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German Pages 422 Year 2015
Reinhard Babel Translationsfiktionen
Lettre
Reinhard Babel (Dr. phil.), geb. 1974, ist Leiter des DAAD-Informationszentrums Bogotá und arbeitet als Literaturwissenschaftler an der Universidad Nacional de Colombia. Der ausgebildete Germanist promovierte bei Robert Stockhammer an der Graduate School Language & Literature der Ludwig-Maximilians-Universität München im Fachbereich Komparatistik. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literatur- und Übersetzungstheorie, Sprachphilosophie, Deutsche Romantik sowie Lateinamerikanische und Afrikanische Literatur.
Reinhard Babel
Translationsfiktionen Zur Hermeneutik, Poetik und Ethik des Übersetzens
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I NHALT Vorwort | 7 Einleitung | 9
1. 2.
3.
Der Forschungsgegenstand | 9 Die Tradition literarischer Übersetzungsdarstellung | 19 2.1 Die Hermeneutik des Übersetzens: Goethes Faust | 22 2.2 Die Poetik des Übersetzens: Cervantes’ Don Quijote | 29 2.3 Die Ethik des Übersetzens: Heliodors Aithiopika | 37 Aufbau, Methode und Terminologie | 45 3.1 Die Unabschließbarkeit der Übersetzung | 46 3.2 Zum Begriff der Übersetzung | 48 3.3 Zum Begriff der Glotta-Literatur | 52
Lektüren | 59
4.
5.
6.
Hermeneutik des Übersetzens | 59 4.1 Novalis: Heinrich von Ofterdingen | 71 4.2 E.T.A. Hoffmann: Der goldne Topf | 95 4.3 Atlantis: Lost in Translation | 116 4.4 Die Romantik der Übersetzung: zwischen Aneignung und Verfremdung | 121 Poetik des Übersetzens | 131 5.1 Jorge Luis Borges: Pierre Menard, autor del Quijote | 136 5.1.1 Menard und die Übersetzung | 139 5.1.2 Borges und die Übersetzung | 154 5.1.3 Das Politikum des Übersetzens: Nachahmung, Wiederholung und Andersheit | 168 5.2 Julio Cortázar: Diario para un cuento | 177 5.2.1 Die Un/Möglichkeit des Übersetzens als poetologisches Problem | 184 5.2.2 Die Un/Möglichkeit des Übersetzens als ethisches Problem | 206 5.2.3 Poetik und Ethik des Scheiterns | 229 Ethik des Übersetzens | 233 6.1 Chinua Achebe: Arrow of God | 245 6.1.1 Glotta-Ethik und Glotta-Ästhetik | 249 6.1.2 Transition als Translation: die Kontinuität des Wandels | 283 6.1.3 Die Mehrsprachigkeit der tanzenden Maske | 305 6.2 David Mitchell: The thousand autumns of Jacob de Zoet | 322 6.2.1 Der Buchhalter: Die protestantische Ethik des Philologen | 343 6.2.2 Der Aufklärer: Wissenstransfer und Übersetzung | 364 6.2.3. Die Hebamme: Maieutik als Übersetzungskunst | 377
Schlussbemerkungen | 387
7.
Übersetzen ohne Ende | 387 7.1 Übersetztes | 387 7.2 Unübersetztes | 394
Literaturverzeichnis | 401
Vorwort
Meinen Eltern, die mir alles gegeben Meinem Bruder, mit dem ich alles teile Meiner Margarita, die mir alles ist
Die vorliegende Arbeit ist eine überarbeitete Version meiner Dissertation, die 2014 an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Sie ist in anregenden Dialogen, Diskussionen und Auseinandersetzung mit verschiedenen Personen entstanden, denen an dieser Stelle meine große Dankbarkeit für ihre vielfältige Unterstützung ausgesprochen wird. An erster Stelle ist mein Erstgutachter Robert Stockhammer zu nennen, der durch weisen Ratschlag und glokales Einwirken in allen Phasen des Projektes wesentlich dazu beigetragen hat, dass dieses nicht von der Bahn abgekommen ist und nun in dieser Form vorliegt. Insbesondere hat mich seine – nicht nur akademische – Fürsorge sehr beeindruckt. Darüber hinaus danke ich sehr herzlich meinem Zweitgutachter Clemens Pornschlegel, der überhaupt erst dafür gesorgt hat, dass ich mit der Dissertation beginnen konnte. Ihm und seinem erfrischend unkonventionellen Kreis der Gegenweltler werde ich – in welcher Welt auch immer – in großer Dankbarkeit verbunden bleiben. Ohne die kritischen Anregungen und konstruktiven Vorschläge der ProfessorInnen und DoktorandInnen des Promotionsstudiengangs Literaturwissenschaft wäre meine Arbeit nicht die, die sie jetzt ist. Insbesondere bedanke ich mich beim Koordinator des Studiengangs Markus Wiefarn und seinem bissigen Löwen-Humor, der Vieles leichter gemacht hat. Dass die Arbeit zu einem unvergesslichen Vergnügen wurde, habe ich vor allem meinen Mit-Promovenden zu verdanken, die nicht nur zu Gefährten, sondern zu Freunden wurden. Stellvertretend danke ich Carolin Rocks für ihr genaues Lektorat, Rebekka Schnell und Nicola Zambon für ihr ansteckendes Lachen (und den Rosé), Jan Söhlke für die notwendigen Prügel, Sebastian Thede für die Musik, Sebastian Huber für seine guten Vibes, Sandra Fluhrer für den hintergründigen Humor und Nadine Feßler für die solidarische Verschworenheit.
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Seinen geographischen und ideellen Ursprung nahm das Projekt in Chile, von wo aus mich seitdem tapfere und wohlmeinende Gefährten mit Rat und Tat begleitet haben. Ich danke insbesondere Horst Nitschack, Harald Bluhm, Rubén Aguilar und Nadine Miller. Für das genaue und geduldige Lektorat bin ich verschiedenen Personen zu Dank verpflichtet. Neben Jürgen und Franz Babel, Laura von Seefranz, Sebastian Thede und Carolin Rocks sind hier vor allem zwei Personen hervorzuheben, ohne die diese Arbeit nicht in Form gekommen wäre: Katrin Schuster und Martin Praxenthaler. Darüber hinaus danke ich dem DAAD, der mein Projekt nicht nur durch ein Rückkehrstipendium, sondern auch durch die Finanzierung eines Forschungsaufenthaltes in Buenos Aires möglich gemacht hat. Für die unvergessliche Unterstützung in guten und weniger guten Zeiten in Barracas danke ich Guadalupe, Andrés und vor allem Pocho und seiner Familie. Zuletzt seien die Personen genannt, denen ich alles verdanke. Ludwig und Anna Fendt, die mich überallhin begleiten, meine Eltern, die mir alles ermöglicht haben und mein Bruder, auf den ich unglaublich stolz bin. A Margarita y su familia le estoy eternamente agradecido por su amor, su paciencia y su apoyo incondicional.
Einleitung Le devoir et la tâche d’un écrivain sont ceux d’un traducteur. MARCEL PROUST, LE TEMPS RETROUVE
1. D ER F ORSCHUNGSGEGENSTAND Sie aber erkannten nicht, dass Josef es verstand, denn der Dolmetscher war zwischen ihnen.1 1. BUCH MOSES 42, 23
Dieses Zitat aus der Genesis ist ohne Zweifel eines der ältesten überlieferten Beispiele, in denen die Problematik der Übersetzung zur Sprache kommt. Welch vielschichtige Komplexität die literarische Darstellung der Übersetzung, die Gegenstand dieser Forschungsarbeit ist, entfalten kann, lässt sich an diesem vermeintlich einfachen Exempel veranschaulichen. Zunächst fällt an dieser deutschen Übersetzungsvariante 2 auf, dass die Rolle des Dolmetschers syntaktisch geradezu in das Gegenteil dessen verkehrt wird, was gemeinhin als Aufgabe des Übersetzens gilt, nämlich ein zwischensprachliches Verstehen zu ermöglichen. Mehr noch: Klammert man den Nebensatz in diesem Beispiel ein, liest sich der Satz so, als verhindere der Dolmetscher dieses Verstehen ge-
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Elberfelder Bibel. 3. Aufl. Witten, Dillenburg: Brockhaus; Christliche Verl.-Ges 2011. S. 57.
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Sie entstammt der ‚Elberfelder Bibel‘, die sich für „das besondere, grundtextorientierte Übersetzungskonzept“ rühmt. ebd. Hier im Vorwort: S. V. In Luthers Übersetzungsvariante ist die Ambivalenz in der Darstellung so gut wie beseitigt: Sie wußten aber nicht, daß es Joseph verstand; denn er redete mit ihnen durch einen Dolmetscher. Vgl. Luther, Martin: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Augsburg: Weltbild-Verl. 1998 [1913]. S.50.
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radewegs: Sie aber erkannten nicht, (…) denn der Dolmetscher war zwischen ihnen. Diese Ambivalenz in der Übersetzung verweist auf die Ambivalenz des Übersetzens schlechthin. Übersetzung soll Sprachbarrieren überwinden und gleichzeitig macht sie erst auf deren Existenz aufmerksam: Der Dolmetscher, der zwischen den Brüdern steht, verhindert und ermöglicht ein Verstehen oder Erkennen des jeweils Anderen. Damit sind bereits die beiden zentralen Paradigmen genannt, die sich stereotyp mit der kulturellen Praxis der Übersetzung und ihrer theoretischen Reflexion verbinden. Übersetzung fungiert einerseits als Vermittlerin zwischen Sprachen und Kulturen, die ein Verstehen überhaupt erst ermöglicht. Andererseits kann sie sich der in einem anderen biblischen Narrativ festgelegten Bestrafung des NichtVerstehen-Könnens3 immer nur teilweise entledigen. Immer bleibt zumindest der Verdacht bestehen, dass in der Übersetzung nicht alles restlos in eine andere Sprache übertragen werden kann, was im Original an semantischem und ästhetischem Gehalt des ursprünglich Gesagten enthalten ist. Damit wäre allerdings erst eine jener drei Dimensionen benannt, die im Zusammenhang mit der Fiktionalisierung von Übersetzung in dieser Studie erforscht werden sollen: die Hermeneutik des Übersetzens. Diese zeigt sich hier nicht nur dadurch, dass die verschiedenen Übersetzungsvarianten der Bibel interpretierend das Verstehen eines Textes lenken können, sondern auch darin, dass die syntaktisch und semantisch enge Verknüpfung der Verben erkennen (wissen) und verstehen auf den Zusammenhang sprachphilosophischer und epistemologischer Konzepte mit der Problematik der Übersetzung verweist. Die anderen beiden Dimensionen, die Poetik des Übersetzens und die Ethik des Übersetzens, können mit Hilfe der Übersetzungsdarstellung aus der Josefsgeschichte ebenfalls expositorisch und vorläufig erläutert werden. Die poetologische 4 Dimension dieser Übersetzungsszene liegt darin begründet, dass Josef hier gewissermaßen ein fiktionales Nicht-Verstehen inszeniert, da er so tut, als verstünde er seine Brüder nicht. Denn sie sind es, die hier nicht ‚erkennen‘: Josefs Brüder, die ihn einst als Sklaven nach Ägypten verkauft haben, wollen aufgrund der Hungersnot Getreide von dem mittlerweile zum obersten Berater des Pharao aufgestiegenen Josef erwerben. Was sie aber nicht erkennen, ist weniger, dass Josef (es) verstand, was sie sagten, sondern vielmehr, dass es ihr leibhaftiger Bruder ist, der vor ihnen 3
Die Rede ist von der Erzählung des Turmbaus zu Babel, in der es heißt: „Auf, lasst uns herabfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass sie einer des anderen Sprache nicht (mehr) verstehen.“ Elberfelder Bibel. S. 12.
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Der Begriff der ‚Poetik‘ wird in dieser Arbeit nicht im Sinne einer normativen Dichtungslehre verwendet, sondern vielmehr als Hinweis darauf, dass eine ‚Poetik des Übersetzens‘ eine Selbstreflexion des Schreibens impliziert. Poetik wäre daher eher im Sinne der ‚Poetologie‘ zu verstehen, die hier terminologisch nicht von der ‚Poetik‘ unterschieden wird, sondern lediglich im Adjektiv ‚poetologisch‘ zum Ausdruck kommt.
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steht. Offensichtlich gelingt es Josef, seine Identität einfach dadurch zu verbergen, dass er Ägyptisch spricht und so einen Dolmetscher (und das Übersetzen) zwischen sich und seine Brüder stellt. Wer ihre Sprache nicht spricht, kann schließlich nicht ihr Bruder sein. Josef funktionalisiert die poetologische Dimension des Übersetzens kreativ und spielt seinen Brüdern somit etwas vor, um seine wahre Identität zu verbergen und seine neue ägyptische Identität glaubhaft zu inszenieren. Die ethische Dimension des Übersetzens ist in dieser Szene auf den ersten Blick daran festzumachen, dass Josef seine Brüder durch das vorgespielte NichtVerstehen betrügt und das Übersetzen hier nur zum Schein inszeniert wird, Josef es somit in unredlicher5 Weise instrumentalisiert. Doch auf den zweiten Blick stellt sich diese ethisch fragwürdige Funktionalisierung des Dolmetschers in dem größeren Kontext der Vorgeschichte anders dar. Josef erfährt nämlich dadurch so etwas wie eine ausgleichende und späte Gerechtigkeit. Er bringt seine Brüder durch die Inszenierung seines Nicht-Verstehens nicht nur dazu, ihre Schuld anzuerkennen und ihre verwerfliche Tat zu bereuen, sondern dies auch (unwissend) in seiner Gegenwart auszusprechen. Dieses reuige Geständnis ist es nämlich, das Josef versteht, ohne dass die Brüder sein Verstehen erkennen: Er hört ihr Gespräch mit, das sie unbefangen in ihrer Sprache führen, da sie glauben, Josef sei dieser nicht mächtig. 6 Was Josef dabei vernimmt, ist Folgendes: „Da sagten sie einer zum anderen: Fürwahr, wir sind schuldbeladen wegen unseres Bruders, dessen Seelenangst wir sahen, als er uns um Gnade anflehte, wir aber nicht hörten. Darum ist diese Not über uns gekommen.“7 Erst als Josef auf diese Weise erfährt, dass seine Brüder ihre Tat, die ihn als Sklaven in das fremdsprachige Exil verbannt hat, aufrichtig bereuen, ist 5
Das Wort redlich wird gewöhnlich mit der ethischen Kategorie der Ehrlichkeit assoziiert, lässt sich etymologisch allerdings auf die rhetorische Kategorie eines ‚gut geredet‘ (beredt, redegewandt, eloquent) zurückführen. Als ethische Dimension des Übersetzens könnte man Redlichkeit als ‚für einen anderen gut geredet‘ bezeichnen. Die Unredlichkeit Josefs hat insofern nur indirekt mit der Ethik des Übersetzens zu tun, da sie sich nicht auf das Dolmetschen selbst bezieht, sondern auf die Tatsache, dass Josef seine Brüder betrügt, indem er die Anwesenheit des Dolmetschers dazu verwendet, seine Identität zu verbergen.
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Die Brüder unterschätzen damit seine Macht, denn Josef ist keineswegs so un-mächtig, wie sie glauben. Er spielt seine Macht aber gerade aus, indem er seine Macht verbirgt, indem er vorgibt, ihrer Sprache nicht mächtig zu sein. Gerade weil er sie von seinen Brüdern unerkannt beherrscht, beherrscht er auch die Situation. Dieser enge Zusammenhang von Sprache und Macht ist eines der wesentlichen Charakteristika einer Ethik des Übersetzens. Sprache fungiert von alters her als Machtinstrument und kann daher zum Missbrauch der Macht ebenso eingesetzt werden wie zur Herstellung von Gerechtigkeit, so wie Josef es hier vorführt.
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ebd. S. 57.
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der Weg zu einer versöhnenden Gerechtigkeit möglich. Bald darauf gibt sich Josef seinen Brüdern zu erkennen, indem er sie in ihrer gemeinsamen Sprache anspricht und dafür sorgt, dass keine vermittelnden Dolmetscher mehr zwischen ihnen stehen.8 Diese exemplarischen Entwürfe unterschiedlicher Analysevarianten des Bibelzitats skizzieren das spezifische Interesse dieser Forschungsarbeit an der literarischen Darstellung der Übersetzung. Sie erlauben es dadurch, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der wissenschaftlichen Fragestellungen dieses Projektes von und mit anderen Forschungen auf diesem Gebiet darzulegen. Das wissenschaftliche Interesse an der literarischen Darstellung der Übersetzung lässt sich grob in drei übergeordnete Bereiche unterteilen: Erstens gibt es ein unterschiedlich motiviertes und mehrere geisteswissenschaftliche Disziplinen übergreifendes Forschungsinteresse an dieser Thematik. Zweitens wird der Fiktionalisierung von Übersetzung in den traditionellen Translationswissenschaften ein immer weniger randständiges Forschungsgebiet eingeräumt. Und drittens widmen sich mittlerweile auch in der Literaturwissenschaft, besonders der komparatistischen, ausführliche Studien diesem Gegenstand. Der erste Bereich umfasst allgemeine und übergeordnete theoretische Fragestellungen zum Thema der Übersetzung, welche die entsprechenden literarischen Werke überwiegend als exemplifizierende Reflexionsgegenstände in ihren Untersuchungen verwenden, ohne dass diese den eigentlichen Gegenstand des Forschungsinteresses bilden. Gemeint sind hiermit vor allem übersetzungs- oder sprachphilosophische Studien sowie kulturwissenschaftlich-anthropologische Forschungen. George Steiner etwa greift in seiner umfangreichen Abhandlung Nach Babel zahlreiche literarische Beispiele auf.9 Darunter sind auch einige tatsächliche Übersetzungen von literarischen Werken, die er einer vergleichenden Übersetzungskritik unterzieht. Derartige Überlegungen zur Übersetzungspraxis, also Fragen, wie konkret zu übersetzen sei oder ob und warum eine bestimmte Übersetzung eines literarischen Werkes gelungen ist oder nicht, spielen in der vorliegenden Untersuchung keine größere Rolle. Steiner bezieht sich allerdings auch explizit auf Fiktionalisierungen von Übersetzungen. Prominentestes Beispiel ist Jorge Luis Borges’ Erzählung Pierre Menard, autor del Quijote, die er als literarischen Kommentar zur Problematik des Übersetzens begreift und ausführlich zitiert, um in einem überwiegend deskriptiven Verfahren einen thematischen Anschluss der Übersetzungsproblematik
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„Lasst jedermann von mir hinausgehen! So stand niemand mehr bei ihm, als Josef sich seinen Brüdern zu erkennen gab.“ ebd. S. 61.
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Steiner, George: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens (zweite Ausgabe) [1975, 1992]. Deutsch von Monika Plessner unter Mitwirkung von Henriette Beese. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.
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an Sprachphilosophie und Gnostizismus herzustellen.10 Da die Erzählung von Borges auch Gegenstand dieser Studie ist, ergeben sich Anknüpfungspunkte zu Steiner, welche allerdings auf die theoretische Metaebene beschränkt bleiben, da dieser keine spezifisch literaturwissenschaftlichen Interessen verfolgt. Allgemein spielen diese und andere übergeordnete Fragestellungen der Sprachphilosophie und Übersetzungstheorie an unterschiedlichen Punkten dieser Untersuchung eine wichtige Rolle und werden daher jeweils zur Analyse herangezogen, wenn dies sinnvoll erscheint.11 Ähnliches kann auch über kulturwissenschaftliche Forschungen gesagt werden. Hier haben sich insbesondere die Postcolonial Studies hervorgetan, die Übersetzung und Literatur als genuine Felder einer anti- oder postkolonialen Praxis verstehen, an der sich theoretische Paradigmen postkolonialen Umgangs mit Texten veranschaulichen lassen. In diesem Sinne beziehen sich die meisten Autoren immer wieder exemplarisch auf unterschiedliche Darstellungen der Übersetzung, die allerdings zum Teil in hohem Maß metaphorisch interpretiert werden, indem Übersetzung etwa als Überbegriff für soziale Prozesse von Migration oder kultureller Assimilation, Ablehnung oder Aneignung in Anspruch genommen wird. 12 Da derartige Prozesse in einigen der hier untersuchten Werke ebenfalls thematisiert sind, werden teilweise explizit postkoloniale Lektüreverfahren vorgenommen, die diese theoretischen Paradigmen aufgreifen, aber auch kritisch hinterfragen.13 10 Vgl. dazu ebd. Insbesondere S. 75-82. 11 Hier sind unter anderem verschiedene Schriften von Friedrich Schleiermacher oder Jacques Derrida zu nennen, sowie Walter Benjamins Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers. Vgl. dazu u.a. die beiden einschlägigen Sammelbände: Hirsch, Alfred (Hrsg): Übersetzung und Dekonstruktion. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. Sowie Störig, Hans Joachim (Hrsg): Das Problem des Übersetzens. Stuttgart: H. Goverts 1963. 12 Vgl. dazu u.a. Ashcroft, Bill, Gareth Griffiths u. Helen Tiffin: The empire writes back. Theory and practice in post-colonial literatures. [1989]. 2. Aufl. London, New York: Routledge 2002; Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. [1994]. London, New York: Routledge 2004. Oder auch: Young, Robert James Craig: Postcolonialism. A very short introduction. Oxford [u.a.]: Oxford Univ. Press 2003. Hier insbesondere S. 138-147. 13 Da dem Verfasser keine postkoloniale Lektüre der Josefsgeschichte bekannt ist, soll hier zumindest angedeutet werden, inwiefern man dieses Verfahren auch auf diese Übersetzungsszene anwenden könnte: Josef gerät als Sklave in ein fremdes Land, dessen Sprache er lernen und an dessen Kultur er sich anpassen muss. Trotz seiner zunächst erfolgreichen Assimilation wird er Opfer einer Intrige und landet zu Unrecht für mehrere Jahre im Gefängnis, da ihm als rechtlosem Sklaven kein Gehör geschenkt wird. Aufgrund seiner ihm von Gott verliehenen Fertigkeit des Traumdeutens wird er vom Pharao zu dessen persönlichem Berater gemacht und er beginnt eine erstaunliche Laufbahn, die ihn schließlich neben dem Pharao zum mächtigsten Mann Ägyptens macht. Der als Sklave ausgebeutete
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Den zweiten Bereich umfassen translationswissenschaftliche Arbeiten, die sich in letzter Zeit vermehrt der literarischen Darstellung der Übersetzung gewidmet haben.14 Komplementär zum ‚translational turn‘15 in den Kulturwissenschaften wurde in der Translationswissenschaft daher ein ‚fictional turn‘ proklamiert. 16 Neben verschiedenen kleineren Aufsätzen sind als umfassendste Studien dabei die beiden Monographien von Strümper-Krobb17 und Andres18 sowie der Sammelband von
Josef errichtet ein Getreidemonopol, das während der sieben Dürrejahre dazu führt, dass das komplette Territorium Ägyptens in den Besitz des Pharaos übergeht und die zuvor unabhängigen Landwirte nun Fronarbeit und Steuerabgaben leisten müssen. Die Mimikry Josefs, der sich vom Unterdrückten zum Ausbeuter gewandelt hat, ist so vollkommen, dass ihn am Ende noch nicht einmal seine eigenen Brüder erkennen. 14 Es wird dort eine sich wechselseitig bedingende Konjunktur literarischer Darstellungen von Übersetzung und ihrer wissenschaftlichen Untersuchung beobachtet: „[D]ie immer häufigere Präsenz fiktionaler Sprachvermittler in der zeitgenössischen Literatur als ein Symptom für die steigende kulturelle Bedeutung der Übersetzer […] stellt die Aktualität der Fiktionalisierung von Übersetzung und Übersetzern unter Beweis, deren wissenschaftliche Untersuchung in jüngster Zeit ebenfalls einen Aufschwung genommen hat.“ Strümper-Krobb, Sabine: Zwischen den Welten. Die Sichtbarkeit des Übersetzers in der Literatur. Berlin: Weidler Buchverlag 2009. S.22. Delabastita und Grutman fassen es in der Einleitung ihres Sammelbandes, der zahlreiche ‚Fallstudien‘ beinhaltet, so zusammen: „this volume might be seen as adding further evidence to the case that something like a ‚fictional turn‘ […] is taking place in translation studies […] But there is no denying that there has been a growing number of fictional representations of translation and multilingualism, as well as an upsurge in their study.“ Delabastita, Dirk u. Rainier Grutman: Fictionalising translation and multilingualism. Antwerpen: Hoger Instituut voor Vertalers & Tolken, Hogeschool Antwerpen 2005. S. 28. 15 Bassnett, Susan: The Translation Turn in Cultural Studies. In: Constructing cultures. Essays on literary translation. Hrsg. von Susan Bassnett u. André Lefevere. Clevedon: Multilingual Matters 1998. S. 123-140. 16 Der Begriff des ‚fictional turn‘ geht auf Else Vieira zurück. Vgl.: Vieira, Else: (In)visibilidades na tradução: troca de olhares teóricos e ficcionais. In: Com Textos: Revista do Departamento de Letras ICHS Universidad Federal de Ouro Preto (1995-96) H. 6. S. 50-68. S. 50. Gentzler hat dieses Stichwort aufgegriffen und veranschaulicht es sehr allgemein anhand der namhaftesten Autoren Lateinamerikas (Borges, García Márquez und Vargas Llosa): Gentzler, Edwin: Translation and identity in the Americas. New directions in translation theory. New York: Routledge 2007. Insbesondere S. 108-142. 17 Strümper-Krobb, Sabine: Zwischen den Welten. 18 Andres, Dörte: Dolmetscher als literarische Figuren. Von Identitätsverlust, Dilettantismus und Verrat. München: M. Meidenbauer 2008.
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Delabastita und Grutman19 hervorzuheben. Diese Untersuchungen verfügen für die vorliegende Arbeit nur über ein sehr begrenztes Anknüpfungspotential, da sie sich überwiegend mit Fragen beschäftigen, die die mimetische Repräsentation der Tätigkeit des Übersetzens behandeln. Einerseits wird dabei betont, dass der Übersetzer als Paradigma für das Leben in einer zunehmend globalisierten Welt gelten könne, wodurch die Bedeutung der Übersetzungsarbeit unterstrichen und in ihrer literarischen Darstellung entsprechend gewürdigt werde. 20 Andererseits steht das Selbstoder das Fremdbild des Übersetzers zur Diskussion, dessen adäquate Abbildung im literarischen Werk ‚überprüft‘ wird.21 Daher beschränken sich diese Studien überwiegend auf deskriptive Verfahrensweisen, die für eine literaturwissenschaftliche Forschungsarbeit wenig hilfreich sind. Exemplarisch sei der Kommentar von Andres erwähnt, der zwar ebenfalls die hier skizzierte Bibelstelle der Josefsgeschichte als frühen Beleg für die Darstellung des Übersetzens anführt, ihr aber in Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse keinen Mehrwert zuspricht, da sie vermeintlich nichts über die Tätigkeit des Übersetzens aussage: „Im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit wird auch von Dolmetschern gesprochen, wie die Geschichte Josephs zeigt […] Nicht nur in der Bibel, sondern auch in zahlreichen weiteren Dokumenten wird häufig ausschließlich auf die bloße Existenz von Dolmetschern hingewiesen, ohne dass deren Tätigkeit kommentiert wird.“ 22 Insgesamt ist daher dem Urteil von Gudrun Rath zuzustimmen: „Augenscheinlich ist die Existenz von disziplinären Scheuklappen auch im Fall der Translation Studies. Sie gehen weiterhin von einem
19 Delabastita, Dirk u. Rainier Grutman: Fictionalising translation and multilingualism. 20 „Die Figur des Übersetzers kann in literarischen Texten genutzt werden, um die Erfahrung des Individuums in der heutigen Welt zu repräsentieren.“ Strümper-Krobb, Sabine: Zwischen den Welten. S. 21. 21 Andres kritisiert in ihrer Habilitationsschrift diese oft allzu naive Herangehensweise an literarische Texte: „Bei der Erforschung des Bildes vom Dolmetscher und Dolmetschen wäre es jedoch zu wenig, wenn es bei der bloßen Beschreibung bliebe. Auch eine Bewertung nach positiver oder negativer Darstellung, im letzteren Fall verbunden mit einer aus berufsständischer Sicht möglicherweise berechtigten Kritik am ‚ungerechten‘ Urteil des Autors, würde den literarischen Texten nicht gerecht, die dann als simple Realitätsschilderungen behandelt würden.“ Andres, Dörte: Dolmetscher als literarische Figuren. S. 20. Trotz dieser Kritik arbeitet sich Andres in der Analyse von zwölf literarischen Darstellungen von Dolmetscherfiguren überwiegend an der Imagologie und den stereotypen Bildern des Dolmetschers ab, ohne im Detail auf den ästhetischen Reflexionsgehalt der Werke einzugehen. Der Sammelband von Delabatista und Grutman vereint mehrere Einzelstudien, die zumindest teilweise auf narratologische Verfahren und Funktionen in der Übersetzungsdarstellung Rücksicht nehmen. 22 ebd. S. 41.
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Begriffsverständnis aus, das [...] kaum andere Lesarten zulässt.“ 23 Von diesem Urteil können verschiedene Arbeiten von Translationswissenschaftlern ausgenommen werden, die sich nicht spezifisch der literarischen Darstellung von Übersetzung widmen, sondern über interdisziplinäre Ansätze durchaus einflussreiche Beiträge zur Theorie der Übersetzung geleistet haben, die auch für literaturwissenschaftliche Analysen hilfreich sind.24 Mit Gudrun Raths Dissertationsschrift Zwischenzonen. Theorien und Fiktionen des Übersetzens ist bereits eine der Studien zitiert, die zum dritten Bereich, nämlich dem der literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, gehört. Naturgemäß gibt es mit dieser Gruppe die größten Überschneidungen und Anschlussfähigkeiten. Die in den letzten Jahren erschienenen literaturwissenschaftlichen Monographien 25 verfolgen unterschiedliche Interessen und grenzen so den Forschungsbereich auf bestimmte Art und Weise ein. Raths Zwischenzonen konzentriert sich zum Beispiel auf den Zusammenhang von Übersetzung und geographischen wie symbolischen Raumkonzeptionen, indem sie den dominanten Theoriemodellen des akademischen ‚Zentrums‘ weniger bekannte Modelle aus dem ‚peripheren‘ Lateinamerika entgegensetzt. Dabei wählt sie die argentinische Literatur als Fallbeispiel und zeigt auf, dass Theorien des Übersetzens dort insbesondere mit der Fiktionalisierung der Übersetzung in Verbindung stehen und oft erst aus dieser heraus entwickelt werden. Dieser Ansatz kommt der Hypothese der vorliegenden Arbeit entgegen und ist darüber hinaus anschlussfähig, da Rath zwei Autoren behandelt, die hier in Kapitel 5 zur Poetik des Übersetzens mit zwei Erzählungen vertreten sind: Jorge Luis Borges (Pierre Menard, autor del Quijote) und Julio Cortázar (Diario para un cuento). Allerdings geht Rath auf Cortázars Erzählung überhaupt nicht und auf Borges’ Menard nur sehr knapp ein. Deshalb können sich die beiden Forschungsarbeiten wechselseitig ergänzen. Gleiches gilt auch für Christine Wilhelms Dissertationsschrift Traduttore traditore – Vermittler durch Verrat, die ihren Forschungsgegenstand in der Analyse von Übersetzerfiguren in Werken von Borges, Calvino und Sciascia gefunden hat.26 Wilhelms Arbeit kann hier insofern als wertvolle Vorarbeit aufge23 Rath, Gudrun: Zwischenzonen. Theorien und Fiktionen des Übersetzens. Wien u.a: Turia + Kant 2013. S.12. 24 Gemeint sind insbesondere Arbeiten von Venuti: Venuti, Lawrence: The scandals of translation. Towards an ethics of difference. London; New York: Routledge 1998. Oder: Venuti, Lawrence: The translator's invisibility. A history of translation. 2. Aufl. London; New York: Routledge 2008. 25 Aufsätze oder Beiträge in Sammelbändern werden hier nicht extra aufgeführt, sondern in der Analyse der einzelnen Werke entsprechend eingefügt. 26 Wilhelm, Christine: Traduttore traditore – Vermittler durch Verrat. Eine Analyse literarischer Translatorfiguren in Texten von Jorge Luis Borges, Italo Calvino und Leonardo Sciascia. Trier: Wiss. Verl. Trier 2010. Komplementär zu dieser Arbeit untersucht die
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griffen werden, da sie sich ausführlich Borges’ Translationsreflexionen widmet, zu denen sie auch den Pierre Menard zählt. In der literarischen Analyse spielt dieser allerdings keine Rolle mehr, da Wilhelm sich vor allem für die doppelte Funktion des Übersetzers als Vermittler und Verräter interessiert.27 In Bezug auf Borges sind zwei Monographien zu erwähnen, die sich diesem Autor ausschließlich über die Thematik des Übersetzens nähern: Efraín Kristals Invisible Work. Borges and Translation28 und Sergio Waismans Borges y la traducción.29 Kristal beschränkt sich dabei überwiegend auf Borges’ Essays zur Übersetzung und arbeitet die Parallelen zum Übersetzungskonzept der deutschen Romantiker heraus. Waismans Arbeit ist deshalb interessant, da sie aufzeigt, dass Borges’ theoretische Äußerungen zur Übersetzung nicht von seiner Praxis des Übersetzens und Schreibens zu trennen sind. Diese interpretiert er insbesondere mit Hilfe postkolonialer Konzepte als eine Ästhetik der Pietätlosigkeit gegenüber den ‚Originalen‘ des literarischen Zentrums. Beide Werke gehen allerdings kaum auf die literarische Darstellung der Übersetzung ein und sind deshalb vor allem für den theoretischen Kontext der Borges-Analyse wichtig. Hans Christian Hagedorn hat unter dem Titel La traducción narrada: el recurso narrativo de la traducción ficitica30 bisher nur den ersten Teil seiner 2001 abgeschlossenen Dissertation La traducción narrada publiziert. Darin untersucht er ‚Übersetzerfiktionen‘, also literarische Werke, die analog zur Herausgeberfiktion vorgeben, auf einer fiktiven Übersetzung zu beruhen und so vor allem für die Ana-
Dissertationsarbeit von Eva Matt Dolmetscherfiguren: Matt, Eva: Figuren der Übersetzung. Dolmetscher in Erzähltexten des späten 20. Jahrhunderts. München: Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität 2013. Da Matts komparatistische Analyse sich spezifisch auf Dolmetscherfiguren in Werken bezieht, die nicht Gegenstand dieser Untersuchung sind, ergeben sich in der Textanalyse nur geringe Anknüpfungspunkte. Diese sind allenfalls in bestimmten Teilen der theoretischen Diskussion zu finden, da Matt partiell auf die gleichen Autoren zurückgreift, die auch für diese Studie als Referenzen herangezogen werden. Hier wären vor allem Derrida, Bhabha oder – mit gewissen Einschränkungen – auch Bachtin zu nennen. 27 Zu Borges vgl. insbesondere: Wilhelm, Christine: Traduttore traditore – Vermittler durch Verrat. S. 15-35. 28 Kristal, Efraín: Invisible work. Borges and translation. 1. Aufl. Nashville: Vanderbilt University Press 2002. 29 Waisman, Sergio: Borges y la traducción. La irreverencia de la periferia. Buenos Aires: Adriana Hidalgo editora 2005. 30 Hagedorn, Hans Christian: La traducción narrada. El recurso narrativo de la traducción ficticia. 1. Aufl. Cuenca: Ediciones de la Universidad de Castilla-La Mancha 2006.
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lyse narrativer Verfahren von Bedeutung sind.31 An Hagedorns Ansatz ist vor allem das Bemühen hervorzuheben, die literarische Darstellung der Übersetzung durch unterschiedliche Kategorien zu klassifizieren und entsprechend einen Katalog von literarischen Übersetzungsfiktionen zu erstellen. 32 Beides ist allerdings nur bedingt hilfreich, da die Unterscheidung der Kategorien aus der Sicht dieser Untersuchung nicht relevant ist und die durchaus umfangreiche Liste der literarischen Werke trotz allem unvollständig bleibt. Von den sechs hier untersuchten Werken führt Hagedorn zum Beispiel nur Borges’ Pierre Menard auf. Schließlich sind noch zwei aktuelle Dissertationsprojekte zu nennen, die sich derzeit im Rahmen des Graduiertenkollegs Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung an der LMU München ebenfalls mit der literarischen Fiktionalisierung von Übersetzung und Mehrsprachigkeit auseinandersetzen. Elisabeth Güde untersucht in ihrem Projekt Plurilinguale Konstellationen in literarischen Texten türkisch-sephardischer Provenienz und reflektiert in diesem Kontext verschiedene metasprachliche Theorien und literarische Strategien der Darstellung von Mehrsprachigkeit, zu denen auch die Übersetzung gehört. Myriam-Naomi Walburg beschäftigt sich mit Zeitkonstellationen in transnationaler Gegenwartsliteratur und erörtert dabei unter anderem wie narratologische Verfahren der Konstruktion von Zeit mit Fragen von Mehrsprachigkeit, Übersetzung und ‚Identität‘ zusammenhängen. Es ist anhand dieses kurzen Überblicks zu erkennen, dass die literarische Darstellung der Übersetzung mittlerweile auch in den Literaturwissenschaften mit äußerst unterschiedlichen Ansätzen intensiv erforscht wird. Man kann daher durchaus von einer gewissen Heterogenität des literaturwissenschaftlichen Interesses an der Übersetzung sprechen. Die vorliegende Arbeit ordnet sich in diesen Forschungszusammenhang ein und macht sich insbesondere die Studien zunutze, die entweder eines der hier in verschiedenen Lektüren analysierten Werke bereits untersucht haben, oder aber in Bezug auf die literaturtheoretische Ebene, die hier im Mittelpunkt steht, bereits Vorarbeiten geleistet haben. Zu letzterem Punkt werden auch die sprachphilosophischen und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Problematik der Übersetzung herangezogen, die oben skizziert wurden. Außerdem verspricht der komparatistische Ansatz dieses Projektes, der sechs Werke aus unter31 Brigitte Rath nennt diese ‚Pseudoübersetzungen‘: Rath, Brigitte: Unübersetzbares, schon übersetzt. Sprachliche Relativität und Pseudoübersetzungen. In: Les intraduisibles / Unübersetzbarkeiten. Sprachen, Literaturen, Medien, Kulturen / Langues, littératures, médias, cultures. Hrsg. von Jörg Dünne, Martin Jörg Schäfer u. a. Paris: Éd. des Archives contemporaines 2013. S. 15-25. 32 Er unterscheidet vier Kategorien: Die Übersetzungsfiktion (die er im publizierten Band untersucht), Übersetzung als Thema eines Werks, Übersetzerfiguren und Übersetzung als Motiv mit symbolischem Wert. Vgl. dazu: Hagedorn, Hans Christian: La traducción narrada. S. 13.
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schiedlichen Epochen und Sprachen zusammenstellt, neue Erkenntnisse und Zusammenhänge zu erschließen, die das Forschungsfeld nicht nur komplementär ergänzen, sondern auch für weitere Anschlussstudien erweitern. Das Ziel der Studie besteht wohlgemerkt nicht darin, eine Geschichte der literarischen Darstellung von Übersetzung nachzuzeichnen. Vielmehr geht es darum, anhand bestimmter Werke aus unterschiedlichen literaturhistorischen und kulturellen Kontexten eine allgemeine und übergreifende Hypothese zu überprüfen, die besagt, dass der Fiktionalisierung der Übersetzung immer ein mehr oder weniger starkes metaliterarisches Moment innewohnt, welches eine Reflexion der Literatur und ihrer Theorie im literarischen Werk selbst ermöglicht. Wie teilweise bereits angedeutet, ist die literarische Darstellung von Übersetzung thematisch und ästhetisch eng mit der Darstellung von Mehr- oder Anderssprachigkeit verbunden. Dieser Tatsache wird dadurch Rechnung getragen, dass – wenn es die Analyse erfordert – auf eine von Robert Stockhammer vorgeschlagene Terminologie zurückgegriffen wird.33 Da diese sich das griechische Fremdwort γλωττα zunutze macht, um verschiedene Verfahren von Mehrsprachigkeit beschreiben zu können, wird sie hier unter dem Begriff ‚Glotta-Literatur‘ zusammengefasst. In Kapitel 3.1. werden der Aufbau und die Methode der Arbeit dargelegt und in Kapitel 3.2 der Begriff der Übersetzung bestimmt. Um die Ziele und zentralen Fragestellungen des Projektes näher zu erläutern, erfolgt in Kapitel 2 eine thematische Einführung. Sie nimmt exemplarische Kurzanalysen literaturhistorischer Übersetzungsdarstellung als Ausgangspunkt, um die hier anhand des Bibelzitats knapp skizzierten drei Dimension des Übersetzens (Hermeneutik, Poetik und Ethik) so zu veranschaulichen, dass daraus die wesentlichen Hypothesen für die in den Kapiteln 4-6 durchgeführten Analysen abgeleitet werden können.
2. D IE T RADITION LITERARISCHER Ü BERSETZUNGSDARSTELLUNG Die literarische Darstellung der Übersetzung ist trotz der – wie es scheint unvermeidlichen – Ausrufung eines ‚Translation Turn‘ in der Kulturwissenschaft des 20. Jahrhunderts34 kein ausschließliches Phänomen moderner Literatur. Obwohl auch in 33 Vgl. dazu die Erläuterungen in Kapitel 3.3 und insbesondere: Stockhammer, Robert: Wie deutsch ist es? Glottamimetische, -diegetische, -pithanone, und -aporetische Verfahren in der Literatur. In: Arcadia - International Journal for Literature Studies. Band 50, Heft 1. Juni 2015. S. 146-172. 34 Zum ‚Translation Turn‘ vgl. Bassnett, Susan: The Translation Turn in Cultural Studies. Zur Kritik dieses Konzeptes, der hier weitgehend zugestimmt wird, vgl. Rath, Gudrun: Zwischenzonen. S. 21-27. Die Tendenz, die literarische Darstellung von Übersetzung vor
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dieser Studie das Augenmerk der Analyse auf Werken liegt, die aus den letzten drei Jahrhunderten stammen, wird der literaturhistorische Bogen im Rahmen der folgenden thematischen Einführung in die Problematik weiter gespannt. Mit dem Verweis auf einschlägige Werke von Heliodor, Cervantes und Goethe reicht die Linie der Tradition literarischer Übersetzungsdarstellungen von der Spätantike über die frühe Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, wo der eigentliche Untersuchungszeitraum dieser Studie beginnt. Dieser literaturhistorische Rückblick dient zwei wesentlichen Zielen. Einerseits wird der Untersuchungsgegenstand in verschiedenen Epochen und Kulturen verortet und somit aufgezeigt, dass er kein ausschließliches Phänomen der modernen Literatur ist. Andererseits erlaubt die knappe Nachzeichnung der Problematik in den einzelnen Texten aus dem Repertoire literarischer Referenzwerke, die hier bewusst nicht mit dem Begriff der ‚Weltliteratur‘ 35 bezeichnet allem in der Literatur der letzten 50-70 Jahre zu verorten, mag dem Bemühen geschuldet sein, die wissenschaftliche Relevanz der Studien für die gegenwärtige Forschung hervorzuheben. Sicherlich hat sich mit der zunehmenden Vernetzung und Beschleunigung der globalen Kommunikation auch die Aufmerksamkeit für das Thema des Übersetzens in verschiedenen künstlerischen Medien, darunter der Literatur, verstärkt. Daraus aber zu schließen, dass das Thema früher kaum eine Relevanz gehabt hätte, ist nicht schlüssig. Damit sei exemplarisch der folgenden Erläuterung von Andres widersprochen: „Die behandelten Texte stammen ausschließlich aus der zweiten Hälfte des 20. sowie aus dem 21. Jahrhundert. Diese Tatsache soll näher erläutert werden. Ein Blick auf Werke aus früheren Zeiten zeigt, dass Dolmetscher vor allem in historischen Abhandlungen und Reiseberichten Erwähnung finden, hingegen weniger in Romanen.“ Andres, Dörte: Dolmetscher als literarische Figuren. S. 17. Eva Matt formuliert es daher vorsichtiger: „Ist die Fiktionalisierung von Übersetzung also keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, so kommt sie in diesem doch besonders häufig vor.“ Matt, Eva: Figuren der Übersetzung. S. 14. 35 Emily Apter hat mit ihrer programmatischen Schrift darauf hingewiesen, dass der Begriff der World Literature gerade im Hinblick auf die Frage der Übersetzung problematisch ist, da er als geisteswissenschaftliches Paradigma einen imperialen und ‚westlichen‘ Universalismus der Lesbarkeit und Übersetzbarkeit voraussetzt, der zu wenig hinterfragt wird. Deswegen setzt sie diesem Paradigma eine Politik der Unübersetzbarkeit entgegen: Apter, Emily: Against world literature. On the politics of untranslatability. London: Verso 2013. Trotz dieser Problematik, die Teil der Analyse ist, ist nicht zu leugnen, dass bestimmte Werke literaturhistorische Bedeutung und die nachfolgende Literatur stark beeinflusst haben. Cervantes’ Don Quijote und Goethes Faust gehören zu diesen Werken, die unstrittig zu jener üblichen Kategorie der ‚Weltliteratur‘ gehören. Heliodors Aithiopika dagegen sind wohl auch auf vielen ‚erweiterten‘ Listen dieser kanonischen Literatur nicht zu finden. Zwei Argumente sprechen dennoch dafür, sie dort aufzunehmen: Erstens gilt das Werk als exemplarisches Muster der Gattung des antiken und Vorläufer des neuzeitlichen Romans und zweitens vermisst Heliodor ganz wörtlich die Grenzen der damals
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werden, die drei wesentlichen Aspekte zu skizzieren, die den Aufbau der Arbeit strukturieren: die Hermeneutik, die Poetik und die Ethik des Übersetzens. Diese Einleitung geht von der folgenden Arbeitshypothese aus: Wenn in literaturhistorisch bedeutenden Werken die literarische Darstellung der Übersetzung jeweils eine so prominente Rolle spielt, wie sie hier aufgezeigt wird, dann muss angenommen werden, dass die Problematik der Übersetzung als ein metareflexiver Knotenpunkt literarischer Produktion und Rezeption schlechthin gelten kann. Sie erlaubt es daher, literaturtheoretische und poetologische Konzepte im literaturwissenschaftlichen Gegenstand selbst kritisch zu reflektieren. Die exemplarischen Kurzanalysen von Goethes Faust, Cervantes’ Don Quijote und Heliodors Aithiopika öffnen das Problemfeld, das die anschließenden Untersuchungen von sechs literarischen Übersetzungsfiktionen vertiefend erschließen. Dabei werden bewusst keine erschöpfenden Interpretationen angeboten, die bereits befriedigende Antworten liefern könnten, sondern es werden vor allem die für diese Studie relevanten Fragestellungen aus den literarischen Texten heraus entwickelt, die wiederum den theoretischen und thematischen Rahmen abgestecken. Da davon ausgegangen wird, dass immer dann, wenn Übersetzung literarisch dargestellt wird, hermeneutische, poetologische und ethische Aspekte von Anderssprachigkeit zu Tage treten, wird jedes der drei Werke einem dieser Aspekte zugeordnet. Dies soll jedoch nicht heißen, dass die jeweils anderen Dimensionen keine Rolle spielen. Im Gegenteil: Es wird hier die Behauptung aufgestellt, dass alle drei Aspekte in der Regel immer gleichzeitig auftreten, wenn Übersetzung fiktionalisiert wird. Allerdings wird in der jeweiligen Lektüre zur Veranschaulichung jeweils eine Dimension als ‚dominierend‘ vorausgesetzt, ohne dass dadurch die anderen ihre Bedeutung verlieren würden. So wird Goethes Faust heuristisch und exemplarisch der Hermeneutik des Übersetzens, Cervantes’ Don Quijote der Poetik des Übersetzens und Heliodors Aithiopika der Ethik des Übersetzens zugeordnet.
bekannten Welt literarisch neu, indem er das als ‚Ende der Welt‘, als das Äthiopien damals galt, in das Zentrum seines Schreibens rückt. Gerade aber weil sich diese drei Werke an den Fragen der Un/Übersetzbarkeit literarisch abarbeiten, lassen sich an ihnen jene Probleme reflektieren, die Apter aufzeigen will.
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2.1 Die Hermeneutik des Übersetzens:Goethes Faust Έν άρχή ήν ό λόγος. Im Anfang war das Fremd-Wort. Im Anfang war die Übersetzung. Im Anfang dieser Untersuchung steht die wohl berühmteste Übersetzungsdarstellung der deutschsprachigen Literatur: In der Studierzimmer-Szene von Goethes Faust I nimmt der verzweifelte Gelehrte Faust das Neue Testament zur Hand, um den Beginn des Johannes-Evangeliums neu zu übersetzen: Wir sehnen uns nach Offenbarung, Die nirgends würd’ger und schöner brennt Als in dem Neuen Testament Mich drängt’s, den Grundtext aufzuschlagen Mit redlichem Gefühl einmal Das heilige Original In mein geliebtes Deutsch zu übertragen.36
Faust durchläuft eine tiefe Sinnkrise. Als universell Gelehrter hat er zwar alle gängigen wissenschaftlichen Disziplinen „durchaus studiert“ 37, doch weiß er noch immer nicht, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. 38 Die erschütternde Erkenntnis, „daß wir nichts wissen können“39, treibt ihn fast in den Selbstmord, vor dem ihn nur der Glockenklang des Osterfestes bewahrt. Die Verzweiflung des Gelehrten beruht auf einer epistemologischen Krise und ist insofern Ausdruck jener skeptizistischen Wissenschaft, die sich im Zuge der Aufklärung entwickelt hat und in der Beschränkung der (reinen) Vernunft und Kants Frage ‚Was kann ich wissen?‘ mündet.40 Doch Faust, als Wissenschaftler alten Schlages, kann und will sich mit einer vernünftigen Limitierung der Erkenntnisfähigkeit nicht abfinden. Ihm geht es darum, die ‚ganze Wahrheit‘ der Welt zu entdecken und die Ahnung, dass ihm dies verwehrt bleiben könnte, löst seine Krise aus, die ihn schließlich dazu führt, die Bi36 Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie erste und zweiter Teil [1808, 1832]. Herausgegeben und kommentiert von Erich Trunz. 16. Aufl. München: C.H. Beck 1996, cop. 1986. S. 43-44. 37 ebd. S. 20. Das sind in seinem Fall: Philosophie, Jura, Medizin und Theologie. 38 ebd. S. 20. 39 ebd. S. 20. 40 Vgl. dazu: Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urteilskraft. [1787]. Ungekürzte Neuausgabe der Historisch Kritischen GA. Bearbeitet und ediert von J. R. Pegot. Wiesbaden: Marix-Verl. 2004. S. 468.
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bel aufzuschlagen. Er sucht dort allerdings keinen religiösen Trost, sondern Offenbarung. Er erwartet von der Lektüre des Grundtextes Antworten auf seine philosophischen Fragen. Zwar kennt er diesen Grundlagentext aus seinem Studium – er hat „leider auch Theologie“41 studiert –, doch hegt er den Verdacht, dass die Übersetzung fehlerhaft sein könnte und sich ihm deswegen die Wahrheit noch nicht erschlossen habe.42 Deshalb will er das heilige Original einer kritischen NeuÜbersetzung unterziehen. Und schon im ersten Satz entdeckt er einen entscheidenden ‚Fehler‘ in der geläufigen deutschen Übersetzung: Geschrieben steht: ‚Im Anfang war das W o r t !‘ Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir fort? Ich kann das W o r t so hoch unmöglich schätzen, Ich muß es anders übersetzen43
Faust glaubt, das Problem der Erkenntnislosigkeit seiner Studien in einer fehlerhaften Übersetzung des griechischen Wortes λόγος (logos) gefunden zu haben. 44 Ausgerechnet im Anfang aller Anfänge45 steckt bereits ein Problem, das alles Verstehen 41 Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. S. 20. 42 Zugespitzt legt dieser Verdacht auch nahe, eine falsche oder fehlerhafte Übersetzung hätte beinahe seinen Selbstmord herbeigeführt. 43 ebd. S. 44. 44 Die Szene ist insofern nicht ganz in sich schlüssig, da Faust, der eigentlich das ‚heilige Original‘ (also das griechisch verfasste Johannes-Evangelium) aufschlägt, dann aber sofort die deutsche Übersetzung (nach Luther vermutlich) vorträgt. Um die Übersetzungsszene glaubwürdiger zu gestalten, hätte man sich eine Markierung der fremden Sprache vorstellen können, die da so hätte lauten können: Ich kann das λόγος so hoch unmöglich schätzen, // Ich muss es anders übersetzen. Doch ‚logos‘ als ‚Original‘-Wort taucht im Faust nicht auf. 45 Es handelt sich wohlgemerkt um den Anfang des Johannes-Evangeliums im Neuen Testament, also nicht um den Schöpfungsbericht des Alten Testaments selbst. Insofern ist es die Nacherzählung des Anfangs, welcher diesen damit verdoppelt. Doch auch in der Genesis ist dieser Anfang bereits dupliziert, denn die Schöpfung wird dort zweimal erzählt und widerspricht sich in einigen Passagen selbst. Das Johannes-Evangelium bezieht sich eher auf die erste Variante (1Moses 1-2,4), da Gott die Erde durch sein ‚Sprechen‘ schuf, während in der zweiten und späteren Variante (1Moses 2,5-2,25) die Betonung eher auf der Materialität der Schöpfung liegt. Für diesen Zusammenhang ist allerdings entscheidend, dass das ‚Original‘ durch diese mehrfache Verdoppelung der Erzählung des Anfangs seinen Status als Original bereits zu verlieren droht, dass also dort, wo vermeintlich das ‚heilige Original‘ gesucht wird, eine strukturelle Mehrdeutigkeit vorliegt, die einer interpretierenden Erläuterung bedarf.
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und alle Erkenntnis entscheidend beeinträchtigen kann. Die Frage, wie λόγος zu übersetzen ist, steht für Faust am Anfang aller Erkenntnis, weshalb er bemüht ist, keinen weiteren Übersetzungsfehler zu begehen. Dies führt zu einer Aneinanderreihung von insgesamt drei Neu-Übersetzungen der ersten Übersetzungsvariante ‚Wort‘: Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: Im Anfang war der S i n n. Bedenke wohl die erste Zeile, Daß deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: Im Anfang war die K r a f t ! Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, daß ich nicht bleibe. Mir hilft der Geist! Auf einmal seh’ ich Rat Und schreibe getrost: Im Anfang war die T a t !46
In dieser Szene zeigt sich in mehrfacher Hinsicht die Hermeneutik des Übersetzens. Sie steht in erster Linie mit einem erkenntnistheoretischen Problem in Zusammenhang. Faust geht zunächst davon aus, dass die Übersetzung der Erkenntnis hinderlich ist, da sie nicht korrekt erfolgt ist. Aber in einem zweiten Schritt ist es gerade die Übersetzung, die einen (neuen) Zugang zum Wissen verschafft, das in der fremden Sprache verborgen ist. Übersetzung ist daher beides: Problem und Lösung. Wer aber verstehen will, der muss übersetzen. Faust, als Prototyp des Gelehrten und des universellen Wissenschaftlers, hat zwar alles gelesen, aber doch nichts verstanden: „Da steh’ ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor!“ 47 Es geht daher um das richtige Lesen, was bedeutet, dass man einen Text richtig deuten, ihn richtig auslegen muss, um ihn verstehen zu können. Und das heißt eben auch, wie Faust hier vorführt, dass man einen Text ‚richtig‘ übersetzen und deshalb die Bedeutungen verschiedener Übersetzungsvarianten gegeneinander abwägen muss. Faust führt dies vor, indem er eine Wort-Kette erstellt, die sowohl für die Bewegung des hermeneutischen Textverstehens, als auch für diejenige der Übersetzung als Leitfaden dienen kann: Wort-Sinn-Kraft-Tat. Man geht zunächst von einem Text, also von den Worten aus, deren Sinn man ergründen muss. Erst dann gilt es die eigene Vorstellungs- oder Schaffens-Kraft zu aktivieren, um schließlich zur Tat zu schreiten und in der Interpretation oder der Übersetzung die Worte in einen neuen Text zu überführen. In diesem Prozess ist bereits alles enthalten, was die Hermeneutik des Übersetzens ausmacht. 46 ebd. S. 44. 47 ebd. S. 20.
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Goethes anschauliche Übersetzungsdarstellung im Faust verortet die Übersetzungsproblematik aber auch in einem spezifischen historischen Kontext, in dem alte Gewissheiten in Frage gestellt und neue Formen der Erkenntnis und des Wissens von der Welt entstehen. Und es ist paradigmatisch, dass er dies anhand der NeuÜbersetzung der Bibel vorführt, da die Bibelauslegung und -übersetzung eines der ältesten systematischen Verfahren des Text-Verstehens darstellt. Im Zuge der Aufklärung werden diese Verfahren zunehmend in eine sich säkularisierende Wissenschaft übernommen und legen so die Grundsteine für das, was bis heute als moderne (Geistes-)Wissenschaft gilt, welche die Grundlagen für neue wissenschaftliche Methoden und Disziplinen entwickelt hat, darunter vor allem die moderne Hermeneutik und das, was heute Translationswissenschaft genannt wird. Fausts Bibelübersetzung muss in diesem historischen Kontext gelesen werden. Diese literarische Übersetzungsfiktion markiert daher neben der grundsätzlichen strukturellen Schwierigkeit des Textverstehens insbesondere den historischen Übergang zu einer modernen Wissenschaftlichkeit desselben. Erst im Kontext der Aufklärung und der Säkularisierung kann der Gelehrte Faust es wagen, die Bibel, das heilige Original, nach Gutdünken neu zu übersetzen. Das Übersetzer-Genie Faust schert sich nicht um theologische Tradition und Dogmatik. Er glaubt, mit dem Geist direkt in Verbindung zu stehen, der ihm die richtige Übersetzung und Deutung des Originals gewissermaßen einflüstert. Dass er damit gleichzeitig Gott herausfordert und buchstäblich den Teufel heraufbeschwört, ist die Pointe dieser Szene der fiktionalisierten Bibelübersetzung. Denn erst in dem Moment, da Faust die ‚richtige‘ Übersetzungsvariante gefunden hat, schreitet auch Mephistopheles zur Tat und verwandelt sich vor Fausts Augen vom Pudel, der sich während der ganzen Szene mit ihm im Studierzimmer befand, in den Teufel. Die entsakralisierte Translation der Zeichen ermöglicht die Transformation des Teufels. Dass beides in einem engen Zusammenhang steht, bestätigt Mephistopheles selbst im ersten Wortwechsel mit Faust: FAUST. Das also war des Pudels Kern! Ein fahrender Skolast? Der Casus macht mich lachen. MEPHISTOPHELES. Ich salutiere den gelehrten Herrn! Ihr habt mich weidlich schwitzen machen. FAUST. Wie nennst du dich? MEPHISTOPHELES. Die Frage scheint mir klein Für einen, der das Wort so sehr verachtet48
Erst durch die mit der Übersetzung hervorgerufene Verwandlung des Teufels und den dadurch möglich gewordenen Pakt mit Mephistopheles erhält Faust die Gele48 ebd. S. 46-47.
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genheit, das zu tun, was er in der Übersetzung performativ vorweggenommen hat: zur (verwerflichen) Tat zu schreiten. Betrachtet man das Johannes-Evangelium etwas genauer, dann hat die verändernde Übersetzung nämlich unübersehbare Konsequenzen. Dort heißt es: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“49 Fausts Übersetzungs-Tat vollzieht daher nichts anderes, als die Einheit von Gott und Wort aufzulösen. Parallel dazu ist allerdings auch die Einheit von Wahrheit und Sprache dann nicht mehr gegeben. Faust löst in der Übersetzung das Zeichen von seinem metaphysischen Wahrheitsgaranten ab, was aber erst dadurch möglich wird, dass Sprache – als willkürliches und eben nicht mehr transzendentales Instrument – Wahrheit selbst konstruiert und nicht mehr einfach nur repräsentiert. Die Säkularisierung (der Sprache) ist gleichzeitig Konsequenz und Voraussetzung der Möglichkeit, das heilige Original anders zu übersetzen. Das erlaubt zwar einerseits in und durch Übersetzungen, Texte neu zu interpretieren und ihnen ein anderes Wissen zu entnehmen, andererseits wird Erkenntnis aber gerade dann problematisch, wenn deren Instrument – die Sprache – mehrdeutig und mehrsprachig wird, wenn ein Wort immer auch anders verstanden und übersetzt werden kann. Übersetzung wird dann zum Problem, wenn mit einem Zeichen nicht unmittelbar eine feststehende und universelle Bedeutung verbunden ist. Denn dann kann man nicht mehr ohne weiteres ein Zeichen einer Sprache durch das einer anderen ersetzen. Gleichzeitig verspricht Übersetzung damit allerdings einen neuen Zugang zu fremdem Wissen, der bis dahin nicht denkbar war. Goethe knüpft hier an sprachphilosophische und erkenntnistheoretische Überlegungen seiner Zeit an. 50 Insbesondere werden die Grundlagen für das wissenschaftliche Verstehen von Texten gelegt, und es rückt die Abhängigkeit der Erkenntnis von der Sprache im Allgemeinen und der Sprachenvielfalt im Besonderen immer mehr in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Die beiden gegensätzlichen Pole, die prinzipiell unmöglich gewordene Erkenntnis und das Versprechen neuer Erkenntnisse durch den Zugang zu anderen Sprachen, konzentriert Goethe in der Übersetzungsszene des Faust. Damit liegt er ganz im Trend der sich um 1800 erstmals formierenden modernen Übersetzungstheorie 51,
49 Elberfelder Bibel. S. 1303. 50 Vgl. dazu die Einleitung zu Kapitel 4. 51 Diese wird im Zuge der ‚romantischen‘ Übersetzungstheorie in Kapitel 4 ausführlich diskutiert. Wichtige Referenztexte sind: Humboldt, Wilhelm von: Thesen zur Grundlegung einer Allgemeinen Sprachwissenschaft. In: Schriften zur Sprache. [zwischen 1806 und 1835]. Herausgegeben von Michael Böhler. Stuttgart: Philipp Reclam 1973. S. 12-20; Humboldt, Wilhelm von: Einleitung zu "Agamemnon". [1816]. In: Das Problem des Übersetzens. Hrsg. von Hans Joachim Störig. Stuttgart: H. Goverts 1963. S. 71–96. Und vor allem: Schleiermacher, Friedrich: Ueber die verschiedenen Methoden des Ueberset-
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die zwar die neu entstandenen Schwierigkeiten des Übersetzens immer wieder hervorhebt, ihre Möglichkeiten aber um so höher schätzt, was man nicht zuletzt an einer überdurchschnittlichen Übersetzungsproduktivität erkennt. Faust führt in seiner exemplarischen Suche der unterschiedlichen Übersetzungsvarianten ein neues wissenschaftliches Paradigma vor: Ebenso könne man das Übersetzen systematisch und wissenschaftlich als Methode des Textverstehens etablieren und letztendlich einen höheren Erkenntniswert erzielen. Diese neue wissenschaftliche Methode und Theorie des Verstehens ist keine andere als die der modernen Hermeneutik. 52 Goethes literarische Darstellung der Übersetzung hat bereits die wesentlichen Merkmale einer Hermeneutik des Übersetzens vor Augen geführt, die die Ausgangsthese der Untersuchung bilden. Sie geht ganz allgemein von der grundsätzlichen Analogie zwischen Hermeneutik und Übersetzung aus. Diese Analogie, wenn man sie im Sinne der Etymologie von Hermeneutik interpretieren, auslegen, übersetzen oder verstehen will – all diese Verben liegen im semantischen Feld des griechischen hermeneuein –, würde dann durch die Verknüpfung mit dem Genitivartikel ‚der‘ auf eine Tautologie der Überschrift dieses Unterkapitels hinauslaufen: Hermeneutik der Hermeneutik, Verständnis des Verstehens oder eben Übersetzung des Übersetzens. Diese tautologische Struktur, diese Verdoppelung oder Spiegelung verweist auf mehrere Aspekte dieser Untersuchung. Erstens unterstreicht sie die erwähnte Analogie zwischen Hermeneutik und Übersetzen, die gewissermaßen ihren Ausgangspunkt bildet. Diese Analogie ist zu einem etablierten Topos hermeneutischer Theorien53 geworden und wird an dieser Stelle durch ein Zitat von Friedrich Schleiermacher veranschaulicht, da er immer noch eine der wichtigsten Referenzen sowohl der Hermeneutik selbst als auch der hermeneutischen Translationswissenschaft ist.54 zens. [1813]. In: Das Problem des Übersetzens. Hrsg. von Hans Joachim Störig. Stuttgart: H. Goverts 1963. S. 38–70. 52 In der Einleitung zu Kapitel 4 erfolgt eine historische Kontextualisierung, die u.a. die moderne Hermeneutik von den älteren Techniken der Textauslegung unterscheidet. 53 Am deutlichsten hat dies Gadamer formuliert: „Denn jeder Übersetzer ist Interpret. Die Fremdsprachlichkeit bedeutet nur einen gesteigerten Fall von hermeneutischer Schwierigkeit, d.h. von Fremdheit und Überwindung derselben.“ Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960]. 4. Aufl., unveränderter Nachdruck der 3., erw. Aufl. Tübingen: Mohr 1975. S. 365. Oder einige Jahre später: „Tatsächlich ist das Geheimnis des Lesens wie eine große Brücke zwischen den Sprachen. Auf ganz verschiedenen Niveaus scheint es die gleiche hermeneutische Leistung, zu übersetzen oder zu lesen.“ Gadamer, Hans-Georg: Lesen ist wie Übersetzen. [1989]. In: Gesammelte Werke. Tübingen: Mohr 1993. S. 279-285. S. 283. 54 Diese Tendenz hat in den letzten Jahren wieder erhebliche Bedeutung in der Translationswissenschaft zurückgewonnen. Vgl. dazu u.a.: Stolze, Radegundis: Hermeneutik und
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Schleiermacher, der hier wohlgemerkt eine vorläufige Definition der wissenschaftlichen Textinterpretation liefert, beschreibt die Hermeneutik als „Kunst, die Rede eines andern einem dritten richtig mitzuteilen“.55 Wenn man nun die Rede eines andern als ‚andere‘, ‚fremde‘ oder gar ‚fremdsprachige Rede‘ begreift, dann steht diese Definition nicht nur für die Hermeneutik, sondern auch für die Übersetzung. Was in diesem Zitat ebenfalls schon deutlich wird, ist ein zweiter Aspekt der Verdoppelung, nämlich die der Rede und damit der Mitteilung. Egal ob nun Übersetzung oder Hermeneutik gemeint ist, man hat es immer mit mindestens zwei Reden oder zwei Texten zu tun. Der dritte Aspekt der Verdopplung betrifft den konkreten Untersuchungsgegenstand: die literarische Darstellung der Translation.56 Wenn Übersetzung in einem literarischen Text dargestellt wird, dann wird dort auch immer der Umgang mit dem Verständnis von (fremdsprachigen) Texten reflektiert: der hermeneutische Akt selbst wird gespiegelt. In leichter Abänderung der Hermeneutik-Definition Schleiermachers könnte man folglich sagen, dass die literarische Rede untersucht wird, die die Kunst darstellt, die Rede eines andern einem dritten (richtig) mitzuteilen. Das Wort richtig wird deswegen in Klammern gesetzt, da es erstens bereits bei Schleiermacher mehr Fragen aufwirft, als Klarheit in der Definition zu schaffen und zweitens, da es in dieser Untersuchung nicht um translationswissenschaftliche oder übersetzungspraktische Überlegungen geht, also eben in erster Linie nicht darum, wie eine Übersetzung als richtig oder falsch, als gut oder schlecht zu bewerten ist. 57 Untersucht man auf dieser Basis die Problematik des Übersetzens in ihrer literarischen Darstellung, wird man zwangsläufig die grundsätzlichen Paradigmen der Textinterpretation in den Blick nehmen. Aus dieser Perspektive findet man die ProTranslation. Tübingen: G. Narr 2003. Sowie den Sammelband: Cercel, Larisa (Hrsg): Übersetzung und Hermeneutik. Traduction et herméneutique. Bucharest: Zeta Books 2009. 55 Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. [1838]. Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Frank. 9. Aufl. Berlin: Suhrkamp 2011. S. 75. 56 ‚Translation‘ wird hier, in Berufung auf die mittlerweile übliche Verwendung dieses Begriffs in der Translationswissenschaft (Translatologie) als gemeinsamer Terminus von mündlicher und schriftlicher Übersetzung, der also auch das Dolmetschen umfasst, verwendet. Zur genaueren Begriffsklärung und der Verwendung der Terminologie in dieser Untersuchung vgl. Kapitel 3.2. 57 Ebenso wenig zielt das Interesse der Untersuchung auf die ‚Richtigkeit‘ der Darstellung von Übersetzung, also auf eine korrekte oder unkorrekte Mimesis der Übersetzertätigkeit, die in einigen einschlägig translatologischen Studien immer wieder im Mittelpunkt steht. Eines der neusten Beispiele dafür ist: Andres, Dörte: Dolmetscher als literarische Figuren.
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blematik des literaturwissenschaftlichen Textverstehens in ihrem eigentlichen Gegenstand, dem literarischen Text, implizit oder explizit reflektiert. Anders formuliert: Überall dort, wo Übersetzung literarisch dargestellt wird, geht es um die zentralen Fragen (und die Bedingungen der Möglichkeit) des Lesens, des Schreibens, des Erfassens und Verfassens von Texten. Diesen Fragen wird insbesondere in den beiden literarischen Beispielen, die in Kapitel 4 analysiert werden, nachgegangen. Allerdings nimmt die Hermeneutik des Übersetzens gegenüber den beiden anderen Dimensionen insofern eine Sonderstellung ein, da sie gewissermaßen den Ausgangspunkt für die Poetik und die Ethik des Übersetzens bildet. Meist geht es grundsätzlich zunächst um das Verstehen eines fremden Textes, einer fremden Sprache oder Kultur, welches das Versprechen eines Erkenntnisgewinns beinhaltet. Erst in Abgrenzung oder in Ergänzung zu diesem Verstehen treten verstärkt die poetologischen und ethischen Dimensionen des Übersetzens in den Vordergrund. Im Grunde sind alle drei Varianten bereits in Fausts Übersetzung des JohannesEvangeliums enthalten. Indem er das ‚Wort‘ dreimal anders übersetzt (Sinn-KraftTat), verweist er gleichzeitig auf die drei Dimensionen des Übersetzens, die im Folgenden zur Disposition stehen: Im Anfang war der Sinn: Hier steht die Bedeutung des Ausgangstextes im Mittelpunkt, der hermeneutisch ermittelt, der verstanden und in den Zieltext der Übersetzung überführt werden muss. Im Anfang war die Kraft: Hier ist nicht mehr das Verstehen des Ausgangstextes entscheidend, sondern die kreative und schöpferische Umsetzung der Übersetzung als eigene poetische Leistung. Es geht um das Übersetzen als Schreiben selbst, mithin um die poetologische Dimension des Übersetzens. Im Anfang war die Tat: die letzte Variante, mit der Faust glaubt, das treffende Wort gefunden zu haben, verweist auf die aus der Sprechakttheorie bekannte Prämisse, dass sprachliche Äußerungen immer auch Handlungen sein können. 58 Dies betrifft insbesondere die Übersetzung, in der man immer auch für einen anderen oder im Namen eines anderen handelt und somit eine besondere Verantwortung übernimmt, die in der ethischen Dimension des Übersetzens zum Ausdruck kommt. 2.2 Die Poetik des Übersetzens: Cervantes’ Don Quijote Spätestens seit Michel Foucaults Analyse in Les Mots et les Choses gilt Miguel de Cervantes’ Werk Don Quijote de la Mancha allgemein als Vorläufer des modernen Romans, da er sich – so Foucault – an der Schnittstelle zweier epistemologischer
58 Vgl, dazu: Austin, John L.: How to do things with words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955. 2. Aufl. Oxford [u.a.]: Oxford Univ. Press 1962.
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Diskurse, dem der Ähnlichkeit und dem der Repräsentation, befinde. 59 In besonderer Weise zeigt sich dieser Schnittstellencharakter und die Modernität des Romans an den Stellen, an denen die literarische Darstellung der Übersetzung ins Spiel kommt, mithin dort, wo Mehrsprachigkeit und Übersetzung zum Gegenstand des Erzählten werden oder das Erzählte selbst als Übersetztes vorgeführt wird.60 Vor allem Letzteres wurde als herausragendes Merkmal des Romans immer wieder hervorgehoben, da es immerhin eines der wichtigsten literarischen Werke der europäischen frühen Neuzeit in bemerkenswert anschaulicher Form als fiktionale Übersetzung inszeniert.61 Cervantes machte von dieser nicht unbekannten narra59 „Don Quichotte [sic!] ist das erste der modernen Werke, da man darin die grausame Vernunft der Identitäten und Differenzen bis ins Unendliche mit den Zeichen und den Ähnlichkeiten spielen sieht. Die Sprache zerbricht darin ihre alte Verwandtschaft mit den Dingen, um in jene einsame Souveränität einzutreten, aus der sie in ihrem abrupten Sein erst als zur Literatur gewordene wieder erscheinen wird.“ Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [1966]. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. 30. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. S. 81. Damit ist aus sprachphilosophischer Perspektive jener Übergang bezeichnet, der im Faust analog die Säkularisierung der Sprache markiert hat. Wenn es keine Verwandtschaft (Ähnlichkeit) mehr zwischen Sprache und Dingen gibt, können sie diese nur noch abstrakt repräsentieren und werden willkürlich. Die bis dahin angenommene Verwandtschaft hatte Übersetzen unproblematisch erscheinen lassen. Erst durch den Verlust derselben treten die Fragen nach Identität und Differenz der Zeichen auch als zwischensprachliches Problem hervor. Es ist ein „Raum des Wissens entstanden, in dem durch einen wesentlichen Bruch in der abendländischen Welt es sich nicht mehr um die Frage der Ähnlichkeiten, sondern um die der Identitäten und der Unterschiede handelt.“ ebd. S. 82. 60 Diese Modernität des Romans hat Jorge Luis Borges dazu veranlasst, Cervantes’ poetologisches Spiel mit der Übersetzung aufzugreifen, indem er in der Erzählung Pierre Menard, autor del Quijote einen französischen Autoren den Roman neu schreiben (oder eben neu übersetzen) lässt. Vgl. dazu die Analyse dieser Erzählung in Kapitel 5. Der Bezug zu Cervantes wird dabei insbesondere in Kapitel 5.1.1 ausführlich erläutert, weshalb diese Bemerkungen zur Poetik des Übersetzens bei Cervantes bereits zu der späteren Analyse hinführen. 61 Exemplarisch sei hier Gudrun Rath zitiert: „Pseudoübersetzungen, also Herausgeberoder Übersetzerfiktionen, die zur Legitimierung des Textes herangezogen werden, ohne dabei einen ‚originalen‘ Text zur Grundlage zu haben, stellen wohl die älteste Form der Übersetzungsfiktion dar; Miguel de Cervantes’ Don Quijote ist eines ihrer bekanntesten Beispiele.“ Rath, Gudrun: Zwischenzonen. S.12. Cervantes geht allerdings als erster insofern über diese Tradition hinaus, da er sie ironisiert und damit die Fiktionalität des Romans zur Schau stellt. Darin liegt sicherlich seine spezifische Modernität, die von den deutschen Romantikern sehr geschätzt wurde. Es ist für das romantische Übersetzungs-
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tiven Strategie in besonderer Weise Gebrauch, indem der erste Teil des Romans am Ende des achten Kapitels unterbrochen und durch die Übersetzungsfiktion eines gefundenen Manuskriptes fortgesetzt wird. Cervantes übertrifft und unterläuft mit dieser Unterbrechung die gewöhnlichen Authentifizierungstechniken von Herausgeber- oder Übersetzerfiktionen. Das ironische Spiel mit den Erzählinstanzen wird durch eine widersprüchliche und wenig kohärente Verdoppelung des ‚Autors‘ eingeführt: Pero está el daño de todo esto que en este punto y término deja pendiente el autor de esta historia esta batalla, disculpándose que no halló más escrito de estas hazañas de don Quijote, de las que deja referidas. Bien es verdad que el segundo autor de esta obra no quiso creer que tan curiosa historia estuviese entregada a los leyes del olvido (Kursivierung R.B.). 62
Im folgenden neunten Kapitel wird erzählt, wie der zweite Autor in Toledo zufällig auf ein ‚unlesbares‘ und deswegen auf seinen materiellen Papierwert reduziertes Manuskript stößt. Dieses ‚Altpapier‘, das er dem Händler zu einem Spottpreis abkauft, enthält nichts anderes als die Fortsetzung der Geschichte des Don Quijote. Das Manuskript ist freilich nur deshalb ‚unlesbar‘, weil es – was aus politischer und gesellschaftlicher Sicht63 äußerst brisant ist – in arabischen Schriftzeichen abgefasst verständnis, das in Kapitel 4 ausführlich analysiert wird, sicherlich von großer Bedeutung, dass Ludwig Tieck den Don Quijote zwischen 1799-1801 ins Deutsche übertragen hat. Zum Begriff der Pseudo-Übersetzung vgl. vor allem Rath, Brigitte: Unübersetzbares, schon übersetzt. Sprachliche Relativität und Pseudoübersetzungen. Sowie Hagedorn, der sie allerdings als ‚traducción ficiticia‘, also als ‚Übersetzungsfiktion‘ bezeichnet: Hagedorn, Hans Christian: La traducción narrada. Hier S. 13-19. 62 Cervantes Saavedra, Miguel de: Don Quijote de la Mancha. [1605/1615]. Madrid: Punto de Lectura 2007. S. 83. „Ein Jammer, dass der Verfasser der Geschichte den Ausgang des Kampfes ausgerechnet an dieser Stelle in den Sternen stehen lässt, mit der Entschuldigung, er habe über Don Quijotes Heldentaten nur das Berichtete niedergeschrieben gefunden. Allerdings wollte der zweite Autor dieses Werkes nicht glauben, dass eine so erstaunliche Geschichte dem Regiment des Vergessens anheimgefallen wäre.“ Die deutsche Übersetzung des Don Quijote von Susanne Lange wird hier und in allen weiteren Fußnoten nach folgender Ausgabe hinzugefügt, ohne die Quelle später zu wiederholen: Cervantes Saavedra, Miguel de: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha. Neu übersetzt von Susanne Lange. [1605/1615]. München: Hanser 2008. 63 In der Zeit nach der Reconquista zwang die strenge Inquisition die noch auf der spanischen Halbinsel verbliebenen Bewohner arabischer oder jüdischer Herkunft, ihre Religion und Identität abzulegen, zu verleugnen und zu verbergen. Deshalb waren prinzipiell alle arabischen und jüdischen Schriften verdächtig. Vgl. dazu Koppenfels, Martin von: Cervantes y los renegados. Narración y tráfico fronterizo en la Historia del cautivo (Don
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ist, die dem Erzähler zwar bekannt, aber nicht verständlich sind: „[A]unque los conocía no los sabía leer“.64 Es muss daher zunächst von einem Übersetzer ins Spanische übertragen werden. Ein zufällig anwesender Moriske erweist dem Erzähler diesen Dienst.65 Schon bei der Übersetzung des Titels, die noch vor Ort mündlich erfolgt, stellt sich heraus, dass die Geschichte einen dritten Autor hat: „Con esta imaginación, le di priesa que leyese el principio, y haciéndolo así, volviendo de improviso el arábigo en castellano, dijo que decía: Historia de don Quijote de la mancha, escrita por Cide Hamete Benengeli, historiador arábigo.“66 Der dritte, aber in der vermeintlich ursprünglichen Reihenfolge erste Autor ist also ein arabischer Historiker. Obwohl der erste Autor, der offensichtlich für die Kapitel 1-8 zuständig ist, selbst schnell dem Vergessen anheim fällt, sind nun neben dem zweiten Autor immerhin noch zwei weitere Erzählinstanzen bzw. Urheber des Textes relevant geworden, die im Fortschreiten des Romans immer wieder selbst zum Thema werden und dazu dienen, das Erzählte ironisch in Frage zu stellen: Cide Hamete Benengeli, der Autor des arabischen Manuskripts, und der bezeichnenderweise namenlose Übersetzer, ein spanisch sprechender Moriske, ein morisco aljamiado, wie er bei Cervantes heißt. Durch die mehrfach gebrochene Autor- und Erzählinstanz wird das Erzählte aber gerade nicht authentifiziert, sondern im Gegenteil gerade als fiktionales KonstQuijote I, capítulos 39-41). In: Iberoromania (2007) H. 66. S. 45–60. Und: Koppenfels, Martin von: Durch die Schrift gehen: Die Übersetzerszenen im Don Quijote von 1605. In: Schriftkultur und Schwellenkunde. Hrsg. von Achim Geisenhanslüke. Bielefeld: transcript 2008. S. 245–262. Besondere symbolische Bedeutung kommt dabei der Stadt Toledo zu, die mit der sogenannten ‚Übersetzerschule von Toledo‘ nicht nur als Ort exzeptioneller religiöser Toleranz galt, sondern für die europäische Geistesgeschichte eine zentrale Rolle gespielt hat, da sie durch Übersetzungen bereits im Mittelalter eine Rezeption antiker Schriften ermöglichte, was im Rest Europas sonst erst viel später möglich gewesen wäre. Vgl. dazu: Bossong, Georg: Das maurische Spanien. Geschichte und Kultur. 2. Aufl. München: Beck 2010. Hier insbesondere: S.73-79. 64 Cervantes Saavedra, Miguel de: Don Quijote de la Mancha. S. 86. „Da ich sie erkannte, aber nicht zu lesen verstand“. 65 Dass es aufgrund der historisch und kulturellen Konstellation in Toledo nicht schwierig war, einen entsprechenden Übersetzer zu finden, bestätigt der Erzähler selbst: „[N]o fue muy dificultoso hallar intérprete semejante, pues aunque le buscara de otra mejor y màs antigua lengua le hallara.“ ebd. S. 86. „Einen Dolmetscher zu finden, war nicht schwierig, denn hätte ich auch einen aus einer erhabeneren, älteren Sprache gesucht, dort hätte ich ihn gefunden.“ 66 ebd. S. 86. „Deshalb drängte ich ihn, den Anfang zu lesen, und so übertrug er aus dem Stegreif das Arabische ins Spanische und sagte, da stehe: Historie des Don Quijote von der Mancha, niedergeschrieben von Cide Hamete Benengeli, arabischer Historiograph.“
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rukt ohne identifizierbaren Ursprung ausgestellt. Dadurch wird die Aufmerksamkeit auf die spezifische Literarizität des Werkes gelenkt, die – so lautet die These – in einer spezifischen Poetik des Übersetzens zum Tragen kommt. Schreiben und Erzählen gehen nicht mehr auf ein autonomes und schöpferisches Autor-Genie zurück, sondern auf die äußerst unverlässlichen Instanzen eines Übersetzers und eines arabischen Historikers, der die Geschichte seinerseits aus unbekannten Quellen hat rekonstruieren müssen.67 Liegt die Modernität von Cervantes’ Roman darin begründet, dass in ihm literarische Metaebenen reflektiert und verhandelt werden, dann ist das Übersetzen eines der wesentlichen Motive, die dieses Spiel in Gang setzen. Der Wahnsinn Don Quijotes, der sich bekanntlich aus der Lektüre unzähliger Ritterromane entwickelt hat, verweist auf die zentrale Frage einer Poetik des Übersetzens: Inwiefern ist Übersetzen als ein produktiver Prozess zu verstehen, der bestehende Texte in etwas Neues verwandelt? Don Quijote, als Chiffre des modernen Poeten, verwandelt das Textmaterial der alten Ritterromane jedenfalls äußerst kreativ in neue imaginäre Welten. Somit kann gefragt werden, ob nicht jede literarische Produktion immer schon in ein Geflecht aus anderen Texten eingebettet ist, die sie interpretiert, um- oder weiterschreibt? Übersetzung macht diesen Prozess nur in besonderer Form anschaulich, da sie von einer Lektüre eines spezifischen Textes ausgeht, der in einer anderen Sprache neu geschrieben werden muss. Neben der folgenreichen Inszenierung des Erzählten als Übersetztes gibt es im Don Quijote noch weitere interessante Darstellungen der Übersetzung68, von denen nun eine näher betrachtet wird, da sie erlaubt, eine spezifische Poetik des Übersetzens exemplarisch zu veranschaulichen. Es handelt sich dabei um eine knappe Episode am Ende von Kapitel 62 aus dem zweiten Teil des Romans, in der Don Quijote eine Buchdruckerei besichtigt. Sie ist vor allem deshalb bekannt, da der Protagonist dort dem apokryphen zweiten Teil seines eigenen Romans begegnet, der in der 67 Hagedorn kommt deshalb zu dem Schluss, dass Cervantes’ poetologisches Spiel darauf basiert, alle Autor- oder Erzählinstanzen als Übersetzer oder Interpreten anderer Texte zu inszenieren: „[L]o cual se puede entender como otro juego de Cervantes con la autoridad narrativa, puesto que todos los ‚autores‘ […] son ‚interpretes‘ de manuscritos de otros.“ Hagedorn, Hans Christian: La traducción narrada. S. 64. „[D]as kann als weiteres Spiel Cervantes’ mit der narrativen Autorität verstanden werden, da alle ‚Autoren‘ […] ‚Interpreten‘ von Manuskripten von anderen sind.“ (Übersetzung R.B.) Eva Matt kommentiert die Folgen der Übersetzerfiktion so: „Der Übersetzer im Don Quijote trägt hauptsächlich als strukturelles Element zur Verunklarung des erzählerischen Ursprungs und zur Vorführung einer intertextuellen Konzeption von Erzählen bei, indem er in die Kette von Erzählakten, auf denen der Roman beruht, ein weiteres Destabilisierungsmoment einfügt.“ Matt, Eva: Figuren der Übersetzung. S. 12-13. 68 Vgl. dazu: Koppenfels, Martin von: Durch die Schrift gehen: Die Übersetzerszenen im Don Quijote von 1605.
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Druckerei soeben Korrektur gelesen wird.69 Bevor Don Quijote allerdings auf diese Weise seinem gefälschten Selbst in Schriftform begegnet, dabei den Verfasser des uneigentlichen zweiten Teils schmäht und erbost die Druckerei verlässt, findet zwischen ihm und dem Besitzer der Druckerei sowie einem der anwesenden Übersetzer ein Gespräch über die Problematik literarischer Übersetzungen statt, das in diesem Kontext als Kommentar zu einer Poetik des Übersetzens gelesen werden kann. Nachdem Don Quijote mit dem Übersetzer bezüglich einiger Übertragungen aus dem Italienischen gefachsimpelt hat, fällt er durch einen bildhaften Vergleich ein offensichtlich wenig schmeichelhaftes Urteil über die Arbeit des Übersetzens: Pero, con todo esto, me parece que el traducir de una lengua en otra, como no sea de las reinas de las lenguas, griega y latina, es como quien mira los tapices flamencos por el revés, que aunque se ven las figuras, son llenas de hilos que las escurecen y no se ven con la lisura y tez de haz; y el traducir de lenguas fáciles ni arguye ingenio ni elocución, como no le arguye el que traslada ni el que copia un papel de otro papel.70
Der Vergleich mit dem flämischen Wandteppich schließt zunächst an das typische Vorurteil an, dass Übersetzungen gegenüber dem Original von minderer Qualität seien, da die Übersetzung eben der Rückseite des Wandteppichs entspricht und somit nur einen sehr eingeschränkten Blick auf das Original erlaubt. Doch nimmt man den Vergleich ernst, dann kann man zunächst immerhin feststellen, dass Original und Übersetzung aus demselben Stoff gemacht und infolgedessen so unterschiedlich gar nicht sein können. Beide sind nämlich untrennbar miteinander verwoben. Dies ist umso vielsagender, als mit dem Bild des literarischen Textes und seiner Übersetzung als Teppich die weit verbreitete Metapher des Textgewebes oder des 69 Es handelt sich um eine Anspielung auf den apokryphen zweiten Teil, der unter dem Pseudonym Alonso Fernández de Avellaneda 1614 herausgegeben wurde. Cervantes, verständlicherweise erbost, sah sich so gezwungen, möglichst schnell seinen eigenen zweiten Teil zu publizieren, was er 1615 tat und dabei sowohl im Vorwort den apokryphen Roman von Avellaneda verurteilte, als auch im Roman selbst zahlreiche diffamierende Anspielungen auf den Autor einbaute, der sich vermeintlich hinter dem Pseudonym versteckte. 70 Cervantes Saavedra, Miguel de: Don Quijote de la Mancha. S. 1032. „Dennoch bin ich der Ansicht, das Übersetzen von einer Sprache in die andere, sofern es sich nicht um die Königinnen unter den Sprachen, das Griechische und das Lateinische, handelt, ist so, als betrachte man die flämischen Wandteppiche von der Rückseite her, wo man die Figuren zwar erkennt, doch nur unter allerlei Fäden, die sie verschleiern, so dass sie nicht in Klarheit und dem Farbenglanz hervortreten wie auf der Vorderseite. Das Übersetzen aus leichteren Sprachen erfordert hingegen weder Geist noch Ausdruckskraft, gerade so viel, als würde man etwas von einem Papier auf ein anderes übertragen oder abschreiben.“
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textilen Textes ‚verknüpft‘ ist.71 Wenn Literatur seit jeher als das Spinnen von Geschichten, das Zusammenführen von Fäden bezeichnet wird, dann zielen diese Tropen auf das Stoffliche des Erzählten ab, nämlich auf die Sprache als dessen Material. Wenn nun der Stoff allerdings, wie es das Bild des Wandteppichs nahegelegt, mehrsprachig ist, also verschiedensprachige Fäden zusammenführt, dann kann man schließen, dass das Übersetzen ebenso teilhat an der literarischen Produktion wie das schöpferische Schreiben selbst oder dass beides untrennbar verwoben sei. Erinnert man sich nun daran, dass der Roman selbst als mehrfach verwickelter Stoff präsentiert wird, der auf einer Übersetzung basiert72, dann lässt sich durchaus fragen, ob man Vorder- und Rückseite dieses Textgewebes überhaupt noch auseinanderhalten kann. Don Quijote relativiert sein negatives Urteil bezüglich der Übersetzungen ohnehin selbst bereits dadurch, dass dies nur für die leichteren Sprachen gelte und nicht für Übertragungen aus dem Griechischen oder dem Lateinischen.73 Und gleich im Anschluss nennt er zwei Übersetzungen aus einer jener leichteren Sprachen (dem Italienischen), die er von diesem Urteil explizit ausnimmt: Y no por esto quiero inferir que no sea loable este ejercicio del traducir, porque en otras cosas peores se podría ocupar el hombre y menos provecho trujesen. Fuera de esta cuenta van los dos famosos traductores: uno el doctor Cristóbal de Figueroa, en su Pastor Fido, y el otro don Juan de Jáarigui, en su Aminta, donde felizmente ponen en duda cuál es la traducción o cuál el original.74 71 Vgl. dazu: Greber, Erika: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie: Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln: Böhlau 2002. 72 Und die Funktion der Übersetzungsfiktionen im Don Quijote ist vor allem ein Hinweis auf seine Fiktionalität, wie Eva Matt zeigt: „Die Übersetzerfiguren im Don Quijote lenken die Aufmerksamkeit auf die Gemachtheit, die sprachliche Verfasstheit und die intertextuelle Natur des Textes, kurz, seine Textualität.“ Matt, Eva: Figuren der Übersetzung. S. 13. 73 Ohne dass es eindeutige Hinweise darauf gibt, kann man sich vorstellen, dass aus spanischer Sicht das Italienische oder das Portugiesische als eng verwandte Sprachen hier mit den ‚leichteren Sprachen‘ gemeint sind. Deutsch, obwohl keine der Königinnen der Sprachen, hätte Don Quijote in Bezug auf die Übersetzung vermutlich nicht als solche bezeichnet. 74 Cervantes Saavedra, Miguel de: Don Quijote de la Mancha. „Ich will damit nicht behaupten, das Übersetzen sei nicht lobenswert, denn mit Schlimmerem könnte der Mensch sich beschäftigen, das ihm weniger zum Vorteil gereicht. Zwei vortreffliche Übersetzer will ich ausnehmen: zum einen den Doktor Cristóbal de Figueroa mit seinem Pastor Fido, zum anderen Don Juan de Jáurigui mit seiner Aminta, beide Übertragungen so geglückt, dass man zweifeln kann, welches die Übersetzung ist und welches das Original.“
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Diese Übersetzungen, so der Schluss, sind so gelungen, dass man in der Tat denken könne, sie selbst seien das Original. Es ist daher keineswegs so, dass Übersetzungen gegenüber dem Original immer minderwertig sind, sondern ganz im Gegenteil: Manchmal ist überhaupt nicht zu unterscheiden, ob es sich um eine Übersetzung oder ein Original handelt. Ebenso wie es Sancho Panza regelmäßig schwer fällt, zu entscheiden, ob Don Quijotes Gefasel75 nun die poetische Rede eines vernünftigen Edelmanns oder aber doch nur die Sprache eines Wahnsinnigen ist, lässt sich bei den gelungenen Übersetzungen ausmachen, ob sie nicht doch originäre literarische Produktionen sind. Wenn Schreiben aber nicht mehr von Übersetzen unterscheidbar ist, dann bedeutet das weniger eine Abwertung des Dichtens als vielmehr eine Aufwertung des Übersetzens. Man mag zu Recht einwenden, dass Cervantes dieses poetische Spiel mit der Fiktionalisierung der Übersetzung vor allem als selbstironischen Kommentar zur eigenen Autorschaft betrieben hat, deren Originalität er nicht ernsthaft in Frage stellen, sondern im Gegenteil dadurch erst recht gelobt wissen wollte. Dennoch kann man sagen, dass er mit seinem Roman, neben unzweifelhaft ebenso großen anderen Verdiensten, erstmals nachhaltig das Potential einer Poetik des Übersetzens aufgezeigt hat. Eben diese poetologische Dimension des Romans ist sicherlich ein wichtiger Grund dafür gewesen, dass spätere Schriftsteller immer wieder auf den Don Quijote Bezug genommen haben. Unter ihnen befinden sich nicht zuletzt die deutschen Romantiker, die – wie hier gezeigt wird – ebenfalls einen engen Zusammenhang von Dichten und Übersetzen ins Werk gesetzt haben. Im 20. Jahrhundert hat Jorge Luis Borges die Poetik des Übersetzens als Weiterentwicklung der Cervantinischen Ästhetik vielleicht am konsequentesten zu Ende gedacht. Damit ist bereits der weitere Rahmen dieser Untersuchung abgesteckt und Cervantes’ Don Quijote als ein zentraler literaturhistorischer Bezugspunkt für literarische Darstellungen von Übersetzung vorgestellt.
75 Etymologisch lässt sich das Wort ‚faseln‘ auf zwei Bedeutungen zurückführen. Einerseits auf delirare, also das irre und unverständliche Reden. Andererseits ist damit aber auch das Zupfen, das Zausen und das Fäden ziehen gemeint, welches der Verfeinerung eines Stoffes dient und hiermit wieder an das Bild des flämischen Teppichs sowie des literarischen Textes als Gewebe erinnert. Don Quijote verkörpert damit gleichzeitig die beiden marginalen Figuren des Irren und des Poeten, die Foucault bereits als extreme Pole des Romans ausgemacht hat: „Der Dichter läßt die Ähnlichkeit bis zu den Zeichen kommen, die sie aussprechen, der Irre belädt alle Zeichen mit einer Ähnlichkeit, die sie letzten Endes auslöscht.“ Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. S.82.
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2.3 Die Ethik des Übersetzens: Heliodors Aithiopika Heliodors Aithiopika gelten als Schluss- und oft auch als Höhepunkt des antiken Romans76, der eine Weiterentwicklung des antiken Epos zu einer neuen Prosagattung vorangetrieben hat, die zum Vorbild des barocken und des frühneuzeitlichen Romans wurde.77 Die Aithiopika beziehen sich als imitatio oder aemulatio in vieler-
76 Die Bezeichnung der fiktionalen und narrativen Werke der Spätantike als ‚Roman‘ ist selbstverständlich eine nachträgliche Konstruktion der Neuzeit, die sich aber weitgehend durchgesetzt hat, weshalb auch hier dieser Begriff übernommen wird. Vgl. zu dieser Diskussion u.a Holzberg, Niklas: Der antike Roman. Eine Einführung. 2. Aufl. Düsseldorf [u.a.]: Artemis & Winkler 2001. Hier insbesondere S. 19-20. Auch Beil setzt sich programmatisch und kritisch mit der Gattungsbezeichnung auseinander: Beil, Ulrich Johannes: Die hybride Gattung. Poesie und Prosa im europäischen Roman von Heliodor bis Goethe. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. 77 Vgl. dazu u.a. Whitmarsh: „Charicleia and Theagenes is antiquity’s longest, latest and arguably greatest romance. The date is uncertain, but the fourth century remains the likeliest candidate.“ Whitmarsh, Tim: Narrative and identity in the ancient Greek novel. Returning romance. Cambridge, New York: Cambridge University Press 2011. S. 109. Holzberg stellt zwar die Wirksamkeit des Romans für heutige Leser in Frage, hebt aber dessen historische Bedeutung hervor: „Heliodors Roman Aithiopika (»Äthiopische Geschichten«) dürfte, obwohl er von allen griechischen Romanen das reichste Nachleben hatte und speziell die anfängliche Entwicklung des neuzeitlichen europäischen Romans nicht unwesentlich beeinflusst hat, heutige Leser nicht so unmittelbar ansprechen“. Holzberg, Niklas: Der antike Roman. S. 134. Beil schreibt: „Wenn Platon für die Philosophen der Florentiner Renaissance und Augustinus für die Reformatoren die antike Leitfigur darstellt, so kommt dem griechischen Schriftsteller Heliodor die entsprechende Rolle bei den frühneuzeitlichen Romanciers zu. In poetologischen Texten des 17. Jahrhunderts feiert man ihn als den ‚Homer‘ des Romans, den lang entbehrten Klassiker der das Epos beerbenden Gattung“. Beil, Ulrich Johannes: Die hybride Gattung. S. 43. Dünne weist auf die Bedeutung des Romans für eine praktische und theoretische Auseinandersetzung mit einer Romanpoetik hin: „In diesen neoaristotelischen Poetiken wird häufig als Beispiel für eine besonders geglückte Erfüllung aristotelischer Dichtungsvorschriften der ebenfalls im 15. Jahrhundert erstmals übersetzte […] Roman Heliodors über die Abenteuer von Theagenes und Charikleia herangezogen. Zwar ist damit noch keine eigentliche Romanpoetik begründet, denn die Aithiopika werden, obwohl ein Prosatext, stets in Bezug auf das Homersche Epos situiert, aber die praktischen Experimente mit der Erzählform des romance in den europäischen Literaturen erhalten dadurch enormen Auftrieb.“ Dünne, Jörg: Die kartographische Imagination. Erinnern, erzählen und fingieren in der Iberischen Welt der Frühen Neuzeit. München: Fink, Wilhelm 2011. S. 255.
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lei Hinsicht und teilweise explizit auf Homers Odyssee.78 Strukturell und thematisch basieren beide Werke auf dem Topos der Heimkehr, die als Reise mit vielen Prüfungen und Abenteuern am Ende trotz aller Schwierigkeiten gelingt. Sowohl Odysseus als auch Charikleia, die Protagonistin der Aithiopika, begegnen dabei unterschiedlichen Vertretern verschiedenster Völker. Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Werken ist allerdings der Umgang mit der Anderssprachigkeit. Während sich Odysseus scheinbar problemlos mit sämtlichen Bewohnern des Mittelmeerraums unterhalten kann, muss für Charikleia regelmäßig übersetzt werden, etwa dann, wenn sie von ägyptischen Räubern entführt wird.79 Bei Homer gibt es keine Verständigungsschwierigkeiten, weil offensichtlich die ganze Welt Griechisch spricht. Bei Heliodor hingegen wird in einer für die ganze antike Literatur erstaunlichen Konsequenz auf Anderssprachigkeit hingewiesen.80 Auf intradiegetischer Ebene wird immer plausibel gemacht, wie Menschen unterschiedlicher Herkunft miteinander kommunizieren können.81 Dies geschieht entweder, indem mehr78 Beil plädiert hier eher für eine Art routinemäßiger imitatio und hebt die auctoritas hervor. Er wertet die Bezüge zu den frühantiken Autoren „als Versuch, den Kanon des klassischen Zeitalters aufzurufen […] und seine Vertreter, wie im Fall des omnipräsenten Homer, als Autoritäten wieder einzusetzen.“ Beil, Ulrich Johannes: Die hybride Gattung. S. 48. Whitmarsh hingegen betont, dass Heliodor sich zwar in vielerlei Hinsicht an der Odyssee orientiert, aber auch über sie hinausgeht: „This is clearly an explicit signal to the reader that the travels and trials that befall Heliodorus’ lovers are to be read against the paradigm of the Odyssey.“ Whitmarsh, Tim: Narrative and identity in the ancient Greek novel. S. 113. 79 Exemplarisch sei diese Stelle zitiert, in der der Grieche Knemon, der schon länger in der Hand der Räuber ist, für den Räuberhauptmann Thyamis dolmetschen muss, um sich den soeben gefangen genommenen Helden Charikleia und Theagenes mitzuteilen: „Er gebot Knemon, was er sagen würde, den Gefangenen zu verdolmetschen; denn jener verstand schon ägyptisch, während Thyamis das Griechische nicht ausreichend beherrschte.“ Heliodor: Aithiopika. Ins Deutsche übertragen von Horst Gasse. Karlsruhe: von Loeper 1985. S. 30. 80 Dies stellt u.a. Winkler fest: „I believe Heliodoros is unique in ancient literature for his continual attention to problems of language and communication. […] To navigate one’s way through this conspicuously polyglot world it is very helpful to know at least two languages, and several characters do“. Winkler, John J.: The mendacity of Kalasiris and the narrative strategy of Heliodoros' Aithiopika. In: Later Greek literature. Hrsg. von John J. Winkler u. Gordon Willis Williams. Cambridge [Cambridgeshire], New York: Cambridge University Press 1982. S. 93-158. S. 104. 81 Die Darstellung der Anderssprachigkeit ist in der Aithiopika daher äußerst plausibel, selbst wenn auf der Ebene des discours keine Anderssprachigkeit sichtbar wird, wenn also im griechischen Text die Figurenrede immer auf (übersetztem) Griechisch erfolgt. In
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sprachige Dolmetscherfiguren für sie vermitteln, oder indem erklärt wird, wie sich die Figuren fremde Sprachkenntnisse angeeignet haben und sich so in einer fremden Sprache verständigen können. Das Bemühen Heliodors, barbarische, also fremd-sprachige Völker, wie die Ägypter, Äthiopier oder Perser, als anders-sprechende zu markieren und sie dabei keinesfalls abzuwerten, sondern sie durchaus den Griechen gleichzustellen, ist ein erster und bedeutender Hinweis auf eine Ethik des Übersetzens. Denn noch bevor überhaupt gefragt werden kann, inwiefern Übersetzen als ethisches Problem verstanden werden oder wie eventuell ‚ethisch‘ übersetzt werden kann, muss zunächst einmal anerkannt werden, dass es Anderssprachigkeit gibt und dass zumindest prinzipiell alle Sprachen gleichberechtigt nebeneinander existieren. Erst in einem zweiten Schritt kann überlegt werden, was es für die andere Sprache oder den Anderssprachigen bedeutet, in der Übersetzung in eine fremde Sprache und Kultur aufgenommen zu werden und welche ethischen Kriterien dabei gegebenenfalls berücksichtigt werden sollten. Indem Heliodor in seiner literarischen Darstellung markant auf Anderssprachigkeiten hinweist, steckt er den Rahmen für die grundlegenden ethischen Fragen des Romans. Neben derjenigen nach sexueller Enthaltsamkeit, die die Protagonisten Charikleia und Theagenes nicht nur als exemplarisch und außerordentlich schöne, sondern vor allem auch als tugendhafte Charaktere hervorhebt, spielen dabei zwei Motive eine Rolle, die durchaus mit dem Problem der Übersetzung in Zusammenhang stehen: das Gastrecht und die Neugründung eines ethischen Gesetzes. Die Handlung der Aithiopica spielt überwiegend in Ägypten, um schließlich in Äthiopien zu enden, wo sie auch ihren Ausgang genommen hat. Der chronologisch eigentlich vor der Ankunft in Ägypten stehende Teil der Handlung, der in Griechenland spielt, wird durch einzelne Figuren ausschließlich in Analepsen erzählt. Diese vom Schriftsteller und vom zeitgenössischen Leser aus gesehene Nord-SüdBewegung, die zum damals als solches bekannten ‚Ende der Welt‘ führt, bedeutet eine beachtenswerte Verlagerung des kulturellen Zentrums in die Peripherie, die für ein Werk der griechischen Literatur zumindest als atypisch bezeichnet werden muss. Denn Heliodor verwirft dadurch aus griechischer Sicht das Paradigma der Odyssee, das fremde, exotische Räume zwar für den Bereich der Abenteuer vorsieht, am Ende aber in die griechische ‚Zivilisation‘ zurückkehrt, von der sie ausge-
der von Robert Stockhammer vorgeschlagenen Glotta-Terminologie ist der Roman in Bezug auf die Darstellung der Mehrsprachigkeit damit äußerst pithanon (glaubwürdig) und glottadiegetisch (Anderssprachigkeit markierend), aber eben nicht glottamimetisch (Anderssprachigkeit abbildend). Vgl. dazu Stockhammer, Robert: Wie deutsch ist es? Die Terminologie wird in Kapitel 3.3 ausführlich erläutert, da sie zur Analyse der unterschiedlichen Werke immer wieder herangezogen wird.
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gangen ist.82 Nimmt man jedoch die äthiopische und eigentlich ‚barbarische‘ Perspektive ein, wie es der empathische Ansatz Heliodors zumindest als Möglichkeit andeutet, so bleibt er dem Homerschen Paradigma in seiner Umkehrung gewissermaßen treu: „In another sense, however, Charicleia and Theagenes remains a centre-periphery text: from the Ethiopians’s vantage, this is precisly a story about expatriation into an unfamiliar foreign space, and subsequent home-coming.“83 Der entscheidende Effekt dieser Verkehrungen und der Verlagerung des Zentrums an einen sehr fernen und dritten Ort (Äthiopien) besteht darin, dass die üblichen Dichotomien von Eigenem vs. Fremdem oder (griechischer) Zivilisation vs. Barbarentum unterlaufen werden. Es begegnen sich laufend Figuren, deren Identität unklar ist und die erst mühsam festgestellt werden muss, was nicht zuletzt auch daran liegt, dass erstaunlich viele Barbaren Griechisch sprechen und sie deswegen eigentlich keine bárbaros, also Anderssprechende, sein können. Exemplarisch lässt sich dies an der ersten Begegnung des jungen Knemon mit dem alten Kalasiris aufzeigen, der als ägyptischer Priester längere Zeit in Griechenland gelebt hat und dessen analeptisches Erzählen überhaupt erst einen narrativen Zusammenhang der Handlungsebenen ermöglicht. Einer der wichtigsten intradiegetischen Erzähler des Romans ist die Übersetzerfigur Kalasiris.84 Ein großer Teil der Narration wird somit von einem Ägypter geleistet, der auf Griechisch erzählt. Eben deshalb ist die Einführung dieser Figur in den Roman von Bedeutung: Knemon vertrat ihm den Weg und sprach ihn mit dem Gruß der Griechen: ‚Sei froh!‘ an. Jener antwortete, das könne er nicht, sein Los sei nicht dementsprechend. Erstaunt fragte Kne82 „[T]he linear shape of Charicleia and Theagenes reverses the spatial paradigm of the Odyssean return narrative, also used by the first-century romancers, which distinguishes the geographical hub (Greek space, narrated at the beginning and end) from non-Greek periphery (‚abroad‘, narrated in the middle).“ Whitmarsh, Tim: Narrative and identity in the ancient Greek novel. S. 115. 83 ebd. S. 115. Zu dieser dezentralisierten Neuschreibung der literarischen Tradition aus der Peripherie heraus passt auch, dass Homer im Roman explizit mit einer ägyptischen Herkunft belegt wird und Heliodor sich selbst am Ende des Romans als Phönizier aus Emesa (dem heutigen Homs in Syrien) bezeichnet. Seine Muttersprache war also ebenso wenig das Griechische, wie sie es für seine wichtigste Erzählerfigur, Kalasiris, war. 84 Er beherrscht neben dem Griechischen auch die Sprache der dritten Region: das Äthiopische. Deshalb kann er als einziger die Information lesen, die in die identitätsstiftende Binde eingestickt ist, welche Charikleia von ihrer Mutter mit auf den Weg bekommen hat. Vgl. dazu Heliodor: Aithiopika. S. 123. An dieser zentralen Übersetzerfigur des Kalasiris, der Charikleia und Theagenes wortwörtlich von Griechenland nach Ägypten übersetzt, hängt sich die wesentliche Charakteristik des Romans, nämlich seine komplexe narrative Struktur, überhaupt erst auf.
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mon: ‚Grieche und fremd oder wo sonst daheim?‘ ‚Weder Grieche noch fremd, sondern von hier, ein Ägypter.‘ ‚Wieso trägst du dann griechische Kleidung?‘ ‚Das Unglück hat mich in diese prächtige Tracht gesteckt. […] Aber wohin und woher des Wegs, junger Mann? Ein Grieche der Sprache nach und in Ägypten?‘85
Aus ethischer Sicht ist die Frage der Sprache und Zugehörigkeit insofern relevant, da die Aithiopica zeigen, dass die Sprache eben kein verlässliches Kriterium sein muss, um eine Person als tugendhaft oder barbarisch einzustufen. Die Gleichung, dass, wer Griechisch spricht, deshalb auch ‚gut‘ sein muss, stellt sich im Verlauf der Handlung mehrmals als falsch heraus. Andersherum funktioniert sie allerdings durchaus: Alle tugendhaften Charaktere sprechen, egal woher sie kommen, Griechisch. Eben deshalb ist es geboten, die Frage nach der Ethik des Übersetzens differenzierter zu betrachten und den eindeutigen Dichotomien zu misstrauen. Direkt im Anschluss an die erste Begegnung von Knemon und Kalasiris nimmt letzterer den jüngeren in das Haus des ägyptischen Kaufmanns Nausikles mit, in dem er selbst ein Gast ist. Die zuvorkommende Aufnahme im Haus eines ‚Barbaren‘ lässt die beiden über die Sitte der Gastfreundschaft sprechen, die offensichtlich in dieser Form in einem fremden Land nicht unbedingt erwartet wird: ‚Es scheint, Vater‘, rief Knemon ganz erstaunt, ‚wir sind am Hof des gastlichen Zeus; so aufmerksam ist die Bedienung, und sie kommt offensichtlich von Herzen.‘ ‚Nicht bei Zeus selbst‘, erwiderte der Alte, ‚aber im Haus eines Mannes, der die Gebote des Zeus, des Schutzherrn aller Fremden und Bittflehenden, gewissenhaft erfüllt[...]‘86
Das griechische Gebot der Gastfreundschaft, wird also auch von Nicht-Griechen befolgt und somit als universelles ethisches Gesetz anerkannt und veranschaulicht. 87 Der Ägypter Kalasiris dankt am Ende des Aufenthalts dem Ägypter Nausikles für die Einhaltung einer eigentlich ‚griechischen‘ Sitte (auf Griechisch wohlgemerkt, da auch Knemon anwesend ist), „dafür, daß du uns während unseres hiesigen Aufenthalts hegtest und pflegtest, uns jetzt, da wir gehen wollen, nicht hältst und stets den Geboten des Gastrechts und der Freundschaft gewissenhaft nachkamst.“ 88 Da dieses ethische Gesetz des Gastrechts darauf beruht, den Fremden als solchen anzuerkennen und ihn beschützend bei sich aufzunehmen, kann es in Analogie zur Frage der Übersetzung verstanden werden. Die Sprache des Anderen zu sprechen, sie in 85 ebd. S. 67. 86 ebd. S. 68. 87 Auch dies ist als intertextueller Verweis auf die Odyssee zu verstehen, in der dem Gastrecht ebenfalls eine zentrale Bedeutung zukommt. 88 ebd. S. 193.
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die eigene aufzunehmen oder den Anderssprachigen übersetzend in der eigenen Sprache zu Wort kommen zu lassen, entspricht diesem ethischen Gesetz der Gastfreundschaft und wird in den Aithiopika immer wieder praktiziert und zur Diskussion gestellt.89 Dieses universelle Gesetz der Gastfreundschaft wird mit einem explizit regionalen und ‚barbarischen‘ Brauch kontrastiert, der am Ende des Romans als unsittliches Gesetz in Äthiopien abgeschafft wird. Es handelt sich um den Brauch, den Göttern die ersten Gefangenen eines Kriegszuges zu opfern. Diese ersten Gefangenen sind in diesem Fall Theagenes und Charikleia, und so verkündet der äthiopische König und der unwissende Vater von Charikleia: „Diese hat man zuerst ergriffen; so sollen sie als erste Gabe aus dem Kriege für die Siegesfeier aufgespart und nach dem alten Brauch der Äthiopier für das heilige Opfer, das wir den einheimischen Göttern darbringen, erhalten bleiben.“90 Die ganze Tragik des Romans spitzt sich in diesem Konflikt zu, da Charikleia als Griechin vor ihren Vater tritt und diesem erst beweisen muss, dass sie seine Tochter ist. Dass ihr dies schließlich gelingen und es zu einem versöhnlichen Ende kommen wird, ist schon allein aufgrund der gräkophilen Prägung der äthiopischen Oberschicht zu erahnen, der die griechische Sprache geläufig ist und die damit auch griechischen Sitten prinzipiell nicht abgeneigt sein kann. Nur muss der König dem Volk ebenfalls gerecht werden, weshalb Hydaspes des Öfteren von einer Sprache in die andere wechselt: ‚Geschwister und Griechen‘, rief der König: ‚Gepriesen seiest du, Hellas, daß du so herrliche Menschen hervorbringst und uns für das Siegesfest so edle, Gutes verkündende Opfer darbietest! […]‘ Dann wandte er sich an Charikleia in griechischer Sprache, die den Gymnosophisten und den Fürsten der Äthiopier geläufig ist.91
Chariklea formuliert schließlich den Widerspruch, der in ihrer Herkunft und dem Brauch des Menschenopfers liegt: „‘[...] Mein König, gebietet das Gesetz, Fremde oder auch Einheimische zu opfern?‘ ‚Nur Fremde.‘ ‚Also musst du dir andere zur Opferung aussuchen; denn in mir wirst du eine Einheimische und eine Landsmän-
89 Jacques Derrida hat eine Ethik der Gastfreundschaft formuliert, die unter anderem auch auf das Problem der Übersetzung und der Anderssprachigkeit verweist und die Aporien dieses Gesetzes aufzeigt. Vgl. dazu Derrida, Jacques: Von der Gastfreundschaft. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek. Dt. Erstausg. Wien: Passagen-Verl. 2001. Vgl. auch: Derrida, Jacques: Die Einsprachigkeit des Anderen. Oder die ursprüngliche Prothese. [1996]. Aus dem Französischen von Michael Wetzel. München: Fink 2003. In Kapitel 6 wird diese Diskussion vertieft. 90 Heliodor: Aithiopika. S. 289-290. 91 ebd. S. 320.
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nin von dir finden.‘“92 Als Hydaspes in Charikleia schließlich seine Tochter (an)erkennt, offenbart sich ihm auch die grundlegende Unsittlichkeit des Menschenopfers und es kommt schließlich zur Abschaffung des alten Brauchs. Allerdings holt der König sich dafür sowohl die Erlaubnis des Weisenrates (den Gymnosophisten und ihres Vorsitzenden Sisimithres) als auch die des Volkes. Symbolisch für die damit neu etablierte Ethik erfolgt diese öffentliche Aushandlung unter der Berücksichtigung und dem Bewusstsein der Anderssprachigkeit: Als nämlich Hydaspes Sisimithres fragte: ‚Was sollen wir tun, weiser Mann? Den Göttern das Opfer zu verweigern, wäre eine Verletzung unserer religiösen Pflichten; diejenigen abzuschlachten, die sie uns geschenkt haben, ein schuldhaftes Vergehen.‘ ‚Wir müssen überlegen, was zu tun ist‘, antwortete Sisimithres, nicht auf griechisch, sondern, damit alle ihn verständen, auf äthiopisch. ‚Mein König, allzu große Freude beeinträchtigt, wie es scheint, die Denkkraft selbst der verständigsten Männer. Sonst hättest du schon längst zu dem Schluß kommen müssen, daß die Götter von dem in Aussicht genommenen Opfer nichts wissen wollen. […] So laßt uns denn diese Wundertaten der Götter recht verstehen und in ihrem Sinne handeln! Laßt uns auch für die Zukunft auf Menschenopfer verzichten und lieber Opfer darbringen, an denen keine Blutschuld haftet!‘93
Das glückliche Ende des Abenteuerromans belohnt, wie es das Genre vorgibt, nicht nur die Tugendhaftigkeit von Charikleia und Theagenes, indem sie nun heiraten dürfen sowie als Priester von Meroë eingesetzt werden, sondern es kommt zu einer grundlegenden Hinterfragung ethischen Handelns auf allerhöchster Ebene, die symbolisch eine Neubegründung des gesellschaftlichen Gesetzes zwischen dem äthiopischen Volk, dem König und den Göttern zur Folge hat. Die unfreiwillige Abenteuerreise Charikleias durch fremde Kulturen und Sprachen, die permanent zwischensprachliche Aushandlungen ethischer Fragen mit sich bringt, ist Voraussetzung für die Infragestellung der überlieferten Tradition in Äthiopien und die Angleichung des Gesetzes an das, was als universelle – trotz allem bedeutet das hier: griechische – Norm des gerechten Umgangs mit dem Fremden zu gelten hat. Diesen Fremden soll man von nun an nicht nur als Gast freundschaftlich bei sich aufnehmen, sondern man darf ihn auch als Kriegsgefangenen nun nicht mehr den Göttern opfern. Der interkulturelle Austausch über mehrere Landesgrenzen und Kontinente hinweg, der bei Heliodor anschaulich mit der Darstellung von AndersSprachigkeiten verknüpft ist, integriert nicht nur das ‚Ende der Welt‘ in den Raum der sittlichen Zivilisation, sondern stellt die vormals barbarische Peripherie sinn92 ebd. S. 335. 93 ebd. S. 367-368. Man kann insofern auch sagen, dass es in dem Roman immer wieder darum geht, Zeichen richtig zu deuten, sie verständlich zu übersetzen: Orakelsprüche, Träume, fremde Schriftzeichen und letztendlich den Willen der Götter.
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bildlich ins Zentrum ethischen Handelns. Das ist selbst dann noch bemerkenswert, wenn man berücksichtigt, dass Äthiopien hier nicht so sehr als historisch realer Raum gemeint ist, sondern vielmehr als Projektionsfläche für die Hinterfragung eigener kultureller Standards und Normen fungiert, was nicht zuletzt daran deutlich wird, dass die Neugründung des äthiopischen Gesetzes konsequent aus griechischer Sicht und – auf der Ebene des discours – in griechischer Sprache beschrieben ist.94 Wenn der Roman auf diesem Hintergrund als „an allegory of life as a process of cultural estrangement and refamiliarisation“95 gelten kann, dann dient er mindestens ebenso sehr als Allegorie einer Ethik des Übersetzens. Dieser Begriff will hier zunächst nicht im Sinne einer rein normativen Ethik verstanden werden, welche allgemein gültige Regeln formuliert und etwa festlegt, wie übersetzt werden soll (wie es etwa die Berufspraktiken von Dolmetschern und Übersetzern erfordern). Vielmehr soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass es diese ethische Dimension des Übersetzens gibt, dass sie immer dann in Erscheinung tritt, wenn für einen Anderen gesprochen wird, wenn man dessen Sprache übersetzen muss, wenn man also durch das Übersetzen (für einen anderen) handelt. Die Tatsache, übersetzend für jemand anderen zu sprechen, verortet den Übersetzer in einem ethischen Raum, ohne dass damit gesagt ist, dass Übersetzen allein bereits ethisch korrekt oder unkorrekt sein kann.96 Vielmehr ist es so, dass Übersetzen einen Raum eröffnet, in dem, 94 Auffällig ist auf jeden Fall, dass der zeitgenössische Hintergrund Heliodors, die imperiale Herrschaft des römischen Reichs über den Mittelmeerraum, im Roman unmittelbar selbst keinen Ausdruck findet. Die zeitliche Rückdatierung des Geschehens lässt die Römer zwar vordergründig nicht erscheinen, doch man kann die Sensibilität für kulturelle und sprachliche Andersheit durchaus im historischen Kontext der Entstehung des Werkes begründet sehen. Als griechisch schreibender Autor (dessen Muttersprache nicht Griechisch war) positioniert Heliodor sich mit diesem allegorischen Roman auch in einer Sphäre der zunehmenden kulturellen Ausdifferenzierungen, in der die eigene Sprache und Tradition kontinuierlich ihre Hegemonialstellung verliert und marginalisiert wird. Die Aithiopka sind so als Statement zu verstehen: „This text, with its relocation to the end of the world and its radical denaturalisation of the kind of Greek paradigms that we see in the firstcentury romances, looks more to late antiquity than to the classical past: to a world, that is, dominated by thoughts of otherworldliness, mortification and the rejection of established norms.“ Whitmarsh, Tim: Narrative and identity in the ancient Greek novel. S. 135. Das Muster, die eigene Gesellschaft über den Umweg Ägypten mit einem ideologisierten und fernen Musterstaat zu vergleichen, findet sich bereits in Platons Erzählung von Atlantis. Vgl. dazu Kapitel 4.3. 95 ebd. S.135. 96 Diese Wertung schwingt in dem bekannten italienischen Sprichwort traduttore traditore mit, das auch in wissenschaftlichen Untersuchungen gern als Paradigma aufgegriffen wird: Wilhelm, Christine: Traduttore traditore – Vermittler durch Verrat.
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wie es in den Aithiopika anschaulich wird, ethische Fragen immer wieder neu verhandelt und alte ethische Nomen immer wieder neu hinterfragt werden müssen. Im Anschluss an diese Vorüberlegungen wird in Kapitel 6 daher an theoretische Überlegungen angeknüpft, die eine nicht-normative Ethik zu denken versuchen, da sie den grundlegenden Widerspruch zwischen einer universellen, für alle gültigen Ethik und der Gerechtigkeit gegenüber der Singularität des einzelnen Anderen aufgedeckt haben.97 Es stellt sich dabei unter anderem die Frage, ob nicht in jeder Übersetzung derselbe Widerspruch steckt, da sie einerseits immer an der Singularität des einzelnen Textes arbeitet, dem sie gerecht werden muss, sich andererseits aber auch innerhalb der normativen Sprachgesetze befindet, die sie in jeder einzelnen Übersetzung wiederum in Frage stellen, verändern und überschreiten kann.
3. AUFBAU , M ETHODE
UND
T ERMINOLOGIE
Diese Untersuchung unterteilt sich, entsprechend den skizzierten drei Dimensionen der Übersetzung, in drei Hauptkapitel. Jedes dieser drei Kapitel besteht aus jeweils zwei Analysen literarischer Werke, die zunächst wiederum relativ problemlos jeweils einer Sprache zugeordnet werden können. So sind die Werke des Kapitels Die Hermeneutik des Übersetzens auf Deutsch, die des Kapitels Die Poetik des Übersetzens auf Spanisch und die des dritten Hauptkapitels Die Ethik des Übersetzens auf Englisch verfasst. Diese relativ eindeutige Zuordnung scheint im ersten Moment dem mehrsprachigen Charakter einer ‚Glotta-Literatur‘98 nicht unbedingt gerecht zu werden. Inwiefern die Sprachen der jeweiligen Werke tatsächlich anders- oder mehrsprachig sind oder ob diese zunächst eindeutigen Zuordnungen zu einer ‚natürlichen‘ Sprache überhaupt aufrechterhalten werden können, wird die Analyse der Werke im Einzelfall zeigen. Die Auswahl derselben erfolgte jedoch nicht nur aus Gründen ihrer sprachlichen Verfasstheit. Es wurde Wert darauf gelegt, unterschiedliche historische und kulturelle Kontexte in die Untersuchung zu integrieren, ohne dabei den Anspruch zu erheben, damit eine Geschichte der literarischen Darstellung von Übersetzung anzustreben oder gar in ihrer Ganzheit oder Linearität erörtern zu wollen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass die Fiktionalisierung der Übersetzung zu verschiedenen Zeitpunkten, in verschiedenen Sprachen, Literaturen und Kontexten jeweils eine bedeutende Rolle gespielt hat bzw. immer noch spielt. Hypothetisch wird angenommen, 97 Insbesondere Derridas Überlegungen, die er im Anschluss an Emmanuel Levinas Thesen angestellt hat, spielen dabei ein wichtige Rolle, da sie auch das Problem der Sprache, des Idioms des Anderen berücksichtigen und dadurch einen Anschluss zur Problematik der Übersetzung herstellen. 98 Vgl. dazu Kapitel 3.3.
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dass jeder der drei thematischen Teile sowie jedes der sechs analysierten Werke sich in Bezug auf das Problem der Übersetzung etwas anders positioniert und daher andere Erkenntnisse zu Tage fördert. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Willkür, dass die beiden Werke, die in der Hermeneutik des Übersetzens untersucht werden, aus der deutschen Romantik stammen oder dass Die Poetik des Übersetzens anhand der Analyse von zwei kurzen Erzählungen zweier Autoren herausgearbeitet wird, die das Etikett ‚argentinisch‘ tragen. Auch für die beiden englischsprachigen Werke hätte man gute Alternativen für die Analyse der Ethik des Übersetzens finden können. Da jedoch davon ausgegangen wird, dass die literarische Darstellung von Übersetzung immer auch eine Metaebene impliziert, die Literatur und ihre Entstehungsbedingungen selbst reflektiert, wurde bei der Auswahl der Werke auf Heterogenität geachtet. Vorläufig und bewusst unter Vorbehalt könnte man die Unterteilung der drei Hauptkapitel somit zusätzlich mit den Begriffen ‚romantische‘, ‚skeptizistische‘ und ‚postkoloniale‘ Übersetzungstheorie denominieren. Obwohl derartige Begrifflichkeiten meist selbst bereits problematisch sind, wie die Analyse der Werke zeigen wird, erlauben sie es doch, einige der zentralen übersetzungstheoretischen und sprachphilosophischen Positionen moderner westlicher Wissenschaftsgeschichte der letzten 200 Jahre zu identifizieren, die einen groben Rahmen für diese Untersuchung bilden. 3.1 Die Unabschließbarkeit der Übersetzung Eine literaturwissenschaftliche Forschungsarbeit, die sich zum Ziel gesetzt hat, die literarische Darstellung der Translation und mit ihr die behauptete inhärente Darstellung von Texthermeneutik selbst zu untersuchen, um dabei Möglichkeiten sowie Unmöglichkeiten von Übersetzung und Textverstehen auszuloten, ist unweigerlich auch eine Metauntersuchung ihrer eignen Methodik. Das, was sie überhaupt erst zeigen will, nämlich den translativen Charakter jeglicher hermeneutischen Herangehensweise an (literarische) Texte, darf nicht den blinden Fleck der eigenen Untersuchung bilden. Wenn also allgemein die Bedingungen der Möglichkeiten von Übersetzung in den Blick genommen und mit ihnen auch die Möglichkeiten literaturwissenschaftlichen Textverstehens in Frage gestellt werden, so muss sich dieser kritische Blick zwangsläufig auch auf das eigene Vorgehen richten. Dies führt für die Zielsetzung einer wissenschaftlichen Arbeit zu der vermeintlich widersprüchlichen Situation, dass – analog zur Arbeit an einer Übersetzung – das Resultat einerseits nur ein vorläufiges sein kann und andererseits der Ansatzoder Ausgangspunkt sich nicht auf einen originären Ursprung berufen kann, da er jedes ‚Original‘ immer schon als ein Übersetztes, also zu anderen Texten in Beziehung Stehendes, begreift. Wie bei einer Übersetzung bieten sich daher immer mehrere Lösungsvarianten oder Interpretationsmöglichkeiten an, die zunächst auf die
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eine oder andere Weise entschieden und vorläufige Schlüsse anbieten werden, die den Deutungsprozess jedoch nie endgültig abschließen können. Diese prinzipielle Offenheit der Arbeit reiht die Untersuchung also in einen endlosen Translationsprozess des hermeneutischen Textverstehens ein, muss aber dennoch zu einem Ergebnis, nämlich der abgeschlossenen Forschungsarbeit, führen. Es wird daher der Versuch unternommen, in ihrem Ergebnis das Bewusstsein für die Offenheit und Unabgeschlossenheit sich vielleicht auch widersprechender (Übersetzungs-)Ergebnisse zu veranschaulichen. Dies bedeutet in Bezug auf die Vorgehensweise auch, dass in einzelnen Kapiteln vorläufig präsentierte Ergebnisse später wieder aufgenommen und gegebenenfalls verändert oder neu interpretiert werden können, ohne jedoch damit behaupten zu wollen, dass der immer letzte oder aktuellste Stand der Untersuchung die vorherigen Ergebnisse ungültig oder weniger relevant werden lässt. Deswegen ist auch der Aufbau der Arbeit nur auf den ersten Blick chronologisch, da er nur vorgibt, die Texte in der Reihenfolge ihres Entstehens zu lesen. Es ist ja keinesfalls so, als ginge die Lektüre des Originals immer derjenigen der Übersetzung voraus. Einige der analysierten Werke werden gerade diese Chronologie in Frage stellen und damit unter anderem darauf hinweisen, dass man gegenüber jedem Text (und der Sprache), will man ihn (sie) übersetzen, verstehen oder interpretieren, immer einen bestimmten historischen, kulturellen oder eben auch methodischen Standpunkt einnimmt, der ebenfalls einer gewissen Willkür nicht entbehrt. Aus denselben Gründen wird (weitgehend) darauf verzichtet, ein oder mehrere theoretische Einführungskapitel zu verfassen, in die sich anschließend die literarische Analyse der Werke ‚einzubetten‘ hat. Unterschiedliche Positionen, Kritiken oder allgemeine Überlegungen, die in den einschlägigen Metadiskursen zu Problemen der Übersetzung, Sprachphilosophie und Literaturtheorie zum Ausdruck kommen, werden erst durch die literaturwissenschaftlichen Analysen der einzelnen Werke herausgearbeitet. Wenn nötig werden im Zuge der einleitenden Fragestellungen, etwa zur Ethik des Übersetzens, auch bestimmte theoretische Positionen vorab genauer definiert, um terminologische Unschärfen in der Analyse zu vermeiden. Dies gilt auch für die beiden folgenden Unterkapitel, denen zumindest ein grober terminologischer Rahmen für die Begriffe der Übersetzung und der GlottaLiteratur vorangestellt ist. Allgemein scheint es aber gerade für die Arbeit (an) der Übersetzung besonders empfehlenswert zu sein, Theorie und (Text)Praxis eben nicht voneinander zu trennen. Da der Übersetzungsprozess hier als prinzipiell unabschließbar verstanden wird, gilt dies auch für die einzelnen Analysen wie die Einteilung der Kapitel, die sich teilweise überlappen, Positionen und Erkenntnisse gegenseitig aufgreifen und weiterentwickeln werden. So wird etwa die Analyse von Borges’ Pierre Menard übersetzungstheoretische Überlegungen der deutschen Romantik wieder aufgreifen, radikalisieren und in Frage stellen. Julio Cortázars Diario para un cuento erlaubt es einerseits, Borges’ Übersetzungsverständnis kritisch zu hinterfragen und anderer-
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seits bereits die ethische Dimension literarischer Übersetzungsdarstellung des letzten Kapitels zu antizipieren. In der letzten exemplarischen Analyse wird die zirkuläre Bewegung der Übersetzung und dieser Untersuchung insofern wieder aufgenommen, als David Mitchells Roman The thousand autumns of Jacob de Zoet in der Zeit um 1800 spielt, und somit an jenes Wissensdispositiv anschließt, das in den Werken der deutschen Romantik und der Hermeneutik der Übersetzung von zentraler Bedeutung ist. Auch wenn es den Anschein haben mag: Der Kreis schließt sich damit keinesfalls. 3.2 Zum Begriff der Übersetzung Den Begriff der Übersetzung definitorisch einzugrenzen, birgt Schwierigkeiten und Gefahren. Aus verschiedenen übersetzungstheoretischen Schriften können sehr unterschiedliche Antworten auf die Frage ‚Was ist eine Übersetzung?‘ deduziert werden. Während etwa in den Kulturwissenschaften mit einem sehr weiten und oft metaphorischen Begriff der Übersetzung gearbeitet wird 99, geht die Translationswissenschaft in der Regel von einem sehr engen und klar bestimmten Begriff aus, der sich naturgemäß vor allem an der Übersetzungspraxis orientiert. 100 Die ‚Gefah99
Hier haben vor allem die sogenannten Postcolonial Studies den Begriff der Übersetzung fruchtbar gemacht, indem sie ihn ins Zentrum ihrer theoretischen Überlegungen gestellt haben: „Nothing comes closer to the central activity and political dynamic of postcolonialism than the concept of translation.“ Young, Robert James Craig: Postcolonialism. S. 138. Einerseits entlarvt dieses Konzept der Übersetzung die vereinnahmende kulturelle und imperiale Praktik der Monopolisierung durch die koloniale Hegemonialsprache, in die alles übersetzt werden muss, oder aber wendet Übersetzen als Strategie der Subversion gegen diese Praktik an. Andererseits wird Übersetzung – im eher metaphorischen Sinn – zur Beschreibung von Phänomenen der Migration oder der Hybridisierung instrumentalisiert, so dass Übersetzung zu einer auf beinahe alles anwendbaren Metapher einer ‚cultural translation‘ wird. Vgl. dazu u.a. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. Hier insbesondere S. 303-337.
100 Selbstverständlich wird diese Pauschalisierung den durchaus vielseitigen Varianten theoretischer Überlegungen innerhalb der Translationswissenschaft nicht gerecht. Doch haben einzelne Versuche, diese interdisziplinär anderen wissenschaftlichen Ansätzen zu öffnen, sich nicht durchsetzen können, wie Apel zeigt: „Zu einer derartigen Übersetzungsforschung ist es jedoch nie gekommen, vielmehr wurde die Problematik immer mehr eingegrenzt. Dies mit verschiedenen Begründungen, etwa der, daß sich schwerwiegende Objektivierungsprobleme ergäben, sollte man Übersetzen als partiell außerlinguistischen Prozeß begreifen. Zudem sei eine erschöpfende wissenschaftliche Darstellung bei Einbeziehung aller außerlinguistischen Faktoren nicht möglich.“ Apel, Friedmar: Literarische Übersetzung. Stuttgart: Metzler 1983. S. 12.
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ren‘ dieser offensichtlich disziplinär bedingten, großen definitorischen Bandbreite liegen auf der einen Seite darin, den Begriff derart zu entgrenzen, dass mit ‚Übersetzung‘ letztendlich so viel gemeint sein kann, dass der Terminus als wissenschaftliches Konzept unscharf wird. Auf der anderen Seite verliert die enge terminologische Begrenzung der (linguistisch geprägten) Translationswissenschaft, die ein ‚Translat‘, also ein mündlich oder schriftlich Gesagtes, von einer jeweils als Einheit gedachten Ausgangs- in eine Zielsprache transferiert, wichtige Aspekte des Problems aus dem Blick, die zum Beispiel für sprachphilosophische oder literaturwissenschaftliche Fragestellungen interessant sein können.101 Sie lässt unter anderem bereits jene Varianten des Begriffs außen vor, die Roman Jakobson neben der zwischensprachlichen Übersetzung als die beiden anderen Arten des Übersetzens bezeichnet hat: die Paraphrase, die innersprachliche Übersetzung, und die Transmutation, die intersemiotische Übersetzung.102 Die Schwierigkeiten liegen daher weniger darin, einzelne Definitionen für einen je spezifischen Zweck zu erstellen, als vielmehr, eine einzige terminologische Bestimmung festzulegen, die allen Dimensionen dieses Begriffs gerecht wird. Friedmar Apel konstatiert daher in seiner grundlegenden Studie die offensichtliche Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens: Obwohl Übersetzen seit Menschengedenken praktiziert wird, obwohl es eine jahrtausendealte Tradition der Theorie des Übersetzens gibt, obwohl zumal die Wissenschaften des 20. Jhs. dem Problem so intensiv wie nie zu Leibe gerückt sind, läßt sich keine allgemein akzeptierte und alle am Übersetzungsvorgang beteiligten Faktoren berücksichtigende Definition anführen.103 101 Ein interessantes Beispiel ist in diesem Kontext Walter Benjamins Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers. Dieser nimmt insofern eine Sonderstellung ein, da er immer wieder als Referenztext für die unterschiedlichsten theoretischen Ansätze herangezogen wird, obwohl dessen sprachphilosophischer Ansatz sich weder für übersetzungspraktische noch für kulturwissenschaftliche Fragen näher interessiert. Es ist offensichtlich die spezifische Literarizität von Benjamins Überlegungen, die sie für unterschiedlichste Ansätze der Übersetzungstheorie anschlussfähig macht. Als legitimierende Stichwortgeber werden seine Ausführungen gern in den Dienst der eigenen Studien gestellt. Vgl. dazu: Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers. [1923]. In: Ausgewählte Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp-Taschenbuch-Verlag 1995. S. 50-62. 102 Jakobson, Roman: Linguistische Aspekte der Übersetzung. In: Semiotik. Ausgewählte Texte 1919-1982. Herausgegeben von Elmar Holenstein. Übersetzt von Dieter Münch u.a. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. S. 481–491. Hier S. 483. 103 Apel, Friedmar: Literarische Übersetzung. S. 1. Auch Gudrun Rath kommt zu einem ähnlichen Schluss: „Unterschiedliche Verwendungen des Übersetzungsbegriffs zirkulieren folglich parallel zueinander in Theorieentwürfen aus verschiedenen Disziplinen
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Im Hinblick auf diese skizzierten Schwierigkeiten einer theoretischen Begriffsbestimmung des Übersetzens wird bewusst darauf verzichtet, dieser Studie eine allgemeine und normativ setzende Definition104 voranzustellen, an der sich die Analysen der einzelnen Werke dann zu bewähren hätten. Vielmehr wird genau umgekehrt verfahren. Die entsprechenden theoretischen Überlegungen werden aus den einzelnen Analysen der literarischen Werke heraus abgeleitet und dabei einander vergleichend gegenübergestellt. Dabei können die Vor- und Nachteile der einzelnen Konzeptionen des Übersetzens kontrastiv herausgearbeitet und insbesondere für literaturwissenschaftliche Verfahren erprobt werden. Da in der komparatistischen Analyse insgesamt sechs Fiktionen von Übersetzungen begutachtet werden, ist anzunehmen, dass auch mindestens sechs unterschiedliche Begrifflichkeiten und Vorstellungen von Übersetzung verhandelt werden können. Ausgehend von der Hypothese, dass literarische Übersetzungsdarstellungen in besonderer Weise eine theoretische Metareflexion von Sprach- und Textpraktiken ermöglichen, wird mit einer heuristischen Offenheit in der Begriffsbestimmung operiert, die diesem Potential der Fiktionalisierung Rechnung trägt. Denn die „Produktivität, die sich aus einem zwar von interlingualen Übersetzungen ausgehenden, aber auch andere Interpretationen einbeziehenden Begriffsverständnis ergibt, wird vor allem an fiktionalen Konzeptionen des Übersetzens deutlich.“105 Diese Grundprämisse, die Gudrun Rath ihrer Forschung voranstellt106, gilt im weitesten Sinn auch für diese Untersuchung. Sie positioniert die Fiktionalisierung […]. Nicht die interdisziplinäre Auflösung der Grenzen lässt sich in diesem Fall nachzeichnen, sondern das Fortbestehen von Gräben zwischen Disziplinen und Hierarchien zwischen einzelnen Modellen, Kulturen und Sprachen.“ Rath, Gudrun: Zwischenzonen. S. 10. 104 Diese Normativität in der Begriffsbestimmung widerspricht nicht nur der – im besten Sinne Grenzen überschreitenden – Charakteristik der Übersetzung selbst, sondern insbesondere auch einem modernen Kunstbegriff, der in der literarischen Darstellung der Übersetzung ebenfalls eine zentrale Rolle spielt: „Aber nicht nur die linguistischen Begriffsbestimmungen sind häufig normativ, auch solche Ansätze, die die Übersetzung als Kunst diskutieren, halten – in merkwürdigem Widerspruch zur modernen Kunsttheorie – an normativen oder idealtypischen Definitionen fest.“ Apel, Friedmar: Literarische Übersetzung. S. 6. 105 Rath, Gudrun: Zwischenzonen. S. 12. 106 Rath arbeitet mit dem topographisch und metaphorisch gemeinten Begriff der ‚Zwischenzonen‘, die die Übersetzung ‚zwischen‘ Theorie, Praxis und Fiktion einnimmt: „Als Zwischenzonen bilden sie die Basis für die Entstehung einer Polysemie des Übersetzens, die metaphorische und nicht-metaphorische Varianten gleichermaßen berücksichtigt und damit maßgeblich an der Konstruktion eines umfassenden und transdisziplinären Ansatzes teilhat, der nicht nur auf Translation Studies oder kulturwissenschaft-
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der Übersetzung zwischen den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen kulturwissenschaftlicher, translationswissenschaftlicher und sprachphilosophischer Konzeptionen von Übersetzung und versucht diese für literaturwissenschaftliche Fragestellungen fruchtbar zu machen. Ziel der Arbeit ist es mithin nicht, eine eigene Definition von Übersetzung zu formulieren, sondern aufzuzeigen, inwiefern Affinitäten und Widersprüche zu bestehenden Konzeptionen von Übersetzung zum Tragen kommen, wenn sich literaturtheoretische Paradigmen in der Fiktionalisierung von Übersetzung selbst in den Blick nehmen. Dennoch werden einschränkend zwei Bemerkungen – eine pragmatische und eine programmatische – vorausgeschickt, die sich auf den Umgang mit dem Begriff der Übersetzung beziehen. Einerseits wird aufgrund des übergreifenden theoretischen Interesses der Studie nicht spezifisch zwischen Dolmetschen und Übersetzen unterschieden. Wenn von ‚Übersetzung‘ die Rede ist, ist damit sowohl mündliches als auch schriftliches Übersetzen gemeint. Gleiches gilt, wenn gelegentlich der Begriff der ‚Translation‘ zur Anwendung kommt, der entsprechend der translationswissenschaftlichen Konvention beides meint. Wenn explizit mündliches Dolmetschen gemeint ist, wird dies ausdrücklich erwähnt. Andererseits wird grundsätzlich eine Prämisse in Frage gestellt, die beinahe alle Theorien des Übersetzens meist unreflektiert voraussetzen, nämlich die Annahme, Sprachen seien reine und klar voneinander abgrenzbare Entitäten und man könne daher problemlos davon sprechen, von einer Sprache in die andere zu übersetzen. 107 Diese Vorstellung kommt insbesondere in den einschlägigen Metaphoriken des Über-Setzens zur Geltung, die Übersetzer als Brückenbauer zwischen Kulturen imaginieren und dadurch den Anschein erwecken, als gäbe es in der Tat feste Ufer liche Literaturwissenschaft beschränkt ist.“ ebd. S. 19. Da die Studie sich allerdings auf Raumkonzeptionen konzentriert und sich auf die geographische Zone der argentinischen Literatur beschränkt, sind die Schnittmengen mit dieser Arbeit, trotz des vergleichbaren konzeptionellen Ansatzes, gering. 107 Vgl. dazu Robert Stockhammers Ausführungen zu einer alternativen Bestimmung von ‚Weltliteratur‘, die in vielfältiger Weise mit Übersetzung und insbesondere dem ‚Schon-Übersetzten‘ in Verbindung steht und die gängigen theoretischen Bilder des Übersetzens, die einen Transfer von einer Spracheinheit in eine andere implizieren, kritisiert: „Wenn die Nationen schon manches Fremde in sich aufgenommen haben, ist das geläufige Bild der Über-Setzung und die ihm zugrundeliegende Vorstellung trennscharf voneinander zu unterscheidender Ausgangs- und Zielsprachen eine Idealisierung. […] Aber auch die zweite, metaphorisch-räumliche Verwendung des Bildes von der ÜberSetzung, der zufolge sich zumindest einzelne Äußerungsakte eindeutig bestimmten Sprachen zurechnen lassen, basiert auf einer theoretischen Fiktion.“ Stockhammer, Robert: Das Schon-Übersetzte. Auch eine Theorie der Weltliteratur. In: Poetica 41. Band (2009) 3-4. S. 257–291. S. 264.
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oder Sprachinseln, die klar voneinander unterschieden werden könnten. Kulturwissenschaftliche Konzepte, wie das der Hybridität, haben bereits aufgezeigt, dass diesen Vorstellungen unhaltbare, politisch und ethisch fragwürdige Identitätskonstruktionen zugrunde liegen, die auch in den ethnozentrischen Gewohnheiten geisteswissenschaftlicher Traditionen tief verwurzelt sind.108 Analog ist zu fragen, ob eine grundsätzliche heterogene Verfasstheit oder Hybridität von Sprachen nicht auch die Vorstellung einer ‚Einsprachigkeit‘ von Texten obsolet macht. In diesem Zusammenhang wird der These nachgegangen, dass die literarische Darstellung von Übersetzung eng mit der Problematik der Anders- und Mehrsprachigkeit verknüpft ist und daher in ihr das zum Vorschein kommt, was hier als ‚Glotta-Literatur‘ bezeichnet wird, nämlich eine Art von Literatur, deren Beschaffenheit wesentlich auf einer heterogenen ‚Sprachigkeit‘ basiert.109 Indem in den Werken an bestimmten Stellen diese mehrsprachige Verfasstheit analysiert wird, kann gezeigt werden, inwiefern die gängigen theoretischen Konzeptionen von Übersetzung an ihre terminologischen Grenzen stoßen oder sich in Aporien verstricken. Die Flexibilität im Umgang mit dem Begriff der Übersetzung versucht nicht nur dessen nicht-normativem Potential gerecht zu werden, sondern auch einem bestimmten Verständnis von Literatur, das sich in den hier untersuchten Werken immer wieder zeigt, indem es die Grenzen einer normativen Regelpoetik auf verschiedene Weise unterläuft oder zumindest kritisch reflektiert. 3.3 Zum Begriff der Glotta-Literatur Der Begriff der Glotta-Literatur greift auf ein sprachliches Stilmittel aus Aristoteles’ Poetik zurück. Demnach benennt er eine Literatur, welche diejenigen „fremdartige[n] Ausdrücke verwendet“110, die Aristoteles als γλωττα111 bezeichnet. Mit 108 In den Literaturwissenschaften ist das unter anderem daran ersichtlich, dass sich die einzelnen Unterdisziplinen immer noch überwiegend auf Basis von Nationalsprachen und Nationalliteraturen voneinander abgrenzen. 109 Zum Begriff der ‚Sprachigkeit‘ vgl. Stockhammer, Robert: und: Globalisierung, sprachig, - Literatur (Gegenwart?, deutsch?). In: Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen, Konzepte, Perspektiven. Hrsg. von Wilhelm Amann, Georg Mein u. Rolf Parr. Heidelberg: Synchron 2010. S. 333-352. Und: Stockhammer, Robert: Mehr Sprachigkeit. Afrikanische Philologie, von Ahmadou Kourouma zu Herodot. In: Über Grenzen sprechen. Mehrsprachigkeit in Europa und der Welt. Hrsg. von Conceicao Cunha, Daniel Graziadei u. a. Würzburg: Königshausen u. Neumann 2012. S. 85–102. 110 Aristoteles: Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: P. Reclam 1987. S. 71. 111 Die deutsche Übersetzung spricht von ‚Glosse‘, was auf die alternative griechische Schreibweise γλωσσα (glossa) zurückzuführen ist, die im ionischen Griechisch üblich
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Glotta ist dabei ein einzelnes Wort gemeint, das in der eigenen Sprache nicht üblich ist, aber dennoch verstanden wird. Im heute üblichen Sinn also ein ‚Fremdwort‘, ein aus einer anderen Sprache ‚eingewandertes‘ Wort. Glotta verweist in seiner doppelten Bedeutung auf die Mehrsprachigkeit in der Literatur: „Es bedeutet ja nicht nur einen einzelnen fremden Ausdruck, sondern auch ,die Sprache‘ im Allgemeinen. Das Moment der Fremdheit, das manchmal im einzelnen Wort isolierbar ist, affiziert auch das Ganze“.112 Eine polyglotte Literatur wäre demnach wortwörtlich eine Literatur, die entweder viele fremdartige Ausdrücke verwendet oder eben eine vieloder mehrsprachige Literatur. Aristoteles bezieht sich in seiner Poetik zweifellos auf die erste Variante, wobei er einen maßvollen Einsatz ‚unüblicher‘ Worte als angemessen empfiehlt, um der poetischen Sprache einen Ausdruck zu verleihen, der sie von der ‚banalen‘ Sprache abhebt: Die sprachliche Form ist erhaben und vermeidet das Gewöhnliche, wenn sie fremdartige Ausdrücke verwendet. […] Doch wenn jemand nur derartige Wörter verwenden wollte, dann wäre das Ergebnis entweder ein Rätsel oder ein Barbarismus: wenn das Erzeugnis aus Metaphern besteht, ein Rätsel, wenn es aus Glossen besteht, ein Barbarismus.113
Glotta-Literatur bezeichnet hier eher die zweite Variante, nämlich eine Literatur, die sich auf verschiedene Weise mit der Problematik der Viel- oder Mehrsprachigkeit auseinandersetzt. Sie muss sich daher dem aristotelischen Vorwurf des ‚Barbarismus‘ aussetzen, nimmt aber dafür ein Verständnis von Literatur in Anspruch, das nicht nur auf die Konstitution und Bewahrung eines ‚Eigenen‘ (Polis, Kultur, Sprache, Nation) bedacht ist, sondern sich dem ‚Fremden‘ gegenüber öffnet. Diese Öffnung kann zunächst einmal bedeuten, dass literarische Texte selbst mehrsprachig verfasst sind oder auch dass in ihnen die Problematik der Mehrsprachigkeit oder auch Sprachdifferenzen ästhetisch und/oder thematisch verhandelt wird. Insofern ist es naheliegend, die literarische Darstellung von Übersetzung dem skizzierten Konzept einer Glotta-Literatur zuzuordnen. Umgekehrt ist dies, selbst wenn man ein sehr weites Verständnis von Übersetzung zugrunde legt, nicht immer war, wohingegen γλωττα im attischen Griechisch verwendet wurde. Vgl. dazu Stockhammer, Robert: Das Schon-Übersetzte. S. 268. 112 Ebd. S. 268. Damit zeigt Robert Stockhammer auf, dass Sprache immer schon von Elementen des ‚Schon-Übersetzten‘ durchzogen ist, die eigene Sprache schon immer auch fremd ist, ja dass jede Sprache immer schon eine Sprache der Fremdheit ist, insofern sie nicht ohne Wörter mit ‚Migrationshintergrund‘ auskommt. Vgl. hierzu insbesondere S. 269-270. 113 Aristoteles: Poetik. S. 71-73. Die Metapher ist die andere Form des ‚fremdartigen Ausdrucks‘, die in diesem Zusammenhang keine größere Rolle spielt.
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der Fall.114 Nicht überall dort, wo Mehrsprachigkeit dargestellt wird oder das literarische Artefakt auf einer Ästhetik der Mehrsprachigkeit beruht, muss auch gleichzeitig Übersetzung ins Spiel kommen. Dennoch überschneiden sich die beiden Bereiche an vielen Stellen und man kann behaupten, dass die literarische Darstellung der Übersetzung eine besondere Form der Glotta-Literatur ist. Sie erlaubt nämlich – und das ist eine zentrale Ausgangsthese dieser Untersuchung – deren Problematik im literarischen Text selbst zu reflektieren. Um die verschiedenen ästhetischen Verfahren, die der Glotta-Literatur und damit auch der Fiktionalisierung von Übersetzung zugrunde liegen, besser herausarbeiten zu können, wird an entsprechenden Stellen der hier untersuchten literarischen Werke auf eine Glotta-Terminologie zurückgegriffen, die Robert Stockhammer vorgeschlagen hat.115 Zunächst unterteilt diese sich in die Glottamimesis und die Glottadiegesis. Glottamimetisch nennt sich „[d]ie Wiedergabe eines Sprechens in einer fingierten Welt, die das in der histoire gesprochene Idiom im discours darstellt“.116 Wenn etwa in einem deutschsprachigen Roman die erste Begegnung von Christopher Kolumbus mit den indigenen Bewohnern der Karibikinseln erzählt würde, müsste ein glottamimetisches Verfahren Kolumbus eine Art ‚Spanisch‘ 117 und die Inselbewohner eine (vermutlich rekonstruierte) indigene Sprache sprechen 114 Ausgehend von Robert Stockhammers Begriff des ‚Schon-Übersetzten‘, das ja unter anderem Aristoteles’ fremdartige Ausdrücke in der ‚eigenen‘ Sprache, bzw. die Fremdheit der Sprache allgemein meint, wäre Übersetzung ein sehr weiter Begriff. Allerdings zeigt Stockhammer auch, dass der traditionelle Übersetzungsbegriff, der von einem Transfer von einer Sprache in die andere ausgeht (diese also als getrennte Entitäten imaginiert), durch eben jenes Schon-Übersetzte unterlaufen wird. Vgl. dazu Stockhammer, Robert: Das Schon-Übersetzte. Hier insbesondere S. 258. Eben diese Problematik wird in den folgenden literarischen Analysen immer wieder aufgegriffen. 115 Stockhammer begründet seinen Vorschlag einleitend wie folgt: „Weil zur Untersuchung solcher Verfahren noch keine eingebürgerte Terminologie vorliegt, weil auch der Begriff der ‚Pseudo-Übersetzung‘ nicht alle diese Verfahren umfasst, sei hier, in heuristischer Absicht, ein kleines Kategorieninventar vorgeschlagen.“ Stockhammer, Robert: Wie deutsch ist es? S. 147. 116 ebd. S. 147. 117 Dass Kolumbus eine Mischung aus verschiedenen mediterranen Sprachen, eine Art lingua franca sprach, belegt Robert Wallisch in seinem Nachwort zu Kolumbus’ bekanntem erstem Brief De Insulis nuper in mari Indico repertis: „Folgerichtig blieb seine Sprache bis an sein Lebensende ein übernationales Idiom“. Kolumbus, Christopher: Kolumbus. Der erste Brief aus der Neuen Welt: Lateinisch/Deutsch: mit dem spanischen Text des Erstdrucks im Anhang. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Robert Wallisch. Stuttgart: P. Reclam 2000. S.79. Deutsch gehörte aber trotz allem nicht zu den Sprachen, die Kolumbus beherrschte.
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lassen und zwar auf der Ebene des discours, so dass dieser bereits dreisprachig wäre. Wird dieses Verfahren im ganzen Roman auch bei allen anderen, evtl. anderssprachigen Sprechern durchgehend eingehalten, so kann man dies nach Stockhammer als ikonische Glottamimesis bezeichnen: „Ein Fall von ikonischer Glottamimesis läge vor, wenn der discours auf der histoire-Ebene (das fingierte Sprechen in der erzählten Welt) mit dem discours auf der discours-Ebene (dem in der Erzählung notierten Sprechen) im gesamten Signifikanten-Material deckungsgleich wäre.“118 Wird die Anderssprachigkeit jedoch nur teilweise, also durch einzelne Wörter oder morphologische und syntaktische Verfremdungseffekte auf der Ebene des discours angezeigt, schlägt Stockhammer den Ausdruck „indexikalische Glotamimesis“119 vor. Ergänzend könnte man an dieser Stelle auch phonetische Stilmittel hinzufügen, wie sie etwa schon in Aischylos’ ältester erhaltener Tragödie zum Einsatz kamen, um die Sprache der Perser als nicht-griechisch zu markieren.120 Gibt es in der erzählten Welt jedoch Referenzen auf eine Anderssprachigkeit, die nicht auf der Ebene des discours dargestellt werden, dann ist das literarische Werk glottaamimetisch. Das wäre in diesem Beispiel der Fall, wenn Kolumbus Deutsch sprechen würde. In letzterem Fall könnte man allerdings innerhalb der erzählten Welt auf diese Anderssprachigkeit von Kolumbus hinweisen, was ein Verfahren der Glottadiegesis wäre: „Es wird erzählt, dass der discours auf der histoire-Ebene in einer bestimmten Sprache statt hat, die aber als solche nicht auf der discours-Ebene nachgebildet wird.“121 Geschieht jedoch auch das nicht, dann wäre der Text glotta-adiegetisch. Ein Beispiel für eine konsequente Anwendung des glottadiegetischen Verfahrens wurde bereits mit Heliodors Aethiopica gegeben. Dort wird immer dann, wenn Figuren aufeinandertreffen, die unterschiedliche Sprachen sprechen, explizit erwähnt, wer welche Sprache spricht und wie man sich gegenseitig verständlich macht: nämlich durch verschiedene mehrsprachige Übersetzerfiguren. Obwohl dieser Roman in Bezug auf die Figuren, die die Sprache des discours (Griechisch) nicht beherrschen, glotta-amimetisch ist, kann ihm in Bezug auf die Darstellung der Glotta eine hohe 118 Stockhammer, Robert: Wie deutsch ist es? S. 148. 119 ebd. S. 148. 120 Vgl. dazu Morenilla-Talens, Carmen: Die Charakterisierung der Ausländer durch lautliche Ausdrucksmittel in den 'Persern' des Aischylos sowie den 'Acharnern' und 'Vögeln' des Aristophanes. In: Indogermanische Forschungen 1989 H. 94. S. 158-176. Es wird hier ebenfalls gezeigt, dass bei Aristophanes ähnliche Mittel zum Einsatz kamen, allerdings in einer für die Komödie typischen Übertreibung, so dass im Gegensatz zu Aischylos die ‚fremdartige‘ Sprache in der Tat zu einer fehlerhaften, niedrigen oder, wie Aristoteles sagen würde, ‚barbarischen‘ Sprache wird. 121 Stockhammer, Robert: Wie deutsch ist es? S. 149. Das könnte etwa so geschehen: ‚Kolumbus fragte die Ureinwohner auf Spanisch: Gibt es hier Gold?‘
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Glaubwürdigkeit zugesprochen werden. Diese Glaubwürdigkeit ist, neben der Glottamimesis und der Glottadiegesis, die dritte Kategorie des vorgeschlagenen Terminologieinventars: „Dieser Sachverhalt sei hier glottapithanon genannt.“122 Dabei wird unterschieden, ob Textstellen implizit pithanon sind, was der Fall ist, wenn aufgrund der erzählten Welt klar ist, dass alle Figuren die gleiche Sprache sprechen – etwa alle spanischen Matrosen auf dem Schiff von Kolumbus. Treffen diese Figuren jedoch auf eine Figur, bei der nicht offensichtlich ist, dass sie dieselbe Sprache spricht, muss dies plausibilisiert werden: Würde dann etwa ausdrücklich erzählt, dass diese Figur das Spanische gelernt hat, würde es sich um eine explizit glottapithanone Konstruktion handeln, wäre es jedoch kaum nachvollziehbar, warum sie Spanisch sprechen kann und sie könnte sich trotzdem problemlos verständigen, müsste von einer glotta-apithanonen Konstellation gesprochen werden. 123
Diese „Glotta-Pithanisierung“124 des literarischen Werkes ist im Rahmen dieser Untersuchung von besonderem Interesse, wenn es um die Ethik des Übersetzens geht, da die Glaubwürdigkeit der Darstellung des Fremden, des Anderen und des Anderssprachigen nicht unabhängig von einem allgemeinen Umgang mit dem Fremden oder dem Anderen gedacht werden kann. Dass die hier skizzierte Glotta-Terminologie in unterschiedlichen Texten oft „in verschiedensten Kombinationen“125 auftritt, sich also z.B. nicht immer ausschließlich glottamimetische oder glottadiegetische Verfahren in einem Werk feststellen lassen, zeigt Stockhammer anhand exemplarischer Analysen. Daraufhin führt er noch eine vierte Kategorie ein, die die ersten drei nicht bloß ergänzt, sondern diese „auch schon wieder in Frage […] stell[t]“126, da sie zur Geltung kommt, wenn die ästhetischen Verfahren der Glotta-Literatur nicht eindeutig mit den bisher erläuterten Kategorien erfasst werden können, weil sie sich in gewisser Weise widersprüchlich verhalten. Ein derartiger Sachverhalt ist das Glotta-Aporetische: „Es lässt sich kein konsistentes ‚Original‘ der Rede ausmachen, die in der histoire gesprochen worden sein soll.“127 Dies ist zum Beispiel in einer bekannten Szene literarischer Übersetzungsdarstellung aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre der Fall: dem ‚Italien-Lied‘ von Mignon, „dessen hypothetische ‚Original‘-Sprache […] aus dem
122 Ebd. S. 151. Das griechische Wort pithanon könnte man hier mit ‚glaubwürdig‘ oder ‚plausibel‘ übersetzen. 123 ebd. S. 151. 124 ebd. S. 151. 125 ebd. S. 152. 126 ebd. S. 147. 127 ebd. S. 165.
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Einführungszusammenhang […] nicht widerspruchsfrei rekonstruiert werden kann.“128 Glotta-Aporien lassen sich auch in der einen oder anderen der hier analysierten literarischen Übersetzungsdarstellungen beobachten, womit Robert Stockhammers Hypothese, die in ähnlicher Form auch für diese Forschungsarbeit gilt, untermauert wäre: „Vielleicht jedoch ist dieses Glotta-Aporetische nicht nur ein halbwegs genau isolierbares Moment einzelner literarischer Texte, sondern ein Grenzwert des Literarischen überhaupt: etwas, zu dem Literatur als Literatur tendiert.“129 Insofern markiert Glotta-Literatur nicht nur eine bestimmte Art von Literatur, sondern eine Gattung, die in besonderer Weise über das Literarische von Literatur reflektieren lässt: Glotta-Literatur ist immer auch Meta-Literatur. Aus diesem Grund wird die hier erläuterte Glotta-Terminologie nicht unbedingt immer ausführlich und schematisch auf jeden der untersuchten Texte angewandt, sondern nur an den Stellen herangezogen, an denen sie für die Erläuterung der Grundthesen besonders aussagekräftig sind, also etwa dort, wo Glotta-Aporien auf die Widersprüche einer Hermeneutik des Übersetzens hinweisen. Dies gilt aber auch dort, wo Strategien der Glotta-Pithanisierung die ethische Dimension des Übersetzens berühren. In Rückgriff auf Aristoteles’ Poetik könnte man auch vermuten, dass es eine spezifische Poetologie des Übersetzens gibt, die die Fremdartigkeit der Glotta in ihrer literarischen Darstellung zu nutzen weiß, und sei es nur, um – wie man bei Cervantes’ Don Quijote gesehen hat – die fragwürdig gewordenen dichotomischen Konzeptionen des ‚Erhabenen‘ oder des ‚Barbarischen‘ selbst wiederum produktiv nutzbar zu machen.
128 ebd. S. 165. Vgl. dazu auch die ausführliche Analyse in Stockhammer, Robert: Das Schon-Übersetzte. Hier: S. 285-290. 129 Stockhammer, Robert: Wie deutsch ist es? S. 166.
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4. H ERMENEUTIK DES Ü BERSETZENS Im Anfang war der Sinn.
Wer übersetzt, sucht einen Sinn. Er versucht, die Worte eines anderen zu verstehen und die Bedeutung der fremden Worte in die eigene Sprache zu transportieren. In dieser Hinsicht ist die Hermeneutik der Übersetzung kein Phänomen, da sich in einer bestimmten historischen Epoche zu verankern ließe. Deshalb lässt sich nach dem Sinn fragen, warum diese Untersuchung mit zwei Werken einsetzt, die gemeinhin der deutschen Romantik zugeordnet werden? Inwiefern erscheint es aufschlussreich, sich gerade dieser literarischen Strömung zu widmen, wenn man die literarische Darstellung der Übersetzung erforscht? Geht man, wie es diese Studie tut, hypothetisch davon aus, dass jede literarische Darstellung von Übersetzung gleichzeitig eine direkte oder indirekte Reflexion hermeneutischer, poetologischer und ethischer Dimensionen von Übersetzung ist, dann muss man dabei die hermeneutische Dimension als die den anderen zugrunde liegende begreifen. Das grundsätzliche ‚Verstehen‘ des Anderen, seiner Sprache und seiner (schriftlichen oder mündlichen) Rede bildet zunächst den Kern jeder Poetik oder Ethik der Übersetzung. Aus diesem Grund bietet es sich an, zuallererst das für diese Untersuchung ganz wesentliche Verhältnis von Hermeneutik und Übersetzung zu erläutern. Und dieses Verhältnis erfährt um 1800 und insbesondere durch die Vertreter der deutschen Romantik eine Neubewertung, die sowohl die Hermeneutik als auch das moderne Übersetzungsverständnis bis heute nachhaltig prägt. Was hier als Hermeneutik des Übersetzens bezeichnet wird, darf als allgemeines Phänomen gelten, das mindestens so lange existiert, wie Texte von einer Sprache in eine andere übertragen werden.1 Und ebenso prinzipiell lässt sich behaupten, dass
1
Friedmar Apel behauptet sogar, dass Hermeneutik und Übersetzung sogar noch vor jeder interlingualen Übertragung als innersprachliche Textpraxis schon immer miteinander verbunden waren: „Die Entstehung der Hermeneutik in der ursprünglichen Bedeutung als
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die Diskussion über Theorie und Praxis der Übersetzung sich schon immer auch mit den Grenzen der Übersetzbarkeit beschäftigt hat, indem sie die Problematik der ‚richtigen‘ Methode der Textauslegung zu eruieren versuchte. Die Frage nach der Möglichkeit des Übersetzens und mit ihr die des Textverstehens im Allgemeinen stellt sich aber in der Moderne noch einmal grundsätzlich neu. Denn im Zuge der Aufklärung erhält ‚Sprache‘ aus verschiedenen Gründen einen anderen Status, der hier in zweierlei Hinsicht relevant ist: aus epistemologisch-sprachphilosophischer und aus anthropologisch-historischer Sicht. Der mit Wilhelm von Humboldts Reflexionen zur Sprache und vor allem der Verschiedenheit der Sprache/n 2 eng verbundene „Aufbruch in eine moderne Sprachwissenschaft“3 hat gezeigt, dass Sprache und Denken einerseits nicht voneinander getrennt werden können und dass Sprache/n andererseits keine geschlossenen und universell gültigen Systeme sind, sondern einem historischem Wandel unterliegen, der sich in kulturell und gesellschaftlich verschiedener Weise in Sprache/n und Denken niederschlägt. Das bedeutet zunächst auf die epistemologische Dimension bezogen, dass (säkularisierte) Sprache nicht länger als bloßes Werkzeug der Erkenntnis dienen kann, das in allen Sprachen über verschiedene Zeichen jeweils dieselbe universelle Bedeutung (das Bezeichnete) ausdrückt. „Wenn – woran Humboldt keinen Zweifel hat […] – Sprechen Denken ist, […] dann stellt sich angesichts des radikalen sprachlichen und das heißt auch denkerischen Andersseins durchaus die Frage nach der Einheit des menschlichen Geistes.“4 Verkürzt gesagt, drückt jede Sprache ein eigenes Denken, eine eigene Weltsicht und eine eigene ‚Wahrheit‘ aus. Das hat zwei entgegengesetzte Konsequenzen: Einerseits wird Übersetzen dadurch prinzipiell problematisch (wenn nicht gar unmöglich), da nicht mehr gesicher ist, ob fremdes Auslegungslehre entstand im Zusammenhang mit dem Problem der intralingualen Übersetzung. Die Werke Homers als kanonische Texte waren nämlich in der Spätantike nicht mehr unmittelbar verständlich, daher stellten die alexandrinischen Hermeneuten Texte her, in denen veraltete durch ein entsprechendes neues ersetzt wurden.“ Apel, Friedmar: Literarische Übersetzung. S. 18. 2
Vgl. dazu den Sammelband der wichtigsten Schriften zur Sprachphilosophie: Humboldt, Wilhelm von: Schriften zur Sprache. [zwischen 1806 und 1835]. Herausgegeben von Michael Böhler. Stuttgart: Philipp Reclam 1973. Humboldt schreibt an vielen Stellen seiner sprachphilosophischen Überlegungen bereits das Problem der Übersetzung mit. Exemplarisch heißt es etwa in Über die Natur der Sprache im allgemeinen: „es läßt sich im Grunde behaupten, daß auch bei durchaus sinnlichen Gegenständen die Wörter verschiedener Sprachen nicht vollkommene Synonyma sind, und daß wer ίππος, equus und Pferd ausspricht, nicht durchaus und vollkommen dasselbe sagt.“ ebd. S. 11.
3
Trabant, Jürgen: Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein. 1. Aufl. München: C.H. Beck 2006. S. 261.
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ebd. S. 261.
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Denken in fremder Sprache mit dem eigenen ohne weiteres kompatibel ist. Andererseits erlaubt und verspricht das Übersetzen den Zugang zu anderen Sprachen und damit auch zu anderen Wahrheiten und Erkenntnissen.5 Die Folge dieser Entwicklung ist die Entstehung der modernen wissenschaftlichen Disziplinen der Sprachund Literaturwissenschaften sowie ein neuer methodischer Ansatz eines kritischen Sprach- und Textverstehens und damit gleichzeitig auch: die Hermeneutik der Übersetzung. Die Erkenntnis, dass Sprache und Denken nicht voneinander zu trennen sind, hat Auswirkungen auf den zweiten Aspekt modernen Sprachverständnisses, nämlich den der historischen Wandelbarkeit von Sprache, die bis dato als eine dem Denken äußerliche und daher unbedeutende Charakteristik galt, da sie für alle Menschen und Kulturen universelle Geltung zu besitzen schien. Auch dies ändert sich im 18. Jahrhundert mit einer neuen und differenzierten Auffassung von Geschichte, wie Apel erläutert: Brisant wird die hermeneutische Bestimmung des Übersetzungsvorgangs erst mit der Entstehung des neuzeitlichen Geschichtsbegriffs […]. Wenn alle Dinge einer wesentlichen Veränderung, nicht nur einer äußerlichen, unterworfen sind, wenn Sprache, Literatur, Staaten, Gesellschaften und Nationen ihre eigene Geschichte haben und gegeneinander unverwechselbar sind, so entsteht einerseits die Frage, ob man überhaupt verstehen kann, was einmal gemeint war, andererseits aber die, ob Gehalte einer anderen Sprache nicht unauflöslich mit ihrer spezifischen Form und ihren historischen Bedingungen verknüpft sind.6
5
In diesem Zusammenhang ist auch das aufklärerische Projekt einer universellen Wissenssystematisierung zu begreifen, die die philosophische Erfassung der Welt mit der neuen naturwissenschaftlichen, anthropologischen und eben auch sprachwissenschaftlichen Erfassung der Erde zusammenbringt. Dass der Kolonialismus der frühen Moderne und die damit verbundenen Missionars- und Forschungsreisenden, zu denen ja nicht zuletzt auch Wilhelm von Humboldts Bruder Alexander gehörte, dabei eine zentrale Rolle gespielt haben, belegt ersterer, indem er gleichzeitig die Notwendigkeit einer (erst noch zu leistenden) Systematisierung dieser Erkenntnisse feststellte: „So große Fortschritte aber auch in unsrer Zeit Philosophie und Philologie gemacht haben, so sehr das Studium aller kultivierten Sprachen zugenommen hat, und so sehr, vorzüglich durch Missionarien und Reisende, die Aufmerksamkeit auch auf die rohen und nur durch ihren Bau interessierenden gerichtet worden ist, so ist dennoch für den hier angegebenen Gesichtspunkt [der Grundlegung einer Allgemeinen Sprachwissenschaft; R.B.] noch unglaublich wenig geschehen.“ Humboldt, Wilhelm von: Thesen zur Grundlegung einer Allgemeinen Sprachwissenschaft. S. 16. Auf diesen Zusammenhang sowie die problematische Unterscheidung in kultivierte und rohe Sprachen wird im Kapitel 6 zur Ethik der Übersetzung eingegangen.
6
Apel, Friedmar: Literarische Übersetzung. S. 19.
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Diese historischen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen führten zu einer grundlegenden Neukonzeption der Hermeneutik und im Zuge dessen auch zur Gründung einer modernen Übersetzungswissenschaft, die beide ihren Ausgangspunkt in den theoretischen Überlegungen Friedrich Schleiermachers haben. 7 Er versucht der beschriebenen Problematik durch ein dialektisches Verstehen einer Rede (oder eines Textes) zwischen der historisch sich wandelnden Sprache auf der einen Seite und dem in dieser Sprache sich befindenden Denkers und Urhebers dieser Rede (dieses Textes) auf der anderen Seite gerecht zu werden: „Wie jede Rede eine zwiefache Beziehung hat, auf die Gesamtheit der Sprache und auf das gesamte Denken ihres Urhebers: so besteht auch alles Verstehen aus den zwei Momenten, die Rede zu verstehen als herausgenommene aus der Sprache, und sie zu verstehen als Tatsache im Denkenden.“8 Ersteres nennt Schleiermacher dann das grammatische und letzteres das psychologische Verstehen bzw. Auslegen der hermeneutischen Kunst. „Das Verstehen ist nur ein Ineinandersein dieser beiden Momente (des grammatischen und psychologischen).“9 Allein dieses Ineinander zeigt, dass die Schleiermachersche Hermeneutik mit Hilfe einer komplexen Dynamik des Verstehens generiert wird, die sich noch verschärft, wenn die zu interpretierende Rede in einer fremden Sprache erfolgt und von einem in dieser fremden Sprache sich befindenden Urheber produziert wird. Konsequenterweise fasst Schleiermacher die Problematik des Übersetzens an einer anderen Stelle in Analogie zum innersprachlichen hermeneutischen Verstehen: Wenn nun das Verstehen auf diesem Gebiet selbst in der gleichen Sprache schon schwierig ist, und ein genaues und tiefes Eindringen in den Geist der Sprache und in die Eigenthümlichkeit des Schriftstellers in sich schließt: wie vielmehr nicht wird es eine hohe Kunst sein, wenn von den Erzeugnissen einer fremden und fernen Sprache die Rede ist! Wer denn freilich diese Kunst des Verstehens sich angeeignet hat, durch die eifrigsten Bemühungen um die 7
Daniel Weidner hat die Bedeutung Schleiermachers für den Zusammenhang von Hermeneutik und Fremd- oder Anderssprachigkleit (die nicht identisch sind, aber gerade im hermeneutischen Verstehen oft eng miteinander zusammenhängen) detailliert nachgezeichnet: „Weil dabei das Verstehen am Leitfaden des Sprachverstehens vorgestellt wird – den Fremden verstehen heißt soviel wie seine Sprache verstehen –, ist die Hermeneutik auch für das Problem des Fremdsprachigkeit von zentraler Bedeutung gewesen und hat etwa lange die philosophische Übersetzungstheorie beherrscht.“ Weidner, Daniel: Frevelhafte Doppelgänger und sprachbildende Kraft. Zur Wiederkehr der Anderssprachigkeit in Schleiermachers Hermeneutik. In: Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Hrsg. von Susan Arndt, Dirk Naguschewski u. Robert Stockhammer. Berlin: Kadmos 2007. S. 229-247. S. 229.
8
Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. S. 77.
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ebd. S.79.
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Sprache, und durch genaue Kenntniß von dem ganzen geschichtlichen Leben des Volks, und durch die lebendigste Vergegenwärtigung einzelner Werke ihrer Urheber, den freilich, aber auch nur d e n, kann es gelüsten von den Meisterwerken der Kunst und Wissenschaft das gleiche Verständniß auch seinen Volks- und Zeitgenossen zu eröffnen.10
Eben danach aber, so scheint es, gelüstete es die Romantiker, die ein äußerst großes Interesse für fremde Kulturen, Sprachen und Werke sowie für die theoretische wie praktische Aufgabe der Übersetzung an den Tag legten. In Abgrenzung zur Klassik zielte dieses Interesse insbesondere auch auf Sprachen und Kulturen jenseits der griechischen und römischen Autoren11 und zeigte sich zum einen in einer für die deutsche Literatur äußerst einflussreichen Übersetzungsproduktivität und zum anderen in einem direkten Einfluss auf die literarische Produktion selbst. 12 Es kam also zu einer wechselseitigen Durchdringung der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit der Übersetzung und dem poetischen Schaffen der Romantiker, die nicht zuletzt in Abgrenzung zu den aufklärerisch geprägten Schriftstellern der deutschen Klassik und vor dem Hintergrund der napoleonischen Kriege und der französischen Okkupation auch der politisch-ästhetischen Identitätsfindung diente.
10 ebd. S. 44-45. 11 Insbesondere wurden die europäischen ‚Meisterwerke‘ von Shakespeare, Cervantes u.a. übersetzend ‚entdeckt‘. Später richtete sich das Interesse auf den Ägypten und den Orient, wo man den Ursprung aller Sprache und Kultur noch vor die griechische und römische Klassik zurückverlegen konnte. 12 Berman beschreibt diese Übersetzungsproduktivität exemplarisch (wenn auch nicht erschöpfend): „Il est bien connu que les Romantiques allemands, du moins ceux qui se sont regroupés autour de la revue Athenäum, ont produit une série de grandes traductions qui se sont avérées être un bien durable du patrimoine allemand: A.W. Schlegel (avec Ludwig Tieck) a traduit Shakespeare, Cervantes, Calderon, Pétrarque, ainsi que de nombreuses autres œuvres espagnoles, italiennes et portugaises. Schleiermacher, quant à lui, a traduit Platon.“ Berman, Antoine: L'Epreuve de l'étranger. Culture et traduction dans l'Allemagne romantique: Herder, Goethe, Schlegel, Novalis, Humboldt, Schleiermacher, Hölderlin. [1984]. Paris: Gallimard 1995. S. 25. Apel verweist darauf, dass die Übersetzungspraxis der Romantiker sich innerhalb einer größeren Übersetzungstradition in Deutschland positioniert: „Seit Luthers Bibelübersetzung gibt es eine Tradition, in der Übersetzung immer wieder die Probe auf den jeweiligen Stand der Sprache und der Literatur macht, darüber hinaus aber gibt es dramatische Wendepunkte gerade in der deutschen Literaturgeschichte, wo Übersetzung und andere Formen der Rezeption fremdsprachiger Literatur selbst die Ablösung abgestorbener Traditionen und die Herausbildung neuer Ausdrucksformen darstellt.“ Apel, Friedmar: Literarische Übersetzung. S. 31. Letzteres gilt in besonderem Maße für die deutschen Romantiker.
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Die Epoche der deutschen Romantik (und hier speziell die Frühromantik) stellt eine Zeit dar, in der im Zuge der neu entstehenden Sprach- und Literaturwissenschaft auch die Grundlagen für eine moderne Translationswissenschaft gelegt werden, deren Wirkungskraft sich weit über die deutsche Sprache und Kultur hinaus entfaltet. Die deutschen Romantiker haben vielleicht als erste die Grenzen und Aporien des aufklärerischen Projektes der allgemeinen und universellen Wissenssystematisierung erkannt und in ihren eigenen theoretischen und literarischen Projekten reflektiert. Die Engführung von Literatur und Übersetzung, die das hermeneutische Verstehen fremder und fremdsprachlicher Texte ins Zentrum oder an den Anfang des poetischen Schaffens stellte, hat die allein auf Vernunft begrenzte Epistemologie der Aufklärung vielleicht nicht gänzlich verworfen, aber immerhin auf ihre Beschränktheit verwiesen und ihr ein sinnliches und poetisches Wissensmodell entgegengestellt, das sich nicht allein in einem rationalen Verstehen und Vereinnahmen des Anderen oder des fremden Textes erschöpfen wollte. Sprache und Poesie bargen den Romantikern das Versprechen einer Erkenntnis auch jenseits der reinen Vernunft, die durch die Übersetzung fremder Poesie zugänglich gemacht werden könnte. „Übersetzen als verstehende, analoge Nachschöpfung, als äußerlich in Sprache wieder produktiv gewordenes Verstehen ist ein entscheidendes Strukturelement“13 der Romantik, dem in dieser Studie nachgegangen wird. Es erscheint es aus diesen Gründen sinnvoll, die hier vorliegende Untersuchung literarischer Übersetzungsdarstellungen mit diesem historischen Schwerpunkt zu beginnen, auch weil er einen zentralen Bezugspunkt für spätere Epochen darstellt. Die progressive Universalpoesie und die Übersetzung Angesichts der skizzierten intensiven praktischen und theoretischen Auseinandersetzung mit Übersetzung scheint es zunächst verwunderlich, wie wenig die Darstellung des Übersetzens in die literarische Produktion der Romantiker selbst eingegangen ist. Lassen sich etwa bei Goethe noch mehrere zentrale Übersetzungsdarstellungen finden (eben im Faust, aber auch im Wilhelm Meister14), so treten diese in der romantischen Literatur auf den ersten Blick nur sehr vereinzelt auf. Warum sind trotz der intensiven Beschäftigung mit Übersetzungstheorie und praxis in der Romantik vermeintlich kaum literarische Darstellungen von Überset13 Huyssen, Andreas: Die frühromantische Konzeption von Übersetzung und Aneignung. Studien zur frühromantischen Utopie einer deutschen Weltliteratur. Schlieren, Zürich 1969. S. 83. 14 Zur ‚Übersetzerfigur‘ Mignon vgl. die Analysen von Robert Stockhammer: Stockhammer, Robert: Die gebrochene Sprache des Literarischen. Goethe gegen Searle. In: Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Hrsg. von Susan Arndt, Dirk Naguschewski u. Robert Stockhammer. Berlin: Kadmos 2007. S. 137-148. Und: Stockhammer, Robert: Das Schon-Übersetzte.
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zung zu finden? Diese Frage führt zum Kern des romantischen Übersetzungsverständnisses, das vor allem in der Frühromantik von einem sehr weit gefassten Übersetzungsbegriff ausgeht. Es fand eine weitreichende Gleichsetzung von Übersetzen und Dichten statt, so dass die Darstellung des Übersetzens immer auch als Darstellung des Dichtens selbst gelesen werden kann. Poetische Schöpfungskraft geht einher mit der Fähigkeit zum Übersetzen und gleichzeitig ist beides Voraussetzung für eine grundlegende Erneuerung der Literatur und Poesie als neu zu schaffende Lebenspraxis, die Kreation vor allem auch als Re-Kreation und Weiter-Bildung verstand: Grob gesagt ist es das, was man die deutsche Romantik nennt, die zugleich der intensive, aufgeregte, gequälte, faszinierte Moment einer Reflexion über das Übersetzen, seine Möglichkeit, seine Notwendigkeit, seine Bedeutung für die deutsche Sprache und Literatur und ein Moment gewesen ist, in dem ein gewisses Denken der Bildung, der Einbildung und aller Modifikationen des Bildens nicht von dem zu trennen ist, was man den Imperativ der Übersetzung, die Aufgabe des Übersetzers, das Übersetzen-Müssen zu nennen wohl berechtigt ist.15
Friedrich von Hardenberg hat diesen Zusammenhang in einem Brief an Wilhelm von Humboldt auf den Punkt gebracht: „Übersetzen ist so gut dichten, als eigne Werke zu stande bringen […] Am Ende ist alle Poesie Übersetzung“.16 Folgt man diesem leitmotivischen Ausspruch von Novalis, muss man die (früh)romantische Poesie und die programmatische progressive Universalpoesie als eine Poetologie der Übersetzung verstehen. Dass eine so verstandene Poetologie der Übersetzung wiederum eng mit den Begrifflichkeiten der Hermeneutik verwoben ist, zeigt sich besonders deutlich an mehreren Stellen der Athenäums-Fragmente, denen hier ein exemplarisches Zitat Friedrich Schlegels entnommen wird: „Um aus dem Alten ins Moderne vollkommen übersetzen zu können, müßte der Übersetzer desselben so mächtig sein, daß er allenfalls alles Moderne machen könnte; zugleich aber das Antike so verstehn, daß ers nicht bloß nachmachen, sondern allenfalls wiederschaffen könnte.“17 Insofern ist die Hermeneutik des Übersetzens, die gewissermaßen das theoretische Fundament bildet, in der deutschen Romantik kaum von dem zu trennen, was später als Poetik des Übersetzens in einem eigenen Kapitel er15 Derrida, Jacques: Theologie der Übersetzung. Übersetzt aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek. In: Übersetzung und Dekonstruktion. Hrsg. von Alfred Hirsch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. S. 15–36. S. 16. 16 Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs: historisch-kritische Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Paul Kluckhohn; Richard H. Samuel; Hans-Joachim Mähl. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer 1960. Vierter Band, S. 237. 17 Schlegel, Friedrich von: Kritische Schriften und Fragmente. Band 2. Studienausg. in 6 Bd. Herausgegeben von Ernst Behler. Paderborn [u.a.]: Schöningh. S. 147.
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läutert wird. Insbesondere Borges bezieht sich explizit auf Novalis und die Frühromantiker, um die hermeneutische Dimension des Übersetzens durch die poetische weitgehend zu ersetzen. Der weitreichende Zusammenhang von Übersetzung, Hermeneutik und romantischer Poetologie wurde in zwei umfangreichen Studien in ausführlicher Weise erforscht. Andreas Huyssen fasst die wichtigsten Schlagwörter folgendermaßen zusammen: Übersetzung als Mittel, die Universalpoesie voranzutreiben. Prinzipielle Progressivität des Übersetzens. Übersetzung als spezifisch romantische Schaffensmöglichkeit; Übersetzen ist hier eine Geisteshaltung und eine Formmöglichkeit, die auf ein höchstes Ziel ausgerichtet ist: auf die progressive Universalpoesie Friedrich Schlegels, auf enzyklopädische Universalität und auf die magische Poesie des Novalis.18
Antoine Berman stellt darüber hinaus den Zusammenhang zu den wichtigen Konzepten der Kritik und des literarischen Textverstehens her: Les Romantiques […] ont proposé une théorie de la poésie qui fait de celle-ci une traduction et, inversement, fait de la traduction un double de la poésie. […] ils ont interpreté la traduction comme un double inférieur de la critique et de la compréhension, parce que celles-ci leur paraissaient dégager plus purement l’essence des œuvres littéraires.19
Den engen Zusammenhang von Hermeneutik und Übersetzen begreifen beide Studien als genuin romantische Poetologie.20 Die folgenden Analysen situieren sich daher weitestgehend im Rahmen dieser Forschungen und verstehen sich als exemplarische Ergänzungen, da sie erlauben, den erarbeiteten theoretischen Rahmen in zwei konkreten literarischen Werken zu spiegeln, ihn dabei aber auch kritisch zu hinterfragen. Eine zentrale Rolle bei diesen Überlegungen spielt dabei die Analogie der Bewegung vom Eigenen ins Fremde und zurück, die sowohl für die Hermeneutik als auch für die Übersetzung charakteristisch ist. Diese Bewegung ist einerseits die des hermeneutischen Zirkels und veranschaulicht andererseits die des romantischen Reise-Motivs: der Aufbruch aus dem Eigenen, der Heimat in unbekannte, fremde 18 Huyssen, Andreas: Die frühromantische Konzeption von Übersetzung und Aneignung. S. 28. 19 Berman, Antoine: L'Epreuve de l'étranger. S. 138. 20 Eine weitere, sehr lesenswerte Studie, die sich zwar nicht ausschließlich, aber doch in großem Umfang, diesem Komplex widmet, stammt von: Apel, Friedmar: Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens. Heidelberg: Winter 1982.
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Welten und schließlich die Rückkehr ins Eigene, zu sich selbst, zu seiner wahren Bestimmung (die nicht selten diejenige des Poeten ist): „le propre nʼaccède à luimême que par lʼexpérience peut être le Reise, le voyage romantique dʼHenri dʼOfterdingen, au terme duquel le propre et lʼétranger découvrant leur identité poétique“21. Neben der Reise lässt sich in diesem Zusammenhang ein weiteres zentrales Motiv ausmachen: das der alten und ältesten Sprachen und Schriften, die in den romantischen Werken in verschiedensten Formen wiederkehren, sei es als Hieroglyphen, Arabesken oder andere Chiffren, die jeweils auf eine ältere, frühere und teilweise verlorengegangene ‚Wahrheit‘ verweisen, auf die man durch die übersetzende Entschlüsselung vielleicht wieder zugreifen, auf poetische Art und Weise eine überbrückende Verbindung herstellen könnte. Dieser poetologischen Bewegung der Übersetzungshermeneutik entspricht auf historischer und sprachphilosophischer Ebene das triadische Modell22 von verlorenem Paradies/Ursprache – der mangelhaften, disparaten Gegenwart mit ihrer babylonischen Sprachenvielfalt – sowie dem zukünftigen goldenen Zeitalter, 23 in dem al21 Berman, Antoine: L'Epreuve de l'étranger. S. 259. 22 Dieser historische Dreischritt war nicht exklusiv für die Romantik von Bedeutung, sondern stellte bereits wesentlich früher ein weiter verbreitetes Geschichtskonzept dar, das insbesondere „dem aufklärerisch-idealistischen grand récit des Geschichtsprozesses zugrunde liegt […]. Dieser Prozeß führt bekanntlich von einem geschichtlichen Naturzustand der unmittelbaren Einheit, in dem der Mensch sich noch nicht aus der natürlichen Determination gelöst hat, über eine Epoche der Entzweiung, in der er zum Bewußtsein seiner selbst, seiner Vernunft und Freiheit gelangt, dieses Bewußtsein aber mit der geschichtlichen Entfremdung von der Natur, […] zu einem Zeitalter der Versöhnung, in dem […] die verlorene unmittelbare Einheit auf einer höheren Stufe als eine vermittelte wiedergewonnen wird.“ Mülder-Bach, Inka: Am Anfang war … der Fall. Ursprungsszenen der Moderne. In: Am Anfang war … Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne. Hrsg. von Inka Mülder-Bach u. Eckhard Schumacher. Paderborn: Fink, Wilhelm 2008. S. 107–129. S. 114. Insofern unterscheiden sich Romantiker und Aufklärer in Bezug auf ihre geschichtsphilosophischen Konzeptionen kaum. Über die Wege, wie man die zukünftige Einheit wieder herstellen könne, differieren die Auffassungen hingegen stärker. 23 Eine der nach wie vor aufschlussreichen und grundlegenden Studien zum Konzept des goldenen Zeitalters in der Romantik und speziell bei Novalis findet sich in: Mähl, HansJoachim: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg: Winter 1965. Mähl zeigt dabei auch, wie diese Idee mit dem triadischen Geschichtsmodell verbunden ist (S. 305-309), liest aber insbesondere Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen insgesamt zu einseitig als Einlösung des utopischen Ansatzes in der Literatur bzw. im abschließenden Märchen des Romans (S. 397-423).
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le Sprachdifferenz wieder aufgehoben ist. In diesen und anderen Studien wird wiederholt nahegelegt, dass es gerade die alles vereinende Universalpoesie sei, die den Weg ins zukünftige goldene Zeitalter ebnen soll und kann.24 Diese allgemeine Grundthese wird im Folgenden aufgegriffen, um ihr bis zu einem gewissen Grad nachzugehen. Vor allem aber soll sie in Frage gestellt werden. Es wird gezeigt, dass die theoretischen Reflexionen und die literarischen Werke der Romantik in diesem einfachen, poetologischen Ideal nicht ohne Weiteres aufgehen, sondern dass sie sich dessen utopischen Gehalts durchaus bewusst waren. Man kann feststellen, dass dem triadischen Modell von Sprache und Geschichte ein negatives Verständnis des Babel-Mythos unterliegt, der die Sprachverwirrung bzw. die Sprachenvielfalt als Katastrophe, als Unglück interpretiert, das möglichst wieder aufgehoben werden muss25. Dieser negativen Interpretation Babels stehen in der Romantik allerdings positive Konnotationen gegenüber: etwa das positiv wirkungsvolle Chaos, sowie das Fragmentarische und Unvollendete der Poesie. Es gibt also einen scheinbaren Widerspruch oder, wie Winfried Menninghaus es ausdrückt, eine „Ambivalenz der romantischen Geschichtsphilosophie“26, die einer24 Exemplarisch fasst Huyssen dies so zusammen: „In enger Nachbarschaft zum BabelTopos finden sich meist Spekulationen, Vermutungen und gelehrte Anmerkungen zu der verlorenen Ursprache der Menschheit, deren einzige in die Gegenwart hineinragenden Überreste man in der deutschen Sprache und in aller Poesie sah. Zu diesem Fragenkomplex zählt auch der Topos des goldenen Zeitalters, dessen außerordentliche Bedeutung für die romantische Dichtungstheorie wie für die romantische Ansicht vom Menschen, seiner Geschichte und seiner Religion bekannt ist.“ Huyssen, Andreas: Die frühromantische Konzeption von Übersetzung und Aneignung. S. 32. 25 Vgl. dazu u.a die Arbeit von Jürgen Trabant, der die Problematik so zusammenfasst: „In diesem Mythos wurzelt die tiefste europäische Vorstellung von der Sprache: Einheit der Sprache ist gut, paradiesisch, Vielfalt der Sprache ist schlecht, sie ist Strafe und Verlust, Verlust der ursprünglichen paradiesischen Einheit und der ursprünglich richtigen Wörter. Gegen diese von dem Gründungstext unserer Kultur ausgehende nostalgische Vorstellung von der sprachlichen Einheit ist kein Kraut gewachsen. Sie ist gleichsam unausrottbar, und jegliche Bemühung, sprachliche Vielfalt als etwas Positives zu denken, ist daher auch weitgehend zum Scheitern verurteilt.“ Trabant, Jürgen: Europäisches Sprachdenken. S. 21. George Steiner hat seine umfassende Studie zur Sprache und zum Übersetzen programmatisch daran orientiert, dem Mythos Babel auch einen positiven Aspekt zur Seite zu stellen: „dieses Buch wendet sich an jeden, der weiß, daß Babel zugleich ein Desaster und – dies ist die Herkunft des Wortes Desaster – ein Sternenregen für die Menschheit war.“ Steiner, George: Nach Babel. S. XIII 26 Menninghaus, Winfried: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987. S. 217.
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seits das Entkommen aus einer defizitären Gegenwart auf eine goldene Zukunft verschiebt und andererseits die Realisierung desselben im Chaos, im fragmentarischen Jetzt der Poesie reklamiert. Man kann diesen Widerspruch insofern auflösen, als das Programm der ‚progressiven Universalpoesie‘ bereits beide Momente vereint und es sich der Unmöglichkeit der Aufhebung der Sprachgrenzen durchaus bewusst war. Dieses triadische Modell machte es aber als ‚Antriebskraft‘ zur poetischen und übersetzerischen Produktion nutzbar, indem gerade die Betonung des Progressiven, des Werdens, das sich niemals Vollendende im Zentrum steht, dass es sich – wenn überhaupt – nur um eine unendliche Annäherung an ein ‚goldenes Zeitalter‘ handeln kann, wie es im Athenäumsfragment 116 heißt: Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. […] Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. […] Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.[Kursivierungen von R.B.]27
In der hier zentralen Bedeutung der Reflexion kann man ein weiteres Mal den Charakter des Tautologischen erkennen, der der Hermeneutik der Übersetzung, wie eingangs erläutert, eigen ist. Eine der Konsequenzen dieser unendlichen Annäherungen ist allerdings, dass das kreisende Modell vom Eigenen ins Fremde und zurück nicht als einmalige, einseitige oder eindimensionale Aufgabe zu verstehen ist, welche nur auf die Stabilisierung eines dominanten Eignen abzielt, sondern gerade das Fremdwerden des Eigenen einkalkuliert. In den zeitgenössischen Übersetzungstheorien geht es auch und gerade darum, zuvörderst das Eigene fremd werden zu lassen, also vielleicht weniger um eine An-Eignung28, sondern eher um eine ‚AnFremdung‘: Vor allem die übersetzungstheoretischen Überlegungen von Friedrich Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt, aber auch von Goethe deuten in diese Richtung, die man gemeinhin als ‚verfremdende Übersetzung‘ bezeichnet: 27 Schlegel, Friedrich von: Kritische Schriften und Fragmente. Band 2. S. 114-115. 28 Insofern muss hier zwar nicht unbedingt Huyssens Grundthese vollkommen widersprochen werden, es ist jedoch anzumerken, dass es der romantischen Übersetzungskonzeption nicht nur einseitig um eine Aneignung geht, die sich problemlos des Fremden bedient, um das Eigene zu bereichern. Ein derartiges Verständnis von Übersetzung und Aneignung vergisst, dass sich auch die frühromantischen Utopien ein Bewusstsein für ihre eigene Uneinlösbarkeit entwickelten, dass das progressive Moment der Universalpoesie eben auch ein Moment der Unabschließbarkeit ist. Eigenes und Fremdes können sich eben nur unendlich annähern, aber nie endgültig aneignen.
70 | L EKTÜREN Der Übersetzer nach der anderen Methode hingegen hat gar keine Aufforderung zu solchen eigenmächtigen Veränderungen, weil sein Leser immer gegenwärtig behalten soll, daß der Verfasser in einer anderen Welt gelebt und in einer anderen Sprache geschrieben hat. Er ist nur an die freilich schwere Kunst gewiesen die Kenntniß dieser fremden Welt auf die kürzeste zwekkmäßigste Weise zu supplieren, und überall die größere Leichtigkeit und Natürlichkeit des Originals durchleuchten zu lassen […] welche dem übersetzten Werke ganz und gar den Geist einer ihm fremden Sprache einhauchen will.29
Bei Goethe steht: Es gibt dreierlei Arten Übersetzungen. […] eine schlicht-prosaische […] die parodistische […] den dritten Zeitraum, welcher der höchste und letzte zu nennen ist, derjenige nämlich, wo man die Übersetzung dem Original identisch machen möchte, so dass eins nicht anstatt des andern, sondern an der Stelle des andern gelten soll.30
Ausgehend von diesem Bewusstsein für die fruchtbare Überschreitung und gegenseitige Durchdringung von Eigenem und Fremden lässt sich folgern, dass das ‚ursprüngliche‘ Eigene, von dem man ausgeht, immer schon verfremdet, von Beginn an keine wirkliche ‚Einheit‘ ist. Dies hätte für die meisten Übersetzungstheorien weitreichende Folgen, die in der Regel davon ausgehen, von einer Einheit in eine andere zu übersetzen, also etwa vom Französischen ins Deutsche, ohne dabei zu berücksichtigen, dass weder das Französische noch das Deutsche ‚unverfremdete‘ Entitäten sind. Ein Ziel dieser Untersuchung ist folglich, zu zeigen, dass diese translatorische Bewegung in der Romantik bereits komplexer und höher reflektiert ist, als meist angenommen wird, und dass gerade deshalb die Auseinandersetzung mit der Übersetzungstheorie, wie sie in der Romantik ihren modernen Ausgangspunkt nimmt, für spätere Überlegungen fruchtbar gemacht werden kann. Auf der Basis dieser Vorüberlegungen zur Hermeneutik der Übersetzung werden zwei exemplarische Werke der deutschen Romantik zur Analyse herangezogen. Die Analyse hat zum Ziel, die eben skizzierten Thesen anhand der literarischen Darstellung der Übersetzung zu überprüfen. Es geht allererst darum, komplementäre oder alternative Perspektiven auf sie zu ermöglichen. Die Auswahl der untersuchten literarischen Beispiele rechtfertigt sich zunächst dadurch, dass in beiden Werken das Problem der Übersetzung direkt und indirekt verhandelt wird. Novalis’ Heinrich von Ofterdingen ist außerdem ein, wenn nicht das repräsentative Werk der Frühromantik, das vielleicht am deutlichsten versucht hat, – so wurde es zumindest 29 Schleiermacher, Friedrich: Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens. S. 67. 30 Goethe, Johann Wolfgang von: Noten und Abhandlugen zu besserem Verständniß des West-Östlichen Divans. [1819]. In: Das Problem des Übersetzens. Hrsg. von Hans Joachim Störig. Stuttgart: H. Goverts 1963. S. 34–37. S. 35-36.
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von den Zeitgenossen und der späteren Kritik dargestellt 31 – die Poetologie der progressiven Universalpoesie umzusetzen, oder anders gesagt: sie auf den Weg zu bringen. Deshalb sehen sich in dieser Erzählung die poetologischen Überlegungen zur Übersetzung der Brüder Schlegel, Schleiermachers oder von Novalis selbst auf die eine oder andere Weise in diesem Werk reflektiert und sie lädt daher zu einer kritischen Analyse ein. E.T.A. Hoffmanns Der goldne Topf hingegen soll – als spätromantisches Werk – vor allem als kritischer Kommentar zu Novalis’ Heinrich gelesen werden, in dem die frühromantischen Ideale auch in Bezug auf die Übersetzung noch einmal aufgenommen, aber bereits deutlich (ironisch) gebrochen dargestellt werden. Von zentraler Bedeutung ist, dass es in beiden Werken um die Genese eines Dichters geht, welche illustriert, wie die Protagonisten über die Vorstufen des Übersetzens bzw. der Probleme des Verstehens und Dechiffrierens fremdsprachiger Texte und unbekannter Zeichen zum Poeten reifen. 4.1 Novalis: Heinrich von Ofterdingen Novalis, der unmittelbar an den Entwürfen romantischer Kunst- und Literaturtheorien beteiligt war, die im Kreise und im Austausch mit den Brüdern Schlegel, Ludwig Tieck, Friedrich Schelling und anderen entstanden, schrieb bis zu seinem frühen Tod am unvollendeten Roman Heinrich von Ofterdingen, der erst 1802 posthum und als Fragment veröffentlicht wurde. Was laut Novalis die „Apotheose der Poësie seyn“32 soll, eine „anschauliche Ausführung – Realisierung einer Idee“33 darstellen wollte, gilt heute als Beispielroman der Frühromantik, der auch ein „poetischer Probierstein“34 auf Theorie und Kritik der Frühromantiker sein sollte. 35 Ganz so, wie es Friedrich Schlegel im Brief über den Roman gefordert hat: „Wenn solche Beispiele ans Licht träten, dann würde ich den Mut bekommen zu einer
31 Vgl. dazu vor allem Ludwig Tiecks Bericht über die Fortsetzung des Romans im Roman selbst: Novalis: Heinrich von Ofterdingen. [1802]. Herausgegeben von Joseph KiermeierDebre. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997. Hier S. 212-225. 32 Novalis: Schriften. Band 4. S. 322. In einem Brief an Ludwig Tieck vom 23. Februar 1800. 33 Novalis: Werke. Herausgegeben und kommentiert von Gerhard Schulz. 3. Aufl., auf der Grundlage der 2., neubearb. Aufl. 1981. München: Beck 1987. S. 391. 34 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. im Nachwort des Herausgebers auf S. 247. 35 Die Zahl der Forschungsarbeiten ist immens. Einen nicht mehr ganz aktuellen aber immer noch sehr hilfreichen Überblick zu den einschlägigen Arbeiten findet man bei Uerlings, Herbert: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart: Metzler 1991. Hier: S. 398-519
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Theorie des Romans, die im ursprünglichen Sinne des Wortes eine Theorie wäre: […] Eine solche Theorie des Romans würde selbst ein Roman sein müssen“. 36 Während also bereits die Konzeption des Romans eine weitgehende Verschränkung von Theorie und Poesie bzw. die Aufhebung aller Theorie in der Poesie intendiert, spielt diese auch in der langen und ausführlichen Rezeptionsgeschichte, die dem Roman gerade aufgrund dieser Verschränkung teils kritisch-ablehnend, teils überschwänglich begrüßend gegenüber steht, die dominierende Rolle. 37 Die folgende Analyse nimmt mithin keine Sonderstellung ein. Ganz im Gegenteil versteht sie sich als Beitrag zu den bestehenden Diskussionen, die die Aufmerksamkeit auf einen bisher wenig beachteten Aspekt lenken will: den Zusammenhang der frühromantischen Konzeption der progressiven Universalpoesie mit der Problematik der Übersetzung. Das heißt auch, dass hier eine selektive und zielgerichtete Lektüre einzelner Stellen und Motive vorgenommen wird, die die Problematik der Übersetzung in ihrer literarischen Darstellung betreffen. Im Allgemeinen kann, so die vorläufige These, für das Programm der progressiven Universalpoesie, die dem Roman zugrunde liegt, dieselbe Idee gelten, wie für die Aufgabe einer weitgefassten, idealistischen und um 1800 entstehenden Übersetzungstheorie: „Die Idee einer fortschreitenden Literatur, die alle Grenzen, Scheidungen und Schranken aufhebt, jedes Einzelwerk im Wortsinn vorläufig werden läßt, zukünftige wie vergangene Produktion in ihren Erfahrungsraum zieht, keine Frage, kein Thema ausläßt, überall und immer kompetent erscheint“.38 Das Progressive, das im stetig Werdenden und sich Verwandelnden seinen Ausdruck findet, entspricht dem transformativen Charakter der Übersetzung ebenso wie der sich im 18. Jahrhundert etablierenden Vorstellung einer Historizität von Sprache. Beides muss, laut romantischem Postulat, in der Poesie nicht nur zum Ausdruck kommen, sondern dort eine utopisch gedachte Vollendung finden, zur neuen (die alte umfassende) Mythologie werden. 39 36 Schlegel, Friedrich von: Brief über den Roman. [1800]. In: "Athenäums"-Fragmente und andere Schriften. [1796-1800]. Auswahl und Nachwort von Andreas Huyssen. Stuttgart: P. Reclam 2005. S. 202–213. S. 210-211. 37 Zur Form und Poetik des Romans in der Forschung vgl. Uerlings, Herbert: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. S. 419-43. 38 Schanze, Helmut: Romantheorie der Romantik. In: Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Stuttgart: P. Reclam 1981. S. 11–33. S. 12. 39 „Die Mythologie ist ein solches Kunstwerk der Natur. In ihrem Gewebe ist das Höchste wirklich gebildet: alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr eigentümliches Verfahren, ihr innres Leben, ihre Methode“. Schlegel, Friedrich von: Rede über die Mythologie. [1800]. In: "Athenäums"Fragmente und andere Schriften. [1796-1800]. Auswahl und Nachwort von Andreas Huyssen. Stuttgart: P. Reclam 2005. S. 190-201. S. 195.
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Der Roman beschreibt Heinrich von Ofterdingens Genese zum Dichter. Insofern ist er auch Kritik und Antwort auf Goethes einflussreichen Bildungsroman Wilhelm Meister. Doch Novalis’ Heinrich soll nicht nur irgendein exemplarischer Dichter werden, sondern der (romantische) Poet schlechthin, der die bisher theoretisch gebliebenen Konzepte und Ideale der Universalpoesie selbst in Dichtung umsetzt. In dieser Hinsicht ist er von Anfang an ein Auserwählter. Die an die Zweiteilung der Bibel in Altes und Neues Testament angelehnte Gliederung des Romans in Die Erwartung und Die Erfüllung verweist auf den messianischen Charakter der Figur. Der romantische Poet muss demnach die programmatisch angelegte Verbindung der beiden Teile einlösen. Seine Aufgabe ist die einer allegorischen Über-Setzung, die einer poetisierenden Allegorese.40 Eben deshalb erzählt der Schwiegervater und Dichter Klingsohr Heinrich am Ende des ersten Teils ein Märchen, das eine Allegorie der Poesie selbst ist. Dort heißt es: „Die Erwartung war erfüllt und übertroffen.“41 Es wird in dem Märchen die Entwicklung Heinrichs im zweiten Teil des Romans allegorisch vorweggenommen. Allerdings kommt es niemals zur Ein- oder Erlösung: Der zweite Teil bleibt Fragment, ungeschrieben die Geschichte, unerfüllt die Erwartung.42 Inwiefern diese Entwicklung zum erlösenden Universalpoeten mit dem Problem der Übersetzung zusammenhängt, soll vor allem an einem zentralen Aspekt veranschaulicht werden: die herausragende Stellung des Fremden und Unbekannten, dem Heinrich auf verschiedenste Weise begegnet, etwa in Form von Träumen, Gesängen und Erzählungen, aber auch in Gestalt von Repräsentanten fremder Kulturen oder unbekannter Wissenschaften und Künste. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Begegnung mit alten und fremden Schriften und Zeichen, die einen direkten Hinweis auf die Notwendigkeit der übersetzenden Schaffenskraft des Dichters leisten – 40 Indem der Roman sich in seiner Struktur an der Heiligen Schrift orientiert, fordert er gleichsam eine Lektüre und Interpretation der christlichen Allegorese ein. Der Roman will insgesamt als (romantische) Allegorie gelesen werden, die vom Alten ins Neue übersetzt und damit gleichwohl auf das Ende aller Trennungen verweist, indem es das Endliche im Unendlichen, das Sagbare des Unsagbaren darstellt: „Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk. […] Mit anderen Worten: alle Schönheit ist Allegorie. Das Höchste kann man eben weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen.“ ebd. S. 198. Zur Bedeutung der Allegorie und der Allegorese in der frühromantischen Poetologie vgl. Frank, Manfred: Allegorie, Witz, Fragment, Ironie. Friedrich Schlegel und die Idee des zerissenen Selbst. In: Auswege aus dem Deutschen Idealismus. Hrsg. von Manfred Frank. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. S. 177-138. 41 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. S. 180. 42 Wenn das Märchen bereits als Erfüllung und krönender Abschluss des Romans interpretiert wird, wird eben der allegorische Charakter des Märchens übersehen.
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denn: Am Ende ist alle Poesie Übersetzung. Doch diese fremden Schriften stehen auch als Metapher für die ‚Welt als Text‘ schlechthin, deren Geheimnisse in fremde Codes gebannt sind, die es zu entschlüsseln gilt. Nur wer alle Zeichen der Natur und Kultur zu übersetzen vermag, kann zum idealen Dichter werden und am Ende in das neue goldene Zeitalter transzendieren, ebenso wie der Roman am Ende in ein allegorisches Gedicht transzendieren sollte, wenn man Tiecks Bericht über die Fortsetzung des Romans43 Glauben schenken will (wofür es gute und weniger gute Gründe gibt44). Zu dieser Art des poetischen Übersetzens oder übersetzenden Poetisierens gehört nicht nur das rationelle Verstehen des Fremden, sondern auch das Ahnen und Erfühlen des Fremden, des Anderen und damit des Ganzen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Sozialisierung des Dichters nur über die Liebe und den Eros erfolgen kann, was in der Analyse der gleichzeitigen Entstehung von moderner Philologie, Hermeneutik und Übersetzungstheorie im Zusammenhang mit der Romantik nicht vergessen werden sollte.45 Es wird allerdings zu fragen sein, ob dieser programmatische, poetologische Ansatz hermeneutischen Fremdverstehens in der Tat eine literarische Umsetzung fand oder ob dieses utopisch oder idealistisch gedachte Projekt der romantischen Hermeneutik der Übersetzung sich seiner Uneinlösbarkeit nicht bereits von Beginn an bewusst war. Traum, Dichtung und Übersetzung: Wo eigentlich nur der Fremde herkam? Schon der Anfang des Romans, der Beginn der Entwicklung Heinrichs zum Dichter, liefert zahlreiche Hinweise darauf, dass dieser Weg nur über den Umweg des Fremden, der unbekannten, fernen Welten führen kann. Die erste Ahnung dieser fernen, fremden Welt erfährt Heinrich in dem bekannten Traum von der blauen Blume, die zum Symbol romantischer Dichtung schlechthin wurde. Noch wichtiger als der Traum selbst scheint jedoch die Frage, wie der Traum selbst motiviert ist. Als buchstäblicher Verursacher wird die Begegnung mit einem Fremden und dessen Erzählungen vorgestellt, die in Heinrich einen großen Eindruck hinterlassen hat, der ihn zunächst nicht schlafen lässt: „Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager, und 43 Vgl. dazu ebd. S. 212-225. 44 Zum kritischen Umgang mit Tiecks Bericht u.a. Mahoney, Dennis F.: Friedrich von Hardenberg (Novalis). Stuttgart: Metzler 2001. S. 130-131. 45 Vgl. hierzu v.a. Kittler, Friedrich A.: Die Irrwege des Eros und die "absolute Familie". Psychoanalytischer und diskursanalytischer Kommentar zu Klingsohrs Märchen in Novalis' Heinrich von Ofterdingen. In: Psychoanalytische und psychopathologische Literaturinterpretation. Hrsg. von Bernd Urban u. Winfried Kudszus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981. S. 421–470.
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gedachte des Fremden und seiner Erzählungen“.46 Diese Erzählungen haben eine Leidenschaft und Sehnsucht in Heinrich geweckt, die er sich selbst nicht erklären kann, denn nicht die Schätze, die offensichtlich auch in den Erzählungen vorkamen, sind zum Objekt seiner Begierde geworden, sondern die blaue Blume: „Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anders dichten und denken. So ist mir noch nie zu Muthe gewesen: es ist, als hätt‘ ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert“.47 In diesen wenigen Anfangszeilen des Romans sind die wesentlichen Motive bereits aufgeführt, die den Zusammenhang von Dichtung, Traum und Übersetzung präfigurieren. Ausgelöst durch die Erzählungen eines Dichters (denn wer sonst hätte der Fremde sein sollen, wenn nicht ein Dichter, der das Gemüt Heinrichs durch seine Geschichten so hätte bewegen können?) entsteht in dem Jüngling das Begehren, die blaue Blume „zu erblicken“.48 Um das Begehren zu erfüllen bleiben ihm zwei Möglichkeiten: Er muss sie sich (er)dichten oder (er)träumen. Anders gesagt: er sucht einen Zugang zu dieser anderen Welt, aus der die Blumen und vielleicht auch der Fremde stammen: „Wo eigentlich nur der Fremde herkam?“ 49, fragt sich Heinrich, ebenso wie der Leser. Zum ersten Mal hat er Zugang zu dieser anderen Welt erhalten und noch bevor er von der blauen Blume träumt, kommt es ihm bereits vor, als hätten ihn die Erzählungen in eine Traumwelt versetzt, als wäre das Lauschen der Geschichten nichts anderes als Träumen. Offensichtlich besteht ein enger Zusammenhang zwischen Dichten und Träumen und Heinrichs Dilemma wird sofort ersichtlich: er kann zwar alles „klar und hell“ sehen und ihm „ist seitdem alles viel bekannter“ 50, aber es ist ihm unmöglich, Worte dafür zu finden, da er „nicht einmal von [s]einem wunderlichen Zustande reden kann!“51, denn „das kann und wird Keiner verstehn.“52 Träumen ist hier eine Art Vorstufe des Dichtens, die allerdings noch einer Übersetzung bedarf, die das Verstehen und allgemeine Begreifen der fremden Welt ermöglicht. Ganz so, wie in „alten Zeiten […] wie da die Thiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten. Mir ist gerade so, als wollten sie augenblicklich anfangen, und als könnte ich es ihnen ansehen, was sie mir sagen wollten.“ 53 In der Evokation der alten Zeiten und der fremden Welten wird die Struktur eines vergangenen goldenen Zeitalters deutlich, welches nur durch das erneute 46 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. S. 11. 47 ebd. S. 11. 48 ebd. S. 11. 49 ebd. S. 11. 50 ebd. S. 12. 51 ebd. S. 11. 52 ebd. S. 12. 53 ebd. S. 12.
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Transzendieren aller fragmentierten Lebensbereiche der mangelhaften Gegenwart ins Poetische wieder erlangt werden kann. Heinrichs Reaktion auf die Erzählungen des Fremden zeigt, dass er zwar die Veranlagung zum Universalpoeten hat, ihm allerdings noch etwas Entscheidendes fehlt, um selbst zu dichten und selbst zum Erzähler zu werden. Er muss das tun, was zunächst auch jeder Übersetzer zu tun hat: neue Wörter, neue Sprachen erlernen, um sich nicht nur einen erweiterten Zugang zu diesen fremden Welten und alten Zeiten zu verschaffen, sondern diese in einer hermeneutischen Bewegung zunächst zu verstehen und dann sprachlich wiedergeben zu können: „Es muss noch viele Worte geben, die ich nicht weiß: wüßte ich mehr, so könnte ich viel besser alles begreifen.“54 Erst nach dieser Erkenntnis schläft Heinrich ein und träumt tatsächlich von der blauen Blume, die er auf einer langen Reise in ferne und fremde Länder findet. Der Traum nimmt vorweg, was Heinrich auf dem Weg zum Dichter selbst bald erleben wird. Zuvor jedoch erfolgt eine Auseinandersetzung mit Heinrichs Vater über die Bedeutung der Träume. Der Vater nimmt in gewisser Weise die Position des aufgeklärten Rationalisten ein, der den Träumen keine höhere Bedeutung zugesteht. Allerdings weist er darauf hin, dass es zu früheren Zeiten anders war: „Die Zeiten sind nicht mehr, wo zu den Träumen göttliche Gesichte sich gesellten, und wir können und werden nicht begreifen, wie es jenen auserwählten Männern, von denen die Bibel erzählt, zu Muthe gewesen ist. Damals muß es eine andere Beschaffenheit mit den Träumen gehabt haben, so wie mit den menschlichen Dingen.“ 55 Im Gegensatz zum Vater scheint Heinrich sehr wohl zu wissen, wie es jenen auserwählten Männern zu Muthe gewesen ist, nämlich so, wie es ihm zu Muthe war, als er die Erzählungen des Fremden hörte. Daher ist es für ihn keineswegs so, wie es der Vater darstellt und wie es offensichtlich der Common Sense der Gegenwart glauben machen will: „Die alten Geschichten und Schriften sind jetzt die einzigen Quellen, durch die unsere Kenntniß von der überirdischen Welt, so weit wir sie nöthig haben, zu Theil wird; und statt jener ausdrücklichen Offenbarungen redet jetzt der heilige Geist mittelbar durch den Verstand kluger und wohlgesinnter Männer“.56 Heinrichs Mission als Dichter wird es sein, den Gegenbeweis zu den Thesen des Vaters anzutreten, dass nämlich die alten, goldenen Zeiten nicht für immer verloren sind, sondern dass es ein neues goldenes Zeitalter geben wird, in dem es nicht nur auserwählten Männern möglich sein wird, einen Zugang zu den Offenbarungen zu erhalten. Bemerkenswert an der Rede des Vaters sind zwei Aussagen, die für die Entwicklung Heinrichs zum Dichter von entscheidender Bedeutung sein werden. Einerseits ist der Bezug auf die einzigen Quellen jener verlorenen Zeit bemerkens54 ebd. S. 12. 55 ebd. S. 15. 56 ebd. S. 16.
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wert, nämlich auf die alten Geschichten und Schriften und andererseits der Verweis auf den heiligen Geist und damit das Pfingstwunder, d.h. jene biblische Geschichte, die von der Überwindung der babylonischen Sprachverwirrung erzählt. Dadurch sind die entscheidenden Hinweise geliefert, die den Weg zum Universalpoeten vorzeichnen. Dieser Weg muss notwendigerweise über die alten Geschichten und Schriften führen und gleichzeitig das Dilemma der Sprachdifferenzen aufheben oder es zumindest für die Universalpoesie in einen Vorteil verwandeln. Alles muss verstanden, alles muss übersetzbar werden und in einer universalen Sprache zum Ausdruck kommen. Das Problem scheint zu sein, dass diese ‚Übersetzungsleistung‘ des Heiligen Geistes momentan nur mittelbar durch den Verstand erfolgt. Um aber auch den anderen, sinnlichen und nicht nur rationalen Teil des Menschen zu erfassen, muss diese Übersetzungsleistung durch die sinnliche Sprache der Poesie erfolgen.57 Dass Heinrich buchstäblich für diese Aufgabe ‚geboren‘ ist, wird durch den Vater selbst erläutert: „Heinrich kann die Stunde nicht verläugnen, durch die er in der Welt ist.“58 Bezieht sich der Vater hier zunächst nur auf den „wälsche[n] Wein […], der unsern Hochzeitsabend verherrlichte“ 59, so weist ihn die Mutter kurz danach darauf hin, dass es bezeichnenderweise ein Traum war, den er damals im fernen Rom hatte und „der dich zuerst auf den Gedanken gebracht, zu uns nach Augsburg zu kommen, und um mich zu werben“.60 Heinrich wäre also nicht geboren worden, wäre der Vater damals nicht seinem Traum gefolgt, wenn er schon damals die nüchterne Einstellung zu Träumen gehabt hätte, die er jetzt gegenüber seinem Sohn vertritt. Wenn Heinrich seine Existenz selbst nur einem Traum verdankt, der darüber hinaus noch auffallende Ähnlichkeit mit seinem eigenen Traum hat, erscheint es folgerichtig, dass er Träumen eine besondere Bedeutung beimisst und er die nächste Gelegenheit sofort wahrnimmt, sich tatsächlich in Begleitung seiner Mutter auf die Reise in ihre Heimatstadt Augsburg zu begeben. Der durch die Erzählungen des fremden Dichters ausgelöste Traum von der Fremde wird durch eine tatsächliche Reise in die Fremde buchstäblich realisiert, die wiederum nur der Auftakt von Heinrichs Genese als Dichter ist. 57 Das Verhältnis von vernünftigem und sinnlichem Verstehen im glossolalischen Ereignis des Pfingstwunders wird in Bezug auf eine wissenschaftliches Konjunktur des EreignisBegriffs in folgendem Artikel kritisch reflektiert: Babel, Reinhard: 'Sie sind vom süßen Wein betrunken' - das Ereignis der Sprache im Pfingstwunder. Über die religiöse Struktur des Ereignis-Begriffs. In: Über Grenzen sprechen. Mehrsprachigkeit in Europa und der Welt. Hrsg. von Conceicao Cunha, Daniel Graziadei u. a. Würzburg: Königshausen u. Neumann 2012. S. 47-63. 58 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. S. 17. 59 ebd. S. 17. 60 ebd. S. 17.
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Gerade aber die vielfach verschränkten Reisebewegungen des Vaters, Heinrichs und der Mutter lassen die zunächst einfache Reise Heinrichs als viel komplexer erscheinen, als es die einfache Analogie zur hermeneutischen Übersetzungsbewegung von der eigenen in die fremde Sprache und zurück zunächst vermuten lässt. Denn gerade das Eigene, von dem Heinrich ausgehen soll, von dem aus seine Reise beginnt, ist bereits keine ursprüngliche Einheit mehr, sondern von Anbeginn mit dem Fremden untrennbar verbunden. Einerseits wird dies durch die Ontogenese Heinrichs verdeutlicht, die auf der Rückkehr des Vaters aus der Fremde beruht und gerade erst durch das Fremde ausgelöst wurde. Andererseits aber auch dadurch, dass Heinrichs Traum ebenfalls erst durch das Fremde im Eigenen (also durch die Geschichten, die der Fremde erzählte) ausgelöst wurde, dessen Erscheinen man sich nicht erklären kann: Wo eigentlich nur der Fremde herkam? Auch die Reise selbst, die ja als Reise in die Fremde, ins Unbekannte inszeniert wird, ist genau genommen eine Reise in das Eigene, das schon Bekannte, denn das Ziel der Reise ist ja gerade die Heimatstadt der Mutter. Man sieht also bereits zu Beginn des Romans, dass der scheinbar einfache Zirkel zwischen dichotomischen Positionen des Eigenen und Fremden sich nicht so einfach darstellt, wie es die Hermeneutik der Übersetzung vielleicht verspricht. Vielmehr sind diese Bewegungen immer schon mehrfach verschränkt und gebrochen, was auch für die Übersetzungsbewegung Konsequenzen hat. Sie geht die in ihrer theoretischen Analyse meist unreflektiert von einheitlichen (eigenen und fremden) Sprachen aus, in die oder aus denen man offensichtlich über-setzen kann, ohne dass jene Einheiten sich dadurch jemals verändern würden oder gar uneinheitlich zu werden drohen. Die Reise zum Dichter-Ich: Man hört fremde Worte und weiß doch, was sie bedeuten sollen! Man sieht bereits zu Beginn des Romans, dass das romantische Motiv der Reise in fremde Länder61, das man gleichsam als Metapher für die Bewegung der hermeneutischen Übersetzung verstehen kann, einer Bewegung, die das Eigene verlässt, sich in die Fremde (der fremden Sprache) begibt, um dann – reifer, mit neuem Wissen, aber eben auch verwandelt – ins Eigene zurückzukehren, nicht immer ungebrochen aufgeht. Inwieweit diese Transgressionen der Reise als Translationen der Sprache jeweils die Kategorien des Eigenen und Fremden stabilisieren oder destabilisieren, kann von Werk zu Werk genauso variieren wie in unterschiedlichen Übersetzungen und eben auch in den verschiedenen Übersetzungstheorien.
61 Vgl. dazu u.a. Mülder-Bach, Inka: Tiefe: Zur Dimension der Romantik. In: Räume der Romantik. Hrsg. von Inka Mülder-Bach u. Gerhard Neumann. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. S. 83–102., aber auch Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre. Ungekürzte Ausg. Frankfurt, M: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2009.
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Die typisch romantischen Reisemotive – die Reise dauert mehr als die Hälfte des ersten Teils von Novalis’ Heinrich – werden bereits im zweiten Kapitel aufgerufen. Und die Reise selbst gibt wiederum ausreichend Gelegenheit zu weiteren Begegnungen mit dem Fremden, die dann die Genese des Poeten einleiten, mag der Aufbruch ins Fremde zu Beginn auch noch mit Wehmut begleitet sein. Zwischen jugendlichem Trennungsschmerz und der Angst vor dem Verlust der eigenen Identität fühlt Heinrich wie „seine bisherige Welt von ihm gerissen und er wie auf ein fremdes Ufer gespült ward“.62 Doch schon bald ändern „alte Melodien des Innern“ seine Stimmung, „und er sah nach Thüringen, welches er jetzt hinter sich ließ mit der seltsamen Ahndung hinüber, als werde er nach langen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welcher sie jetzt reisten, in sein Vaterland zurückkommen, und als reise er daher diesem eigentlich zu.“63 Diese Ahndung gibt bereits das Ziel der Reise vor. Über den Umweg des Fremden zu sich selbst, zu seiner wahren Bestimmung finden, einer Reise in die fremde Weltgegend, die das eigene Ich ist: „Die Begegnung mit einer fremden Welt wird zur Selbstbegegnung.“64 Auch die wahre Bestimmung des jungen Heinrich, seine Berufung zum Dichter wird ihm auf dieser Reise mehr oder weniger unverblümt offenbart und zwar zunächst in den anregenden Gesprächen mit den Kaufleuten65, die ihn und seine Mutter begleiten: „Es dünkt uns, ihr habt die Anlage zum Dichter.“66 Doch Heinrich gibt zu, dass er sich keine Vorstellung von dieser Kunst machen kann, obwohl er bereits spürt, dass er sich zur Dichtung hingezogen fühlt: „Ja, ich kann mir nicht einmal einen Begriff von ihrer sonderbaren Kunst machen, und doch habe ich eine 62 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. S. 25-26. 63 ebd. S. 26-27. 64 Safranski, Rüdiger: Romantik. S. 18. 65 Das mittelalterliche Setting des Romans verschleiert etwas die zeitgenössische Bedeutung, die Kaufleuten um 1800 zukam. Im Zuge des Kolonialismus und der damit verbundenen zunehmend globalen Erschließung fremder Märkte, war im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts das aufklärerische Projekt einer universellen Wissenssystematisierung entstanden, das wissenschaftlich-anthropologische mit merkantilen Interessen Hand in Hand gehen ließ. Nicht selten waren daher Reiseberichte oder eben ‚Erzählungen‘ von Kaufleuten wichtige Dokumente, um fremde Kulturen, Länder und Sprachen wissenschaftlich zu erfassen, sie für ‚Europa‘ verständlich zu machen. Nicht zufällig entstammen zwei der prominentesten Forschungsreisenden, die die Infrastruktur des globalen Handels nutzten, auch aus dem Dunst- bzw. Bekanntenkreis der deutschen Romantiker: Adalbert von Chamisso und Alexander von Humboldt. Dieser Zusammenhang und die damit verbundenen Frage nach der ethischen Dimension jener übersetzenden Aneignung des Fremden wird speziell in der Analyse von David Mitchells Roman The thousand autumns of Jacob de Zoet aufgegriffen und erläutert (vgl. Kapitel 6.2). 66 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. S. 31.
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große Sehnsucht davon zu hören. Es ist mir, als würde ich manches besser verstehen, was jetzt nur dunkle Ahnung in mir ist.“67 Es geht mithin darum, das zu verstehen, was bereits in ihm liegt. Dies ist allerdings nur über den Umweg des Anderen, des Fremden möglich. Auf der Reise führt dieser Umweg zunächst über die Erzählungen und Gespräche der Kaufleute, die zwar die Kunst des Dichtens für ein Geheimnis halten, die jedoch so viel gereist sind, dass sie viele Geschichten nacherzählen können und eine für diese Untersuchung wichtige Definition der Dichter-Kunst liefern: so erfüllt der Dichter das inwendige Heiligthum des Gemüths mit neuen, wunderbaren und gefälligen Gedanken. Er weiß jene geheimen Kräfte in uns nach Belieben zu erregen, und giebt uns durch Worte eine unbekannte herrliche Welt zu vernehmen. Wie aus tiefen Höhlen steigen alte und zukünftige Zeiten, unzählige Menschen, wunderbare Gegenden, und die seltsamsten Begebenheiten in uns herauf, und entreißen uns der bekannten Gegenwart. Man hört fremde Worte und weiß doch, was sie bedeuten sollen.68
Nicht nur wird in dieser für die Universalpoesie programmatischen Definition die Verbindung und Überwindung der bekannten Gegenwart durch das Hervorrufen alter und zukünftiger Zeiten beschworen, die nicht zufällig aus tiefen Höhlen aufsteigen69, sondern man setzt hier das Dichten ganz wörtlich mit der Leistung eines Übersetzers gleich: Man hört fremde Worte und weiß doch, was sie bedeuten sollen. An einem entscheidenden Punkt der Entwicklung Heinrichs zum Dichter, da ihm zum ersten Mal gesagt wird, dass er die Anlage zum Dichter hat und ihm zum ersten Mal das Wesen des Dichtertums erklärt wird, und ohne, dass er jemals ein Gedicht „zu sehen bekommen“70 hat, wird ihm erklärt, was die Dichtung ihrem Wesen nach ist und sein soll: Am Ende ist alle Poesie Übersetzung. Die Erzählungen des/der Fremden Heinrich, der alles über das Dichten und die Dichter wissen will, lässt sich im Folgenden Geschichten erzählen, die von Dichtern handeln, die das Wesen der Dichtung selbst zum Thema haben. Diese Erzählungen 71, nacherzählt zunächst von den 67 ebd. S. 31. 68 ebd. S. 33. 69 Die Topographie der Höhle spielt für Heinrichs Entwicklung zum Dichter eine entscheidende Rolle. Insbesondere, weil er später in einer Höhle ein Buch in fremder Schrift finden wird, das sein Schicksal als Dichter beschreibt. 70 ebd. S. 31. 71 Auf die Bedeutung der Erzählungen, der Träume und auch der Lieder für den Entwicklungsprozess Heinrichs zum Dichter ist vielmals hingewiesen worden. Am deutlichsten in einem Aufsatz von Friedrich Kittler, der auf die Bedeutung der Diskurse als Nachrichten-
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weitgereisten Kaufleuten, sind Erzählungen der Fremde und weisen alle dasselbe Grundschema auf: Der Dichter oder Sänger erlebt verschiedene Schicksalsschläge, findet aber gerade auf Grund seiner Dichter-Kunst und vor allem durch den festen Glauben an die Wirkung derselben einen Ausweg aus der prekären Situation und lässt die Poesie am Ende über alle Widrigkeiten des Lebens triumphieren. Exemplarisch ist dabei jene Geschichte, die das ganze dritte Kapitel einnimmt, in der von einem alten König erzählt wird, der „zwey Neigungen“ 72 hatte: Eine war die Zärtlichkeit für seine Tochter, […] für die er gern alle Schätze der Natur und alle Macht des menschlichen Geistes aufgeboten hätte, um ihr einen Himmel auf Erden zu verschaffen. Die Andere war eine wahre Leidenschaft für die Dichtkunst und ihre Meister. Er hatte von Jugend auf die Werke der Dichter mit innigem Vergnügen gelesen; an ihre Sammlung aus allen Sprachen großen Fleiß und große Summen gewendet, und von jeher den Umgang der Sänger über alles geschätzt.73
Der König stellt sich als eine Art Mäzen und Kunstliebhaber vor und der „wohltätige Einfluß der beschützten und geehrten Dichter zeigte sich im ganzen Lande, besonders aber am Hofe“.74 Die einzige Sorge, die ihn in diesem „irdischen Paradiese“75 umtreibt, ist jedoch die Sorge um das Erbe, denn für die einzige Tochter kann kein angemessener Ehemann gefunden werden, der seine Nachfolge antreten könnte. Kein Kandidat scheint der Tochter angemessen, was nicht zuletzt auch daran liegt, dass die durch die Dichtung verherrlichte Erhöhung der Tochter und des Adelsgeschlechts des Königs die Suche erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht. Der König hält es für undenkbar, seine Tochter mit einem Mann zu verheiraten, der ihrem Stand nicht ebenbürtig ist. Diese Ebenbürtigkeit ist jedoch aus seiner Sicht schwer zu erreichen, denn er „war aus einer uralten Morgenländischen Königsfamilie entsprossen. Seine [verstorbene; R.B.] Gemahlin war der letzte Zweig der Nachkommenschaft des berühmten Helden Rustan gewesen […], so dass fluss verweist, ohne allerdings dabei dem Fremdartigen oder Fremdsprachigen der Diskurse besondere Aufmerksamkeit zu schenken, wenngleich er interessanterweise auch die Übersetzung als Metapher für die Aufgabe der Poesie wählt: „damit bringt er [Heinrich; R.B.] laut Roman nur den Urzustand aller Diskurse wieder: ihre antike Einheit. Ofterdingen [muß] solche Einheit wiederherstellen: durch Übersetzung aller Diskurse in die eine Poesie.“ Kittler, Friedrich A.: Heinrich von Ofterdingen als Nachrichtenfluß. In: Novalis. Beiträge zu Werk und Persönlichkeit Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Gerhard Schulz. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1986. S. 480–508. S. 499. 72 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. S. 39. 73 ebd. S. 39-40. 74 ebd. S. 40. 75 ebd. S. 41.
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es ihm dünkte, nur durch die edlere Klasse der Dichter mit dem übrigen Menschengeschlecht zusammenzuhängen.“76 In dieser prekären Lage und unter diesen Voraussetzungen kann es am Ende nur ein unbedarfter, aber zum Dichter berufener Jüngling sein, der die Königstochter heiratet. Die Parallelen zur späteren Geschichte Heinrichs sind unübersehbar: Er findet sein zukünftiges Schicksal in den Erzählungen der Kaufleute narrativ vorgefasst. Wie Heinrich wächst der Jüngling fern der Stadt und der höfischen Kultur auf und „ergab sich einzig der Wissenschaft der Natur“.77 Die Prinzessin, ohne sich als solche zu erkennen zu geben, trifft in dieser natürlichen Umgebung den Jüngling, die beiden verlieben sich und ihre Liebe symbolisiert die ideale Vereinigung von Natur und Poesie, die gleichzeitig die Initiation des Jünglings zum Dichter ist: Wenn die Prinzessin „dem Alten [dem Vater des Jünglings; R.B.] und dem Sohne, der zu ihren Füßen saß, auf ihrer Laute reitzende Lieder mit überirdischer Stimme vorsang, und letzteren in dieser lieblichen Kunst unterrichtete: so erfuhr sie dagegen von seinen begeisterten Lippen die Enträthselung der überall verbreiteten Naturgeheimnisse.“78 Als das Liebespaar durch ein Unwetter in eine „romantische Lage“79, nämlich eine Höhle, in der sie Unterschlupf finden, gebracht wird, kommt es zum Liebesakt und die geschwängerte Prinzessin sieht sich gezwungen, ihre wahre Identität zu verraten. Da sie annehmen, dass der König diese sündhafte Schwangerschaft und die Liebe zu einem einfachen, nicht adligen Jüngling niemals gutheißen würde, versteckt sich die Prinzessin bis ihr Sohn geboren ist und erst dann, so der Plan, will sie zu ihrem Vater zurückkehren und ihm alles offenbaren. Die Versöhnung und das glückliche Ende werden allein durch die Kraft der Poesie erreicht, denn zunächst ist es der Jüngling, der als fremder Poet, „in einfacher, aber fremder Tracht“80 vor den König und die anwesenden Dichter tritt und diese mit seinem Gesang für sich einnimmt. Das Lied, das er vorträgt, verfehlt seine Wirkung nicht, denn „ein niegefühltes Entzücken ergriff die Zuschauer, und der König selbst fühlte sich wie auf einem Strom des Himmels weggetragen.“81 Was aber die alten Dichter und den König so beeindruckte, ist eine Dichtung, die dem Programm der progressiven Universalpoesie selbst entsprungen scheint: Die Stimme war außerordentlich schön, und der Gesang trug ein fremdes, wunderbares Gepräge. Er handelte von dem Ursprunge der Welt, […] von der allmächtigen Sympathie der Natur, von der uralten Zeit und ihren Beherrscherinnen, der Liebe und Poesie, von der Er76 ebd. S. 42. 77 ebd. S. 42. 78 ebd. S. 49. 79 ebd. S. 51. 80 ebd. S. 55. 81 ebd. S. 56.
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scheinung des Hasses und der Barbarey und ihren Kämpfen mit jenen wohltätigen Göttinnen, und endlich von dem zukünftigen Triumph der letztern, dem Ende der Trübsale, der Verjüngung der Natur und der Wiederkehr des goldenen Zeitalters.82
Selbstredend wird der zum Dichter verwandelte Jüngling vom König als Schwiegersohn akzeptiert, denn für ihn gibt es keinen höheren Adel als das Dichtertum und das Enkelkind sichert gleichzeitig die Dynastie und die glückliche Zukunft. Exemplarisch wird in dieser Erzählung Heinrichs ideales Rollenmodell vorgeführt: ein junger Poet, der nicht nur alle Rätsel der Natur entschlüsseln kann, sondern durch Liebe und Poesie die Zeit der Barbarey zu überwinden vermag, indem er die Wiederkehr des goldenen Zeitalters verkündet. Bedeutend ist an dieser Stelle zudem, dass der Jüngling in ein uraltes, morgenländisches Königsgeschlecht, das schon immer die Dichtungen in allen Sprachen sammelte, einheiratet und so gleichzeitig die Fusion aller bisherigen Dichtungen in fremden und uralten Sprachen symbolisiert, die als letzte Zeugen die Verbindung zum verlorenen goldenen Zeitalter herstellen können. Erneut wird deutlich, dass Poesie als translatives Moment gedacht ist, das den Wert des Fremden als essentiellen Teil der universellen Poesie versteht. Die translatio der Poetik des Übersetzens überbrückt dabei nicht nur sprachliche Differenzen, sondern verbindet die Welt auch in einem universellen Chronotopos, d.h. in der Überwindung aller Ort- und Zeitdifferenzen. Dieser Chronotopos erhält am Ende der Erzählung einen emblematischen Namen: „Kein Mensch weiß, wo das Land hingekommen ist. Nur in Sagen heißt es, daß Atlantis von mächtigen Fluten den Augen entzogen worden sey.“ 83 Das Königreich der Erzählung erscheint als das untergegangene Reich von Atlantis (dessen Bedeutung in Kapitel 4.3 ausführlich erörtert wird). Dieser Hinweis auf Atlantis stellt wiederum eine Verbindung zu Heinrichs Werdegang, zu seiner Entwicklung zum Dichter dar, da er später die Tochter von Klingsohr zur Frau nehmen wird, und von beiden in die Kunst der Poesie und der Liebe eingeführt. Jener Klingsohr aber, so berichtet es Tieck, „kömmt wieder als König von Atlantis“ 84, er sollte also in einem späteren Teil des Ofterdingen als jener König, dessen Geschichte Heinrich eben von den Kaufleuten vernommen hatte, wieder ‚auftauchen‘. Glotta-Aporien I: Das Lied Zulimas Im vierten Kapitel kommt es zur Begegnung mit Zulima, „ein[em morgendländische[n] Mädgen“85, der ersten Repräsentantin einer fremden Kultur, die Heinrich kennenlernt. Dies bedeutet nicht mehr nur eine Erzählung des Fremden, sondern 82 ebd. S. 55-56. 83 ebd. S. 61. 84 ebd. S. 224. 85 ebd. S. 65.
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auch eine Erzählung der Fremden selbst. Sie berichtet von ihrer Heimat und ihrem Schicksal, nachdem Heinrich zufällig ihrem Gesang „in gebrochener deutscher Aussprache“86 gelauscht hatte. Novalis markiert hier glottadiegetisch, dass Zulima in einer ihr fremden Sprache singt und später auch spricht. Da sie, wie man durch das Lied und durch das anschließende Gespräch erfährt, von Kreuzrittern aus ihrer Heimat entführt wurde und sich daher schon länger in deutschsprachiger Gesellschaft aufhält, ist es durchaus glottapithanon, dass sie sich Deutschkenntnisse angeeignet hat. Warum und wie Zulima ihr Lied auf Deutsch singt, lässt sich nur schwer erklären. Ihre Herkunft ist als ein Verweis auf einen wichtigen Topos bedeutend, nämlich auf den Orient als Ursprungsort aller Poesie87, als dem – wie es wörtlich heißt – „romantische[n] Morgenland“.88 War Heinrich gerade noch versucht, als Ritter89 an den Kreuzzügen teilzunehmen, um jenes Morgenland im Namen des Christentums zu erobern, so empfindet er nun Sympathie für Zulima, in deren Poetenfamilie er symbolisch aufgenommen wird. Heinrich hört hier also zum ersten Mal das für einen Poeten unabdingbare Instrument, von dem ihm eben gerade noch so schmerzlich bewusst geworden war, dass es ihm fehlt: „Er fühlte, daß ihm eine Laute mangelte, so wenig er auch wußte, wie sie eigentlich gebaut sey, und welche Wirkung sie hervorbringe.“90 Diese Laute stammt von Zulimas Bruder, einem morgenländischen Dichter, an den sie Heinrich erinnert: „mir ist, als glicht ihr einem 86 ebd. S. 68. 87 Schlegel weist daher auf die Notwendigkeit hin, sich diese Quellen durch Übersetzung zugänglich zu machen: „Wären uns nur die Schätze des Orients zugänglich wie die des Altertums! […] mit dem Genie der Übersetzung [...] Im Orient müssen wir das höchste Romantische suchen“. Schlegel, Friedrich von: Rede über die Mythologie. S. 196. Später machen sich Schlegel „und sein Bruder August Wilhelm an die Übersetzung der beiden großen religiösen Gedichte Indiens. Das letzte Drittel des Buches Über die Sprache und Weisheit der Indier enthält Übersetzungen aus dem Ramayana und dem Mahabharata.“ Trabant, Jürgen: Europäisches Sprachdenken. S. 241. Dieses 1808 entstandene Buch, das (übersetzend) eine moderne Sprachwissenschaft begründen soll (im Untertitel heißt es Beitrag zur Begründung der Altertumskunde), ist laut Jürgen Trabant „zwar eher ein Manifest zur Begründung einer neuen Religion als ein sprachwissenschaftliches Buch. Es basiert aber auf einer sprachwissenschaftlichen Entdeckung, nämlich der Entdeckung der sprachlichen Verwandtschaft Europas mit Indien und damit der ursprünglichen Einheit zwischen dem Orient und dem Okzident.“ ebd. S. 241. 88 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. S. 138. 89 Was hier in mittelalterlicher Verkleidung als Kreuzritter daherkommt, ist im Kontext der Entstehung des Romans als Chiffre für westliche Kolonisierung und christliche Missionierung der Welt zu verstehen. Auch zu diesem Zusammenhang Ausführlicheres in Kapitel 6.2. 90 ebd. S. 68.
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meiner Brüder, der nach Persien zu einem berühmten Dichter zog.“ 91 Ein weiteres Mal hört Heinrich von einem Dichter-Vorbild und es findet eine Identifikation statt, die diesmal direkt auf die alte persisch-morgenländische Tradition des Dichtens verweist, den – wie man zu Novalis Zeiten glaubte – Ursprung aller Dichtung, den Ursprung aller Sprachen: Das Land der Poesie, das romantische Morgenland. Zum Abschied will Zulima Heinrich die Laute schenken, doch obwohl er soeben noch festgestellt hatte, dass ihm dieses Instrument mangelte, um seine Gefühle auszudrücken, lehnt er das Geschenk ab. Noch ist er nicht reif für die Laute, noch ist er kein Dichter und darüber hinaus, sollte ein Jüngling dieses bedeutende Geschenk eigentlich von seiner ersten Liebe erhalten, wie man im vorhergehenden Kapitel erfahren hat. Stattdessen bittet er Zulima, ihm das „goldene Band mit den unbekannten Buchstaben“92 zu schenken. Gern macht ihm Zulima dieses Geschenk und erklärt ihm, dass es ihr „Name in den Buchstaben ihrer Muttersprache“ 93 sei, der in das Band gestickt ist. Dieses Band trägt Heinrich von nun an bei sich, auch weil es ihn an das erinnert, was ihm Zulima über ihrer Heimat erzählt hat, vor allem an jene „Überbleibsel ehemaliger denkwürdiger Zeiten“94, mit denen offensichtlich die alten arabischen Schriften, Arabesken und Hieroglyphen gemeint sind, die für die Romantik eine große Bedeutung hatten, da sie an die Urschriften und Ursprachen erinnerten, die für jeden Universalpoeten einen Schlüssel zum neuen goldenen Zeitalter darstellten, da in ihnen etwas verborgen liegt, das es wiederzugewinnen gilt: Die Hieroglyphe stellt das bindende Element innerhalb der geschichtsphilosophischen Triade dar […]. Die eigene Epoche befindet sich in einem geschichtsphilosophischen Wellental, in dem die Hieroglyphe ihre ganze Transparenz noch nicht wiedererlangt hat. Die Fragmente markieren daher den geistesgeschichtlichen status quo und bergen noch in sich den Übergang in die Phase ihrer Verständlichkeit. Als äußerste Verdichtung weisen sie noch verschlüsselt auf die Morgenröte einer goldenen Zeit voraus.95
91 ebd. S. 71. 92 ebd. S. 74. Dies kann als intertextueller Verweis auf die Binde Charikleias verstanden werden, die in Heliodors Aithiopika eine Schlüsselrolle spielt, da sie ihre Identität als äthiopische Königstochter verbürgt: Die Übersetzerfigur Kalasiris berichtet: „Als er mir zustimmte, ging ich nach Hause und machte mich sogleich an das Studium der Binde, die mit äthiopischen Buchstaben bestickt war. Es waren nicht die landläufigen Zeichen, sondern solche, die der heiligen Schrift der Ägypter ähneln.“ Heliodor: Aithiopika. S. 123. 93 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. S. 75. 94 ebd. S. 71-72. 95 Schärf, Christian: Der Tod, die Zeichen und die Wirklichkeit der Schrift. Zur Initiation der Schreibweise bei Novalis. In: Wirkendes Wort 41 (1991) H. 3. S. 389–405. S. 394.
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Zulima sagt darüber: Ihr würdet mit Verwunderung, sagte sie, die buntfarbigen, hellen, seltsamen Züge und Bilder auf den alten Steinplatten sehn. Sie scheinen so bekannt und nicht ohne Ursach so wohl erhalten zu seyn. Man sinnt und sinnt, einzelne Bedeutungen ahnet man, und wird um so begieriger den tiefsinnigen Zusammenhang dieser uralten Schrift zu errathen. 96
Auch hier wird Heinrich die Bedeutung der Kenntnis alter Schriften vor Augen geführt, die es für den Poeten zu übersetzen gilt, selbst wenn der Gesang wie bei Zulima zunächst nur in gebrochenem Deutsch erfolgt, so wird er doch einst um so tiefsinniger klingen, da er die Überbleibsel ehemaliger und denkwürdiger Zeiten in das neue goldne Zeitalter übersetzen wird. Daran soll und wird Heinrich das goldene Band der Zulima erinnern. Dass aber hier die universalpoetische Übersetzungsaufgabe nicht ohne Probleme geleistet werden kann, darauf weist bezeichnenderweise das Lied hin, das Zulima in gebrochener deutscher Aussprache singt und durch das Heinrich erst auf sie aufmerksam wird. Im Anschluss an diese Feststellung folgen im Text die sieben Verse des Liedes (in ungebrochenem ‚Novalis-Deutsch‘), die von der fernen Heimat wehklagen, dem Ort aus dem sie gewaltsam entführt und der wahrscheinlich zerstört wurde. Eine ferne Liebe und das Kind in den Armen allein verhindern, so wird es nahegelegt, Zulimas Selbstmord. Diese Stelle wirft verschiedene Fragen auf. Zunächst ist sie ein intertextueller Verweis, ein Re-Writing einer bekannten Übersetzungsszene aus Goethes Wilhelm Meister, nämlich jener Szene, in der Wilhelm versucht, Mignons Lied zu übersetzen und aufzuschreiben. Robert Stockhammer hat in seinem Aufsatz über das SchonÜbersetzte herausgearbeitet, dass hier die Sprachgrenzen durchweg unklar sind, dass nicht eindeutig auszumachen ist, aus welcher Sprache (aus welchen Sprachen) übersetzt wird.97 Es handelt sich daher um eine sogenannte Glotta-Aporie. Etwas Ähnliches lässt sich auch für Zulimas Lied sagen. Zwar scheint die Sprache auf der Ebene des discours und der histoire klar definiert und daher glottadiegetisch schlüssig. Jedoch ist unklar, weshalb Zulima nicht in ihrer eigenen Sprache singt, obwohl sie sich mit ihrer Tochter allein im Wald glaubt. Es gibt wenigstens drei mögliche Antworten: Es könnte sich erstens um ein deutsches Lied handeln, das Zulima gelernt hat und nachsingt. Gegen diese Annahme spricht, dass darin von Myrten und Zedern die Rede ist, also von mediterranen Pflanzen. Aber immerhin könnte man sich auch vorstellen, dass der unbekannte Verfasser ein klagender Kreuzritter war, der das Lied im Morgenland selbst gedichtet hatte, was dann zu einer relativ unplausiblen Inversion der Positionen führen würde, also zu einer Iden96 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. S. 72. 97 Stockhammer, Robert: Das Schon-Übersetzte.
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tifikation Zulimas mit eben jenen Kreuzrittern, die ihre Heimat zerstört haben, deren Verlust das Lied vermeintlich beklagt. Zweitens könnte es sich um ein Lied in arabischer/orientalischer Sprache handeltn, das Zulima ins Deutsche übertragen hat. Damit wäre Zulima selbst eine Übersetzer-Poeten-Figur, die in idealer Weise das Vorbild für Heinrich darstellt, da sie nicht nur aus dem Ursprungsland der Poesie stammt, sondern ihre Poesie auch noch übersetzend in fremde Länder trägt. Diese Annahme ergäbe jedoch nur dann Sinn, wenn sie das Lied an einen deutschen Adressaten richten würde, denn ihre Tochter, der sie das Lied vorsingt, müsste die Muttersprache verstehen und Heinrich lauscht dem Gesang ja ohne das Wissen Zulimas. Drittens bleibt die Annahme, dass Zulima das Lied selbst gedichtet hat und zwar auf Deutsch. Damit wäre sie schon keine reine Übersetzerin mehr, sondern jener seltene Fall einer Schriftstellerin, den Schleiermacher in seiner Übersetzungstheorie eigentlich als eine Unmöglichkeit ausschließt, nämlich ein fremdsprachiger Verfasser, der sein Werk „ursprünglich als Deutscher würde geschrieben haben“.98 Wie auch immer man den Fall entscheiden mag, vollkommen schlüssig und glaubwürdig scheint keine der Varianten, so dass diese Szene glotta-apithanon zu nennen wäre. Immerhin ist jedoch jene gebrochene deutsche Aussprache Zulimas ein weiterer Hinweis auf die verfremdende Übersetzung, die den übersetzten Text als solchen markiert. Diese glotta-aporetischen Aspekte der Darstellung von Zulimas Lied zeigen, dass gerade bei demjenigen Dichter die Grenzen der eindeutigen (Sprach)Zuweisungen ins Wanken geraten müssen, der sich (freiwillig oder unfreiwillig) in die Fremde begibt. Das Buch in fremder Sprache Dienten die bisherigen beispielhaften Erzählungen über das Dichten und die Dichter als orientierende Einführung in den Sinn und Zweck der Poesie, die Heinrich in seinem inneren Gefühl für seine Berufung zum Dichter bestärkten, so wartet im fünften Kapitel ein noch deutlicherer Hinweis auf sein zukünftiges Schicksal: ein Buch, in dem sein eigenes Leben niedergeschrieben und abgebildet zu sein scheint und das ihn als Dichter zeigt. Gleichzeitig ist dieses Kapitel der Abschluss und die letzte Etappe der Reise nach Augsburg, wo sich vieles, was er auf der Reise durch Erzählungen und eben in diesem Buch bereits vorab erfahren hat, mehr oder weniger genau so ergibt: Die Poesie wird zur (fiktionalen) Wirklichkeit. Am Anfang der letzten Etappe steht erneut die Begegnung mit einem Fremden, einem alten Mann „in fremder Tracht […] aus fremden Landen“99, der eigentlich ein alter Bergmann ist und Heinrich und anderen Zuhörern seine Lebensgeschichte 98 Schleiermacher, Friedrich: Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens. S. 48. 99 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. S. 76.
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erzählt. Novalis, der selbst, ebenso wie sein Vater, im Bergbau tätig war, kannte sich in diesem Metier gut aus, weshalb an dieser Stelle der Zusammenhang von Bergbau und Poesie einer weiteren Ausführung wert zu sein scheint. Beide widmen sich einem ähnlichen Ziel, wenn man die Verse des Liedes, das der alte Bergmann vorträgt, nicht nur auf die Geheimnisse des Erdinneren bezieht, die dem Bergmann enthüllt werden, sondern ganz allgemein auf die Natur und die vergangenen Zeiten, die sich wiederum dem Poeten offenbaren: Die mächtigen Geschichten Der längst verfloßnen Zeit, Ist sie ihm zu berichten Mit Freundlichkeit bereit.100
Nach Mahoney wird für Novalis der Bergbau gar „zum Sinnbild der romantischen Kunst, indem das Verschmelzen vom Alten und Neuen sowie das Entdecken und Hervorbringen des bisher Dunklen und Unzugänglichen“101 geleistet wird: eine Leistung, die der Übersetzung durchaus ähnlich ist. Nun ist es dem alten Bergmann zu verdanken, dass er Heinrich in eine nahegelegene Höhle mitnimmt, die er erkunden will, um zu sehen, ob sie von ein paar alten Geschichten zu berichten weiß. Die Höhle ist zu diesem Zeitpunkt des Romans keine unschuldige Höhle mehr, denn Heinrich hat bereits erfahren, dass in der Dichtkunst wie aus Höhlen alte und zukünftige Zeiten aufsteigen und fremde Worte, die man vielleicht nicht versteht, von denen man aber weiß, was sie bedeuten. Zudem ist die Höhle auch der Ort der romantischen Lage, die in der Geschichte des Königs von Atlantis den Dichter-Jüngling und die Prinzessin vereinte. An „einem der wichtigsten Schauplätze der romantischen Literatur: der Höhle“ 102 hält Heinrich sein zukünftiges Dichter-Schicksal als Buch in Händen. Denn die Erkundung der topographischen Dimension des Erdinneren entspricht nicht nur der zeitlichen Erschließung vergangener, tieferer Zeiten, die dadurch mit dem Zukünftigen verbunden werden, sondern dient auch der Exploration des eigenen Schicksals, wie Inka Mülder-Bach darlegt: „Der Weg nach unten – in zeitlicher Codierung: der Weg zurück in die Vergangenheit – ist ein Weg nach innen.“103 In der Höhle finden sie den Einsiedler, den Grafen von Hohenzollern, der dort zurückgezogen lebt und dessen Besitz nicht viel mehr umfasste als „mehrere Bücher […] eine Zither […] und […] eine völlige Rüstung, die ziemlich kostbar zu
100 ebd. S. 88. 101 Mahoney, Dennis F.: Friedrich von Hardenberg (Novalis). S. 128. 102 Mülder-Bach, Inka: Tiefe: Zur Dimension der Romantik. S. 95. 103 ebd. S. 96.
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sein schien“.104 Es sind vor allem die Bücher, die die Aufmerksamkeit Heinrichs auf sich lenken. In einem Moment, in dem der Einsiedler dem Bergmann den Rest der Höhle zeigt und Heinrich allein bei den Büchern zurück bleibt, „fiel ihm ein Buch in die Hände, das in fremder Sprache geschrieben war […]. Er hätte sehnlichst gewünscht, die Sprache zu kennen, denn das Buch gefiel ihm vorzüglich, ohne daß er eine Sylbe davon verstand.“105 Noch weiß Heinrich nicht, dass das Buch von seiner eigenen Geschichte handelt, dennoch fühlt er eine Sehnsucht, die Sprache zu kennen, denn wie viel mehr müsste ihm das Buch erst gefallen, wenn er es lesen, wenn er es verstehen könnte. Das Buch hatte keinen Titel, doch fand er noch beym Suchen einige Bilder. Sie dünkten ihm ganz wunderbar bekannt, und wie er recht zusah, entdeckte er seine eigene Gestalt ziemlich kenntlich unter den Figuren. […] Er traute kaum seinen Sinnen, als er bald auf einem Bilde die Höhle, den Einsiedler, und den Alten neben sich entdeckte. Allmählich fand er auf den anderen Bildern die Morgenländerinn, seine Eltern […] und manche Andere seiner Bekannten; doch waren ihre Kleidungen verändert und schienen aus einer andern Zeit zu seyn. 106
Zweifellos handelt es sich bei dieser Begegnung mit seiner eigenen Geschichte in Form eines Buches in fremder Sprache um einen Höhe- wie Wendepunkt in der Entwicklungsgeschichte Heinrichs, weshalb er zunächst auch „erschrack und glaubte zu träumen“.107 Doch bald bemerkt er, dass sein Schicksal und seine Zukunft als Dichter ein glückliches Leben für ihn bereithalten, denn er sieht auch, was ihn erwartet: Er sah sein Ebenbild in verschiedenen Lagen. Gegen Ende kam er sich größer und edler vor. Die Guitarre ruhte in seinen Armen, und die Landgräfinn reichte ihm einen Kranz. Er sah sich am kayserlichen Hofe, zu Schiffe, in trauter Umarmung mit einem schlanken, lieblichen Mädchen […] und in freundlichen Gesprächen mit Sarazenen und Mohren. Ein Mann von ernstem Ansehn kam häufig in seiner Gesellschaft vor. Er fühlte tiefe Ehrfurcht vor dieser hohen Gestalt, und war froh sich Arm in Arm mit ihm zu sehn. 108
Erfolge als Dichter, Glück in der Liebe, Reisen in ferne Länder und vertraute Freundschaft mit einem Mann, der sich später als der bedeutende Dichter Klingsohr und Vater seiner zukünftigen Verlobten Mathilde entpuppen sollte. Wahrlich, der 104 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. S. 100. Der Graf ist somit in Personalunion erobernder und kolonialisierender Kreuzritter, Forschungsreisender und Dichter. 105 ebd. S. 111. 106 ebd. S. 111. 107 ebd. S. 111. 108 ebd. S. 111-112.
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Schreck hätte größer sein können. Selbstverständlich ist Heinrich neugierig und will mehr über dieses Buch erfahren, doch was ihm der Einsiedler darüber mitzuteilen vermag, ergänzt das, was Heinrich den Bildern entnommen hat, nur um Weniges: Es ist „in provenzialischer Sprache geschrieben […]. Soviel ich weiß, ist es ein Roman von den wunderbaren Schicksalen eines Dichters, worinn die Dichtkunst in ihren mannichfachen Verhältnissen dargestellt und gepriesen wird. Der Schluss fehlt an dieser Handschrift, die ich aus Jerusalem mitgebracht habe“. 109 Insofern ist es ein Buch im Buch, eine Mise en abyme, die von der Entwicklungsgeschichte eines Dichters erzählt und dadurch ausdrücklich auf die Metaebene des Romans verweist, der die Universalpoesie der Romantik zum Thema hat. Daher ist es besonders aufschlussreich, dass das Buch in fremder Sprache geschrieben ist, verschiedene Kulturen zu vermengen scheint und gleichsam die Zeitebenen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Präsenz des Lesens zusammenführt. All diese Faktoren verweisen auf die Arbeit der Übersetzung und deren bedeutenden Anteil an der Universalpoesie, die ebendiese Vereinigung ferner Zeiten, Kulturen und Sprachen leisten soll. Eine Aufgabe, die progressiv, also fortwährend unabgeschlossen bleiben muss, bis der Eintritt in das neue goldene Zeitalter gelungen sein wird. Deshalb erscheint es konsequent, dass der Schluss des Buches fehlt, denn er muss immer weiter geschrieben, immer neu übersetzt werden. Jeder zum Dichter berufene Jüngling wird darin sein eigenes Schicksal wiederfinden, wenn er zur langen Genealogie der Dichter gehört, die vom Morgenland über das Mittelalter Heinrich von Ofterdingens bis zur deutschen Romantik führt. Und es ist diese Epoche, welche diese Verbindung herstellen will und daher das Buch in fremder Sprache für alle verständlich machen muss. Die Reise hat für Heinrich zu einem vorläufigen Ende gefunden und ihm einen klaren Auftrag hinterlassen: Werde Dichter! Wenn er diesen Auftrag erfüllt haben wird, wird er nichts anderes vollbracht haben, als das Buch, das seine eigene Geschichte enthält, übersetzt zu haben.110 Gerade aber die Unabgeschlossenheit dieses
109 ebd. S. 112. 110 Ulrich Stadler hat auf die strukturelle Übereinstimmung des fragmentarischen Romans, des unvollendeten Buchs und der ebenfalls noch nicht vollendeten Entwicklung zum Dichter hingewiesen: „Die Beziehung Heinrichs zu diesem nur begrenzt verständlichen und obendrein nur noch fragmentarisch erhaltenen Buch bildet die genaueste metaphorische Beschreibung des Verhältnisses der Romaneinlagen zur Romanhandlung. […] Die noch dunklen und unverständlichen Bilder erwecken in ihm den Wunsch, das vollständige Buch lesen zu können. Die noch unklare Ebenbildlichkeit soll bis zur Identität vorangetrieben werden. Diese Identität des Lesers Heinrich mit der von ihm entzifferten Buchgestalt verspricht das fehlende Ende des Bandes“. Stadler, Ulrich: Novalis: Heinrich von Ofterdingen. In: Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue
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Buchs mahnt dazu, den Übersetzungsauftrag als offenen Prozess, als niemals endgültig einzulösendes Ideal zu lesen, dem man sich allenfalls unendlich annähern, das man jedoch nie in der Art erreichen kann, dass man von einem statisch gedachten, universal- oder einsprachigen Paradies oder einem Goldenen Zeitalter sprechen kann. Die Mise en abyme ist auch ein metapoetisches Symbol eines unabschließbaren Übersetzungsprozesses, das die Analogie zur unendliche Annäherung der progressiven Universalpoesie veranschaulicht. Das Ende der Reise und die Rückkehr in die Muttersprache Was in den Kapiteln sechs bis acht folgt, ist eine Art Übersetzung des Buches aus der Höhle in Heinrichs intradiegetische Wirklichkeit. Diese wird mit einer allgemeinen Reflexion des Entwicklungsstandes Heinrichs zum Dichter eingeleitet: Heinrich war zum Dichter geboren. Mannichfaltige Zufälle schienen sich zu seiner Bildung zu vereinigen […]. Er sah die Welt in ihren großen und abwechselnden Verhältnissen vor sich liegen. Noch war sie aber stumm, und ihre Seele, das Gespräch, noch nicht erwacht. Schon nahte sich ein Dichter, ein liebliches Mädchen an der Hand, um durch Laute der Muttersprache und durch Berührung eines süßen zärtlichen Mundes, die blöden Lippen aufzuschließen, und den einfachen Accord in unendlichen Melodien zu entfalten.111
Der Dichter und das Mädchen sind Heinrich schon aus dem Buch bekannt und werden ihm nun im ‚wirklichen‘ Leben begegnen, um seine Ausbildung zum Dichter zu vollenden. Klingsohr, der Dichter, wird ihm das Handwerk des Dichtens und seine Tochter Mathilde die Liebe näher bringen. Beides ist für das Dasein als Dichter unabdingbar. Auffallend ist, dass Novalis dieses fehlende Moment in der Entwicklung zum Dichter mit einem Bild beschreibt, das durch Laute der Muttersprache112 aus dem stummen einen sprechenden Dichter machen will. Wenn man sich jedoch die metaphorische Gleichstellung der romantischen Reise mit der Übersetzung in Erinnerung ruft, dann enthält dieses Bild eine innere Logik. Nachdem Heinrich allerhand fremde Geschichten und Personen kennen gelernt hat, am Ende gar seine eigene Lebensgeschichte in fremder Sprache, fehlt noch der letzte Schritt zuInterpretationen. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Stuttgart: P. Reclam 1981. S. 141– 162. S. 144. 111 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. S. 116. 112 Friedrich Kittler hat deutlich gemacht, dass die Sprache des Dichters vor allem über Mündlichkeit und speziell durch Frauen vermittelte Mündlichkeit verläuft und dabei die Mutter eine zentrale Rolle spielt: Kittler, Friedrich A.: Die Irrwege des Eros und die "absolute Familie". Dennoch ist es an dieser Stelle durchaus sinnvoll, die „erste“ Bedeutung von Muttersprache, also die eigentlich „eigene“ Sprache Heinrichs im Gegensatz zu anderen Fremdsprachen oder Sprachen des/der Fremden ernst zu nehmen.
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rück ins Eigene, die Rückkehr in die Heimat bzw. in die eigene Sprache, die Muttersprache. Oder, wie es Larisa Cercel in Bezug auf Schleiermachers Übersetzungsaufsatz ausdrückt: „Erst durch den Umweg ins Fremde kommt man zum authentischen Eigenen“.113 Man ist in Augsburg angekommen, in der Heimatstadt der Mutter: „Die Reise war nun geendigt.“114 Der hermeneutische Zirkel der Übersetzung scheint sich zu schließen. Jetzt fügt sich auch für Heinrich alles zusammen, was ihn einst dazu veranlasste, sein Zuhause zu verlassen und in die Fremde aufzubrechen. Ein höherer Zusammenhang, der alle Einzelteile vereint, erschließt sich. Der Traum, der von den Erzählungen eines Fremden ausgelöst wurde, scheint nun seine Bedeutung, seine Übersetzung gefunden zu haben: Ist mir nicht zu Muthe, wie in jenem Traume, beym Anblick der blauen Blume? Welcher sonderbare Zusammenhang ist zwischen Mathilden und dieser Blume? Jenes Gesicht, das aus dem Kelche sich mir entgegenneigte, es war Mathildens himmlisches Gesicht, und nun erinnere ich mich auch, es in jenem Buche gesehn zu haben. […] Es war kein Zufall, daß ich sie am Ende meiner Reise sah.115
Die vorläufige Entwicklung Heinrichs ist mit der Reise abgeschlossen, und der erste Teil des Romans endet mit dem allegorischen Märchen Klingsohrs. Die Genese des Dichters scheint gelungen, der Kreis geschlossen, da Heinrich zu sich selbst und zu seiner ‚Muttersprache‘ zurückgekehrt ist. Allein, es bleibt pure Spekulation, denn der Roman wurde nicht vollendet. Es handelt sich eben nur um ein vorläufiges, vermeintliches Ende, das nicht dazu verführen darf, den ersten Teil schon als Erfüllung – und eben nicht mehr als Erwartung – zu lesen. Man kann Larisa Cercels Schleiermacher-Interpretation mit Novalis’ Roman selbst widersprechen, dessen Interpretation gezeigt hat, dass es kein authentisches Eigenes gibt, sondern dass das Eigene immer schon – hier wörtlich ‚von Beginn an‘ – vom Fremden durchsetzt ist, und man gerade nach einer Reise in die Fremde, die wiederum Elemente des Eigenen enthält, umso weniger in ein Eigenes zurückkehren kann, das dann authentisch wäre (wenn man denn überhaupt bestimmen könnte, was mit ‚authentisch‘ hier gemeint sein soll), da man durch die Reise wiederum viel Fremdes in sich aufgenommen hat und daher anders zurückkehren muss. Eine derartige Interpretation der Rückkehr in ein authentisches Eigenes entspricht jedoch einer hermeneutischen Projektion, die eine finale Schließung als ideales Ziel vorgibt, das jedoch gerade 113 Cercel, Larisa: Das Verhältnis vom Eigenen und Fremden in Schleiermachers Übersetzungstheorie. In: Das Fremde im Eigensten. Hrsg. von Bernd Kortländer. Tübingen: Narr Francke Attempto 2011. S. 95-111. S. 105. 114 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. S. 116. 115 ebd. S. 128-129.
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einer universalen Progression der romantischen Poesie genauso wenig gerecht werden kann wie eine ideale Übersetzung, die einmal und dann für immer geleistet sein wird. Die unvollendete Annäherung: Der Roman als Fragment Um der Versuchung einer abschließenden und zu vereinfachenden Lesart des Romans zu widerstehen, ist es notwendig, den fragmentarischen Charakter des Werks hervorzuheben. Der zweite Teil des Heinrich von Ofterdingen ist nur als kurzes Fragment erhalten: Man verfügt lediglich über Notizen und den Bericht von Ludwig Tieck über die geplante Fortsetzung des Romans. 116 Aus diesen lässt sich immerhin schließen, dass zu Beginn des zweiten Teils das goldene Zeitalter, anders als am Ende des ersten Teils und wegen Klingsohrs allegorischem Märchen zu vermuten, noch nicht erreicht ist. Im Gegenteil: Der Weg Heinrichs ist an einem traurigen Tiefpunkt angekommen, denn er hat den Tod seiner Frau Mathilde zu betrauern, und man sieht ihn als Pilgrim aus der Welt fliehen. Nun gilt es die letzten Rätsel des Lebens, und dazu gehört der Tod, zu lösen. Deshalb tauchen zahlreiche Figuren des ersten Teils andeutungsweise und in anderer Form wieder auf, etwa Zulima als Cyane und der Bergmann als Sylvester. Doch um all diese Zusammenhänge zu verstehen, muss Heinrich, nachdem er im ersten Teil zum Dichter geworden war, nun noch zum Propheten werden. Poesie und Religion stehen daher in engem Zusammenhang, was bereits durch den Titel des zweiten Teils des Romans, Erfüllung, verdeutlicht wird: „Die Unschuld eures Herzens macht euch zum Profeten, erwiederte Sylvester: euch wird alles verständlich werden, und die Welt und ihre Geschichte verwandelt sich in die heilige Schrift, so wie ihr an der heiligen Schrift das große Beispiel habt, wie in einfachen Worten und Geschichten das Weltall offenbart werden kann“.117 Es fehlt Heinrich noch das alles verwandelnde Verständnis von der Welt, das einen wahren Dichter in einen Propheten verwandelt. Denn dem „Dichter, welcher das Wesen seiner Kunst im Mittelpunkt ergriffen hat, erscheint nichts wiedersprechend und fremd, ihm sind die Räthsel gelöst, durch die Magie der Fantasie kann er alle Zeitalter und Welten verknüpfen“.118 Noch hat Heinrich das Wesen seiner Kunst nicht im Mittelpunkt ergriffen, noch gibt es Dinge, wie den Tod, die ihm wiedersprechend und fremd erscheinen. Um dieses tiefere Verständnis der Welt und der Dichtung zu verstehen, muss Heinrich noch einmal auf Reisen gehen, noch einmal wiederholt sich das bekannte Muster der romantischen Reise, nur dass es ihm diesmal möglich ist, in ferne und vergangene Zeiten zu reisen. Dies ist ein weiteres Element, das die Bedeutung der Übersetzung hervorhebt, da es bei ihr nicht 116 Vgl. dazu: ebd. S. 212-228. 117 ebd. S. 210. 118 ebd. S. 213.
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nur um den Austausch mit fremden Sprachen und Kulturen geht, sondern immer auch um Übertragungen aus vergangenen Zeiten. Bei Tieck heißt es unter anderem: Von einem Sturm wird der Dichter nach Griechenland verschlagen. Die alte Welt mit ihren Helden und Kunstschätzen erfüllt sein Gemüth […] Nachdem Heinrich die Heldenzeit und das Alterthum hat verstehen lernen, kommt er nach dem Morgenlande […]. Er besucht Jerusalem; er lernt orientalische Gedichte kennen. […] Persische Märchen. Erinnerungen aus der ältesten Welt […] durchaus sollen zugleich die entferntesten und verschiedenartigsten Sagen verknüpft werden, Griechische [sic!], orientalische, biblische und christliche, mit Erinnerungen und Andeutungen des Indischen wie der nordischen Mythologie.119
Und am Ende wird alles in die eigene Kultur und Sprache übertragen: „Mit Erfahrungen gesättigt kehrt Heinrich nach Deutschland zurück.“120 Was Novalis für den Rest des Romans geplant hatte, gleicht dem, was er an anderer Stelle über den Begriff der Zueignung andeutet: „Der Geist strebt den Reitz zu absorbieren. Ihn reizt das Fremdartige. Verwandlung des Fremden in ein Eigenes, Zueignung ist also das unaufhörliche Geschäft des Geistes. Einst soll kein Reitz und nichts Fremdes mehr seyn“.121 Erst nachdem Heinrich dieses allumfassende Verständnis der Welt erlangt haben wird, schließt sich der Kreis wieder, und „er trifft unterwegs den Fremden, der ihm und seinen Eltern zuerst von der blauen Blume erzählt hatte“. 122 Jenen Fremden also, der durch seine Erzählung den ursprünglichen Traum Heinrichs ausgelöst hatte, der am Beginn seiner Entwicklung zum Dichter stand. Dieser weist ihm nun den Weg, den Traum zu entschlüsseln bzw. den Traum in Wirklichkeit zu verwandeln. Ein vielsagender, allegorischer und auf die wahre Bedeutung der Universalpoesie verweisender Schluss: „Er findet die blaue Blume, es ist Mathilde, die schläft und den Karfunkel hat, ein kleines Mädchen, sein und Mathildes Kind, sitzt bei einem Sarge, und verjüngt ihn. - >Dieses Kind ist die Urwelt, die goldne Zeit am Ende.