagen der Figuren. Innerhalb dieses Rahmens spielen sich für Ricœur die Konfigurationen fiktiver Zeitlichkeit ab, die dem Rezipienten und Leser eine neue »Zeiterfahrung« ermöglichen sollen. 289 »Es handelt sich um Arten der Zeiterfahrung, die nur die Fiktion erforschen kann und die der Lektüre zur Refigurierung der Alltagszeitlichkeit dargeboten werden.« 290 Die Refiguration der Zeit bildet bereits den Übergang zur Mimesis III, weshalb es für Ricœur zunächst gilt, innerhalb des Kontinuums zwischen Aussage und Aussageakt, erzählter Zeit und Erzählzeit mögliche Arten der fiktiven Zeiterfahrung herauszuarbeiten, in denen sich die Konfiguration der Zeit abspielt. Drei Werke dienen Ricœur zur Veranschaulichung möglicher fiktiver Zeiterfahrungen: Virginia Woolfs Mrs. Dalloway, Thomas Manns Zauberberg und Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Dienen die ersten beiden Werke Ricœur maßgeblich zur Veranschaulichung fiktiver Zeiterfahrungen und als mögliche Antworten auf die aporetische Struktur der Zeiterfahrung, so zeichnet sich mit Proust sehr viel deutlicher eine Verschränkung von Zeiterfahrung und Identitätsstiftung ab, die Ricœurs eigene Theorie der narrativen Identität inspiriert. Um die Konfiguration der Zeiterfahrung in der narrativen Fiktion zu illustrieren, soll im Folgenden ein kurzer Blick auf Ricœurs Interpretation von Mrs. Dalloway geworfen werden, das Hauptaugenmerk hingegen liegt auf Ricœurs Proust-Interpretation, die deutlicher als die Interpretationen der anderen beiden Werke in Ricœurs eigene Hermeneutik eingeht. 288 289 290

Vgl. ebd., S. 136. Ebd., S. 170. Ebd., S. 172.

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Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit

Die Erzählung Mrs. Dalloway von Virginia Woolf spielt sich an einem Tag ab, das zentrale Thema der Erzählung ist ein Abendempfang, den Clarissa Dalloway ausrichten wird. Ricœurs Aufmerksamkeit richtet sich mit Blick auf diese Erzählung im Wesentlichen auf einen Aspekt der Erzählung, über den die fiktive Zeiterfahrung narrativ dargestellt wird: Die Erzählung verschränkt die »Welt der Handlung und die der Introspektion miteinander«, d. h. der vom Erzähler dargestellten und für alle Figuren gleichermaßen wahrnehmbaren, objektiven Welt korreliert ein Einblick in die Gedankenwelt und Erinnerungen der Protagonisten. Dass diese Verschränkung von objektiver Außen- und subjektiver Innenwelt zugleich zeitlich koordiniert wird, macht Mrs. Dalloway in den Augen Ricœurs zu einer Fabel von der Zeit. Die gesamte Erzählung wird chronologisch strukturiert: Der Stundenschlag des Big Ben stellt ein für alle Figuren gleichermaßen wahrnehmbares und insofern objektives Zeitmaß dar. Eine Verschiebung dieses objektiv wahrnehmbaren Zeitmaßes resultiert daraus, dass die verschiedenen Figuren des Romans über deren individuelle zeitliche Erfahrung in eine je eigene Beziehung zu den objektiven »Zeitmarkierungen« gesetzt werden: Die objektive Zeit spiegelt nicht die Erfahrung der Zeit wider, sie kann dem Leser folglich auch nicht »dabei […] helfen, sich in der erzählten Zeit zurechtzufinden«, auf die es der Erzählung ankommt. Die Zeit, die dem Leser zur Orientierung dient, hat »ihre wahre Stelle in der lebendigen Zeiterfahrung der verschiedenen Gestalten«. Zwischen dieser Beziehung der objektiven und chronologischen Zeit und der subjektiven und individuellen Zeiterfahrung der Figuren spannt sich die fiktive Zeiterfahrung auf. Das Fortschreiten der Erzählung wird zwar durch die objektiv wahrnehmbaren Glockenschläge markiert, dieser Fortschritt wird jedoch zugleich durch die Geschehnisse in der erzählten Zeit, maßgeblich durch die Erinnerungen der Protagonisten, aufgehalten. Die Erzählung wird zugleich »vorangetrieben« und »zurückgedrängt«, »die erzählte Zeit retardierend vorangetrieben«. 291 Als die Schläge von Big Ben zum ersten Mal ertönen, erinnert sich Clarissa Dalloway an ihre längst vergangene Liebesgeschichte mit Peter Walsh, einem alten Jugendfreund, den Clarissa dreißig Jahre zuvor fast geheiratet hätte. Peter ist jedoch ausgewandert und 291

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 2, S. 175 f.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

hat seine Zeit in Indien verbracht. Als die Glocken von Big Ben erklingen, weiß sie noch nicht, dass Peter bereits zurückgekehrt ist und ihren Abendempfang aufsuchen wird. Für Ricœur ist an diesem Punkt weniger der inhaltliche Fortgang der Erzählung von Interesse als vielmehr die Relation der Glockenschläge zur Erinnerung der Figur Clarissa. Die Erwartung Clarissas richtet sich in diesem Moment, in dem die Glockenschläge erklingen, auf den glanzvollen Abendempfang; die Glockenschläge stehen hier für eine gewisse Unbeschwertheit und Lebensfreude. Synchron zur objektiven Zeit schreitet die Zeit voran und verweist auf die Zukunft in Erwartung der Festivität. Die objektive Zeit wird jedoch von der subjektiven Zeiterfahrung überlagert. Die Erinnerungen Clarissas verweisen die zeitliche Orientierung in entgegengesetzter Richtung auf die Vergangenheit und lassen unangenehme Gedanken aufkommen, die die Vorfreude auf den bevorstehenden Abendempfang mildern: Es »legt sich ein Schatten darüber: würde Peter, wenn er zurückkäme, sie nicht mit seiner zärtlichen Ironie wieder ›The perfect hostess!‹ nennen?« Clarissa erfährt in diesem Moment, was Ricœur mit Augustinus als distentio animi bezeichnet: »Das ist die innere Zeit, die durch die Erinnerung nach rückwärts und durch die Erwartung nach vorn gezogen wird.« 292 Die distentio animi, die Unruhe und Anspannung der Seele in der Gegenwart, die sich auf die Erinnerung und die Erwartung zugleich verwiesen sieht, wird über die Figur Clarissa narrativ dargestellt und vor Augen geführt. Der Fiktion ist es auf diese Weise möglich, »Modalitäten der Zeiterfahrung zu erforschen, die der philosophischen Begriffsbildung gerade aufgrund ihres aporetischen Charakters entgleitet«. 293 Die fiktive Zeiterfahrung unterläuft die erzählte Zeit, die fortwährend fortschreitet. Sie unterbricht diese in Form von Erinnerungen und gedanklichen Abschweifungen, in die der Leser Einblicke erhält. Erzählte Zeit und Erzählzeit kreuzen sich und divergieren zugleich. Der Leser muss die paradoxen fiktiven Zeiterfahrungen deshalb »in der Lektüre […] selbst […] refigurieren«. 294 Wie Ricœur zu Beginn des zweiten Teils von Zeit und Erzählung betont, hat die aristotelische Theorie des Mythos auch deshalb seine 292 293 294

Ebd., S. 180. Ebd., S. 191 (Anm. 18). Ebd., S. 179.

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Gültigkeit behalten, weil sich sämtliche Erzählungen der europäischen Tradition innerhalb der Paradigmen bewegen, die die aristotelische Poetik vorgibt. 295 Der Fabelkomposition weist eine eigene »Integrationsdynamik« auf: Sie überführt Teil und Ganzes in einen Gesamtzusammenhang. Der Mythos als Fabelkomposition ist Synthesis des Heterogenen, die Mimesis stets »Nachahmung einer einheitlichen und vollständigen Handlung«. 296 Die Kriterien der Einheitlichkeit und Vollständigkeit implizieren, dass die Konsonanz der Komposition überwiegt und so die Dissonanz der Zeiterfahrung narrativ harmonisiert. Für Ricœur stellt das Konsonanz- bzw. Kohärenzprinzip von Mythos und Mimesis eines der vorherrschenden Paradigmen der europäischen Erzähltradition dar. Es entsteht aufgrund tradierter Erzählmuster, so dass der Leser daran gewöhnt ist, »daß schließlich irgendeine Konsonanz die Oberhand gewinnt« und die Dissonanz auflöst. 297 Virginia Woolfs Mrs. Dalloway verlegt die Konsonanz in Form der dissonanten Konsonanz jedoch in den Leser. Die in der Erzählung dargestellten paradoxen zeitlichen Strukturen werden gerade nicht in der Erzählung selbst harmonisiert und aufgelöst. In den Leser hineinverlegt können sie in ihrer paradoxen Struktur nachvollzogen und dort zu einem Abschluss gebracht werden – auch diese Strategie verweist bereits auf die Refiguration der Zeit. Der Roman selbst führt auf Ebene der Konfiguration ein Wechselspiel aus Erzählzeit und erzählter Zeit vor und überlässt die Auflösung dieses Wechselspiels dem Leser. Abseits der Frage, inwieweit die fiktive Zeiterfahrung imstande ist, die Aporie der Zeiterfahrung narrativ umzusetzen, ist es, wie bereits angedeutet, insbesondere Prousts Werk, bei dem Ricœur Anleihen macht. Prousts Roman setzt nicht nur Erzählzeit und erzählte Zeit in ein Wechselspiel und verweist Zeit und Erzählung aufeinander, zusätzlich sieht Ricœur bei Proust die Frage der Identitätsbildung in dieses Wechselspiel einbezogen. Diesen Dreischritt von Zeit, Erzählung und Identität gilt es, im Folgenden mit Ricœur in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nachzuvollziehen. Dieser Dreischritt kulminiert in drei Aspekten, auf die es Ricœur ankommt: erstens in der Metapher, zweitens im Wiedererkennen und drittens in 295 296 297

Vgl. ebd., S. 19. Ebd., S. 35. Ebd., S. 43.

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dem Verhältnis von Leben und Werk und damit in der Möglichkeit, sich selbst schreibend und vermittelt über die zeitliche Konfiguration wiederzufinden. An diesem Punkt wird deutlich, dass Ricœurs Hermeneutik zugleich eine Kulturphilosophie ist, die sich an Blumenbergs Kulturphilosophie und Ästhetik anschließen lässt, denn allein über die Werke der Kultur kommt der Mensch zu sich selbst. 298 Ricœurs Hermeneutik sucht mittels eines phänomenologischen und hermeneutischen Beschreibungsinventars die Integrations- und Aneignungsprozesse zu veranschaulichen, die über die Werke der Kultur führen. Ausgangspunkt von Prousts Erzählung ist »ein halb erwachtes Bewußtsein«, das »den Verlust seiner Identität, seines Augenblicks und des ihn umgebenden Raumes empfindet«. 299 Die Struktur des Werkes ist elliptisch angelegt. Die Brennpunkte dieser Ellipse bezeichnet Ricœur als »Suche (recherche) und Heimsuchung (visitation)«. 300 Das halb erwachte Bewusstsein findet seine Identität sowie die Zeit am Schluss der Erzählung wieder, ausschlaggebend hierfür ist das Ereignis der Heimsuchung. Die Erzählung führt Ricœur zufolge im Wesentlichen drei fiktive Zeiterfahrungen vor: erstens die der willkürlichen Erinnerung zu Beginn der Erzählung, zweitens die der Suche, die eine Zeit des Lernens ist und die die Erzählzeit sowie die erzählte Zeit wesentlich ausfüllt, und drittens eine außerzeitliche Dimension, die am Ende der Erzählung durch die Kunst dargestellt wird. Der Suche, die die Erzählung im Kern bestimmt, geht die Darstellung unwillkürlicher Erinnerungen voraus. Vor dem berühmten Biss des Hauptcharakters in die Madeleine, liegen »nur Archipel[e] zusammenhangloser Erinnerungen« 301 – die Zeit der Kindheit besteht, so Ricœur, »aus disparaten Inseln, die […] unvereinbar miteinander sind«. 302 Erst mit dem Biss in die Madeleine nimmt die Erinnerung Struktur an. Der Hauptcharakter fühlt sich mit diesem Biss an die erste 298 Vgl. Kap. 3.5. Wenn Stoellger auf die Nähe Ricœurs zu Blumenberg aufmerksam macht, verweist er auf ebendiesen Aspekt (vgl. Stoellger: Metapher und Lebenswelt, S. 251). 299 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 2, S. 229. 300 Ebd., S. 224. Scharfenberg verweist darauf, dass diese Ellipse durch die doppelte narrative Stimme, die des Erzählers und die des Protagonisten, konstituiert wird (Scharfenberg: Narrative Identität im Horizont der Zeitlichkeit, S. 231). 301 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 2, S. 230. 302 Ebd., S. 233.

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Madeleine erinnert, die seine Tante ihm einst gereicht hatte. Die Erinnerung findet erstmals einen Haltepunkt und erscheint nicht mehr unwillkürlich, sie richtet sich auf ein konkretes Erlebnis in der Vergangenheit. Diese Erinnerung erweckt ein Glücksgefühl, die genaue Ursache des empfundenen Glücks bleibt der Hauptfigur jedoch verborgen. Es kann, so viel steht zumindest fest, nicht die bloße Erinnerung sein, die dieses Glückgefühl herbeiführt, andernfalls wäre die Suche vor der eigentlichen Suche bereits beendet: Der Hauptcharakter müsste lediglich versuchen, durch vergleichbare Erlebnisse ähnliche Erinnerungen wachzurufen, um in diesen sein Glück zu finden. Da der Hauptcharakter nicht ergründen kann, worin genau die Ursache des empfundenen Glücks liegt, dieses Empfinden aber mit der Erinnerung in Verbindung bringt, stößt seine Erinnerung die Suche an, die die Erzählung fortan bestimmt. Diese Suche ist Ricœur zufolge ein Prozess, der im Erlernen der »Zeichen des Gesellschaftlichen, der Liebe, der Sinneseindrücke, der Kunst« besteht. 303 An die Stelle der unwillkürlichen Erinnerungen rückt damit eine Welt, die eine Reflexion über die Zeichen provoziert und zu deren Interpretation herausfordert. Diese gesellschaftlich und kulturell kodierten Zeichen stehen in Kontrast zu den Erinnerungen an eine glückliche Kindheit und führen nicht auf das erhoffte Glück, insbesondere die Zeichen der Liebe führen zu schmerzhaften Erfahrungen und Enttäuschungen. Das »Erlernen der Liebeszeichen« ist unweigerlich mit den »Zeichen des Gesellschaftslebens« verbunden, beide sind negativ konnotiert. 304 Diese Suche über die Zeichen lässt noch keine wiedergefundene Zeit erkennen, im Gegenteil: Sie ist von Assoziationen und Träumereien durchsetzt, die den unwillkürlichen Kindheitserinnerungen gleichkommen; die Chronologie der Erzählung wird von Zeitqualitäten durchbrochen, die den chronologischen Daten gegenüber gleichgültig sind. Die wiederholten Enttäuschungen scheinen die Suche zu einem »maßlos angewachsenen Raum« ausgedehnt und die beiden Brennpunkte der Erzählung – Suche und Heimsuchung – weit voneinander entfernt zu haben. 305 Der Umschlag von der Suche zur Heimsuchung erfolgt plötzlich gegen Ende des Romans.

303 304 305

Ebd., S. 223. Ebd., S. 237. Ebd., S. 240.

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Die Heimsuchung ereignet sich im Kontext einer »Abhandlung über die Kunst«. Erst an diesem Punkt wird die Zeit wiedergefunden. Die Möglichkeit hierzu eröffnet sich dem Hauptcharakter in Form der Kunst selbst: Die Heimsuchung steht für die »Berufung zum Schriftsteller«. 306 Der Roman endet damit, dass der Hauptcharakter beginnt, den Roman zu schreiben, den wir als Leser soeben gelesen haben. Erst an diesem Punkt wird offensichtlich, dass die bisher verstrichene Zeit verlorene Zeit ist, da nur das Schreiben ermöglicht, die Zeit wiederzufinden. 307 Am Ende der Erzählung zeigt sich die elliptische Struktur der Erzählung, die bisher verstrichene Zeit offenbart sich als verlorene Zeit; das Schreiben weist diese nach einer langen Suche als verlorene aus und findet sie zugleich wieder. Erst das Schreiben, der narrative Prozess selbst, steht für »den Akt des Wiederfindens der verlorenen Zeit«. 308 An diesem Punkt führt der Roman die narrative und die zeitliche Konfiguration als zugleich wiedergefundene und verlorene Zeit zusammen. Im Schreiben können Glück und Unglück der Vergangenheit noch einmal durchmessen werden. Der vergehenden und verlorenen Zeit steht die Verlockung gegenüber, ganz in der Kunst aufzugehen, d. h. in einer Dimension der Transzendenz außerhalb der Zeit, die die Zeit aufzuheben scheint. Doch »zwischen der verlorenen Zeit des Zeichenlernens und der Betrachtung des Außerzeitlichen bleibt eine Distanz«. Entscheidend ist für Ricœur, dass diese Spannung gerade nicht in der Transzendenz und Außerzeitlichkeit des Kunstwerks aufgehoben wird, sondern dass die Distanz deshalb bestehen bleibt, weil sie im Prozess des Schreibens aktiv »durchmessen« wird. 309 Ricœur sieht in Prousts Ebd., S. 244 f. Breitling interpretiert Ricœurs Proust-Lektüre über Ricœurs letztes großes Werk Geschichte, Gedächtnis, Vergessen; aus der Perspektive von Ricœurs phänomenologischer Gedächtnis- und Erinnerungstheorie erscheint die bis zum Zeitpunkt des Wiederfindens verstrichene Zeit nicht mehr als verlorene Zeit. Vielmehr entsteht zwischen verlorener und wiedergefundener Zeit das Erinnern und eröffnet in diesem Zwischenraum, so Breitling, eine praktisch-ethische Dimension, die sich mit Ricœurs Das Selbst als ein Anderer in Zusammenhang bringen lässt (vgl. Andris Breitling: Zeit erinnern – Zeit sich zu erinnern. Zur Proust-Interpretation nach Paul Ricœur, in: Andris Breitling und Stefan Orth (Hrsg.): Erinnerungsarbeit. Zu Paul Ricœurs Philosophie von Gedächtnis, Geschichte und Vergessen (Schriftenreihe des Frankreich-Zentrums der Technischen Universität Berlin, Bd. 9). Berliner Wissenschaftsverlag: Berlin 2004, S. 101–116, hier S. 115 f.). 308 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 2, S. 246. 309 Ebd., S. 258. 306 307

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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit drei Figuren, die die wiedergefundene verlorene Zeit in ihrer Spannung und elliptischen Struktur zwischen Suche und Heimsuchung, verlorener und wiedergefundener Zeit realisieren, ohne sie dabei aufzulösen. Die erste Möglichkeit besteht in einer, wie Ricœur sagt, stilistischen Lösung: in der Metapher. Da die Vergangenheit nicht noch einmal erlebt werden kann, diese im Gegensatz zum Erlernen der Zeichen aber durchaus glückselige Momente verspricht, beginnt der Hauptcharakter die Vergangenheit, d. h. die Suche nach der verlorenen Zeit aufzuschreiben. Die Wirklichkeit entsteht dem Erzähler zufolge aus der Beziehung zwischen Erinnerungen und Empfindungen und diese kann narrativ erschlossen werden. 310 Da die Funktion der Metapher darin besteht, zwei verschiedene Sinnbereiche in Bezug zueinander zu setzen, ist sie auch imstande, Erinnerung und Empfindung aufeinander zu beziehen und miteinander zu verknüpfen. Dieser metaphorische Bezug tritt durch die narrative Aufklärung, »der glückserfüllten Augenblicke zutage« und wird im Roman »zur Matrix aller Beziehungen, in denen zwei verschiedene Gegenstände trotz ihres Unterschiedes zum Wesen erhoben und den Kontingenzen der Zeit enthoben werden«. Von der Zeitposition der Heimsuchung aus wird noch die Mühsal des Zeichenlernens mit einer doppelten Sinnstruktur beladen; insofern die metaphorische Beziehung Empfindung und Erinnerung in die Narration einzuschreiben imstande ist, gibt sie noch der Mühsal der Suche nach der verlorenen Zeit in Form der wiedergefundenen verlorenen Zeit einen Sinn. Die wiedergefundene Zeit ist »die durch die Metapher verewigte verlorene Zeit«. 311 Zusätzlich zu dieser Lösung, die sich auf der Ebene des Stils des Werkes findet, erfährt die wiedergefundene verlorene Zeit eine, wie Ricœur sagt, optische Lösung, die aus der stilistischen hervorgeht: Wie der Erzähler konstatiert, ist »der Stil […] für den Schriftsteller wie die Farbe für den Maler nicht eine Frage der Technik, sondern seine Art zu sehen«. 312 Dieses »Sehen (vision) nennt der Erzähler die Erfahrung der wiedergefundenen Zeit«, insofern als dass der »Lern-

Vgl. ebd., S. 251. Ebd., S. 252 f. 312 Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die wiedergefundene Zeit 2 [1927] (Werkausgabe, Bd. 13), übers. von Eva Rechel-Mertens. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1976, S. 308; vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 2, S. 253. 310 311

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prozess in einem Wiedererkennen terminiert«, das durch die Außerzeitlichkeit der Kunst ermöglicht wird. 313 Diese Außerzeitlichkeit entsteht mit der Verewigung der wiedergefundenen verlorenen Zeit in einem Werk. Von dieser Position der Außerzeitlichkeit aus, lassen sich Dinge wiedererkennen, d. h. als dieselben identifizieren, obgleich sie sich mit der fortschreitenden Zeit verändert haben: »Jemanden ›wiederzuerkennen‹ und mehr noch, ihn, den man nicht wiedererkennen kann, dennoch zu identifizieren, bedeutet, unter einer gleichen Benennung zwei konträre Dinge zu denken«. 314 Im Schreiben findet sich der Hauptcharakter über das narrativ vermittelte Erleben der Vergangenheit selbst wieder. Die stilistische und die optische Lösung – die Metapher und das Wiedererkennen – finden an diesem Punkt zusammen und führen vor, wie die wiedergefundene verlorene Zeit in der Spannung zwischen Suche und Heimsuchung narrativ konfiguriert wird: Sie stiften Identität in Differenz. »Metapher und Wiedererkennen kommen darin überein, daß sie zwei Eindrücke auf die Ebene des Wesens erheben, ohne ihren Unterschied aufzuheben«. Das Wiedererkennen nimmt die zeitliche Bindung auf, die die Metapher zwischen Erinnerung und Empfindung knüpft, und ermöglicht dadurch ein Wiedererkennen des Vergangenen im Gegenwärtigen. Die Äquivalenz beider besteht darin, dass die Metapher zum »logischen Äquivalent« des Wiedererkennens wird und das Wiedererkennen zum »zeitlichen Äquivalent« der Metapher; die Metapher führt unter ein und derselben Benennung konträre bzw. differente Dinge zusammen, das Wiedererkennen besteht in der Identifikation ein und derselben Person der vergehenden Zeit zum Trotz. Metapher und Wiedererkennen ermöglichen die Distanz zwischen Suche und Heimsuchung zu durchmessen und zusammenzuhalten und konstituieren so die Zeit als wiedergefundene verlorene Zeit. Beide finden für Ricœur in einer dritten Figur der wiedergefundenen verlorenen Zeit zusammen: Die Beziehung zwischen Metapher und Wiedererkennen kulminiert in »der Beziehung zwischen dem Schreiben und dem Eindruck (entre l’écriture et l’impression), also in einem letzten Sinne zwischen Literatur und Leben«. Diese Varian-

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 2, S. 253. Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die wiedergefundene Zeit 2, S. 367; vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 2, S. 254. 313 314

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te der wiedergefundenen verlorenen Zeit ist für Ricœur »der wiedergefundene Eindruck«. 315 Dem Erzähler in Prousts Werk zufolge setzt Schreiben stets die Bereitschaft voraus, sich seiner inneren Wirklichkeit zu unterwerfen, die die Metapher über die Spannung von Erinnerung und Empfindung in den Text einschreibt. Die Wirklichkeit, die entsteht, ist die des Textes und Werkes, die sich der Außerzeitlichkeit annähert und Erinnerung und Empfindung bewahrt. Das Werk überdauert die Zeit. Die Unterwerfung des Autors unter seine innere Wirklichkeit droht das Leben ganz in das Werk eingehen zu lassen. 316 Das Werk als Kunst und Literatur verstanden, verleiht dem Verhältnis von Leben und Literatur eine neue Bedeutung. Das Kunstwerk spricht den »seiner Spur nach bewahrten Eindruck« aus. Das Leben geht in den Text ein und wird durch die Außerzeitlichkeit der Kunst zum Ausdruck gebracht. Diese Umkehr dieses Verhältnisses ist das Resultat des Schreibens. Nunmehr auf »der Suche nach dem verlorenen Eindruck« 317 ist die Literatur in ihrer Außerzeitlichkeit »die Freude der wiedergefundenen Wirklichkeit«. 318 Diese dritte Variante der wiedergefunden verlorenen Zeit umfasst die beiden anderen Figuren, die Metapher und das Wiedererkennen, und versöhnt zugleich Leben und Literatur miteinander, indem es das Leben auf die Seite des Außerzeitlichen rückt: »Sofern nämlich das Leben die Seite des Außerzeitlichen darstellt, darf man sagen, daß die wiedergefundene Zeit die Aufnahme der verlorenen Zeit in das Außerzeitliche ausdrückt wie der wiedergefundene Eindruck die des Lebens in das Kunstwerk.« In Ricœurs Interpretation bleibt auch die Außerzeitlichkeit »nur ein Durchgangspunkt«; es gilt, sich das im Werk verewigte Leben anzueignen. 319 Damit sieht Ricœur in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit narrativ realisiert, was seine eigene Hermeneutik der narrativen Identität im Kern bestimmt: Texte entwerfen aus sich heraus mögliche Wirklichkeiten, innerhalb derer wir den Spuren folgen, die dort eingeschrieben wurden, um über diese ein mögliches Selbstverständnis zu entwickeln; nicht nur auf den Spurbegriff wird Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 2, S. 254. Vgl. ebd., S. 254–256. 317 Ebd., S. 257. 318 Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die wiedergefundene Zeit 2, S. 285; vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 2, S. 257. 319 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 2, S. 257 f. 315 316

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zurückzukommen sein: Metapher, Wiedererkennen und Eindruck bilden zentrale Funktionen von Ricœurs Theorie der narrativen Identität – Zeit, Erzählung und Identität kommen an diesem Punkt zusammen. Indem die narrative Fiktion diese Zeiterfahrungen narrativ aufbereitet und vorführt, macht sie verständlich, was sich in der empirischen Erfahrung allzu aporetisch ausnimmt und nach Aufklärung verlangt, ohne aufgeklärt werden zu können und dadurch, so Ricœur in Anlehnung an Augustinus, die Seele nicht zur Ruhe kommen lässt. Die Konsonanz der Erzählung hebt die Dissonanz der Zeiterfahrung zwar nicht auf, doch überführt sie diese in ein Modell dissonanter Konsonanz. Bevor mit Ricœur der Frage nachgegangen werden kann, inwieweit sich auf der Grundlage des bisher Ausgeführten eine narrative Identität ausbilden kann, gilt es, die Aporie der Zeitlichkeit in einem nächsten Schritt weiter zu entwickeln. Die Aporie der Zeiterfahrung potenziert sich für Ricœur im Rahmen dessen, was er als eine Phänomenologie des Zeitbewusstseins entwirft. Es sind maßgeblich Heideggers Analysen zur Zeitlichkeit, die die philosophische Reflexion über die Zeit in eine Sackgasse führen, erneut weist die narrative Funktion den Ausweg auf. Ricœurs Weg führt über Heidegger, da es für Ricœur gilt, zentrale Begriffe der heideggerschen Phänomenologie für die eigene Hermeneutik zu reklamieren: Es geht Ricœur um den Begriff der Geschichtlichkeit sowie um den der Wiederholung. An dem Punkt, an dem Heideggers Analysen in eine Sackgasse führen, greift Ricœur auf Proust zurück: Der Begriff des Wiedererkennens, den Ricœur in seiner Proust-Interpretation entwickelt, findet sich in seiner Interpretation der heideggerschen Analysen zur Zeitlichkeit unter dem Begriff der Wiederholung wieder.

4.4.3. Die Aporie der Zeitlichkeit: Die existenziale Zeitlichkeit Heideggers und der vulgäre Zeitbegriff Ricœurs Phänomenologie des Zeitbewusstseins konfrontiert ein subjektives Zeitempfinden mit der objektiv messbaren Zeit. Aus dieser Konfrontation ergeben sich für Ricœur Aporien, die sich nicht auflösen lassen. Die folgende Darstellung verfolgt Ricœurs Interpretation von Heideggers Analysen zur existenzialen Zeitlichkeit, mit denen Ricœur zufolge eine Verschärfung der Aporie der Zeitlichkeit zutage 382 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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tritt. 320 Folgen wir der Darstellung Ricœurs, dann zeigt sich diese Verschärfung dort, wo die existenziale Zeitlichkeit auf den von Heidegger sogenannten vulgären Zeitbegriff trifft: Heideggers Analysen zur existenzialen Zeitlichkeit des Daseins auf der einen, die objektiv messbare Zeit auf der anderen Seite. Indem Ricœur die Aporie über Heideggers Analysen zur Zeitlichkeit an ihre Grenze treibt, stößt er zu der von ihm sogenannten menschlichen Zeit vor, auf die es ihm ankommt und von der im Anschluss zu sprechen sein wird. In seiner Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Heideggers fällt Ricœurs Augenmerk auf die Analytik des Daseins und die Analyse der zeitlichen Strukturen, genauer: auf die Erwartung, die in der Sorge gründet und auf die Zukunft orientiert ist, und auf den Begriff der Wiederholung, der die zeitliche Erstreckung des Daseins zusammenhält und diese nicht in einer der drei Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft aufgehen lässt. Da die hermeneutische Phänomenologie Heideggers auf eine Analyse des Verstehens und Aufdeckens der existenzialen Strukturen des Daseins aus 320 Ricœur konfrontiert im Vorfeld die Zeitauffassung Augustinus’ mit der Zeitauffassung Aristoteles’ sowie die Husserls mit der Kants. Aus beiden Konfrontationen ergeben sich Aporien, die darin übereinkommen, dass jeweils eine subjektive Zeitauffassung, so bei Augustinus und Husserl die Zeit der Seele und des Bewusstseins, einer objektiven Zeitauffassung, so bei Aristoteles und Kant die Zeit der Natur, des Kosmos und der Welt, gegenübersteht (vgl. Ricœur: zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 16–95). Ricœur zufolge bleiben diese Aporien unverbunden nebeneinander stehen und lassen keine Vermittlung zu. Auf diese Aporien kommt es an diesem Punkt im Einzelnen nicht an, entscheidend für die folgende Darstellung der narrativen Identität ist, dass diese Aporien sich in Ricœurs Auseinandersetzung mit Heideggers Analysen der Zeitlichkeit potenzieren und in einer einzigen Aporie kulminieren. Ricœur zufolge lässt sich auch diese Aporie nicht auflösen, doch zumindest übersteigen, so dass aus der aporetischen Struktur an den Grenzen der Phänomenologie des Zeitbewusstseins die menschliche Zeit entsteht. Tengelyi hat darauf hingewiesen, dass Ricœur die Schlussfolgerungen von Zeit und Erzählung nicht nur, wie Ricœur selbst betont, etwa ein Jahr nach Fertigstellung von Zeit und Erzählung geschrieben hat (vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 389 (Anm. 1)), sondern dass diese Schlussfolgerungen bereits entscheidende Veränderungen und Neuerungen mit sich bringen. Diese bestehen im Wesentlichen darin, dass zusätzlich zu der auch im Folgenden behandelten Grundaporie zwischen subjektiver und objektiver Zeit, zusätzlich die Aporien zwischen der Zeit der Seele und der Weltzeit und die zwischen der existenzialen und der vulgären Zeitlichkeit aufgeworfen werden. Diese lassen sich aus der ersten Aporie herleiten (vgl. László Tengelyi: Phänomenologie der Zeiterfahrung und Poetik des Zeitromans in Paul Ricœurs »Temps et récit«, in: Mesotes 3 (1991), S. 28–36, hier insbes. S. 29 f.). Römer hat diese drei Aporien ausführlich dargestellt (vgl. Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, S. 325–456).

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ist, die sich im alltäglichen Lebensvollzug nicht zu erkennen geben, bedarf es der existenzialen Analyse. Die zeitliche Struktur der Erwartung sieht Ricœur bei Heidegger im Wesentlichen durch drei Aspekte bestimmt: Erstens ist die »als Ganzheit begriffene[] Zeit […] eingebettet in die grundlegende Struktur der Sorge«, zweitens bilden Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft eine Einheit, die zugleich eine »ek-statische Einheit« ist, d. h. die drei Zeiten implizieren sich nicht nur wechselseitig, sondern konstituieren darüber hinaus »die Zeit als Außer-sich«, d. h. eine Zeit, die sich nicht nur innerhalb des Daseins, sondern auch außerhalb des Daseins konstituiert; aus der »Entfaltung der ek-statischen Einheit« ergibt sich drittens eine Hierarchie unterschiedlicher Zeitigungsstufen: »Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit, Innerzeitigkeit«. 321 In der Darstellung Ricœurs führt der Weg über diese drei Zeitigungsstufen sukzessive auf Heideggers Abgrenzung gegenüber dem vulgären Zeitbegriff. Die Zeitlichkeit ist von Grund auf aus der Struktur der Sorge abzuleiten und impliziert zugleich die wichtigsten Existenzialien: »Entwurf, Geworfenheit und Verfallen«. Die Existenzialien bilden die Grundstrukturen, über die sich das Dasein in seiner Existenz auslegt und zu verstehen imstande ist. Sie gründen in der Struktur der Sorge, in dem »Charakter des Sich-vorweg-seins«. 322 Die Zeitlichkeit umgreift diese Existenzialien und umfasst sie als ein Ganzes. Der Sinn der Sorge ist die Konstitution von Zeitlichkeit. Um zu verstehen, wie sich diese Konstitution vollzieht, bedarf es der Auslegung des Daseins: Ausgehend von Heideggers These der Seinsvergessenheit, erweist sich der Sinn als das Verstehen von Sein im Entwurf des Daseins. Im Zuge des Verstehensprozesses legt sich das Dasein selbst aus und begreift sein ihm eigenes Sein in seinen Möglichkeiten. Die Sorge ermöglicht dadurch »für sich allein alle menschliche Erfahrung«. Heideggers Versuch, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus der Sorge abzuleiten, setzt aufgrund der vorgreifenden Struktur der Sorge einen Schwerpunkt auf die Zukunft und Erwartung, auf die alle menschliche Erfahrung konzentriert wird. Dieses Primat der Zukunft liegt Ricœur zufolge darin begründet, dass das Dasein in der Sorge »entsprechend seinen eigensten Mög-

321 322

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 101. Ebd., S. 102 f.

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lichkeiten auf sich zukommen« will. Bereits das Verstehen und Auslegen, eben das Moment, das die Phänomenologie Heideggers Ricœur zufolge zu einer hermeneutischen Phänomenologie macht, ist bei Heidegger maßgeblich auf die zeitliche Orientierung der Zukunft ausgerichtet. Das »Zukommen« (advenir vers), so Ricœur, ist »die Wurzel der Zukunft«. 323 Nicht zuletzt zeigt sich das Dasein in Heideggers Begriff der vorlaufenden Entschlossenheit auf die Zukunft orientiert. Ricœur zufolge lassen sich über diese Bedeutung der Zukunft die drei Dimensionen der Zeit in ein neues Verhältnis setzen, vorausgesetzt, es wird bedacht, dass das Dasein in seiner Zeitlichkeit maßgeblich durch eine weitere Struktur bestimmt ist: das Sein zum Tode. Das Sein zum Tode verleiht dem »Charakter des Sich-vorwegseins der Sorge das Geheimnis ihrer eigenen Vollständigkeit«. 324 Das Sein zum Tode verweist nicht nur auf das Ende des In-der-Welt-seins, sondern konstituiert erst die Ganzheit des Daseins: Es wirkt zurück auf das Ganze des Daseins und leitet dieses in seinem Entwurfscharakter. Insofern ist es das »Sichvorweg« der Sorge, das die Zeit in ihrer existenzialen Tragweite bestimmt; in ihrer Ganzheit ursprünglich erfahren wird die Zeitlichkeit in der vorlaufenden Entschlossenheit, in ihrer Ganzheit umfasst wird sie durch das Sein zum Tode. Aufgrund dessen ist es laut Ricœur möglich, die Übergänge von der Zukunft in die Vergangenheit existenzial zu bestimmen, d. h. diese Übergänge sind dem Dasein nicht äußerlich: Die Gewesenheit wird »innerlich von der Zukunft impliziert«, die Vergangenheit hingegen ist »bloß äußerlich von der Zukunft unterschieden«. 325 Die Sorge selbst impliziert die Gegenwart; existenzial bestimmt ist sie ein Gegenwärtigen, d. h. ein gegenwärtig machen bzw. reden. »Zukunft und Auf-sich-zurückkommen werden auf diese Weise zu integrierenden Bestandteilen der Entschlossenheit«. 326 Die Zeitlichkeit umfasst als eine Einheit Zukunft, Gewesenheit und Gegenwärtigen. Damit die Zeitlichkeit eine Ganzheit bildet, bedarf es eines weiteren Merkmals, das die Zeit zwischen Geburt und Tod erfasst: die »Erstreckung des Daseins«. Das Dasein trennt nicht Geburt und Tod voneinander, sondern »konstituiert, indem es sich erstreckt, sein 323 324 325 326

Ebd., S. 111. Ebd., S. 103. Ebd., S. 112 (Anm. 17). Ebd., S. 112 f.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

wahres Sein als eben diese Erstreckung«. 327 Das Dasein ist Erstreckung, Anfang und Ende, Geburt und Tod werden einbezogen und das Leben zwischen Geburt und Tod erhält einen Sinn. Der Übergang von der Struktur der Zeitlichkeit des Daseins zu einer allen gemeinsamen bzw. gemeinschaftlichen Form der Zeitlichkeit vollzieht sich über die Geschichtlichkeit. Das Dasein ist immer schon Teil einer Überlieferung und eines Erbes: Es schöpft die ihm eigenen Möglichkeiten nicht autonom aus sich selbst, sondern ist stets Teil einer Gemeinschaft. Es sieht sich in seiner Geworfenheit einer »einzigartige[n] Konfiguration eines schicksalhaften Anteils an Möglichkeiten [gegenüber], die weder gewählt noch aufgezwungen, sondern überkommen und überliefert« sind; das Erbe kann »empfangen und übernommen« werden. 328 In dieser Unterscheidung zwischen der Überlieferung von Möglichkeiten und dem Schicksal konstituiert sich die Geschichtlichkeit – »zwischen der Überlieferung von Möglichkeiten, die ich selbst als gewesenes Dasein bin, und der zufälligen Übernahme eines ein für allemal festen Bestands«. Die Geschichtlichkeit des Einzelnen liegt in seinem Schicksal begründet: Jeder überliefert sich sich selbst und übernimmt sich zugleich »als ein Erbe von Möglichkeiten«. Den Übergang vom Schicksal und der Geschichtlichkeit des Einzelnen zur Geschichtlichkeit der Gemeinschaft bildet der Begriff des Geschicks, der über die existenziale Kategorie des Mitseins vermittelt wird. Der Begriff des Geschicks steht für das »Geschehen[] der Gemeinschaft«, das Mitsein stiftet diese Gemeinschaft und steht für das »gemeinsame Geschick«. 329 An diesem Punkt zeichnet sich der Begriff der Wiederholung ab, auf den es Ricœur maßgeblich ankommt. Die Wiederholung wird durch die drei Ekstasen Zukunft, Gewesenheit und Gegenwärtigen erzeugt. Zum Sichvorweg bzw. Vorlaufen in die Zukunft gesellt sich an diesem Punkt zusätzlich die Übernahme des Erbes als Vergangenheit. Die Wiederholung ist »die Überlieferung ererbter und gleichwohl gewählter Möglichkeiten«. Der heideggersche Begriff der Wiederholung führt zu einem Gleichgewicht der zeitlichen Ekstasen,

Ebd., S. 115 f. Ebd., S. 119; zur näheren Bestimmung des Begriffs der Geworfenheit als Schuldigsein und Verantwortung vgl. ebd., S. 112. 329 Ebd., S. 120 f. 327 328

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Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit

indem dieser Zukunft, Gewesenheit und Gegenwärtigen gleichermaßen einbezieht. Die Wiederholung bindet die für die Geschichtlichkeit konstitutiven Begriffe an die Zeitlichkeit. Sie eröffnet »unausgetragene Möglichkeiten, die in der Vergangenheit übersehen oder unterdrückt worden sind«. Die Wiederholung öffnet auf diese Weise die Vergangenheit für die Zukunft. In dem Kontrast zwischen der Erstreckung des Daseins in Orientierung auf die Zukunft und der Wiederholung in Orientierung auf die Vergangenheit sieht Ricœur dieselbe Ambivalenz am Werk, die bei Augustinus die »Dialektik von distentio und intentio« konstituiert. 330 Dass auch Heidegger diese Ambivalenz nicht aufzulösen und damit die Gegenüberstellung der Zeit der Seele und der kosmischen Zeit, die der phänomenologischen und der objektiven Zeit nicht zu überwinden imstande ist, liegt in seiner Abwehr des vulgären Zeitbegriffs begründet. Der vulgäre Zeitbegriff resultiert bei Heidegger, so die Darstellung Ricœurs, aus dem Zusammenspiel von Zeitlichkeit und Innerzeitigkeit. Die Innerzeitigkeit umfasst alles Geschehen in der Zeit, die Ereignisse in ihr sind erstens datierbar, die Innerzeitigkeit selbst wird zweitens als eine Zeitspanne ausgewiesen, in der die Ereignisse stattfinden, und drittens ist sie öffentlich, d. h. sie beruht auf einer Auslegung der existenzialen Zeitlichkeit, die ein gewöhnliches und alltägliches Verständnis der Zeit als öffentliche Zeit hervorbringt. Diese drei Merkmale kulminieren in der von Heidegger sogenannten vulgären Zeitauffassung. Sie führen zu einer Nivellierung der von ihm geforderten existenzialen Analyse der Zeit und stehen dieser entgegen. 331 Der vulgäre Zeitbegriff deckt sich mit dem der objektiv messbaren Zeit: Er steht für »eine Abfolge von punktuellen Jetzten […], deren Abstände von unseren Uhren gemessen werden«. 332 Diese Messbarkeit reduziert die Zeit auf das Besorgen, wie Heidegger sagt, d. h. auf den theoretischen sowie praktischen Umgang des Daseins mit dem ihm umgebenden Seienden in der Welt. 333 Für Ricœur ist entscheidend, dass »im Besorgen […] die Ekstase der Gegenwart oder

Ebd., S. 122 f. Vgl. ebd., S. 135. 332 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 140. 333 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit [1927]. Max Niemeyer: Tübingen 71953, S. 52–59. 330 331

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Paul Ricœur: Narrative Identität

vielmehr des Gegenwärtigens im Sinne des Gegenwärtig-machens« überwiegt. Die Gefahr besteht für Heidegger an dieser Stelle darin, »den Dingen unserer Sorge ein höheres Gewicht« zu geben, »als der Sorge selbst«; wir wären dann weniger in der Welt als vielmehr bei der Welt und den Dingen in der Welt. 334 Im Hintergrund der existenzialen Analysen steht der Anspruch auf Eigentlichkeit: Die Auslegung und das Verstehen des Daseins in seiner Eigentlichkeit liegt der objektiven Welt der Dinge selbst und damit einem möglichen Verfall an die Dinge voraus. Das Verfallen an die Welt kommt einem Verlust an Eigentlichkeit gleich. Richtet sich das Besorgen auf die Dinge, d. h. wird es falsch ausgelegt, so dass es dem Dasein nicht mehr um das ihm eigene Sein geht, dann wird die Eigentlichkeit unterlaufen, so die Darstellung Ricœurs. Das Besorgen legt den Akzent immer schon auf die Gegenwart. Diese Konzentration auf die Gegenwart gerät in Verbindung mit dem vulgären Zeitbegriff in ein Ungleichgewicht, insofern dieser die Zeit in Intervalle von verschiedenen ›Jetzten‹ teilt. Sie wird zu einer universellen Zeit, zu einem »System von Daten«, das alles unter sich begreift. 335 Der vulgäre Zeitbegriff steht für das Verfallen an eine mess- und datierbare Welt, die Zeit des Besorgens wird objektiviert und nivelliert. Der vulgäre Zeitbegriff verdeckt die existenziale Zeitlichkeit. Für Ricœur potenziert Heideggers existenziale Analyse der Zeitlichkeit die Aporie der Zeitlichkeit, die an dieser Stelle ihren Höhepunkt erreicht: Heidegger subsumiert alle Zeitverständnisse, die nur im entferntesten der objektiven Zeit zugehören unter den vulgären Zeitbegriff und bricht die Verbindung zwischen der Analyse der existenzialen Zeitlichkeit und der objektiven Zeit ab. 336 Ricœur zufolge liegt die Leistung der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers darin, aufgedeckt zu haben, dass jede Form der objektiven Zeit die menschliche bzw. existenziale Zeit voraussetzt. Ricœurs Kritik jedoch richtet sich gegen die Weigerung, eine Vermittlung zwischen der subjektiven respektive existenzialen Zeitlichkeit und der objektiven, d. h. vulgären Zeit zuzulassen und stattdessen die objektive Zeit als defizitären Modus der Zeitlichkeit zu stigmatisieren. Auf dem Weg zur narrativen Identität gelten Ricœurs Bemühungen der Vermittlung 334 335 336

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 132 f. Ebd., S. 140. Vgl. ebd., S. 150.

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Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit

zwischen der subjektiven Zeiterfahrung und der objektiv messbaren Zeit – notwendig hierzu ist eine Überkreuzung der Referenzmodi von Geschichte und Fiktion. Einen ersten Schritt in diese Richtung geht Ricœur, wenn er betont, dass es keiner Fundamentalontologie im Sinne Heideggers bedarf, um die endliche Lebenszeit des Menschen gegen die objektive Zeit als Weltzeit, als die Zeit der Natur oder des Kosmos auszuspielen. Im Kontext seiner Narrativitätstheorie sind es auf epistemologischer Ebene bereits »die Begriffe ›Handlung‹ und ›Erzählung‹, die sich nicht von der menschlichen Sphäre auf die der Natur übertragen lassen«. 337 Die Narration dient Ricœur dazu, die für ihn zentralen Begriffe Heideggers aus dem Korsett der Eigentlichkeit der existenzialen Analysen zu lösen und sie produktiv in seine eigene Hermeneutik zu integrieren: Es handelt sich um den Begriff der Geschichtlichkeit und den der Wiederholung. Im Zuge seiner Interpretation von Woolfs Mrs. Dalloway und Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hat Ricœur vorgeführt, inwieweit die Fiktion auf die Aporie der Zeitlichkeit zu antworten weiß, im Zuge seiner Interpretation der Analysen der Zeitlichkeit Heideggers sucht Ricœur erneut Anschluss an seine ProustInterpretation. In Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit erfährt Heideggers Begriff der Wiederholung seine narrative Umsetzung und erweist sich für Ricœur als die komplexeste und verborgenste Form der dissonanten Konsonanz. In Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit erscheint die Zeit erst dann als verlorene Zeit, als sie wiedergefunden wird. Bis zu diesem Zeitpunkt weiß die Suche nicht, in welche Richtung sie verläuft. Diese Orientierungslosigkeit wird erst aufgehoben, als der Vorsatz gefasst wird, ein Kunstwerk zu schaffen, das die verlorene Zeit als wiedergefundene Zeit in sich aufnimmt. Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit veranschaulicht für Ricœur zunächst weniger die Relation von erlebter Zeit bzw. Lebenszeit und objektiver Weltzeit, sondern führt die genuin phänomenologische Aporie der Zeitlichkeit vor, wie sie für Ricœur in dem heideggerschen Begriff der Wiederholung zum Ausdruck kommt, insofern die Wiederholung bei Heidegger für eine Vereinheitlichung des Zeitflusses sorgt – sie bezieht alle drei Dimensionen der Zeit gleichermaßen ein.

337

Ebd., S. 148.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

Der Erzähler in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit bezieht die über die Zeichen der Gesellschaft vermittelten Lernprozesse des Hauptcharakters auf eine Suche, die einer Offenbarung folgt, »die in den beglückenden Augenblicken präfiguriert ist und in der großen Meditation über die erlösende Kraft der Kunst […] kulminiert«. Für Ricœur evoziert dies den heideggerschen Begriff der Wiederholung: Prousts »Formel für die Wiederholung ist die wiedergefundene verlorene Zeit« – dieser Formel entspricht »stilistisch […] die Metapher, optisch ist sie im Wiedererkennen angelegt«. Die Wiederholung Prousts ist die »durchmessene[] Distanz« auf der Suche nach der verlorenen Zeit, fixiert in der Literatur und Kunst, in einem Werk, das die Zeit überdauert, werden die Metapher und das Wiedererkennen »auf geistiger Ebene« durch den »wiedergefundene[n] Eindruck« zusammengehalten. 338 Ricœur führt die drei Figuren, die in Prousts Werk als Ausdruck der wiedergefundenen verlorenen Zeit fungieren: die Metapher, das Wiedererkennen und den Eindruck, in der Wiederholung Heideggers zusammen. Die heideggersche Wiederholung wird Ricœur zum »emblematische[n] Ausdruck für die verborgenste Gestalt dissonanter Konsonanz«. Sie eignet sich Ricœur zufolge am besten dazu, die fiktiven Zeiterfahrungen auf einen Zusammenhang des Lebens zu führen – dieser Zusammenhang des Lebens, ein Ausdruck, den Ricœur Dilthey entlehnt, führt auf Ricœurs Begriff der narrativen Identität. Sie gewährt, wie Ricœur sagt, »auf die unwahrscheinlichste Weise der endlichen, der öffentlichen und der mundanen Zeit einen Zusammenhalt«. 339 Um diesen Zusammenhalt herzustellen, löst Ricœur die Wiederholung aus der Eigentlichkeit der Erstreckung des Daseins, das Heidegger als das wahre Sein des Daseins zwischen Geburt und Tod gilt. Dies ermöglicht ihm die Integration der Begriffe der Wiederholung und der Geschichtlichkeit in seine Theorie der narrativen Identität und zwar in der Bedeutung, die diese beiden Begriffe in Sein und Zeit noch haben: Sie stehen in Sein und Zeit, so Ricœur, für die Öffnung der Vergangenheit für die Zukunft, um übersehene und unterdrückte Möglichkeiten der Vergangenheit freizusetzen. Ricœur richtet sich im Kontext der Zeitanalysen zunächst gegen die Weigerung Heideggers, seine Analysen zur Zeitlichkeit mit der

338 339

Ebd., S. 212. Ebd., S. 220.

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Geschichte und Narrativität, Zeit und Fiktion und die Aporie der Zeitlichkeit

objektiven Zeit in Verbindung zu bringen; um zu dieser Kritik und im Folgenden über Heideggers Weigerung hinaus zu gelangen, ohne den Begriff der Geschichtlichkeit aufgeben zu müssen, hat Ricœur Heideggers Analysen zur Zeitlichkeit von Beginn an von der Ontologie, die Heidegger nach Sein und Zeit entwickelt, ferngehalten. 340 Vor dieser Ontologie gilt Ricœur die heideggersche Phänomenologie als eine hermeneutische Phänomenologie. Dass Ricœur die Ontologie Heideggers von dessen Analysen zur Zeitlichkeit isoliert, geschieht aus zwei Gründen: Erstens ermöglicht dies Ricœur, an dem Begriff der Geschichtlichkeit festzuhalten, um darauf aufbauend zweitens eine eigene Ontologie zu setzen, eine Ontologie der Metapher und narrativen Identität, die dem handelnden Subjekt besondere Aufmerksamkeit zukommen lässt, dessen Geschichtlichkeit die Möglichkeit zur Öffnung der Vergangenheit als eines Kontingenzraums bietet; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überlagern sich an diesem Punkt. Ricœur zufolge bietet Heidegger selbst die Möglichkeit, seine Analysen zur Zeitlichkeit von seiner Ontologie zu isolieren, wird nur bedacht, dass die Geschichtlichkeit bei Heidegger stets die Innerzeitigkeit voraussetzt. Wenngleich die Innerzeitigkeit im Kontext der heideggerschen Phänomenologie auf den defizitären Modus der öffentlichen und objektiven Zeit führen und dadurch die »Nivellierung der existenzialen Analyse« 341 der Zeit vorantreiben mag, setzt doch die Geschichtlichkeit stets die Innerzeitigkeit voraus, denn »ohne die Datierbarkeit, Gespanntheit und Öffentlichkeit können wir von der Geschichtlichkeit nicht sagen, sie entfalte sich zwischen einem Anfang und einem Ende, erstrecke sich über dieses Zwischen und werde zum Mitgeschehen eines Geschicks«. 342 Die phänomenologischen Analysen Heideggers setzen die objektive Zeit und Weltzeit voraus, um sie im Zuge der existenzialen Analysen zu zerstreuen. Was sich dann noch Geschichte nennt, ist Ricœur zufolge eine »Zone des Bruchs«. 343 Um diesen Bruch nicht absolut werden zu lassen, gilt es für Ricœur den Begriff der Geschichtlichkeit davor zu retten, in einem Monolog der heideggerschen Phänomenologie unterzugehen, die das Gespräch mit anderen Diszip340 341 342 343

Vgl. ebd., S. 96 f. Ebd., S. 135. Ebd., S. 153. Ebd., S. 155.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

linen und dadurch auch mit anderen Zeitauffassungen abbricht. 344 Für Ricœur steht an dieser Stelle die Möglichkeit der Darstellbarkeit von Geschichte auf dem Spiel, die im Folgenden Kapitel unter dem Stichwort der Repräsentanz verhandelt wird. Droht die heideggersche Phänomenologie diese Möglichkeit zu unterlaufen, so gilt es für Ricœur, die Geschichtlichkeit seiner Narrativitätstheorie zu integrieren, um zwischen der subjektiven und endlichen Zeit und der objektiven Zeit, der Zeit der Welt und des Kosmos zu vermitteln, das entscheidende Mittelglied ist der Begriff der Spur. Auf den Begriff der Spur sowie die Frage der Darstellbarkeit und Repräsentanz von Geschichte wird zurückzukommen sein. Die narrative Fiktion macht »die Grenzen der Phänomenologie sichtbar, die aus ihrem eidetischen Stil resultieren«. 345 Das Harmonisierungsbedürfnis des eidetischen Stils führt zur Vereinheitlichung des Zeitflusses, diese Vereinheitlichung verschärft die Aporien jedoch nur. Diese Aporien sind allesamt Variationen der Disparität zwischen subjektiver und objektiver Zeit. Was die Phänomenologie nicht aufzulösen vermag, kann die Fiktion jedoch narrativ gestalten: Da es »nicht Aufgabe der Fiktion [ist], Eigentlichkeit zu predigen«, vermag sie die Grenzen zu verschieben, die die heideggerschen Analysen setzen, ohne zugleich den Begriff der Geschichtlichkeit aufgeben zu müssen. 346 Die Geschichtlichkeit wird für Ricœur zur zentralen Funktion, über die er die bisherigen Ergebnisse zusammenführt, um Geschichtsschreibung, Narratologie und Phänomenologie miteinander zu vermitteln. In einem letzten Schritt kreuzt Ricœur die Referenzfunktionen dieser drei Bereiche miteinander. Die erzählte Zeit setzt die historische Zeit in Bezug zur phänomenologischen Zeit. An diesem Punkt stoßen wir auf die Möglichkeit zur Refiguration der Zeit, das Resultat ist die narrative Identität. Die Narrativität soll das Potenzial der Aporien der Zeitlichkeit aufnehmen und freisetzen, um »sie arbeiten zu lassen und produktiv zu machen«. 347 Diese ProdukZur Kritik an Ricœurs Kritik an Heideggers Analysen zur Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit vgl. Scharfenberg: Narrative Identität im Horizont der Zeitlichkeit, S. 128–135, 281 f.; zu Ricœurs Adaption des heideggerschen Begriffs der Geschichtlichkeit vgl. Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn, S. 191–197 sowie Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, S. 264–276, 325–338. 345 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 221. 346 Ebd., S. 206. 347 Ebd., S. 417. 344

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Von der Poetik zur Rhetorik

tivität zeigt sich jedoch erst auf Ebene der Refiguration, die im Folgenden auf eine Aneignungshermeneutik führt.

4.5. Von der Poetik zur Rhetorik Der Begriff der narrativen Identität geht auf eine Erweiterung der Funktion der Metapher zurück, die Ricœur in Zeit und Erzählung gegenüber seinen Ausführungen in Die lebendige Metapher vornimmt: Ricœur arbeitet an dieser Stelle eine ontologische Dimension der Funktion der Metapher aus, von der die narrative Funktion und die Refiguration der Zeit abheben. Diese ontologische Dimension der Metapher geht aus dem Zusammenspiel der Referenzfunktionen von Geschichte und Fiktion hervor. Unabhängig davon, dass die Bereiche der Geschichte und der Fiktion einen je eigenen Wahrheitsanspruch erheben, der mit dem des jeweils anderen Bereichs nicht vereinbar zu sein scheint, treffen sich beide Bereiche doch an einem Punkt: In jeder Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, gleich welcher Art diese sein mag, haben wir es stets mit einer »impliziten Ontologie« zu tun. 348 Diese implizite Ontologie geht bei Ricœur aus der Erweiterung der Funktion der Metapher um eine ontologische Dimension hervor und ermöglicht mittelbar die Ausbildung der narrativen Identität. 349 Der logische und ontologische Raum, den die Metapher aufspannt, bildet im Kontext seiner Narrativitätstheorie die Wirklichkeit, die wir durchschreiten, um uns auf ein mögliches Selbstverständnis in Form der narrativen Identität zu entwerfen. Da die Funktion der Metapher nur den logischen und ontologischen Raum aufspannt, ist sie durch die narrative Funktion zu ergänzen, die zusätzlich die Konfiguration und Refiguration der Zeit ermöglicht, die der Dynamik der Metapher implizit ist. Die Funktion der Metapher steht »der Refiguration der Zeit durch die Geschichte […] helfend zur Seite«. 350 Ebd., S. 161. Vonessen verweist bereits 1959 auf die ontologische Struktur der Metapher, die seines Erachtens gerade darin begründet liegt, dass die Metapher nie lediglich auf Ebene der Sprache arbeitet, sondern stets die Wirklichkeit einbezieht. Die von Vonessen dargestellte ontologische Kontexttheorie der Metapher steht einer Substitutionstheorie der Metapher dezidiert entgegen (vgl. Franz Vonessen: Die ontologische Struktur der Metapher, in: 13 (1959) 3, S. 397–418). 350 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 301. 348 349

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Paul Ricœur: Narrative Identität

Die Möglichkeit, die Zeit zu refigurieren, entsteht aus der Überkreuzung (entrecroisement) von Geschichte und Fiktion: Aus der »Historisierung der Fiktionserzählung« und der »Fiktionalisierung der historischen Erzählung« geht für Ricœur die menschliche Zeit hervor, die »letztlich nichts anderes [ist] als die erzählte Zeit«. 351 Um zur erzählten Zeit fortzuschreiten, gilt es, die phänomenologische Zeit, d. h. das subjektive Zeiterleben, und die kosmische bzw. objektive Weltzeit wieder in Verbindung miteinander zu bringen, die die heideggersche Analyse in eine Sackgasse getrieben und voneinander getrennt hat. Diese Leistung, die subjektive und die objektive Zeit wieder zu verbinden, erbringt die Repräsentanzfunktion der Geschichte. Die Geschichte sucht den Aporien der Zeit zu begegnen, indem sie eine dritte Zeit ausarbeitet: die historische Zeit. Sie sorgt dadurch für eine »Wiedereinschreibung der erlebten Zeit in die kosmische Zeit«. 352 Im Zuge der Ausarbeitung der historischen Zeit gilt es, die Referenzmodi von Geschichte und Fiktion zu entwickeln und die Repräsentanzfunktion der Geschichte und die Signifikanzfunktion der Fiktion miteinander zu konfrontieren (Kap. 4.5.1.). Aus der Überkreuzung der beiden Referenzmodi von Geschichte und Fiktion erfolgt der »Transfer der fiktiven Welt des Textes in die tatsächliche Welt des Lesers«. 353 An diesem Punkt entsteht für Ricœur die menschliche, d. h. die erzählte Zeit. Historische Kontextualisierung und narrative Konfiguration bringen gemeinsam die Möglichkeit zur Refiguration der Zeit hervor (Kap. 4.5.2.). Diese findet im Akt der Lektüre statt, in dem die Repräsentanz der Geschichte und die Signifikanz der Fiktion zusammenkommen. An diesem Punkt überführt Ricœur das Zusammenspiel aus Hermeneutik und Poetik in die Rhetorik. Im Kontext dieser Rhetorik treten Gegenwart und Vergangenheit in ein gemeinsames Gespräch ein, der theoretische Rahmen der Hermeneutik wird sukzessive in die Praxis überführt: in eine Hermeneutik der Aneignung, in der sich allererst eine narrative Identität konstituieren kann, von der im Anschluss zu sprechen sein wird. Zunächst führt die von Ricœur entwickelte Handlungstheorie hier auf den Begriff der Initiative. Unter diesem sucht Ricœur das handelnde Subjekt zu begreifen, das stets in 351 352 353

Ebd., S. 163. Ebd., S. 159. Ebd., S. 294.

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Von der Poetik zur Rhetorik

Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und Geschichte zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont steht (Kap. 4.5.3.).

4.5.1. Die Überkreuzung der Referenzmodi von Geschichte und Fiktion Die Frage der Repräsentanz der historischen Erkenntnis betrifft den Status des Spurbegriffs, wie er im Kontext von Ricœurs Interpretation von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit bereits angedeutet wurde. Dort rückt Ricœur noch den Begriff des Eindrucks in den Vordergrund, der Werk und Leben zusammenführt, der Begriff der Spur klingt als eine synonyme Verwendungsweise jedoch bereits an: Die Spur bildet das Komplement zum Eindruck, sie steht im Kontext der historischen Referenz für die Möglichkeit, vermittelt über die Dokumente Gegenwart und Vergangenheit in Bezug zueinander zu setzen. Die Spur wird »von den Monumenten und Dokumenten zu einem Zeugen der Vergangenheit gemacht«. 354 Sie tritt selbst nicht in Erscheinung, sondern wird über die Monumente und Dokumente konstituiert und konstituiert ihrerseits die Anteilnahme der Gegenwart an der Vergangenheit. Im Kontext der historischen Erkenntnis trägt die Spur maßgeblich dazu bei, den Aporien der Zeit begegnen zu können, um zwischen einem rein subjektiven Zeiterleben und der objektiven Weltzeit zu vermitteln. Diese Vermittlung schaffen Ricœur zufolge in der Gemeinschaft verankerte und kulturell institutionalisierte Konzepte wie der Kalender, die Generationenfolge – damit verbunden die Idee von Vorgängern, Zeitgenossen und Nachfolgern –, das Archiv, das Dokument und, nicht zuletzt, die Spur. Diese Konzepte sind Bindeglieder zwischen dem subjektiven Zeiterleben und der objektiven Weltzeit, ganz eigene »Denkinstrumente«, wie Ricœur sagt, die eine Refiguration der erlebten Zeit ermöglichen und diese mit der objektiven Zeit in Verbindung bringen. 355 Ricœur sieht darin die poetische Funktion dieser Denkinstrumente; so dient z. B. der Kalender dazu, die erlebte Zeit und die kosmische Zeit, die Generationenfolge dazu, die sterbliche Zeit und die öffentliche Zeit miteinander zu vermitteln. Eine Sonderstellung unter die354 355

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 191. Ebd., S. 165.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

sen Denkinstrumenten kommt der Spur zu, sie fungiert als Vermittlungsinstanz zwischen der erlebten Zeit und der chronologischen Zeit. Die Frage nach der Repräsentanz der Geschichte richtet sich auf die Frage, inwieweit diese Bindeglieder imstande sind, Vergangenes zu repräsentieren: Die Repräsentanz steht für die »Beziehungen zwischen den Konstruktionen der Geschichte und ihrem Gegenüber, nämlich einer zugleich verschwundenen und in ihren Spuren bewahrten Vergangenheit«. 356 Die Spur betrifft die Frage nach der Repräsentanz, da sie über die Bedeutung von Dokumenten, die in Archiven liegen und das empirische Material historischer Forschung darstellen, hinausgeht. Aufgrund der Möglichkeit, die Anteilnahme der Gegenwart an der Vergangenheit stiften zu können, trägt die Spur eine ontologische Dimension in die historische Forschung hinein. Sie schlägt die Brücke, der sich Heideggers existenziale Fassung der Zeitlichkeit verweigert: zwischen der erlebten Zeit und der kalendarischen, objektiven Zeit. Sie ist datierbar und vermittelt diese datierbare Zeit über Generationen hinweg. Die Spur ist »homogen mit der kalendarischen Zeit«, sie ist eine »hybride Zeit«, insofern sie aus der Verbindung von subjektivem Zeiterleben und objektiver Zeit hervorgeht. Sie bildet die entscheidende Schnittstelle zwischen den genannten Denkinstrumenten und ist nur im Kontext der historischen Zeit denkbar. Mit dem Begriff der Spur überwindet Ricœur die von Heidegger behauptete Nivellierung der »uneigentlicheren Formen der Zeitlichkeit«. 357 Erlebte Zeit und kalendarische Zeit kommen in der Spur überein und führen zu einer »Deckung zwischen dem Existenzialen und dem Empirischen«. Darin besteht für Ricœur die Signifikanz (signifiance) der Spur: Sie »signifiziert (signifie), ohne erscheinen zu lassen«. 358 Anders als die Dokumente wird sie oberflächlich nicht reaEbd., S. 161. Ebd., S. 195 f. 358 Ebd., S. 198 f. Ricœur spricht sowohl von signifiance (Signifikanz) als auch von signifier (im Sinne von zustellen); in diesem Unterschied liegt die ganze Ambivalenz des Spurbegriffs begründet, der in der deutschen Übersetzung darin zum Ausdruck kommt, dass »die Spur signifiziert, ohne erscheinen zu lassen« (ebd.) – »la trace signifie sans faire apparaître« (ebd., S. 182; vgl. ebd., S. 181–183) –, d. h. sie selbst besitzt keine Beziehung zu bedeutungsverleihenden Akten, wie Ricœur in Anschluss an Emmanuel Lévinas deutlich macht (vgl. ebd., S. 200). Die Spur wird über die Dokumente konstituiert und fordert zur Interpretation und Suche nach Bedeutungen auf, ohne 356 357

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Von der Poetik zur Rhetorik

lisiert, kann aber gerade deshalb vermittelt über die Monumente und Dokumente, die Werke der Kultur, eine Brücke zur Vergangenheit schlagen. Sie ist weder ausschließlich der erlebten Zeit noch ausschließlich der kalendarischen oder der historischen Zeit zuzuschlagen. Sie ist die »Synthese zwischen dem hier und jetzt hinterlassenen Abdruck und dem vergangenen Ereignis«. 359 Sie ist, wie Ricœur sagt, Zeichen und Wirkung zugleich. Sie lässt kausale Rückschlüsse auf die Vergangenheit zu, so dass sich vergangene Handlungen rekonstruieren lassen. Zugleich ermöglicht sie, diejenigen Kausalzusammenhänge herauszugreifen, die uns, die wir diese Handlungen rekonstruieren, signifikant erscheinen, d. h. die Relationen herauszustellen, die auf ein zu erklärendes Ereignis führen. 360 Die Spur bildet die Vergangenheit damit nicht einfach ab, sondern öffnet den Blick von der Gegenwart auf die Vergangenheit und wirkt zugleich in der Gegenwart; auf diese Weise konstituiert sie Anteilnahme. Über den Spurbegriff zeichnet sich bereits die Ontologie ab, auf die es im Folgenden ankommt; der Weg führt zunächst jedoch über die Refiguration der Zeit, die sich aus der Spannung zwischen der historischen Repräsentanz- und der fiktiven Signifikanzfunktion konstituiert. Bezieht sich die Referenzfunktion der Geschichte auf die historische Wirklichkeit und sorgt die Spur für eine Anteilnahme der Gegenwart an der Vergangenheit, so scheint doch die Referenzfunktion der Fiktion einer fiktiven Wirklichkeit den Vorzug zu geben und damit die historische Referenz auszusetzen – und damit zugleich die historische Zeiterfahrung zu neutralisieren. Im Gegensatz zu einem Historiker ist der Erzähler einer fiktiven Erzählung nicht an die von Ricœur sogenannten Denkinstrumente gebunden, die der historischen Darstellung zugrunde liegen und auf ihre Weise Verbindlichkeit stiften. Die Zeit der Fiktionserzählung ist »frei von den Zwängen, die von ihr eine Übertragbarkeit auf die Zeit des Universums fordern«. »Irreale Personen […] machen eine irreale Zeiterfahrung«, die grade nicht an die »chronologische Zeit« gebunden sind. 361

selbst Bedeutung zu tragen; sie ist Synthese und Vermittlung und gerade darin bloße Funktion. 359 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 198. 360 Vgl. ebd., S. 193 sowie hierzu Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, S. 334 f. 361 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 202.

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Paul Ricœur: Narrative Identität

Die Neutralisierung der historischen Zeit wird dort zu einem Vorteil für die Fiktion, wo es ihr gelingt, die Aporien der Zeit zu konfigurieren, um auf ihre Weise den Abstand zwischen der subjektiven Zeiterfahrung und der objektiven Weltzeit zu überbrücken. Die Leistung, die die Fiktion erbringt, liegt für Ricœur erstens darin, dass sie auf die Aporien der Zeiterfahrung, die die Phänomenologie in aller Schärfe herausgearbeitet hat, eine Antwort formulieren kann, insofern sie diese narrativ zu konfigurieren und dadurch anschaulich darzustellen weiß. Zweitens bildet die Fiktion in Verbindung mit der historischen Zeit eine Synthese, die es erlaubt, das subjektive Zeiterleben und die objektive Zeit, miteinander übereinzubringen. Die Fiktion neutralisiert die historische Zeit zunächst, um frei von den Zwängen der Denkinstrumente und Bindeglieder die Zeit konfigurieren zu können. Im Zuge dessen gleicht sie die in der Erzählung datierten Ereignisse an den »irrealen Status der übrigen Ereignisse« an. Die in einer Erzählung enthaltenen historischen Ereignisse sind dann nicht mehr der Dreh- und Angelpunkt der Darstellung, sondern werden in der fiktiven Erzählung »in den Dienst der Phantasie gestellt«. 362 Sie sind nicht in ihrer Referenz auf die wirklichen historischen Ereignisse und deren Zeitlichkeit von Interesse, sondern in erster Linie im Rahmen der Zeitlichkeit, die die Erzählung entfaltet; zwischen Geschichte und Fiktion entsteht eine Divergenz. Um diese nicht absolut werden zu lassen, sucht Ricœur über eine Vermittlung der Repräsentanzfunktion der Geschichte mit der Signifikanzfunktion der Fiktion Konvergenz zwischen beiden Referenzmodi herzustellen. Die Frage der Repräsentanz zielt auf die Frage des Status historischer Erkenntnis ab, die die Repräsentation einer wirklichen Vergangenheit intendiert; die Repräsentanzfunktion folgt, vermittelt über den Begriff der Spur, der regressiven Blickrichtung der von Ricœur entwickelten Handlungstheorie. Die Signifikanz der Fiktion hingegen wendet die Blickrichtung progressiv, sie erfüllt sich, »sobald die Lektüre die Welt des Textes mit der Welt des Lesers in Beziehung setzt«. 363 Die Vermittlung zwischen Repräsentanz und Signifikanz bildet das zentrale Moment der Refiguration. Damit ist der Problemaufriss skizziert, der den Hintergrund bildet, vor dem Ricœur Geschichte und Fiktion in Bezug zueinander setzt. In einem nächsten 362 363

Ebd., S. 204 f. Ebd., S. 222.

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Von der Poetik zur Rhetorik

Schritt sind die Referenzfunktionen beider Bereiche näher zu beleuchten. Die Frage der Repräsentanz der historischen Erkenntnis betrifft im Kern den Status des Spurbegriffs. Im Kontext der historischen Erkenntnis bildet die Spur »eine Art Endpunkt«. 364 Sie liefert der historischen Erkenntnis den Beweis, an dem sie Halt macht, um ihre »Konstruktionen als Rekonstruktionen der Vergangenheit« auszuweisen. Die historische Erkenntnis unterwirft sich dem »Dokument und dem dokumentarischen Beweis« und dadurch »dem, was einmal war«. 365 In einer »Folge von Rückverweisen« gelangt sie »vom Archiv zum Dokument und vom Dokument zur Spur«. Ricœur zufolge verdeckt jedoch die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status der Spur die ontologischen Implikationen des Spurbegriffs. Sieht sich die erkenntnistheoretische Fragerichtung auf die Vergangenheit als Objekt der Erkenntnis verwiesen, so die ontologische Fragerichtung auf das Verhältnis von Nähe und Distanz, d. h. der Anteilnahme der Gegenwart an der Vergangenheit oder die Ablehnung und Negation der Vergangenheit durch die Gegenwart. Der Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status der historischen Vergangenheit, die sich an die Dokumente und Archive gebunden sieht, stellt Ricœur deshalb die Frage nach dem ontologischen Gehalt dieser Vergangenheit an die Seite. Über die Begriffe des Selben, des Anderen und des Analogen eröffnen sich für Ricœur abseits der Denkinstrumente drei weitere mögliche Arten die Vergangenheit zu denken. Diese Begriffe bilden für Ricœur aufgrund ihres ontologischen Status Möglichkeiten, das Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit zu überbrücken oder auf Distanz zu rücken, sie konstituieren Anteilnahme oder Ablehnung, sie vergegenwärtigen Vergangenes oder rücken es auf Distanz. Sie sollen die erkenntnistheoretische Dimension des Spurbegriffs nicht außer Kraft setzen, sondern fungieren als deren Komplement: Abseits der Frage, über welche Mittel und Materialien wir imstande sind, die Vergangenheit objektiv zu erkennen, lautet die Frage, welche Wirkung von der Vergangenheit auf die Gegenwart – und von der Gegenwart auf die Vergangenheit – ausgeht. Voraussetzung dieser Ontologie ist die zuvor dargestellte Öffnung der Geschichte als ein Kontingenzraum. Auf dem Spiel steht die Möglichkeit, Gegenwart und Vergangenheit abseits der Erkennt364 365

Ebd., S. 224. Ebd., S. 222 f.

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nistheorie auf einer ontologischen Ebene überhaupt in Bezug zueinander setzen zu können. In der Vergangenheit das Selbe zu erblicken bedeutet, das Eigene mit dem, was einmal war, zu identifizieren. Die Vergangenheit hingegen als das völlig Andere zu denken, bedeutet jede Anteilnahme an der Vergangenheit zu unterbinden und den Bruch zwischen Gegenwart und Vergangenheit absolut werden zu lassen. Das Selbe und das Andere zu denken, sind für Ricœur zwei Möglichkeiten, die Vergangenheit ontologisch zu fassen. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten wählt Ricœur selbst einen Mittelweg, der über die Analogie führt, um so die Referenzfunktionen von Geschichte und Fiktion miteinander kreuzen zu können. Die Vermittlung zwischen dem Selben, dem Anderen und dem Analogen kulminiert in der Metapher, die alle drei Begriffe auf der Grundlage des Spurbegriffs zusammenschließt. Das Selbe zu denken, bedeutet für Ricœur, der Vergangenheit »den Stachel der zeitlichen Distanz zu nehmen«. Die Möglichkeit hierzu sieht Ricœur in der Spur selbst begründet: Verfolgen wir eine Spur zurück, dann werden wir zu »Zeitgenossen der vergangenen Ereignisse«. 366 In Anlehnung an Robin George Collingwood sieht Ricœur im Denken des Selben einen »Akt des Nach-denkens dessen, was bereits ein erstes Mal gedacht wurde«. 367 Nach-denken jedoch, so hebt Ricœur hervor, ist nicht gleichbedeutend mit einem Nacherleben der Vergangenheit, insofern der Weg, den das Nach-denken nimmt, stets über die Interpretation der Werke der Kultur führt, über die Dokumente und Archive, die Zeugnisse und Spuren und damit nicht Gefahr läuft, in einen Psychologismus zurückzufallen. Nach-denken zu können, was einst gedacht worden ist, ist für Ricœur gleichbedeutend mit der Möglichkeit zur Anteilnahme an der Vergangenheit. Damit der Nachvollzug der Vergangenheit aus Perspektive der Gegenwart das Selbe in den Blick nehmen kann – das, was die Gegenwart als das Eigene und Selbe in der Vergangenheit identifiziert –, muss die zeitliche Distanz aufgehoben werden. 368 Diese Aufhebung führt dazu, dass Gegenwart und Vergangenheit miteinander zu verschmelzen scheinen, die zeitliche Distanz schwindet. Die Gegenwart identifiziert sich mit der Vergangenheit, die Vergangenheit bekommt Ebd., S. 224 f. Ebd., S. 228; vgl. Robin George Collingwood: Philosophie der Geschichte [1944]. Kohlhammer: Stuttgart 1955, S. 224–226. 368 Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 231. 366 367

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keinen eigenen Raum zugesprochen und geht ganz in der Gegenwart auf. Die Vergangenheit im Lichte des Selben zu denken, ist für Ricœur die »maximalistische Interpretation der identitären These«. Das Resultat ist absolute Identität. Dem Denken des Selben steht Ricœur zufolge ein Denken des Anderen gegenüber. Die Vergangenheit als das Andere zu denken, ist gleichbedeutend mit einem »Bekenntnis zur Alterität«. 369 Dieses Bekenntnis zur Alterität betrachtet die Vergangenheit als das Andere und rückt sie auf Distanz. An die Stelle der Identifizierung mit der Vergangenheit rückt die Differenz. Wird diese Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit verabsolutiert und die zeitliche Distanz »überdeterminiert«, dann stehen Gegenwart und Vergangenheit einander fremd gegenüber. Diese Distanzierung von der Vergangenheit hat uns dann »die Sitten der Vergangenheit so sehr […] fremd werden lassen, daß die Alterität der Vergangenheit gegenüber der Gegenwart das Weiterleben der Vergangenheit in der Gegenwart völlig in den Schatten stellt«. 370 Ein möglicher Bezug von der Gegenwart auf die Vergangenheit wird unterbunden. In dieser übersteigerten Form wird die Geschichte zu etwas Abwesendem. 371 Wird von diesem Standpunkt aus dennoch versucht, sich über die absolute Differenz hinweg die Alterität anzueignen, dann »wird das Fremde befremdlich«. 372 Um die Geschichte abseits dieser beiden Extreme von absoluter Identität auf der einen und absoluter Differenz auf der anderen Seite zu denken, wählt Ricœur einen Mittelweg: den Weg über die Analogie. Dieser Weg ist ein indirekter Weg, ein Weg der Vermittlung zwischen der Fremdheit und dem Anderen der Geschichte auf der einen und dem, was uns an der Vergangenheit als das Selbe und als identisch erscheint auf der anderen Seite. Die Analogie soll nicht nur die Repräsentanzfunktion aufklären können, sondern ermöglicht darüber hinaus auch den Übergang von der Poetik zur Rhetorik Ricœurs, die sich zwischen dem Text und dem Leser aufspannt und sich im Zuge der Refiguration der Zeit konstituiert. Unter Berücksichtigung der narrativen Implikationen, die der Geschichtswissenschaft innewohnen, besteht die Aufgabe des His369 370 371 372

Ebd., S. 232 f. Ebd., S. 238. Vgl. ebd., S. 240. Ebd., S. 238.

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torikers Ricœur zufolge darin, aus den narrativen Strukturen Modelle zu entwickeln, die in der Lage sind, die Vergangenheit zu repräsentieren. Diese Modelle liegen im Bereich der Rhetorik bzw. Topik begründet. Wenngleich Ricœur in Auseinandersetzung mit Hayden V. White weitere rhetorische Figuren bespricht, die durchaus eine Repräsentanzfunktion in der historischen Darstellung übernehmen können, so rückt für Ricœur doch die Metapher ins Zentrum der Aufmerksamkeit und mit dieser die Analogie. Die Analogie steht als Prinzip im Hintergrund der Metapher, die Metapher ist die Funktion, die es gestattet, das Eigene und das Selbe mit dem Fremden zu vermitteln, ohne das Eigene dem Fremden zuzuschlagen oder umgekehrt. 373 Sie stellt Identität her, ohne die Differenz aufzulösen. Die Entwicklung der Geschichte weist zwar keine Gesetze auf, die durch theoretische Modelle abgebildet werden könnten, doch lässt sich die Geschichte Ricœur zufolge anhand rhetorischer Figuren darstellen, die dann die entsprechenden Modelle abgeben. In Anschluss an White sind es für Ricœur maßgeblich Metaphern, die das Feld historischer Erfahrung und Erfahrbarkeit strukturieren. Die Metapher wird zum Modell geschichtlicher Erfahrung: Die Geschichte wird vom Historiker in der Darstellung sprachlich evoziert und über die, so ein Ausdruck Whites, »figurative Rede« präfiguriert. 374 Die metaphorische Präfiguration soll der Geschichte das Moment der Fremdheit nehmen und den Leser leiten – »zwischen einer Erzählung und einem Ablauf von Ereignissen [gibt es] keine Beziehung der Reproduktion, Reduplikation oder Äquivalenz, sondern eine metaphorische Beziehung: Der Leser wird auf die Figur gelenkt, die die berichteten Ereignisse einer narrativen Form angleicht […], wie sie ihm aus seiner eigenen Kultur vertraut ist«. 375 An diesem Punkt kommen zwei Aspekte der Metapher zum Tragen, wie sie Ricœur zuvor herausgearbeitet hat und die für ihn die zentrale metaphorische Funktion mit Blick auf die Darstellbarkeit und das Denken der Geschichte ausmachen: Erstens lassen sich über die Metapher Identität und Differenz zusammendenken. Die Metapher ist eine Struktur des menschlichen Geistes, die imstande ist, die ontologische Vgl. auch Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 251. Hayden V. White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses [1973] (Sprache und Geschichte, Bd. 10), übers. von Brigitte Brinkmann-Siepmann und Thomas Siepmann. Klett-Cotta: Stuttgart 1986, S. 130; vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 246. 375 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 247. 373 374

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Dimension der Spur, d. h. die Anteilnahme der Gegenwart an der Vergangenheit aufzugreifen, um so die Möglichkeit zur Anteilnahme auf Ebene der Sprache und damit der Darstellung zu vermitteln – die Spur tritt selbst nicht in Erscheinung und wird oberflächlich nicht realisiert. Bleibt die Konstitution der Spur über die Zeugnisse, Monumente, Dokumente und Archive an den Rahmen einer Epistemologie gebunden, so ist erst die Metapher imstande, den ontologischen Gehalt der Spur aufzuschließen, um so die Anteilnahme der Gegenwart an der Vergangenheit in die Darstellung zu überführen. Im Gegensatz zum Denken des Selben und des Anderen lässt die Metapher die Differenz von Gegenwart und Vergangenheit bestehen und vermittelt beide zugleich miteinander. Zweitens ist die Metapher, wie Ricœur in Anschluss an Proust deutlich macht, die Funktion, die es ermöglicht, Erinnerung und Empfindung in einen Text einzuschreiben. Innerhalb von Texten ist es die Metapher, die uns die vorgeführte Welt in ihrer qualitativen Bestimmung wahrnehmen lässt. Wie Ricœur im Vorwort zu Zeit und Erzählung hervorhebt, implementiert die Metapher unser sinnliches, gefühlsmäßiges, ästhetisches und moralisches Werteempfinden in die Texte und macht diese dadurch für den Rezipienten »bewohnbar«. 376 Der Leser kann sich die Texte aneignen. Diese stehen 376 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 9. Diese Eigenschaft der Metapher entwickelt Ricœur in der fünften und sechsten Studie der Lebendigen Metapher als eine eigene Ontologie. Über diese Art der ontologischen Bestimmung der Metapher sucht Ricœur im Kontext einer Ontologie des Gefühls bzw., in Anlehnung an Heidegger, der Gestimmtheit, die Subjekt-Objekt-Differenz zu überwinden (vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 236–238) und möchte deutlich machen, dass die metaphorische Funktion des ›Sehen-als‹ uns die Dinge in der Wirklichkeit und damit die Wirklichkeit selbst immer schon in einer bestimmten Qualität vor Augen führt (vgl. Breitling: Paul Ricœur und das hermeneutische Als, S. 86; Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn, S. 88–96, 120 f. sowie Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, S. 462 f.). Die ontologische Funktion der Metapher bestimmt dann unser sinnliches, gefühlsmäßiges, ästhetisches und moralisches Werteempfinden (vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 9), so dass die Wirklichkeit sich nicht auf reine Objektivität reduzieren lässt. Ricœur versteht diese Art ontologischer Vermittlung durch die Metapher zwischen dem vorprädikativen Bereich des menschlichen Wirklichkeitsbezugs und diesem Wirklichkeitsbezug selbst als Komplement zu einer bloß deskriptiven Sprache (vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 224) im Umgang mit der Wirklichkeit. Diese ontologische Funktion der Metapher widerspricht der These der vorliegenden Untersuchung, dass die Metapher der narrativen Funktion zugrunde liegt, nicht, sondern kann diese durchaus ergänzen, an dieser Stelle jedoch nicht eigens entwickelt werden.

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uns nicht als bloße Objekte gegenüber, sondern wurden von Menschen hervorgebracht, deren subjektive Erinnerungen und Empfindungen in diese eingegangen sind. Was in diese Texte eingegangen ist, entdecken wir in ihnen als etwas genuin Menschliches. Das Bedürfnis des Denkens der Vergangenheit im Lichte des Selben nachdenken zu können, was einst gedacht wurde, wird über die Metapher vermittelt und damit mittelbar, über den Text, erschlossen, ermöglicht durch die Metapher. Indem wir uns aneignen, was einst gedacht wurde, geht die Hermeneutik in die Rhetorik und von der Welt des Textes in die Wirklichkeit des Lesers über. Für Ricœur steht damit fest, dass der Bezug der Gegenwart »zur Wirklichkeit der Vergangenheit nacheinander das Raster des Selben, des Anderen und des Analogen durchlaufen muss«. 377 Das historische Material bleibt im Zuge dessen nicht lediglich als Fremdes zurück, sondern wird maßgeblich durch Metaphern präfiguriert und dem Leser durch die Möglichkeit zur Anteilnahme nähergebracht; die Vertrautheit des Lesers mit den Strukturen der Figuren, die bereits seine eigene Erfahrung strukturieren und präfigurieren, lässt das Selbe im Anderen erkennen und Ähnlichkeiten hervortreten, die die Metapher dank des ihr zugrundeliegenden Prinzips der Analogie aufdeckt. Ricœur sucht dort den Anschluss an White, wo die Metapher die Repräsentanzfunktion der historischen Darstellung konstituiert und deutlich macht, dass »die Dinge sich haben so ereignen müssen wie in der Erzählung gesagt wird«. Die metaphorische Referenz ermöglicht es, die Geschichte in einer Erzählung zur Darstellung zur bringen. Die »Tatsachen, wie sie eigentlich oder wirklich gewesen sind« rücken nur vermittelt über Metaphern in den Blick, die die historische Wirklichkeit konstituieren: »Gemäß der analogischen Interpretation des Vertretungs- oder Repräsentanzverhältnisses ist das ›wirklich‹ nur über das ›wie …‹ erreichbar.« 378 In Anlehnung an White wird Ricœur die Analogie zum zentralen, im Hintergrund der Metapher wirkenden Prinzip des Denkens der Vergangenheit, das es ermöglicht, Vergangenheit und Gegenwart aufeinander zu beziehen. 379 Ricœur geht über die Ausführungen Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 247. Ebd., S. 248 f. 379 Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass Ricœur die Analogie in Auseinandersetzung mit Husserl zu einem transzendentalen Prinzip erklärt, das Ricœur im Zuge seiner Analyse der fünften Cartesianischen Meditation, d. h. in Auseinandersetzung mit der Intersubjektivitätstheorie und der Theorie der Fremderfahrung Husserls ent377 378

404 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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Whites an dem Punkt hinaus, an dem sich ihm zufolge die ontologische Dimension der Metapher entfaltet, die die bloße Analogie übersteigt und die Begriffe des Selben, des Analogen und des Anderen auf ontologischer Ebene zusammenschließt. An diesem Punkt kommt ein wickelt: Um ihre Erkenntnisse objektiv ausweisen zu können, muss die Phänomenologie Husserls die Sphäre des transzendentalen ego überschreiten; dies gelingt ihr Ricœur zufolge dadurch, dass sie die Erfahrung des ego analog zur Erfahrung anderer Subjekte auffasst. Die Analogie wird für Ricœur an diesem Punkt zu einem transzendentalen Prinzip, das gewährleistet, dass die Erfahrung des Anderen und die Eigenheitssphäre des transzendentalen ego zugleich bestehen bleiben (vgl. Paul Ricœur: Edmund Husserl – La cinquième Méditation Cartesienne [1986], in: ders.: À l’école de la Phénoménologie. Librairie philosophique J. Vrin: Paris 21987, S. 197–225, hier S. 206). Entscheidend ist, dass die Analogie als transzendentales Prinzip zugleich auf zeitlicher Ebene wirkt und dadurch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander verweist: Jedem einzelnen Subjekt eignet eine Form der Zeitlichkeit, die zugleich einer allgemeinen, d. h. allen Subjekten gemeinsamen Form der Zeit angehört. Die jeweils subjektiv empfundenen zeitlichen Dauern finden dadurch, so Ricœur, in einer einzigen objektiven, zeitlichen Gemeinschaft (communauté temporelle) zusammen (vgl. ebd., S. 216 f.). Dadurch ist nicht nur jeder mit seinen Zeitgenossen durch einen gemeinsamen zeitlichen Fluss verbunden, sondern darüber hinaus sowohl mit denen, die der Gegenwart vorhergegangen sind, als auch mit denen, die nachfolgen (vgl. Paul Ricœur: L’imagination dans le discours et dans l’action [1976], in: ders.: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique, Bd. 2. Éditions du Seuil: Paris 1986, S. 213–236, hier S. 226). Bietet die Zeitlichkeit die Möglichkeit der Vergemeinschaftung auf einer zeitlichen Ebene, so wachsen die darauf aufbauenden Konstitutionsstufen sich Ricœur zufolge zu Gemeinschaften von Personen und Kulturen aus (vgl. Ricœur: Edmund Husserl – La cinquième Méditation Cartesienne, S. 217–220). Der Weg über die Intersubjektivitätstheorie der fünften Cartesiaischen Meditation ist für die vorliegende Untersuchung insofern von untergeordnetem Interesse, als dass dort die Konstitutionsbedingungen der Intersubjektivität auf Ebene einer transzendentalen und genetischen Phänomenologie aufgewiesen werden; im Kontext einer Kulturphilosophie und Hermeneutik bilden die Werke der Kultur den Ausgangspunkt, die als Objektivationsformen des Geistes in Erscheinung treten und damit immer schon intersubjektiv konstituierte Objekte bilden. Die Frage ihrer Konstitution ist gegenüber der Frage ihrer Interpretation und Rezeption sekundär. Das transzendentale Prinzip der Analogie führt auf die phänomenologisch inspirierte Erinnerungs- und Gedächtnisgeschichte Ricœurs, wie er sie mit seinem letzten großen Werk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen ausgearbeitet hat – Ricœur greift hier erneut auf Husserl zurück, um deutlich zu machen, dass das Prinzip der Analogie ein Gemeinsames konstituiert, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander verwiesen sind (vgl. Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 168–184 f.). Es ist darauf hinzuweisen, dass Ricœur, ungeachtet eines möglichen Anschlusses an die Intersubjektivitätstheorie Husserls, insbesondere in Husserls Analysen zur Zeitlichkeit eher eine Problemanzeige als eine Lösung sieht (vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 37–71, 93–95, 405; vgl. hierzu Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, S. 237–254). Insbesondere der phänomenologischen Reduktion, die

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dritter Aspekt der Funktion der Metapher zum Tragen, den Ricœur zuvor ausgearbeitet hat: Die Metapher führt nicht nur vor Augen und lässt die Dinge ›Sehen-als‹, sondern erhebt darüber hinaus zugleich den Anspruch, dass das, was sie auf ihre Weise vorführt, wirklich ist, sie erhält dadurch eine »referentielle Tragweite«. Diese impliziert »selbst wiederum einen ontologischen Anspruch« und verweist »auf ein Sein-wie … (être-comme), das dem Sehen-als … (voir-comme) korreliert, das auf der Ebene der Sprache die Arbeit der Metapher in sich zusammenfaßt«. Für Ricœur kommt erst an dieser Stelle die Funktion der Metapher in ihrer ganzen Tragweite zur Geltung: Sie sagt das Sein als »Sein-wie« aus – das Sein muss »metaphorisiert« werden, um über das Sein überhaupt sprechen zu können. 380 Die Metapher schließt das Sein für die Sprache auf und pluralisiert es. 381 Die »Korrespondenz zwischen dem Sehen-als und dem Sein-wie« parallelisiert die ontologische Funktion der Metapher mit der sprachlichen Funktion der Metapher, neue Sinnzusammenhänge zu stiften und dadurch neue Bedeutungen zutage zu fördern. 382 Mit Blumenberg gesprochen liegt der Unterschied zwischen einer Analogie und einer Metapher darin, dass Analogien »gerade keine Umwandlungen« sind. 383 Analogien le-

auf die Strukturen eines reinen Bewusstseins führen soll und über die allein die Zeitlichkeit bei Husserl freigelegt werden kann, verweigert sich der hermeneutische Zugriff Ricœurs. Ricœurs Bemühungen, das Prinzip der Analogie als ein transzendentales Prinzip freizulegen, stehen damit im Kontext seiner Kritik an der Unmittelbarkeit der Reflexionsphilosophie (vgl. Kap. 4.), zu der Ricœur auch die Phänomenologie Husserls zählt: Konstituiert sich die Erfahrung des Menschen primär durch das Prinzip der Analogie und wird zugleich die phänomenologische Reduktion abgewiesen, dann kann das Bewusstsein sich selbst nicht unmittelbar gegeben sein, da es sich immer schon auf die Anderen verwiesen sieht, bevor es überhaupt zu sich selbst kommt. Die Möglichkeit zur Unmittelbarkeit der Reflexion auf das eigene Bewusstsein ist damit außer Kraft gesetzt. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass der Weg über die fünfte Cartesianische Meditation durchaus die Möglichkeit zulässt, Ricœur und Blumenberg miteinander ins Gespräch zu bringen. Zambon hat gezeigt, dass Blumenberg ebenfalls eine Art phänomenologisch inspirierter Gedächtnis- und Erinnerungsgeschichte ausarbeitet, die sich, wenn auch in kritischer Auseinandersetzung, so doch über die Intersubjektivitätstheorie Husserls entwickeln lässt (vgl. Zambon: Das Nachleuchten der Sterne, S. 101–106 sowie zur Erinnerungs- und Gedächtnisgeschichte ebd., S. 202–204, 205–266). 380 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 250. 381 Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 220. 382 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 250. 383 Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 107.

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gen die dem Vergleich unterzogenen Bezugspole offen und lassen diese nebeneinander bestehen, sie ermöglichen Vergleichbarkeit. Metaphern lassen Entwicklungen und Umwandlungen zu, sie lassen Neues erkennen. Sie stellen Ähnlichkeit her, Identität in Differenz, und konturieren so das eigene Selbst, ohne die Pluralität aufzulösen. Das Durchschreiten dieser Beziehungen von Anderem, Analogem und Selbem stellt Repräsentanz her und bezieht im Zuge dessen die Spur ein. Die zeitliche Distanz, die »die Spur aufspannt, durchquert und durchmißt«, wird in der Repräsentanz explizit gemacht. Der zeitliche Abstand wird über die Metapher mit dem Anderem, Analogem und Selbem vermittelt, es entsteht für Ricœur die menschliche Zeit. Für Ricœur übersteigt die Metapher ihrer Referenzfunktion an diesem Punkt den Bereich der Sprache in Richtung auf die Wirklichkeit des Lesers. In ihrer ontologischen Funktion erschafft sie mögliche Wirklichkeiten, die der Leser auf sich zu beziehen imstande ist. Auf dieses Vermögen geht noch die Möglichkeit zur Refiguration der Zeit durch die Erzählung zurück. Wenngleich die Möglichkeit zur Refiguration der Referenzfunktionen der Metapher zu verdanken ist, so übersteigt sie diese doch. Sie ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Referenzfunktion der Geschichte mit der Signifikanzfunktion der Fiktion. Die Metapher hat bis zu diesem Punkt die Grundlage geschaffen, die Geschichte als etwas anzuerkennen, das der eigenen Gegenwart nicht lediglich als etwas Fremdes gegenübertritt, sondern als eine vergangene Wirklichkeit, die noch die eigene Gegenwart etwas angeht, in der wir das Eigene als das Selbe entdecken können, ohne die Alterität und Differenz zu nivellieren. Es bleibt festzuhalten, dass die Analogie Ricœur zufolge »die Kraft des Nachvollzugs und der Distanznahme in sich vereint, sofern Sein-wie soviel heißt wie sein und doch wieder nicht zu sein« – eine Funktion, der sich die Metapher annimmt. 384 Entscheidend ist an diesem Punkt, dass die Analogie stets in Verbindung mit der Identität des Selbst und der Alterität des Anderen steht. Zusammengenommen bildet dieser Dreischritt die Repräsentanzfunktion der historischen Erkenntnis: »Repräsentanz […] bedeutet nacheinander Reduktion aufs Selbe, Anerkennung von Alterität, analogisierendes Erfassen.« Parallel zur Repräsentanz der Geschichte verläuft Ricœur zufolge die Signifikanz der Fiktion, die narrativ eine rein fiktive Wirklichkeit zur

384

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 250 f.

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Darstellung bringt – an dieser Stelle, so scheint es, »herrscht völlige Dissymmetrie« zwischen der Repräsentanz und der Signifikanz. Für Ricœur ist die Signifikanzfunktion der Fiktion mit Blick auf die Alltagspraxis »aufzeigend und verwandelnd«. Die Fiktion bringt implizite Züge unseres praktischen Weltverhaltens zur Geltung, die uns auf den ersten Blick verborgen bleiben – sie kann diese explizieren, sie ist insofern aufzeigend. Sie ist insofern verwandelnd, als dass sich an der Fiktion das Leben schulen kann: »[E]in so durchleuchtetes Leben [ist] ein verändertes, ein anderes Leben«. Die Funktion der Refiguration, auf die es im Folgenden ankommt, geht weder in der Referenz, noch in der der Neubeschreibung der Funktion der Metapher auf; sie ist vielmehr, so Ricœur, »eine Art produktiver Referenz«. 385 Diese produktive Referenz bringt die Funktion der Metapher hervor und übersteigt die Analogie, indem sie über den Begriff der Spur die Möglichkeit zur Anteilnahme an der Vergangenheit stiftet. Enthält jede Darstellung einer historischen Wirklichkeit narrative Elemente, so jede narrative Fiktion Bezüge zu Aspekten der Wirklichkeit, die sie zu variieren imstande ist; an der Schnittstelle beider operiert die Refiguration und führt die Hermeneutik Ricœurs auf die Aneignung. Die Refiguration geht weder im Sein-wie noch im Sehen-als der Metapher auf, sondern ermöglicht die aktive und produktive Aneignung der möglichen Welten und Seinsweisen, die die Metapher aufschließt. 386 Die Signifikanz der Fiktion erfüllt sich in ebendiesem Prozess der Aneignung (appropriation) und d. h. im Prozess der Lektüre. 387 Die Welt, die der Text als eine mögliche aus sich heraus entfaltet, bleibt ohne die Lektüre unvollständig und ihrem ontologischen Status nach »in der Schwebe« – »erst jenseits der Lektüre, in der tatsächlichen Handlung […] verwandelt sich die Konfiguration des Textes in Refiguration«. 388 An diesem Punkt überschreitet die NarrativitätsEbd., S. 253 f. Die Metapher stellt zwar Ähnlichkeit in der Relation zwischen Identität und Differenz her, weist jedoch, darauf macht Römer aufmerksam, ein Moment der Unkontrollierbarkeit auf (vgl. Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, S. 459 f.) – sie schließt die Möglichkeit zur Aneignung und Ausbildung eines Selbst auf, die Aneignung vollzieht sie jedoch nicht. 387 Ricœur entlehnt, was er hier Aneignung (appropriation) nennt, Gadamers Begriff der Applikation (application; vgl. Ricœur: Appropriation; Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 290–295 sowie zur Applikation bei Gadamer Angehrn: Geschichte und Identität, S. 223–225). 388 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 255. 385 386

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theorie die Referenzfunktion der Metapher, insofern der Leser »das letzte Vermittlungsglied« im Kontext von Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität bildet. Hermeneutik und Poetik gehen in eine Aneignungshermeneutik und damit in die Rhetorik über. Die Möglichkeit zur Aneignung stiftet die Metapher in ihrer ontologischen Funktion. Sie schließt das Sehen-als als ein Sein-wie auf. Der Leser ist imstande, sich dieses Sein-wie im Prozess der Lektüre anzueignen, der den Übergang von der Konfiguration zur Refiguration bildet; was Ricœur als Signifikanz der Fiktion bezeichnet geht aus der Überschneidung der Welt des Textes mit der des Lesers hervor. Die Signifikanz der Fiktion folgt, wie die Repräsentanz der Geschichte auch, einer eigenen Logik. Die Poetik überführt diese in die Rhetorik. Die Signifikanz hat es nicht lediglich mit poetischen Aspekten, d. h. der Komposition des Werkes zu tun, sondern zusätzlich mit den Strategien der Kommunikation des Werkes. Diese Strategien gehen vom Autor aus und erreichen über den Text den Leser. Im herkömmlichen Verständnis der Rhetorik sind dies, so Ricœur, Strategien der Überzeugung, durch die ein Autor seine Leser auf die gleiche Art und Weise wie ein Rhetor sein Publikum für sich zu gewinnen sucht. Die Rhetorik hat es in diesem Fall nicht mit dem Autor hinter dem Text zu tun – auch an dieser Stelle droht kein Psychologismus –, sondern mit den Mitteln, die ein Autor einsetzt, um die Leser zu lenken. Die Sinnstruktur des Textes bleibt autonom. Es geht Ricœur im Kontext dieser Art Rhetorik um »die Techniken, mit denen ein Werk sich kommunizierbar macht«. 389 Da diese Techniken im Werk selbst begründet liegen, tritt an dieser Stelle nicht der reale Autor auf den Plan, sondern ein im Text enthaltener impliziter Autor, der durch die Techniken hindurch scheint und sich im Stil eines Werkes niederschlägt. Das Eingehen des Autors in den Text ist für Ricœur eine unter anderen rhetorischen Techniken. Dadurch, dass der Autor in den Implikationen des Textes verschwindet und sich nur mittelbar durch rhetorische Strategien zu erkennen gibt, rückt an die Stelle des Autors der Leser, so dass die moderne Literatur »einen neuen Lesertyp erfordert: einen Leser, der antwortet«. 390 Ein signifikantes Beispiel ist Virginia Woolfs Mrs. Dalloway. In diesem Roman wird, wie zuvor dargestellt, die Spannung zwischen 389 390

Ebd., S. 257 f. Ebd., S. 264.

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der objektiv messbaren Zeit und dem subjektiven Zeitlerleben der Figuren nicht auf der Darstellungsebene in Kohärenz überführt und aufgelöst, sondern in den Leser hineinverlegt – die Konfiguration der narrativen Fiktion geht im Akt der Lektüre in die Refiguration der Zeit über. Dieser neue, von der modernen Literatur verlangte Typ des Lesers verschiebt den Ort der Rhetorik und situiert sie zwischen Text und Leser. Es handelt sich nicht mehr um eine Rhetorik der Fiktion, die der implizite Autor anwendet, um zu überzeugen, »sondern um eine Rhetorik der Lektüre, die zwischen dem Text und seinem Leser oszilliert«. Durch rhetorische Strategien zeigt der Text mögliche Wege auf, die den Leser durch den Text leiten, so dass der Leser »in gewisser Weise im und durch den Text konstruiert« wird. 391 Diese Art der Rhetorik macht aus der Poetik und Hermeneutik allererst eine Aneignungshermeneutik – im Zuge dessen wird in einem nächsten Schritt noch einmal auf die Überkreuzung der beiden Referenzmodi zurückzukommen sein.

4.5.2. Die Refiguration: Lektüre, Aneignung und Rhetorik Der Prozess der Aneignung ist ein Prozess der Lektüre, mit dem die Signifikanzfunktion der Fiktion zum Tragen kommt. Für Ricœur setzt sich der Prozess der Aneignung aus einer Phänomenologie und Ästhetik der Lektüre sowie einer ästhetischen Wirkungstheorie und einer Hermeneutik der Rezeption zusammen. Die ästhetische Wirkungstheorie und die Hermeneutik der Rezeption stellt Ricœur auch gemeinsam unter den Titel einer Rezeptionsästhetik, die er Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser entlehnt. 392 An diesem Punkt erst entEbd., S. 266. Vermittelt über Iser und Jauß, die neben Clemens Heselhaus zusätzlich zu Blumenberg zu den Gründungsmitgliedern der Gruppe Poetik und Hermeneutik gehörten, stößt Ricœur an dieser Stelle auf Blumenbergs Aufsatz »Nachahmung der Natur« – es bleibt jedoch bei einem mittelbaren Verweis Ricœurs (vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 280) bzw. in einer Fußnote bei einem Verweis auf »Nachahmung der Natur« (vgl. ebd., S. 287 (Anm. 54)). Weitere Texte Blumenbergs scheint Ricœur nicht rezipiert zu haben. Ricœur macht an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass der Begriff der poiēsis sich, wie Blumenberg diesen in besagtem Aufsatz verwendet, durchaus seiner Theorie der Lektüre und Aneignungshermeneutik integrieren lässt (auf den Begriff der poiēsis im Kontext der Hermeneutik Ricœurs wurde zuvor bereits verwiesen, vgl. Kap. 4.3.3.) und schlägt damit selbst eine Brücke zur Herme391 392

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steht, was als Komplement zum historischen Erfahrungsraum der Vergangenheit, auf den sich die Erinnerung richtet, verstanden werden kann: Die Signifikanz der Fiktion lässt einen Erwartungshorizont entstehen, der sich im Zuge der Refiguration zwischen Werk und Leser ausbildet. Die beiden Erlebnisformen der Identität, Erinnerung und Erwartung, werden damit einer Hermeneutik überantwortet, die nicht auf die Beschreibung oder einen Nachvollzug unmittelbaren Erlebens zielt, sondern Erinnerung und Erwartung vermittelt über die Werke der Kultur als Resultate der Interpretation in den Blick nimmt. Die Ästhetik der Lektüre erforscht, auf welche Weisen »ein Werk durch seine Wirkung auf den Leser diesen affiziert«. 393 Mit Blick auf den modernen Roman wird für Ricœur deutlich, dass die Lektüre den Text durchaus bearbeitet, d. h. der Leser partizipiert aktiv an den Strukturen, die die Erzählung inhäriert. So werden, so das Beispiel Ricœurs, im Falle von James Joyces Ulysses, die Erwartungen enttäuscht, dass der Leser hier eine fertige Konfiguration vorfindet. Diese »Strategie der Enttäuschung« wurde auf »rhetorischer Ebene eigens in den Text eingearbeitet«. Es geht nicht mehr darum, ein Werk als Ganzes vorgefertigt vorzufinden und passiv zu rezipieren, sondern diesem vielmehr aktiv »überhaupt erst eine Form« zu geben. Der Leser ist gezwungen, das Werk selbst zu konfigurieren. In der Lektüre sucht der Leser die Kohärenz herzustellen, die das Werk nicht von sich aus mitbringt. Die Lektüre wird zu einem integralen Bestandteil der Rezeptionsästhetik. In dieser Unbestimmtheit des Textes und der Suche nach Kohärenz sieht Ricœur eine erste dialektische Struktur dieser Rezeptionsästhetik. Die zweite dialektische Struktur liegt darin, dass dem »Mangel an Bestimmtheit«, den der Text aufweist, ein »Überschuß an Sinn« korreliert, insofern der Text sich nicht auf einen Sinn festlegen lässt und offen bleibt für eine Vielfalt möglicher Bedeutungen, die sich in der Welt des Lesers konstituieren. Die Lektüre erweist sich damit als unerschöpflich. Zusätzlich zu der Dialektik dieses Zuwenig an Bestimmtheit und des Zuviel an Sinn, die der Text aufweist, gesellt sich Ricœur zufolge eine dritte Dialektik; ist die Suche des Lesers nach Kohärenz erfolgreich, dann »wird das Unvertraute vertraut«; der Leser hat sich das Werk erfolgreich angeeignet, zugleich jedoch lässt neutik Blumenbergs, ohne jedoch den geistesgeschichtlichen Kontext zu betrachten, den Blumenberg einbezieht (vgl. hierzu Kap. 5.). 393 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 271.

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sich das Werk aufgrund seines ihm immanenten Sinnüberschusses nicht auf eine eindeutige Bedeutung festlegen. Die »›richtige‹ Lektüre« ist dann eine Lektüre, die in der Schwebe bleibt, »die einen gewissen Grad an Illusion«, den Text vollständig durchdrungen zu haben, »zuläßt und gleichzeitig anerkennt, daß der Überschuß an Sinn […] allen Versuchen des Lesers widerstrebt, mit dem Text und seinen Instruktionen völlig eins zu werden«. Diese drei Formen der Dialektik machen für Ricœur aus der Lektüre »eine lebendige Erfahrung«. 394 Unter Rückgriff auf Jauß’ Rezeptionsästhetik integriert Ricœur dieser Lektüre der Ästhetik und lebendigen Erfahrung eine dialogische Struktur, die das Werk zwischen der entsprechenden Epoche und seinem Publikum eröffnet. Es hält damit eine historische Kontextualisierung Einzug, die über das Werk selbst erschlossen wird. Ziel und Anliegen dieser Form der Rezeptionsästhetik ist es, »die von einem Werk hervorgerufene Wirkung, anders gesagt, die Bedeutung, die es für ein Publikum hat, zu einem integrierenden Bestandteil des Werkes selbst zu machen«. Es geht mit Blick auf die Frage nach der Wirkung eines Werkes »nicht nur um die aktuelle Wirkung literarischer Werke«. Vielmehr ist der Rezeptionsästhetik aktueller Wirkungen eine Wirkungsgeschichte – ein Ausdruck, den Ricœur Gadamer entlehnt – an die Seite zu stellen. Das bedeutet für Ricœur erstens, dass die Bedingungen und Voraussetzungen, d. h. die kulturellen und historischen Kontexte zu rekonstruieren sind, in denen ein Werk entstanden ist, sowie zweitens, dass der Erwartungshorizont herauszuarbeiten ist, der die Rezeptionshaltung des Publikums seinerzeit bestimmt hat: »So versteht man die tiefsinnige Parodie des Don Quijote nur dann, wenn es einem gelingt, die Vertrautheit des ersten Publikums mit den Ritterromanen zu rekonstruieren, die einem der Schock verständlich macht, der von einem Werk ausging, das die Erwartungen des Publikums nur deshalb einzulösen versprach, um es desto stärker zu frappieren.« Ricœur zufolge können solche Werke am besten den »Horizontwandel« abbilden, den sie bewirken. Ein Horizontwandel entsteht aus dem Zusammenspiel des Erwartungshorizonts des Publikums und dem Horizont, den das Werk mit sich bringt. Zusätzlich integriert Ricœur seiner Hermeneutik und Rhetorik eine »Logik von Frage und Antwort«, die er ebenfalls Gadamer entlehnt und die ihm dazu 394

Ebd., S. 274 f.

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dient, Erwartungshorizonte einer bisher noch unbekannten Erfahrung zu erschließen. 395 Die Logik aus Frage und Antwort antizipiert Erwartungshaltungen und leitet dadurch zukünftige Erfahrungen. Durch diese Verschränkung der Rezeptionsästhetik mit der Hermeneutik Gadamers wird die Wirkung, aufgefasst als Bedeutung eines Werkes, mit der Rezeption gleichgesetzt. Noch unbekannte Erfahrungen zeigen sich als ein »Wiederfinden jener Fragen, auf die das Werk eine Antwort war«. Das Werk kann nur dann verstanden werden, »wenn man verstanden hat, worauf es antwortet«, d. h. welche Erwartungshaltungen es bestätigt oder von sich weist. Die Rekonstruktion der Wirkung und Rezeption eines Werkes zeichnet nach, worauf das Werk eine Antwort war und trägt die Antwort als Rezeption in die Gegenwart. Die Rekonstruktion ist selbst Teil der Rezeption. Sie vermittelt den Erwartungshorizont der Vergangenheit mit dem der Gegenwart. Der, wie Ricœur sagt, »kognitive Wert« eines Werkes liegt in dem Vermögen, »eine künftige Erfahrung zu präfigurieren«. 396 Ohne die dialogische Struktur von Vergangenheit und Gegenwart in einer »zeitlosen Wahrheit« aufzulösen, bleibt die Wirkungsgeschichte offen, so dass jedes Werk nicht nur eine neue Antwort auf eine frühere Frage ist, sondern seinerseits neue Fragen aufwirft, auf die Antworten zu suchen sind. Die Rezeptionsästhetik geht dann von der Rhetorik der Überzeugung, die in einem Werk angelegt ist, in eine Rhetorik der Rezeption über, die sich zwischen dem Leser und dem Text konstituiert. Ein neues Werk erzeugt zunächst eine »ästhetische Distanz«, da die fiktive Welt des Werkes nicht unser alltägliches Handeln abbildet. 397 Diesen Gegensatz zwischen Fiktion und Wirklichkeit überbrückt in der ästhetischen Wirkungstheorie die Wirkungsgeschichte, der Ricœur den Begriff der Horizontverschmelzung – ein weiterer Begriff, den er Gadamer entlehnt – an die Seite stellt. 398 Ebd., S. 279; vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 351–360. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 279 f. 397 Ebd., S. 282. 398 Der Begriff der Horizontverschmelzung beruht im Sinne Ricœurs auf drei Voraussetzungen, die bereits expliziert wurden: Erstens überschreitet die Referenz die Abgeschlossenheit des Systems Sprache (langue), wie sie die strukturale Linguistik behauptet (vgl. Kap. 4.2.). Zweitens bringt jedes Werk, wie jede Rede auch, eine Erfahrung und damit eine Welt zur Sprache. Drittens ermöglicht erst die narrative Gestaltung vermittelt über die dichterische Sprache die Horizontverschmelzung von Text und Leser im Akt des Lesens (vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 122– 395 396

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Im »Horizontwandel im Spiel von Frage und Antwort« kommt die Rhetorik Ricœurs erst in der Horizontverschmelzung zu einem Abschluss, das bedeutet: Der Horizont einer Welt, die ein Werk entfaltet, und der Erwartungshorizont des Lesers finden in der Horizontverschmelzung zusammen. 399 Die ontologische Funktion der Metapher durchmisst den Raum, in dem die Horizontverschmelzung imstande ist, die Distanz und Differenz zwischen dem Selben und dem Anderen zu überwinden. Die Rezeptionsästhetik und die Phänomenologie der Lektüre zusammengenommen ermöglichen es, eine Welt des Textes als eine mögliche Welt zu entwerfen, in der der Leser neue Handlungsmöglichkeiten für sich entdecken und dadurch neue Perspektiven auf seine Wirklichkeit in der er handelt, werfen kann. Darüber hinaus findet der Leser in den Texten Antworten auf Fragen, auf die zwar die Texte antworten; darüber hinaus jedoch ist der Leser imstande, die Fragen als Fragen zu erkennen, die ihn selbst umtreiben und die er im Zuge der Horizontverschmelzung auf sich bezieht. Hierin liegt Ricœurs Verständnis des Begriffs der Horizontverschmelzung begründet: in der Verschmelzung der Horizonte von Text und Leser, die dem Zusammenspiel aus Frage und Antwort begegnet. Ricœur sieht in der Lektüre eine Dialektik zwischen »Unterbrechung und Neubeginn des Handelns« am Werk. Die Unterbrechung des Handelns durch den Text, das Aussetzen der Wirklichkeit unserer Alltagspraxis und darauf folgend die Erschließung neuer Handlungsmöglichkeiten durch ebendiesen Text, der Neubeginn, bilden für Ricœur die Refiguration. Doch das Problem der Refiguration der Zeit wird »zwar in der Erzählung aufgeworfen, dort aber nicht gelöst«. 400 Erst die Überkreuzung der Repräsentanzfunktion der Geschichte und der Signifikanzfunktion der Fiktion kann hier eine Lösung herbeiführen. In Frage steht, wie sich der Übergang von der Repräsentanz der historischen Vergangenheit über die Signifikanz der fiktiven Welt des Textes in die Wirklichkeit des Lesers vollzieht. 401 127; zu Gadamers Begriff der Horizontverschmelzung vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 275–290, 356 f.). 399 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 281. 400 Ebd., S. 292 f. 401 Im Zuge der Überkreuzung der beiden Referenzmodi bleiben die jeweiligen Referenzfunktionen und die entsprechenden Referenzbereiche erhalten – die Referenzfunktion der Geschichte bezieht sich nach wie vor auf eine historische Wirklichkeit, die Signifikanzfunktion der Fiktion auf eine narrative Fiktion; es geht lediglich um die Frage, inwieweit die beiden Referenzmodi sich gegenseitig bereichern können bzw.

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Die Notwendigkeit zur Überkreuzung beider sieht Ricœur in deren »sowohl ontologische[r] als auch epistemologische[r] Fundamentalstruktur« begründet: Sowohl die Geschichte als auch die Fiktion können »ihre je eigene Intentionalität nur dadurch konkretisieren […], daß sie Anleihen bei der Intentionalität des jeweils anderen narrativen Modus machen«. Sie sind aufeinander angewiesen und greifen auf den jeweils anderen narrativen Modus zurück, jede historische Darstellung weist narrative Elemente auf, jede narrative Fiktion sieht sich an die Wirklichkeit gebunden, so auch mit Blick auf die zeitlichen Strukturen. Ricœur kreuzt die Fiktionalisierung der Historie und die Historisierung der Fiktion miteinander; gemeinsam bringen sie die menschliche Zeit hervor, d. h. eine Zeit, die weder in der objektiven Zeit aufgeht noch rein im subjektiven Zeitempfinden einer existenzial gefassten Zeitlichkeit. Die Fiktionalisierung der Historie vollzieht sich für Ricœur auf dem Weg der »Wiedereinschreibung« der erlebten Zeit in die Zeit des Universums. Der Weg führt, wie zuvor beschrieben, über die Bindeglieder und Denkmittel – den Kalender, das Archiv, datierbare Dokumente –, »die die historische Zeit denkbar und handhabbar machen«. Ricœur zufolge greift bereits an dieser Stelle die Phantasie in die erlebte Zeit ein und bringt sie mit einem objektiven Zeitmaß in Verbindung. Diese Wiedereinschreibung der erlebten Zeit bzw. der Zeit der Erzählung über eine Skala, die Allgemeinheit und Verbindlichkeit stiftet, ist Ricœur zufolge »spezifisch für den referentiellen Modus der Historiographie«. 402 Die kalendarische Zeit ist ein Produkt der Phantasie, die Datierung von Ereignissen »synthetischer Natur: eine wirkliche Gegenwart wird mit einem beliebigen Jetzt identifiziert«. Durch die Wiedereinschreibung in die objektive Zeit werden Erinnerungen datierbar. Der Anteil, den die Phantasie an der Konstruktion der kalendarischen Zeit hat, zeigt sich für Ricœur im Begriff der Spur: Die von der Phantasie erdachten Bindeglieder kulminieren in der »Mischstruktur der Spur, die […] Zeichen und Wirkung zugleich ist«.

inwieweit sie den jeweils anderen benötigen, um ihre Referenzfunktion selbst überhaupt ausüben zu können. Die Überkreuzung beider findet demnach auch nicht auf Ebene der Referenz statt, sondern erst auf Ebene der Refiguration (vgl. Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn, S. 14 f., 146–158). 402 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 295 f.

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Noch die Spur ist ein Produkt der Phantasie, das Produkt einer »komplexe[n] synthetische[n] Aktivität«. Diese Aktivität besteht erstens »aus kausalen Schlußfolgerungen«, d. h. die Spur wird als ein Zeugnis der Vergangenheit genommen, das zugleich in der Gegenwart wirkt. Zweitens besteht diese Aktivität, die die Spur hervorbringt, aus Interpretationen, die sich, wie Ricœur sagt, »am Signifikanzcharakter der Spur festmachen«, d. h. der Blick fällt von der Gegenwart auf etwas Vergangenes, auf das die Spur als Zeichen verweist. Die Spur ist in ihrer doppelten Bedeutung als Zeichen und als Wirkung das entscheidende Mittelglied zwischen der Fiktion und der Geschichte. Die synthetische Aktivität, die die Spur (trace) konstituiert, dient dazu, »etwas zu ›vergegenwärtigen‹ (retracer)«. Um sich die Vergangenheit zu vergegenwärtigen, führt der Weg über die Archive und Dokumente; wenngleich die Spur »ursprünglicher sein mag […], so wird sie doch erst durch die Arbeit an diesen Dokumenten zu einem wirksamen Faktor der historischen Zeit«. Ein Dokument, das im Archiv lagert, ohne rezipiert und interpretiert zu werden, hat keine Wirkung auf die Gegenwart. Der Anteil, den die Phantasie an der Konstitution der Spur hat, zeigt sich für Ricœur dort am deutlichsten, wo die Interpretation sucht anhand »eines Überbleibsels, eines Fossils, einer Ruine« die Vergangenheit zu rekonstruieren: Zur Spur, zu einem Zeichen und einer Wirkung zugleich, werden diese Überbleibsel Ricœur zufolge nur, »wenn man sich den Lebenszusammenhang vorstellt (se figurer), die soziale und kulturelle Umgebung […], die Welt, die nicht mehr ist«. 403 Es ist die ontologische Funktion der Metapher, die hier im Hintergrund wirkt und diese Bezugnahme ermöglicht. Die Phantasie ist noch dort an der Konstitution der Vergangenheit beteiligt, wo der Historiker den Weg über das Selbe und das Andere nimmt: Die Möglichkeit, Zeitgenossen der Vergangenheit sein zu können, gründet in der Funktion der »analogisierende[n] Übertragung«. 404 Die Repräsentanzfunktion der historischen Imagination nähert sich an diesem Punkt »dem Akt des ›sich vorstellen, daß …‹ (se figurer que …), durch den die Imagination sehen wird«. Alle Aspekte, die Ricœur bisher auf Ebene der Fiktion betrachtet hat, wirken zugleich auf Ebene der Geschichte und gehen auf das »›sich vorstellen, 403 404

Ebd., S. 298 f. Ebd.; vgl. Anm. 379, S. 404.

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daß …‹ (se figurer que …)« zurück: Diese Funktion soll »dem Intendieren der Vergangenheit eine quasi-anschauliche Erfüllung« geben – das quasi markiert den narrativen Anteil, die Erfüllung steht in Anlehnung an Husserl für die Bedeutung, die sich für den Leser im Zuge der Interpretation konstituiert. Diese grundlegende Modalität besteht »in einer direkten Anleihe bei der metaphorischen Funktion des ›Sehen-als‹«. 405 Diesem quasi-fiktiven Charakter der Historie stellt Ricœur einen quasi-historischen Charakter der Fiktion an die Seite: Die Fiktion imitiert die historische Erzählung, insofern sie etwas erzählt, »als ob es geschehen sei«. Mit diesem »als ob geschehen (comme si passé)« liegt der Fiktion, ebenso wie der Geschichtsbetrachtung auch, ein analogisierendes Prinzip zugrunde. 406 Die Ereignisse einer Erzählung sind Ereignisse einer Vergangenheit, die der narrativen Stimme zugeschrieben wird, die erzählt: »Eine Stimme spricht und erzählt von dem, was sich für sie bereits ereignet hat. Anfangen zu lesen, heißt in den Pakt zwischen Leser und Autor auch den Glauben aufzunehmen, daß die Ereignisse, von denen die narrative Stimme berichtet, zur Vergangenheit dieser Stimme gehören.« Für Ricœur ist damit erwiesen, dass die Fiktion ebenso quasi-historisch ist, wie die Geschichte quasi-fiktiv: Die Geschichte ist quasi-fiktiv, da die Quasi-Gegenwart der Ereignisse, die dem Leser durch eine lebendige Erzählung ›vor Augen‹ geführt werden, durch ihre Anschaulichkeit und Lebendigkeit den nötigen Ersatz bietet, für das sich entziehende Vergangensein der Vergangenheit […]. Die Fiktionserzählung ist insoweit quasi-historisch, als die irrealen Ereignisse, von denen sie berichtet, Vergangenheit sind für die narrative Stimme, die sich an den Leser wendet; deshalb gleichen sie vergangenen Ereignissen und gleicht die Fiktion der Geschichte. 407

Ricœur ist darauf aus, im Kontext der historischen Erklärung, die kontingenten Ereignisse in einen kohärenten Gesamtzusammenhang zu überführen. Das Kriterium der Glaubwürdigkeit und Stimmigkeit der historischen Darstellung lautet Wahrscheinlichkeit. Die Fabel verbindet »Kontingenz und Wahrscheinlichkeit, ja Notwendigkeit« miteinander.

405 406 407

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 300 f. Ebd., S. 306. Ebd., S. 308.

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Der Mehrwert, den die Fiktionalisierung der Historie mit sich bringt, liegt für Ricœur darin, dass das Wahrscheinliche nicht mehr nur für das Wahrscheinliche der vergangenen Ereignisse und damit für die vergangene und abgeschlossene Wirklichkeit steht, sondern durch die Fiktionalisierung als mögliche und wahrscheinliche Wirklichkeit verstanden wird: »Die Quasi-Vergangenheit der narrativen Stimme unterscheidet sich in diesem Fall vollständig von der Vergangenheit des historischen Bewußtseins«, insofern sie »mit der Wahrscheinlichkeit im Sinne dessen, was geschehen könnte«, zusammenfällt, die Wahrscheinlichkeit der Vergangenheit des historischen Bewußtseins hingegen steht für das, was hätte geschehen können. 408 Das Wahrscheinliche als Kohärenzkriterium der Fabelkomposition deckt damit »sowohl die Potentialitäten der ›wirklichen‹ Vergangenheit wie auch die ›unwirklichen‹ Möglichkeiten der reinen Fiktion ab«. In dieser Funktion einer historischen Darstellung, nicht mehr nur die Wirklichkeit widerzuspiegeln, sondern auf eine mögliche Wirklichkeit zu verweisen, d. h. auf das, was hätte geschehen können, liegt Ricœur zufolge die »wahre mimetische Funktion« historischer Darstellungen begründet. An diesem Punkt überschneiden bzw. überkreuzen sich der quasihistorische Charakter der Fiktion und der quasi-fiktive Charakter der historischen Vergangenheit: Da die Fiktion ihrerseits quasi-historisch ist und ihr ein »Vermögen der Retrospektion« innewohnt, ist sie imstande, »im Dienst der Geschichte nachträglich gewisse unverwirklichte Möglichkeiten der historischen Vergangenheit freizulegen«. 409 Die Geschichte mag vergangen, niemals aber abgeschlossen sein. 410 »Die Quasi-Vergangenheit der Fiktion wird dadurch zu einem Instrument, das es erlaubt, die in der wirklichen Vergangenheit unterdrückten Möglichkeiten aufzudecken.« 411 Aus der Überkreuzung der beiden Referenzmodi, d. h. der Repräsentanzfunktion der Geschichte und der Signifikanzfunktion der Fiktion, entspringt, wie Ricœur sagt, ein »Sprößling«: die narrative Identität. Es erweckt den Anschein – und Ricœur selbst legt dies nahe 408 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 310. Breitling unterscheidet deshalb epistemische Möglichkeiten, die die Darstellung von Geschichte aufzudecken vermag, von irrealen Möglichkeiten, die die Fiktion entwirft (vgl. Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn, S. 160–163). 409 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 309 f. 410 Vgl. Breitling: Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn, S. 294 f. 411 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 310.

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– als sei die narrative Identität lediglich das Resultat der narrativen Schematisierung der Zeit, denn erst die »mimetische Aktivität der Erzählung« führt eine dritte Zeit ein: die menschliche Zeit, die das rein subjektive Zeiterleben mit der objektiven Weltzeit paart. 412 Durch die Denkinstrumente erhält die rein subjektive Zeiterfahrung Allgemeingültigkeit, sie wird objektiviert. Durch die Fiktion kann sie refiguriert und der Subjektivität wieder angemessen werden, um sie nicht allein in ihrer objektiven Fassung aufgehen zu lassen. Die narrative Identität setzt die Möglichkeit zu handeln voraus. Bevor mit Ricœur von der narrativen Identität selbst zu sprechen sein wird, ist deshalb der Begriff der Initiative zu beleuchten, der für das handelnde Subjekt zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont steht.

4.5.3. Die Initiative: Das handelnde Subjekt zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont Die folgende Darstellung sucht die bisherigen Theoriestränge, die mit Ricœur verfolgt wurden, zusammenzuführen: Ricœur lässt die Handlungstheorie, die er in Auseinandersetzung mit geschichtstheoretischen Ansätzen entwickelt, den Begriff der lebendigen Erfahrung, den er in Anschluss an eine Phänomenologie des Lektüre und die Rezeptionsästhetik Jauß’ und Isers erarbeitet, den logischen Raum, den die Metapher aufspannt, und die Zeitlichkeit, die von der narrativen Funktion refiguriert wird, in der Polarität von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont – Begriffe, die Ricœur Reinhart Koselleck entlehnt – kulminieren. 413 Erinnerung und Erwartung spannen den Erfahrungsraum des Subjekts auf, in dem es sich selbst als ein handelndes erlebt. Innerhalb dieses Erfahrungsraums ist das Subjekt imstande eine eigene, narrative Identität auszubilden. Die folgenden Ausführungen fasst Ricœur selbst unter dem Stichwort einer Hermeneutik des historischen Bewusstseins zusammen. Diese Hermeneutik soll eine Vermittlungsleistung erbringen: Sie »ist im Unterschied zur Phänomenologie und zur persönlichen Erfahrung der Zeit darauf aus, die drei großen Ekstasen der Zeit direkt auf der Ebene der gemeinsamen Geschichte zur Sprache zu brinEbd., S. 394 f. Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1979, S. 349–375. 412 413

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gen: die Zukunft im Zeichen des Erwartungshorizonts, die Vergangenheit im Zeichen der Tradition, die Gegenwart im Zeichen des Unzeitgemäßen.« 414 Zwischen seinem Erfahrungsraum und seinem Erwartungshorizont eröffnet sich der Handlungsraum des Menschen. Der Begriff des Erfahrungsraums ist für Ricœur gleichbedeutend mit der »Fortdauer der Vergangenheit in der Gegenwart«. 415 Die Möglichkeit hierzu stiften die Öffnung der Geschichte als Kontingenzraum, die Ontologie der Spur und, darauf aufbauend, die der Metapher. Gegenüber der Betonung der Fortdauer besitzt der Begriff des Erfahrungsraums jedoch den Vorteil, weniger die Geschichte als vielmehr einen Aspekt kultureller Dynamik in den Vordergrund zu rücken, den ganz ähnlich auch Blumenberg hervorhebt. Was Ricœur an dieser Stelle unter Erfahrung versteht, entspricht dem, was Blumenberg in Anschluss an Husserl als Technisierung bezeichnet: Die Erfahrung steht für die Möglichkeit, kulturelle Leistungen und Erwerbe von einem Individuum zu einem anderen oder von einer Generation zu einer anderen zu tradieren, ohne dass die ursprünglichen Leistungen im Zuge dessen wiederholt werden müssten; »ob es sich um die je eigene Erfahrung handelt oder um die, die durch frühere Generationen oder heutige Institutionen weitergegeben wird, stets handelt es sich um eine aufgehobene Fremdheit, um einen zum habitus gewordenen Erwerb«. 416 Der Zusatz des Raums in dem Kompositum des Erfahrungsraums bedeutet, dass Gegenwart und Vergangenheit sich in diesem Erwerb überlagern, so dass die »derart akkumulierte Vergangenheit […] sich der einfachen chronologischen Meßbarkeit« entzieht. Die Kultur weist einen Erfahrungsraum auf, einen Status quo, den die vergangenen Leistungen, Erwerbe und Erfahrungen hervorgebracht und geprägt haben, ohne dass diese Leistungen stets offen liegen. Sie gehen in den Erfahrungsraum ein, sie werden akkumuliert. Komplementär zum Erfahrungsraum, als ein Raum, in dem die Vergangenheit in der Gegenwart fortdauert, steht der Erwartungshorizont für die »zukunftsbezogene Erwartung in der Gegenwart«. Die Erwartung impliziert Motivationsrückhalte, die handlungsleitend sein können: Es sind, wie Ricœur in Anschluss an Koselleck sagt, die Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 164. Ebd., S. 336. 416 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 336; zum Begriff der Technisierung bei Blumenberg vgl. Kap. 3.1.2. 414 415

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Hoffnungen und Ängste, die Wünsche und Sorgen, der Wille, die rationale Analyse oder die Neugierde, »kurz alles, was personengebunden oder interpersonell auf die Zukunft gerichtet ist«. 417 Die Metapher des Horizonts im Kompositum des Erwartungshorizonts soll erstens die Spannung bzw. die Gespanntheit der Erwartung zum Ausdruck bringen, d. h. ihre Orientierung von der Gegenwart auf die Zukunft, zweitens die Überholbarkeit jeder Erwartung: Die Spannung bzw. Gespanntheit löst sich mit der Erfüllung von Erwartungen nicht auf, vielmehr wachsen diese, metaphorisch gesprochen, fortwährend nach und kommen nicht zum Erliegen. Zwischen dem Erfahrungsraum und dem Erwartungshorizont besteht insofern eine Asymmetrie, als dass sich weder der eine noch der andere aus dem jeweils anderen ableiten lässt: Die Erfahrung neigt zur »Integration«, d. h. zur Akkumulation von Erfahrungen, die in die Kultur eingehen; die Erwartung hingegen neigt zur »Brechung der Perspektiven«. 418 Die Brechung des integrativen Moments der Erfahrung öffnet den Erfahrungsraum für neue Erwartungen. Weder determiniert der Erfahrungsraum den Erwartungshorizont, noch umgekehrt und dennoch, so macht Ricœur deutlich, bedingen beide einander: Die Erwartung orientiert die Erfahrung auf Ziele, auf die sich die menschlichen Motivationsrückhalte konzentrieren; zugleich überlagern sich im Erfahrungsraum Vergangenheit und Gegenwart – damit leitet die Erwartung nicht mehr nur die Erfahrung, sondern mittelbar auch die Geschichte, die Vergangenheit und die Erinnerung. Aus dieser Perspektive wird deutlich, inwiefern sich uns nicht nur die eigene Gegenwart, sondern auch die Geschichte als ein möglicher Erfahrungsraum öffnet: Durch die Überkreuzung der Referenzfunktionen von Geschichte und Fiktion öffnet sich die Geschichte als ein Raum nicht genutzter Möglichkeiten; die Erwartung bestimmt die Geschichte insofern, als sie bedingt, welche dieser Möglichkeiten in den Blick rücken. Sie bestimmt unsere Perspektive auf die Geschichte. Wir, die wir Geschichte analysieren und darstellen, sind stets Teil dieser Geschichte. Dieser Perspektivismus unterläuft die Möglichkeit zur Objektivierbarkeit der Geschichte. Erinnerung, Erfahrung und Erwartung bilden für Ricœur »eine Struktur der Praxis« 417 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 336; vgl. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 355. 418 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 336.

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– »es sind handelnde Subjekte, die versuchen, ihre Geschichte zu machen«. 419 Die Gegenwart ist Initiative und schließt als solche »sämtliche Vermittlungsformen zwischen Erwartung und Gedächtnis ein«. 420 Koselleck, so Ricœurs Darstellung, veranschaulicht dies anhand des aufklärerischen Fortschrittsgedankens: Der Glaube, dass sich erstens »die gegenwärtige Epoche einer noch nie dagewesenen, völlig neuen Zukunft öffnet«, dass diese Zukunft zweitens einen Fortschritt gegenüber der Vergangenheit verspricht und dass die Menschen drittens »mehr und mehr imstande sind, ihre Geschichte zu machen«, d. h. den Fortschritt zu lenken und in der eigenen Verfügbarkeit zu halten, hat einen Erwartungshorizont aufgespannt, der rückwirkt auf den Erfahrungsraum, d. h. er modifiziert diesen. Dieser Erwartungshorizont des aufklärerischen Fortschrittsgedankens hat zur Folge, dass erstens die eigene Gegenwart als »Übergangszeit zwischen einer finsteren Vergangenheit und einer lichtvollen Zukunft« wahrgenommen wird und zweitens die Orientierung der Gegenwart hin auf eine neue Zeit unter dem Titel des Fortschritts eine Beschleunigung der Zeit mit sich bringt. 421 Die Zeit richtet sich zunehmend auf eine neue Zukunft, im Gegenzug verengt sich der Erfahrungsraum, dessen Traditionen werden fraglich, der Status quo der eigenen Kultur wirkt fragil. Diesen beiden Aspekten gesellt sich ein dritter hinzu: der Gedanke, die Geschichte sei beherrschbar. Für Ricœurs Hermeneutik des historischen Bewusstseins ist ausschlaggebend, dass diese Verengung des Erfahrungsraums – die Vergangenheit entrückt hier zunehmend der Gegenwart – sowie der zunehmende Abstand zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont das Stigma der Neuzeit ausmacht. Die ganze Ambivalenz der Neuzeit spiegelt sich dann im Begriff der Geschichte wieder: Dass Geschichte aus der Spannung zwischen Erwartungshorizont und Erfahrungsraum entsteht, konnte erst mit der zunehmenden Divergenz zwischen beiden Polen wahrgenommen werden. Erst das »Auseinanderbrechen« beider, macht dann die Spannung sichtbar, in der der Mensch seine Geschichte entwirft. Ricœur sieht die Aufgabe der Hermeneutik darin, diese Spannung nicht absolut werden zu lassen: 419 420 421

Ebd., S. 409. Ebd., S. 413. Ebd., S. 340.

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Wenn man also einräumt, daß Geschichte stets durch die Erfahrungen und Erwartungen der handelnden und leidenden Menschen konstituiert wird, oder auch, daß die beiden Kategorien in ihrem Zusammenspiel die geschichtliche Zeit thematisieren, so hat man dadurch implizit anerkannt, daß die Spannung zwischen Erwartungshorizont und Erfahrungsraum erhalten bleiben muß, damit es überhaupt noch Geschichte gibt. 422

Ricœur reguliert die Erwartungen hermeneutisch auf das Maß der Endlichkeit des Menschen, denn nur dann kann verhindert werden, »daß die Spannung zwischen den beiden Polen des Geschichtsdenkens zum Schisma wird«. 423 An ebendieser Stelle sucht Ricœur die von ihm entwickelte Handlungstheorie mit dem Geschichtsdenken zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zu vermitteln: »Die Erwartungen müssen bestimmte, also endliche und relativ bescheidene sein, wenn sie ein verantwortliches Engagement bewirken können sollen. Ja, man muß den Erwartungshorizont daran hindern zu fliehen; man muß ihn der Gegenwart annähern, indem man eine Reihe ineinandergreifender Entwürfe dazwischenschaltet, die ein Handeln ermöglichen.« Geschichte zu analysieren und darzustellen, ist ein Prozess der Interpretation unserer Kultur und d. h. ein Integrationsund Vermittlungsprozess zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, zwischen dem eigenen Selbstverständnis und der Wirklichkeit. Zugleich gilt es, der Verengung des Erfahrungsraums entgegenzuwirken. Die Vergangenheit muss offengehalten werden, um sie nicht »unter dem Blickwinkel des Abgeschlossenen, Unveränderlichen und ein für alle Mal Vergangenen zu betrachten«. Ricœur plädiert im Gegenzug für eine Vergangenheit, die offen für »ihre unerfüllten, zurückgehaltenen oder auch mit Gewalt unterdrückten Potentialitäten« ist – diese müssen »zu neuem Leben erweckt werden«. Die Vergangenheit ist in eine »lebendige Tradition« zu überführen. 424 Ricœur macht deutlich, dass eine Ergänzung der Geschichtstheorie um eine narrative Handlungstheorie nicht mit einem Plädoyer für die Verfügbarkeit und die Möglichkeit der Beherrschbarkeit der Geschichte gleichzusetzen ist: In dem gleichen Maße, wie wir Geschichte machen, werden »wir von der Geschichte affiziert«, so 422 423 424

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 347. Ebd., S. 348; vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 2, S. 45. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 348 f.

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dass wir uns »durch die Geschichte, die wir machen, selbst affizieren«. Eingespannt in die Dialektik zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont verbleibt die Geschichte in der Ambivalenz »zwischen dem historischen Handeln und einer rezipierten, von uns nicht gemachten Vergangenheit«. 425 Dass wir von der Geschichte, die wir machen, zugleich affiziert werden, liegt für Ricœur bereits im Begriff des Erfahrungsraums begründet: Unsere Erfahrungen sind stets Teil der Polarität zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont und sind damit stets auf einen Erwartungshorizont ausgerichtet, der rückwirkend der Erfahrungsraum bestimmt. Die Aufklärung der Möglichkeit, dass wir von der Geschichte affiziert werden, bedeutet für Ricœur in Anlehnung an Gadamer die Aufklärung des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins, das untrennbar mit der Horizontverschmelzung verbunden ist: Von unserem eigenen Standpunkt aus haben wir einen begrenzten Gesichtskreis und Horizont; dieser Horizont kann jedoch, zumindest partiell, überschritten werden. Dies geschieht z. B., »wenn wir uns […] anstrengen, einen historischen Horizont zu erwerben«, d. h. wenn wir historische Zeugnisse und Werke interpretieren. Dieser Prozess der Horizontverschmelzung führt auf die »Spannung zwischen dem Horizont der Vergangenheit und dem der Gegenwart« – dadurch, dass wir uns den Horizont einer Vergangenheit vor dem Horizont unserer eigenen Gegenwart vergegenwärtigen, rücken Vergangenheit und Gegenwart in ein neues Verhältnis: »Die Vergangenheit wird für uns sichtbar im Entwurf eines historischen Horizonts, der sich vom Gegenwartshorizont abhebt und doch wieder mit ihm zusammengenommen wird, in ihn eingeht.« 426 Der Horizont der Vergangenheit und der der Gegenwart streben auseinander und überlagern sich zugleich. Die Horizontverschmelzung gleicht bei Ricœur damit eher einer interferierenden Dynamik als einer abschließenden Verschmelzung zweier Horizonte, d. h. sie setzt die Alterität und das Selbe zugleich, ohne beide ineinander aufgehen zu lassen. 427 Sie setzt die Rezeption dieser Spannung voraus Ebd., S. 345. Ebd., S. 357. 427 Blumenberg betrachtet den Begriff der Wirkungsgeschichte kritisch und lehnt den Begriff der Horizontverschmelzung ab. Beide Begriffe sind bei Gadamer jedoch untrennbar miteinander verbunden (vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 290). Der Wirkungsgeschichte stellt Blumenberg eine Vorgeschichte in Form einer Ideengeschichte an die Seite. Diese soll verhindern, die Wirkungsgeschichte als eine teleo425 426

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und in der Rezeption die Aktivität des Subjekts; dem steht die Wirkungsgeschichte als passives Komplement zur Seite: Die Wirkungsgeschichte ist, »was ohne uns geschieht«, insofern die Geschichte uns affiziert und auf uns wirkt – dies »verspüren« wir, insofern wir die Spannung wahrnehmen, die zwischen dem historischen Horizont und dem der Gegenwart entsteht. 428 Die Horizontverschmelzung hingegen suchen wir selbst herbeizuführen, wenngleich uns dies niemals abschließend gelingen mag, die Spannung bleibt bestehen. Der zeitliche Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist damit kein »totes Intervall«, sondern vielmehr eine »sinnschöpfende Überlieferung«. Die Tradition ist für Ricœur kein »bewegungslose[s] Depot«, sondern Dynamik und Vollzugsgeschehen: »das Wechselspiel zwischen interpretierter Vergangenheit und interpretierender Gegenwart«. Wie Ricœur zu Beginn der Lebendigen Metapher deutlich macht, hebt jede Kultur von einem sedimentierten Erwerb ab. Wir sind »nie in der Position absoluter Neuerer […], sondern zunächst stets in der relativen Situation von Erben«. Die Tradition ist »das schon Gesagte, sofern es uns entlang der Kette von Interpretationen und Neuinterpretationen überliefert wird«. 429 In diesem »Spiel von logische Struktur geschichtlicher Dynamik zu verabsolutieren: Eine Wirkungsgeschichte ohne Vorgeschichte ernennt die Gegenwart zum alleinigen Zielpunkt, auf den die Analyse historischer Ereignisse zuläuft, die Wirkungsgeschichte stünde damit unter dem Vorzeichen des Präsentismus (vgl. Kap. 2.3. sowie zur Vorgeschichte als Komplement einer Wirkungsgeschichte: Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt, Bd. 1, S. 149–161). Blumenberg lehnt das Konzept einer Wirkungsgeschichte nicht grundlegend ab, dennoch neigt es seines Erachtens dazu, ein mechanisches Bild der Geschichte zu erzeugen (vgl. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotential des Mythos, S. 12). Blumenberg lässt durchaus wirkungsgeschichtliche Aspekte gelten, sofern diese über kulturell tradierte Werke erschlossen (vgl. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 189 f.) und nicht auf ein im Hintergrund wirkendes seinsgeschichtliches Geschehen zurückgeführt werden – an diesem Punkt lassen sich Blumenberg und Ricœur einander annähern. Der Unterschied zwischen einer wirkungsgeschichtlichen Hermeneutik im Sinne Gadamers und der Hermeneutik Ricœurs, darauf macht Jens Mattern in seiner Einführung zu Ricœur aufmerksam, liegt darin, dass erstere das Verstehen als ein Seinsgeschehen nimmt, Ricœurs Hermeneutik setzt im Gegensatz dazu jedoch auf den subjektiven Verstehensprozess als einen reflexiven Aneignungsprozess (vgl. Jens Mattern: Paul Ricœur zur Einführung. Junius: Hamburg 1996, S. 65). Wirkungsgeschichte und Horizontverschmelzung sind bei Ricœur ein Wechselspiel, das primär zwischen Text und Leser entsteht, ohne auf eine Seinsgeschichte zu setzen (vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 358 f.). 428 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 357. 429 Ebd., S. 358. Genauer besehen ist der Begriff der Tradition für Ricœur ein Grenz-

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Erwartung und Erinnerung«, der Wirkungsgeschichte und ihrem Korrelat, dem Affiziertwerden durch die Geschichte, »können unsere zukunftsbezogenen Erwartungen die Neuinterpretation der Vergangenheit derart beeinflussen, daß diese in einer Vergangenheit, die angeblich ein für allemal vorbei sein soll, vergessene Möglichkeiten, brachliegende Potentialitäten oder niedergehaltene Bestrebungen« aufdecken. Eine der wesentlichen Funktionen der Geschichte besteht für Ricœur gerade darin, »jene Augenblicke der Vergangenheit wieder vor Augen zu stellen, in denen die Zukunft noch nicht entschieden und die Vergangenheit selber ein Erfahrungsraum war, der sich seinem Erwartungshorizont öffnete«. 430 Die Gegenwart rückt aus dem Schatten bloßer Präsenz und eines beliebigen Jetzt, das nicht mehr als ein bloßes Durchgangsstadium zu einem weiteren Jetzt ist, wie es die rein objektive Bestimmung der Zeit vorsieht. Vielmehr öffnet sie sich als ein Handlungsraum: Die Gegenwart ist eine »Kategorie des Handelns und Leidens«, des Wirkens und des Affiziertwerdens. 431 Unter dem Begriff der Initiative führt Ricœur drei Aspekte zusammen: erstens die Handlungspotenz, d. h. das Bewusstsein, handeln zu können, zweitens die Aktualisierung bzw. Realisierung dieser Potenz in der Handlung und drittens eine ethische Komponente, das in dem Versprechen zu handeln besteht. In Anlehnung an Kosellecks Analysen sieht Ricœur die Aufgabe einer Hermeneutik des historischen Bewusstseins darin »zu verhindern, daß aus der Spannung zwischen den beiden Polen des Denkens der Geschichte ein Schisma wird«. 432 Ebenso wie die historische Zeit zwischen erlebter Zeit und der Zeit des Universums vermittelt, dient die Initiative auf der einen Seite dazu, »die rein utopischen Erwartunund Leitbegriff, über den im kommunikativen Austausch Machtansprüche, Legitimitätsfragen und Ideologien sowie die Kritik dieser Kategorien ausgehandelt werden, insofern die Tradition die Menschen »immer schon in das Gebiet des Sinns und damit auch der möglichen Wahrheit« (ebd., S. 361) stellt. Ebendieser Wahrheitsanspruch wird argumentativ verhandelt und macht die Tradition zu einer öffentlichen Kategorie in der Dynamik zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Das hermeneutische Moment der Kritik sieht Ricœur denn auch darin, die positiven wie negativen Aspekte dieser »Leitidee« (ebd., S. 366) der Tradition in ihrer Wirkung auf den Erfahrungsraum und den Erwartungshorizont herauszuarbeiten (vgl. ebd., S. 360– 367). 430 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 368. 431 Ebd., S. 372. 432 Ebd., S. 379.

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gen wieder der Gegenwart anzunähern«, d. h. sie auf ein Maß des dem endlichen Wesen Mensch Erreichbaren, »Wünschenswerte[n] und Vernünftige[n]« zu regulieren. Auf der anderen Seite soll sie einer Verengung des Erfahrungsraums entgegentreten, um ungenutzte Möglichkeiten der Vergangenheit freizusetzen. Ihre Aufgabe besteht darin, zwischen Erinnerung und Erwartung zu vermitteln und die Geschichte in das eigene Selbstverständnis zu integrieren. 433 Die Initiative ist ein Eingriff in die Geschichte, ein Eingriff frei handelnder und selbstbestimmter Individuen – auch diese freie Selbstbestimmung ist ein Aspekt unseres Erwartungshorizonts. Der Eingriff als Initiative dient dazu, die unverwirklichten Möglichkeiten der Vergangenheit offenzulegen. Dieser Zugriff bleibt zwangsläufig selektiv und konzentriert sich auf die Phasen, in denen historische Umbrüche eine Öffnung der Geschichte provozieren, d. h. in denen historische Entwicklungen Neues erahnen lassen und Erwartung und Erfahrung auf noch unbekanntes Terrain vorstoßen. Das Problem, dem sich die vorliegende Untersuchung widmet, entsteht mit dem Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit, insofern, wie Ricœur in Anschluss an Koselleck betont, mit der beginnenden Neuzeit die Weichen gestellt werden, die Erwartung und Erfahrung als eine Polarität hervortreten lassen, aus der heraus unser Verständnis von Geschichte entsteht. Die Erinnerung ist dieser Polarität von Beginn an eingeschrieben, Gegenwart, und Vergangenheit überlagern sich im Erfahrungsraum. Mit Blumenberg wurde der Weg, der auf das Problem von Identität und Geschichte führt, ideengeschichtlich beschritten. Blumenberg beschreibt diese Polarität auf theoretischer Ebene als ein Aufbrechen des vormals Selbstverständlichen, als einen Bruch mit der Selbstverständlichkeit der Lebenswelt; aus diesem Bruch heraus entsteht die Geschichte, in der wir unsere Identität ausbilden: Erinnerung und Erwartung sind, so Blumenberg, die Erlebnisformen der Identität. Mit diesem Befund Blumenbergs wurde die Untersuchung zur Hermeneutik Ricœurs aufgenommen. Ricœurs Hermeneutik entwickelt ein Modell, das die Art und Weise der Ausbildung und Kon-

433 Vgl. Gerald Hartung: Abschied von der Geschichtsphilosophie? Paul Ricœurs Geschichtsdenken im Kontext, in: Burkhard Liebsch (Hrsg.): Bezeugte Vergangenheit oder Versöhnendes Vergessen. Geschichtstheorie nach Paul Ricœur (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 24). Akademie Verlag: Berlin 2010, S. 312–331, S. 326 f.

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stituierung der eigenen Identität in Auseinandersetzung mit der Kultur im Kontingenzraum der Geschichte zu einem Verständnis zu bringen sucht. Erinnerung und Erwartung sind hermeneutisch über die Werke der Kultur zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zu erschließen – der Erfahrungsraum hat stets die Geschichte in sich aufgenommen. Die eigene Identität ist das Resultat der Interpretation des Verhältnisses von Selbst und Wirklichkeit. Damit übersteigt Ricœurs Hermeneutik die Frage einer gelingenden Integrationsdynamik zwischen Selbst und Welt hin auf die Wirklichkeit des handelnden Subjekts. Bereits mit Blick auf das handelnde Subjekt wurde die Grenze dieses Referenzbereichs übertreten in Richtung auf ein Subjekt im Kontext seiner Wirklichkeit, die das Subjekt seinerseits handelnd hervorbringt. Die Frage nach der Relation von Selbst und Wirklichkeit überführt das Selbst in die praktische Kategorie der Identität. Im Hintergrund steht jedoch nach wie vor das theoretische Grundgerüst der Hermeneutik Ricœurs und die Einsicht, dass es Geschichten – innerhalb der Geschichte – sind, über die wir ein mögliches Selbstverständnis entwickeln. Im Kontext einer Hermeneutik und Kulturphilosophie geraten ebendiese Geschichten in Form von Selbst- und Wirklichkeitsverhältnissen in den Blick: Die Identität bildet eine Kategorie der Praxis. Diese wird hermeneutisch zwar konturiert, scheint jedoch erst an den Grenzen der Hermeneutik und Kulturphilosophie auf – noch bevor sie in den Bereich der praktischen Philosophie unter dem Stichwort der personalen Identität übergeht, zeigt sich die eigene Identität als eine narrative Identität.

4.6. Narrative Identität Die Überkreuzung der Referenzmodi der Geschichte und der Fiktion führt nicht nur zu einer wechselseitigen Durchdringung beider, sondern kulminiert darüber hinaus in einer Synthese, die einen »zarte[n] Sprößling« hervorbringt. Die Synthese aus Geschichte und Fiktion gebiert die Möglichkeit der »Zuweisung einer spezifischen Identität an ein Individuum oder eine Gemeinschaft«, mit Ricœur gesprochen: eine narrative Identität. Identität begreift Ricœur an diesem Punkt dezidiert als eine »Kategorie der Praxis«, insofern sie die Identifikation eines Handlungssubjekts zulässt. »Die Identität eines Indivi428 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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duums oder einer Gemeinschaft angeben, heißt auf die Frage antworten: wer hat diese Handlung ausgeführt, wer ist der Handelnde, der Urheber?« Zwar bezeichnen wir Individuen durch Eigennamen, doch was, so fragt Ricœur, »berechtigt dazu, daß man das so durch seinen Namen bezeichnete Subjekt der Handlung ein ganzes Leben lang, das sich von der Geburt bis zum Tod erstreckt, für ein und dasselbe hält?« Die Antwort hierauf gibt die Narrativität, denn, so Ricœur in Anschluss an Hannah Arendt, auf die Frage nach dem Subjekt der Handlung zu antworten, bedeutet, »die Geschichte eines Lebens [zu] erzählen«. 434 Dieses Subjekt wird über die Kontexte, in denen es steht, und seine Handlungen in den Blick genommen, über Zusammenhänge, d. h. über die Geschichten, die dieses Subjekt erlebt hat und die es konturieren: »Die erzählte Geschichte gibt das wer der Handlung an. Die Identität des wer ist also selber bloß eine narrative Identität.« Die Narration löst Ricœur zufolge ein Problem, auf das der Begriff der personalen Identität verweist, der suggeriert, es gäbe so etwas wie ein sich selbst identisches, stets gleichbleibendes Subjekt: Die Annahme einer substanzialistischen Subjekt- bzw. Identitätskonzeption würde bei »deren Beseitigung« nichts übrig lassen, außer einer bloßen »Vielfalt von Kognitionen, Emotionen und Volitionen«, die sich zusammenhangslos verliefen – als wären die Kognitionen, Emotionen und Volitionen nicht konstitutiv für die eigene Identität und lediglich eine unbedeutende Zugabe, die der Identität nichts hinzufügt. 435 Ricœurs Hermeneutik richtet sich gegen die Annahme, es gäbe so etwas wie ein sich »bei aller Vielfältigkeit seiner Zustände selbstidentisches Subjekt« und setzt an dessen Stelle eine narrative Identitätskonzeption. 434 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 395. Ricœur verweist zum einen auf Hanna Arendt: Vita Activa [1958]. Piper: München, Zürich 142014, zum anderen auf Heideggers Analysen in Sein und Zeit zur »existenzialen Frage nach dem Wer des Daseins« in § 25 (Heidegger: Sein und Zeit, S. 114–117, hier S. 114) sowie zur »Sorge und Selbstheit« in § 64 (ebd., S. 316–323, hier S. 316). 435 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 395 f. Eine Auseinandersetzung mit der Frage der personalen im Gegensatz zur narrativen Identität führt auf die praktische Philosophie und Ethik Ricœurs. Vor diesem Hintergrund steht nicht mehr nur das Subjekt der Handlung in Frage, sondern zusätzlich die Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit von Handlungen. Die Frage der personalen Identität diskutiert Ricœur ausführlich in Das Selbst als ein Anderer (vgl. Ricœur: Das Selbst als ein Anderer sowie Paul Ricœur: Die narrative Identität [1988], übers. von Guillaume Fagniez und Holger Nikisch, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 38 (2013) 3, S. 205–216).

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Um die narrative Identität näher zu bestimmen, ersetzt Ricœur die Vorstellung einer substantzialistisch gefassten Identität, das Selbe (idem), durch eine als Selbst (ipse) verstandene Identität: »[D]er Unterschied zwischen idem und ipse ist kein anderer als der zwischen einer substantialen oder formalen und der narrativen Identität«. 436 Die substanzialistische Fassung der Identität (idem) suggeriert Unveränderlichkeit über die Zeit hinweg, die durch die narrative Funktion vermittelte Identität (ipse) hingegen ist veränderlich und zeitlich vermittelt. 437 Die Frage, die sich Ricœur stellt, lautet, wie sich ein Selbst konstituiert, das über die Zeit hinweg vermittelt wird, ohne in dieser aufzugehen, und zugleich mit sich selbst identisch bleibt, ohne stets absolut mit sich identisch zu sein. Es ist die Frage nach der »Beständigkeit (permanence) in der Zeit«, die der Zeit zum Trotz Identität zu stiften zulässt, anders ausgedrückt: Ricœur fragt danach, wie sich der Zusammenhang eines Lebens denken lässt, wenn das Leben fortwährend vergeht und sich mit der Zeit verändert. 438 Die Möglichkeit zur Auflösung dieser dynamischen Dualität von Beständigkeit und fortwährender Veränderung sieht Ricœur in den Strukturen des menschlichen Geistes begründet: in der narrativen Funktion. Folgen wir Ricœur, dann entgeht die Ipseität dem »Dilemma des Selben und des Anderen insofern, als ihre Identität auf einer Temporalstruktur beruht, die dem Modell einer dynamischen Identität entspricht, wie sie der poetischen Komposition eines narrativen Textes entspringt«. Dieses Selbst geht nicht in der vergehenden Zeit auf, sondern wird »durch die reflexive Anwendung der narrativen Konfiguration refiguriert«. 439 Der Akt der Konfiguration ist für Ricœur ein synthetischer Urteilsakt und verdankt sich der reflektierenden Urteilskraft. Dieses synthetische Moment der narrativen Konfiguration setzt er mit einer Reflexion auf die konfigurierten Ereignisse gleich, so dass jedes Erzählen zugleich eine Reflexion über die erzählten Ereignisse ist. »Insofern impliziert das narrative ›Zusammenfassen‹ die Fähigkeit, sich von der eigenen Produktion zu distanzieren und sich damit zu verdoppeln.« Diese Distanzierungsbewegung, und darauf kommt es an dieser Stelle an, geht für Ricœur auf das »Vermögen der teleologischen Ur436 437 438 439

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 396. Ricœur: Narrative Identität, S. 209. Ricœur: Die Narrative Identität, S. 207. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 396.

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teilskraft« zurück: Die teleologische Urteilskraft verdoppelt sich im Zuge der Reflexion und lenkt die Reflexion auf Ebene der Konfiguration, d. h. in diesem Fall auf die »Fiktionsmerkmale der narrativen Zeit«. 440 Als reflektierende Urteilskraft nimmt sie die konfigurierte Zeitlichkeit und die im Zuge der Handlungstheorie konfigurierten Handlungszusammenhänge auf und führt diese in einer Synthese zusammen. In einer entsprechenden Anmerkung verweist Ricœur darauf, dass Kant die bestimmende Urteilskraft im Gegensatz dazu ganz in der Objektivität der Natur aufgehen lässt, insofern sie ganz dem Diktat der Verstandeskategorien untersteht, die eine objektive Natur nach Gesetzen hervorbringen, wie sie die Naturwissenschaften zum Gegenstand haben. 441 Die reflektierende Urteilskraft hingegen geht gerade nicht wie die Verstandestätigkeit in der Bestimmung von Objektivität auf. Sie ist ein Vermögen, das »sich auf die Operationen zurück[wendet], mit denen sie oberhalb der Kausalkette weltlicher Ereignisse ästhetische und organische Formen aufbaut«. In Anschluss an dieses reflektierende Vermögen bilden ebendiese Formen für Ricœur »eine dritte Klasse von reflektierenden Urteilen«, sie werden zu »narrativen Formen«. Die reflektierende Urteilskraft wird damit zu einem Vermögen einer doppelten Reflexionsbewegung – so zumindest Ricœurs eigene Lesart und Modifikation des kantischen Vermögens der reflektierenden Urteilskraft. Zunächst nimmt die reflektierende Urteilskraft das naturkausale Verständnis der Verstandestätigkeit auf und überführt dieses in teleologische Strukturen, über die sie ästhetische und organische Gegenstände hervorbringt, Ganzheiten, die Teilrelationen unter sich befassen. Auf diese von ihr hervorgebrachten Urteilsformen in Form von teleologischen Strukturen kann sie noch einmal eigens reflektieren und sich diese »zum Gegenstand nehmen«. 442 In Anschluss an Ricœur kann die reflektierende Urteilskraft aufgrund dieser doppelten Reflexionsbewegung auch als narrative Urteilskraft bezeichnet werden, um den Abstand zu Kants Auffassung der reflektierenden Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 2, S. 104. Vgl. ebd., S. 104 (Anm. 1). 442 Ebd. Bereits im ersten Band von Zeit und Erzählung verweist Ricœur auf die Nähe der Konfigurationstätigkeit im Kontext seiner Narrativitätstheorie zur reflektierenden Urteilskraft im Sinne Kants (vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 107; zum teleologischen Denken bei Kant vgl. Spaemann und Löw: Natürliche Ziele, S. 105– 121). 440 441

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Paul Ricœur: Narrative Identität

Urteilskraft hervorzuheben. Diese narrative Urteilskraft nimmt die refigurierte Zeitlichkeit auf und bringt in einer Synthese eine Identität als Ganzheit hervor, auf die sie die Zeit und die teleologischen Reihen konzentriert. Sie orientiert die Geschichten, d. h. die erfahrenen und erzählten Selbst- und Welt- bzw. Wirklichkeitsverhältnisse auf eine narrative Identität. Diese bleibt dynamisch, fortwährend Veränderungen ausgesetzt und kann zugleich als ein Selbst (ipse) identifiziert werden, ohne in den Kontexten, Relationen und dem Anderen aufzugehen. Die narrative Identiät ist »keine stabile und bruchlose Identität«, sondern »in ständiger Bildung und Auflösung begriffen«. 443 Im Gegensatz zu einer substanzialistisch gefassten Identität kann die narrative Identität die »Veränderung und Bewegtheit« aufnehmen, einbeziehen und verarbeiten, die einen Lebenszusammenhang in seiner Dynamik ausmachen: Die »Geschichte eines Lebens [wird] unaufhörlich refiguriert durch all die wahren oder fiktiven Geschichten, die ein Subjekt über sich selbst erzählt. Diese Refiguration macht das Leben zu einem Gewebe erzählter Geschichten«. 444 Die narrative Identität, die das Selbst (ipse) konturiert, operiert in einem Raum zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, den Geschichte und Fiktion in ihrer gegenseitigen Überkreuzung konstituieren. Im Umkehrschluss ist die narrative Identität der »gesuchte Ort dieser Verschmelzung von Historie und Fiktion«. 445 Das bedeutet, dass das Selbst (ipse) nicht aller Reflexion vorausliegt, sondern vielmehr die »Frucht eines Lebens der Selbsterforschung« ist und über die narrativen Modi der Geschichte und der Fiktion vermittelt wird. 446 Mit der narrativen Identität zeigt sich der vielleicht grundlegendste Unterschied der Hermeneutik Ricœurs zur Phänomenologie Husserls: »Das Bewußtsein ist nicht Ursprung, sondern Aufgabe« 447 – oder, um mit Blumenberg zu sprechen: »Philosophie ist werdendes Bewußtsein des Menschen von sich selbst.« 448 Dass die Erzählung die Möglichkeit zur Synthese in Form einer dissonanten Konsonanz bereithält, verspricht die Möglichkeit zur narrativen Ausbildung eines Selbst (ipse), d. h. die Möglichkeit das 443 444 445 446 447 448

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 399. Ebd., S. 396. Paul Ricœur: Die narrative Identität, S. 205. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 396. Ricœur: Das Bewusste und das Unbewusste, S. 146. Blumenberg: Weltbilder und Weltmodelle, S. 128.

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Selbe und das Andere, das Eigene und das Fremde miteinander zu vermitteln. Der Weg dieser Vermittlung führt über die Werke der Kultur: »Die Ipseität ist somit diejenige eines Selbst, das seine Bildung den Werken der Kultur verdankt, die es auf sich selbst appliziert hat.« 449 Es ist ein Umweg (détour), den das Subjekt »über verschiedene kulturelle Zeichen« einschlagen muss. 450 Die diltheysche Unterscheidung zwischen erklären und verstehen wird im Prozess der Aneignung überwunden, das Resultat ist ein Lebenszusammenhang, ein Begriff, den Ricœur, dieses Mal affirmativ, Dilthey entlehnt. 451 »Die Reflexion ist eine blinde Intuition, wenn sie sich nicht durch das, was Dilthey die Objektivationen des Lebens nannte, vermittelt.« 452 Im Hintergrund steht als Bedingung die Funktion der Metapher als eine Funktion des menschlichen Geistes, die den Menschen auf die Geschichte ebendieses Geistes und seiner Ideen, auf seine Objektivationsformen verweist. Sie ermöglicht es, Identität in Differenz auszubilden, einen Lebenszusammenhang, den wir innerhalb der Geschichte in Geschichten entwerfen: »[E]in Subjekt erkennt sich wieder in der Geschichte, die es sich selbst über sich selbst erzählt«. 453

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 396. Ricœur: Narrative Identität, S. 222. »›Appropriation‹ is my translation of the German term Aneignung. Aneignen means ›to make one’s own‹ what was initially ›alien‹. According to the intention of the word, the aim of all hermeneutics is to struggle against cultural distance and historical alienation. Interpretation brings together, equalises, renders contemporary and similar. This goal is attained only insofar as interpretation actualises the meaning of the text for the present reader.« (Ricœur: Appropriation, S. 185) 451 Vgl. Ricœur: Appropriation, S. 183. 452 Ricœur: Existenz und Hermeneutik, S. 28. 453 Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 397. 449 450

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5. Schlussbetrachtung

Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung war die Frage nach dem Zusammenhang von Teleologie und Geschichte, eine Frage, die sukzessive auf den Zusammenhang von Geschichte und Identität führt. Vor diesem Hintergrund lautet die Hauptthese, dass die Funktion der Metapher es erlaubt, zwischen Geschichte und Identität zu vermitteln und beide aufeinander zu beziehen. Es ist zunächst noch einmal daran zu erinnern, dass sich die hermeneutische Praxis Ricœurs sowie Blumenbergs sowie deren Verständnis von Ideengeschichte eklatant voneinander unterscheiden. Im Vorwort zu Gedächtnis, Geschichte, Vergessen verweist Ricœur auf sein eigenes methodisches Vorgehen: »Ich erwähne und zitiere häufig Autoren, die verschiedenen Epochen angehören, doch schreibe ich keine Problemgeschichte. Ich rufe diesen oder jenen Autor je nach der Notwendigkeit des Arguments herbei, ohne die Epoche zu berücksichtigen.« 1 Dieses tendenziell analytische Vorgehen Ricœurs ist nicht auf sein Spätwerk zu beschränken, sondern lässt sich gleichermaßen auf Zeit und Erzählung und damit auf die Hermeneutik der narrativen Identität sowie weitere Werke Ricœurs übertragen – wie anders sollte es sonst möglich sein, Ideenkonstellation und Problemzusammenhänge über die Konfrontation von Augustinus mit Aristoteles oder von Husserl mit Kant zu eröffnen und zu erörtern? 2 Diese Konfrontationen führen bei Ricœur auf Aporien, die jedoch nicht bei der Aporie oder einem bloßen Vergleich stehen Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 17. Eine Ausnahme bildet der zweite Teil von Ricœurs Symbolik des Bösen: Nachdem Ricœur im ersten Teil eine Typologie der Ursymbole des Makels, der Sünde und der Schuld entworfen hat, verfolgt er im zweiten Teil deren Rezeption in der jüdischen und christlichen Tradition (vgl. Ricœur: Die Symbolik des Bösen, S. 183–393) – dies jedoch typologisch und auch hier nicht problemgeschichtlich. Im Gegensatz zu Blumenberg spürt Ricœur in erster Linie existenziellen Problemlagen nach, nicht Begriffs- und Metapherngeschichten.

1 2

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Schlussbetrachtung

bleiben, sondern produktiv gewendet werden; sie dienen stets der eigenen Theoriebildung. Die Hermeneutik Blumenbergs hingegen verschränkt Ideen- und Problemgeschichte miteinander, deren Zugriff auf die Geschichte bezieht stets die historischen Kontexte ein. Dieser Unterschied der Art und Weise des methodischen Zugriffs auf die europäische Geistes- und Ideengeschichte lässt sich anhand der Aristoteles-Deutung Blumenbergs auf der einen, Ricœurs auf der anderen Seite veranschaulichen. Wie gezeigt wurde, ist die Neuzeit für Blumenberg gleichzusetzen mit der Entdeckung des schöpferischen Potenzials des Menschen. Um dieses Potenzial freisetzen zu können, bedurfte es der Überwindung der Mimesis-Bindung, die bis zum Epochenumbruch vom Mittelalter zur Neuzeit Geltung beanspruchte. Diese Mimesis-Bindung geht Blumenberg zufolge noch auf die antike Vorstellung des Kosmos zurück, insofern sich das menschliche Wirken und Schaffen zu dieser Zeit ganz auf die Grenzen des natürlichen Kosmos verwiesen sah. Blumenbergs Beispiel lautet, dass »wer ein Haus baut, […] nur genau das [tut], was die Natur tun würde, wenn sie Häuser sozusagen ›wachsen‹ ließe«. 3 Paradigmatisch sieht Blumenberg diesen Begriff der Mimesis von Aristoteles expliziert. Im Gegensatz dazu löst Ricœur die aristotelische Poetik aus dem historischen Kontext, um über eine Interpretation des aristotelischen Mimesis-Begriffs zu seiner Hermeneutik der narrativen Identität vorzudringen. Zu diesem Zweck verteidigt Ricœur in Die lebendige Metapher Aristoteles gerade gegenüber dem Vorwurf, einem platonischen Mimesis-Begriff anzuhängen, der sich auf die Grenzen des natürlichen Kosmos verwiesen sieht. 4 Indem Ricœur den MimesisBegriff ausschließlich über die aristotelische Poetik in den Blick nimmt, ohne diesen Begriff an den historischen Kontext zurückzubinden, gelingt ihm eine produktive Interpretation des MimesisBegriffs. Man mag Ricœurs Aristoteles-Interpretation als eine »unangemessene […] Modernisierung« bezeichnen, an dieser Stelle soll jedoch nicht die Angemessenheit, der Wert oder Unwert dieses oder jenes Verfahrens beurteilt werden; beide Verfahren besitzen auf ihre Art ihre Berechtigung. 5 Blumenberg: »Nachahmung der Natur«, S. 55 f.; vgl. Kap. 3.3.3. Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 47–50 sowie Anm. 48, S. 291. 5 Gerg Schöffel: Denken in Metaphern. Zur Logik sprachlicher Bilder. Westdeutscher Verlag: Opladen 1987, S. 26. 3 4

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Schlussbetrachtung

Es geht an diesem Punkt viel eher um die Implikationen beider Verfahren, die auf den Zusammenhang von Teleologie, Metapher, Geschichte und Identität führen. Blumenberg zufolge ist nicht nur der aristotelische Mimesis-Begriff auf die Grenzen des natürlichen Kosmos verwiesen, sondern Aristoteles’ Philosophie insgesamt; dies zeigt sich Blumenberg zufolge noch daran, dass selbst das teleologische Denken bei Aristoteles an ebendiese Grenzen stößt: Es ist eingebettet in eine Kausalität, die jedem Naturprozess »sein Woraufhin (τέλος)« vorgibt. Ganz auf den natürlichen Kosmos bezogen, kennt das aristotelische Denken keine »anthropozentrische T[eleologie]: der Mensch ist nicht das höchstrangige Wesen im Kosmos«. Wenngleich der Kosmos nicht um des Menschen willen da ist, so sieht Aristoteles doch zumindest »alles für den Menschen Notwendige in der sublunaren Natur vorhanden«, das der Mensch zu seiner »Daseinsfristung« benötigt. Der von Blumenberg diagnostizierte Epochenumbruch vom Mittelalter zur Neuzeit ist ein Ordnungsschwund, der zugleich ein Telosschwund ist. In der Antike und noch im christlichen Mittelalter fand der Mensch insofern Berücksichtigung, als dass der Kosmos bzw. die Welt zumindest alles zu seiner »Daseinsfristung« Notwendige bereithielt. Auf Blumenbergs Darstellung der historischen Genese des Teleologiedenkens kommt es an dieser Stelle im Einzelnen nicht an, entscheidend ist, dass sich in der Neuzeit gegen den theologischen Absolutismus und die kopernikanische Wende, die den Menschen ganz aus dem Zentrum des Universums verbannt, ein teleologisches Denken etabliert, das noch Blumenbergs Hermeneutik selbst antreibt: Dem negativen Befund des Telosschwunds korreliert ein »positive Dynamisierung«, 6 der Telosschwund wird als eine »Forderung an die Menschheit« 7 aufgefangen – Blumenberg zitiert an dieser Stelle Goethe. Diese positive Dynamisierung führt erstens auf die Ausbildung der technischen und mathematischen Naturwissenschaften: Die Natur wurde »pures Material der technischen Selbstbehauptung«. 8 Zweitens zeichnet sich damit ab, was Blumenberg als hermeneutisches Programm der Sprachwerdung ausweist, das die Kunst bzw. Blumenberg: Teleologie [Art.], Sp. 674 f. Goethe: Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, S. 81; vgl. Blumenberg: Teleologie [Art.], Sp. 675. 8 Blumenberg: Teleologie [Art.], Sp. 676. 6 7

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Schlussbetrachtung

Ästhetik und Poetik einbezieht. Dieses Programm folgt einer »homogenen Teleologie« und subsumiert noch das Schaffen der technischen und mathematischen Wissenschaften unter sich. Es gilt, zur Sprache zu bringen, was sich als Menschliches im Menschen zeigt: »Sprachwerdung ist Humanisierung, und das gilt auch und gerade für die Wissenschaften und ihr theoretisches Verhalten.« 9 Als Teil einer Hermeneutik konzentrieren Kunst, Ästhetik und Poetik das Interesse auf den Menschen selbst. Über Goethe zeichnet sich damit Blumenbergs Kulturphilosophie ab, die zuvor anhand seiner Ästhetik und Poetik entwickelt wurde: Der Mensch sieht sich seiner Kultur gegenüber, die eine Wirklichkeit menschlicher Produkte und Werke bildet, die es ihm ermöglichen, sich über diese hinweg zu verstehen und zu sich selbst zu kommen. 10 Blumenberg verweist in diesem Kontext zusätzlich auf Kant, der das neuzeitliche Problem der Teleologie in der Kritik der Urteilskraft aufbereitet hat: Die Teleologie, so Blumenberg, dient Kant nicht der »gegenständliche[n] Bestimmung der Natur«, sondern bildet die Voraussetzung dafür, »daß Erfahrung zu systematischer Einheit und Struktur gebracht werden kann« – im Hintergrund steht das kantische Vermögen der reflektierenden Urteilskraft und die reflektierende Urteilskraft ist entweder ästhetische oder teleologische Urteilskraft. 11 Blumenbergs Metaphernbegriff sowie sein Begriff der absoluten Metapher schließen an die ästhetische Urteilskraft und das ihr eigene Verfahren der Symbolisierung an. 12 An diesem Punkt jedoch rekurriert Blumenberg mit Blick auf Kant nicht auf die ästhetische, sondern auf die teleologische Urteilskraft, um deutlich zu machen, dass seit Kant nicht mehr, wie noch bei Aristoteles, die Teleologie, eingebettet in kausale Strukturen, auf die Natur gerichtet ist, sondern vielmehr als »ideales Ordnungsschema realer Kausalitäten« dient, d. h. die teleologische Zwecksetzung gibt das Ordnungsschema vor, innerhalb dessen Kausalitäten nachgewiesen werden. Die von Ricœur ent-

Blumenberg: Weltbilder und Weltmodelle, S. 68. Vgl. Kap. 3.6. »Kultur ist demnach eine Versammlung all desjenigen, was der Mensch selbst ›nicht ist‹ […]; und doch ist es nichts anderes als diese Differenz, über die hinweg er sich als derjenige versehen kann, der er ist.« (Konersmann: Kultur [Art.], S. 156) 11 Blumenberg: Teleologie [Art.], Sp. 676; vgl. Kap. 3.2. 12 Vgl. Kap. 3.2. 9

10

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wickelte Handlungstheorie lässt sich an diesem Punkt anschließen, es wird sogleich darauf zurückzukommen sein. Blumenberg ist seinerseits zuversichtlich, dass keine teleologischen Großentwürfe mehr zu befürchten seien, weshalb es zu einer teleologischen Orientierung im Kleinen kommt und d. h. für Blumenberg: Es kommt zu einer Konzentration »t[eleologisch]er Spekulationen«, die »auf die Selbstdeutung des Menschen innerhalb eines ›Weltbildes‹ begrenzt« sind. 13 Dem Begriff des Weltbildes korreliert der Begriff des Weltmodells. Der Begriff des Weltmodells steht bei Blumenberg für die Wirklichkeit, wie sie die Wissenschaften als ein Gesamtsystem der wissenschaftlichen Aussagen und Prinzipien vorstellen, der Begriff des Weltbildes hingegen rekurriert auf den neuzeitlichen Gegenentwurf zur Objektivität wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns und deren Sterilität gegenüber allem Subjektiven: Das Weltbild ist der »Inbegriff der Wirklichkeit, in dem und durch den der Mensch sich selbst dieser Wirklichkeit zuordnet, seine Wertungen und Handlungsziele orientiert, seine Möglichkeiten und Bedürfnisse erfaßt und sich in seinen wesentlichen Relationen versteht«. 14 Der Unterscheidung zwischen Weltmodell und Weltbild korreliert im Kontext der Hermeneutik Blumenbergs die Unterscheidung zwischen Begriff und Metapher; der Begriff gilt durchaus als rationales Erkenntnisinstrument der Wissenschaften, die Analyse von Metaphern führt eine Zentrierung des Subjekts auf die Wirklichkeit herbei, dies auch insofern als Metaphern noch unseren Begriffen Orientierung geben. Beide Unterscheidungen – Weltbild und Weltmodell, Begriff und Metapher – sind zusammenzuführen. Geht es Blumenberg zufolge fortwährend um die »Umsetzung von theoretischen Weltmodellen in lebensdienliche Weltbilder« 15, d. h. um die Frage des Zwecks der theoretischen Erkenntnis zum Wohle des Menschen und die Zentrierung auf die menschlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten, so sieht sich die wissenschaftliche ErBlumenberg: Teleologie [Art.], Sp. 677. Als Beispiele von Theoriebildungen, die teleologische Strukturen auf Weltbilder als Ganze übertragen, nennt Blumenberg an dieser Stelle die Evolutionstheorie Darwins als einen »Modellfall der Leistungsfähigkeit des T[elologie]begriffs von Kant« (ebd.), sowie Drieschs Vitalismus, Lecomte du Noüys Telefinalismus und Teilhard de Chardins Personalisierung des Kosmos (vgl. ebd.). 14 Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 303 (Anm. 310); vgl. auch Blumenberg: Weltbilder und Weltmodelle. 15 Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 216. 13

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Schlussbetrachtung

kenntnis in Form des Weltmodells auf das Weltbild verwiesen, nicht umgekehrt. Ebenso ergeht es der begrifflichen Erkenntnis, die auf die Metapher verwiesen wird; Metaphern fundieren die begriffliche Erkenntnis. Blumenberg macht deutlich, dass »Begriffe etwas sind, was wir selbst konstituieren«, weshalb »ihre Geschichte teleologisch verstanden werden« kann. 16 Diese Teleologie wird jedoch von Metaphern aufgefangen und unterbrochen. Metaphern, insbesondere absolute Metaphern, etablieren Ordnungsschemata, innerhalb derer wir kausale und teleologische Strukturen konstituieren und rekonstruieren. Es ist nicht die Geschichte, die teleologisch verläuft und die wir mittels begrifflicher Erkenntnis als Gegenstand Geschichte bestimmen, sondern das teleologische Denken, das unsere Darstellungsweise geschichtlicher Entwicklungen bedingt. Metaphern verhindern, dass sich diese geschichtlichen Entwicklungen zu einer teleologischen und linearen Geschichte im Ganzen auswachsen. Das Resultat der Reflexion auf die Metaphern ist die Zentrierung des Selbst innerhalb eines Weltbildes. Für Blumenberg bilden sich innerhalb der Geschichte Immanenzräume aus, die er als Weltbilder, Wirklichkeiten, als absolute Metaphern, Epochenzusammenhänge oder rhetorische Wirkungszusammenhänge erfasst. Deren Analyse erfolgt hermeneutisch anhand von Begriffen und Metaphern in Geschichten. Innerhalb dieser Immanenzräume konstituieren wir kausale und teleologische Strukturen, nicht jedoch über diese hinweg in Orientierung auf ein übergeordnetes Ziel. Die von Ricœur entwickelte Handlungstheorie kann vor diesem Hintergrund verständlich machen, wie genau die teleologische Orientierung in die Darstellung von Geschichte Einzug hält: Sie ist erstens der Art und Weise geschuldet, wie wir geschichtliche Entwicklungen überhaupt zu erkennen imstande sind, insofern wir uns diese interpretativ über die Entwicklung der Objektivationsformen des Geistes erschließen und d. h. über die Dynamik und Entwicklung der Rezeption dieser Objektivationsformen. Zweitens besitzen wir ein Vorverständnis intentionalen Handelns. Im Zuge der Darstellung historischer Entwicklungen schreiben wir Personen zweckgerichtetes Handeln zu und bringen dieses aus der Retrospektive zur Darstellung. Die Geschichtstheorie wird von Ricœur an diesem Punkt »nur als eine Modalität der Handlungstheorie betrachtet«. 17 Dies erlaubt 16 17

Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 30. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 205.

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es, vergangene Handlungen sowie historische Ereignisse gleichermaßen auf Grundlage des Modells kausaler Erklärung zu rekonstruieren. 18 Wie mit Blick auf Blumenberg herausgearbeitet wurde, lassen sich die Handlungen der einzelnen Protagonisten jedoch nur auf Umwegen erschließen: über Kontexte, rhetorische Wirkungszusammenhänge und im Hinblick auf den einer Zeit impliziten Wirklichkeitsbegriff. Die ursprünglichen Motivationsrückhalte lassen sich mit Blumenberg nicht in den Blick nehmen; wenngleich intentionales Handeln vorausgesetzt wird, geraten die Handlungen aus der Retrospektive doch ausschließlich mittelbar in den Blick. Sie lassen sich erst in negativer Abkehr von dem entsprechenden Wirklichkeitsbegriff, auf den sie implizit gerichtet sind, erschließen oder dort als Handlungen erkennen, wo sie auf den Widerstand anderer treffen. Die Handlungen werden durchkreuzt und verfehlen die ursprünglich intendierten Ziele. Es sind die enttäuschten Erwartungen und unerfüllt gebliebenen Hoffnungen, die die Hermeneutik Blumenbergs herausarbeitet und die die Geschichte zu einer gelebten Geschichte machen. Was wir von der Geschichte und ihrer Entwicklung verstehen, wird von uns rekonstruiert, ohne dass wir sicher sein können, dass es sich so und nicht anders zugetragen hat; mit Ricœur gesprochen, gibt das Kriterium der Wahrscheinlichkeit den Maßstab historischer Rekonstruktionen vor, nicht das der Wahrheit. Was wir in Anschluss an die von Ricœur adaptierte Unterscheidung von Sinn und Bedeutung in Übertragung auf Blumenberg Bedeutung nennen können, entsteht nicht lediglich wie bei Ricœur in der Aneignung zwischen dem Text und uns, sondern mittelbarer zwischen dem Text im Kontext, den historischen Wirklichkeitsbegriffen und uns. Das hermeneutische Verfahren Blumenbergs ist umwegiger, was zu einer sehr viel deutlicheren Dezentrierung des Subjekts führt, als dies die Hermeneutik Ricœurs vorführt. Dies liegt darin begründet, dass Ricœur seiner Hermeneutik von Beginn an die Intention der Aneignung einschreibt; gegenüber der Hermeneutik Blumenbergs bringt dies den Vorteil mit sich, für eine deutlich stärkere Zentrierung des Subjekts zu sorgen. Zunächst bleibt festzuhalten, dass eine geschichtsimmanente Teleologie sowohl von Blumenberg als auch Ricœur abgewiesen wird, mit Ricœur aber dennoch deutlich wird, dass im Zuge dieser Rekon18

Vgl. Kap. 4.4.1.

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struktionen kausale und teleologische Strukturen Einzug in die Darstellung geschichtlicher Entwicklung halten; die kausalen Strukturen sind eingebettet in teleologische Strukturen. Innerhalb ausgewiesener Immanenzräume werden die Handlungen als intentional und teleologisch orientiert dargestellt, mögen diese auch nicht an ihr Ziel gelangen, durchkreuzt werden oder andere Ziele finden, bestätigen, was vielleicht niemals bestätigt werden sollte und dadurch Entdeckungen hervorbringen, mit denen niemand gerechnet haben mag. Diese Immanenzräume werden mit Blumenberg maßgeblich von Metaphern konstituiert, die verhindern, dass sich die Geschichte zu einer Teleologie im Ganzen auswächst. Sie stimulieren Kontingenz und bilden zugleich Zusammenhänge aus, die es ermöglichen, die Kontingenz nicht absolut werden zu lassen. Diese Eigenschaft von Metaphern bezieht Blumenberg zunächst ganz auf die Geschichte. Metaphern bieten Blumenberg zufolge mittelbar die Möglichkeit zur Reflexion auf die handlungsleitenden Strukturen, aus denen sich die Dynamik der Geschichte ergibt – und noch die absolute Metapher, deren Funktion Blumenberg in Anlehnung an die kantischen Vernunftideen konzipiert, strukturiert die Geschichte. Wenn Blumenberg den menschlichen Wirklichkeitsbezug als konstitutiv metaphorisch beschreibt, dann verweist dies auf die Mittelbarkeit und Umwegigkeit des Kulturwesens Mensch, aus der sich der hermeneutische Zugriff Blumenbergs speist. 19 Der hermeneutische Umweg über die Rekonstruktion der geschichtlichen »Sinnhorizonte und Sichtweisen« lässt die Konturen der eigenen Identität bisweilen jedoch unscharf werden. 20 Ricœur hingegen erklärt die Funktion der Metapher zur Grundlage seiner Hermeneutik der narrativen Identität. Diese Hermeneutik kann die Konturen der Identität in Form einer narrativen Identität deutlicher herausstellen, wenngleich auch der Begriff der narrativen Identität Ricœurs die Identität offen und dynamisch vorstellt. Blumenberg schließt in seinen metaphorologischen Schriften an den kantischen Symbolbegriff an, dem das Vermögen der ästhetischen Urteilskraft zugrunde liegt. Die teleologische Urteilskraft Kants thematisiert Blumenberg im Kontext seiner metaphorologischen Schriften hingegen nicht; dieser Bezug taucht jedoch explizit in dem soeben zitierten Lexikonartikel Blumenbergs auf, der 1959 in 19 20

Vgl. Kap. 3.6. Blumenberg: Paradigmen, S. 13.

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Religion in Geschichte und Gegenwart erschienen ist. An dieser Stelle ist bereits vorgezeichnet, worauf Blumenberg aus ist: auf eine humane Teleologie, die nicht mehr nach der Teleologie in der Geschichte fragt, sondern die historischen Erkundungen auf ein mögliches Selbstverständnis konzentriert. Die »t[eleologisch]e[n] Spekulationen« richten sich »auf die Selbstdeutung des Menschen innerhalb eines ›Weltbildes‹«. 21 Ein mögliches Selbstverständnis sieht sich damit unweigerlich auf die Frage nach dem Status teleologischen Denkens verwiesen. 22 Wie Ricœur herausarbeitet, ermöglicht erst das narrative Verstehen, teleologische und kausale Strukturen in einen Gesamtzusammenhang einzubetten, in dem wir uns selbst situieren können. 23 Die Erklärungsmuster kausaler und teleologischer Strukturen werden dadurch aus dem betrachteten historischen Kontext gelöst und auf ein mögliches Selbstverständnis hin transzendiert. Auch mit Blick auf Blumenbergs Anschluss an Kant war dieser Aspekt bereits angeklungen, steht die Zweckmäßigkeit bei Kant doch für eine Gesetzmäßigkeit des Zufälligen. 24 Diese vermag die Kontingenz in geordnete Zusammenhänge zu überführen, indem sie ein Ganzes konstituiert, das den Teilen zugrunde liegt und dadurch Teil und Ganzes aufeinander bezieht. Im Gegensatz zu Blumenberg setzt Ricœur im Kontext seiner Hermeneutik nicht ausschließlich auf die ästhetische Urteilskraft, sondern von Beginn an auf die reflektierende Urteilskraft, die bei Kant zusätzlich zur ästhetischen als teleologische Urteilskraft auftritt. Aufgrund dessen ist Ricœurs Hermeneutik der narrativen Identität auf ein mögliches Selbstverständnis konzentriert, sie ist von Beginn an eine Aneignungshermeneutik. Diese Hermeneutik sucht nicht historische Kontexte zu beleuchten, sondern vielmehr ein Verstehen des eigenen Selbst zu befördern, das sich bei Blumenberg bisweilen in den Kontexten zu verlieren scheint. Ricœur selbst macht mit seiner Hermeneutik jedoch ein Angebot, wie zwischen der Hermeneutik Blumenbergs, als einer sehr viel deutlicher dezentrierenden Hermeneutik, und seiner eigenen HermeBlumenberg: Teleologie [Art.], Sp. 677. Vgl. Spaemann und Löw: Natürliche Ziele, S. 241 sowie Hartung: Teleologie und Leben. 23 Vgl. hierzu unabhängig von Ricœur Spaemann und Löw: Natürliche Ziele, S. 230– 247. 24 Vgl. Kap. 3.2. 21 22

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neutik, als einer sehr viel deutlicher auf Aneignung konzentrierten Hermeneutik, vermittelt werden kann. Ergibt sich für Blumenberg die historische Entwicklung aus rhetorischen Wirkungszusammenhängen, die auseinander, nicht aufeinander folgen, so unterläuft Blumenberg damit die Möglichkeit, die Epochen und Wirklichkeitsbegriffe zu einem linearen und teleologischen Gesamtzusammenhang zusammenzuschließen. Erst wenn die Linearität und Teleologie unterbrochen ist, ergibt sich überhaupt die Möglichkeit zu einem Eingriff in die Geschichte. Die historischen Tatsachen werden nicht mehr als gegeben hingenommen, die historische Entwicklung ist damit nicht vorgezeichnet, sie müssen vielmehr in Zusammenhängen rekonstruiert werden. Dies bietet die Möglichkeit, selbst noch die Geschichte auf die Zwecke des Menschen zu konzentrieren, d. h. auf ein mögliches Selbstverständnis. Diesen Prozess bezeichnet Ricœur unter Rekurs auf Husserl als Rückfrage. 25 Diese Rückfrage dient Ricœur erstens dazu, deutlich zu machen, dass die historischen Analysen die drei Formen der Mimesis durchlaufen, d. h. sie heben von einem Vorverständnis der eigenen Kultur ab, werden konfiguriert und kulminieren in der Refiguration; sie sind im Zuge des Aneignungsprozesses auf die eigene Kultur und das eigene Selbstverständnis konzentriert. 26 Bereits die Rückfrage ist narrativ und greift doch auf die Geschichte aus; sie schließt die Kluft zwischen dem historischen Erklären und der Narrativität und dient Ricœur dazu, die Geschichte als einen Kontingenzraum, d. h. als einen Bereich des Möglichen zu öffnen. 27 An diesem Punkt übersteigt die Philosophie die Darstellungsebene bloß historischer Rekonstruktionen und damit auch die Frage nach dem Status kausaler und teleologischer Strukturen im Kontext der Rekonstruktion historischer Immanenzräume. Durch die Rückfrage wird die Geschichte als ein Bereich des Möglichen geöffnet und die gewonnenen Erkenntnisse mittels einer übergeordneten Teleologie transzendiert. Die Rückfrage kommt damit der Forderung Blumenbergs nach einer humanen Teleologie nach, ohne eine der Geschichte immanente Teleologie zu behaupten; sie ermöglicht, was längst vergangen scheint, auf ein mögliches Selbstverständnis zu beziehen. Stellen wir der Aneignungshermeneutik Ricœurs die Herme25 26 27

Vgl. Kap. 4.4.1. Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 270. Vgl. ebd., S. 269, 271, 288.

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neutik Blumenbergs an die Seite, so wird deutlich, dass sich das gewonnene Selbst sogleich wieder an die Kontexte verliert, an die Werke der Kultur, über die es sich gewinnt und verliert zugleich. Wie zuvor dargestellt, können die unterschiedlichen AristotelesInterpretationen Ricœurs und Blumenbergs den Unterschied zwischen den beiden hermeneutischen Zugriffen gut illustrieren. Bleibt der aristotelische Begriff der Mimesis für Blumenberg im Kontext der antiken Ontologie auf die Grenzen des natürlichen Kosmos verwiesen, so geht Ricœurs Aktualisierung des aristotelischen MimesisBegriffs gerade auf eine Dekontextualisierung zurück. Indem Ricœur den aristotelischen Mimesis-Begriff ausschließlich aus der Poetik Aristoteles’ extrahiert, ist ihm eine Aktualisierung dieses Begriffs möglich, die sich nicht um die Grenzen einer antiken Ontologie kümmert, sondern die diesen Begriff in eine Ontologie integriert, die, mit Ricœur gesprochen, vor dem Text entsteht. 28 Sie entfaltet eine Wirklichkeit, in der der Mensch ein mögliches Selbstverständnis entwirft. Über die Methode der Rückfrage greift Ricœur in diesem Fall auf die Geschichte aus, um das Potenzial des aristotelischen MimesisBegriffs zu aktualisieren und fruchtbar zu machen. Und es ist gerade diese Neuinterpretation der aristotelischen Mimesis-Lehre, die für Ricœur allererst eine Hermeneutik der narrativen Identität möglich macht. Diese Hermeneutik verdankt sich dem Vermögen der narrativen Funktion, ein Vermögen, das seinerseits auf die Funktion der Metapher zurückgeht. Die Metapher ermöglicht es, Gesamtzusammenhänge zu konstituieren und Teil und Ganzes aufeinander zu beziehen, ohne das Ganze zu fragmentieren oder die Teile im Ganzen aufgehen zu lassen. Sie bezieht einen Kontext ein und verwandelt diesen, indem sie es ermöglicht, eine neue Perspektive auf diesen einzunehmen. Diese Funktion macht sich die narrative Funktion zunutze; sie gründet im logischen Raum, den die Metapher durch Distanzveränderung eröffnet, und nimmt die der Metapher implizite zeitliche Veränderung auf, um sie zu konfigurieren. 29 Im Hintergrund sieht Ricœur hier die produktive Einbildungskraft und den narrativen Schematismus am Werk. Schafft die narrative Funktion, bestehend aus produktiver Einbildungskraft, narrativem Schematismus und der dreifachen Mime28 29

Vgl. Ricœur: Eine intellektuelle Autobiographie, S. 50. Vgl. Kap. 4.3.4.

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Schlussbetrachtung

sis, die Möglichkeit zur Aneignung, so ist es für Ricœur die reflektierende Urteilskraft, die sich der Konfigurationen der narrativen Funktion annimmt und eine narrative Identität hervorbringt; die reflektierende Urteilskraft wird hier zur narrativen Urteilskraft. Sie sieht sich erstens auf die figurativen Strukturen verwiesen, die Blumenberg in Anschluss an Kant der ästhetischen Urteilskraft zuschreibt, sowie zweitens auf die kausalen und teleologischen Strukturen der teleologischen Urteilskraft, an die Ricœur anschließt. In einer doppelten Reflexionsbewegung bringt sie »eine dritte Klasse von reflektierenden Urteilen« hervor. 30 Sie integriert die kausalen und teleologischen Strukturen im Prozess der Konfiguration einem Gesamtzusammenhang und gewinnt zugleich »einer zeitlichen Abfolge eine Figur« ab. 31 Diese figurative Struktur wirkt auf den Leser vertraut, sie gewährleistet Nachvollziehbarkeit und eröffnet die Möglichkeit zur Aneignung. Im Zuge des Aneignungsprozesses greift noch einmal die Funktion der Metapher ein. Im Kontext der Überkreuzung der Referenzfunktion der Geschichte und der Signifikanzfunktion der narrativen Fiktion, entwickelt Ricœur eine Ontologie der Metapher auf Grundlage des Spurbegriffs. 32 Die ontologische Funktion der Metapher geht erstens auf die Grundstruktur und Funktion der Metapher zurück, Identität und Differenz zusammendenken zu können; zweitens sieht sich die Metapher in ihrer ontologischen Funktion, vermittelt über die Geschichte, auf das Andere und das Selbe verwiesen. Entscheidend ist, dass die Funktion der Metapher in Auseinandersetzung mit dem Anderen und dem Selben in der Geschichte etwas Neues zu schaffen imstande ist, d. h. die Sinnzusammenhänge, die die Metapher aus einer neuen Perspektive sehen lässt, konturieren im Zuge der Aneignung eine narrative Identität, die sich nicht lediglich aus bereits Bekanntem zusammensetzt. Sie verweist das Selbe und Bekannte auf das Andere und Fremde. Die Funktion der Metapher lässt aus den Verweisungszusammenhängen zwischen dem Selben und Anderen auf Grundlage der Analogie sowie im Zusammenspiel mit der narrativen Funktion etwas Neues entstehen: eine narrative Identität.

30 31 32

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 2, S. 104 (Anm. 1). Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 107. Vgl. Kap. 4.5.1.

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Schlussbetrachtung

Geschichte ist von Grund auf zeitlich; sich die Geschichte anzueignen, bedeutet zugleich, sich die Zeit anzueignen und d. h. der Zeit und Geschichte nicht ausgeliefert zu sein. 33 Die Öffnung der Geschichte als Kontingenzraum eröffnet die Möglichkeit zur Aneignung der Geschichte und der Zeit und diese Möglichkeit geht auf die Funktion der Metapher zurück; sie ist es, die die historische Dynamik in sich aufnimmt, tradiert und abbildet. Dieser wiederum nimmt sich die narrative Funktion an, die die Zeitlichkeit konfiguriert und auf ein mögliches Selbstverständnis bezieht. Über das Verhältnis zwischen dem Selben, dem Anderen und dem Analogen hinaus konstituiert die Metapher Identität in Differenz. 34 Die Metapher in ihrer von Ricœur vorgenommenen Erweiterung um eine ontologische Dimension erlaubt es, Geschichte und Identität zusammenzudenken. Mit Vgl. Emil Angehrn: Zeit und Geschichte, in: Emil Angehrn, Christian Iber, Georg Lohmann et al. (Hrsg.): Der Sinn der Zeit. Velbrück Wissenschaft: Weilerswist 2002, S. 67–84, hier S. 73–75, 77–79, 83. 34 Es sei an dieser Stelle auf einen Problemzusammenhang mit Blick auf die Frage personaler Identität verwiesen, der Ricœur in Das Selbst als ein Anderer nachgeht. Für Ricœur kommt die Identität, die substanziell als dieselbe (idem) gefasst wird und die Beständigkeit in der Zeit aufweist, einer komparativen Verwendung des Selbst gleich (vgl. Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 11 f.). Diese Form der Identität beruht auf einem bloßen Vergleich mit Anderen. Dem setzt Ricœur, wie bereits in Zeit und Erzählung geschehen, die Identität, verstanden als Selbst (ipse) entgegen; diese Form der Identität bleibt wandelbar und dynamisch und setzt keinen festen, substanziellen Kern voraus. Um diesen Unterschied zu markieren und zu betonen, dass diese Form der Identität des Selbst (ipse) nicht lediglich komparativ zu verstehen ist, wird in der Forschung zumeist auf Das Selbst als ein Anderer rekurriert; dieser Weg führt auf eine Phänomenologie des Leibes und die praktische Philosophie, die Ethik Ricœurs (vgl. hierzu Tengelyi: Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte, S. 195, 198–202; Loriana Metzger: Philosophische Interpretation des Selbst, S. 16, 53–74; die für dieses Thema zentrale Textpassage findet sich in Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 382–426; Vogelsang kritisiert Ricœurs praktische Philosophie als zu schwach konzipiert, um das Verhältnis von Selbst und Anderem zu fassen zu bekommen, um mit Merleau-Ponty und Waldenfels eine Phänomenologie der Zwischenleiblichkeit zu entwickeln, die über Ricœurs Entwurf hinausgeht, vgl. Vogelsang: Identität in einer offenen Wirklichkeit, hier insbes. S. 142–148). Wenngleich die Metapher die Ethik, wie sie Ricœur in Das Selbst als ein Anderer entwickelt, bei weitem nicht einholen kann und auch nicht dazu dienen soll, eine Leibphänomenologie zu ersetzen, so ist doch darauf hinzuweisen, dass die Metapher im Kontext einer Hermeneutik und Kulturphilosophie zumindest in einer Hinsicht das leistet, was im Kontext der praktischen Philosophie Ricœurs die personale Identität sowie die Leiblichkeit leisten sollen: Sie enthebt das Selbst (ipse) des bloßen Vergleichs mit Anderen, d. h. sie geht über die bloße Analogie hinaus und lässt in ihrer ontologischen Funktion die narrative Identität im Kontext ihrer Tradition und Geschichte als originäre Identität auftreten. 33

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Schlussbetrachtung

Blumenberg öffnet sie die Geschichte als eine gelebte Geschichte und führt über diese mit Ricœur auf eine narrative Identität. Es sei abschließend auf ein Problem verwiesen, das sich im Zuge der Konfrontation der Hermeneutik Ricœurs mit der Blumenbergs auftut. Für Ricœur bildet die narrative Identität »die poetische Lösung des hermeneutischen Zirkels«. 35 Dieser Zirkel besagt, dass wir uns immer schon auf ein Vorverständnis der Kultur verwiesen sehen. Die Aneignung dieser Kultur führt, vermittelt über die Werke, auf die narrative Identität; am Ende dieses Prozesses entstehen neue Werke, die die Kultur prägen und die ihrerseits zu Selbstverständlichkeiten und damit zu einem Vorverständnis werden. In einem größeren Rahmen konstituiert sich der hermeneutische Zirkel sowohl bei Ricœur als auch bei Blumenberg in dem Verhältnis von Fragen und Antworten, die uns in der Auseinandersetzung mit der Geschichte begegnen. Ricœur scheint sich an diesem Punkt Gadamer anzuschließen, um das Verhältnis von Fragen und Antworten zu bestimmen: Jeder Text gilt ihm als Antwort auf eine Frage, so dass die Frage mittels Interpretation des Textes über den Text hinaus freigelegt werden kann. 36 Doch abseits dieser Selbstzuschreibung Ricœurs, in Abwendung von Gadamer und viel eher mit Blick auf Ricœur selbst ist zu fragen, ob nicht die Methode der Rückfrage impliziert, dass zuvor bereits eine Antwort gegeben worden sein muss? Andernfalls führte die Rückfrage lediglich auf weitere Fragen. Wenn wir zurückfragen, erwarten wir dann nicht eine Antwort von der Vergangenheit? Es ist Blumenberg, der bezweifelt, dass die Fragen stets den Antworten vorausgehen; für Blumenberg gilt vielmehr, dass die Antworten nur allzu oft in Form von Selbstverständlichkeiten gegeben sind, bevor die Fragen überhaupt aufkommen. 37 Erst wenn diese Selbstverständlichkeiten schwinden, rücken mit einem Mal die Fragen in den Vordergrund, die eine passende Antwort auf etwas suchen, das nun nicht mehr selbstverständlich scheint. Es werden dann nicht alte Fragen auf den eigenen Horizont bezogen, sondern neue Fragen auf alte Antworten gesucht – und diese Antworten sind Blumenberg zufolge

Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 398. Vgl. Kap. 4.5.2. und Anm. 171, S. 179 sowie hierzu Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 356. 37 Vgl. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 78 sowie Anm. 170 , S. 176. 35 36

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Schlussbetrachtung

oftmals in Form von Metaphern gegeben. Die Reflexion auf diese Metaphern beraubt uns jedoch zugleich der Möglichkeit, Antworten zu erhalten. 38 Als Antworten enttäuschen sie, da sie Verzicht auf Eindeutigkeit fordern und das eigene Selbst auf die Dynamik verweisen, die die Metaphern implizieren. Die Reflexion auf Metaphern und Begriffe eröffnet geschichtliche Immanenzräume, innerhalb derer wir unsere Fragen formulieren, innerhalb derer die Probleme, die wir stellen, sowie die Antworten, die wir suchen und die vielleicht immer schon gegeben waren, uns entgegentreten. Für Ricœur ist der Mensch weniger jemand, der Probleme löst, als dass er diese stellt, weniger jemand, der Fragen final beantwortet, als dass er diese aufrollt. 39 Die Hermeneutiken Ricœurs sowie Blumenbergs bewegen sich in dieser Zirkularität aus Fragen und Antworten, in der die Antworten nicht befriedigen mögen und fortwährend neue Fragen aufkommen lassen und in der der Mensch die Probleme, die er zu lösen sucht, allererst hervorbringt. Auf der Suche nach möglichen Antworten auf die Herausforderung gelingender Integration des eigenen Selbstverständnisses in eine kontingente Geschichte und Wirklichkeit, geraten die Antworten selbst ins Hintertreffen. Was Ricœur sowie Blumenberg gleichermaßen umtreibt, ist das Bemühen um fortwährende Integration, um die Aneignung und Interpretation des Selbst in Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur, Geschichte und Wirklichkeit.

38 39

Vgl. Kap. 3.3.1. sowie Blumenberg: Paradigmen, S. 24. Vgl. Ricœur: Die Fehlbarkeit des Menschen, S. 134.

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Epilog

Verzicht zu leisten auf den einen Sinn in der Geschichte bedeutet für Ricœur nicht, Sinnangebote gänzlich preiszugeben. Im Kontext seiner Symbolhermeneutik findet, was er als Sinn bezeichnet, seinen Abschluss in der Wiederherstellung des Sinns im Kontext einer Eschatologie und Religionsphänomenologie, im Kontext seiner Narrativitätstheorie konzentriert er diesen auf die narrative Identität – der Begriff des Sinns bleibt hier gegenüber der von ihm entworfenen Eschatologie deutlich reduziert und macht ein Angebot, wie das endliche Wesen Mensch einen Umgang mit dem finden kann, was als Sinn in der Kultur bereitliegt. Blumenberg macht im Gegensatz zu Ricœur keinen systematisch einschlägigen Gebrauch vom Begriff des Sinns, vielmehr führt er dort, wo dieser zu erwarten wäre, andere Begriffe ein. Der der Selbstverständlichkeit ist einer unter anderen. Der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit hat die der Phänomenologie Husserls entlehnten Selbstverständlichkeiten als konstitutiven Bestandteil der Hermeneutik Blumenbergs zu Tage treten lassen. In Arbeit am Mythos jedoch macht Blumenberg geltend, dass nicht ausschließlich Selbstverständlichkeiten unser Verhältnis zur Wirklichkeit prägen. Selbstverständlichkeiten nennt Blumenberg in Arbeit am Mythos ohnehin nur en passant, von Bedeutung ist hier viel eher der Begriff der Bedeutsamkeit. Bedeutsamkeiten sind subjektive Wertbesetzungen der Wirklichkeit. Aufgrund von Bedeutsamkeiten entstehen innerhalb der Wirklichkeit Muster und Strukturen, die ein Wiedererkennen, aber auch Wiederholbarkeit ermöglichen. Ein lineares Verständnis von Geschichte stößt an diesem Punkt an seine Grenzen. Jenseits dieser lassen Bedeutsamkeiten Figurationen und Präfigurationen entstehen, sie erzeugen Prägnanzen, die aus der Indifferenz von Raum und Zeit heraustreten. Sowohl in der Philosophie Blumenbergs als auch in der Ricœurs fungieren Figurationen und Präfigurationen als Strukturen, die Ver449 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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trautheit stiften. Es besteht ein mitunter implizites kulturell bedingtes Vorwissen, das im Begriff der Präfiguration seinen Ausdruck findet und vom dem figuratives Wissen seinen Ausgang nimmt. Die Ebene der Präfiguration ist für Ricœur nichts anderes als ein kulturelles Vorverständnis, das es erlaubt, Handlungen aufgrund im Vorfeld bekannter Regeln zu deuten und zu verstehen. Noch wenn es darum geht, Geschichte darzustellen, greift figuratives Wissen auf Präfigurationen zurück. Was aufgrund der zeitlichen Distanz allzu fern scheint, wird figurativ angereichert, um Vertrautheit herzustellen und stützt sich so in der Darstellung auf Bekanntes. In dieser Vertrautheit liegt für Ricœur die Möglichkeit begründet, Handlungen überhaupt auf Gründe zurückführen zu können, die wir rekonstruieren, wenn wir Geschichte darstellen. Blumenbergs Position erweist sich dort als anschlussfähig, wo Figurationen und Präfigurationen Vertrautheit herstellen. Im Gegenzug zu Ricœur jedoch macht Blumenberg darauf aufmerksam, dass diese Vertrautheit mitunter Handlungen legitimieren kann, die sich nicht rational begründen lassen. Das von ihm formulierte Prinzip des unzureichenden Grundes expliziert in diesem Kontext Verlegenheit und Defizit einer Handlungstheorie, die meint Handlungen der Sache nach jederzeit rational begründen zu können. Blumenberg zufolge wird gerade dort, wo sich Handlungen nur unzureichend rechtfertigen lassen, allzu oft auf Präfigurationen zurückgegriffen. Diese wirken vertraut und weisen jede weitere Rechtfertigung nur allzu selbstverständlich ab. Es sind gerade jene subjektiven Wertbesetzungen von Raum und Zeit, die Blumenberg Bedeutsamkeit nennt, die aus Gegebenheiten Präfigurationen entstehen lassen, die dann für Entscheidungen bürgen, die scheinbar der eigenen Willkür entzogen sind und deshalb an anonyme Mächte delegiert werden. Damit aber halten mythische Elemente Einzug in die Geschichte, die ein lineares und teleologisches Verständnis von Geschichte unterlaufen. Die Annahme, die Geschichte folge einem rationalen Kalkül oder Sinn, erscheint vor diesem Hintergrund absurd, denn wer innerhalb der Geschichte auf Mythisierungen setzt, braucht es mit den Fakten nicht so genau nehmen; Verzicht auf Realismus lautet das von Blumenberg an dieser Stelle eingeworfene Stichwort. In seiner Nachlassschrift zum politischen Mythos nennt Blumenberg zahlreiche Beispiele solcher Mythisierungen, er verweist unter anderem auf den Waffenstillstand von Compiègne von 1940. Nachdem Frankreich 1940 unterlag, ließ Hitler den Waffenstillstand 450 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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an ebenjenem Ort unterzeichnen, an dem 1918 bereits der erste Waffenstillstand zwischen dem Deutschen Reich und den Westmächten Frankreich und Großbritannien unterzeichnet worden war. Zu diesem Zweck ließ Hitler den Eisenbahnwagen, in dem bereits der erste Waffenstillstand 1918 unterzeichnet worden war, aus dem Museum holen: Im Wagen von Compiègne diktierte dieses Mal das Deutsche Reich die Vertragsbedingungen, den Salonwagen ließ Hitler im Anschluss in Berlin ausstellen. Was sich hier Geschichte nennt, ist das Resultat rhetorischer Handlungen und Wiederholungen: die symbolische Inszenierung der Kapitulation der ehemaligen Siegermacht. Fünf Jahre später wurde die deutsche Kapitulation in Reims vollzogen, der Krönungshauptstadt der französischen Könige. Zu diesem Zweck, so fügt Blumenberg hinzu, brauchte es keinen Salonwagen aus dem Museum mehr, auch da es galt, dieser Geschichte ein Ende zu setzen – und vielleicht, um an die Geschichte vor dieser Geschichte anzuknüpfen; auch dies ein Bruch mit jeder Linearität. Die Berufung auf Präfigurationen zur Legitimation von Handlungen zeigt laut Blumenberg deutlich, dass gerade eines nicht bewusst gelenkt oder hergestellt wird: die Geschichte im Ganzen, die nunmehr als Nebenprodukt ebensolcher Handlungen in Erscheinung tritt. Deshalb lässt sich laut Blumenberg aus der Geschichte auch so wenig lernen; sie entsteht aus rhetorischen Akten, weniger aus Kalkül, rational begründeten und begründbaren Handlungen. Dies mindert nicht der Ertrag der Reflexion auf die narrativen Strukturen und Modalitäten der Geschichtsdarstellung, denn dort, wo Geschichten an die Stelle der Geschichte treten, ermöglicht die Narration darzustellen, was sich als Ganzes kaum mehr darstellen lässt. Doch Blumenbergs Aufmerksamkeit auf die mythischen Elemente innerhalb der Geschichte lenkt den Blick auf den mitunter durchaus ideologisch gefärbten Hintergrund, der noch die Handlungen bestimmen kann, die wir im Zuge der Geschichtsdarstellung rekonstruieren – absolute Metaphern sind gerade darin absolut, dass sie sich allzu schnell der Aufmerksamkeit entziehen und doch zugleich im Zentrum der menschlichen Weltorientierung stehen. Blumenbergs Bemühungen um die Aufklärung solcher Strukturen, ist insofern noch Teil eines Aneignungsprozesses, als dass diese Strukturen scheinbar desto fremder werden, je mehr sie in Vergessenheit geraten. Dass sie keine Beachtung finden, bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass sie nicht dennoch Teil der eigenen Gegenwart sind; dass sie nicht zwangsläufig auch in die Vergangenheit 451 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

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rücken und uns deshalb noch immer etwas angehen, darin besteht der ideologiekritische Vorbehalt der Hermeneutik Blumenbergs, aber auch der Ricœurs gegenüber der Geschichte. Da die dargestellten Hermeneutiken mit dem Blick auf Figurationen und Präfigurationen zugleich über die Ebene der Eindeutigkeit der Sprache hinausgehen und in einer solchen nicht ihren Zielpunkt haben, können sie laut Ricœur auch nicht verabsolutiert werden. Dies ermöglicht ihr Zusammenspiel, in dem es zu erfahren gilt, was es mit der eigenen Identität auf sich hat, gleich wie fremd diese einem gegenübertreten mag. Um dieser Fremdheit entgegen zu wirken, ohne Identität als absolut zu behaupten oder einen abschließenden Sinn in der Geschichte zu versprechen, gilt es, eine Sprache zu finden – um mittels Sprache über die Sprache hinauszugehen, um der Geschichte in Geschichten zu begegnen und den Menschen mit dem bekannt zu machen, der er ist.

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Literaturverzeichnis

Wurden die englischen bzw. französischen Originalfassungen der Texte Ricœurs nicht nur zu Vergleichszwecken herangezogen, sondern sind darüber hinaus implizit oder explizit in den Text oder die Anmerkungen eingegangen, dann sind die Originalfassungen im Folgenden zusätzlich zu den entsprechenden deutschen Übersetzungen angegeben. Besonderheiten der jeweiligen Ausgaben, der Übersetzungen oder der Editionen sind unter dem entsprechenden Eintrag vermerkt. Die Werke sind jeweils in chronologischer Reihenfolge angegeben.

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Literaturverzeichnis

die Teilkapitel VII.1, VII.2, VII.4 sowie VII.5 und die sechste Studie der deutschen Ausgabe die Teilkapitel VIII.3–VIII.5 des französischen Originals. Folgende Kapitel der französischen Originalausgabe sind in der deutschen Übersetzung nicht enthalten: II.1–II.6, IV.2, IV.5, V.1, V.2, VI.2, VI.5, VII.3, VIII.1 sowie VIII.2. Ricœur, Paul: La tâche de l’herméneutique [1975], in: ders.: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique, Bd. 2. Éditions du Seuil: Paris 1986, S. 75–100. Ricœur, Paul: L’imagination dans le discours et dans l’action [1976], in: ders.: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique, Bd. 2. Éditions du Seuil: Paris 1986, S. 213–236. Ricœur, Paul: Expliquer et comprendre. Sur quelques connexions remarquables entre la théorie du texte, la théorie de l’action et la théorie de l’histoire [1977], in: ders.: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique, Bd. 2. Éditions du Seuil: Paris 1986, S. 161–182. Ricœur, Paul: L’originaire et la question-en-retour dans la Krisis de Husserl [1980], in: ders.: À l’école de la Phénoménologie, Librairie philosophique J. Vrin: Paris 21987, S. 285–295. Ricœur, Paul: Appropriation [1981], in: ders.: Hermeneutics and the human sciences. Essays on language, action and interpretation, übers. und hrsg. von John Brookshire Thompson. Éditions de la Maison des Sciences de l’Homme. Cambridge University Press: Cambridge UK, London, New York NY, New Rochelle NY, Melbourne, Sydney, Paris 51984, S. 182– 193. Ricœur, Paul: De l’interprétation [1983], in: ders.: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique, Bd. 2. Éditions du Seuil: Paris 1986, S. 11–35. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung, Bd. 1: Zeit und historische Erzählung [1983] (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, Bd. 18/I), übers. von Rainer Rochlitz. Wilhelm Fink: München 1988. – Paul Ricœur: Temps et Récit, Bd. 1. Éditions du Seuil: Paris 1983. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung, Bd. 2: Zeit und literarische Erzählung [1984] (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, Bd. 18/II), übers. von Rainer Rochlitz. Wilhelm Fink: München 1989. – Paul Ricœur: Temps et Récit, Bd. 2. Éditions du Seuil: Paris 1984. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung, Bd. 3: Die erzählte Zeit [1985] (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, Bd. 18/III), übers. von Andreas Knop. Wilhelm Fink: München 1991. – Paul Ricœur: Temps et Récit, Bd. 3. Éditions du Seuil: Paris 1985. Ricœur, Paul: Edmund Husserl – La cinquième Méditation Cartesienne [1986], in: ders.: À l’école de la Phénoménologie. Librairie philosophique J. Vrin: Paris 21987, S. 197–225. Ricœur, Paul: Zufall und Vernunft in der Geschichte [1986] (Tübingen Rive Gauche), übers. von Helga Marcelli. konkursbuchVERLAG: Tübingen 1986.

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Dilthey, Wilhelm 27, 34, 42–43, 49, 51–62, 64–65, 73–75, 77, 80, 82, 96, 111, 121, 148, 184, 272–273, 278, 291, 342, 363, 390, 433 Dosse, François 293 Dray, William Herbert 351 Driesch, Hans 438 Dumberger, Hubert 43–44, 224, 266, 292 Eliade, Mircea 286 Empedokles 165 Epikur 223 Flasch, Kurt 46, 124 Frege, Gottlob 76 Freud, Sigmund 286–287 Gadamer, Hans-Georg 18, 179, 272– 273, 408, 412–414, 424–425, 447 Galilei, Galileo 94, 96–98 Gallie, Walter Bryce 361 Geertz, Clifford 328 Gehring, Petra 168–169 Goethe, Johann Wolfgang von 436– 437 Goldstein, Jürgen 19, 24, 45–46, 122, 138, 176–177, 191, 204, 255, 270 Grimm, Jakob 55 Groethuysen, Bernhard 60 Guizot, François Pierre Guillaume 55 Gurwitsch, Aron 18 Haefliger, Jürg 45, 122 Harnack, Adolf von 214

478 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

Personenregister Haverkamp, Anselm 155, 169 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 55– 56, 280, 290–291, 293–294, 349 Heidegger, Martin 17–18, 46, 124, 155, 272, 308, 312, 316, 350, 365, 382–392, 394, 396, 403, 429 Heidenreich, Felix 181, 190, 269 Hempel, Carl Gustav 28–31, 351– 352, 355 Herder, Johann Gottfried 55 Heselhaus, Clemens 410 Hesse, Mary B. 312 Hitler, Adolf 450–451 Husserl, Edmund 15, 17, 26–27, 33– 36, 39–40, 42–43, 46, 49–55, 57–59, 61–76, 78–85, 87–126, 130, 134, 137, 141–145, 148–149, 179, 184– 185, 201–202, 204–205, 232, 238– 240, 244, 246, 256–259, 261–263, 274, 276–277, 293, 317, 330, 339, 342, 344, 364, 368, 383, 404–406, 417, 420, 432, 434, 443, 449 Iser, Wolfgang 410, 419 Janssen, Paul 88 Jaspers, Karl 15 Jauß, Hans Robert 18, 201, 410, 412, 419 Joyce, James 411 Kafka, Franz 202 Kant, Immanuel 35, 38, 126–127, 155, 157–167, 169–170, 172, 177, 182, 184, 209–210, 229, 273, 278, 296, 308–309, 333–335, 337–341, 383, 431, 434, 437–438, 441–442, 445 Kaulbach, Friedrich 169 Kern, Iso 67–69 Konersmann, Ralf 76, 168, 171 Kopp-Oberstebrink, Herbert 176– 177 Koselleck, Reinhart 318, 419–420, 422, 426–427 Kranz, Margarita 174–175 Kuhn, Thomas Samuel 186–190

Landgrebe, Ludwig 18, 155 Leenhardt, Maurice 286 Leeuw, Gerardus van der 286 Leibniz, Gottfried Wilhelm 132–133 Lembeck, Karl-Heinz 52, 61 Lepper, Marcel 275 Lévinas, Emmanuel 396 Löwith, Karl 24 Luhmann, Niklas 352 Maier, Anneliese 176 Mann, Thomas 372 Marbach, Eduard 67–69 Marcion 214 Marquard, Odo 176, 259 Marramao, Giacomo 20 Marx, Karl 286–287, 349 Mattern, Jens 425 Mende, Dirk 46, 124, 166 Merleau-Ponty, Maurice 339, 446 Meuter, Norbert 291–292 Mink, Louis O. 363 Müller, Oliver 45, 136 Musil, Robert 132 Niebuhr, Barthold Georg 55 Nietzsche, Friedrich 286–287 Noüys, Lecomte du 438 Ockham, Wilhelm von 216–218, 220 Oppenheim, Paul 28–30, 355 Platon 127–129, 205, 291, 368, 435 Popper, Karl 28, 52 Proust, Marcel 313, 350, 369–370, 372, 375–376, 378, 381–382, 389– 390, 395, 403 Recki, Birgit 149 Renn, Joachim 44–45, 271 Rolf, Eckard 166, 170 Römer, Inga 18, 47, 383, 408 Rorty, Richard 110, 112 Rothacker, Erich 181 Savigny, Friedrich Carl von 55 Scharfenberg, Stefan 356, 376

479 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .

Personenregister Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 59, 272–273 Schmitt, Carl 21–23, 25–26, 116 Schmitz, Alexander 275 Sinnreich, Johannes 166 Sokrates 127 Sommer, Manfred 238, 242 Stoellger, Philipp 44–45, 376 Ströker, Elisabeth 88 Teilhard de Chardin, Pierre 438 Tempier, Stephan 220 Tengelyi, László 46, 292, 295, 383 Tocqueville, Alexis de 55

Valéry, Paul 202, 252–255, 263 Vogelsang, Frank 446 Vonessen, Franz 393 Waldenfels, Bernhard 69, 446 White, Hayden V. 402, 404–405 Winckelmann, Johann Joachim 55 Woolf, Virginia 350, 369, 372–373, 375, 389, 409 Wright, Georg Henrik von 351–352, 355–356, 358, 365 Zambon, Nicola 238, 240, 406

480 https://doi.org/10.5771/9783495823767 .