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German Pages 1435 [1476] Year 2009
Rhetorik und Stilistik Rhetoric and Stylistics HSK 31.2
≥
Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschat Handbooks o Linguistics and Communication Science Manuels de linguistique et des sciences de communication Mitbegründet von Gerold Ungeheuer () Mitherausgegeben 19852001 von Hugo Steger
Herausgegeben von / Edited by / Edite´s par Herbert Ernst Wiegand Band 31.2
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Rhetorik und Stilistik Rhetoric and Stylistics Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung An International Handbook o Historical and Systematic Research Herausgegeben von / edited by Ulla Fix, Andreas Gardt, Joachim Knape 2. Halbband / Volume 2
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. 앪 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Rhetorik und Stilistik: ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung ⫽ Rhetoric and stylistics: an international handbook of historical and systematic research / edited by Ulla Fix, Andreas Gardt, Joachim Knape. ⬍2⬎ v. ; cm. ⫺ (Handbooks of linguistics and communication science ; v. 31) Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-013710-1 (hardcover : v. 1 : acid-free paper) ISBN 978-3-11-017857-9 (hardcover : v. 2 : acid-free paper) 1. Rhetoric. 2. Language and languages ⫺ Style. I. Fix, Ulla. II. Gardt, Andreas, 1954⫺ III. Knape, Joachim. IV. Title: Rhetoric and stylistics. V. Series: Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ; Bd. 31 P301.R4728 2008 808⫺dc22 200845662
ISBN 978-3-11-017857-9 ISSN 1861-5090 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ” Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin, Germany. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: META-Systems GmbH, Wustermark Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen
Inhaltsverzeichnis / Contents
Band 2/ Volume 2 VI.
Dimensionen der Kategorie Stil Dimensions o the Category o Style
67. 68.
Angelika Linke, Stil und Kultur / Style and culture . . . . . . . . . . . . Christian Meyer, Rhetoric and culture in Non-European societies / Rhetorik und Kultur in außereuropäischen Gesellschaften . . . . . . . . . . Hans Jürgen Heringer, Stil und Moral / Style and ethics . . . . . . . . . Winfried Nöth, Stil als Zeichen / Style as sign . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Gardt, Stil und Bedeutung / Style and meaning . . . . . . . . . Wilhelm Köller, Stil und Grammatik / Style and grammar . . . . . . . . Ulrich Breuer, Stil und Individuum (Individualstil) / Style and the individual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Dittmar, Stil und Sozialität (Gruppe, Geschlecht, Alter) / Style and sociality (group, sex, age) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang G. Müller, Epochenstil/Zeitstil / epoch style/period style . . . Burghard Weiss, Stile wissenschaftlichen Denkens / Styles of scientific thinking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69. 70. 71. 72. 73. 74. 75. 76.
1131 1144 1158 1178 1196 1210 1230 1245 1271 1285
VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Central Categories and Issues o Rhetoric and Stylistics 77. 78. 79.
80. 81. 82.
Ulla Fix, Muster und Abweichung in Rhetorik und Stilistik / Pattern and deviation in rhetoric and stylistics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Hoffmann, Situation als Kategorie von Rhetorik und Stilistik / Situation as a category of rhetoric and stylistics . . . . . . . . . . . . . . Barbara Sandig, Handlung (Intention, Botschaft, Rezeption) als Kategorie der Stilistik / Action (intention, message, reception) as a stylistic category . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulf Abraham, Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit / Style as an an integral category (gestalt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hanspeter Ortner, Fehlformen rhetorisch-stilistischen Handelns / Misuse of rhetorical/stylistic categories . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingo H. Warnke, Stilwandel und Sprachwandel / Style change and language change . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1300 1316
1335 1348 1367 1381
vi
Inhaltsverzeichnis / Contents
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik Text Composition within the Framework o Classical Rhetoric 83.
84.
85.
86. 87. 88. 89. 90. 91.
Manfred Kraus, Exercises for text composition (exercitationes, progymnasmata) / Übungen zur Textgestaltung (exercitationes, progymnasmata) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicola Kaminski, Regulative und Normen der Textgestaltung (imitatio vs. aemulatio) / Regulations and norms of text composition (imitatio vs. aemulatio) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Kriterien der Textgestaltung (virtutes elocutionis: latinitas, perspicuitas, ornatus, aptum) / Criteria of text composition (virtutes elocutionis: latinitas, perspicuitas, ornatus, aptum) . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Niveau der Textgestaltung (Dreistillehre/genera dicendi) / Composition standards (system of three styles/genera dicendi) Thomas Schirren, Topik im Rahmen der klassischen Rhetorik / Topics in classical rhetoric . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik / Figures in classical rhetoric . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Tropen im Rahmen der klassischen Rhetorik / Tropes in classical rhetoric . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gregor Staab, Satzlehre im Rahmen der klassischen Rhetorik / Sentence composition in classical rhetoric . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Textaufbau und Redeteilschemata (partes orationis) / Text structure and the parts of the speech (partes orationis) . . . . . . .
IX.
Textgestaltung im Rahmen der Stilistik Text Composition within the Framework o Stylistics
92.
Michael Hoffmann, Mikro- und makrostilistische Einheiten im Überblick / Micro- and macrostylistic elements: An overview . . . . . . . . . Bernd Spillner, Stilistische Phänomene der Schreibung und Lautung / Stylistic aspects of spelling and articulation . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Handler, Stilistische Phänomene der Wortbildung / Stylistic aspects of word formation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Dieter Ludwig, Stilistische Phänomene der Lexik / Stylistic aspects of the lexicon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Eroms, Stilistische Phänomene der Syntax / Stylistic aspects of syntax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Heinemann, Stilistische Phänomene auf der Ebene des Textes / Stylistic aspects of the text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Wengeler, Stilistische und rhetorische Phänomene auf der Ebene des Diskurses / Stylistic and rhetorical aspects of written discourse . . . Inken Keim, Gesprächstyp und Stil / Conversation type and style . . .
93. 94. 95. 96. 97. 98. 99.
1396
1406
1417 1425 1444 1459 1485 1498 1515
1529 1545 1563 1575 1594 1610 1630 1648
Inhaltsverzeichnis / Contents 100.
Norbert Dittmar, Varietäten und Stil / Varieties and style . . . . . . . .
101.
Norbert Richard Wolf, Historische Textsorten und Stil / Historical varieties and style . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ines-Andrea Busch-Lauer, Fach- und gruppensprachliche Varietäten und Stil / Subject- and group-specific varieties and style . . . . . . . . .
102. 103. 104.
vii 1669 1691 1706
Ines-Andrea Busch-Lauer, Funktionale Varietäten und Stil / Functional varieties and style . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1722
Bernd Spillner, Verfahren stilistischer Textanalyse / Methods of stylistic text analysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1739
X.
Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaten in der Gegenwart The Current Role o Rhetoric and Stylistics in other Disciplines
105.
John H. Smith, Rhetoric and stylistics in philosophy / Rhetorik und Stilistik in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1783
106.
Albrecht Grözinger, Rhetorik und Stilistik in der Theologie / Rhetoric and stylistics in theology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1798
Katharina Gräfin von Schlieffen, Rhetorik und Stilistik in der Rechtswissenschaft / Rhetoric and stylistics in jurisprudence . . . . . . . . . . .
1811
Hubert Knoblauch, Rhetorik und Stilistik in der Soziologie / Rhetoric and stylistics in sociology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1833
Wolfgang Bergsdorf, Rhetorik und Stilistik in der Politologie / Rhetoric and stylistics in political science . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1842
110.
Norbert Groeben, Stilistik und Rhetorik in der Psychologie / Rhetoric and stylistics in psychology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1856
111.
Christian Meyer, Rhetoric and stylistics in social/cultural anthropology / Rhetorik und Stilistik in der Ethnologie . . . . . . . . . . . . . . .
1871
Julia Schmid, Rhetorik und Stilistik in der Literaturwissenschaft / Rhetoric and stylistics in literary studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1885
113.
Christina Gansel, Rhetorik und Stilistik in Text- und Gesprächslinguistik / Rhetoric and stylistics in linguistics of text and conversation . . .
1907
114.
Martin Papenbrock, Der Stilbegriff in der Kunstwissenschaft / The concept of style in fine art studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1921
115.
Hartmut Krones, Rhetorik und Stilistik in der Musikwissenschaft / Rhetoric and stylistics in musicology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1932
116.
Jürg Niederhauser, Rhetorik und Stilistik in den Naturwissenschaften / Rhetoric and stylistics in the natural sciences . . . . . . . . . . . . . . . .
1949
Hans J. Vermeer, Rhetorik und Stilistik in der Translationswissenschaft / Rhetoric and stylistics in translation studies . . . . . . . . . . . .
1965
107. 108. 109.
112.
117.
viii
Inhaltsverzeichnis / Contents
XI.
Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive International Perspectives o Rhetoric and Stylistics
118.
Harald Haarmann, Die stilistische Charakterisierung von Einzelsprachen: Möglichkeiten und Probleme / The stylistic characterization of individual languages: Approaches and problems . . . . . . . . . . . . . . Helga Kotthoff, Rhetorik und Stilistik in interkultureller Kommunikation / Rhetoric and stylistics in intercultural communication . . . . . . . Eli Hinkel, Contrastive rhetoric / Kontrastive Rhetorik . . . . . . . . . Barbara Mittler/Asa-Bettina Wuthenow, Rhetoric and stylistics in East Asia / Rhetorik und Stilistik in Ostasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Renate Würsch, Rhetorik und Stilistik im arabischen Raum / Rhetoric and stylistics in the Arab region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Otto Dill, Rhetorik und Stilistik in Lateinamerika / Rhetoric and stylistics in Latin America . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119. 120. 121. 122. 123.
1979 1998 2014 2027 2040 2053
XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I: zeitgenössische Lebens- und Diskursbereiche im Spiegel ihrer Äußerungen und Texte Applied Rhetoric and Stylistics I: Social Spheres and Discourse Areas as Relected in Spoken and Written Language 124.
125. 126. 127. 128.
129.
130.
131.
Roman Luckscheiter, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Erzählliteratur der Gegenwart / Rhetorical/stylistic characteristics of contemporary narrative literature . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Burdorf, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Lyrik der Gegenwart / Rhetorical/stylistic characteristics of contemporary poetry . . Jörg Wesche, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften des Dramas der Gegenwart / Rhetorical/stylistic characteristics of contemporary drama . . Josef Klein, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache der Politik / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of politics . . . . Markus Nussbaumer, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Rechtswesens / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christiane Hohenstein/Jochen Rehbein, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache der Verwaltung / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of administration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nina Janich, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Werbung und Public Relations / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of advertising and public relations . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schröder, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Journalismus in den Printmedien / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of journalism in the print media . . . . . . . . . . . . . . .
2068 2082 2100 2112
2132
2151
2167
2182
Inhaltsverzeichnis / Contents 132.
133.
134. 135.
136.
137.
138.
Werner Holly, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Hörfunk und Fernsehen / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of broadcasting and television . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Storrer, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Internets / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of the internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hanspeter Ortner, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Bildungssprache / Rhetorical/stylistic characteristics of ‘good German’ . . . . . . Klaus-Dieter Baumann, Sprache in Naturwissenschaften und Technik / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of the natural sciences and technology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingwer Paul, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Religion und Kirche / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of religion and the church . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Georg-Maria Meyer, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Militärs / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of the military . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Simmler, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Sports / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of sports . . . .
ix
2197
2211 2227
2241
2257
2274 2289
XIII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung II: didaktische Aspekte Applied Rhetoric and Stylistics II: Didactic Aspects 139. 140. 141. 142. 143.
144. 145. 146.
Albert Bremerich-Vos, Rhetorische Ratgeber für Beruf und Alltag / Rhetorical manuals for professional and everyday settings . . . . . . . . . . . Albrecht Greule/Katja Kessel, Praxisbezogene Stillehren / Hands-on handbooks of style . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Neuland, Rhetorik und Stilistik in der Sprachdidaktik / Rhetoric and stylistics in language didactics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Bothe, Kreatives Schreiben / Creative writing . . . . . . . . . . . . Eva-Maria Jakobs, Die Schlüsselqualifikationen Reden und Schreiben in der universitären Ausbildung / Speaking and writing as key qualifications in university education . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Fiehler, Kommunikationstraining / Communication training . . Stefanie Mitschele/Rainer Baber, Das professionelle Verfassen von Reden / Professional speech writing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Gutenberg, Speech communication studies and speech communication training / Sprechwissenschaft und Sprecherziehung . . . . . .
Indices .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2320 2334 2350 2364
2377 2387 2403 2418 2433
x
Inhaltsverzeichnis / Contents
Band 1/ Volume 1 I. 1. 2. 3. 4.
5.
6.
7.
8.
9.
10. 11. 12.
13.
14.
Theoriegeschichte der Rhetorik und Stilistik History o the Theory o Rhetoric and Stylistics Thomas Schirren, Rhetorik und Stilistik der griechischen Antike / Rhetoric and stylistics in ancient Greece . . . . . . . . . . . . . . . . . . Øivind Andersen, Rhetoric and stylistics in ancient Rome / Rhetorik und Stilistik der römischen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Knape, Rhetorik und Stilistik des Mittelalters / Rhetoric and stylistics in the Middle Ages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Knape, Rhetorik und Stilistik der deutschsprachigen Länder in Humanismus, Renaissance und Reformation im europäischen Kontext / Rhetoric and stylistics of the German-speaking countries in Humanism, the Renaissance, and the Reformation in a European context . . . . . . Sylvia Heudecker/Jörg Wesche, Rhetorik und Stilistik der deutschsprachigen Länder in der Zeit des Barock / Rhetoric and stylistics of the German-speaking countries in the Baroque . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietmar Till, Rhetorik und Stilistik der deutschsprachigen Länder in der Zeit der Aufklärung / Rhetoric and stylistics of the German-speaking countries in the Enlightenment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Schanze, Rhetorik und Stilistik der deutschsprachigen Länder von der Romantik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts / Rhetoric and stylistics of the German-speaking countries from Romanticism until the end of the 19 th century . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Kopperschmidt, Rhetorik der deutschsprachigen Länder vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart / Rhetoric of the Germanspeaking countries from the beginning of the 20 th century until the present . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Püschel, Stilistik der deutschsprachigen Länder vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart / Stylistics of the German-speaking countries from the beginning of the 20 th century until the present . . . Ekkehard Eggs, Rhetorik und Stilistik der Neuzeit in Frankreich / Rhetoric and stylistics in modern France . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Kapp, Rhetorik und Stilistik der Neuzeit in Italien / Rhetoric and stylistics in modern Italy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vicent Salvador, Rhetoric and stylistics in Spain and Portugal in the 20 th and 21st centuries / Rhetorik und Stilistik in Spanien und Portugal im 20. und 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Craig Hamilton, Rhetoric and stylistics in Anglo-Saxon countries in the 20 th and 21st centuries / Rhetorik und Stilistik in angelsächsischen Ländern im 20. und 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Renate Lachmann, Rhetorik und Stilistik der Neuzeit in den slawischen Ländern / Rhetoric and stylistics in the modern Slavic countries . . . .
1 25 55
73
97
112
131
146
165 179 206
226
245 263
Inhaltsverzeichnis / Contents
II.
Praxisgeschichte der Rhetorik und Stilistik History o the Practice o Rhetoric and Stylistics
15.
Stanley E. Porter, Applied rhetoric and stylistics in ancient Greece / Rhetorische und stilistische Praxis der griechischen Antike . . . . . . . . Manfred Landfester, Rhetorische und stilistische Praxis der römischen Antike / Applied rhetoric and stylistics in ancient Rome . . . . . . . . . Frank Bezner, Rhetorische und stilistische Praxis des lateinischen Mittelalters / Applied rhetoric and stylistics in the Latin Middle Ages . . . Gert Hübner, Rhetorische und stilistische Praxis des deutschen Mittelalters / Applied rhetoric and stylistics in the German Middle Ages . . . Jörg Robert, Rhetorische und stilistische Praxis des Lateinischen in den deutschsprachigen Ländern in Humanismus, Renaissance und Reformation / Applied Latin rhetoric and stylistics of the German-speaking countries in Humanism, the Renaissance, and the Reformation . . . . . Joachim Knape/Stefanie Luppold, Rhetorische und stilistische Praxis des Deutschen in den deutschsprachigen Ländern in Humanismus, Renaissance und Reformation / Applied German rhetoric and stylistics in Humanism, Renaissance, and the Reformation . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Ohlendorf, Rhetorische und stilistische Praxis der deutschsprachigen Länder in der Zeit des Barock / Applied rhetoric and stylistics of the German-speaking countries in the Baroque . . . . . . . . . . . . . Urs Meyer, Rhetorische und stilistische Praxis der deutschsprachigen Länder in der Zeit der Aufklärung / Applied rhetoric and stylistics of the German-speaking countries in the Enlightenment . . . . . . . . . . . Peter Ernst, Rhetorische und stilistische Praxis der deutschsprachigen Länder von der Romantik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts / Applied rhetoric and stylistics of the German-speaking countries from Romanticism until the end of the 19 th century . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dagny Guhr/Joachim Knape, Rhetorische Praxis in Deutschland vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart / Applied rhetoric of the German-speaking countries from the beginning of the 20 th century until the present . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marie-He´le`ne Pe´rennec, Rhetorische und stilistische Praxis der Neuzeit in Frankreich / Applied rhetoric and stylistics in modern France . . . . Ludwig Fesenmeier, Rhetorische und stilistische Praxis der Neuzeit in Italien / Applied rhetoric and stylistics in modern Italy . . . . . . . . . . Vicent Salvador, Applied rhetoric and stylistics in Spain and Portugal in the 20 th and 21st centuries / Rhetorische und stilistische Praxis in Spanien und Portugal im 20. und 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . Craig Hamilton, Applied rhetoric and stylistics in Anglo-Saxon countries in the 20 th and 21st centuries / Rhetorische und stilistische Praxis in angelsächsischen Ländern im 20. und 21. Jahrhundert . . . . . . . . . Konstantin A. Bogdanov, Rhetorische und stilistische Praxis der Neuzeit in Russland / Applied rhetoric and stylistics in modern Russia . . .
16. 17. 18. 19.
20.
21.
22.
23.
24.
25. 26. 27.
28.
29.
xi
284 307 326 348
370
385
413
429
444
463 488 507
532
550 569
xii
Inhaltsverzeichnis / Contents
III.
Systematische Bereiche der klassischen Rhetoriktheorie The System o Classical Rhetorical Theory
30. 31.
Fabian Klotz, Der Orator / The orator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Redeabsicht und Wirkungsmodi (docere, delectare, movere) / Speech intention and modes of effect (docere, delectare, movere) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Funktionalgattungen der Rede (genera causarum) / Functional types of speech (genera causarum) . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Redesachverhaltsfeststellung (Statuslehre) / The identification of the case (status) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Rhetorik des Textes: Produktionsstadien der Rede / Rhetoric of the text: The stages of speech production . . . . . . . . . . . Michael Hoppmann, Rhetorik des Verstandes (Beweis- und Argumentationslehre) / Rhetoric of reason: The system of proof and argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietmar Till, Rhetorik des Affekts (pathos) / Rhetoric of affect (pathos) Thomas Schirren, Rhetorik des Körpers (actio I) / Rhetoric of the body (actio I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhart Meyer-Kalkus, Rhetorik der Stimme (actio II: pronuntiatio) / Rhetoric of the voice (actio II: pronuntiatio) . . . . . . . . . . . . . . . .
32. 33. 34. 35.
36. 37. 38.
IV.
Theoriebereiche und Forschungselder moderner Rhetorik Theoretical Fields and Areas o Research in Modern Rhetoric
39.
James Price Dillard/Lori B. Miraldi, Persuasion: Research areas and approaches / Persuasion: Forschungsfelder und -ansätze . . . . . . . . . Manfred Kienpointner, Argumentationstheorie / Theory of argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richard Graff, Topics/Topoi / Topik/Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Ge´vaudan, Tropen und Figuren / Tropes and figures . . . . . . . . Wolf-Andreas Liebert, Metaphernforschung / Metaphor research . . . . Reinhard Fiehler, Emotionale Kommunikation / Emotional communication . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursula Hirschfeld/Baldur Neuber/Eberhard Stock, Sprach- und Sprechwirkungsforschung / Language- and speech-effect research . . . . . . . . Judee K. Burgoon/Sean Humpherys/Kevin Moffitt, Nonverbal communication: Research areas and approaches / Nonverbale Kommunikation: Forschungsfelder und -ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . John S. Seiter/Robert H. Gass, Compliance-gaining research: A canonical review / Streben nach Zustimmung: Forschungsfelder und -ansätze
40. 41. 42. 43. 44. 45. 46.
47.
587
598 602 610 620
630 646 669 679
689 702 717 728 743 757 772
787 812
Inhaltsverzeichnis / Contents 48.
49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57.
58.
Michael Hoppmann, Pragmatische Aspekte der Kommunikation: Höflichkeit und Ritualisierung / Pragmatic aspects of communication: Politeness and ritualization . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Bonfadelli, Medienwirkungsforschung / Media effects research . Sally A. Jackson, Message effects research / Rhetorische Wirkungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter L. Oesterreich, Anthropologische Rhetorik / Anthropological rhetoric . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lily Tonger-Erk, Rhetorik und Gender Studies / Rhetoric and gender studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Knape, Rhetorik der Künste / Rhetoric and the arts . . . . . . James Jasinski, Rhetorical criticism in the USA / Rhetorical Criticism in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreea Deciu Ritivoi/Richard Graff, Rhetoric and modern literary theory / Rhetorik und neuere Literaturtheorie . . . . . . . . . . . . . . . Ronald Walter Greene, Rhetoric in cultural studies / Rhetorik in den Cultural Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katie Böhme, Das Bild der Rhetorik in Enzyklopädien und in modernen rhetorischen Nachschlagewerken / The concept of rhetoric in encyclopaedias and modern rhetorical works of reference . . . . . . . . . . . Philipp Erchinger, Das Bild der Rhetorik in der rhetorikkritischen Tradition / Criticizing rhetoric: Traditions and arguments . . . . . . . . . .
V.
Theoriebereiche und Forschungselder moderner Stilistik Theoretical Fields and Areas o Research in Modern Stylistics
59.
Jirˇi Kraus, Structuralist conceptions of style / Strukturalistische Stilauffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Püschel, Kommunikativ-pragmatische Stilauffassungen / Communicative-pragmatic conceptions of style . . . . . . . . . . . . . . . . . Margret Selting, Interactional stylistics and style as a contextualization cue / Handlungsstilistik und Stil als Kontextualisierungssignal . . . . . Johannes Schwitalla, Gesprächsstile / Conversational styles . . . . . . . Johannes Anderegg, Literaturwissenschaftliche Stilauffassungen / Concepts of style in literary studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursula Christmann, Rhetorisch-stilistische Aspekte moderner Verstehens- und Verständlichkeitsforschung / Rhetorical and stylistic aspects of modern research on text processing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Sandig, Stil als kognitives Phänomen / Style as a cognitive phenomenon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lawrence A. Hosman, Style and persuasion / Stil und Persuasion . . .
60. 61. 62. 63. 64.
65. 66.
xiii
826 837 855 869 880 894 928 944 959
971 991
1010 1023 1038 1054 1076
1092 1106 1119
VI. Dimensionen der Kategorie Stil 67. Stil und Kultur 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Einführung Kultur Stil Stil und Kultur: kulturelle Stile Sprachliche Stile als kulturelle Stile Literatur (in Auswahl)
Abstract The present article is meant to contribute to a broader theoretical discussion of the relation between style and culture. Both style and culture are complex theoretical concepts with a long-standing history of definition (chapter 1: Introduction). The concept of culture is discussed as a comprehensive concept which nevertheless has to be thought of as both plural and flexible (chapter 2: Culture). I propose a praxeological understanding of culture that highlights the corporeal foundation as well as the materiality of cultural practices. From this perspective, culture must be conceived as a category of both content and form. Style, in contrast, is a category of form. According to the concept presented in this article, style is a significant and typical form, an effect not necessarily intended, a phenomenon creating difference and identity, a result of selection and of the experience of contrast (chapter 3: Style). For integrating culture and style into the concept of cultural style, the aspect of form is considered to be constitutive (chapter 4: Cultural Styles): Only where isomorphic elements of form across varying material bases can be recognized as analog and, in turn, as style (Hahn 1986), phenomena that differ with respect to their content can nevertheless be attributed to the same whole and can be seen as coherent. From the article’s perspective, cultural styles include collective linguistic styles, which can be found both on the level of the single language (Humboldt) and on the level of the language usage of groups, larger social formations, or in historical epochs (chapter 5: Linguistic Styles as Cultural Styles). Although one can lately discern an ongoing scholarly sensitization for the suitability of the concept style inspired by the interest in the linguistic construction of society and culture, linguistics still lacks a general theoretical framework and an established set of methodological instruments for the exploration of phenomena of collective style.
1. Einührung Stil und Kultur sind theoretische Großbegriffe. Jeder Versuch, sie im Kontext einer Fragestellung näher zu bestimmen, findet immer schon vor dem Hintergrund unterschiedlichster Definitionstraditionen sowie der zugehörigen kritischen Infragestellungen statt.
1132
VI. Dimensionen der Kategorie Stil Darauf kann im Folgenden nur minimal eingegangen werden (Kroeber/Kluckhohn) haben bereits 1952 und damit vor der neuerlichen Karriere des Kulturkonzeptes in den Wissenschaften über 150 Definitionen von Kultur zusammengestellt und deren weites Spektrum eindrücklich aufgezeigt). Aus der In-Bezug-Setzung von Stil und Kultur im Titel dieses Artikels ergibt sich allerdings bereits ein Vorverständnis der beiden Konzepte, welches den gegenseitigen Bezug als sinnvoll erachtet, auch wenn er nicht näher spezifiziert wird. Es werden deshalb zunächst relevante Aspekte beider Konzepte getrennt skizziert, jedoch bereits mit Blick auf den beabsichtigten Bezug zueinander. Zu diesem Bezug selbst gibt es wenig theoretische Vorarbeit, obwohl z. B. in Studien zur interkulturellen Kommunikation wie auch in den traditionellen kunst- und literaturhistorischen Zusammenhängen die beiden Konzepte praktisch und produktiv als interdependent behandelt werden. Die folgenden Ausführungen sind zumindest in Teilen als Ansatz zu einer allgemeineren theoretischen Klärung zu lesen. Dass zunächst auf Kultur eingegangen wird, signalisiert eine erste Setzung.
2. Kultur Fritz Hermanns (1999) fasst Kultur unter die von ihm sogenannten Totalitätsbegriffe, deren Definitionen meist Listen von subsumierten Phänomenen enthalten und durch Formulierungen wie ist die Menge von … oder ist alles, was … eingeleitet werden. Tatsächlich gilt dies in auffallender Weise für die in der Kulturforschung der letzten 150 Jahre theorieprägenden Definitionen von Kultur. So etwa bei Edward Burnett Tylor (1871, 1): „Culture […] is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society“, bei Franz Boas (1963 [1911], 149): „Culture may be defined as the totality of the mental and physical reactions and activities that characterizes the behavior of the individuals composing a social group“ oder bei Ward Goodenough (1964 [1957], 36): „A society’s culture consists of whatever it is one has to know or believe in order to operate in a manner acceptable to its members“. Die zitierten Definitionen, die alle aus primär ethnologischen Kontexten stammen, präsentieren Kultur nicht als ein auf das Individuum, sondern auf soziale Gruppierungen bezogenes Konzept. Kultur wird definiert als Produkt und formatives Moment von Gesellschaft und als Medium der Integration des Einzelnen in ein Kollektiv. Im Gegensatz zu einem Alltagsverständnis von Kultur, das häufig normativ geprägt ist, sich in erster Linie auf die schönen Künste bezieht und oft stark objektorientierten Charakter hat, ist das Kulturverständnis gegenwärtiger cultural studies bzw. der Kulturwissenschaften, für das u. a. die oben zitierten Definitionen prägend waren, explizit nicht-normativ, nicht-objektorientiert sowie auf die gesamte Lebenswelt des Menschen bezogen. Als kulturgeprägt und kulturkonstitutiv erscheinen nicht nur künstlerische und sonstige Artefakte, sondern ebenso Verhaltensformen und Handlungen, Wissen, Einstellungen, Emotionen, Werte etc. Clifford Geertz schließlich abstrahiert in seiner berühmten Definition über all die genannten vielfältigen Phänomene und Ausprägungen von Kultur, indem er sie unter den Begriff des „Bedeutungsgewebes“ zusammenfasst: „Believing, with Max Weber, that man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun, I take culture to be those webs […]“ (Geertz 1973, 5). Kultur zeigt sich dieser Definition zufolge in
67. Stil und Kultur allen symbolischen, d. h. zeichenhaften Handlungen des Menschen sowie in den daraus resultierenden Produkten. Im Plural von webs kommt zudem ein plurales Verständnis von Kultur zum Ausdruck: Kulturen können unterschiedliche webs of significance umfassen und integrieren und auch das Individuum kann diesem Verständnis zufolge in mehrere Bedeutungsnetze, in mehrere verschiedene (Sub-)Kulturen gleichzeitig ,versponnen‘ sein. Kultur ist bei Geertz nicht monolithisch gedacht, sondern als plurales, bewegliches Konstrukt. Das semiotische Kulturverständnis von Clifford Geertz garantierte im Übrigen dessen Anschlussfähigkeit an das wissenschaftstheoretische und methodische Selbstverständnis der Geistes- und Kulturwissenschaften, zumal Geertz den expliziten methodischen Schluss zog, dass die Kulturanalyse kein experimentelles und nach Gesetzen suchendes Wissensfeld sei, sondern ein „interpretive one in search of meaning“ (Geertz 1973, 5). Damit, und noch deutlicher in der von Geertz selbst vorgenommenen metaphorisierenden Bestimmung von Kultur als „ensemble of texts“ (Geertz 1973, 452), wird Kultur als lesbar erklärt. Neben und zum Teil auch gegen eine solche „textualistische“ Theorie von Kultur (Reckwitz 2004, 42) stellt sich in allerjüngster Zeit eine soziologisch (v. a. durch Bourdieu) inspirierte, handlungs- bzw. praxisorientierte Neubestimmung des Kulturellen. Unter Bezug auf das in der Ethnomethodologie Harold Garfinkels entwickelte und u. a. von Judith Butler popularisierte Konzept des doing culture wird Kultur in der Repetitivität und Routiniertheit gesellschaftlichen Handelns verortet, d. h. in Habitualisierungen, die sich „durch häufiges und regelmäßiges Miteinandertun“ (Hörning/Reuter 2004, 12) ausbilden. Die Dialogizität (vgl. auch Markova´ 2003) des hier dem Kulturkonzept zugrunde gelegten Handlungskonzepts, die im Ausdruck Miteinandertun explizit gemacht wird, unterscheidet dieses Signifikant von Handlungskonzepten, wie sie etwa die linguistische Pragmatik ⫺ exemplarisch die Sprechakttheorie ⫺ prägen und die Handeln in erster Linie als zwar auf andere gerichtete, aber konzeptuell monologistische Aktivität singulärer Akteure konzipieren. Darüber hinaus wird in der Konzeption von doing culture die Leiblichkeit bzw. Inkorporiertheit sowie die in Artefakten sedimentierte Materialität von sozialen und kulturellen Praktiken in den Vordergrund gerückt. Beides ⫺ Körperbindung und Materialbezug ⫺ wird als Voraussetzung für die Stabilisierung von Praktiken jenseits von bewusstem Wissen sowie für ihre Wahrnehmbarkeit und ⫺ als Folge davon ⫺ für ihre kollektive Adaptatierbarkeit durch andere jenseits bewusster Lernprozesse gesehen (Reckwitz 2004). Die mit dem Fokus auf Routinisierung und Habitualisierung notwendig verbundene Formorientierung dieser praxeologischen Kulturkonzeption ist für die Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Stil unmittelbar relevant. Ohne Versuch, die präsentierten Kulturkonzepte zu einem geschlossenen Konzept zu homogenisieren, werde ich die bisher in den Vordergrund gerückten unterschiedlichen Aspekte mit Blick auf ihren Bezug zu Stil in Abschnitt 4 wieder aufgreifen. In der Zusammenschau und Auswertung der vorgestellten Konzepte möchte ich aber die folgenden Punkte als im gegebenen Zusammenhang besonders relevant festhalten: ⫺ Kultur wird sowohl in Inhalts- wie in Formkategorien lokalisiert. Letzteres setzt voraus, dass Formen semiotischer Sinn zugeschrieben werden kann, dass Form interpretierbar ist. ⫺ Kultur wird zudem als Ganzheit, als complex whole verstanden, die Analyse von Kultur beinhaltet folglich notwendig die Aufdeckung von Zusammenhängen und Bezügen.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil ⫺ Das Verständnis von Kultur als Ganzheit ist mit einem pluralen Verständnis von Kultur zusammenzudenken: Wir leben in Kulturen. Kulturen können sich überlagern und überschneiden, widersprüchliche wie integrative Komplexe bilden. Die Rede von Subkulturen, die innerhalb wie außerhalb wissenschaftlicher Zusammenhänge üblich geworden ist, gibt diesem Verständnis Ausdruck. ⫺ Kultur dient ⫺ im Sinne der „kulturellen Kommunikation“ Edmund Leachs (Leach 1978) ⫺ der Selbstverständigung von Gesellschaften bzw. gesellschaftlichen Gruppierungen. Sie ist ein Medium kollektiver Identitätsbildung und eben dadurch auch Integrationsmoment des Einzelnen in eine Gruppe. Was nicht heißt, dass Kultur hier und im Folgenden als primär an ethnisch oder sozial definierte Gruppen gebunden verstanden wird (vgl. hierzu jedoch die Beiträge 111, 119 und 120). Kultur ist ein gruppenbildendes bzw. kollektive Identitäten konstituierendes Formativ eigenständiger Wirksamkeit, das mit sozialen, ethnischen, ökonomischen oder politischen Faktoren kovariieren kann, aber nicht muss. Der formative Effekt von Kultur erstreckt sich deshalb auch auf solche ,Identitäten‘, die in erster Linie historisch bestimmt sind, d. h. auf historische Epochen.
3. Stil Die Perspektive auf Kultur gibt für das Verständnis von Stil eine klare Vorgabe: Stil ist in diesem Kontext nicht auf Individuen (Individualstil), sondern auf Kollektive (Kollektivstil, Gruppenstil) bezogen. Die nachfolgend aufgelisteten Aspekte des Konzepts Stil (das zunächst disziplinübergreifend verstanden wird und nicht schon auf Sprache bzw. Kommunikation bezogen ist) sollen das hier angesetzte Verständnis von Stil soweit als möglich klären. Die Reihenfolge (a)⫺(f) bildet allerdings weder eine inhaltlich stringente Abfolge noch eine theoretische Gewichtung ab. Die einzelnen Aspekte sind interdependent, sie bilden ineinandergreifende Facetten eines als Formkategorie verstandenen Stilkonzepts. Es ist dieser Aspekt der Form, über den Kultur und Stil verknüpft sind. (a) Stil als signifikante Form Der Gegensatz zwischen einer aristotelisch-dualistischen Auffassung von Stil (Stil als decorum, als ,Einkleidung‘ von Inhalten und Bedeutungen, die als getrennt von Stil zu betrachten sind) und einer platonisch-ganzheitlichen Auffassung des Zusammenwirkens von Stil und Bedeutung (Stil als Bedeutungskonstituente, als Medium einer Bedeutung, als Mit-Bedeutendes) ist fundierendes Element jeglicher Auseinandersetzung mit dem Stilbegriff. Die im dualistischen Konzept implizierte ,Ablösbarkeit‘ der Form vom Inhalt lässt sich jedoch nicht auf nicht-semantische Ausdrucksmedien übertragen (so etwa nicht auf Musik oder abstrakte Malerei, vgl. Meyer 1979, 8) und würde auch im sprachlichen Kontext eine auf referentielle Funktionen reduzierte Vorstellung von Sprache bedingen. Im Folgenden wird Stil deshalb als Mit-Bedeutendes verstanden, gleichzeitig jedoch als Formkategorie betrachtet, allerdings als solche sekundärer Ordnung: als eine Form von Form ⫺ der Begriff des Musters erfasst dies recht gut ⫺, die sich nicht auf Zweckfunktionalität reduzieren lässt und deshalb auch signifikant ist (vgl. hierzu auch Alois Hahns Formulierung von Stil als „expressivem Überhang“, Hahn 1986, 603).
67. Stil und Kultur (b) Stil als typische Form Stil als signifikante Form ist an das Phänomen der Typik gebunden. Stilelemente sind immer schon types, sind wiederkehrende und wiedererkannte Ausprägungen eines Musters, das seinerseits als Projektion aus der Zusammenschau der konkret vorkommenden Formen konstituiert wird. Erst wenn die Form eines Portals, eines Gedichts, einer Zinnkanne als Ausprägung eines bestimmten Formtypus (wieder)erkannt wird und entsprechend zuordenbar ist ⫺ als barockes Portal, barockes Gedicht, barocke Zinnkanne ⫺, sprechen wir von Stil. (c) Stil als Intention oder Effekt? Vor allem mit Blick auf Individualstile wird Stil häufig als Produktionskategorie, als Ergebnis einer handlungsleitenden Intention verstanden (prototypisch in der Rede vom ,Stilwillen‘ eines Künstlers). Mit Blick auf Kollektivstile erscheint Stil dagegen als nicht intentional begründbarer (invisible-hand-)Effekt, als erst aus der Beobachterperspektive erfolgende retrospektive Zuschreibungskategorie (vgl. auch Linke 2003, Abschnitte 4.2 und 4.3). (d) Stil als Differenz- und Identitätsphänomen Stil erscheint einerseits als das Andere, d. h. als Abweichung und damit als Differenzphänomen, andererseits als Dasselbe, als in verschiedenen Gegenständen und Phänomenen Wiedererkennbares und damit als Identitäts- bzw. Kohärenzphänomen. Unter beiden Perspektiven (nach ,außen‘ wie nach ,innen‘) ist Stil ein Medium der Gruppenbzw. Kollektivkonstitution. (e) Stil als Wahl Das Konzept Stil ist ⫺ aus der Produzentenperspektive, vgl. (c) ⫺ an die Möglichkeit von (Aus)Wahl gebunden. Stil wird deshalb am ehesten dort vermutet, wo nicht Sachzwänge bzw. Zweckfunktionalität bestimmte Formen vorgeben. Hierzu gehört prototypisch das Feld der Künste. (f) Stil als Kontrasterfahrung Aus der Beobachter- bzw. Rezipientenperspektive ist Stil an das Analogon von Wahl auf Beobachterseite, d. h. an die Möglichkeit der „Kontrasterfahrung“ (Hahn 1986, 603) gebunden: Eine Form als Ausprägung eines Stils zu erkennen setzt die Kenntnis (bzw. zumindest die Vorstellung) möglicher anderer Formen voraus. Wo die Möglichkeit zu Kontrasterfahrung fehlt, werden Formen als natürlich bzw. als Normalform und folglich auch nicht als signifikant wahrgenommen. Abschließend sei der Vollständigkeit halber noch vermerkt, dass Stil im gegebenen Kontext, ebenso wie Kultur, nicht-normativ verstanden wird. In alltagssprachlichen Stilkonzepten ist dies (wie auch beim Alltagskonzept Kultur) dagegen oft der Fall, was verbale Prägungen wie guter Stil vs. schlechter Stil oder auch absolute und wertende Formulierungen wie stillos bzw. das hat keinen Stil zeigen.
4. Stil und Kultur: kulturelle Stile Aus den knappen Skizzen zu den Konzepten Kultur und Stil lässt sich nun mindestens zum Teil ableiten, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen bzw. was das eine mit dem anderen zu tun hat:
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Wie gezeigt, wird in vielen Kulturdefinitionen eine Liste von Inhaltskategorien zum complex whole der Kultur zusammengefasst ⫺ so rezent auch in einem Handbuchartikel von Ansgar Nünning, in dem Kultur definiert wird als „der vom Menschen erzeugte Gesamtkomplex von kollektiven Sinnkonstruktionen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen […], der sich in Symbolsystemen materialisiert“ (Nünning 2001, 355). In den Vokabeln „Denkformen“ und „Empfindungsweisen“ deutet sich auch hier ein Formbezug als konstitutives Moment dieser Definition an, ebenso wie in den in Kulturdefinitionen wiederkehrenden Ausdrücken wie Gewohnheiten (habits) oder Gebrauch (custom). Tatsächlich ist der Formbezug und damit der Stilbezug für das Konzept Kultur in doppelter Hinsicht konstitutiv: Einerseits können Formen und Ausdrucksmuster die als kulturkonstitutiv verstandenen Domänen von Gesellschaften ⫺ Wissen, Glaube, Kunst, Recht etc. ⫺ in wahrnehmbarer Weise als sowohl in sich selbst als auch untereinander kohärent markieren. Denn erst, wo isomorphe Formelemente auftreten, die auch über unterschiedliche Materialisierungsgrundlagen hinweg als dieselben erkennbar sind, lassen sich auch inhaltlich unterschiedliche Phänomene einem Gesamt zuordnen. Diese Vorstellung eines Gesamteindrucks, der mit dem Konzept von Kultur verbunden ist, wäre damit an Stil als Formkategorie zu binden. Andererseits signalisiert Stil die Zusammengehörigkeit der durch ihn ausgezeichneten Phänomene (und damit auch ihrer Trägergruppe) nicht nur formell (sozusagen auf ornamentaler Ebene), sondern er impliziert ⫺ als signifikante Form ⫺ auch einen gemeinsamen Bedeutungsaspekt oder Bedeutungshorizont, der die Zusammengehörigkeit qualitativ begründet. Stil (als Kollektivstil) wäre also insofern ein notwendiges Moment von Kultur, als gerade in der nicht als intentional verstehbaren Hervorbringung gemeinsamer Ausdrucksmuster durch eine Gesellschaft der Effekt eines gleichartig-gemeinschaftlichen Welt- und Selbstverstandes zu sehen ist. Kollektivstile sind also immer ⫺ unabhängig von der Beschaffenheit ihres Trägermediums, unabhängig von ihrer jeweiligen medialen (materialen oder praxeologischen) Verankerung ⫺ als kulturelle Stile zu lesen. Ihre Analyse ist eine Form von Kulturanalyse. Wenn Erwin Panofsky in Auseinandersetzung mit dem Problem des Stils in der bildenden Kunst formale Übereinstimmungen bei verschiedenen Künstlern einer Epoche als Ausdruck der „gleichen Verhaltungsweise der Seele“ charakterisiert (Panofsky 1980, 25), so bezieht sich diese Formulierung wohl auf eben diese kulturelle Bedeutsamkeit von Kollektivstil verstanden als signifikante Form. Panofsky macht seine Leser allerdings auch umgehend darauf aufmerksam, dass ein solcher Form-Verweis auf eine gleiche Verhaltensweise der Seele (als Beispiel nennt Panofsky die „malerische“ und „tiefenmäßige“ Optik der Malerei des 17. Jahrhunderts) noch keine Erklärung ist, sondern im Gegenteil der Erklärung bedarf, und dass ein solches Unternehmen wiederum eine „zeitpsychologische Einsicht, und zugleich eine so große innere Unbeteiligtheit“ des Analytikers erfordere, dass keine unmittelbaren und eindeutigen Erkenntnisse zu erwarten seien. Die „unendlich fruchtbare Frage“ danach aber wenigstens zu stellen, sei bereits wissenschaftlich lohnend (Panofsky 1980, 25 f.). In einer ähnlich pessimistisch-optimistischen Mischung äußert sich A. L. Kroeber über das kulturelle Moment von Stil und im Speziellen über die Ausdeutung stilistischen Wandels (Kroeber 1963). Ganz offensichtlich korreliere Stilwandel mit umfassenderem kulturellem Wandel und sei insofern auch ein interessanter Indikator, ohne dass jedoch spezifische Formveränderungen ohne weiteres mit spezifischen kulturellen oder sozialen Veränderungen in Verbindung gebracht werden könnten. So kann Kroeber in einer zeitli-
67. Stil und Kultur chen Längsschnitt-Untersuchung zum Stilwandel in der weiblichen Bekleidung von 1788 bis 1934 zeigen, dass sowohl zwischen 1788 und 1832 als auch wieder zwischen 1907 und 1932 die meisten Veränderungen in Rocklänge, Taillenweite und Dekolletierung beobachtbar sind. Diese bewegten Phasen im weiblichen Modestil korrelieren auffällig mit den Grenzphasen der inzwischen als langes 19. Jahrhundert bezeichneten Epoche und markieren diese als historische Perioden kultureller ,Unruhe‘, die eine lange, kulturell eher ,ruhige‘ Phase einschließen. Stil als Ausdrucks- und Formkategorie wird also in sehr unterschiedlichen Materialisierungen und Erscheinungsformen fassbar: als Linienführung des Pinsels, als „flächenhafte“ oder „tiefenmäßige“ Ausformung eines Gemäldes (Panofsky 1980, 20), aber auch im Kontrast von raschem Formwandel gegenüber Formkonstanz (dieses letzte Beispiel verdeutlicht nochmals das hier angelegte Verständnis von Stil als Form von Form, wie es auch im Begriff des Musters zum Ausdruck kommt). Das Ausdrucksmoment und damit auch die konkrete sinnliche Wahrnehmbarkeit von Stil ⫺ sei dies in den flüchtigen Formen von Handlungen (in Tanzformen, Hygienepraktiken, Intonationsmustern) oder in den statischeren von Objekten (in Gemälden, Raumstrukturen von Gebäuden, in Texten) ⫺ ist schließlich auch Voraussetzung für seine Wirksamkeit in der kulturellen Selbstverständigung von Gesellschaften bzw. Gruppierungen. An dieser Stelle scheint sich nun ein Widerspruch aufzutun, sobald man eine Verlagerung des Kulturellen in die kognitive Sphäre vornimmt, wie sie in besonders dezidierter Form von Ward Goodenough postuliert wird, der Kultur gerade nicht als „material phenomenon“ bestimmt und präzisierend erläutert: „it does not consist of things, peoples, behavior, or emotions. It is rather an organization of these things. It is the form of things that people have in mind, their models for perceiving, reacting and otherwise interpreting them“ (Goodenough (1964) [1957], 36; Hervorhebung A. L.). Zwar findet sich auch hier wieder der Verweis auf Formen, Modelle und Muster, er ist jedoch bezogen auf Wahrnehmungs- und Interpretationshandlungen, d. h. auf geistige Prozesse, die der direkten Beobachtung entzogen sind. Genau hier greift nun die Argumentation praxeologischer Kulturtheorien, indem sie als konstitutives Moment geistiger Formen bzw. mentaler Modelle die Ausdrucksgestalt von Handlungen, Körpern oder Artefakten ortet (Reckwitz 2004). So verstanden fungiert Praxis als Scharnier, als Transportriemen zwischen dem individuellen Subjekt (und seinem Geist) als Träger-Akteur von Kultur einerseits und der kulturellen Gemeinschaft andererseits. Diese Objektivationen mentaler Modelle in den Formen des Stils sind es auch, welche die dem Kulturellen zugesprochene Selbstverständigungsfunktion für die sich durch sie formierende Gesellschaft oder Gruppe erst ermöglichen. Ludwik Flecks auf wissenschaftliche „Denkkollektive“ bezogenes Konzept des „Denkstils“, das er an entsprechenden Merkmalen wissenschaftlicher Texte und wissenschaftlicher Darstellungen festmacht, selbst aber als „intellektuelle Stimmung“, als eine „Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen“ charakterisiert, die der direkten Beobachtung entzogen ist, lässt sich wohl ebenfalls hierher stellen (Fleck 1980, 187). Stil als signifikante Form von Handlungen wie von Artefakten wäre also das Medium, in dem die kulturspezifischen mentalen Modelle von Wahrnehmung, Erfahrung, Deutung und Wissen ihre materiale Resonanz haben und ihren zeichenhaften Ausdruck finden. Letzteres allerdings nicht in einem semantischen, sondern in einem semiotischen Verständnis. Kulturelle Stile sind zwar deutbar, aber nicht in einem zeichensystematischen Sinn ,lesbar‘, wie sie die Formel von Kultur als Text (Bachmann-Medick 1996) in Analogie zum Umgang mit arbiträren und konventionellen Zeichensystemen wie dem
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil der Sprache fälschlicherweise nahelegt. Nicht zuletzt für die identitätsbildende und selbstvergewissernde Funktion von Kultur ist der indexikalisch auf ein ,Gleiches‘ verweisende Charakter kulturellen Stils bereits ausschlaggebend, auch wenn ein Verständnis dieses ,Gleichen‘ im Einzelfall nur in Annäherungen oder im Modus unklarer Ahnung möglich ist. Die Bindung von Stil als Formkategorie an das Moment der Wiedererkennung und damit an Wiederholung lässt kulturelle Stile zudem als Mittel zur Stabilisierung von Kultur erscheinen, eröffnet aber durch die im Moment der Wiederholung angelegte Wahrscheinlichkeit von Variation ebenso die Möglichkeit zur Veränderung. Wir können also dann von kulturellen Stilen sprechen, wenn sich Handlungen oder Artefakte durch wiederkehrende und ,gleiche‘ Formen auszeichnen, die aufgrund möglicher Kontrasterfahrung als signifikante Ausdrucksmuster, als Formen von Formen erkennbar sind und sich sowohl kohärenz- als auch differenzbildend auf eine gesellschaftliche Gruppe oder eine historische Epoche beziehen lassen. Dass man für das 19. Jahrhundert (und mit Blick auf Deutschland) trotz manifester Unterschiede in den wirtschaftlichen Verhältnissen der Trägergruppen mit einer gewissen Berechtigung von einer bürgerlichen Kultur bzw. von „Bürgerlichkeit als Kultur“ (Bausinger 1987, 121; Hervorhebung im Original) sprechen kann, hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass sich in den Formen der Geselligkeit, im Körperverhalten, in den Tischsitten, in den Formen des Konsums etc. Muster erkennen lassen, die über die unterschiedlichen bürgerlichen Gruppierungen hinweg als kulturelle Stile identitätsstiftend waren (Linke 1996). Wie bereits unter 3(e) vermerkt, führt die Bindung von Stil an Wahl zudem dazu, dass vor allem solche Handlungsbereiche und Artefakte in positivem Sinn unter Stilverdacht stehen, für deren Ausformung wenig Sachzwänge und geringe Zweckfunktionalität anzusetzen sind. Dies gilt prototypisch für den gesamten Bereich der Kunst (der deshalb auch modellbildend für die Vorstellung von kulturellem Stil ist), aber auch für alle anderen Lebens- bzw. Handlungsbereiche, die viel Raum für freie Formbildung geben. Hierzu gehören etwa die Formen der Freizeitgestaltung, die Moden des Körperschmucks, die Praktiken sportlicher Betätigung, die Gestaltung von Festlichkeiten, die bereits erwähnten Geselligkeits- und Tischsitten etc. Mit anderen Worten: Indem gesellschaftliche Gruppierungen sich, wie immer unbewusst, weitgehend ,zweckfreie‘ Handlungsbereiche schaffen, die als Biotope freier Formbildung fungieren, schaffen sie (sich) gleichzeitig besonders günstige Voraussetzungen für die Ausbildung kultureller Stile (für „Stilisierungen“; Hinnenkamp/Selting 1989), deren einzige Funktion der Verweis auf und die Selbstvergewisserung über kollektive „Verhaltungsformen der Seele“ bzw. über intellektuelle und emotionale Strukturen und Dispositive ist.
5. Sprachliche Stile als kulturelle Stile Wo es um sprachliche Stile geht, werden ⫺ vor allem in literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen ⫺ häufig Individualstile (eines Werks, eines Autors) thematisiert. Unter dieser Perspektive, d. h. mit Blick auf die „Sphäre der Einzelheit“ (Trabant 1986, 169, in Anlehnung an Heyse 1856), ist sprachlicher Stil nicht auf Kultur beziehbar. Für sprachliche Kollektivstile jedoch gilt das, was oben bereits von Kollektivstilen im Allgemeinen gesagt wurde: Sprachliche Kollektivstile sind kulturelle Stile. Und insofern Sprache ein
67. Stil und Kultur historisch veränderliches Formsystem ist, dessen Elemente im Sprachgebrauch in zusätzliche Formbildungen eingehen, lassen sich kulturell signifikante Formen hier grundsätzlich auf zwei verschiedenen Ebenen festmachen: auf der Ebene der Einzelsprache mit ihren gegenüber anderen Sprachen als signifikant heraustretenden Formen einerseits und auf der Ebene der Sprache bzw. des Sprachgebrauchs von gesellschaftlichen Formationen oder historischen Epochen andererseits.
5.1. Sprache(n) als signiikante Form(en): der Totaleindruck Die kulturelle Deutung der Formseite von Einzelsprachen findet sich prominent bei Wilhelm von Humboldt im Kontext seiner allgemeinen Bestimmung von Sprache als Medium und Formativ von Kultur. Die spezifische Formgeprägtheit einer Einzelsprache wird von ihm dabei sowohl metaphorisch als Individualstil interpretiert (insofern er Sprachen als „geistige Individualitäten“ auffasst; Humboldt 1907, 151), gleichzeitig und notwendig verbunden damit aber auch als Kollektivstil der entsprechenden Sprachgemeinschaften, als „Bildungsmittel der Nationen“ (Humboldt 1905, 7). In seinen entsprechenden Überlegungen (Humboldt 1905) spricht Humboldt allerdings nicht vom Stil, sondern vom „Charakter“ von (Einzel)Sprachen, seine Verwendung dieses Terminus legt ein entsprechendes Verständnis im Sinne des hier angelegten Stilbegriffs aber nahe (vgl. auch Trabant 1986, 174). So ist auch der Charakter einer Sprache, der „Totaleindruck“ (Humboldt 1905, 1), den sie dem Betrachter vermittelt, bei Humboldt ein Formeffekt, der „auf dem gleichmäßigen, einzeln kaum bemerkbaren Eindruck der Beschaffenheit ihrer Elemente beruht“ (Humboldt 1905, 1; Hervorhebung A. L.). Der „Schlussstein der Sprachkunde“ ist entsprechend definiert als ihr „Vereinigungspunkt mit Wissenschaft und Kunst“ (Humboldt 1905, 13; Hervorhebung A. L.). Dieses Unternehmen ist allerdings kein einfaches. Denn obwohl ⫺ so Humboldt ⫺ der „Totaleindruck“ vom Charakter, vom Stil einer Sprache als solcher zwar leicht aufgefasst werden kann, verliert man sich beim Versuch, „den Ursachen desselben nachzuforschen“ rasch in einer „zahllosen Menge scheinbar unbedeutender Einzelheiten“ (Humboldt 1905, 1). Die Ursachen selbst jedoch sind als kulturelle zu verstehen, ihre Erforschung ist die Fruchtbarmachung von Sprachanalyse als Kulturanalyse.
5.2. Sprechstile, Sprachgebräuche und Kultur(en) Die Ergründung von sprachlichem Stil als kulturellem Stil ist auch dann kein einfaches Unterfangen, wenn man sich nicht auf die Größe der Einzelsprache bezieht, sondern Gruppen- oder Epochenstile im Visier hat. Denn die Interpretation der kulturellen Signifikanz von sprachlichem Stil zielt immer über Sprache hinaus, sie ist notwendig ein transdisziplinäres Unternehmen und mit entsprechenden Unsicherheiten belastet. Als Voraussetzung ist zwar die linguistische und sprachhistorische Analyse gefordert, d. h. die Ausdrucksmuster auf den unterschiedlichen Ebenen von Sprache und Sprachgebrauch müssen in ihrer Systematik erarbeitet sowie in ihrem historischen Bezug verortet werden. Der nächste Schritt, die Deutung der Muster, die Erschließung der mit ihnen korrelierenden kulturellen Bedeutungen, ist dann ein hermeneutischer Akt, der nicht nur von der
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Analyse der sprachlichen Daten ausgehen kann, sondern auf den Einbezug von umfassendem Zeit- und Weltwissen sowie auf Kenntnisse aus Nachbardisziplinen wie Geschichte, Soziologie, Sozialpsychologie etc. angewiesen ist. Es geht in der kulturellen Deutung sprachlicher Stile also immer um eine synthetisierende Zusammenschau, die auf den Einbezug isomorpher stilistischer Phänomene (Hahn 1986, 604) aus anderen Ausdrucksdomänen (Körperpraktiken, Fotografie, Gestaltung von Innenräumen etc.) angewiesen ist, wenn sie über den Status vorsichtiger Hypothesenbildung hinauskommen will. Die Unumgänglichkeit hermeneutischer Verfahren mag mit ein Grund dafür sein, dass Stilanalysen wie insgesamt die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Kultur nicht zum Kerngeschäft der Sprachwissenschaft gerechnet werden (Günthner/Linke 2006), sondern vor allem an die sogenannten Bindestrich-Linguistiken delegiert sind. Hierher gehören etwa die Anthropologische Linguistik, die Soziolinguistik, die Textlinguistik, die Gesprächsanalyse, aber auch die Sprachgebrauchs- bzw. Kommunikationsgeschichte. Die Beschäftigung mit den kulturell signifikanten Formen des Sprachgebrauchs ist entsprechend vielfältig, sie steht zudem auch in den genannten Disziplinen nicht unbedingt im Vordergrund und geschieht auch nicht immer unter dem Label Stil. Auch Termini wie Traditionen des Sprechens (Schlieben-Lange 1983), Sprachhandlungsroutinen oder Textmuster beziehen sich auf Formen und Typisierungen von Sprachgebrauch im Sinne des oben entwickelten Stilbegriffs (vgl. auch Feilke 1996). Die terminologischen Unterschiede verweisen aber gleichzeitig auf unterschiedliche Analyseperspektiven bzw. unterschiedliche methodische Voraussetzungen und verschiedene theoretische Einbettungen. Für den Umgang mit dem Phänomen des Kollektivstils fehlt in der Sprachwissenschaft also sowohl ein umfassenderer theoretischer Rahmen als auch ein ausgearbeitetes methodisches Instrumentarium. Andererseits lässt sich gerade in neuerer Zeit eine vermehrte Sensibilisierung auf die Tauglichkeit des Konzepts Stil im Kontext eines sozial- und kulturkonstruktivistischen Verständnisses von Sprache beobachten. Die intensivste Aufmerksamkeit erfahren Kollektivstile (und damit auch der Begriff des Stils selbst) derzeit im Rahmen der Variationslinguistik. Auslösendes Moment ist hier die Neuinterpretation von sprachlicher Variation und Typik nicht mehr nur als sprachsystematisches Korrelat sozialer Differenzierung von Gesellschaft und damit als indexikalischer Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppierung, sondern als ein mögliches Medium der aktiven Konstruktion sozialer bzw. kultureller Identität (ganz im Sinne des oben unter (1) referierten doing-Ansatzes). Sprachgebrauchsmuster werden entsprechend als semiotisch signifikant interpretiert. Grundlegend für diese Richtung sind u. a. die Arbeiten von Penelope Eckert, die mit Blick auf die phonologische Variation zwischen Sprechergruppen von symbolic work und von meaning of style spricht und diese mit Kollektivstilen im Bereich von Mode und Freizeitverhalten zusammendenkt (Eckert 2004, 2005; vgl. auch Auer 2007; Androutsopoulos 2003). Da hier die Zugehörigkeit von Sprechern und Sprecherinnen zu bestimmten sozialen Gruppierungen bzw. Schichten im Vordergrund steht, wird mit Blick auf Kollektivstile in diesem Feld meist von sozialen Stilen, allenfalls auch von subkulturellen Stilen gesprochen. Doch auch wenn hier das soziale Differenzierungspotenzial von Kollektivstilen im Vordergrund steht (Irvine 2001), ist deren grundlegende kulturelle Signifikanz und damit die Frage nach den in den beobachteten Formen semiotisch manifestierten Selbstund Weltdeutungen nicht aufgehoben, sondern einfach sozial gewendet (vgl. exemplarisch Keim 1995 und 2007). Auch im Kontext von kommunikationsgeschichtlich orientierten Untersuchungen wird nach der (sozio)kulturellen Signifikanz von Kollektivstilen gefragt. Hier kommen in ers-
67. Stil und Kultur ter Linie Stilbildungen bzw. Stilveränderungen auf der komplexeren Ebene der kommunikativen Praktiken in den Blick. Deren Formgeprägtheit lässt sich einerseits kommunikativ-funktional begründen, d. h. kommunikative Praktiken werden verstanden als „präformierte Verfahrensweisen, die gesellschaftlich zur Verfügung stehen, wenn bestimmte rekurrente Ziele oder Zwecke kommunikativ realisiert werden sollen“ (Fiehler u. a. 2004, 99). Es ist jedoch gerade die historische Perspektive, die es ermöglicht, die Formgeprägtheit kommunikativer Praktiken jenseits einer sachfunktionalen Passform auch als historisch gebundenen Stileffekt (als Form von Form) und mithin als kulturell signifikant zu erkennen. Dies gilt etwa besonders auffällig für Veränderungen in den Mustern und Routinen des Grüßens und Verabschiedens oder des sprachlichen Höflichkeitsverhaltens ⫺ Veränderungen in diesen Mustern sind als Medium und Indikator entsprechender kultureller Veränderungen zu verstehen (vgl. etwa Ehrismann 2000; Linke 1996, 2000; Scharloth 2007; Scharloth [in Vorbereitung]). Im Rahmen der Textlinguistik ist in neuerer Zeit vor allem die Kulturspezifik von Textsorten vermehrt thematisiert worden (Fix u. a. 2001, 2006). Auch Barbara Sandig verweist in ihrer Textstilistik des Deutschen (Sandig 2006) explizit darauf, dass „Textmusterstile kulturell geprägt“ und „Formen kulturrelevanten Kommunizierens“ sind (Sandig 2006, 481), die Fixierung von Kollektivstil im komplexen Formgefüge von Texten bzw. Textsorten bleibt aber unbestimmt. Auch in der Beschäftigung mit Sprech- und Gesprächsstilen (so der Titel eines von Margret Selting und Barbara Sandig herausgegebenen Sammelbandes; Selting/Sandig 1997) wird Stil sehr heterogen verwendet. Die Untersuchung von Kollektivstilen in der Interaktion eröffnet jedoch innovative Perspektiven für die Analyse des Zusammenhangs von Stil, Kultur und Dialogizität und damit auch auf die Prozesse von Stilbildungen im interaktiven Austausch. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die Analyse sprachlicher Kollektivstile in kulturanalytischer Absicht letztlich noch in ihren Anfängen steckt. Es zeigt sich aber, dass das in der Sprachwissenschaft bisher marginalisierte Konzept des (Kollektiv)Stils eine notwendige Scharnierfunktion darstellt, wenn es darum geht, Sprach(gebrauchs)analyse und Kulturanalyse zu verbinden. Eine Elaborierung dieses Konzepts ist nötig. Dazu gehört in erster Linie die Reflexion der unterschiedlichen linguistischen Theoretisierungen des Musterbegriffs ⫺ besonders produktiv dürfte es etwa sein, entsprechende Konzepte aus dem Kontext der Korpuslinguistik mit dem Konzept des Kollektivstils zusammenzudenken (vgl. etwa Stubbs 1997). Um schließlich aber vor allem das Innovationspotenzial hervorzuheben, das eine Untersuchung sprachlicher Kollektivstile gerade im Rahmen einer als Kulturgeschichte verstandenen Sprach- und Kommunikationsgeschichtsforschung mit sich bringt, sei abschließend noch auf einen weiteren, bisher noch nicht angesprochenen Aspekt im Verhältnis von sprachlichem Stil und kulturellem Stil aufmerksam gemacht.
5.3. Stilideale als kulturelle Selbstzuschreibungen Die Kategorie Stil ist nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein Alltagskonzept, sie steht nicht nur für Fremdzuweisungen, sondern ebenso für Selbstcharakterisierungen zur Verfügung und sie hat, wie bereits angesprochen, als Alltagskonzept eindeutig normative und wertende Aspekte. Wenn alltagssprachlich von Stilbewusstsein gesprochen
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil wird, so ist damit ein ganzes Konglomerat von Wissen und Einstellungen mit Bezug auf das Phänomen Stil angesprochen. Die Kenntnis bestimmter sprachlicher Kollektivstile, das Wissen um die kulturelle Deutung einzelner Stile wie auch das bewusste Verfügen über sprachlich-kommunikative Stilnormen und -ideale machen dieses Stilbewusstsein zu einem konstitutiven Teil von Sprachbewusstsein. Explizite Stilideale und stilistische ,Realität‘ verhalten sich allerdings nicht notwendigerweise „wie Norm und Erfüllung zueinander“ (Pfeiffer 1986, 704). Gerade deshalb erscheint aus kulturanalytischer Perspektive die Beschäftigung mit beidem ⫺ dem formulierten Stilideal einer gesellschaftlichen Gruppierung oder einer Epoche und ihren belegbaren Hervorbringungen ⫺ aufschlussreich. Brigitte Schlieben-Lange (1986) konkretisiert diese Überlegungen zu einem Forschungsprogramm, wenn sie die Analyse der stilistischen Selbstinterpretation von gesellschaftlichen Gruppen bzw. historischen Epochen fordert. Sie exemplifiziert die an solchen Analysen zu gewinnenden Einsichten mit einer skizzenhaften Untersuchung der Selbstinterpretation der französischen Revolutionsepoche als Epoche eines „style analytique“ (Schlieben-Lange 1986, 162). Gerade diese Selbstinterpretation deckt sich nun aber nicht ohne weiteres mit den gängigen sozial- und kulturgeschichtlichen Deutungen dieser Epoche ⫺ und gerade in diesem Widerspruch lässt sich das kulturanalytische Potenzial stiltheoretischer Auseinandersetzungen mit historischen Epochen erahnen und damit auch der mögliche Beitrag der Sprachwissenschaft zur Kulturgeschichte.
6. Literatur (in Auswahl) Androutsopoulos, Jannis (2003): Online-Gemeinschaften und Sprachvariation: Soziolinguistische Perspektiven auf Sprache im Internet. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 31/2, 173⫺197. Auer, Peter (ed.) (2007): Style and Social Identities: Alternative Approaches to Linguistic Heterogeneity. Berlin/New York. Bachmann-Medick, Doris (Hrsg.) (1996): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. Bausinger, Hermann (1987): Bürgerlichkeit und Kultur. In: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen, 121⫺142. Boas, Franz (1911): Introduction. In: Franz Boas (Hrsg.) (1963): Handbook of American Indian Languages. Washington DC. Eckert, Penelope (2004): The Meaning of Style. In: Wai-Fong Chiang et al. (eds.): Salsa 11. Texas Linguistics Forum 47. Eckert, Penelope (2005): Variation, Convention, and Social Meaning. Paper Presented at the Annual Meeting of the Linguistic Society of America. Oakland CA. Jan. 7, 2005 [http://www.stanford. edu/~eckert/EckertLSA2005.pdf (4. 8. 2007)]. Ehrismann, Otfried (2000): Heroische und höfische Kommunikation. Szenen aus der mittelhochdeutschen Epik. In: Gerd Fritz/Andreas H. Jucker (Hrsg.): Kommunikationsformen im Wandel der Zeit. Tübingen, 259⫺282. Feilke, Helmuth (1996): Sprache als soziale Gestalt. Frankfurt a. M. Fiehler, Reinhard u. a. (2004): Eigenschaften gesprochener Sprache. Tübingen. Fix, Ulla (2006): Was heißt Texte kulturell verstehen? Ein- und Zuordnungsprozesse beim Verstehen von Texten als kulturellen Entitäten. In: Hardarik Blühdorn u. a. (Hrsg.): Text ⫺ Verstehen. Grammatik und darüber hinaus. Jahrbuch 2005 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/New York, 254⫺276. Fix, Ulla u. a. (2001): Zur Kulturspezifik von Textsorten. Tübingen. Fleck, Ludwik (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt.
67. Stil und Kultur Geertz, Clifford (1973): Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture. In: The Interpretation of Cultures. Selected Essays by Clifford Geertz. New York, 3⫺32. Goodenough, Ward (1957): Cultural Anthropology and Linguistics. In: Dell H. Hymes (ed.) (1964): Language in Culture and Society. A Reader in Linguistics and Anthropology. New York. Günthner, Susanne/Angelika Linke (Hrsg.) (2006): Themenschwerpunkt Linguistik und Kulturanalyse. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 34/1 u. 2. Hahn, Alois (1986): Soziologische Relevanzen des Stilbegriffs. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.): Stil: Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M., 603⫺612. Hermanns, Fritz (1999): „Sprache“, „Kultur“ und „Identität“. Reflexionen über drei Totalitätsbegriffe. In: Andreas Gardt/Ulrike Haß-Zumkehr/Thorsten Roelcke (Hrsg.) (1999): Sprachgeschichte als Kulturgeschichte [Festschrift Oskar Reichmann]. Tübingen, 351⫺391. Heyse, Karl W. L. (1856): System der Sprachwissenschaft. Hrsg. von Heymann Steinthal. Berlin (Nachdruck Hildesheim/New York 1973). Hinnenkamp, Volker/Margret Selting (Hrsg.) (1989): Stil und Stilisierung. Arbeiten zur interpretativen Soziolinguistik. Tübingen. Hörning, Karl H./Julia Reuter (2004): Doing Culture: Kultur als Praxis. In: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld, 9⫺18. Humboldt, Wilhelm von (1905): Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung. In: Wilhelm von Humboldts Werke. Bd. 4. Hrsg. v. Albert Leitzmann. Berlin, 1⫺34. Humboldt, Wilhelm von (1907): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechtes. In: Wilhelm von Humboldts Werke. Bd. 7. Hrsg. v. Albert Leitzmann. Berlin, 1⫺344. Irvine, Judith (2001): “Style” as distinctiveness: The Culture and Ideology of Linguistic Differentiation. In: Penelope Eckert/John R. Rickford (eds.): Style and Sociolinguistic Variation. Cambridge, 21⫺43. Keim, Inken (1995): Kommunikative Stilistik einer sozialen Welt „kleiner Leute“ in der Mannheimer Innenstadt. Berlin/New York. Keim, Inken (2007): Die „türkischen Powergirls“: Lebenswelt und kommunikativer Stil einer Migrantinnengruppe in Mannheim. Tübingen. Kroeber, Alfred Louis (1963): Style and Civilizations. Berkeley/Los Angeles. Kroeber, Alfred Louis/Clyde Kluckhohn (1952): Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions. New York. Leach, Edmund Ronald (1978): Kultur und Kommunikation: zur Logik symbolischer Zusammenhänge. Frankfurt a. M. Linke, Angelika (1996): Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart. Linke, Angelika (2000): Informalisierung? Ent-Distanzierung? Familiarisierung? Sprach(gebrauchs)wandel als Indikator soziokultureller Entwicklungen. In: Der Deutschunterricht 3, 66⫺77. Linke, Angelika (2003): Begriffsgeschichte ⫺ Diskursgeschichte ⫺ Sprachgebrauchsgeschichte. In: Carsten Dutt (Hrsg.): Herausforderungen der Begriffsgeschichte. Heidelberg, 39⫺49. Markova´, Ivana (2003): Dialogicality and Social Representations. The Dynamics of Mind. Cambridge. Meyer, Leonard B. (1979): Toward a Theory of Style. In: Berel Lang (ed.): The Concept of Style. Philadelphia, 3⫺44. Nünning, Ansgar (2001): Kulturwissenschaft. In: Ansgar Nünning: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart/Weimar. Panofsky, Erwin (1980): Das Problem des Stils in der bildenden Kunst. In: Erwin Panofsky: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Hrsg. v. Hariolf Oberer und Egon Verheyen. Berlin, 19⫺28.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Pfeiffer, Ludwig K. (1986): Produktive Labilität. Funktionen des Stilbegriffs. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.): Stil: Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M., 685⫺726. Reckwitz, Andreas (2004): Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler. In: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld, 40⫺54. Sandig, Barbara (2006): Textstilistik des Deutschen. Berlin/New York. Scharloth, Joachim (2007): 1968 und die Unordnung in der Sprache. Kommunkationsstrukturelle und sozialstilistische Untersuchungen. In: Die (Un)Ordnung des Diskurses. Hrsg. v. Steffen Pappert. Leipzig, 11⫺36. Scharloth, Joachim (in Vorbereitung): 1968. Eine Kommunikationsgeschichte. 2009. Schlieben-Lange, Brigitte (1983): Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung. Stuttgart. Schlieben-Lange, Brigitte (1986): „Athe`nes e´loquente“/„Sparte silencieuse“. Die Dichotomie der Stile in der Französischen Revolution. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M., 155⫺168. Selting, Margret/Barbara Sandig (Hrsg.) (1997): Sprech- und Gesprächsstile. Berlin/New York. Stubbs, Michael (1997): Eine Sprache idiomatisch sprechen: Computer, Korpora, Kommunikative Kompetenz und Kultur. In: Klaus J. Mattheier (Hrsg.): Norm und Variation. Frankfurt a. M., 151⫺167. Trabant, Jürgen (1986): Der Totaleindruck. Stil der Texte und Charakter der Sprachen. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M., 169⫺188. Tylor, Edward Burnett (1871): Primitive Culture: Research into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Language, Art and Custom. London.
Angelika Linke, Zürich (Schweiz)
68. Rhetoric and culture in Non-European societies 1. 2. 3. 4.
European history Rhetoric and culture in comparative perspective Conclusion Selected bibliography
Abstract This contribution discusses the relationship between rhetoric and culture as it is conceptualized in Non-European cultures. First, a short outline of the history of rhetorical concepts in the occidental tradition is provided. Then, narrow and broad conceptions of rhetoric will be examined. Broad notions of rhetoric as defended in the Attic State, the Roman Republic, the Renaissance and the Baroque as well as in Post-Modernism and its predecessors are
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Pfeiffer, Ludwig K. (1986): Produktive Labilität. Funktionen des Stilbegriffs. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.): Stil: Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M., 685⫺726. Reckwitz, Andreas (2004): Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler. In: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld, 40⫺54. Sandig, Barbara (2006): Textstilistik des Deutschen. Berlin/New York. Scharloth, Joachim (2007): 1968 und die Unordnung in der Sprache. Kommunkationsstrukturelle und sozialstilistische Untersuchungen. In: Die (Un)Ordnung des Diskurses. Hrsg. v. Steffen Pappert. Leipzig, 11⫺36. Scharloth, Joachim (in Vorbereitung): 1968. Eine Kommunikationsgeschichte. 2009. Schlieben-Lange, Brigitte (1983): Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung. Stuttgart. Schlieben-Lange, Brigitte (1986): „Athe`nes e´loquente“/„Sparte silencieuse“. Die Dichotomie der Stile in der Französischen Revolution. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M., 155⫺168. Selting, Margret/Barbara Sandig (Hrsg.) (1997): Sprech- und Gesprächsstile. Berlin/New York. Stubbs, Michael (1997): Eine Sprache idiomatisch sprechen: Computer, Korpora, Kommunikative Kompetenz und Kultur. In: Klaus J. Mattheier (Hrsg.): Norm und Variation. Frankfurt a. M., 151⫺167. Trabant, Jürgen (1986): Der Totaleindruck. Stil der Texte und Charakter der Sprachen. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M., 169⫺188. Tylor, Edward Burnett (1871): Primitive Culture: Research into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Language, Art and Custom. London.
Angelika Linke, Zürich (Schweiz)
68. Rhetoric and culture in Non-European societies 1. 2. 3. 4.
European history Rhetoric and culture in comparative perspective Conclusion Selected bibliography
Abstract This contribution discusses the relationship between rhetoric and culture as it is conceptualized in Non-European cultures. First, a short outline of the history of rhetorical concepts in the occidental tradition is provided. Then, narrow and broad conceptions of rhetoric will be examined. Broad notions of rhetoric as defended in the Attic State, the Roman Republic, the Renaissance and the Baroque as well as in Post-Modernism and its predecessors are
68. Rhetoric and culture in Non-European societies mainly grounded (1) in a democratic political organization based on debates and (2) in a profound scepticism concerning cosmological and ideological certainties. Subsequently, these findings are compared to Non-European notions of rhetoric as conceptualized among New-Caledonians, Native Americans, !Kung bushmen and peoples of the South Seas. This comparison reveals two further conditions, which favor a wide notion of rhetoric: (3) a certain degree of social interdependence (i. e. the fact that conflicts may not be resolved by fission) and (4) social prestige connected to skilful rhetoric (along with its main effect, social prominence) and, possibly, a number of available (i. e. not bequeathed) yet limited social positions talented, ambitious and eloquent individuals might qualify for.
1. European history The history of rhetorical theory is characterized by alternations between broad and narrow notions of the term rhetoric. Broad conceptions consider rhetoric as the most prominent human ability, comprehending thought, speech and action in all domains of existence. Such conceptions existed in the Attic state, the Roman Republic, throughout the Renaissance and the Baroque, as well as in the 19th and 20th centuries, especially in Postmodernism. In contrast, narrow conceptions reduce rhetoric to the art of elegant speech or writing, or even worse, regard it as manipulation. Such notions have been particularly forcibly defended in Hellenism, the Roman Empire, the high Middle Ages, during the Enlightenment and Modernity, especially in times when positivism and evolutionism were the dominating scientific paradigms. At large, it can be observed that there are two key factors influencing whether rhetoric in a society is prestigious or frowned upon, or whether the theoretical notions of rhetoric as defended by contemporary scholars are narrow or broad. The first is that rhetoric flourishes particularly well in a democratic political organization, where decisions are made by general consensus preceded by debates. People naturally value rhetoric when it helps them to defend their own interests in both political and legal affairs, and scholars who are familiar with rhetorical politics logically ascribe value to it. This holds true for Attic Athens and Republican Rome as well as for modern democracies. The second factor that stimulates broad and prestigious ideas of rhetoric is a profound scepticism concerning cosmological and ideological certainties. Rhetoric is an adequate theoretical model for those who do not take truth for granted, but rather believe that it emerges from dialogue and intersubjectivity. Thus, we can observe very broad notions of rhetoric in times of crisis, wars and plagues but also in periods of innovations and discoveries that had deep impact upon society. This is especially true for the Renaissance with all its social changes, discoveries, religious and secular wars and disastrous plagues, but also for the Attic state as well as for developments in the 19th and 20th centuries.
2. Rhetoric and culture in comparative perspective Starting from the above findings, in this chapter notions of rhetoric will be examined as they are conceived in other regions of the world. I draw on selected ethnographic information from selected societies. Major focus will be on descriptions of rhetorical practices.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
2.1. Rhetoric and culture among the New-Caledonians Speech among the New-Caledonians is called no as described by the missionary and anthropologist Maurice Leenhardt, who lived among them for 25 years. No in NewCaledonian understanding is not only used to designate verbal speech but also all forms of rhetorical action. The concept encompasses thinking, speaking and social action. “The word does not imply discourse but is simultaneously spontaneous act and considered act, activity and psychic behaviour, through which each being reveals or affirms himself” (Leenhardt 1979, 140). Right from the start of his report, Leenhardt provides us with an example of the concept word (in French parole ⫽ speech). It is an account of a village scandal: “A young outsider who committed adultery has been captured. He is accused. He remains silent. And it is learned that he himself is a ‘word’. An elder brother needed to seek revenge and delegated the younger brother to commit the act of vengeance. Because he is the executor of the fraternal command, they say he is ‘the word of his brother’. People passing at the road wonder at the excitement, the gatherings, the whispering in the village. They inquire and are told, with an air of mystery, ‘there is a word’” (Leenhardt 1979, 127 f.). Leenhardt (1979, 133) comments: “The word proceeds from the heart, for the heart is called ‘the basket of words.’ Everything belonging to man is eweke¨ [the Lifouan synonym of no, C. M.]: his eloquence, the object he shapes, what he creates, what he possesses of his own, the products of his labor, his remarks, his goods, his garden, his wife, his psychic wealth, and his sex organ. All this is word.” Person and authority are created by means of speech. Parts of the chief’s dignity are rhetorical competences as presented in his speech and addresses but also in his acts, especially when exchanging gifts. Social relations created, intensified and renewed through gift exchange are part of a man’s speech. “The chief presides over the circulation of gifts. Each exchange between clans takes on worth only by the definition the eldest son [chief, C. M.] gives it. His word situates the act and puts it into time. The act itself is not in the exchange but in the word it calls forth. The act is a word. On each occasion it is for the chief to pronounce the appropriate ritual words, as well as the discourse which makes the act stand out and gives it meaning” (Leenhardt 1979, 114). Objects that someone has received therefore count as speech, too, and the act of giving holds as speaking. Speech for the New-Caledonians is, according to Leenhardt (1979, 133), the “manifestation of the being”. The concept of speech even transcends the individual. “The word is the being’s essential power of manifestation” (Leenhardt 1979, 140) ⫺ and thus it is human culture. What Assmann (1992) has called the “cultural memory” is for the New-Caledonians likewise no. “Tradition, marriage, fame, or myth are all thoughts as well as acts of the ancestors or gods. They are the ‘enduring word’” (Leenhardt 1979, 135). The rhetorical notion of human society and culture inherent in the New-Caledonian concept of no is also visible in visual arts. Ancestors of chiefs are represented with exaggerated mouths and long tongues sticking out. Leenhardt (1979, 139) asks rhetorically: “Isn’t the tongue the muscle which brings forth the traditional virtues, virile decisions, and all manifestations of life the word contains in itself?” Speech, then, is the regime of life. Evil words or twisted words harm the equilibrium of the group. Straight words, in contrast, maintain the integrity of social life, create and
68. Rhetoric and culture in Non-European societies demonstrate vitality. “Caledonian chieftainship, whose authority rests entirely on the prestige of the word, strangely confirms these observations. The chief has the task of recalling in richly embellished discourse all the traditions, alliances, and memorable moments of the clan, all its engagements, all its honor” (Leenhardt 1979, 136). Speech in New-Caledonian society is free in all kin constellations where there is no taboo. One example: The term for brothers is kaaveai ⫺ those who speak together (Leenhardt 1979, 145). Averhono, in contrast, are those who may speak with one another using mockery. “The free word is always spicy, often comic and obscene” (Leenhardt 1979, 145). The Caledonian no thus contains a rhetorical theory of society: Attitudes, values and the historical identity of the community can only and must constantly be renewed through speech. All utterances and creations of man, and even his thinking are considered speech. Moreover, even the gods speak through man, if humans obey and realize the godly rules, they becomes the tongue of the gods (Leenhardt 1979, 143). Being convinced that man and his character are manifest in speech, the New-Caledonians have created a number of epithets for no. In order to characterize individuals, they speak of wise, deeply dangerous, straight-line, right-handed, twisted, misleading, appropriate, adequate, equal, and free words or words without backing. “The word is qualitative because the being, through it, is manifested only by its qualities, or, as there are no ‘qualities’ in the native language, we might better say by its states. The word manifests being in its diverse attributes. ‘Wise,’ ‘straight,’ ‘right’ as attributes of the word mean that a ‘being’ was in a state of wisdom, justice, rectitude at a given moment. The word fixes and consolidates these qualities or states by giving them form and objectifying them. The criterion of its quality is to be consistent with the being, that is, it should help the Canaque make real what he feels, contemplates, and undertakes at random. In this way, the word is creative” (Leenhardt 1979, 149). Humans are what and how they speak: this is the rhetorical anthropology of the New-Caledonians as described by Leenhardt. The concept of speech employed by the New-Caledonians (Canaques) thus encompasses all potential or factual utterance or creation of a being. The concept of rhetoric of the New-Caledonians (that, in fact, is a concept of culture) compared to the cultural history of rhetoric described above, seems to be exceptionally broad. Therefore, the next Chapter examines other ethnographic accounts, especially those who originate from the time when Europeans first got in contact with them.
2.2. Early depictions o rhetoric and culture among American Indians Probably the first extensive account from North American Indians was Jean Franc¸ois Lafitau’s (1681⫺1746) Customs of the North American Indians of 1724. After having lived among the Iroquois of the Northern Woodlands for five years, he wrote down his experiences and thoughts in a book that, today, is judged principally reliable by scholars of Native American ethnography (cf. Fenton 1998). Lafitau, in contrast to Leenhardt, focuses on the Iroquoian rhetorical competences in political matters: “The chiefs know how to gain ascendancy over their minds and take advantage of their facility in speaking and saying all that they wish. But it is principally in the public councils and solemn transactions that the orators appear brilliant. They alone speak in
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil them, their duty properly consisting in announcing all the business which has been discussed in the secret councils, in declaring the results of all deliberations and in bearing the news authoritatively in the name of the entire village and nation. This role is not easy to sustain. It demands a great capacity, the knowledge of councils, a complete knowledge of all their ancestors’ ways, wit, experience and eloquence. Not considered at all in the qualifications is whether they are of a ranking maternal household; their personal merits and talents are the only things considered. It is rare to find persons who fill this post worthily. Scarcely one or two in a village fulfil it even passably. Recourse must often be made to the people of other villages and nothing is neglected to attract outsiders capable of carrying on this work well who have gained some reputation in it. These orators’ discourses do not consist of long harangues, composed on the model of those of Demosthenes or Cicero. The Iroquois, like the Lacedaemonians wish a quick and concise discourse. Their style is, however, full of figures of speech and quite metaphorical; it is varied according to the different nature of the business. On certain occasions, it gets away from ordinary language and resembles our courtly style; on others, it is sustained by a keener action than that of our actors on the stage. They have, withal, a capacity for mimicry; they speak with gestures as much as with the voice and act out things so naturally as to make them seem to take place under their audience’s eyes. The orator has, near him, one or two persons to remind him of what he is to say, to refresh his memory on what decisions have been reached and to watch that he says things in the proper order. This is done, however, with courtesy and without interruptions. But he himself, during his discourse, is careful to ask the assembly, from time to time, if he has announced things well, in the way in which they should be heard and have been decided. Several of the Council respond to him by an etho of approbation. He takes advantage also of pauses to consult his assistants. After his report follows the niohen, the general cry of consent. It is done in this way. One of the Old Men cries; ‘niohen?’ All the others answer ‘nio’. This is done three times in each clan’s name. That is the kind of formula to ask whether everyone is satisfied but it is really done only as a form, for everyone always answers ‘yes’. It seems, however, set up in such a way as to give opportunity to those who would judge it a proper time to make remonstrance or protest. […] When the orators have wit and savoir faire they gain a great deal of credit and authority. The famous Garakontie´ who has served religion and the French Colony so well was only an orator at Onnontague [Onondaga]: and this man was so much respected by his people that he managed the Five Iroquois nations as he wished” (Lafitau 1974, 297 ff.). Lafitau emphasizes that the orators were selected according to their skills and not according to descendent hierarchy. Sometimes there were so few candidates in a village that the Iroquois had to request for good orators in their neighbour villages. All this shows the high reputation and great importance of rhetorical skills in the Iroquoian society. The Iroquois demanded that good orators acquired a detailed knowledge of Iroquoian history, of their laws and traditions as well as outstanding skills in expression. Sometimes the orators gained the highest political influence that Lafitau compares to that of the Lycian Nancrates (a demagogue who incited the Lycians who settled in SouthWestern Turkey to offer fruitless resistance to the Roman army under M. Brutus). The form of public speech of the Iroquois is described as short and lively, figurative and metaphorical, sometimes highly formalized and always accompanied by vivid mimics and gestures.
68. Rhetoric and culture in Non-European societies The political councils of the Iroquois were situations in which the orators could demonstrate their eloquence and abilities in speech. In the councils, information was received, discussed, judged, made public, and finally disseminated. The counsellors, just as classical rhetorical theory predicts, had to take consensual decisions under conditions of pressure for action. Lafitau (1974, 295) gives some examples of the subjects discussed in the councils: “receiving ambassadors, replying to them, declaring (chanting) war, mourning for the dead [Condolence Council], holding festivals, etc.” “The Senate has, certainly, none of the august majesty of that of the Roman Republic [in the days] immediately before [the time of] the Caesars but I believe that it is not at all inferior to that of Rome herself when she went to take the plough from the Serrans and Cincinnati to make them consuls and dictators. They are a troupe of dirty men seated on their backsides, hunched up like monkeys, with their knees up to their ears, or lying in different positions, either flat on their backs or with their stomachs in the air, who, all of them, pipes in their mouths, treat affairs of state with as much coolness and gravity as the Junta of Spain or the Council of the Sages [Council of the Ten] at Venice” (Lafitau 1974, 296). The participation at the Iroquoian councils was restricted: “Almost no one except the Ancients is present at these councils and has a deliberative voice in them. The chiefs and Agoı¨anders would be ashamed to open their mouths in them, if they did not have, joined to their dignity, the advantages of age” (Lafitau 1974, 296). Lafitau provides us with a description of the rhetorical forms of the political speeches of the Iroquois: “Each of the opposing sides first takes up the proposition in a few words and sets forth all the reasons which have been alleged pro and con by those who first expressed their opinion. He then states his own opinion and concludes with these words: ‘That is my thought on the subject of this, our Council.’ To this, all the members of the assembly answer hoo or etho, that is to say ‘that is good’ whether he has spoken well or badly” (Lafitau 1974, 296). Not only Father Lafitau, but other Jesuits as well noticed the outstanding rhetorical abilities of American Indians. They often mention in their letters that they felt reminded of their own rhetoric and homily lessons in the seminaries. As early as in 1633, Father Le Jeune wrote: “There is no place in the world where Rhetoric is more powerful than in Canada, and, nevertheless, it has no other garb than what nature has given it; it is entirely simple and without disguise; and yet it controls all these tribes, as the Captain is elected for his eloquence alone, and is obeyed in proportion to his use of it, for they have no other law than his word” (1633, 118). A short time later, in 1639, Montoya noticed the power to create community present in the rhetoric of the South American Guaranı´: “Many of them gain nobility through eloquence in speech […] thereby they bring people together and vassals” (quoted in Münzel 1986, 172). And Vimont (1645, 62) tells us about the Hurons in the North of Lake Ontario: “I would never have believed that, without instruction, nature could have supplied a most ready and vigorous eloquence, which I have admired in many Hurons; or more clear-sightedness in affairs, or a more discreet management in things to which they are accustomed.” These kinds of enthusiastic accounts have sometimes been challenged in Europe. But the Jesuits insisted on the truth of their descriptions: “In France, people have believed that their speeches and addresses, which we reported in our relations were fictitious; but
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil I can assert that most of these, when translated into another language, are much less powerful than in their own. They have often persuaded us in affairs of importance, and made us change the resolutions which, after mature deliberation we had taken for the weal of the country. I doubt not that they are capable of the sciences: they have a harmonious and excellent ear for music; but their music is different from, and in some degree more martial, than ours” (Bressani 1653, 260 f.). Rasles (1723, 162) even claimed that the eloquence of the Abenaki of the Northern Woodlands outdo the rhetorical compositions of Europeans: “I fully believe that, if I had written down what this Savage said to us, offhand and without preparation, you would readily acknowledge that the most able Europeans could scarcely, after much thought and study, compose an address that would be more forcible and better arranged.” We might remember that most of the Jesuits quoted above, particularly Lafitau, have more or less been contemporaries of Renaissance philosophers that highly valued rhetoric. In their time, rhetoric belonged to the common knowledge of all free citizens. Hence, at least the intellectuals of this time possessed a great sensibility for the social competence inherent in rhetorical (inter)action. Even after the Enlightenment, when Europeans discovered foreign regions, they continued to rhapsodize about the rhetorical faculties of natives.
2.3. Early descriptions o rhetoric and culture in the South Seas The history of discoveries in the Pacific provides us with many interesting examples of the culture of rhetoric. At the beginning of the 19th century, the Dutch counsel Jacques-Antoine Moerenhout (1797⫺1879) reminds us of the great importance rhetoric had in the contemporary Tahitian society: “Eloquence was as much esteemed by these islanders as by any other people in the world. They had their masters of rhetoric and their schools where the art of speaking was taught; and it seemed eloquence was so necessary to the chiefs that to lack it was to lack the ability to rule; even today when they speak of certain ancient chiefs, it is rarely that you hear: ‘That was a powerful man, a great warrior’; but, putting aside all he had done and only seeing in him the renowned orator, they say emphatically: ‘Ta’ata paraparau maitai! There was a man who spoke well!’” (Moerenhout 1837, I, 411). Forty years earlier, in 1799, missionary Rev. William Jefferson (d. 1806) had already noted: “This afternoon the natives held a public meeting near the British house when the peace between Otoo, Pomerre, & this district was again ratified and confirmed. As all public business is transacted between persons called Taaoraro or orators, the speakers for Otoo & Pomerre were seated on the ground, opposite to each other, about 15 yards asunder, each having a bunch of green leaves in his hand, (perhaps) as tokens of peace; and they harangued upon the subject of their meeting. The spectators kept at a proper distance. Otoo was present, but did not seem to take much notice of what was doing” (March, 19, 1799, LMS Archives; quoted in: Oliver 1974, 1031). And Moerenhout adds on: “These assemblies usually took place out of doors. The participating chiefs wore a special council-meeting garment (auhaana), a mat of fine quality which extended to the knees. The ra’atira, those proprietors of large estates, whom I have already mentioned, were seated there with their superiors; and knowing full well that the latter depended upon their assistance they did not hesitate their own opinions. Usually both the pros and the cons were discussed in such meetings with clarity, emotion and eloquence. And,
68. Rhetoric and culture in Non-European societies however bellicoce the general populace may have been, the counsel of the majority of inferior chiefs sometimes forced the arii to give up his martial enterprise” (Moerenhout 1837, II, 32 f.; quoted in: Oliver 1974, 384). For the London missionary William Ellis, the speeches of Tahitian orators were examples for the “most impassioned natural eloquence, bold and varied in its figures, and impressive in its effects. I never had an opportunity of attending one of their national councils when the question of war was debated, under all the imposing influence imparted by their mythology, whereby they imagined the contention between the gods of the rivals was as great as that sustained by the parties themselves. A number of the figures and expressions used on these occasions are familiar, but detached and translated they lose their force. From what I have beheld in their public speeches, in force of sentiment, beauty of metaphor, and effect of action, I can imagine that the impression of an eloquent harangue, delivered by an ardent warrior, armed perhaps for combate, and aided by the influence of highly excited feeling, could produce no ordinary effect; and I have repeatedly heard Mr. Nott [another missionary] declare (and no one can better appreciate native eloquence), he would at any time go thirty miles to listen to an address impassioned as those he has sometimes heard on these occasions” (Ellis 1829, II, 479 f.). Henry gives an account of the spatial organization in the council house representing the social organization: “When at last the council met, the speakers sat in a central group, the sovereign and counsellors sitting in a row at one end facing them and the chiefs and priests in a row to the right and to the left of the orators. The lower end and the two lines remained open for ingress and egress; but no one dared to cross the space between the sovereign and the orators, on pain of death. Outside of this official assembly sat an audience of the people, who had no voice in the meeting but felt a lively interest in what the orators said and were generally greatly impressed with their eloquence ⫺ the deliberations sometimes lasting over a day” (Henry 1928, 297; quoted in: Oliver 1977, 384). These enthusiastic accounts of the rhetoric of foreign peoples could be continued endlessly. But beginning with the second half of the 19th century, the enthusiasm stopped and opened up space for positivism and the emphasis on material, biological, evolutionary, and later on functionalistic considerations. The examples show that rhetoric has played a salient role in the life of these people. However, the concepts are less broad than that of the New-Caledonians’, but rather seem to correspond with a Ciceronian notion of rhetoric that emphasizes the role of rhetoric in political and civil affairs. Most notably, they focus on the rhetorical competences of prudent counsellors and emphasize their sovereign styles to take decisions in local politics. As the examples make believe, wide notions of rhetoric and an emphasis on the power of speech have largely been common among Non-European people. Nonetheless, if we look at people who have developed the least stratified political organization, we witness that broad notions as mentioned above are not ubiquitous.
2.4. Contemporary rhetoric and culture among the !Kung Lorna Marshall has extensively described the “habits of talking” among the !Kung of South Africa (1961, 231). “The !Kung are the most loquacious people I know,” she says
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil (1961, 232), and Lee (1979, 372) confirms, that “they may be among the most talkative people in the world.” But the !Kung do not cultivate public speech, they rather talk extensively among themselves, most often at the evening when they sit around the campfire: “Conversation in a !Kung werf is a constant sound like the sound of a brook, and as low and lapping, except for shrieks of laughter. People cluster together in little groups during the day, talking, perhaps making artifacts at the same time. At night families talk late by their fires, or visit at other family fires with their children between their knees or in their arms if the wind is cold” (Marshall 1961, 232). Even though they intimately live together, they always have enough topics to converse on. They like to speak repetitiously and in detailed ways about food (“the subject they talk about most often”), gift exchange, visiting friends or relatives, or hunting. “[The men] converse musingly, as though enjoying a sort of day-dream together, about past hunts, telling over and over where game was found and who killed it. They wonder where the game is at present and say what fat bucks they hope to kill” (1961, 232). Talk is highly dialogical and informal (1961, 233). Allegations are not uttered directly but rather in a sort of trance-like, soliloquizing chant uttered in the presence of the addressee. Reproaches, thus, are not made directly, and Marshall (1961, 235) says that for the auditors it is like participating in one’s dreams. This habit leads to the fact that the !Kung are well-informed about the emotional state of those who live with them, and this is, according to Marshall, what prevents conflicts. This kind of speech leads to the avoidance of social disharmony (1961, 246). Lee (1979, 372) attests that conflicts are raised only indirectly. Community, in general, is organized through talk. Even though talk is the basic human instrument to shape community, rhetoric as public, monologizing speech is not well received. On the contrary, all ambition to position oneself into the centre of the group is repudiated, particularly if the person in question has achieved prestige, e. g. through hunting skills. In particular, the !Kung very strongly reject all attempts of or even possibilities for individuals to acquire prominence. When men return from a successful hunt, the others will do everything to prevent the hunter from building up an arrogant self-image. As /Xai/xai, one of Richard Lee’s informants puts it: “When a young man kills much meat, he comes to think of himself as a chief or a big man, and he thinks of the rest of us as his servants or inferiors. We can’t accept this. We refuse one who boasts, for someday his pride will make him kill somebody. So we always speak of his meat as worthless. In this way we cool his heart and make him gentle” (Lee 2003, 52). Thus, we can see, that in the egalitarian society of the !Kung (Lee 1979, 343 f.), rhetoric is only tolerated when it is dialogical, harmonious, and when it reinforces the egalitarian ethos of the group.
2.5. Contemporary rhetoric and culture among the Xavante The above description also holds true for the Xavante of Central Brazil as described by Laura Graham (1995). Political decisions among the Xavante are taken in the village council (wara˜) that Graham describes as an extremely polyphonic event. It is constituted by a number of speaking voices that overlap and displace the individual from any power to influence. “In the wara˜ many people talk at the same time; there are no podiums, no
68. Rhetoric and culture in Non-European societies spotlights, and no public announcement systems. Moreover, men avoid looking at whoever is addressing the group; most lie on their backs staring up at the sky” (Graham 1995, 152). The village council is opened by one of the local leading figures with words that can be agreed on by most of those who are present (the men). With the length of his speech, an increasing number of comments is chipped in. “Their increasingly frequent comments obscure the initiator’s voice, and as others become involved he sits down. His voice is absorbed in the voices of multiple speakers. This blending of voices signifies the fact that as an individual, he has no special power or authority to sway the decisionmaking process. He is a facilitator who begins discussions in which all men may participate” (Graham 1995, 151). Though the wara˜ serves as a forum for politics, it can not be compared to the Roman forum or the Athenan agora: “In the wara˜, then, the locus of political action resides in emergent social interaction, not in a single agent as in the idealized model of Western democratic tradition. The discursive interaction between senior males in the wara˜ blurs the boundary between voice and individual subjectivity, fuses individual perspectives, and erases the boundaries between an orator’s speech and the speech of others” (Graham 1995, 166). Concerning formal features of the council talk, Graham speaks of a continuum between speaking and chanting. Through the many comments that the main speaker works into his speech in a rhythmic way, and through the special lexical choices, parallel schemes and intonational patterns, the wara˜ speech gets a chant-like character. “When orating, a man remains very much in tune with other wara˜ participants’ responses and regularly incorporates the comments of those around him, often word for word, into his speech. A skilled speaker who is paying close attention to others’ remarks may be able to integrate them while still maintaining the rhythm of his delivery” (Graham 1995, 154). There is only a slight difference between speaker and listeners, since most of the audience actively participate in the council discourse. This also means that at any moment of the council, there are multiple speakers engaged in the talk. “In this way, multiple speakers become collaborators, or co-performers, in the evolution of the discourse itself” (Graham 1995, 158). The result is a constant murmuring that is sometimes amplified by the habit of the speakers to cover their mouths while speaking or commenting. Neither voices nor utterances can be clearly distinguished (Graham 1995, 157). In this way, the Xavante take decisions in their council. “Xavante decision making takes place as multiple speakers simultaneously state and restate their positions until consensus is reached” (Graham 1995, 159). “In the wara˜, the physical and acoustic features of performance effectively dissociate individual speakers from their utterances. […] A speaker thus represents discourse as an extra-individual production to promote cohesiveness among the members of a faction. […] Simultaneously, the organization of speech blends the voices of members of opposed factions to counteract the centrifugal forces of factionalism, reinforcing egalitarian relations among senior males and holding the community together” (Graham 1995, 166). In the council, the individual identity of the speaker is played down and his responsibility to act as a representative for his group is emphasized (Graham 1995, 151 f.). If someone rises to raise a subject, and begins to speak in a louder voice, the comments of others immediately obscure his speech. Though he might acquire prominence in standing upright, he reduces the degree of imposition created by his outstanding position in staring at the horizon and not at the audience that sits or lies on the ground around him (Graham 1995, 152).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Intentionality and meaning, among the Xavante, are created and interpreted as intersubjective and contextual achievements. The speakers, as Graham (1995, 165) tells us, do not take responsibility for the speeches they deliver in the wara˜. On the contrary, they play down their roles in it. In general, they do not speak about the speeches that they or other participants make in the council; since it would be considered pretentious to say that one surveys and fully understands what is going on in the wara˜ (Graham 1995, 165). Through the patterns of performance, the multivocality of utterances, the anonymization of voices, the discourse as a whole is dissociated from individual intentions. “The organization of speech in the men’s council counteracts the centrifugal forces of Xavante factionalism, forces that constantly threaten to rend a village. […] Xavante harness their expressive resources to create a balance between factions and to counterbalance the omnipresent tendency toward fission” (Graham 1995, 149). Among the Xavante there is a constant tension between individualism and social pressure. But the formal speech situation minimizes the focus on the individual. Speakers speak only if they have support of their groups. “Speaking itself demonstrates both a man’s confidence and the support of his political faction” (Graham 1995, 150). But the fact that one speaks at all contributes to the individual prestige of the orator, since eloquence is a sign of prestige and authority (Graham 1995, 149). If an ambitious individual wants to become one of the village leaders, he must speak in the council in order to gain prominence. But while speaking in the wara˜, he is subject to its speech patterns. “Those who are more adept are more fully socialized and, being more adept, tend to speak more frequently, opening possibilities to acquire still greater eloquence and greater prestige. Consequently, by controlling the discursive resources of wara˜ debate, those who are more fully socialized actively define and reproduce relations of domination” (Graham 1995, 150). To become a leader, one must be recognized as somebody who advocates the interests of the community as a whole. Only if one has proven this quality, one might come back to follow one’s individual interests. The polyphonic procedure of the wara˜, then, can be interpreted as an egalitarian securing mechanism against ambitions for power of individual people. Being exposed to the speech patterns in the wara˜, individuals can express their ideas and interests only under the major influence of the group. Thus, the meaning of an utterance is not a copy of its author’s intentions, but rather a result of an intensive interaction between speaker, listeners and context (Graham 1995, 141).
2.6. Rhetoric and culture among the Kwakiutl and the Ojibwa In contrast to both the !Kung and the Xavante, the Kwakiutl, hunter-gatherers of the North American west coast, developed traditions of great oratory. They composed and admired great speeches. The Kwakiutl, renowned through Benedict (1934) for their “hyperbolic character”, do not omit boasting speeches as a possibility of skilful expression: “Kwakiutl nobles made self-glorifying speeches and tried to outdo each other in the giving and even destruction of property, and so Benedict chose the Northwest Coast as one of her examples of cultures dominated by a single idea, portraying the Kwakiutl as paranoid megalomaniacs” (Suttles/Jonaitis 1990, 86). Benedict herself affirms: “The object of all Kwakiutl enterprise was to show one-self superior to one’s rival. This will to superiority they exhibited in the most uninhibited fashion. It found expression in uncen-
68. Rhetoric and culture in Non-European societies sored self-glorification and ridicule of all comers” (1989, 190). For Benedict, the longing of the chiefs for superiority is a basic feature of Kwakiutl culture. One example of boasting speeches of Kwakiutl chiefs is the Feast Song of the Chief of the Ha?nalenaˆ-Kwakiutl: “I am the great chief who makes people ashamed. I am the great chief who makes people ashamed. / Our chief brings shame to the faces. / Our chief brings jealousy to the faces. Our chief makes people cover their faces / by what he is doing in this world // all the time, from the beginning to the end of the year, giving again and again oil feasts / to all the tribes, a¯waˆ, a¯waˆ! I am the great chief who vanquishes, ha, ha! I am the great chief who vanquishes, / for this true chief tried to go around the world giving feasts, to raise the rank of this prince. Oh, go on // as you have done before! Only at those who continue to turn around in this world, / working hard, losing their tails (like salmon) I sneer, at the chiefs under / the true chief. Have mercy on them! Put oil on their / dry heads with brittle hair, those who do not comb their hair! I sneer / at the chiefs under the true, real chief, ya waˆ! I am // the great chief who makes people ashamed” (Boas 1921, 1291). Glorifying oneself and flouting the others accompanies each other. Part of this rhetoric is the expression of emotions, particularly of anger, as one way to heighten one’s status. Another group whose members liked to hold boasting speeches were the Ojibwa of central Canda. The traveller Johann Georg Kohl (1808⫺1878) extensively described their boasting speeches in 1855. In rituals that marked the passage from war to peace periods, returned warriors got the opportunity to recount their deeds. Kohl writes: “Another, with a long rattlesnake’s skin round his head, and leaning on his lance, told his story objectively, just as a picture would be described. ‘Once we Ojibbeways set out against the Sioux. We were one hundred. One of ours, a courageous man, a man of the right stamp, impatient for distinction, separated from the others, and crept onward into the enemy’s country. The man discovered a party of the foe, two men, two women, and three children. He crept round them like a wolf, he crawled up to them like a snake, he fell upon them like lightning, cut down the two men, and scalped them. The screaming women and children he seized by the arm, and threw them as prisoners to his friends, who had hastened up at his war yell; and this lightning, this snake, this wolf, this man, my friends, that was ⫺ I. I have spoken!’” (Kohl 1860, 22). Kohl continues: “Each warrior has the right to make himself as big as he can, and no one takes it upon him to interrupt or contradict him. If the narrator, however, is guilty of any deception as regards facts, and the deception is of consequence, any man may get up and contradict him. But this is a rare case, and becomes a very serious matter, for any man convicted of falsehood at the solemnity of a war-dance is ruined for life. A liar can hardly ever regain the confidence of his countrymen. ‘Oui, oui, monsieur,’ [Yes, yes, Sir] an excellent old Canadian Voyageur said to me on this subject, ‘ils sont tous comme c¸a. Etre trop modeste, de se croire faible, ce n’est pas leur faible coˆte´. Chacun d’eux se croit fort et bon. Chacun pense et dit, ‘C’est moi qui ai le plus d’esprit. Je suis le plus courageux de tous.’ [They are all like that. Being too humble, judging themselves weak isn’t their weakness. Everybody among them believes himself to be strong and good. Everybody thinks and says: ‘I am the one with the best understanding. I am the bravest of all’]. Walk through the whole camp, from hut to hut, and every one will say so to you. Yes, if you visit the poorest and last of them ⫺ even if he should be a cripple ⫺ if he can still speak, he will assert that he is ‘sans peur et sans reproche,’ [fearless and blameless] and that he knows no one in camp he will allow superior to himself” (Kohl 1860, 22).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil In Kohl’s account the will for individual independence and social equality of the Ojibwa is expressed. At the same time, the speeches provide an opportunity for the warriors to acquire social prominence in presenting oneself as someone with extraordinary abilities. Many young men are “impatient for distinction”.
3. Conclusion In European history, two factors that favour broad notions of rhetoric could be identified: (1) a democratic political organization; and (2) scepticism towards totalitarian conceptions of truth. Notions of rhetoric and culture as they have been reported from Non-European societies could be detected mainly through a close look at practices of rhetoric, and at the prestigious place rhetoric occupies in these societies. Both factors mentioned above seem to be influential for notions of rhetoric and culture in Non-European societies as well. Yet, it seems that the factor of a democratic political tradition has to be specified. Evidently, a political organization, where debates are to be held in order to make decisions, seems to constitute an important prerogative for wide notions of rhetoric and culture. If there are no necessary debates about decisions that affect the community, rhetoric remains an empty art. But this is only true when two further conditions are fulfilled: (a) when there are political positions to be filled so that ambitious individuals compete for them, and (b) when the respective society in regard to its inner coherence is to a certain degree interdependent and conflicts cannot be solved by fission. Both is not the case, as we have seen, among the !Kung leading to a social rejection of the prominence individuals gain through rhetoric and eloquence. Overly egalitarian societies also do not favour wide notions of rhetoric when they do not have a system of political representation. Totalitarian notions of truth seem to be generally rare in Non-European societies if they are not organized into complex chiefdoms or “primitive states”. Hence, two further conditions seem to be important for a wide conception of rhetoric in Non-European societies. (1) A certain degree of interdependence among the people living together. If they are too loosely integrated, they tend to resolve conflicts not by rhetoric but by fission. In groups, where there is only loose social integration, as it is the case among the !Kung, there is a ban on rhetoric and the accompanying social prominence of speakers. Only by speaking, orators acquire social prominence that is not always desired. (2) Rhetorical competences must bring about social prestige. Rhetorical practices, then, might more concretely aim at qualifying for social positions. Hence, there must be a number of prominent social positions to be filled by achievement rather than by ascription. Furthermore, they have to be more limited in number than the number of members of the group as a whole. That means, social positions must be available
68. Rhetoric and culture in Non-European societies for whoever might want to outdo others in deeds and, particularly, in the account of such deeds. Together with the conditions mentioned above, we can identify four salient factors accounting for broad conceptions of rhetoric and culture: (1) (2) (3) (4)
a relativist notion of truth; a democratic civil organization; a certain degree of social interdependence; social prestige connected to skilful rhetoric, and, possibly, a number of available yet limited social positions for which eloquent individuals might qualify.
Reversely, five factors affect the existence of narrow notions and practices of rhetoric: (1) (2) (3) (4) (4a) (4b) (5)
a totalitarian conception of truth; an absolutist civic organization; no or an overly strong social interdependence; a disapproval of rhetoric because of its power to create individual prominence or the danger of subversion accompanied by it; no social positions available or a bigger number than of members of the societies.
4. Selected bibliography Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München. Benedict, Ruth [1934] (1989): Patterns of culture. Boston. Boas, Franz (1921): Ethnology of the Kwakiutl. Washington. Bressani, Francesco G. [1653] (1898): Breve Relatione d’alcune Missioni de PP. Della Compagnia di Gies nella Nuoua Francia. In: Reuben Thwaites (ed.): The Jesuit Relations and Allied Documents. Travels and Explorations of the Jesuit Missionaries in New France 1610⫺1791. Vol. 38. Cleveland, 203⫺88. Ellis, William (1829): Polynesian Researches. 2 vls. London. Fenton, William Nelson (1998): The Great Law and the Longhouse: a political history of the Iroquois Confederacy. Norman. Graham, Laura (1995): Performing dreams: discourses of immortality among the Xavante of Central Brazil. Austin. Henry, Teuira (1928): Ancient Tahiti. Honolulu. Kohl, Johann Georg (1860): Kitchi-Gami: wanderings round Lake Superior. London. Lafitau, Joseph Franc¸ois (1974/1977): Customs of the American Indians compared with the customs of primitive times: in two volumes. Toronto. Le Ieune, Paul [1633] (1898): Relation de ce qui s’est passe´ en La Nouvelle France, en l’anne´e 1633. In: Reuben Thwaites (ed.): The Jesuit Relations and Allied Documents. Travels and Explorations of the Jesuit Missionaries in New France 1610⫺1791. Vol. 5. Cleveland, 77⫺268. Lee, Richard (1979): The !Kung San: men, women, and work in a foraging society. Cambridge. Lee, Richard (2003): The Dobe Ju’hoansi, 3rd ed. Fort Worth. Leenhardt, Maurice (1979): Do Kamo: person and myth in the Melanesian world. Chicago. Marshall, Lorna (1961): Sharing, Talking, and Giving: Relief of Social Tensions among the !Kung Bushmen. In: Africa 31, 231⫺49.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Moerenhout, Jacques Antoine (1837): Voyages aux ˆıles du Grand Oce´an, contenant des documents nouveaux sur la ge´ographie physique et politique, la langue, la litte´rature, la religion, les mœurs, les usages et les coutumes de leurs habitant; et des conside´rations ge´ne´rales sur leur commerce, leur histoire et leur gouvernement, depuis les temps les plus recule´s jusqu’a` nos jours. 2 vls. Paris. Münzel, Mark (1986): Indianische Oralkultur der Gegenwart. In: Birgit Scharlau/Mark Münzel: Qellqay. Mündliche Kultur und Schrifttradition bei Indianern Lateinamerikas. Frankfurt, 157⫺258. Oliver, Douglas (1974): Ancient Tahitian Society. 3 vls. Honolulu. Rasles, Se´bastien [1723] (1898): Lettre a` Monsieur Son Fre`re. In: Reuben Thwaites (ed.): The Jesuit Relations and Allied Documents. Travels and Explorations of the Jesuit Missionaries in New France 1610⫺1791. Vol. 67. Cleveland, 132⫺229. Suttles, Wayne/A. Jonaitis (1990): History of Research in Ethnology. In: Wayne Suttles (ed.): Handbook of North American Indians. William Sturtevant. Vol. 7. Northwest Coast. Washington, 73⫺87. Vimont, Barthelemy [1645] (1898): Relation de ce qui s’est passe´ en la Novvelle France, e´s anne´es 1644 & 1645. In: Reuben Thwaites (ed.): The Jesuit Relations and Allied Documents. Travels and Explorations of the Jesuit Missionaries in New France 1610⫺1791. Vol. 27. Cleveland, 123⫺306.
Christian Meyer, Bielefeld (Deutschland)
69. Stil und Moral 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Le style c’est … Matter and manner: Das Wie und das Was Sprachkritik und Stilkritik Kommunikative Ethik Stilisierung Literatur (in Auswahl)
Abstract Starting with Buffon’s “Le style c’est l’homme meˆme” [der Stil ist der Mensch selbst] (Discours prononce´ a` l’Acade´mie Franc¸aise le 25 aouˆt 1753, cf. Pickford 1978, 23), there is a long tradition postulating the existence of a deep connection between style and morals. To establish a foundation for this connection, we first must relinquish the distinction between matter and manner and demonstrate that style is, indeed, a part of meaning. A second step is to scan so-called language criticism and filter out those aspects which are more or less associated with problems of morals. Our paramount aim is to develop and establish morals of communication based on Gricean maxims. Here, in a variety of disguises lies the central issue. We conclude by showing that style is not inherent in texts but constructed within communication. Hence, the communicating partners are responsible for the construction of style and moral conduct.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Moerenhout, Jacques Antoine (1837): Voyages aux ˆıles du Grand Oce´an, contenant des documents nouveaux sur la ge´ographie physique et politique, la langue, la litte´rature, la religion, les mœurs, les usages et les coutumes de leurs habitant; et des conside´rations ge´ne´rales sur leur commerce, leur histoire et leur gouvernement, depuis les temps les plus recule´s jusqu’a` nos jours. 2 vls. Paris. Münzel, Mark (1986): Indianische Oralkultur der Gegenwart. In: Birgit Scharlau/Mark Münzel: Qellqay. Mündliche Kultur und Schrifttradition bei Indianern Lateinamerikas. Frankfurt, 157⫺258. Oliver, Douglas (1974): Ancient Tahitian Society. 3 vls. Honolulu. Rasles, Se´bastien [1723] (1898): Lettre a` Monsieur Son Fre`re. In: Reuben Thwaites (ed.): The Jesuit Relations and Allied Documents. Travels and Explorations of the Jesuit Missionaries in New France 1610⫺1791. Vol. 67. Cleveland, 132⫺229. Suttles, Wayne/A. Jonaitis (1990): History of Research in Ethnology. In: Wayne Suttles (ed.): Handbook of North American Indians. William Sturtevant. Vol. 7. Northwest Coast. Washington, 73⫺87. Vimont, Barthelemy [1645] (1898): Relation de ce qui s’est passe´ en la Novvelle France, e´s anne´es 1644 & 1645. In: Reuben Thwaites (ed.): The Jesuit Relations and Allied Documents. Travels and Explorations of the Jesuit Missionaries in New France 1610⫺1791. Vol. 27. Cleveland, 123⫺306.
Christian Meyer, Bielefeld (Deutschland)
69. Stil und Moral 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Le style c’est … Matter and manner: Das Wie und das Was Sprachkritik und Stilkritik Kommunikative Ethik Stilisierung Literatur (in Auswahl)
Abstract Starting with Buffon’s “Le style c’est l’homme meˆme” [der Stil ist der Mensch selbst] (Discours prononce´ a` l’Acade´mie Franc¸aise le 25 aouˆt 1753, cf. Pickford 1978, 23), there is a long tradition postulating the existence of a deep connection between style and morals. To establish a foundation for this connection, we first must relinquish the distinction between matter and manner and demonstrate that style is, indeed, a part of meaning. A second step is to scan so-called language criticism and filter out those aspects which are more or less associated with problems of morals. Our paramount aim is to develop and establish morals of communication based on Gricean maxims. Here, in a variety of disguises lies the central issue. We conclude by showing that style is not inherent in texts but constructed within communication. Hence, the communicating partners are responsible for the construction of style and moral conduct.
69. Stil und Moral
1. Le style cest Es gibt eine lange abendländische Tradition, einen engen Zusammenhang zu sehen zwischen Stil und Person, den Stil, den jemand schreibt, als Teil seiner Person zu verstehen. „Le style c’est l’homme meˆme.“ Dies ist die oft so zitierte Formulierung, die Buffon der Ansicht 1753 in seiner Antrittsrede vor der Acade´mie Franc¸aise gegeben hat: […] si les Ouvrages qui les contiennent ne roulent que sur de petits objets, s’ils sont e´crits sans gouˆt, sans noblesse & sans ge´nie, ils pe´riront, parce que les connoissances, les faits & les de´couvertes s’enle`vent aise´ment, se transportent, & gagnent meˆme a` eˆtre mises en oeuvre par des mains plus habiles. Ces choses sont hors de l’homme, le style est l’homme meˆme […] [… wenn die enthaltenen Werke nur mindere Gegenstände behandeln, wenn sie ohne Geschmack, Würde und Genie geschrieben sind, werden sie vergehen, weil die Erkenntnisse, Fakten und Entdeckungen sich verflüchtigen, sich übertragen und durch geschicktere Hände realisiert werden. Dies alles bleibt außerhalb, der Stil ist der Mensch selbst …] (Discours prononce´ a` l’Acade´mie Franc¸aise le 25 aouˆt 1753, cf. Pickford 1978, 23)
So kontextlos, wie der Ausspruch verwendet wird, lässt er allerdings Raum für Ausdeutungen und gestattet so den verschiedensten Ansätzen, ihn als Slogan oder Fahnenwort für sich zu reklamieren. Für Buffon ging es weniger um eine moralische Beurteilung als vielmehr ganz im Zuge der clarte´ um den Zusammenhang von klarem Denken und klarem Schreiben (der übrigens bis auf Horaz zurückgeht: „Scribendi recte sapere est et principium et fons“ [Gut schreiben können ist Anfang und Grund]; Horaz 1989, v. 309, cf. Beutin 1976, 18). Denn: […] bien e´crire, c’est tout a` la fois bien penser. [… gut schreiben heißt gut denken zugleich] (Pickford 1978, XV) To Buffon, as we have seen, a pervasive, absolute clarity was the dominant factor. The impact of a style was identical with the impact of the writer’s mind. Style was not a manner of arranging words, but a manner of thinking, a vision of things. (Fellows/Milliken 1972, 169)
Und es ging Buffon um das reflektierte Schreiben. Denn, so wird resümiert: „Spontaneity is always a vice“ (Fellows/Milliken 1972, 151). Die Idee, dass am Stil die Qualität des Denkens zu erkennen sei, ist hinwiederum alt. Wir finden sie schon bei Horaz und oft später, besonders pointiert ausgedrückt bei Schopenhauer: Der Stil ist die Physiognomie des Geistes. […] Fremden Stil nachahmen heißt eine Maske tragen. (Schopenhauer [1851] 1972, 281)
Dieser Gedanke findet sich also durchaus auch in kritischer Wende und später oft didaktisch gewendet, dass nämlich Stil nicht nur Ausdruck der Gedanken sei, sondern dass durch gutes Schreiben auch das Denken geschult werde. Den Stil verbessern ⫺ das heisst den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter! (Nietzsche 1886, § 131)
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Während es in der Buffon-Tradition darum ging, preisend die großen Könner und Geister zu ehren, könnte eine andere Tradition eher kritisch orientiert sein. Diese Tradition ist verbunden mit dem „Sprich, dass ich dich sehe!“, das Sokrates jeweils zu Neuankömmlingen gesagt haben soll. Hier wäre dann eher ein ganzheitlicher Aspekt im Blickfeld, da es ja nicht nur um Stil ginge. Allerdings wurde Sokrates’ Spruch weitgehend trivialisiert und dient heute eher der Werbung für Sprecherziehung. Gewöhnlich wird Buffon als Beginn einer radikalen Auffassung vom Individualstil, dem idiotischen Stil gesehen. So sah man im frühen 19. Jahrhundert im Stil einen direkten Abdruck des Individuums, sein sprachliches Spiegelbild. Für Hegel ist der Stil „überhaupt die Eigenthümlichkeit des Subjekts, welche sich in seiner Ausdrucksweise, der Art seiner Wendungen u. s. f. vollständig zu erkennen giebt“ (Hegel 1964, 394). Selbstverständlich kann man unter den vielfältigen Buffon-Rezeptionen auch eine etablieren, die einen detaillierteren Zusammenhang des Stils mit einer Persönlichkeit herstellt. Eine solche Konzeption kann sich nicht begnügen mit rhetorisch orientierten Stilniveaus oder mit globalen Stilbeschreibungen wie emphatischer Stil, bürokratischer Stil, aggressiver Stil oder kooperativer Stil. Der Stil eines Menschen oder eines Textes ist eine detaillierte Ganzheit und kommunikativ wirksam: ,Style‘ refers to the meaningful deployment of language variation in written and spoken discourse, to the particular way that discourse is formed and structured and that is interpreted by recipients as socially and interactionally relevant. […] In contrast to other kinds of language variations, such as dialects, sociolects, registers etc., styles are not conceived of as uni-directionally determined by extralinguistic and/ or contextual factors but as meaningful choices made in order to achieve particular effects or to suggest particular interpretations. (Selting 1999, 1)
Mit einer solchen Auffassung wird Stil als intentionales und verantwortliches Handeln auch moralisch beurteilbar. Stil ist nicht mehr Privatsache, vielmehr kann ein Autor für seinen Stil verantwortlich gemacht werden. Zugleich kommt über den kommunikativen Effekt auch der Rezipient in den Blick. Nicht mehr der Sprecher allein erzeugt den Stil, der Rezipient gewinnt einen wesentlichen Part. Allerdings scheint der hier propagierte Stilbegriff doch etwas weit. Denn es gehört zur normalen Verwendung des Wortes Stil, dass damit etwas Typisches, vielleicht auch Wiederkehrendes gemeint ist. Stil basiert auf Distinktion und Betonung. Aus den unüberschaubar vielen Merkmalen der Rede eines Menschen oder auch nur einer Rede eines Menschen wird selektiv und ganzheitsorientiert etwas gemacht, was dann der Stil von X ist. Bestimmte Elemente werden hervorgehoben, dadurch treten andere in den Hintergrund. Da stellen sich vor allem zwei methodische Fragen: (1) Was wird selegiert und nach welchen Kriterien? (2) Wie kommt es zu der Ganzheit und ihrem ,Label‘? Selegiert wird nach dem Typischen. Was aber ist typisch für ein Individuum? Es sind in erster Linie Auffälligkeiten, die auf Frequenz basieren: infrequente oder überfrequente Wortverwendungen, neue Wortbildungen, syntaktische Strukturen usw. Dieses Kriterium mag intuitiv angewendet werden oder statistisch auf einer Datenbasis. Es scheint das
69. Stil und Moral einzig verlässliche Kriterium. Alle anderen sind bereits Deutungen. Mit der Deutung wird ein Stil zu einer Ganzheit, sozusagen ein passendes stringentes Bild, eine kohärente Konstruktion. Der persönliche Stil wird weitgehend als Sache des Individuums angesehen. Da er aber kommunikativ ist und in Kommunikation erzeugt wird, ist er öffentlich. Somit bleibt die Kreation des Stils auch Sache des Rezipienten und sogar des Analysierenden (Fiehler 1997, 348). Die Ganzheit ist immer ein Konstrukt. Und damit kommen auch die Konstrukteure in die moralische Verantwortung.
2. Matter and manner: Das Wie und das Was Stil betrifft die Art und Weise, wie etwas ausgeführt oder gesagt wird. Mit dieser Bestimmung ist eine schwer haltbare Trennung eingeführt: das Etwas und der Stil. So wäre ein Schwimmstil die mehr oder weniger festgelegte Art und Weise, wie jemand schwimmt, ein Lebensstil, wie man lebt, ein Schreibstil, wie man schreibt. Und das Etwas? Beim Schwimmstil sollte es wohl das Schwimmen sein. Dies aber ist nur ein Oberbegriff. Kraulschwimmen ist ein spezifisches Schwimmen. Doch Kraulen ist tatsächlich etwas anderes als Delphin. Es gibt hier kein gleiches Etwas. Eine Art mag schneller, schwieriger, kraftaufwendiger sein als die andere. Wenn ich kraule, schwimme ich zwar, aber ich tue etwas anderes, als wenn ich brustschwimme. Ein anderes Was. Stil basiert auf Alternativen, so eine gängige Ansicht, die schwer von der Hand zu weisen ist. Stilistische Eigenheiten wird man durch Darstellung alternativer Formulierungen sichtbar machen. Aber gewisse Folgerungen hieraus und Zuhilfenahmen sprachtheoretischer Grundsätze sind schwer haltbar: Der Stil eines Textes basiere darauf, dass man das Gleiche auf unterschiedliche Weise ausdrücken könne und der Autor eben diese oder jene Alternative gewählt habe. Dies bestimme seinen Stil. Stil ist demnach das Resultat der Auswahl aus synonymen Sprachmitteln (Enkvist 1973). Diese Räsonnements verstecken sich unterschiedlich. Sie kommen in anderer Formulierung auch in der Idee daher, sprachliche Formulierung sei das Kleid des Gedanken, die wohl zurückgeht auf Quintilian und in der Geschichte immer wieder aufgegriffen wird. So auch beim noch fundamentalistischen Wittgenstein, der meinte, „dass man nach der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedanken schließen kann“ (Wittgenstein 1969, 4.002). Und letztlich ist es schwer hinterfragbares Alltagswissen, dass man das Gleiche auf unterschiedliche Art und Weise sagen könne: schroff oder höflich, gewählt oder vulgär usw. Bally (1951) etwa setzt das Wie mit der expressiven oder affektiven Komponente einer Äußerung gleich: Die ,Ausdruckskraft‘ umfasst für den Stilforscher eine ganze Reihe von sprachlichen Merkmalen, die eins gemeinsam haben: Sie haben keinen direkten Einfluss auf die Bedeutung einer Äußerung, auf die eigentliche Information, die sie vermittelt. Alles, was über die bloße Verweisungs- und Mitteilungsfunktion der Sprache hinausgeht, gehört zum Bereich der Ausdruckskraft: Gefühlsbeiklang, Betonung, Rhythmus, Symmetrie, Wohlklang wie auch die Stilfärbung [the socalled ,evocative‘ elements], die an eine bestimmte Stilebene (gewählt, umgangssprachlich, ordinär usw.) oder an ein bestimmtes Milieu (historisch, ausländisch, provinziell, fachlich usw.) denken lässt. (Ullmann 1972, 114)
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Ähnliche Ansichten finden wir auch in sprachphilosophischen Arbeiten. So unterscheidet Alston in „what is said“ und „how it is said“ (Alston 1964, 48) und entsprechend verschiedene Aspekte der Bedeutung: die cognitive meaning und die emotive meaning, die vor allem mit der Haltung des Sprechers zu tun habe (Alston 1964, 47). Das wird allerdings schon lange mit Skepsis gesehen: […] the more we reflect on it the more doubtful it becomes how far we can talk about different ways of saying; is not each different way of saying in fact the saying of a different thing? (Hough 1969, 4)
Nach der heute weithin akzeptierten Gebrauchstheorie der Bedeutung sind solche scheidenden Annahmen schwer haltbar. A word has a meaning, more or less vague; but the meaning is only to be discovered by observing its use: the use comes first, and the meaning is distilled of it. (Russell 1986, 290) Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.
(Wittgenstein 1969, § 43)
Sprache und Kommunikation werden hier nicht mehr nach dem ontologisierenden Schlichtmodell vorgegebener Dinge und Gedanken gesehen, die sprachlich etikettiert werden und kommunikativ transportiert. Vielmehr wird von einer realitätskonstituierenden Potenz der Sprache ausgegangen, nach der wir die Welt kommunikativ strukturieren und so in gewissem Sinn erzeugen. Damit sind natürlich auch kritische Verfahren obsolet, die darauf abheben, irgendwelche sprachlichen Formulierungen stellten die Wirklichkeit nicht adäquat dar oder man selbst kenne die Wahrheit, der Kritisierte eben nicht. Synonyme Ausdrucksweisen gibt es nicht. Das ergibt sich nicht erst aus der Gebrauchstheorie. Schon Bloomfield meinte: „[…] there are no actual synonyms […] It is a welltried hypothesis of linguistics that formally different utterances always differ in meaning“ (Bloomfield 1933, 145). Und in der logischen Semantik wurde gezeigt, dass sich zwei beliebige Konzepte selbst in einer rein extensionalen Analyse in ihrer Bedeutung unterscheiden (Goodman 1949). Vorgängige Differenzierungen in Aspekte der Bedeutung sind schwer zu rechtfertigen. Eine Unterscheidung in eigentliche Information und der Rest ist nicht haltbar. Der Gebrauch eines Wortes umfasst alle Nuancen bis hin zu Wortspielen, Assoziationen, Emotionalem und metasprachlichen Verwendungen. „Style is a part of meaning“ (Hough 1969, 8). Eine andere verbreitete und stillschweigende Grundannahme vieler Stilistiken ist, Sprache sei ein Medium. So wird dann oft unterschieden nach der Logik der Sache einerseits und der Logik der Sprache andrerseits und öfter wird die Sachlogik auch als Beurteilungsmaßstab des Stils angeführt. Schlechter Stil sei Inadäquatheit von Sprache und Sache oder aber lasse die Sache schlecht erscheinen (Arntzen 1964, 100). Diese Ansicht ist zwar weit verbreitet, aber nach vielen Sprachtheorien so nicht haltbar (Rorty 1989; Bickes 1995). „[…] wenn davon ausgegangen wird, dass sich der Sachverhalt durch die Art und Weise, wie über ihn gesprochen wird, als bestimmter Sachverhalt konstituiert, dann ist es nicht nur eine ,stilistische Alternative‘, wie man über ihn spricht, sondern dann ist es eine Frage nach dem Sachverhalt selbst“ (Saße 1977, 108). Die Orientierung an der Sache würde der moralischen Beurteilung im Übrigen einiges von ihrer Brisanz nehmen.
69. Stil und Moral
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Für eine moralische Betrachtung taugt eher ein ganzheitlicher Ansatz, der wie Flaubert (1980, 31) den Stil als etwas Konstitutives ansieht: „Le style e´tant a` lui seul une manie`re absolue de voir les choses.“ [Der Stil ist in sich selbst eine absolute Weise, die Dinge zu sehen] So wird die Unterscheidung von Was und Wie obsolet: Stil umfasst gewisse charakteristische Züge sowohl dessen, was gesagt wird, als auch die Art, wie es gesagt wird. (Goodman 1984, 42)
Aber auch hier gilt wie schon in der ersten Definition: Zu sagen, Stil sei eine Sache des Sujets, ist […] ungenau und irreführend. Vielmehr zählen nur einige Merkmale des Gesagten zu den Aspekten des Stils; nur gewisse charakterisierende Unterschiede in dem, was gesagt wird, machen Unterschiede im Stil aus. (Goodman 1984, 42)
3. Sprachkritik und Stilkritik Eine Voraussetzung für die Betrachtung des Stils unter moralischem Gesichtspunkt ist der kritische Umgang mit sprachlichen Äußerungen. Sprachkritik pauschal gesehen hat eine lange Tradition. Sie ist verbunden mit Namen wie Leibniz, Schopenhauer, Jochmann, Nietzsche, Mauthner, Kraus und vielen anderen, die in eine Geschichte der Sprachkritik gehören (eine Auflistung von Kandidaten in Cherubim 1983, 180; eine historische Darstellung in Beutin 1976, Kap II; eine Dokumentation einschlägiger Texte in Dieckmann 1989). In dieser Tradition wurde lange nicht differenziert, ob man tatsächlich eine Sprache, ,die systematische Irreführung durch eine Sprache‘ kritisieren wollte (was im Grunde gar nicht geht) oder ob es um einzelne Äußerungen und um die äußernde Person gehen sollte. In diesem Sinn sind Typen der Sprachverführung, die Kainz in seiner wenig rezipierten Tafel zusammenstellt, auch ambivalent: Wortrealismus, unangemessene Zusammengriffe, Synonymik, Polysemie, Metaphorik, Idola fori, Leerformeln, Glossomorphien, Wortlösungen, Verführung durch Allusionen und Assoziationen, euphemistische Tendenzen, Maskierung von Un- und Widersinn (Kainz 1972, 20). Das Wort Sprache wird umgangsprachlich vage verwendet, so dass in theoretischer Betrachtung eine genauere Differenzierung nötig wird. Und so entpuppt sich, was unter einem Etikett gehandelt wird, als bunte Palette recht verschiedener Ansätze und Tätigkeiten. Genauere und
realisiert
potentiell funktional
individuell
sozial Abb. 69.1.
SPRACHVERWENDUNG SPRACHVERKEHR
institutionell
SPRACHKOMPETENZ SPRACHSYSTEM
deskriptiv
präskriptiv
SPRACHBRAUCH
SPRACHNORM
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil theoretisch begründete Unterscheidungen hat v. Polenz eingeführt (v. Polenz 1973; auch Beutin 1976, 14). ⫺ Kritik von Sprachverwendungen befasst sich mit sprachlichen Realisierungen von Individuen in bestimmten Situationen, etwa in Sprachlehre oder Stillehre. ⫺ Kritik des Sprachverkehrs befasst sich mit Sprachverwendungen einer bestimmten Gruppe, auch mit Jargon. ⫺ Kritik von Sprachkompetenzen befasst sich mit der Kompetenz, mit den Fähigkeiten einer Person. ⫺ Kritik des Sprachsystems wird zweigeteilt in Kritik der generellen sprachlichen Anlagen und Möglichkeiten des Menschen und der Kritik einer spezifischen Sprache. ⫺ Kritik des Sprachbrauchs soll sich mit dem sozusagen üblichen oder normalen Gebrauch des abstrakten Sprachsystems befassen. ⫺ Kritik von Sprachnormen behandelt präskriptive Phänomene, gesetzte Sprachnormen also, und unterzieht sie einer kritischen Analyse mit dem Ziel, ungerechtfertigte Sprachnormensetzung als solche zu erweisen.
Von Stilkritik sollten wir demnach nur sprechen, wenn es um den Bereich des Individuellen geht, also um Sprachverwendung und Sprachkompetenz. Stilkritik ist bezogen auf die etische Ebene, im Gegensatz zu einer Sprachkritik, die sich auf die emische Ebene bezieht. Außerdem geht es in diesem Zusammenhang nicht um jene Ansätze, die rein sprachimmanent kritisieren, nach irgendwelchen sprachlichen Normen oder mit dem Ziel einer Verbesserung der stilistischen Fähigkeiten. Als ein Muster für eine Kritik mit externer Zielsetzung kann die Sprachkritik oder besser Stilkritik von Karl Kraus gesehen werden, die beispielhaft in seinen Aufsätzen zur Sprachlehre festgehalten ist. Kraus hat seine Stilkritik stets unter moralischem Gesichtspunkt präsentiert. Er propagiert keine Ziele, seine Methode besteht vielmehr in der Vorführung der stilkritischen Tätigkeit, sozusagen exemplarisch als geistige Übung für andere. Sie wirkt damit eher aphoristisch und unsystematisch, bisweilen satirisch. Sein Fokus lag vor allem auf der Presse und hier besonders auf den Phrasen mit dem Ziel einer „Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes“ (Kraus in: Die Fackel Band 1, Heft 1, 2). In Phrasen erkennen wir besonders deutlich das Missverhältnis zwischen Sein und Schein. Die Entschleierung der Phrase sollte der medialen Verschleierung entgegenstehen. Hier ging Kraus weit: Wenn die Menschheit keine Phrasen hätte, brauchte sie keine Waffen.
(Kraus 1921, 227)
Selbstverständlich war Kraus überzeugt, dass es hier nicht um äußerliche sprachliche Angelegenheiten ging: „Sprechen und Denken sind eins“ (Kraus in: Die Fackel Band 9, Heft 136, 23). Ihm ging es um den Schwachsinn der Gedankenführung und um die Lumperei der Gesinnung. Stilistische Vorzüge sah er als Maßstab ethischer Werte. Kraus wird als Moralist angesehen und er war einer: Alle Vorzüge einer Sprache wurzeln in der Moral. Sie wird deutlich, wenn der Sprecher wahrhaftig sein will, klar, wenn er mit Wohlwollen und dem Wunsche spricht, verstanden zu werden, kraftvoll, wenn er ernst ist, anmutig, wenn er Sinn für Rhythmus und Ordnung besitzt. (Kraus 1921, 246)
69. Stil und Moral Der Kraus’sche Ansatz ist kritikwürdig in zweierlei Hinsicht: (1) Sprachliche Analyse und Stilkritik haben das Ziel zu ermitteln, sie suchen das Verräterische im Sprachgebrauch von Individuen, um etwas über sie herauszubekommen, was die Individuen vielleicht gar nicht sagen wollten. Der Ansatz ähnelt einem weit verbreiteten Schnüffel-Interesse an nonverbaler Kommunikation. Somit kann dieser Ansatz nicht als echt kommunikativ gelten. (2) Gesucht werden in diesem Ansatz sprachliche Schlampereien, Schludereien, Fehler und dergleichen. Unfähigkeit ist allerdings moralisch nicht verwerflich. So wird denn auch der Zusammenhang von Stil und Moral nur postuliert und nicht weiter begründet. Insofern wirken die Kraus’schen Moralurteile oft überzogen. Moralisch verantwortlich ist jemand nur, wenn er anders gekonnt hätte. Kommunikativ verantwortlich ist man nur für das, was man sagen wollte, und vielleicht noch für das, was man gesagt hat. Wenn zum Stil nur gehören soll, was willentlich und bewusst zum Ausdruck gebracht wird (Bally 1951, 19), so wären hierfür anwendbare Kriterien zu entwickeln. Für eine moralisch orientierte Stilkritik ist es unerlässlich, zu unterscheiden zwischen dem, was nur zum Ausdruck kommt, und dem, was sozusagen intentional zum Ausdruck gebracht wird (Keller 1977). Diese Unterscheidung muss jeder moralischen Beurteilung zugrunde gelegt werden. Denn nur, was intentional zum Ausdruck gebracht wird, unterliegt moralischem Urteil. Soll, was zum Ausdruck kommt, beurteilt werden, so muss man verlangen, dass Sprecher den entsprechenden Grad von Bewusstheit und Reflexion erfüllen. Das dürfte in beliebiger Tiefe eine unbillige Forderung sein. Wir alle folgen zum Beispiel Moden, ohne uns dessen so recht bewusst zu sein. Wir alle pflegen einen zeitbedingten Sprachgebrauch sozusagen als Default, auf dem wir unsere bewussten Stilisierungen aufbauen. Üblich ist in der Stilkritik die Kritik an der Verwendung bestimmter Wörter. So natürlich die puristische Inkriminierung sog. Fremdwörter, aber auch von Wörtern aus bestimmten Gruppensprachen oder Kritik an bestimmten Verwendungen solcher Wörter, die dann gern als unmenschlich oder böse gebrandmarkt werden. Die diversen Wörterbücher des Unmenschen oder Gutmensch-Unmenschen (Sternberger/Storz/Süskind 1970; Jogschies 1987) gerieren sich moralisch, sind aber letztlich selbst problematisch. Besonders wenn versucht wird, solche Wörter zu einer Art Schibboleth zu machen, an dem man gleich die Zugehörigkeit und die Unmenschlichkeit des Sprechers erkenne. Eine ergiebige Spielwiese sind Euphemismen wie freisetzen, Reichskristallnacht, Sonderbehandlung, Nachrüstung, Preisauftrieb, Nullwachstum, der Krieg bricht aus. Hier wird ein Zusammenhang mit Täuschung hergestellt, da wäre eine Art von moralischem Urteil wohl möglich. Allerdings sind solche Kritiker meist einer Fehlanalyse aufgesessen. Sie gehen offenbar von der essentialistischen These aus, etwas sei sozusagen so und nicht anders zu benennen, ein Sachverhalt so und nicht anders zu formulieren. Sie haben nicht gesehen, dass es sich um eine vielleicht berechtigte, jedenfalls erhellende Sicht der Dinge handelt und dass entscheidend immer das Verständnis des Kommunikationspartners ist. Sollte er der Täuschung tatsächlich aufsitzen, wäre Kritik, eher aber Aufklärung, angebracht. Für Aufgeklärte könnte man geltend machen, was Sternberger über das Reden der Nazis bemerkte:
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Diese verarmte Sprache der rasselnden Aktivität, der Sprache des Erfassens, Einsetzens, Betreuens und Durchführens, der totalen Behandlung und auch der Sonderbehandlung drückte in der Tat ganz haargenau das aus, was sie ausdrücken sollte. (Sternberger/Storz/Süskind 1970, 207).
Ein Fall des Sprich-dass-ich-dich-sehe. Dies gilt analog auch für die erklärten Kakophemismen der Political Correctness. Zum allgemeinen Problem werden solche Euphemismen und Kakophemismen erst, wenn sie ohne Weiteres übernommen, zwangsweise etabliert werden und so vielleicht langsam Realität konstituieren. Dies aber wird in der Regel nicht gezeigt, und zwar weder, was Realität ist, noch, wie Wörter sie bewirken sollten. Im Rahmen der Sprach- oder Stilkritik werden außer bestimmten Äußerungen oder der Verwendung bestimmter Wörter auch wiederkehrende sprachliche Verfahrensweisen kritisiert. Ein Exempel hierfür ist die Agensverschweigung. Dazu eine Darstellung von Beutin (1976, 110). Hier sehen wir, wie der Urheber einer Aktion ins Dunkel getaucht bleiben kann, in einer Zeitungsüberschrift mit Subjektschub: Erhöhen sich die Krankenhaussätze schon wieder? Das Verbum erhöhen trete transitiv auf und reflexiv. Wenn reflexiv, dann jedoch nur zur Bezeichnung der Aktivität eines Menschen. In der Ausblendung des Urhebers liege Methode, wie andere Formen erweisen: Sie sollen um rund 10 Prozent steigen. Erst später die Erwähnung des Verantwortlichen: Der Senat muss den Plänen der Gesundheitsbehörde noch seine Zustimmung geben. Aber selbst hier werde die Verantwortung vornehmlich noch den Plänen zuerkannt, während wiederum die für diese Verantwortlichen zurückgenommen im Genitiv erwähnt sind und der nächst der Gesundheitsbehörde Verantwortliche lediglich deren Plänen seine Zustimmung gebe. In der Tat sei es vor allem die Sprache der Politik, worin die fraglichen Manipulationen im Übermaß gedeihen. Aus Willy Brandts Regierungserklärung (1973): Subjektauslassung Im Zusammenhang mit dem Haushalt 1973 wird über manche Einzelheit unserer Politik im Innern zu sprechen sein.
Täterverschweigung Im Nahen Osten […] schleppt sich noch immer ein Konflikt fort.
Subjektschub Das Werk der europäischen Einigung kann sich nur durch freundschaftliche Verbundenheit der beteiligten Völker vollziehen.
Abstraktion Das Recht auf Geborgenheit und das Recht, frei atmen zu können, muss sich gegen die Maßlosigkeit der technischen Entwicklung behaupten. Die Regelung der staatlichen Beziehungen muss bei der Lösung der menschlichen Probleme helfen, die […]. (Brandt 1973)
69. Stil und Moral Weitere Exempel wären die overte Generalisierung, die zur Stereotypisierung führt, eine Metaphorik, die über ein gängiges metaphorisches Modell über Menschen wie Tiere spricht: Ratten und Schmeißfliegen. All dies ist nicht so glatt als moralisches Problem zu sehen. Diese Konzepte leiden daran, dass man ja davon ausgehen kann, dass die entsprechenden Verfahren in der Sprache vorgesehen sind, also wohl funktional sind. In der realen Kommunikation ist immer der Partner dabei und alles hängt davon ab, wie er die Äußerungen versteht und wertet. Wie weit er zum Komplizen wird, daran teilhat als Rezipient und dann als Sprecher, muss stets begründet werden. Ein Maßstab der Beurteilung, der Verurteilung gar kann erst im Ansatz der kommunikativen Ethik gegeben werden.
4. Kommunikative Ethik Ohne das Verhältnis von allgemeiner Moral und kommunikativer Moral näher zu behandeln, wird man davon ausgehen dürfen, dass sich aus den obersten moralischen Prinzipien auch solche für die Kommunikation ableiten lassen. So: Du darfst alles sagen, es sei denn … Man darf alles sagen, es sei denn …
Dieses Recht wurde formalisiert in der Meinungsfreiheit und die Pünktchen beschäftigen das Verfassungsgericht seit Bestehen der Bundesrepublik. Neben solchen Rechten sollte es aber auch Pflichten geben: Du musst es sagen, wenn …
Diese moralische Forderung wurde zum Beispiel als sog. Parzivalmaxime formuliert (Heringer 1989) und für die öffentliche Kommunikation ausbuchstabiert (Heringer 1990a). Eine frühe Fassung einer kommunikativen Ethik in verbis finden wir in Bülow 1972. Sie vertritt zusammengefasst die folgende Konzeption: Die kommunikationsgerechte Handhabung der sprachlichen Mittel und die Einübung kommunikativer Verhaltensweisen begründen eine kommunikative Ethik, deren Sinn es ist, die Fähigkeit des Menschen zur sinnvollen Rede verantwortungsbewusst und zweckgerichtet zu strukturieren. (Bülow 1972, 16) Die kommunikative Ethik sieht sich also vor einer doppelten Fragestellung. Sie fragt einmal nach bestimmten Werten, für deren Realisierung sie Maßstäbe entwickeln soll, und fragt darüber hinaus nach bestimmten Verhaltensnormen […], auf die die Realisierung dieser Werte angewiesen ist. Diese Verhaltensnormen nennt die traditionelle Ethik ,Tugenden‘. (Bülow 1972, 33) In diesem Sinne wird die kommunikative Ethik zur ,Tugendlehre‘ für den Umgang mit der Sprache. (Bülow 1972, 35)
Die moralische Verantwortung kommt dadurch zustande, „dass der Mensch in seiner Freiheit einfach seine Tugenden wählt und in diesem Sinn dann für seine Wahl verantwortlich ist“ (Bülow 1972, 36). Außerdem folgert Bülow die folgenden Grundsätze, die sich an die sprechenden Individuen richten (Bülow 1972, 42):
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Grundsatz 1: Es ist Pflicht jedes Kommunikationspartners, sich die sprachlichen und kommunikativen Mittel möglichst vollkommen anzueignen und die Wahrhaftigkeit ihres Einsatzes im Kommunikationsprozess zum Zwecke der eigenen Wahrhaftigkeit zu gewährleisten. Grundsatz 2: Der Einsatz sprachlicher und kommunikativer Mittel steht unter dem Gebot der Achtung des Kommunikationspartners, die als ein Grundrecht gegenseitiger Gewährleistung bedarf.
Hier haben wir es mit einer Form der Werteethik zu tun, die letztlich nicht moralisch begründbar ist. Denn schließlich gibt es keinen Maßstab dafür, welche Tugenden ein Individuum wählen soll. Gefordert wäre eine formale Moral, die sich aus der jeweiligen Tätigkeit selbst ergibt, die also diese Tätigkeit begründet. Der Allgemeinheitsgrad von Geboten bzw. Maximen, die das Prädikat ethisch verdienen, muss sich mehr oder weniger messen lassen an der Universalität, die für den Kantischen kategorischen Imperativ (,Handle so, dass die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz wird.‘) in Anspruch genommen werden kann. (Wimmer 1990, 135)
Eine solche kommunikative Ethik wurde auf den sog. Griceschen Maximen gegründet. (Heringer 1990a; Wimmer 1990) Grice (1975) geht davon aus, dass Kommunikation ein kooperatives Unterfangen ist, bei dem es dem Sprecher darum geht, verstanden zu werden, und dem Partner darum, ihn zu verstehen. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, kommt keine Kommunikation zu Stande. Das Prinzip besagt nicht, dass die Kommunikationspartner über dieses Minimum hinaus kooperieren müssten. In Anlehnung an Kant formuliert Grice das Kooperationsprinzip in vier Maximen aus, die eigentlich keine Forderungen oder gar Normen sind, sondern für jeden einzelnen Kommunikationsteilnehmer gelten, insofern sie die Grundlage menschlicher Kommunikation bilden. Die Maximen greifen reziprok. Darum hat ein Sprecher kaum Chancen, die Maximen zu verletzen, weil der Partner davon ausgeht, dass er sich daran hält, und entsprechend seine Deutung ändert, so dass der Sprecher letztlich nicht oder nicht richtig verstanden würde und somit sich selbst schadet. ⫺ Maximen der Quantität: (1) Make your contribution as informative as is required (for the current purposes of the exchange). (2) Do not make your contribution more informative than is required. ⫺ Maximen der Qualität: Supermaxime: Try to make your contribution one that is true. (1) Do not say what you believe to be false. (2) Do not say that for which you lack adequate evidence. ⫺ Maxime der Relation: Supermaxime: Be relevant. Make your contribution relevant to the aims of the ongoing conversation. ⫺ Maximen der Art und Weise: Supermaxime: Be perspicuous. (1) Avoid obscurity of expression. (2) Avoid ambiguity. (3) Be brief (avoid unnecessary prolixity). (4) Be orderly.
69. Stil und Moral Zur Vertiefung wurden folgende Anschlussfragen formuliert (Wimmer 1990, 138): Informativität: ⫺ Worum geht es in der Kommunikation? ⫺ Was ist der Gegenstand eines Textes, eines Gesprächs? ⫺ Warum sagt oder schreibt jemand dies oder jenes? ⫺ Ist das, was geäußert wird, angemessen? ⫺ Welche Relevanz hat das Geäußerte? Usw. Verständlichkeit: ⫺ Ist eine Äußerung adressatenorientiert und -angemessen? ⫺ Ist die Sprache verständlich? ⫺ Sind die Äußerungsformen dem Verstehen förderlich? ⫺ Ist die Wortwahl angemessen? Usw. Wahrhaftigkeit: ⫺ Meint der Sprecher/Autor, was er sagt/schreibt? ⫺ Wie sind die Formen uneigentlichen Redens aufzufassen? ⫺ Gibt es Anzeichen dafür, dass der Sprecher es nicht ernst meint? ⫺ Stimmen Reden und Handeln überein? Usw.
Eine so begründete Moral würde sich nicht auf irgendwelche äußeren Werte stützen, sondern ganz im Sinne Kants ihre Begründung abstrakt aus dem Sinn des Handelns oder Kommunizierens gewinnen. Verstöße gegen die Maximen wären dann wahrhaft unmoralisch und würden das gesamte Unternehmen der Kommunikation in Frage stellen. Allerdings verhalten sich die Maximen in diesem Sinn unterschiedlich. Gegen die meisten Maximen kann aus erwähnten Gründen schwerlich verstoßen werden. Hingegen sind Verstöße gegen die Qualitätsmaxime frequent. Vor Zeiten schon wurde die Lüge als moralisch verwerflich markiert. Aber: „Das Lügen ist ein Sprachspiel, das gelernt sein will, wie jedes andere“ (Wittgenstein 1969, § 249) und so haben Menschen eine ganze Typologie von Lügen entwickelt (Heringer 1990b). Scheinbare Verstöße gegen die übrigen Maximen sind moralisch nur bedenklich, soweit sie gegen die Qualitätsmaxime verstoßen. Dunkles, vages und prolixes Sprechen ist nur problematisch, soweit es der Täuschung dient und den Rezipienten tatsächlich täuscht. Für die Zwecke der kommunikativen Ethik scheint eine Unterscheidung wichtig nach der Stärke in drei Arten der Lüge (Falkenberg 1982): (A) Starke und schwache Lüge Zentral ist die starke Lüge, in der A behauptet, dass p, und dabei glaubt, dass nicht p. Eine schwache Lüge hingegen liegt vor, wenn A weder glaubt, dass p, noch glaubt, dass nicht p. Man spricht hier auch von blinden Behauptungen. (B) Direkte und indirekte Lüge A sagt die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Er legt etwas nur nahe oder er implikatiert etwas (Grice 1975), lügt mit der Wahrheit. Das wäre eine indirekte Lüge. A lügt indirekt gdw (a) A behauptet, dass p, und implikatiert damit, dass q. (b) A glaubt, dass nicht q.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Für die indirekte Lüge ist also nicht mehr das ausschlaggebend, was im strengen Sinn behauptet wurde, sondern was nahe gelegt oder angedeutet wurde. (C) Harte und weiche Lüge Man kann auf der Seite der Glaubenseinstellungen eine Skala ansetzen, die von felsenfester Überzeugung bis zur vagen Vermutung reicht. Demnach könnte man sagen, dass A umso stärker gelogen hat, je stärker seine Glaubenseinstellung war, dass nicht p. Die Frage ist allerdings, wie die Stärke von Glaubenseinstellungen bestimmt werden kann. In diesem Zusammenhang kommen nun auch die anderen Maximen ins Spiel und können im moralischen Urteil greifen. So wird die phrasenhafte wie die vage Rede vordergründig ein Verstoß gegen die Maxime der Art und Weise sein. Allerdings ist Vagheit nichts unbedingt Schlechtes und einen Maßstab der perspicuity gibt es auch nicht. Ähnliches gilt für die agenslose und generalisierende Rede. Alles wird kommunikativ ausgetragen und der Partner wird ja wohl verstehen, was vage gesagt wird, und zwar als vage gesagt. Kritisierbar wird phrasenhafte oder vage Rede erst auf dem Hintergrund der Qualitätsmaxime, auf die letztlich jede moralische Kritik bezogen ist. Une chose des plus embarrassantes qui s’y trouve est d’e´viter le mensonge, et surtout quand on voudrait bien faire accroire une chose fausse. C’est a` quoi sert admirablement notre doctrine des e´quivoques, par laquelle il est permis d’user de termes ambigus en les faisant entendre en un autre sens qu’on ne les entend soi-meˆme […] ⫺ Comment, mon pe`re, et n’estce pas la` un mensonge, et meˆme un parjure? [Ganz schwierig ist es, die Lüge zu vermeiden, vor allem wenn man jemanden von Unwahrheiten überzeugen will. Dazu eignet sich wunderbar die Lehre der Zweideutigkeiten, nach der erlaubt ist, zweideutige Wörter zu verwenden und mit ihnen ein anderes Verständnis zu suggerieren als man sie selbst versteht. ⫺ Ja und, mein Vater, ist das keine Lüge, ein Meineid gar?] (Pascal 1965, 164)
Darum ist auch die öffentlich vertretene Forderung, die Politik müsse vage formulieren, um mehr Wähler zu erreichen und zu überzeugen (Bergsdorf 1985), ein moralischer Skandal. Die Maximen unterliegen nicht irgendwie strategischen Überlegungen. Ein häufig anzutreffendes fundamentales Missverständnis bezüglich des theoretischen Status der Grice’schen Maximen liegt darin, dass man ⫺ vereinfacht gesagt ⫺ meint, hier handele es sich um die Formulierung einiger Kommunikationsregeln, die aus der alltäglichen Gesprächserfahrung abgezogen sind und die mehr taktischen oder auch strategischen Sinn im Bezug auf bestimmte Kommunikationssituationen haben. (Wimmer 1990, 140) Man könnte auf die Idee kommen, dass die Grice’schen Maximen lediglich zu dem Ziel und Zweck gemacht sind, bestimmte Schwächen und Defekte in der alltäglichen Kommunikation anzusprechen und mit möglichen Ratschlägen zu behandeln. (Wimmer 1990, 141)
Ratschläge und Normen haben keinen Bestand. Sie sind selbst Opfer der moralischen Kritik. Dies gilt auch für die Forderungen der Political Correctness, die in die kommunikativen Rechte des Individuums eingreifen. Wie ich Indianer, Neger und Zigeuner bezeichne, wie ich über Frauen und Männer rede, ob ich Personenbezeichnungen generisch verwende oder mich als Meister der Movierung zeige, ist erst einmal meine Sache, was ich dadurch ausdrücke oder zu erkennen gebe, eine andere. Die Political Correctness
69. Stil und Moral würde von mir verlangen, dass ich eine Haltung zum Ausdruck bringen soll, die ich nicht habe. Sie würde mich zum Heucheln verführen oder auffordern. Eine stilkritisch orientierte Moral wird weder Vorschriften noch Ratschläge erteilen. Sie respektiert die Stileigenheiten einer Person, lässt insofern alles, wie es ist. Aber sie urteilt moralisch. Dazu wird es notwendig, in präziser Analyse die stilistischen Eigenheiten zu verfolgen und innere Unstimmigkeiten, Inkohärenzen und Inkonsistenzen zu erkennen. Ein Beispiel aus einer Polemik gegen die Studenten 1970, in der Inkohärenz entdeckt wurde: ,Erstaunlicherweise leben sie aber ohne jedes Geschichtsbewusstsein ⫺ zumindest ohne ein Geschichtsbewusstsein, in dem Begriffe wie Volk, Vaterland oder Nation nicht nur einen abstrakt-logischen, sondern auch einen emotionalen Wert haben, ohne den kein Volk existieren kann.‘ Das Adverb ,zumindest‘ indiziert eine Einschränkung, die den Hauptsatz als ganzen widerlegt, der jegliche Einschränkung geradezu verbot (,ohne jedes‘). Resultat: Selbstdementierung der Falschaussage ,ohne jedes Geschichtsbewusstsein‘; Einsicht, dass die Studenten nur ein bestimmtes gewünschtes nicht hatten. (Beutin 1976, 106)
Diffiziler scheint der folgende Ausschnitt aus einer Weihnachtsansprache eines Bundespräsidenten. Er soll Empathie zum Ausdruck bringen mit den Einsamen im Fest: Ein 43jähriger Mann ist schon lange arbeitslos. Er schreibt mir, er leide am meisten unter der Teilnahmslosigkeit, ja Gefühlskälte um ihn herum. Er verstecke sich vor anderen Menschen, weil sie sich von seinen Sorgen belästigt fühlten und ihre eigenen für viel wichtiger hielten. (Bulletin der Bundesregierung 177, 1565)
Der unpassende Konjunktiv mag auf stilistischer Unfähigkeit beruhen, die Journalistenlehre befolgt, man kann ihn aber auch als Indiz werten dafür, dass die Empathie nur ausgestellt wird. Heuchelei oder Unfähigkeit? Gegenstand des kritischen Urteils ist nicht die äußere Form einer Äußerung, sondern ihr Sinn. Der Sinn aber ist stets latent. Wenn man realisiert, dass in Kommunikation nicht nach dem Transportmodell Information vom Sprecher zum Hörer gelangt, sondern dass vielmehr der Sprecher nur Laute äußert und der Sinn beim Rezipienten entsteht, kommt auch der Rezipient in den Blick. Man erkennt, dass er eine gewisse Verantwortung für sein Verständnis hat. Insbesondere sollte er nach dem Kooperationsprinzip ein gutwilliges Verstehen erproben. Öffentliche Heuchelei wie im Fall Jenninger ist moralisch schwerlich zu akzeptieren (Bucher 1990; Heringer 1990a; v. Polenz 1989): Jenninger hatte im Bundestag die Gedenkrede zur Pogromnacht 1933 gehalten und sich dabei im eingefühlten Stil in die Täter versetzt. Im öffentlichen Sturm der Entrüstung wurde vorgegeben, man oder irgendwer könnte Jenninger so wie ein Dummkopf falsch verstehen oder hätte ihn so wie ein Dummkopf falsch verstanden, wenngleich offenkundig war, wie seine Rede zu verstehen war.
5. Stilisierung In älteren Stilistiken und Stiltheorien erscheint Stil zwar schon als etwas, das man als Individuum lernen und verbessern kann, aber im Großen und Ganzen doch eher wie etwas Vorfindliches. Stile existieren in Texten oder haften Texten irgendwie an. Sie sind
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil nichts, was bewusst gemacht wurde, nichts, wofür ein Autor verantwortlich ist und verantwortlich gemacht werden kann. Der kommunikative Stilisierungsansatz hingegen versteht sich dynamisch. Stil wird gemeinsam von den Kommunikationsteilnehmern geschaffen und in jeder Phase up to date gehalten. Es geht um „die Repräsentation, Induzierung, Inszenierung etc. sozial typisierter und interpretierter Sinnfiguren in der Interaktion“ (Selting/Hinnenkamp 1989, 9). Rather than simply applying pre-fabricated styles, speakers actively construct communicative styles as dynamic, flexible and alter(n)able linguistic structures […]. These styles are constructed and interpreted as contextualization cues in relation to contextual stylistic norms and expectations as well as to fit the recipient design for the particular recipient(s) and their reactions in the context of social interaction. (Selting 1999, 2)
Wesentlich für diesen Ansatz sind also: ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
Stil Stil Stil Stil
ist dynamisch. wird interaktiv hergestellt. wird konstituiert in Interaktion durch Produzent und Rezipient. basiert auf Deutungsschemata.
Sich stilisieren und stilisiert werden sind nicht nur in der medialen Welt und öffentlicher Darstellung relevant. In jedem alltäglichen Gespräch findet Stilisierung statt (Günthner 2002). Schulz von Thun geht davon aus, dass Menschen typischerweise unterschiedlich kommunizieren oder bei verschiedenen Anlässen, mit verschiedenen Partnern unterschiedlich kommunizieren. Er typisiert die Unterschiede und spricht von Kommunikationsstilen und kreiert deren acht (Schulz von Thun 2003): (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8)
Der Der Der Der Der Der Der Der
bedürftig-abhängige Stil helfende Stil selbst-lose Stil aggressiv-entwertende Stil sich beweisende Stil bestimmend-kontrollierende Stil sich distanzierende Stil mitteilungsfreudig-dramatisierende Stil.
Gemäß seiner Grundannahmen geht er davon aus, dass diese Kommunikationsstile neben dem Inhaltsaspekt (dem Was?) einer sog. Nachricht zum Ausdruck kommen. Allerdings scheint dieses Konzept überzogen, wie sich schnell zeigt, wenn man es auf x-beliebige Äußerungen anwenden will. Dann fällt es schwer, die verschiedenen Aspekte zu formulieren. Mindestens müsste in solcher Art Analysen unterschieden werden zwischen dem illokutionären Akt und dem kollokutionären Aspekt eines Sprechakts und eben dem, was zum Ausdruck gebracht wird, und dem, was zum Ausdruck kommt. Denn nicht alles, was erschlossen wird, muss auch gesagt sein (Keller 1977, 15). Kommunikativ ist nur, was gesagt wurde. Wir sprechen von Stilisieren ohne Komplement und meinen dann, dass eine Darstellung vereinfacht wird, zum Beispiel nur noch skizzenhaft oder mit wenigen Strichen, als geometrische Figuren. Die Stilisierung läuft nach dem Weglass-und-Betonungsschema. Man stilisiert sich selbst, indem man bestimmte Möglichkeiten hervorhebt und andere weglässt. Man wird stilisiert, indem bestimmte Möglichkeiten hervorgehoben und andere
69. Stil und Moral
Wir sprechen von Stilisieren mit einem Komplement als stilisieren zu oder stilisieren als. Die Stilisierung braucht sozusagen Modelle, zum Beispiel der tragische sportliche Held oder die verwirrte Psychopathin, der Nazi oder die Alleswisserin. Wir finden sie in einer kleinen Sammlung von Redeschnipseln, worin manche fehlenden Subjekte leicht zu ergänzen sind: das Kopftuch soll nicht zum Symbol des Islam stilisiert werden die DDR stilisierte sich als Staat des Antifaschismus dass Mexiko zum Hort des Bösen stilisiert wird Else Lasker-Schüler stilisierte sich gelegentlich als Mann Nietzsche stilisiert sich als Antichrist indem er sich selbst zum Märtyrer stilisiert den Täter zum Opfer stilisiert stilisieren sich rückblickend zu Opfern stilisieren ihn zum enfant terrible der Weltpolitik oder gar als Bösewicht schlechthin stilisiert sich medienwirksam als Kämpfer stilisiert sich als erfahrener Steuermann stilisierte ihn zu einem Mythos stilisierte sich als Dandy stilisierte den Kampf als inneres Erlebnis stilisierten ihn die Feuilletons zur Erlöserfigur stilisiert sich Hitlers einziger weiblicher Günstling noch heute als naive Unschuld wird die Wahl des Vize traditionell zum Großereignis stilisiert dass er das Scheitern seiner Regierung 1994 zum Staatsstreich stilisiert stilisierten ihren Krieg als Kreuzzug Abb. 69.2.
weggelassen werden. So hat Stilisierung viel mit Stereotypisierung zu tun. In der Rede über Stilisierungen werden ⫺ wie in der Rede über Stil ⫺ Bezeichnungen partieller Ganzheiten eine Rolle spielen: Jemand redet wie. Wer sich stilisiert oder stilisiert wird, stilisiert sich oder wird stilisiert als … So redet die Leiterin einer Katzenpension über die ihr anvertrauten Katzen wie eine Mutter über ihre Kinder. Oder Sie reden wie ein ,Computerspezialist‘ oder ein ,Börsenfreak‘, wie ein ,Sportsfreund‘ oder ,Verwaltungsheini‘. Solche Modelle mögen allgemein bekannte und so verstandene Typen sein oder bestimmte Personen: Märtyrer, Opfer, Freiheitskämpfer. Es mögen auch Stereotypen, Ereignisse, Rollen oder Konstellationen (,Hausdrache‘ und ,Hampelmann‘) sein. Sie sind in der Regel zu fassen als ein Konglomerat von Merkmalen. So heißt es in der praktischen Anwendung in der Wirtschaft: Bei der Stilisierung werden relevante und den eigenen Führungsstil prägende Merkmalseigenschaften verdichtet und in gesteigerter Form inszeniert, um Autorität, Professionalität, Originalität, Beliebtheit, Lebendigkeit usw. zu präsentieren und nach außen darzustellen. (Neubert 2005)
Die Benennungen sind zwar plakativ und globalisierend, die Kommunikationsstile bieten aber durchaus Ansatzpunkte für detailliertere Beschreibungen von Stilisierungen. Eine Voraussetzung wäre, dass nicht nur exemplarische Äußerungsbeispiele gegeben werden, sondern jeweils vollständige Kommunikationen beschrieben werden, die dann nicht mehr mit einem plakativen ,Label‘ belegt werden könnten. Denn letztlich muss jeder einzelne
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Text, jede einzelne Kommunikation untersucht und auf spezifische Details abgeklopft werden. Welche Eigenheiten dann kommunikativ relevant sind, muss in detaillierter Interpretation argumentativ gerechtfertigt werden. Ein gelungenes Beispiel der Analyse von Stilisierung liefert Holly mit dem veröffentlichten Neuen Notizbuch des Journalisten Johannes Gross (Holly 2001). Ausgehend von einem Label wie „gehobener Stil“ analysiert er akribisch den Text und die sprachliche Selbstdarstellung zum Zweck sozialer Positionierung und zeigt, wie Gross in indirektem Vorgehen Selbstdarstellung inszeniert. Die Stilisierung spielt sich zunächst auf der lexikalischen und syntaktischen Ebene ab, wo kaum eine Gelegenheit zum besonderen, zum ,markierten‘ Ausdruck ausgelassen wird. Die Liste der bildungssprachlichen und archaisierenden Wörter ist umfangreich und umfasst alle Wortklassen: Substantive wie Herzenshärtigkeit, Lebenssattheit, Schlechtigkeit, Erdkreis, Hinschied, Klugmeiereien, Degout, Gemeng, Honettetät; Verben wie anheben, einhertreten, stillestehn, ziemen, sich (im Gespräch) ausgeben; Partizipien wie beigewohnt, encadriert, auferbaut; Adjektive wie bös, generös, famos, vorfristig, fortwährend, anmutig, ungezogen, mancherlei, kirchgängerisch; Ortsadverbien wie hierzuland(e)/hierzuland’, anderwärts, manchenorts, allenthalben; Zeitadverbien wie zuweilen, allweil, vormals, vordem, jüngst, dermaleinst; das bevorzugte Satzadverb ist gewiss(lich), als Gradpartikel fungiert häufig vornehmlich, auch gottlob und gemach finden sich. Dazu werden im Kontrast, wenn auch nur selten, Jargonausdrücke und Umgangssprachliches wie Staatsknete oder abstauben gesetzt, lieber aber Elemente ,gehobener regionaler Umgangssprache‘ wie dusslig, Schnick-Schnack, Rotspon oder sich einen Deibel um etw. scheren. Natürlich fehlen auch klassische Marker von Bildungssprache wie gesuchte Fremdwörter (Faktion) nicht, oder Fremdsprachliches, das unübersetzt bleibt (Memorial Services are the cocktail parties for the oversixties. Kommentar dazu: And the obituaries their gossip columns. [564]), besonders immer wieder Lateinzitate (praesente medico [542]). Auch die üblichen morphologischen Archaismen (ward statt wurde, worinnen statt in dem) werden geboten, dazu syntaktische Archaismen wie afinite Relativsätze, kapriziöse Nominalisierungen mit Linkseinbettungen (nach endlich bewirkter Zahlung, bei einer brauchtümlichen Weinfestlichkeit), veraltete Präpositionsfügungen ( für altmodisch gegolten) und vorangestellte Genetivattribute (des Konfuzius Erinnerung). All dies gehört zum Repertoire eines konservativen bildungsprachlichen Stils. (Holly 2001, 431)
Dazu noch eine köstliche Kostprobe: Einen der wenigen schönen Sommertage hatte sich Dolf Sternberger ausgesucht, zu einem Frühstück unter Männern einzuladen; zwei Tage vor seinem Achtzigsten. Der edle Greis, wie immer von gravitätischer Anmut, endete sein Begrüßungswort mit der Bemerkung von Sir Thomas Browne im Urne Burial: The long habit of living indisposes us for dying. (Holly 2001, 436)
Einige systematische Punkte dieser Stilisierung sind: ⫺ Der gesellschaftliche Rang spiegelt sich allein schon in den Schauplätzen. ⫺ Die aktuelle Familie erscheint in mondäneren Zusammenhängen. ⫺ Die Entfaltung von Liberalität und Toleranz, hier besonders „in eroticis“ geübt, gehört zum großbürgerlichen Habitus. ⫺ Den erfolgreichen Weg zum prominenten Journalisten illustrieren zahlreiche Erwähnungen („name dropping“) von persönlicher Bekanntschaft mit Spitzen der Medienwelt, von ausgewählten Politikern, Unternehmern und Börsianern und Künstlern. Durch derartige Stilisierungen hebt Gross sich über den gewöhnlichen Journalismus hinaus in den Rang eines bedeutenden Publizisten.
69. Stil und Moral Zur Inszenierung von Bildung dient die Vorführung breitgefächerter Kenntnisse in philosophischen, theologischen, historischen, naturwissenschaftlich-medizinischen, politisch-wirtschaftlichen, literarischen, musikalischen und Dingen der Bildenden Künste: ⫺ Kommentare zu üblichen Goethe- und Schiller-Zitaten ⫺ Gross stilisiert sich in zahlreichen Anmerkungen zu Essen, Trinken, Kleidung und (kommunikativem) Verhalten als arbiter elegantiarum. ⫺ Distanzierungsarbeit wird nahezu permanent sichtbar in der Darstellung der anderen, der anderen Leute, der Mitmenschen. Mit der Hochwertung von Bildung korreliert die Häufigkeit des Verdikts Dummheit. Es wird viel über die Dummheit der anderen geredet. Ein Fall der Selbststilisierung über Fremdstilisierung. Stilisierung muss nicht bewusst sein. Dennoch ist sie Teil der Person. Auch die ,graue Maus‘, auch der Default ist Stilisierung, die man oft nicht erkennt oder erst später. So weit das Beispiel. Die Methode, die man in solchen Analysen befolgen kann, skizziert Selting (1999, 9) so: ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
Intuitiver Beginn: Welcher holistische Stil ist zu erwarten, zu erkennen? Strukturelle Analyse: Welche auffälligen sprachlichen Merkmale? Funktionale Analyse: Was wird bewirkt in der Interaktion? Bewährt sich die Deutung vor dem Hintergrund der Reaktionen der Beteiligten?
Die methodische Vorführung liefert uns eine mögliche Basis der Betrachtung unter Gesichtspunkten der kommunikativen Moral, wie sie in der Darstellung immer schon anklingen. Zum Schluss ein paar Fragen und Thesen: ⫺ Jeder darf sich stilisieren. Sei es als Held oder weibliches Opfer. So sehen wir, wer er ist. Dies gilt sogar für Selbststilisierung über Fremdstilisierung (die Dummheit der anderen). ⫺ Als was darf man stilisieren: sich oder andere? Eine Grenze ziehen natürlich Gesetze und Diskriminierungen; Verletzungen der Menschenrechte, Gewaltverherrlichung unterliegen der allgemeinen Moral (Frank 1996; Zimmermann 1996). Eine Heavy-MetalStilisierung etwa oder Gothic wird durchaus als problematisch gelten, sind hier doch Gewaltausstellung bis zu Gewaltverherrlichung nicht zu übersehen. ⫺ Auch gewaltträchtige Sprache stellt Gewalt aus und mag Gewalt erzeugen. Hier ist zwar eine haltbare Deutung die Voraussetzung moralischer Kritik. Aber scharf machender oder auch dramatisierender Journalismus hat vor dem moralischen Auge kaum Bestand. Die Grenze zieht auch hier die kommunikative Moral, setzen auch hier Lüge und Täuschung. Dies gilt insbesondere für Fremdstilisierungen, wie sie in den Medien gang und gäbe sind. Auch Journalisten, die wahrheitsgetreu berichten wollen, müssten sich fragen: ⫺ Woher weiß ich das? ⫺ Wieso ist das berichtenswert? ⫺ Wieso dies und nicht das? Möglicherweise kann man sogar fragen, ob man sich stilisieren lassen darf und als was. Nutznießer medialer Fremdstilisierung kommen genau so in die Verantwortung wie die Stilisierer. Der skeptische Rezipient ist aber immer gewappnet mit dem Slogan: Sprich, dass ich dich sehe!
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
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Hans Jürgen Heringer, Augsburg (Deutschland)
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
70. Stil als Zeichen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Stil, Zeichen, Semiotik Semiotische Stilistik Stilmittel als Zeichen Semantik des Stils Pragmatik des Stils Syntax des Stils Literatur (in Auswahl)
Abstract To interpret a message as a manifestation of a certain style means to interpret it as a sign of that style. Research into this field has its foundation in semiotics, the general study of signs. Semiotic stylistics extends the scope of study from verbal to nonverbal messages, to music, pictures, film, art, and culture in general. Furthermore, it also contributes answers to questions concerning the foundations of stylistics, such as: Does style have meaning? Is it mere form? Are meaning and form inseparable in the study of style? What is the nature of a sign that indicates a style? Is style a sign or rather a metasign? What is the relationship between the style of a message and its code? Is style a deviation from a code or does it constitute a code of itself? Structuralist semiotics has sought to localize style in the connotation which the meaning of a sign may convey in addition to its denotation, and it has developed models for the description of the system of tropes and figures in terms of semantic and phonetic features. In the framework of C. S. Peirce’s semiotics, style can be interpreted in different ways: (i) it is an index when taken as a sign of an individual author; (ii) it is an icon when it results from imitation; (iii) it is a symbol when it represents the conventions of an epoch. In its evolution, a specific style is, first, an index of originality and invention. Then, it degenerates by repetition and imitation to an icon. Finally, when the same style has become a convention and thus a norm, it is a symbolic sign. The three dimensions of semiotic study ⫺ semantics, pragmatics, and syntax ⫺ provide a framework for the characterization of various semiotic approaches to style.
1. Stil, Zeichen, Semiotik Stil als Zeichen zu betrachten, bedeutet, die Stilmerkmale in mündlicher und schriftlicher Sprache, in Musik, Bildern, Filmen, im Design der Gebrauchsgegenstände, in der Mode, in den gesellschaftlichen Umgangsformen und in allen anderen Bereichen der Kultur als Zeichen oder Zeichensystem zu interpretieren. Die Stilistik, die das Wesen des Stils und der Stile so zu ergründen sucht, hat ihre Fundierung in der Semiotik, der allgemeinen Wissenschaft von den Zeichen.
70. Stil als Zeichen Schon im alltäglichen Sprachgebrauch gibt es eine auffällige Parallele zwischen den Wörtern Zeichen und Stil. Ein Zeichen ist etwas, das für etwas steht ⫺ aliquid stat pro aliquo, lautete die Definition der scholastischen Semiotik. Auch das, was als Stil beschrieben wird, ist immer ein Stil von etwas. Ein feiner oder höflicher Stil ,zeugt‘ von guten Manieren, ein schlechter Stil ,verweist‘ auf mangelnde Bildung oder einen fehlenden Charakter, ein familiärer Stil ,bedeutet‘ enge soziale Bindungen, der klassische oder der romantische Stil ,sind Zeichen‘ kulturgeschichtlicher Epochen. Die Zeichenhaftigkeit des Stils steht allenfalls in Frage, wenn es um die so genannte Stillosigkeit geht: Bedeutet sie die Abwesenheit von Stil überhaupt, oder verweist sie auf das Fehlen von gutem Stil und ist somit auch Stil, nämlich ,schlechter Stil‘? Wenn aber selbst die Abwesenheit von Stil ein Zeichen von Stil ist, so kann es fehlenden Stil niemals geben. Stil gibt es vielmehr überall, wenn nichts ohne Stil sein kann. Dass Stillosigkeit auch Stil sein soll, ist ein Paradox, dass dem kommunikationswissenschaftlichen Paradox ähnelt, welches besagt: Man kann nicht nicht kommunizieren (vgl. Nöth 2000, 240⫺241).
1.1. Was ist ein Zeichen? In der modernen Semiotik gibt es zwei Modelle des Zeichens, die sich auch in der Stilistik in unterschiedlichen Analyseansätzen zeigen. Das eine Modell steht in der Tradition der strukturalen Linguistik und geht auf Ferdinand de Saussure (1857⫺1913) und Louis Hjelmslev (1899⫺1965) zurück, das andere steht in der Tradition der Allgemeinen Zeichentheorie von Charles Sanders Peirce (1839⫺1914).
1.1.1. Ausdruck, Inhalt, Form Saussures Modell des sprachlichen Zeichens ist ein dyadisches Modell. Der Begründer des Strukturalismus illustriert es am Beispiel des Wortes Baum. Die eine Seite dieses Sprachzeichens ist seine Lautung, also die artikulierbare und hörbare Folge den Konsonanten und Vokale [baum]. Saussure nennt diese Seite des Sprachzeichens den Signifikanten. Hjelmslev spricht von der Ausdrucksseite des Sprachzeichens. Die andere Seite des Sprachzeichens ist seine Bedeutung, womit Saussure die mit dem Wort verbundenen Vorstellungen und Ideen meint. Diese Seite des Sprachzeichens heißt bei Saussure das Signifikat. Hjelmslev nennt es die Inhaltsseite des Sprachzeichens. Das Signifikat des Wortes Baum ist etwa die Paraphrase: ,große Pflanze mit Blättern, Zweigen und hölzernem Stamm‘. Beide Seiten des Sprachzeichens sind in der Vorstellung der Sprecher so untrennbar miteinander verbunden wie die Vorder- und die Rückseite eines Blattes Papier: „Der Gedanke ist die Vorder- und der Laut die Rückseite. Man kann die Vorderseite nicht zerschneiden, ohne zugleich die Rückseite zu zerschneiden“, sagt Saussure (1916, 157). Dieser Gedanke der Untrennbarkeit zwischen der Ausdrucks- und der Inhaltsseite der Sprachzeichen ist von Relevanz für die Grundfrage der Stilistik, ob Stil eine Sache von Ausdruck, Form oder Inhalt sei (s. 1.2).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
1.1.2. Zeichen, Objekt, Interpretant Ein triadisches Zeichenmodell ist der Ausgangspunkt der Semiotik von Charles Sanders Peirce. Sehr vereinfacht charakterisiert Peirce ein Zeichen als eine „dreifache Verbindung zwischen dem Zeichen [etwa einem gesprochenen oder geschriebenen Wort], der bezeichneten Sache und der im Geist produzierten Kognition“ (CP 1.372). Ausführlicher und genauer heißt es an anderer Stelle: „Ein Zeichen oder Repräsentamen ist etwas, das für jemanden in gewisser Hinsicht oder Fähigkeit für etwas steht. Es wendet sich an jemanden, d. h., erzeugt im Geist dieser Person ein äquivalentes Zeichen oder vielleicht ein noch weiter entwickeltes Zeichen. Das Zeichen, welches es erzeugt, nenne ich den Interpretanten des ersten Zeichens. Das Zeichen steht für etwas, sein Objekt. Es steht für dieses Objekt nicht in jeder Hinsicht, sondern im Hinblick auf eine Art Idee“ (CP 2.308). Nach dem Kriterium der Relation zwischen Zeichen und Objekt differenziert Peirce ferner zwischen ikonischen, indexikalischen und symbolischen Zeichen. Ein Ikon hat gleiche oder ähnliche Eigenschaften wie das bezeichnete Objekt; es gibt eine Beziehung der Similarität. Ein Index verweist auf sein Objekt auf Grund einer zeitlichen, räumlichen oder kausalen Beziehung; es gibt eine Beziehung der Kontiguität. Ein Symbol bezeichnet sein Objekt auf Grund einer Gewohnheit, einer Konvention (s. 1.3.).
1.2. Stil: Ausdruck, Inhalt oder Form? Grundbegriffe der auf dem dyadischen Modell basierenden Zeichentheorie spielen in der Stilistik eine Rolle, wenn es darum geht, ob Stil eine Sache von Ausdruck, Inhalt oder Form der Zeichen sei.
1.2.1. Ausdruck/Inhalt, Figuren/Tropen Die Unterscheidung zwischen der Ausdrucks- und der Inhaltsseite der Sprachzeichen ist für die Stilistik relevant, die in der Tradition der antiken Rhetorik zwischen den Figuren und Tropen als den zwei fundamentalen Kategorien der Stilanalyse unterscheidet. Figuren (im engeren Sinn) sind Stilmittel, welche die Anordnung der Sprachzeichen auf der Ausdrucksebene der Sprache betreffen. Sie haben die Form von Wiederholungen, Umstellungen, Hinzufügungen oder Auslassungen von Lauten, Silben, Morphemen oder Wörtern, z. B. in Form von Alliteration, Reim, Anapher, Parallelismus, Geminatio, Anadiplose, Metathese oder Chiasmus. Tropen hingegen betreffen die Inhaltsseite der Sprache, denn hier wird nach Auffassung der antiken Rhetoriker ein im eigentlichen Sinn gebrauchtes Wort durch ein im uneigentlichen Sinn gebrauchtes Wort ersetzt, wie z. B. in der Metapher, der Metonymie (s. 3.1.), der Litotes oder dem Oxymoron.
1.2.2. Stil: Inhalt oder Form? Die Dichotomie von Ausdruck und Inhalt wird oft mit derjenigen von Form und Inhalt parallelisiert oder sogar gleich gesetzt. Wenn Form und Inhalt gegenübergestellt werden,
70. Stil als Zeichen gilt Form ja oft als ein Quasisynonym für Stil. Stil, so heißt es, sei nicht eine Frage des Inhalts, sondern eine Frage der Form (s. 2.1.), und das Formlose erweckt zugleich den Anschein des Stillosen. Das dyadische Modell, das die Semiotik zur Analyse der Dichotomie von Inhalt und Form der Zeichen zur Verfügung stellt, spricht gegen die Auffassung vom kategorischen Gegensatz zwischen Stil als Form einerseits und dem vom Stil nicht betroffenen Inhalt andererseits. Zwei ganz unterschiedliche Modelle, die diese Folgerung nahe legen, bieten Hjelmslevs strukturalistische Semiotik und Peirce’ pragmatische Semiotik (s. 1.2.3.). Form und Inhalt sind für Hjelmslev keine fundamentalen semiotischen Gegensätze. Die grundlegende Dichotomie ist vielmehr die Dichotomie von der Ausdrucks- und der Inhaltsseite der Zeichen. Form gibt es nach Hjelmslev nämlich sowohl auf der Ausdrucks- wie auf der Inhaltsseite der Zeichen, denn Form meint nach diesem Modell in etwa die Struktur der Zeichen. Es gibt eine Form der sprachlichen Ausdrucksseite, die aus den Strukturen der Phoneme und Grapheme besteht, und eine Form der Inhaltsseite, die aus den Strukturen der Bedeutung (der Seme und Sememe) der Wörter besteht. Wenn also Stil eine Frage der Form ist, so müssen Stilmerkmale nach diesem Modell sowohl auf der Ausdrucksseite als auch auf der Inhaltsseite der Sprachzeichen bestimmt werden. Eine solche Unterscheidung steht im Übrigen durchaus im Einklang mit derjenigen, welche das System der klassischen Rhetorik zwischen den Figuren und den Tropen getroffen hat (s. 1.2.1.).
1.2.3. Einheit von Inhalt und Form Mit ganz anderen Argumenten lässt sich aus der Semiotik von Charles Sanders Peirce das Argument von der Einheit von der Ausdrucksseite der Zeichen und den von ihnen repräsentierten Inhalten (Gedanken) ableiten: „Thought and expression are really one“, schreibt Peirce (CP 1.349) und wendet sich dabei gegen die Theorie vom Zeichen als einem bloßen Instrument zur Übermittlung von Inhalten, die es auch unabhängig von dem Zeichen und seiner Form geben könne. Da aber Inhalte, Gedanken oder Ideen untrennbar mit ihrer Form (oder Repräsentation) verbunden sind, kann der Inhalt des Zeichens nicht nur ein mentales Konzept sein, sondern er muss sich in der Repräsentation selbst wieder finden, in der Handschrift, in der Stimme und sogar in der gedruckten Form eines Textes. So folgert Peirce etwa: „It is much more true that the thoughts of a living writer are in any printed copy of his book than that they are in his brain“ (CP 7.364). Für das Thema des Stils bedeutet diese Unmöglichkeit der Trennung eines Inhalts von seiner Repräsentation in Form von Zeichen, dass ein und der gleiche Inhalt nicht alternativ in gutem oder auch schlechtem Stil zum Ausdruck gebracht werden kann, denn: „It is wrong to say that a good language is important to good thought, merely; for it is the essence of it“ (CP 2.220). Dieses Zitat aus Peirce’ Ethics of Terminology aus dem Jahr 1903 hat bei einem ganz anderen Denker, Friedrich Nietzsche, einen Vorläufer: „Den Stil verbessern ⫺ das heißt, den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter!“ schrieb Nietzsche 1886 in Menschliches, Allzumenschliches (zit. in Göttert/Jungen 2004, 20). Mit seiner These von der Einheit von Stil und Gedanken, die beide im Zeichen untrennbar miteinander verbunden sind, geht Peirce jedoch noch einen Schritt weiter als Nietzsche; denn daraus, dass der Stil nicht ein bloßes Zeichen desjenigen ist, der sich
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil dieses Stils als eines Instruments bedient, folgert Peirce auch die Einheit des Stils eines Zeichens mit dessen Urheber. Während es bei Buffon heißt, „le style est l’homme meˆme“, schreibt Peirce 1868 noch allgemeiner: „There is no element whatever of man’s consciousness which has not something corresponding to it in the word; and the reason is obvious. It is that the word or sign which man uses is the man himself. For, as the fact that every thought is a sign, taken in conjunction with the fact that life is a train of thought, proves that man is a sign; so, that every thought is an external sign, proves that man is an external sign. […] Thus, my language is the sum total of myself; for the man is the thought.“
1.3. Stil als Index, Ikon oder Symbol Wenn Stil als Mittel zur Steigerung der eigenen Sichtbarkeit (vgl. Fix 2001, 113), als Zeichen einer Persönlichkeit oder einer sozialen Gruppe definiert wird, so ist mit dem Zeichen, welches einen solchen Stil anzeigt, ein indexikalisches Zeichen gemeint. Nach Peirce ist ein Index ein Zeichen ohne Information, das allein die Aufmerksamkeit, die Neugier, das Interesse der Zeicheninterpreten erregt. Das, worauf ein Index verweist, ist nie ein allgemeines, sondern immer ein individuelles, singuläres Objekt oder eine Ansammlung singulärer Objekte (CP 2.306). Dabei behauptet ein Index nichts über sein (Referenz-)Objekt, sondern er zeigt lediglich an bzw. lenkt unsere Aufmerksamkeit auf dieses Objekt (CP 3.361). Auch kann ein Index dem Interpreten nie etwas Neues vermitteln. Er kann nur auf etwas hinweisen, das dem Interpreten bereits aus der früheren Erfahrung bekannt ist (CP 8.368). Definiert man Stil in diesem Sinne als ein indexikalisches Zeichen, so ist damit vor allem der so genannte Individualstil gemeint. Der Stil, der auf ein Individuum verweist, ist ebenso indexikalisch, wie ein Eigenname ein Index des Individuums ist, welches diesen Namen trägt. Stil hingegen, der auf Konventionen, Gewohnheiten, Gebräuche, Verhaltensregeln oder Regeln des Sprachgebrauchs verweist, ist ein symbolisches Zeichen in der Definition von Peirce, nämlich ein Zeichen, das auf Grund „einer Gewohnheit, Disposition oder einer wirksamen Regel interpretiert wird“ (CP 4.447). Zu dieser Kategorie der Zeichen gehören Moden und Epochenstile, insofern diese Zeichen gesellschaftlicher und historischer Konventionen sind. Symbolisch sind auch die Zeichen eines sprachlich ,guten‘ Stils, der auf eine völlige Beherrschung der Regeln der Grammatik verweist, oder die Zeichen eines Stils im Sinne von ,guten Manieren‘ (Etikette), denn sie bedeuten die Beherrschung und Beachtung gesellschaftlich erwünschter Umgangsformen. Stil kann schließlich auch ein ikonisches Zeichen sein, ein Zeichen, welches nach Peirce auf einer Ähnlichkeitsbeziehung beruht. Die Zeichen eines Stils, der Mozart oder Kleist nachahmt, sind ikonische Zeichen, die durch ihre Ähnlichkeit auf das bezeichnete Objekt, das es nachahmt, verweisen. Stilimitationen oder Simulationen von Stilen gibt es in Plagiaten ebenso wie in der Ironie. Es gibt ganze Epochenstile, die auf dem Prinzip der Ikonizität basieren, etwa die Klassik, die die Antike imitiert, oder die Neogotik und Neoromanik des 19. Jhs. Auch der Prozess der Verbreitung eines neuen Stils kann als Entstehung ikonischer Zeichen gesehen werden. Luhmann (1984, 56) beschreibt diesen Prozess wie folgt: „Stil kann aus der Vorbildlichkeit einzelner Kunstwerke entstehen. […] Der Kirchturm von
70. Stil als Zeichen St. Paul de Le´on wird Vorbild für andere Kirchtürme in der Bretagne. Das ist jedoch nur möglich, wenn Copieren erlaubt ist, wenn die Einmaligkeit des Kunstwerks keine Qualitätsbedingung ist und wenn die rezeptmäßige Anfertigung nicht schadet.“ Jeder Stil ist jedoch in gewisser Weise stets indexikalisch, symbolisch und ikonisch zugleich. Luhmann (1984, 63) spricht von der „Doppelfunktion“ des Stils und meint damit Stil als ikonisches und als indexikalisches Zeichen: Einerseits zeige sich Stil (ikonisch) in der „Anfertigung und Beurteilung von Kunstwerken“ nach einem historischen Programm, das die „Selektion des Handelns und Erlebens steuert, andererseits zeige sich Stil (indexikalisch) in der „Individualisierung des Kunstwerks“ und darin, „dass das Kunstwerk […] selbst limitiert, was ihm möglich bzw. unmöglich“ sei. Der epische Stil Thomas Manns z. B. ist nicht nur ein Zeichen, das indexikalisch auf diesen Autor verweist; zugleich ist er auch ein Zeichen der Konventionen, die den Sprachgebrauch des deutschen Bildungsbürgertums in der ersten Hälfte des 20. Jh. kennzeichnen und damit ein Symbol. Einen Stil als indexikalisch, symbolisch oder ikonisch zu bewerten kann somit nur heißen, seine dominanten Stilmerkmale zu interpretieren. In der Reihenfolge Index, Ikon und Symbol vollzieht sich schließlich auch der Lebenszyklus eines Stils, der zuerst als singulär und völlig neu indexikalisch in Erscheinung tritt, sich dann ikonisch durch Imitation verbreitet und schließlich als Symbol in Konventionen erstarrt.
2. Semiotische Stilistik Ebenso wie die Stilistik ist auch die Semiotik keine Einheitswissenschaft. Es gibt vielmehr zahlreiche Strömungen und Richtungen, unterschiedliche Ansätze und Auffassungen von dem, was unter einem Zeichen und der Wissenschaft von den Zeichen zu verstehen und mithin auch, wie Stil als Zeichen zu beschreiben sei.
2.1. Ansätze, Tendenzen, Modelle Spezifisch semiotische Ansätze der Stilistik und Rhetorik vertreten oder erörtern Uspenskij (1968), Eco (1976, 276⫺289), Hervey (1982, 219⫺233), Schuh (1982), Shapiro (1983, 208⫺212), Klinkenberg (1985), Hodge/Kress (1988, 79⫺120), Chvatı´k (1987, 110⫺137), Lotman (1990, 36⫺62), Moline´ (1991), Paz Gago (1993, 105⫺130), Spillner (1995), Nöth (2000, 394⫺399) und Fix (2001). Die Bibliographie von Bennett (1985) verweist in ihrem Register auf nicht weniger als 117 Titel mit explizit semiotischen Ansätzen zur Stilistik. In der semiotisch fundierten Stilistik gibt es ebenso wie in der Stilistik allgemein verschiedene Auffassungen davon, was unter Stil zu verstehen sei. Als gemeinsamer Nenner kann gelten, dass Stilmerkmale Zeichen sind. Nach Barthes (1971) gehen alle Stildefinitionen in der Tradition der Stilistik von zwei semiotischen Dichotomien aus, nämlich „Inhalt vs. Form“ und „Kode vs. Nachricht“. Die Unterscheidung zwischen Inhalt und Form war der Ausgangspunkt für die Bestimmung des traditionellen Redeschmucks (ornatus) der antiken Rhetoriker (s. 1.2.1.). Die Dichotomie von Kode und Nachricht hingegen ist grundlegend für die Konzeption von Stil als Abweichung von einer kodierten Norm, die auch als Deviationstheorie des Stils
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil bezeichnet wird. Der Deviationstheorie wurde seit Barthes die Selektionstheorie des Stils gegenübergestellt. Während die Deviationstheorie Stilmerkmale aus der Sicht der Rezipienten als Zeichen der Abweichung von einer sprachlichen oder kulturellen Norm betrachtet, die durch die Regeln eines kulturellen Kodes vorgegeben sind, bestimmt die Selektionstheorie Stil aus der Sicht der Zeichenproduktion. Hier geht es um Fragen der Selektion und der Kombination der Zeichen aus dem Zeichenrepertoire eines Kodes. Der Unterschied zwischen der Deviations- und der Selektionstheorie des Stils wird oft überbetont. In Wirklichkeit sind die beiden Theorien komplementär und unterscheiden sich nur darin, dass ihr Fokus auf verschieden Phasen des Semioseprozesses gerichtet ist. Charles Morris (1938, 1971) hat in seiner allgemeinen Zeichentheorie die Syntax, die Semantik und die Pragmatik als die drei Dimensionen der semiotischen Forschung bestimmt. Während die Syntax die Kombination der Zeichen zu Texten untersucht, geht es der Semantik um die Bedeutung bzw. den Objektbezug der Zeichen. Die Pragmatik untersucht die Wirkung der Zeichen in Handlungszusammenhängen. Diese semiotische Trias kann auch zur Kennzeichnung der verschiedenen Ansätze in der semiotischen Stilforschung dienen, denn es gibt Ansätze, die Stil eher in der Syntax der Zeichen zu bestimmen suchen, solche, die auf die Semantik des Stils abheben, und solche, die eher der Pragmatik, also der Wirkung des Stils in Handlungszusammenhängen Aufmerksamkeit widmen.
2.2. Stil, Abweichung, Kode, Norm Die Ursprünge der Deviationstheorie des Stils, der Konzeption vom Stil als einer Abweichung von einer Norm, die ein Kode vorgibt, liegen in der Lehre von der elocutio der antiken Rhetorik, denn sowohl die Tropen als auch die Figuren galten als Fälle des abweichenden Sprachgebrauchs. Quintilian sah in ihnen „ein Abweichen von der einfachen und direkten Ausdrucksweise“ (Inst. Orat., IX,1,3). Das Prinzip der Abweichung ist auch heute noch eines der Modelle zur Interpretation der Tropen und Figuren. Manchmal heißen sie „sprachliche Anomalien“ (Todorov 1967, 108), manchmal gelten sie als Abweichung von einer „normalen“ Sprache oder auch einer „Nullstufe“ der Sprache (Dubois u. a. 1970). In der semiotischen Kodetheorie werden sie als das Ergebnis einer sekundären Kodierung der Sprache thematisiert. Eco (1976, 133; 155; 279) spricht von einer Überkodierung. Quintilian unterschied vier Kategorien der Abweichung (mutatio) (Inst. Orat. I, 5, 38⫺41), die in modifizierter Form auch in der neueren semiotischen Rhetorik zu finden sind (Dubois u. a. 1970; Plett 1975, 1977): (1) Hinzufügung (adjectio), z. B. als Anapher (⫽ Wiederholung am Satzanfang), (2) Auslassung (detractio), z. B. als Asyndeton, d. h. Auslassung von Konjunktionen, (3) Umstellung oder Permutation (transmutatio), z. B. als Inversion oder Metathese und (4) Substitution von Elementen (immutatio), z. B. Metapher, Metonymie und die meisten anderen Tropen. Die antike Rhetorik unterschied neben den Tropen die Schemata (Corbett 1965, 426). Während eine Trope eine semantische Abweichung beinhaltet, ist ein Schema eine syntaktische Abweichung von den üblichen Wort- und Satzmustern. Kopperschmidt (1973, 170) führt den Begriff der pragmatischen Figur als eine dritte semiotische Kategorie der rhetorischen Stilistik ein.
70. Stil als Zeichen
2.3. Norm, System und Kode Wie ist nun der Kode zu definieren, gegenüber dem sich die Stilmerkmale als eine Abweichung darstellen? Für die einen gilt im Sprachgebrauch die Sprachnorm als Maßstab der Bemessung der Abweichungen (Fricke 1981). Als Norm wird mal die Alltagssprache, mal einer ihrer vielen Subkodes (mündliche Rede, Schriftsprache, Amtssprache etc.) angenommen. Im Gegensatz zur Konzeption von einer Pluralität der Normen steht die Konzeption einer allgemeinen neutralen, stilistisch nicht markierten Nullebene der Sprache (Enkvist 1973, 15), wie sie auch die Gruppe μ (Dubois u. a. 1970) als Grundlage ihrer semiotischen Rhetorik annimmt. Verwandt mit der Konzeption des Stils als Abweichung sind auch die semiotischen Stildefinitionen der Prager Schule (Dolezˇel/Kraus 1972). Hier gilt das Prinzip des „Foregrounding“, der Fokalisierung von Textelementen vor dem Hintergrund einer Erwartung einer weniger auffälligen Struktur als wesentliches Stilmittel. Aufgabe der Stilistik sei es, die Funktion und Wirkung der durch dieses Prinzip markierten Textelemente zu bestimmen.
2.4. Dynamik und Evolution der Norm In der Evolution der Kulturen oszillieren Stile und der Gebrauch bestimmter Stilmittel zwischen Innovation, Konvention und Ablehnung. Lotman (1990, 40; 44) beschreibt derartige Schwankungen am Beispiel der Produktion und Rezeption von Tropen in unterschiedlichen Epochen als einen dynamischen Prozess. Epochen, in denen Tropen die Norm sind, werden von solchen abgelöst, in denen das Fehlen von Tropen die stilistische Norm ist. Die Norm, die die Präferenzen für oder gegen Tropen bestimmt und in unterschiedlichen Erwartungshaltungen resultiert, lässt die Trope schließlich zu einer „MinusTrope“ und die fehlende Trope zu einer Metatrope werden: „In a culture where the tradition of rhetoric has accumulated, becoming part of the inertia of reader-expectation, the trope becomes part of the neutral store of the language and ceases to be perceived as a rhetorically active unit. Against such a background the ,anti-rhetorical‘ text, consisting of elements of direct, nonfigurative semantics, comes to be perceived as a metatrope […]. This ,minus-rhetoric‘, which is subjectively perceived as resembling reality and simplicity, is a mirror image of rhetoric and includes its aesthetic opponent in its own cultural-semiotic code.“
2.5. Stil ohne Norm? Gegen die Möglichkeit, überhaupt jemals eine solche Norm oder auch Nullebene der Sprache bestimmen zu können, wendet sich Riffaterre in seiner Semiotik des Stils (1959, 1971). Für ihn bietet nur der jeweilige Kontext eine Möglichkeit der Bestimmung von Abweichungen. Statt der einen Nullstufe gibt es gewissermaßen ebenso viele Nullstufen, wie es Kontexte gibt. Der Norm-Abweichungs-Dichotomie völlig entgegengesetzt sind auch Stilkonzeptionen, die die Autonomie der Stile hervorheben und Stil als „das innere Merkmal einer
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Art des Diskurses“ bestimmen (Todorov 1970, 226). Statt Stil auf die Norm eines Kodes zu beziehen, vertritt die Autonomiestilistik die Auffassung, dass jeder Stil einen eigenen Kode darstelle. Die These vom Stil als einer Kategorie sui generis hat auch philosophische Implikationen, die im Zusammenhang mit der Bedeutung oder dem Fehlen von Bedeutung im Stil zu erörtern sind (s. 4.3.).
2.6. Stil als Selektion Die Selektionstheorie des Stils richtet ihre Aufmerksamkeit auf den Stil als Ergebnis einer Selektion von Zeichen aus dem Zeichenrepertoire eines Kodes, in dem semantisch äquivalente, aber in ihrem Stilwert unterschiedliche Zeichen zur Auswahl stehen. Zeichen mit jeweils gleichem Stilwert bilden verschiedene stilistische Register eines Kodes, mit denen Äquivalentes unterschiedlich zum Ausdruck gebracht werden kann. Lotman (1990, 50) erläutert diese Auffassung vom Stil mit dem Bild einer Orgel, auf der die gleiche Melodie auf verschiedenen Registern in unterschiedlichen „Tonfarben“ gespielt werden kann, wobei die Bedeutung einer einzelnen Note in den verschiedenen Registern unverändert bleibt: „A comparison of notes of the same value but in different registers will show up both what they have in common and what the particular register endows them with. The first meaning relates to semantics and the second to stylistics.“ Jede Selektion eines Zeichens erweist sich damit als ein Metazeichen (Hodge/Kress 1988, 79), also als ein Zeichen, das auf andere Zeichen verweist, denn das ausgewählte Zeichen lässt gewissermaßen stets auch das nicht ausgewählte Zeichen präsent werden, das an der gleichen Stelle im Text stehen könnte. Das stilistische Metazeichen verweist mithin auf die paradigmatische Dimension des Kodes.
2.7. Stil, Poesie, Formgebung Manche semiotisch fundierten Arbeiten zur Stilistik gehen über die Auffassungen vom Stil als Zeichen, Wahl oder Abweichung hinaus. Gelegentlich ist Stilistik sogar ein Synonym von Poetik oder gar Literaturwissenschaft überhaupt (z. B. Blanchard 1975, Kirstein 1982, Schuh 1982). Die semiotischen Konzeptionen von Stil beschränken sich jedoch nicht nur auf Poesie, Literatur oder sprachliche Texte allgemein. Definiert man Stil als die Differenz zwischen den Zeichen, die ein Kode als Selektionsmöglichkeit zulässt, so wird der Stilbegriff auch in der Malerei, Architektur, Mode und Kultur allgemein anwendbar (Uspenskij 1968, 123). Eine grundlegende Differenz zwischen der poetischen Stilistik und der Stilistik der Alltagssprache postuliert Lotman (1990, 51): Während der Stil im Alltag durch das Register der jeweiligen Kommunikationssituation vorgegeben ist, lebt die Literatur vom freien Spiel mit den Registern der Stile: „What is known as ,poetic stylistics‘ can be defined as the creation of a special semiotic space, within which a free choice of stylistic register is possible, this register no longer being automatically defined by the communicative situation. As a result, style acquires supplementary significance.“ Die vielleicht umfassendste semiotische Auffassung von Stil findet sich in der Philosophie des Stils von Granger (1968; vgl. Bureau 1976, 12). Nach dieser Theorie gilt Stil
70. Stil als Zeichen als die Wurzel allen semiotischen Handelns überhaupt. Das Stilistische sei nämlich zu begreifen als ein Prozess einer strukturierenden Arbeit mit dem Ziel, bei der Transformation des Amorphen zum Strukturierten, von Inhalt zu Form Hindernisse zu überwinden, um in eben diesem Strukturierungsprozess eine Art semiotische „Integration des Individuums“ zu bewirken (Granger 1968, 8). Stil kommt danach also in jeder menschlichen Tätigkeit, in jedem Prozess der Kommunikation und Semiose zum Vorschein.
3. Stilmittel als Zeichen Tropen oder Figuren sind Stilmittel und können z. B. einen poetischen, einen ,blumigen‘, einen symbolistischen, einen akademischen oder ⫺ in Abwesenheit von Tropen und Figuren ⫺ einen ,prosaischen‘ Stil kennzeichnen. Semiotische Ansätze zur Analyse der Stilmittel finden sich sowohl in der strukturalistischen als auch in der Peirceschen Tradition.
3.1. Metapher und Metonymie Roman Jakobson (1956) hat das System der Tropen auf zwei Grundtypen reduziert, Metapher und Metonymie. Während eine Metapher das Ergebnis einer Selektion aus der paradigmatischen Achse der Zeichen ist, verweist die Metonymie auf deren syntagmatische Achse. Eine Metapher entsteht danach durch Substitution eines Zeichens durch ein semantisch ähnliches Zeichen, zu dem es in paradigmatischer Beziehung steht. Die Metonymie hingegen ist das Ergebnis einer spezifischen Kombination der Zeichen. Während die Metapher auf dem Prinzip der Similarität beruht, ist das Prinzip der Metonymie die Kontiguität der Zeichen. Die Zeichen, die sich als Metapher oder als Metonymie darstellen, sind nicht nur Sprachzeichen, sondern sie finden sich auch im Film, in der Malerei oder in Traumbildern. Trotz der Ubiquität von Metapher und Metonymie, die letztlich darin begründet ist, dass die Metapher allgemeiner als ein ikonisches und die Metonymie als ein indexikalisches Zeichen bestimmt werden kann, betrachtet Jakobson die beiden Tropen auch als besonderes Merkmal spezifischer Stile: Das Metaphorische dominiert in der Poesie, im Surrealismus, im Symbolismus und in der Romantik, während die Metonymie die dominante Stilfigur der Epik, des Realismus und des Kubismus sei (vgl. Nöth 2000, 347 f.).
3.2. Dekomposition der Stilmittel Der Ansatz der strukturalistischen Tradition bei der Analyse der Figuren und Tropen ist durch den Versuch der Dekomposition der Sprachzeichen in Minimaleinheiten der Ausdrucks- und der Inhaltsseite gekennzeichnet, die noch nicht selbst als Zeichen, sondern nur als Komponenten von Zeichen gelten. Dabei wird zwischen einer Oberflächenund einer Tiefenstruktur auf beiden Ebenen unterschieden. Greimas (1972) etwa definiert das poetische Zeichen als ein komplexes Sprachzeichen, dessen Ausdrucksebene in seiner Oberflächenstruktur aus Graphemen bzw. Phonemen und Silben und in seiner Tiefen-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil struktur aus den distinktiven Merkmalen der Grapheme bzw. Phoneme (z. B. ,⫹/⫺stimmhaft‘, ,liquid‘, ,nasal‘, ,fortis‘ oder ,lenis‘) besteht. Auf der Inhaltsseite konstituiert sich die Oberfläche durch die Sememe der Wörter und die Tiefenstruktur durch deren Seme, den kleinsten Elementen die zwar auch Bedeutung haben, aber eigentlich nur zur Unterscheidung von Bedeutungen dienen (z. B. ,⫹/⫺ belebt‘, ,⫹/⫺jung‘ oder ,⫹/⫺menschlich‘). Das Besondere des poetischen Zeichens besteht nun darin, dass zwischen den Einheiten der Ausdrucks- und der Inhaltsebene der Sprachzeichen so genannte Homologien (Äquivalenzen, Korrespondenzen) bestehen. In einem Gedicht über Leben und Tod wäre dies z. B. eine Korrespondenz zwischen semantischen Oppositionen wie ,⫹/⫺belebt‘ oder ,⫹/⫺bewegt‘ einerseits und phonetischen Gegensätzen wie ,⫹/⫺fortis‘ oder ,⫹/⫺stimmhaft‘ oder auch ,⫹/⫺liquid‘ andererseits. Die Analyse des Systems der Figuren und der Tropen nach Prinzipien des Strukturalismus erreicht ihren Höhepunkt in der Allgemeinen Rhetorik der Gruppe μ (Dubois u. a. 1970). Auch hier werden die Stilmittel (Tropen und Figuren) auf ihrer Inhalts- und der Ausdrucksseite in minimale und größere Einheiten zerlegt und gegenüber einer als stilistisch neutral angenommenen Nullstufe der Sprache als Hinzufügung, Unterdrückung, Substitution oder Permutation von Merkmalen bestimmt. Hinzufügungen auf der Ausdrucksseite zeigen sich etwa in Reduplikationen, Alliterationen oder Reimen. Hinzufügungen auf der Inhaltsseite in partikularisierenden Synekdochen (pars pro toto, z. B. Kopf für Denker), Pleonasmen oder Hyperbeln. Beispiele für Auslassungen auf der Ausdrucksseite sind Synkopen, Elisionen oder Ellipsen. Auf der Inhaltsseite sind es die generalisierende Synekdoche (totum pro parte; z. B. USA für Sportler der USA) oder die Metapher in praesentia, die dem Simile ähnlich ist. Alle Formen der Abweichung gegenüber der Nullstufe der Sprache werden als Metabolien definiert. Diese sind nach zwei Kriterien weiter unterteilt. Das eine Kriterium ist die Ebene der Abweichung. Sie kann bis zur Wortebene reichen oder darüber hinaus auf der Satzebene liegen. Nach dem zweiten Kriterium ist zwischen Abweichungen auf der Ausdrucksseite und auf der Inhaltsseite der Sprachzeichen zu unterscheiden. Die Kombination dieser beiden Kriterien ergibt vier mögliche Formen von Metabolien: (1) Abweichungen auf der Ausdrucksseite, die bis zur Wortebene reichen, heißen Metaplasmen (z. B. Alliterationen). (2) Abweichungen der Ausdrucksseite, die auf Satzebene lokalisiert sind, heißen Metataxen (z. B. Ellipsen oder Inversionen). Auf der Inhaltsseite heißen die Abweichungen bis zur Wortebene Metaseme (z. B. Metaphern und Metonymien). Abweichungen auf der Inhaltsebene bis zur Satzebene heißen Metalogismen (z. B. Ironie).
3.3. Ikonizität in den Stiliguren Aus der Sicht der Peirceschen Semiotik eignet sich die Typologie der Zeichen, insbesondere die Unterscheidung zwischen ikonischen und indexikalischen Zeichen, zu einer Neubestimmung des klassischen Systems von Figuren und Tropen. Die Metonymie und die Synekdoche erweisen sich beispielsweise als indexikalische Zeichen, insofern sie auf dem Prinzip der Kontiguität bzw. der Teil-Ganzes-Beziehung zwischen Zeichen und Objekt beruhen. Metaphern und Similes hingegen sind ikonische Zeichen, denn sie beruhen auf dem Prinzip der Similarität zwischen Zeichen und Objekt. In seiner Theorie der ikonischen Zeichen unterscheidet Peirce drei Unterklassen des Ikons: Bild („image“), Diagramm und Metapher (vgl. Nöth 1990). Das Bild ist ein Ikon,
70. Stil als Zeichen dessen Ähnlichkeit mit seinem Objekt auf „einfachen Qualitäten“ beruht. Lautmalerei, ikonische Mittel der Graphostilistik und ähnliche Formen der qualitativen Homologie zwischen sprachlichem Ausdruck und Inhalt sind bildikonischer Art. Diagrammatische Stilmittel hingegen beruhen auf strukturellen Korrespondenzen zwischen Zeichen und Objekt. Mathematische Formeln, Tabellen und ähnliches Anschauungsmaterial, aber auch jegliche Gliederung eines Textes in Form von Paragraphen, Abschnitten und Überschriften sind Diagramme, die den Inhalt der Zeichen durch strukturelle Ähnlichkeiten repräsentieren. Ein diagrammatischer Stil visualisiert in Form von Textgliederungssignalen, Schaubildern, durch Fußnoten oder Typographie Korrespondenzen zwischen der Ausdrucks- und der Inhaltsebene des Textes (z. B. Großgedrucktes, Überschrift oder Haupttext: wichtig, Kleingedrucktes oder Fußnoten: weniger wichtig). Prototyp des Diagrammatischen ist die geographische oder topographische Karte. Während bildikonische Stilmittel durch ihre eigenen Qualitäten zu Zeichen werden, sind es bei den Diagrammen dyadische Beziehungen zwischen Zeichen und Objekt (Korrespondenzen zwischen Relationen). Die Metapher schließlich ist ein Zeichen, bei dem zwischen Zeichen und Objekt eine triadische Relation besteht, nämlich zwischen der wörtlichen und der übertragenen Bedeutung und dem tertium comparationis, dem inhaltlich Gemeinsamen, welches den Vergleich ermöglicht. Ikonische Beziehungen bestehen nicht nur zwischen den Zeichen und den von ihnen bezeichneten Objekten in der Welt der Tatsachen und Ideen, sondern auch zwischen den Zeichen selbst, denn Zeichen können exophorisch auf die Welt der Dinge oder Ideen oder endophorisch auf andere Zeichen im Text, im Bild oder im System der Zeichen verweisen. Nach dieser Prämisse lässt sich das System der Figuren als ein System ikonischer Zeichen interpretieren, denn jegliche Form der Wiederholung, der Rekurrenz oder des Parallelismus bedeutet einen endophorischen Verweis auf ähnliche vorausgegangene Formen im Text.
4. Semantik des Stils Die Frage nach der Bedeutung von Stil an sich ist umstritten. Für die einen hat Stil keine Bedeutung, und es gibt mithin keine Semantik des Stils. Für die anderen hat Stil Bedeutung, und es gibt folglich eine Semantik des Stils und der Stile.
4.1. Was Stil bedeuten kann Als Zeichen betracht, wirft Stil die Frage nach der Bedeutung auf. Gibt es eine semantische Interpretation der Differenzen zwischen äquivalenten, aber in ihrem Stilwert unterschiedenen Zeichen? Wenn Synonyme, Paraphrasen oder so genannte stilistische Varianten in ihrer Bedeutung gegenseitig äquivalent sind, kann es dann noch semantische Differenzen geben? Liegen in den Differenzen zwischen dem, was durch diesen oder jenen Stil vermittelt wird, auch Bedeutungen? Ein semiotischer Ansatz, der in Stilvarianten semantische Werte postuliert, ist derjenige, der die Unterscheidung zwischen Denotation und Konnotation für wesentlich erachtet. Danach gibt es neben einer Kernbedeutung (Denotation) auch verschiedene Ne-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil benbedeutungen (Konnotationen) eines Zeichens, wobei das spezifisch Stilistische stets in einer Konnotation zu suchen sei. Koch (1963) hat eine semiotische Stilistik entwickelt, die sowohl dem Aspekt der Bedeutungsgleichheit als auch den Bedeutungsunterschieden zwischen stilistischen Alternativen Rechnung trägt. Jede stilistische Alternative weist danach einen gemeinsamen semantischen Kern und zugleich eine semantische Differenz auf, welche als das semantische Differential definiert ist. Es gibt verschiedene Vorschläge zur semantischen Bestimmung der stilistischen Konnotationen bzw. des stilistischen Differentials. Bally (1909, 1) z. B. definiert Stil als die Lehre von den expressiven bzw. „affektiven“ Werten der Sprache, die im Gegensatz zu einer Sprache ohne Stil mit nur referenzieller bzw. „intellektueller“ Funktion stehen. Auch Riffaterre (1959, 155) steht in dieser Tradition, wenn er Stil als eine „expressive, affektive oder ästhetische Hervorhebung“ bestimmt, „die der in der sprachlichen Struktur enthaltenen Information hinzugefügt wird“. Hjelmslev (1943, 114) begründete eine semiotische Tradition der Stilistik, nach der das spezifisch Stilistische eines Sprachzeichens eine „konnotative Semiotik“ ist (Kerbrat-Orrechioni 1977, 94⫺103; Garza-Cuaro´n 1991). Unter soziosemiotischen Aspekten sehen Hodge und Kress (1988, 82) in Stilmerkmalen semantische Merkmale, die auf Ideologien und soziale Identitäten verweisen. Ihre Erklärung dafür, dass Stil oft als bedeutungsleer begriffen wird ist diese: „These markers (of social allegiance, solidarity, group identity, and ideology) primarily refer to relations in the plane of semiosis (the production of meaning) rather than the mimetic plane (what is referred to). They can therefore seem arbitrary or meaningless, whereas they carry consistent ideological meanings which become clearly evident by reference to the semiosis plane.“
4.2. Tropen als semantische Vermittler Lotman (1990), der zwischen Stil als Ergebnis einer bloßen Selektion von semantisch Äquivalentem aus sprachlichen Registern (s. 2.6.) und Rhetorik als einer Anreicherung der Sprache durch Nichtsprachliches (z. B. Raum, Symmetrie oder Bilder) unterscheidet (Lotmann 1990, 49) und Tropen nicht als Stilmittel, sondern als Elemente der Rhetorik definiert, entwickelt eine dualistische Semantik der Tropen. Tropen wie z. B. Metaphern und Metonymien sind danach Vermittler zwischen den zwei unterschiedlichen Kognitionsformen, die durch die linke und die rechte Hemisphäre des Gehirns gesteuert werden, zwischen diskreten und kontinuierlichen Zeichen, die niemals paradigmatisch äquivalent sein und nie syntagmatisch nebeneinander stehen können. Die tatsächliche Unübersetzbarkeit zwischen den beiden Sphären der Kognition, zwischen denen die Tropen vermitteln, erzeugt zugleich deren spezifische Semantik: „A trope, therefore, is not an embellishment merely on the level of expression, a decoration on an invariant content, but is a mechanism for constructing a content which could not be constructed by one language alone. A trope is a figure born at the point of contact between two languages, and its structure is therefore identical to that of the creative consciousness itself“ (Lotmann 1990, 44).
70. Stil als Zeichen
4.3. Stil verweist, ohne zu bedeuten Die Stilistik ohne Semantik geht von der Annahme aus, das Stilistische bedeute nichts außer sich selbst. Stil füge einem Zeichen nichts an Bedeutung hinzu, denn das, was in dem einen oder in dem anderen Stil zum Ausdruck gebracht werden kann, ändere an der Bedeutung des Textes nichts. Aus der Sicht der linguistischen Semantik liegt dieser Auffassung die Überzeugung von der Möglichkeit der semantischen Äquivalenz unterschiedlicher Sprachzeichen in Form von Synonymen und Paraphrasen oder gar Tropen und Figuren zu Grunde. Eine solche Auffassung findet sich etwa in der folgenden Stildefinition des Linguisten Hockett (1958, 556): „Roughly speaking, two utterances in the same language which convey approximately the same information, but which are different in their linguistic structure, can be said to differ in style: ,He came soon‘ and ,He arrived prematurely‘.“ Wenn Dolezˇel/Kraus (1972, 37) Stil definieren als „die Lehre von den alternativen Möglichkeiten, denselben (oder annähernd denselben) Inhalt auszudrücken“, so vertreten sie die Auffassung von einer Stilistik ohne Semantik. Noch prononcierter bringt Uspenskij (1968, 125) die Auffassung vom Stil, der nichts bedeute, zum Ausdruck: „Lorsque nous parlons de diffe´rents styles, nous sous-entendons qu’il est possible d’e´noncer de plusieurs manie`res le meˆme contenu: en d’autres termes, nous admettons que le contenu e´nonce´ dans tel style pourrait en principe l’eˆtre aussi dans un autre. Mais a` proprement parler, c’est bien ce qu’implique le fait de parler de langues diffe´rentes. Les diffe´rents styles s’opposent donc l’un a` l’autre comme les diffe´rentes langues, par leur faculte´ d’exprimer des contenus identiques.“ Vom Fehlen der Bedeutung in den Varianten, die einen Stil ausmachen, geht auch Spillner (1995, 68) aus, der dieses Fehlen jedoch nicht prinzipiell dem Stil selbst zuschreibt, sondern zumindest andeutet, dass auch die Methoden der herrschenden linguistischen Semantik dafür verantwortlich sein könnten, dass die Nuancen der Stile nicht angemessen als Bedeutungsunterschiede bestimmbar seien: „Wenn es gelänge, die semantische Analyse so zu verfeinern und zu differenzieren, dass jedweder sprachlichen Varietät eine je differente semantische Interpretation zugeordnet werden könnte, wäre eine eigenständige Kategorie ,Stil‘ überflüssig geworden; die Stilistik wäre in die Semantik integriert. Solange dies nicht geschehen ist, kann als ,Stil‘ diejenige Differenzqualität alternativer Äußerungen angesetzt werden, denen die linguistische Semantik keine unterschiedlichen Bedeutungen zuordnet bzw. die von den Sprechern der Sprache nicht als bedeutungsdifferent aufgefasst werden.“ Eine philosophische Variante der These vom Fehlen der Bedeutung im Stil ist die Auffassung von der Einzigartigkeit des Stils (Schleiermacher) oder sogar von der Unaussprechlichkeit dessen, was den Stil ausmacht. Sartre etwa vertritt diese Auffassung wie folgt: „Der Stil will etwas sagen, aber dies ist nichts, was sich sagen ließe, nichts an Bedeutung“ (zit. nach Biti 2001, 755).
5. Pragmatik des Stils Die stilistische Pragmatik untersucht die Wirkung des Stils in sprachlichen Handlung (Sandig 1978), und sie betrachtet die damit verbundenen Prozesse der Produktion und Rezeption der Zeichen.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
5.1. En- und Dekodieren des Stils Der Prozess der Selektion einer stilistischen Variante (s. 2.1.) impliziert die Enkodierung einer stilistischen Botschaft. In der getroffenen Zeichenwahl manifestieren sich psychologische, soziologische oder kulturelle Determinanten eines Zeichens. Komplementär zur Stilistik des Enkodierens gibt es eine Stilistik des Dekodierens. Stilmerkmale werden zu Zeichen von Autoren und ihrer Zeit oder sogar als deren Wesen überhaupt ausgelegt. Hauptvertreter einer semiotischen Stilistik des Dekodierens ist Riffaterre (1959, 1971). Seine Arbeiten basieren auf Elementen der Informationstheorie und der strukturalen Linguistik. Riffaterre schlägt vor, stilistische Wirkungen ausgehend von den Reaktionen eines hypothetischen Durchschnittslesers zu untersuchen, dessen Dekodierungen durch Erwartungen und somit Vorhersagbarkeiten neuer Zeichen im Verlauf der Botschaft bestimmt sind. Derartige Erwartungsmuster existieren a priori aufgrund der Sprachkodes und der Gattungsnormen, aber sie werden auch innerhalb eines individuellen Textes aufgebaut, wo sie einen Kode a posteriori bilden (Riffaterre 1971, 78). Von diesen Annahmen ausgehend, definiert Riffaterre (1959, 171) einen stilistischen Stimulus als ein Überraschungsmoment, welches durch ein kontextuell nicht vorhersehbares, das Muster störendes Element bewirkt wird. In der Rhetorik hat die pragmatische Dimension der Redestile seit der Antike besondere Beachtung gefunden. Die Wirkung der Zeichen war hier nicht nur eine Frage des Sprachgebrauchs, sondern auch der Gestik, denn eines der Teilgebiete der Rhetorik war die Lehre vom Vortrag (actio), bei der es um eine Schulung zur Verwendung der richtigen Gesten während einer Rede ging (Wülfing 1995).
5.2. Semiotik der Rhetorik Morris (1938, 30) bezeichnet die Rhetorik als „eine frühe und eingeschränkte Form der Pragmatik“. Das Publikum mit triftigen Argumenten zu überzeugen und es dadurch zu Handlungen oder Entscheidungen zu bewegen, zielt auf die pragmatische Dimension des Zeichengebrauchs ab. Hierzu gehören auch die Fragen nach den Funktionen des Diskurses und nach den Schritten, die der Redner zu befolgen hat, um die Rede zu produzieren. Von den pragmatischen Faktoren bei der Kunst der überzeugenden Rede handelt das 2. Kapitel des 1. Buches der Aristotelischen Rhetorik. Hier geht es um drei Überzeugungsmittel eines Redners. Diese sind „entweder im Charakter des Redners begründet oder darin, den Hörer in eine gewisse Stimmung zu versetzen oder schließlich in der Rede selbst, d. h. durch Beweisen oder scheinbares Beweisen“. Mit diesen drei Mitteln sind deutlich die Ausdrucks-, die Appell- und die Darstellungsfunktion der Rede angesprochen (vgl. Bühler 1934; Jakobson 1960). Die appellative Funktion gilt dabei als die vorherrschende. Aristoteles unterscheidet drei Formen des Appells: Der ethische Appell (ethos) hat mit den Tugenden des Redners zu tun, der emotionale Appell (pathos) richtet sich an die Affekte des Hörers, und der rationale Appell (logos) liegt in der Rede selbst. Cicero unterscheidet nur zwei Faktoren: die emotionale und die didaktische Funktion (movere und docere). Horaz fügt die Funktion des Erfreuens (delectare) hinzu. In teilweise bis heute noch unveröffentlichten Schriften hat Peirce eine pragmatische Theorie der Rhetorik entwickelt (vgl. Deledalle 1979, 157⫺67; Podlewski 1982 und Fry
70. Stil als Zeichen 1986). Peirce (CP 2.93) versteht unter spekulativer Rhetorik eine theoretische Wissenschaft, die neben der spekulativen Grammatik und kritischen Logik den dritten Zweig der Semiotik bilden soll. Während die Grammatik die Zeichen selbst und die Logik ihre Beziehung zum Objekt erforschen, untersucht die Rhetorik, wie Zeichen im Geist der Interpreten als Interpretanten wirksam werden. Peirce beschrieb die Rhetorik als die „Lehre der notwendigen Bedingungen der Übermittlung von Bedeutungen durch Zeichen von Geist zu Geist“ (CP 1.444). Er nennt sie ferner die Lehre von „den formalen Bedingungen der Kraft der Symbole oder ihrer Stärke, an einen Verstand zu appellieren“ (CP 1.559). Schließlich ist für ihn die Rhetorik dazu „bestimmt, sich zu einer gewaltigen Lehre zu entwickeln, von der man erwarten darf, dass sie zu den wichtigsten philosophischen Schlussfolgerungen führen wird“ (CP 3.454).
5.3. Angewandte semiotische Rhetorik In der Semiotik des Rechts entwickelt Schreckenberger eine umfassende Theorie der juristischen Rede. Die Rhetorik des Rechts aus semiotischer Perspektive ist Gegenstand der Untersuchung von Podlewski (1982, 83⫺95). Im Bereich der Filmsemiotik behandelt Metz (1968, 117 ff.) die spezifisch rhetorische dispositio des Films. Rhetorische Figuren des Films untersuchen u. a. Kaemmerling (1971) und Metz (1977, 149 ff.). In der Semiotik der Malerei hat die Gruppe μ strukturalistische Kategorien zur Analyse der Stilmittel der Malerei entwickelt (Klinkenberg et al. 1980). In seinen ideologiekritischen Studien zur Werbung und zu anderen Medien bestimmt Barthes die Rhetorik als das semiotische Gegenstück von Mythos und Ideologie. Barthes (1957, 259) definiert die Rhetorik hier als „eine Gesamtheit festgelegter, geregelter, insistierender Figuren“ und untersucht die Rhetorik der Rechten, in deren Diskussion er u. a. Figuren wie die Tautologie („Etwas ist so, weil es so ist“) oder die Figur des WederNoch feststellt. In seinem System der Mode ist das rhetorische System eine Analyseebene, die er im Sinne der Semiotik von Louis Hjelmslev wie folgt beschreibt: Der rhetorische Signifikant ist die Phraseologie, mit deren Hilfe Modejournale überzeugen wollen; das rhetorische Signifikat ist die „Ideologie der Mode“. Barthes definiert diese ideologischen Signifikanten als Konnotatoren und nennt die Gesamtheit der Konnotatoren eine Rhetorik. Somit erscheint die Rhetorik als die Ausdrucksebene der Ideologie (Barthes 1964a; 1964b; 1967).
6. Syntax des Stils Dass es eine Syntax der Stile und syntaktische Stile gibt, ist aus der Praxis der Stilistik bekannt. Hier geht es etwa um den Unterschied zwischen einfachen und komplexen oder langen und kurzen Sätzen, zwischen dem hypotaktischem Stil der Schachtelsätze und dem parataktischen Stil des „Telegrammstils“ (Hervey 1982, 221⫺227). Der Stil der sprachlichen Syntax ist weitgehend für das verantwortlich, was die traditionelle Rhetorik als Klarheit des Stil (claritas) definiert hat (Göttert/Jungen 2004, 128⫺131). Zur Syntax
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil des Stils im weiteren Sinn gehört auch das System der rhetorischen Figuren (s. 2.5), insofern es von der Anordnung sprachlicher Zeichen im Text handelt. Ein syntaktisches Modell des Stils war eine Zeit lang eines der Forschungsziele der Generativen Grammatik. Stilistische Merkmale waren danach textuelle Oberflächenstrukturen, die durch ein komplexes System syntaktischer Transformationen aus einer stilistisch neutralen Tiefenstruktur erzeugt werden sollten. Die syntaktische Dimension der Texte ist auch die Grundlage von Riffaterres kontextueller Stiltheorie, da für ihn stilistische Erwartungen und Überraschungen durch das kontextuelle Nebeneinander der Zeichen bestimmt sind. Ein großes stilistisches Potential liegt in der Syntax der Schriftzeichen, die anders als in der gesprochenen Sprache nicht nur linear, sondern räumlich angeordnet sind. In den Experimenten mit dem Schriftbild der immer gleichen Botschaften in der Werbung, in den Anordnungen der Schrift in den Comics, aber auch schon im Druckbild einer jeden Tageszeitung zeigen sich spezifische typographische Stile, deren Untersuchung zum syntaktischen Zweig der Graphostilistik gehören (Pfeiffer-Rupp 1984). Zur Syntax der Stile gehören aus der Sicht der Kultursemiotik auch die Stile der Kombination von Bildelementen zu Bildern, von Texten mit Bildern, Sprache mit Musik, von Speisen zu Menüs oder Kleidungsstücken in der Mode (vgl. Shapiro 1983, 210).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Riffaterre, Michael (1971): Essais de stylistique structurale. Paris. Sandig, Barbara (1978): Stilistik: Sprachpragmatische Grundlegung. Berlin. Saussure, Ferdinand de (1916): Cours de linguistique ge´ne´rale. 15. Aufl. Paris 1969. ⫺ Dt. (1931): Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Übers. v. H. Lommel. Berlin 1967. Schreckenberger, Waldemar (1978): Rhetorische Semiotik. Freiburg. Schuh, Hans-Manfred (1982): Aspekte semiotischer Stilbeschreibung. In: Kodikas/Code 4/5, 21⫺37. Shapiro, Michael (1983): The Sense of Grammar. Bloomington. Spillner, Bernd (1982): Stilanalyse semiotisch komplexer Texte. In: Kodikas/Code 4/5, 91⫺106. Spillner, Bernd (1995): Stilsemiotik. In: Gerhard Stickel (Hrsg.): Stilfragen. Berlin, 62⫺93. Todorov, Tzvetan (1967): Litte´rature et signification. Paris. Todorov, Tzvetan (1970): Les e´tudes du style. In: Poe´tique 1, 224⫺32. Uspenskij, Boris A. (1968): Les proble`mes se´miotiques du style a` la lumie`re de la linguistique. In: Information sur les sciences sociales 7.1, 123⫺140. Wülfing, Peter (1995): Antike und moderne Redegestik. In: Gerhard Binder/Konrad Ehlich (Hrsg.): Kommunikation durch Zeichen und Wort. Trier, 71⫺90.
Winfried Nöth, Kassel (Deutschland)
71. Stil und Bedeutung 1. 2. 3. 4.
Bedeutung in sprachwissenschaftlicher Perspektive Bedeutung und Stil als flächige Phänomene Stilanalyse als Bedeutungsanalyse Literatur (in Auswahl)
Abstract There has been a tradition in contemporary linguistics to focus on words when dealing with questions of meaning. However, when analyzing texts, this focus is misleading, as the meaning of a text is not the result of a mere addition of its single constituents. We perceive texts as semantic units which have a meaning that is greater than the sum of its parts, as the meaning of these parts depend on the linguistic surroundings of the words as well as on the complex relations between words, their referents and the knowledge and intentions of the author and the reader. In structural linguistics, style is often considered to be a mere external addition to the meaning of a text, not as a factor which constitutes meaning. In recent years, various approaches in linguistics have tried to overcome this all too narrow view, by using cognitive categories in semantic analysis. The article discusses the tradition of (text) semantics in linguistics, then describes some of the specific ways of how style contributes to meaning, and ends by presenting an example of a text analysis.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Riffaterre, Michael (1971): Essais de stylistique structurale. Paris. Sandig, Barbara (1978): Stilistik: Sprachpragmatische Grundlegung. Berlin. Saussure, Ferdinand de (1916): Cours de linguistique ge´ne´rale. 15. Aufl. Paris 1969. ⫺ Dt. (1931): Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Übers. v. H. Lommel. Berlin 1967. Schreckenberger, Waldemar (1978): Rhetorische Semiotik. Freiburg. Schuh, Hans-Manfred (1982): Aspekte semiotischer Stilbeschreibung. In: Kodikas/Code 4/5, 21⫺37. Shapiro, Michael (1983): The Sense of Grammar. Bloomington. Spillner, Bernd (1982): Stilanalyse semiotisch komplexer Texte. In: Kodikas/Code 4/5, 91⫺106. Spillner, Bernd (1995): Stilsemiotik. In: Gerhard Stickel (Hrsg.): Stilfragen. Berlin, 62⫺93. Todorov, Tzvetan (1967): Litte´rature et signification. Paris. Todorov, Tzvetan (1970): Les e´tudes du style. In: Poe´tique 1, 224⫺32. Uspenskij, Boris A. (1968): Les proble`mes se´miotiques du style a` la lumie`re de la linguistique. In: Information sur les sciences sociales 7.1, 123⫺140. Wülfing, Peter (1995): Antike und moderne Redegestik. In: Gerhard Binder/Konrad Ehlich (Hrsg.): Kommunikation durch Zeichen und Wort. Trier, 71⫺90.
Winfried Nöth, Kassel (Deutschland)
71. Stil und Bedeutung 1. 2. 3. 4.
Bedeutung in sprachwissenschaftlicher Perspektive Bedeutung und Stil als flächige Phänomene Stilanalyse als Bedeutungsanalyse Literatur (in Auswahl)
Abstract There has been a tradition in contemporary linguistics to focus on words when dealing with questions of meaning. However, when analyzing texts, this focus is misleading, as the meaning of a text is not the result of a mere addition of its single constituents. We perceive texts as semantic units which have a meaning that is greater than the sum of its parts, as the meaning of these parts depend on the linguistic surroundings of the words as well as on the complex relations between words, their referents and the knowledge and intentions of the author and the reader. In structural linguistics, style is often considered to be a mere external addition to the meaning of a text, not as a factor which constitutes meaning. In recent years, various approaches in linguistics have tried to overcome this all too narrow view, by using cognitive categories in semantic analysis. The article discusses the tradition of (text) semantics in linguistics, then describes some of the specific ways of how style contributes to meaning, and ends by presenting an example of a text analysis.
71. Stil und Bedeutung
1. Bedeutung in sprachwissenschatlicher Perspektive Die Kategorien Stil und Bedeutung aufeinander zu beziehen, ist keine Selbstverständlichkeit. Jedenfalls nicht dann, wenn Stil als konstitutiv für die Bildung von Bedeutung betrachtet wird, wie es hier der Fall ist. Traditionell wird Bedeutung in der Sprachwissenschaft distinkten sprachlichen Einheiten zugesprochen, in klassischer Weise dem Wort. ,Klassisch‘ meint, dass in der Geschichte der Sprachwissenschaft immer wieder das einzelne Wort Bezugspunkt der Reflexion über Fragen der Bedeutung war, von den Überlegungen Platons und Aristoteles’ zum Verhältnis von Arbitrarität und Motiviertheit bis zum Zeichenbegriff Ferdinand de Saussures und darüber hinaus. Das ist zunächst plausibel und legitim, da das Reden über Bedeutung immer auch ein Nachdenken über das Verhältnis zwischen Wörtern und bezeichneten Gegenständen einschließt, seien diese als ontisch vorgegeben oder als Resultate kognitiver Konstruktionen verstanden: ,Wörter stehen für Dinge‘, so lautet die Formel, oder sind ,Ausdruck mentaler Konstruktionen von Wirklichkeit‘. Wer über das Verhältnis von Sprache und Welt nachdenkt (und damit über Bedeutung), stößt daher zunächst auf das Wort. Diese Orientierung am einzelnen Wort als dem Träger von Bedeutung bedeutet nicht, dass sich die Sprachwissenschaft nicht der Bedeutungsqualität größerer und kleinerer sprachlicher Einheiten bewusst war und ist. Dass auch Morphemen Bedeutung zuerkannt wird, ganzen Sätzen bzw. Äußerungen oder Propositionen und schließlich Texten, ist eine Selbstverständlichkeit. Dabei ist aber keineswegs die Annahme zwingend, dass die Bedeutungen der über das Wort hinausgehenden Einheiten quasi additiv aus den jeweils kleineren Einheiten aufgebaut werden, die Satzbedeutungen also aus den Bedeutungen der Wörter, die Textbedeutungen aus denen der Sätze. Dennoch hatte vor allem die konsequent systemlinguistische Sicht auf Sprache eben das zur Folge. In etlichen einführenden und damit auch die Lehre prägenden Darstellungen und in Lexika der Sprachwissenschaft finden sich insbesondere seit den späten sechziger Jahren Formulierungen dieser Art (Ulrich 1972, s. v. Bedeutung): „B. [d. h. Bedeutung, A. G.] des Wortes enthält der Lexikoneintrag eines Lexems, B[edeutung] des Satzes ergibt sich aus den B[edeutungen] seiner Konstituenten (Lexeme) zuzüglich der semantischen Interpretation ihrer syntaktischen Beziehungen“. Die prototypischen Fälle, die hinter einer solchen Bestimmung stehen, dürften Sätze wie diese sein: Die Katze ist grau vs. Die Katze ist schwarz (Relevanz der lexikalischen Bedeutung) und Die Katze ist grau vs. Die Katzen sind grau (Relevanz der grammatischen Bedeutung). Bei der Beschreibung der Bedeutungen sprachlicher Einheiten entsprach dieser Sicht auf Sprache vor allem die Merkmalsanalyse. Was die Merkmalsanalyse sehr gut zu leisten vermochte ⫺ effizientes Werkzeug eines ersten, gliedernden Zugriffs auf das Bedeutungspotential eines Ausdrucks zu sein ⫺ wurde von der unausgesprochenen Annahme überlagert, am Ende einer Analyse die präzise Beschreibung der Bedeutung des Ausdrucks zu besitzen. Die vermeintliche Eindeutigkeit der Alternative von An- oder Abwesenheit einzelner Seme suggerierte, dass die Entscheidung über die Bedeutung eines Ausdrucks auf der Ebene seines isolierten Vorkommens getroffen werden könne, so, als sei seine langue-Bedeutung auch seine Textbedeutung. Natürlich wurde und wird zwischen der Systembedeutung und der Äußerungsbedeutung unterschieden, Letztere aber wird nicht selten als exakt definiertes Element aus einem festen Satz von Bedeutungsmöglichkeiten begriffen. Gefragt wird also z. B. danach, ob bei dem Vorkommen des Wortes Schloss in
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil einem Text die Bedeutung A (,Mechanismus zur Verriegelung‘) oder aber B (,palastartiges Gebäude‘) relevant ist, und insofern wird dem Kontext des einzelnen Ausdrucks durchaus Einfluss auf sein angemessenes Verstehen und auch auf die Gesamtbedeutung eines Textes zuerkannt. Ist die Entscheidung zwischen Bedeutung A und Bedeutung B aber einmal gefallen, scheint der Kontext keine Rolle mehr zu spielen. Dass jedoch unterschiedliche Bedeutungen in sich gar nicht so definitiv abgeschlossen, sondern durch die sprachliche Umgebung beeinflusst sein mögen, dass beim Leser durch das textsemantische Zusammenspiel verschiedener Ausdrücke ein ganz bestimmter Eindruck vom ,Tenor‘, ,Duktus‘, ,Ton‘ eines Textes entstehen könnte, der für ihn wichtiger Teil seiner Bedeutung ist, kann mit dieser reduktionistischen Bedeutungsauffassung nicht erklärt werden. Die Vorstellung von der präzise benennbaren, in sich ruhenden Wortbedeutung hat ihr Pendant auf der Ebene des Satzes. Was dagegen semantisch zwischen den Sätzen geschieht, kommt zum einen zwar durch ihre Binnenstrukturen zustande, vollzieht sich zum anderen aber auch im Zusammenwirken dieser Binnenstrukturen mit den transphrastischen Konstituenten des Textes. Peter von Polenz’ Deutsche Satzsemantik ist ein Pionierbeispiel für den Versuch, diese semantische Grauzone auszuloten, und der Untertitel seines Buches ist nach wie vor treffend: Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. Man könnte vermuten, das Problem der Definitheit bzw. Offenheit von Bedeutung damit lösen zu können, dass man in der oben angedeuteten Weise zwischen Bedeutung und Sinn unterscheidet, wobei Bedeutung dem Zeichen als solchem zugesprochen wird, der Sinn dagegen ins Pragmatische verlegt, also von der aktuellen Handlungsabsicht des Sprechenden/Schreibenden abhängig gemacht wird. Mit dieser gängigen Unterscheidung geht meist die Überzeugung einher, dass die Sprachwissenschaft für den Sinn nicht zuständig sei, weil der sich von Text zu Text ändere, die linguistische Beschreibung jedoch auf das Musterhafte zugrundeliegender Strukturen ziele. Natürlich ist der je individuelle Sinn eines Textes kein Gegenstand der Sprachwissenschaft, aber die Art und Weise seines Zustandekommens ist es sehr wohl. Denn das semantische Zusammenwirken der sprachlichen Konstituenten im Text ist keineswegs dem Zufall oder dem immer wieder neuen, rein individuellen Wollen des Autors überlassen, sondern folgt Mustern, die sich mit dem entsprechenden analytischen Instrumentarium erfassen lassen. Eben das belegt ein Blick in Bücher wie die Deutsche Satzsemantik und eine Reihe neuerer Publikationen (zum Methodischen s. u. 3). Es wäre ein Irrtum anzunehmen, das Problem eines reduktionistischen Bedeutungsbegriffs ließe sich in den Griff bekommen, indem die rein systembezogene Perspektive durch eine pragmatische erweitert würde. Sprechen und Schreiben als eine Form menschlichen Handelns in der Welt zu begreifen bedeutet nicht automatisch, die Spezifik der Bedeutungsbildung in Texten angemessener zu beschreiben. Ob man die Bedeutung der Konstituenten eines Textes (und als Folge des Textes insgesamt) deshalb für definit hält, weil man ihren Stellenwert im Sprachsystem genau zu kennen glaubt und diesen Stellenwert dann auf den Text überträgt, oder deshalb, weil man sie vor dem Hintergrund von Gebrauchstheorien der Bedeutung in der Tradition Wittgensteins für kommunikativ mehr oder weniger fest eingespielt hält, ändert nicht notwendigerweise etwas am Ergebnis der semantischen Beschreibung. Das Problem liegt eher in der erwähnten Orientierung der Linguistik am Musterhaften sprachlicher Strukturen, am Typischen, Kategorialen, eine Orientierung, die das Individuelle lediglich in seinem Beitrag zur Konstitutie-
71. Stil und Bedeutung rung des Musters wahrnimmt, nicht jedoch in seiner ganz eigenen Individualität. Um das individuelle sprachliche Phänomen überhaupt als musterbildend wahrnehmen zu können, wird häufig das schwer Einzuordnende des Phänomens, das allzu Individuelle an ihm, ausgeblendet. Dieses Vorgehen, das letztlich von einem homogenen Begriff vom Sprachsystem geleitet ist, kann den Blick auf die sprachlichen Realitäten verstellen. Die moderne Soziolinguistik etwa konnte zu ihren Forschungsergebnissen überhaupt nur gelangen, weil sie vom (standardsprachlichen) System abweichende Sprachformen nicht lediglich als individuelle Abweichungen betrachtete, sondern nach einer bislang unbekannten Systematik innerhalb dieser Abweichungen suchte. Ähnlich ist die Sprachwissenschaft ⫺ nicht nur in der Teildisziplin Textlinguistik, auch in Teilen der Lexikologie und der Syntax ⫺ aufgefordert, die Mechanismen der Bedeutungsbildung in Texten in einer Weise in den Blick zu nehmen, die der sprachlichen Realität gerecht wird. Wir nehmen Texte semantisch nun einmal nicht als additiv gebildete Summe von Wörtern und Sätzen wahr. Der hier als reduktionistisch bezeichnete Bedeutungsbegriff steht in einem eigentümlichen Gegensatz zu bestimmten sprach- und erkenntnistheoretischen Ansätzen. Es handelt sich um all jene Ansätze, die Bedeutung nicht über den Verweis sprachlicher Zeichen auf eine außersprachliche Wirklichkeit bestimmen, sondern als Resultat kognitiver Konstruktionen. Konstruktivistische Theorien gibt es in unterschiedlicher Ausprägung seit dem 18. Jahrhundert, massiv seit der romantischen Kritik am rationalistischen Erkenntnisoptimismus der Aufklärungszeit. Allen ist gemeinsam, dass sie der Sprache ein erkenntnistheoretisches Apriori zuerkennen, Sprache als ganz entscheidend für die Wahrnehmung und intellektuelle Verarbeitung der Wirklichkeit betrachten. Die Gegenposition dazu, der erkenntnistheoretische Realismus, der eine in jeder Hinsicht sprachunabhängig erkennbare Wirklichkeit und eine sich auf diese erkannte Wirklichkeit post festum beziehende Sprache annimmt, ist im großen Umfang wohl zuletzt auf der Basis der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie formuliert worden (ein prägnantes Beispiel bietet Kade 1971). Aktuell begegnen konstruktivistische Positionen in besonderer, vielleicht zu weitgehender Zuspitzung im Radikalen Konstruktivismus, wonach Referenz lediglich auf die „Innenansichten“ (Rusch 1985, 99) der Sprecher, nicht auf eine außersprachliche Wirklichkeit möglich ist (vgl. auch Maturana 1982, 73). Im Bereich der Texttheorie entspricht dieser Position das Leugnen der Möglichkeit, die Bedeutung von Texten objektiv bestimmen zu können. Am prägnantesten wurde diese Skepsis gegenüber interpretatorischer Objektivität vielleicht von Jacques Derrida formuliert, in seiner Kritik an der Annahme eines verbindlich beschreibbaren Sinnzentrums im Text (1992, 424): Infolgedessen mußte man sich wohl eingestehen, daß es kein Zentrum gibt, daß das Zentrum nicht in der Gestalt eines Anwesenden gedacht werden kann, daß es keinen natürlichen Ort besitzt, daß es kein fester Ort ist, sondern eine Funktion, eine Art von Nicht-Ort, worin sich ein unendlicher Austausch von Zeichen abspielt. Mit diesem Augenblick bemächtigt sich die Sprache des universellen Problemfeldes. Es ist dies auch der Augenblick, da infolge der Abwesenheit eines Zentrums oder eines Ursprungs alles zum Diskurs wird ⫺ vorausgesetzt, man kann sich über dieses Wort verständigen ⫺, das heißt zum System, in dem das zentrale, originäre oder transzendentale Signifikat niemals absolut, außerhalb eines Systems von Differenzen, präsent ist. Die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.“
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
Damit wird im Grunde der Saussuresche Gedanke der valeur, wonach die Wörter einer Sprache ihre Bedeutungen ex negativo, in Abgrenzung von den Bedeutungen anderer Wörter erhalten, aufgegriffen und auf den Text übertragen. Selbst wenn in der Texttheorie die sehr weitgehende Annahme Derridas von einem unendlichen „Spiel des Bezeichnens“ nicht überall geteilt wird, wird ein Text von Theoretikern nur selten in ein festes semantisches Gefüge eingebunden, das aus den Eckpunkten Autor, Leser und Welt besteht, jedenfalls nicht in der Weise, dass man die Bezüge zwischen dem Text und diesen Eckpunkten als eindeutig beschreibt (ein Text spiegelt verlässlich die Realität, ist verbindlicher Ausdruck der Intention seines Verfassers und ist eindeutig an einen Rezipienten gerichtet). Das bestätigt ein Blick in Arbeiten von zahlreichen Hermeneutikern und Literaturwissenschaftlern (stellvertretend für viele: Hans-Georg Gadamer: „[…] immer übertrifft der Sinn eines Textes seinen Autor“ [1986, 301] und Gottfried Gabriel [1991, 154]: „Dichtung bezieht sich nämlich nicht direkt (referentiell) auf Wirklichkeit, sondern nur indirekt (exemplarisch)“ usw.). Für die aktuelle Theoriebildung am folgenreichsten ist die Darstellung dieser Zusammenhänge durch Michel Foucault. Seine Auflösung vermeintlich fixer Kategorien wie Text, Werk, Autor, Epoche in den sich stets in Bewegung befindlichen Diskurs hinein, das radikale Infragestellen sicher geglaubter kausaler und teleologischer Zusammenhänge bei der Analyse dieser Kategorien, wie sie etwa die Archäologie des Wissens bietet (1981), haben ihn zum festen Bezugspunkt konstruktivistischer Ansätze in unterschiedlichen Disziplinen gemacht. Was die Sprachwissenschaft betrifft, so ist sie als Disziplin zwar insgesamt in ein sprach- und erkenntnistheoretisches Umfeld eingebettet, das konstruktivistische Züge trägt, jedoch begegnen in ihr immer auch theoretische Beschreibungen und Praktiken des Arbeitens, die eher ein realistisches, objektivistisches Bedeutungskonzept vermuten lassen. Zum Teil hängt das sicher damit zusammen, dass die Texte, mit denen sich die Sprachwissenschaft befasst, meist Gebrauchstexte sind, also Texte, die in der Regel genau definierbaren lebenspraktischen Zwecken dienen. In prototypischer Weise trifft das etwa auf Fachtexte zu, und die linguistische Beschäftigung mit ihnen ist dementsprechend ausgerichtet: Eine Äußerung in einem Fachtext soll „Resultat objektiver Gegebenheiten“ sein (Panther 1981, 248), das fachgebundene Denken ist auf das „Ding als solches“ (Jahr 1993, 43) gerichtet, die Sprache von Fachtexten soll „möglichst […] eindeutige Informationsübertragung“ (Hahn 1980, 390) garantieren, soll sich durch „Eindeutigkeit, Bestimmtheit und Genauigkeit“ (Schippan 1987, 245) auszeichnen. Umgekehrt wird nicht verwundern, dass sich Theoretiker, die Elemente konstruktivistischen Denkens in ihre Überlegungen aufgenommen haben, häufig auf Texte beziehen, die weniger einer alltagspraktischen Verwendung unterliegen, sprachlich oft komplex sind und zudem den individuellen Gestaltungswillen ihres Verfassers erkennen lassen. In der Tradition der Hermeneutik sind dies vorwiegend philosophische und literarische Texte (die juristische Hermeneutik und die theologische Exegese sollen hier unberücksichtigt bleiben), später dann dominieren Letztere. Interessant ist aber, dass auch in Bezug auf solche Texte immer wieder die Rede davon ist, die ⫺ d. h. die eine ⫺ Bedeutung des Textes im Vorgang der Rezeption zu erschließen. Der bereits erwähnte Hans-Georg Gadamer etwa nennt Kriterien für die „Richtigkeit des Verstehens“ (1959, 57) und fordert dazu auf, „sich wahrhaft anzueignen, was in dem Text gesagt ist“ (1986, 392). Damit wird sowohl dem Text eine feste Bedeutung zugesprochen (was in ihm gesagt ist) als auch die Möglichkeit eines richtigen, erschöpfenden Verstehens angedeutet (wahrhaft aneignen). Selbst die Rezeptionsästhetik der siebziger Jahre, die so großen Wert auf die bedeu-
71. Stil und Bedeutung
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tungsschaffende Aktivität des Lesers legte, zeigte solche Reflexe (man lese Wolfgang Isers Analyse des Ulysses von 1972, in der der Text ganz traditionell als unmittelbarer Niederschlag kommunikativer Intentionen seines Autors James Joyce beschrieben wird). Auch der in anderen Arbeiten konsequent konstruktivistisch argumentierende Siegfried J. Schmidt sieht das Verstehen von Texten festgelegt durch im Text angelegte „Instruktionen“ an den Verstehenden, „bestimmte Interpretationen“ vorzunehmen (1976, 75 f.). Die Neigung, Texte auf ganz bestimmte Bedeutungen festzulegen, hat sämtliche konstruktivistischen Ansätze überlebt und findet sich auch in der Gegenwart. Ein Blick in literaturwissenschaftliche Interpretationen ⫺ deren Verfasser in ihrer theoretischen Positionierung jedem Objektivismus abschwören würden ⫺ belegt es sofort. Auch die Rückbindung des Textes an den Autor, also seine Sicht als unmittelbarer Niederschlag der Intentionen des Autors, begegnet immer wieder, trotz aller Warnungen vor der intentional fallacy (Beardsley/Wimsatt 2000). Diese Rückbindung ist in der Sprachwissenschaft noch ausgeprägter, da im Zuge des pragmatischen Handlungsgedankens alles Sprechen und Schreiben als Ausdruck einer kommunikativen Intention begriffen wird: Texte (umso mehr Gebrauchstexte) sind sprachliche Größen, mittels derer sich jemand an einen anderen wendet. Wird nach ihrer Bedeutung gefragt, ist der Autor die erste Instanz, die Frage zu beantworten, er muss schließlich wissen, was er in seinem Text hat sagen wollen. Die Frage nach der Bedeutung eines Textes wird durch den Rekurs auf den Autor geklärt. Dass trotz konstruktivistischer Theorie die Praxis des semantischen Umgangs mit Texten zu großen Teilen realistisch ist, kann aber im Grunde nicht überraschen. Letztlich ist es ein Ausdruck dessen, was Hans Hörmann den Sog nach Sinn nennt (Hörmann 1976): des nicht hintergehbaren Dranges, die Welt über Texte erklärbar zu machen und uns in ihr zu verorten. Wir begegnen Texten mit einem Vertrauensvorschuss, gestehen ihnen, bis zum Beweis des Gegenteils, zunächst einmal zu, dass sie sinnvoll sind. Die Hermeneutik spricht hier von hermeneutischer Billigkeit (aequitas hermeneutica), an anderer Stelle ist vom Wohlwollensprinzip bzw. principle of charity die Rede (aus der Perspektive der Philosophie: Davidson 1984). Unsere gesamte Erfahrung zeigt uns zudem, dass wir Texten ⫺ Fachtexten, Gebrauchsanweisungen, Zeitungsartikeln usw. ⫺ durchaus eindeutige Bedeutungen zuschreiben können und damit unseren Alltag gut bewältigen können. Im Gegenteil hätten wir wohl eher dann Probleme, wenn wir unsere Bedeutungszuweisungen permanent relativieren würden. Das ändert nichts daran, dass es für die theoretische Beschreibung so etwas wie objektive, eigentliche Bedeutungen von Texten nicht geben kann, die Kritik am „Fetisch des Klartexts“ (Bolz 2000, 97) ist von ihrer theoretischen Begründung her stimmig. In semantischen Fragen verliert sich jede Objektivität und Eigentlichkeit in der Komplexität der Relationen zwischen den Konstituenten des Textes und seinen Bezügen zu Autor und Leser. Allerdings, das sei hinzugefügt, ist die Betonung der Unmöglichkeit objektiver Bedeutung und ihres analysierenden Nachvollzugs in einschlägigen Arbeiten nicht selten überzogen. Häufig lässt sie außer Acht, dass nur die wenigsten der über einen Text getroffenen Aussagen überhaupt strittig diskutiert werden und dass die Hervorhebung des grundsätzlichen Konstruiertseins von Bedeutung keineswegs die Annahme beinhaltet, an Stelle einer bestimmten Aussage über die Bedeutung eines Textes könne ebenso gut auch jede andere getroffen werden. Zwar ist es richtig, dass alle Feststellungen zur Bedeutung in dem Sinne ,beliebig‘ sind, als sie auf (im Prinzip veränderbaren) Konventionen beruhen, doch sind sie in einem anderen Sinne keineswegs beliebig, ebenso wenig, wie es in unser Belieben gestellt ist, zu einem
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Tisch im Deutschen etwas anderes als Tisch zu sagen, etwas wie Stuhl oder Bank. Einmal etabliert, gewinnen solche Kategorien ontischen und damit objektiven Charakter und sind nicht mit dem Hinweis auf die ,Konstruktion jeder Bedeutung‘ aus der Welt zu schaffen. Schon deshalb ist im praktischen Umgang mit Texten der Reflex einer objektivistisch-realistischen Bedeutungserschließung Teil und sogar Voraussetzung der Bewältigung des Alltags. Weniger dieser objektivistisch-realistische Reflex ist also das Problem ⫺ jedenfalls dann nicht, wenn der Verstehende grundsätzlich bereit ist, sein Urteil über den Text gegebenenfalls zu revidieren ⫺, sondern die Annahme, die Bedeutung auf eine eher mechanistische Weise erschließen zu können, durch so etwas wie das Aufaddieren von Wortund Satzbedeutungen. Stil wird dabei meist nicht als bedeutungskonstitutiv wahrgenommen, gilt als eine für die semantische Substanz des Textes irrelevante Größe. Tatsächlich aber konstituiert sich Bedeutung auch durch Stil, was aber nur dann deutlich wird, wenn sie nicht nur punktuell an isolierte Elemente des Textes geknüpft wird.
2. Bedeutung und Stil als lächige Phänomene Bedeutung in Texten ist ein flächiges Phänomen, das hat sie mit Stil gemein. Sie entsteht ⫺ was hier immer zu lesen ist im Sinne von: wird vom Leser gebildet ⫺ natürlich ganz entscheidend durch die punktuelle Präsenz einzelner Wörter und Aussagen (zum Konzept der flächigen und punktuellen Bedeutungsbildung s. 3.2). Aber sie entsteht auch zwischen den Wörtern und Aussagen, durch die Art und Weise ihrer Kombination. Manfred Frank spricht vom Wort als einer bloßen „Zeichenhülse“ (1980, 154), als die es im Text zunächst anwesend ist. Ihre semantische Füllung durch den Leser geschieht vor dem Hintergrund des Wissens um die Systembedeutung des Wortes und durch das intuitive In-Bezug-Setzen des Wortes zu seiner sprachlichen Umgebung. Dabei gilt, dass alles an einem Text potentiell bedeutungstragend ist, seine lexikalischen Elemente, seine grammatischen Formen und alle Gestaltungsmittel, die Elemente und Formen in Beziehung zueinander setzen, einschließlich der Strukturen des Textes als ganzem, d. h. seines Aufbaus, der argumentativen Verknüpfung seiner Segmente usw. In ihrem Ensemble bilden diese Größen den Stil des Textes. Da sich die Semantik zu großen Teilen zunächst auf das Wort bezieht, bleibt die textsemantische Dimension vor allem der grammatischen Formen oft unberücksichtigt. Dass aber die Verwendung bestimmter morphologischer und syntaktischer Formen z. B. in einem literarischen Text zur Charakterisierung der Befindlichkeit einer Person dienen kann, ist offensichtlich, und Entsprechendes gilt potentiell für alle grammatischen Kategorien (zu den Bezügen zwischen Grammatik und Semantik, auch unter dem Gesichtspunkt des Textverstehens, s. Köller 1988 u. 2004). Was hier als In-Beziehung-Setzen der einzelnen Konstituenten eines Texts bezeichnet wurde, geschieht, wie eingangs angedeutet, nicht in jedem Text auf eine immer neue Weise. Natürlich sind keine zwei Texte identisch, sodass auch ihre textinternen Relationen nicht identisch sind. Allerdings lassen sich bei der semantischen Gestaltung von Texten Muster erkennen, die vor allem von der Textlinguistik, der modernen Stilistik und traditionell auch von der Rhetorik untersucht wurden (zum Konzept des Musters vgl. im vorliegenden Handbuch Ulla Fix: Muster und Abweichung in Rhetorik und Stilistik). Daneben befassen sich noch eine Reihe anderer Disziplinen bzw. Teildisziplinen mit
71. Stil und Bedeutung
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solchen Fragen, darunter die linguistische Diskursanalyse (zu den einzelnen Verfahren s. u. 3). Die Wahrnehmung der semantisch relevanten Textmuster ⫺ genauer: ihr Wiedererkennen ⫺ und die Wahrnehmung der individuellen Abweichung vom Muster im aktuell vorliegenden Text vollzieht sich, wie erwähnt, zunächst intuitiv. Die individuelle Abweichung lässt sich mit der gestaltpsychologischen Kategorie von Figur und Grund beschreiben: Vor einem einheitlichen Hintergrund, dem Grund, hebt sich „eine ,ins Auge springende‘ Gestalt“ erkennbar ab (Städtler 1998, 330). Die Analyse jedoch kann und muss diesen Vorgang bewusst nachvollziehen. Dabei wird sie notwendigerweise weit über die Angabe etwa einer Reihe semantischer Merkmale bei der Beschreibung der Bedeutung einzelner Wörter hinausgehen und mit Kategorien wie Präsuppositionen, Implikaturen, Frames, Schemata, Stereotype, Kollektivsymbolen usw. operieren. Den Kategorien ist gemein, dass sie eine kognitive Dimension besitzen, sich auf komplexe Wissenseinheiten der Sprachbenutzer beziehen. Bei der Analyse der Bedeutung geht es um die Frage, welche Wissensbestände durch die Konstituenten des Textes jeweils aufgerufen werden. Texte reihen keine Einzelbedeutungen aneinander, sondern evozieren komplexe Bilder der Realität, und der Nachvollzug dieses Vorgangs ist Aufgabe der sprachwissenschaftlichen Beschreibung (zur Perspektive der Psychologie in dieser Frage vgl. Christmann/ Groeben 1999). Ein Frame etwa ist „eine mehr oder weniger stabile mentale Struktur, die durch ein jeweils thematisches Konzept bestimmt ist“ (Konerding 2009, 96; dazu auch Ziem 2008). Es beinhaltet kollektives Wissen zum jeweiligen Thema und leitet das Verständnis von Texten insofern, als die in einem betreffenden Frame enthaltenen Wissenselemente durch einen Textausdruck in ihrer Gesamtheit evoziert werden. Damit beeinflussen sie wiederum das Verstehen anderer Konstituenten des Textes und so des Textes insgesamt. Neuere Ansätze in der Sprachwissenschaft, die Analysen in diesem Sinne durchführen, zielen nicht auf isolierte Bedeutungen von Textkonstituenten, sondern auf hinter den Texten stehende „epistemische Tiefenströmungen“ (Busse 2003, 177), auf „Denkfiguren“, „Denkstile“ (Knobloch 1992), „Denkschemata“ (Warnke 2002, 132), „Denkmuster“ (Kämper 2005, 236), „Denk- und Wollensgewohnheiten“ (Wengeler 2003, 65), schließlich sogar auf „Mentalitäten“, verstanden als „Gesamtheit der Denkgewohnheiten und Überzeugungen, die das Denken einer sozialen Gruppe bestimmen und die allen Mitgliedern der Gruppe gemeinsam sind“ (Hermanns 1995, 74). Die einzelnen Konstituenten des Textes werden in diese übergeordneten Zusammenhänge eingebettet und lassen sich erst vor ihrem Hintergrund angemessen verstehen. In der Begrifflichkeit der Wissenssoziologie würde man von der „Wirklichkeit der Alltagswelt“ (Berger/Luckmann 1977) sprechen, als deren Ausdruck Texte verstanden werden.
3. Stilanalyse als Bedeutungsanalyse 3.1. Methoden Die Auffassung von Stil und Bedeutung von Texten als flächigen Phänomenen, verbunden mit ihrer Sicht als Niederschlag der sprachlichen Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit bedeutet, dass sich die Textanalyse besonderer Methoden bedienen muss.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Wenn Texte Bilder der Realität entwerfen und die Analyse das Zustandekommen dieser Bilder durch die Betrachtung der Sprache nachvollziehen will, dann kommen nur Methoden in Betracht, die den komplexen innertextuellen semantischen Bezügen und der kognitiven Dimension der Bedeutungsbildung gerecht werden. Dabei kann der Ausgangspunkt durchaus beim einzelnen Begriff liegen. Verfahren der Begriffsanalyse sind in den Geisteswissenschaften spätestens seit den Geschichtlichen Grundbegriffen von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck geläufig. In den Sprachwissenschaften finden sich neuere Arbeiten, die Analysen von Lexemen und Lexemgruppen im oben erwähnten Sinne durchführen (z. B. Bär 1999; Böke 1997; Faulstich 2009; Lobenstein-Reichmann 1998 u. 2008; Müller 2007; Odenwald-Varga 2009; Stukenbrock 2005; weitere Arbeiten s. Bibliographie). Dabei können sie auf traditionelle Kategorien der lexikalischen Semantik zurückgreifen, etwa die des Wortfeldes, das, auf den Text angewandt, dem flächigen Charakter der Bedeutungsbildung entspricht, auch des Bildfeldes, wie es bereits 1976 von Harald Weinrich definiert wurde (dass daneben die sprachliche Variation erfasst wird, die sich in Neologismen, Archaismen, Vulgarismen, Regionalismen, Fachwörtern usw. zeigt, ist selbstverständlich). Zugleich können die Autoren über diese gängigen Kategorien hinausgreifen, indem sie z. B. Metaphernanalysen betreiben oder mit Kategorien wie Schlüsselwörtern, Schlagwörtern/Fahnenwörtern/Hochwertwörtern/Stigmawörtern (zu den Begriffen vgl. z. B. Fix/Poethe/Yos 2003; Klein 1989) usw. arbeiten, gelegentlich erweitert um das Konzept der deontischen Bedeutung (dazu Hermanns 1989 u. 1994). Jenseits des einzelnen Ausdrucks werden in den genannten und anderen Untersuchungen Elemente wie Topoi und Argumentationsformen analysiert (oft auf der Basis von Kienpointner 1983), Präsuppositionen und Implikaturen, Frames usw. Mit zunehmender Häufigkeit wird dabei der Anschluss an das Konzept des Diskurses gesucht, wie es von Michel Foucault entwickelt wurde. Dabei werden Diskurse in der Regel verstanden als Auseinandersetzung mit einem Thema durch größere gesellschaftliche Gruppen, wobei der Diskurs das Wissen und die Positionierungen dieser Gruppen spiegelt und zugleich handlungsleitend ist (vgl. Gardt 2007). Diskursanalyse praktiziert so eine Stilanalyse, die die Bedeutung von Texten erschließt und damit Aussagen über die in den Texten versprachlichten Perspektiven auf die Realität formulieren kann. Dieser Blick auf die Bedeutungsqualität von Stil findet sich nicht nur in der linguistischen Diskursanalyse. Die Textstilistik, wie sie etwa von Ulla Fix (2007) und Barbara Sandig (2006) vertreten wird, teilt diese Orientierung. Auch außerhalb der Philologien begegnen solche Positionen, etwa in Arbeiten aus der Psychologie (z. B. Fiedler/Semin 2002).
3.2. Analysebeispiel Das folgende Beispiel soll dazu dienen, Möglichkeiten einer Stilanalyse als Bedeutungsanalyse zu skizzieren. Es kann nur einige dieser Möglichkeiten illustrieren und wird insbesondere auf den flächigen Charakter der Bedeutungsbildung abheben. Bezugspunkt des Beispiels ist ein Projekt, das anlässlich der Kunstausstellung documenta 12 im Jahr 2007 am Institut für Germanistik der Universität Kassel durchgeführt wurde. Im Zentrum des Projekts stand die Untersuchung der Sprache im Umfeld der Ausstellung (zum Aufbau des Gesamtprojekts und den Namen aller Projektbeteiligten
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s. Gardt 2008). Die Diskussion über eine jeweilige documenta setzt bereits Jahre vor Ausstellungsbeginn ein, mit der Ernennung des künstlerischen Leiters. In Medien und Fachwelt werden intensive Diskussionen über die programmatische Ausrichtung der kommenden Ausstellung geführt, ihrem Selbstverständnis entsprechend, im Laufe der Jahre „zu einem weltweit verbindlichen Seismographen der zeitgenössischen Kunst“ (Internetseite der documenta, Zugriff 3. 1. 2008) geworden zu sein. Damit ist zugleich gesagt, dass die documenta eine Ausstellung von globaler Dimension ist, wie auch der selbstgewählte Titel Weltkunstausstellung illustriert. Durch ihre zeitliche und räumliche Ausdehnung bildet sie einen internationalen Kommunikationsraum, in dem unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen, von den Organisatoren über Künstler, Experten, Vertreter der Medien bis zur kunstinteressierten Öffentlichkeit. Auf diese Weise entsteht ein Diskurs mit verschiedenen Akteuren, Themen und Unterthemen, mit Zentrum und Peripherie. Dieser Diskurs spiegelt und beeinflusst die Wahrnehmung der Ausstellung und ihrer Konzeption, und er spielt sich fast ausschließlich in Sprache ab. Analysen der Texte des documenta-Diskurses lassen also erkennen, welche Rolle die Sprache beim Zustandekommen der documenta 12 als kognitiver Größe, als eines Gegenstands öffentlicher Wahrnehmung genau spielt. Die im Folgenden angeführten Textanalysen beziehen sich auf programmatische Texte vor allem des künstlerischen Leiters Roger M. Buergel, daneben auch auf Pressetexte. Sie zielen vorrangig auf Konzepte und auf Denkfiguren, die sich in den Texten nachweisen lassen. Dabei werden Konzepte als kognitive Repräsentationen eines distinkten Sachverhalts verstanden (in der Tradition von Lakoff/Johnson 1980), Denkfiguren als kognitive Dispositionen eines Autors, die sein Verfassen des Textes leiten. Konzepte werden sprachlich fast ausschließlich durch die Lexik realisiert, dabei häufig durch einzelne Ausdrücke. Sie treten über den Text verteilt in semantischen Feldern auf, die im Unterschied zu Wortfeldern im herkömmlichen Verständnis nicht nur Ausdrücke einer einzigen Wortart umfassen. Denkfiguren dagegen werden auf der Textoberfläche durch sehr verschiedene Elemente realisiert. Die vielen Texten Roger Buergels eigene Denkfigur von Offenheit und Dynamik, d. h. seine Neigung, bestimmte Zusammenhänge als nicht abgeschlossen, nicht statisch, sondern als im Prozess der Entwicklung befindlich einzustufen, kommt durch die Verwendung lexikalischer Ausdrücke, durch den Einsatz von Antithesen, Hypostasierungen, Deagentivierungen, inchoativen Verben usw. zustande. Bei Denkfiguren tritt der flächige Charakter der Bedeutungsbildung in besonderem Maße hervor, da ihre Konturen erst durch die Summe der semantischen Wirkungen der sie konstituierenden sprachlichen Mittel, nicht durch die Wirkung einzelner isolierter Textelemente deutlich werden. Als Ergebnis einer Analyse der documenta-Texte lassen sich sechs programmatische Leitkonzepte benennen: ,Raum‘, ,Zeit‘, ,Publikum/Vermittlung/Bildung‘, ,Politik/Gesellschaft‘, ,Kunst‘, ,documenta‘. Textausdrücke, durch die diese Konzepte realisiert werden, sind im Falle des Konzepts ,Raum‘ z. B.: international, universal, lokal, regional, transnational, transregional, Zentren, Peripherien, geopolitisch usw. (auf die Angabe von Belegstellen wird im Folgenden verzichtet, s. dazu Gardt 2008). Hinzu kommen Aussagen des Typs, wonach Formen lokalen Wissens weltweit zueinander in Beziehung [zu] setzen sind usw. Dem Konzept ,Publikum/Vermittlung/Bildung‘ lassen sich an Ausdrücken bzw. Aussagen z. B. zuordnen: dem Publikum einen Schlüssel [zur Ausstellung] in die Hand geben, ihm Linien vorgeben, es involvieren/animieren, Lernprozesse ermöglichen; ein Ethos der Vermittlung muss gegen eine bloß[e] Konsumhaltung, ästhetische Bildung gegen Akademismus und Didaktisierung durchgesetzt werden usw.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Die Analysen verdeutlichen, dass die Konzepte in einer spezifischen inhaltlichen Prägung auftreten. Im Folgenden ein Auszug aus einem programmatischen Text eines Mitglieds des Leitungsteams der documenta 12 (Hervorhebung A. G.): Eine der zentralen Fragen einer Kunstausstellung unter den Bedingungen einer globalisierten Welt ist die nach der Vermittlung von spezifischem Wissen, von Bildern, die aus den Bedingungen eines Ortes wachsen, sie aber dennoch überschreiten. Wie findet dieses lokale Wissen in der documenta 12 seinen Niederschlag? Wie bildet es sich ab? Wie findet dieser Prozess der Übertragung statt? […] Das Projekt [von documenta 12-eigenen Publikationen, A. G.] streut seine Aktivität von den Mikropublikationen in einem kleinen Sprachraum bis hin zu den einflussreichen transnationalen Medien. In transregionalen Arbeitstreffen […] werden die konzeptuellen und gedanklichen Leitfiguren der einzelnen Publikationen in einem gemeinsamen Redaktionsraum entwickelt.
Die kursiv gesetzten Ausdrücke wurden in der Analyse dem Konzept ,Raum‘ zugeordnet. Der Text zeigt zum einen, dass ,Raum‘ in einem Spannungsfeld von lokalem Raum und globalem Raum erscheint, ein Aspekt, der sich wie ein Leitmotiv durch die Texte des Corpus zieht: Dem durch die Globalisierung entstandenen weltweiten Raum wird der lokale Raum ausgleichend gegenübergestellt, die geopolitischen Identitäten werden mit lokalen Identitäten konfrontiert. Ein Vergleich mit programmatischen Texten früherer Ausstellungen lässt zudem die räumliche Entwicklung der documenta erkennen. Während der ,Raum‘ der ersten documenta von 1955 noch in einem Spannungsfeld von Deutschland und Europa bestimmt wird, lässt die Zunahme entsprechender Einzellexeme, Kollokationen, Phraseologismen usw. die Internationalisierung der Ausstellung bis hin zur gegenwärtigen globalen Veranstaltung erkennen. Zugleich geht aus Textstellen wie der zitierten hervor, dass der skizzierte Raum nicht statisch, sondern offen ist, dass sich die in ihm verorteten Elemente in steter Bewegung befinden (überschreiten, Übertragung, transnational, transregional). Dieses zuletzt genannte Kennzeichen der Texte begegnet auch bei der Charakterisierung anderer Konzepte, z. B. dem der ,Zeit‘ („Wenn man Form nicht als etwas Abgeschlossenes begreift, sondern stark auf dieses Prozessuale achtet, dann lernt man auch, dass sich auf diesem Weg oft Möglichkeiten ergeben“; die documenta ist kein in sich ruhendes „Wissenspaket“, sondern „ein Möglichkeitsraum, der nicht fertig ist, sondern seine Gestaltung einfordert“ usw.). Nicht nur ein einzelnes Konzept wird also in dieser Weise charakterisiert, sondern sämtliche Konzepte, sodass die Charakterisierung Ausdruck einer grundlegenden Perspektive der Autoren auf ihren Gegenstand ist, eben der erwähnten Denkfigur von Offenheit und Dynamik. Diese Denkfigur modifiziert jedoch nicht nur die Leitkonzepte des Diskurses, sondern begegnet in unterschiedlichen stilistischen Formen, darunter in antithetischen Konstruktionen (die documenta soll sich mit der „Zukunft der Menschheit“ befassen und zugleich mit der „Existenz jedes Einzelnen“), im Wechsel zwischen einem autoritativen Sprechen („Ich [Roger Buergel] denke […]“ ⫺ „Ich glaube […]“ ⫺ „Ich meine“) und einem hypostasierten, deagentivierten („Es ist der Anspruch von documenta […]“), in der Verwendung von Totalitätsbegriffen („Was ist das bloße Leben?“; „Ist die Moderne unsere Antike?“; zum Terminus Totalitätsbegriff vgl. Hermanns 1999), im Einsatz inchoativer Verben („[A]ls globale Gesellschaft [müssen wir aber] einen Raum miteinander teilen und […] gemeinsam Wert aushandel[n]. Das ist ein Raum der Verhandlung, den eine Ausstellung eröffnen […] kann“) usw. Diese Art des Schreibens (und Sprechens in Interviews) hat zur Folge, dass die Texte nicht nur im Hinblick auf die Bedeutung einzelner Aussagen, sondern auch insgesamt
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oft schwer verständlich sind. Weite Teile der medialen Öffentlichkeit haben vor allem die Texte Roger Buergels eben so wahrgenommen. Insbesondere die antithetischen Konstruktionen schaffen Oppositionslinien, die sich durch die Texte hindurchziehen und das Verständnis erschweren: Der Autor greift einen Gegenstand auf, indem er zwei Themenaspekte als Pole einander gegenüberstellt, ohne zwischen ihnen argumentativ zu vermitteln. Auf diese Weise musste es fast zwangsläufig zu Reaktionen wie den folgenden kommen, auch wenn den Autoren die genaueren stilistischen Ursachen, die zu Ihrem Urteil geführt haben, nicht bewusst gewesen sein mögen: Roger M. Buergel habe „die Leute bis heute weitgehend im Unklaren darüber [gelassen], wie heiß der Brei eigentlich ist, um den er seit Jahren extrem wortreich herumredet“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. 5. 2007). In der Berliner Zeitung vom 24. März 2007 finden sich diese Vorwürfe: „[…] mangelnde Professionalität […]. Banalität der meisten seiner Aussagen […] wolkige Andeutungen […]. Aber wie lautet sein eigentlicher Kunstbegriff? […] Wird die documenta traumhaft schön oder furchtbar belanglos? Niemand weiß es ⫺ womöglich auch Buergel nicht.“ Gelegentlich, wenn auch weit seltener, wird die semantische Offenheit der Texte positiv kommentiert: „Sieben Gründe, warum die Documenta die Gesetze des Kunstbetriebs umstürzen wird. […] Auf der Documenta gilt das Sowohl-als-auchPrinzip. […] [Das] hat diese Documenta vielen Ausstellungen voraus: Sie setzt nicht […] auf den schönheitsseligen Populismus der Berliner MoMA-Ausstellung. Sie bleibt unberechenbar, voller Wagnisse […]. So soll sie sein, die Documenta 12: beglückend und gefährdend, befreiend und bedrohend ⫺ eine dialektische Sensation“ (Die Zeit, 12. 4. 2007). Die Autoren der beiden letzten Zitate haben die Denkfigur von Offenheit und Dynamik nicht nur wahrgenommen, sondern machen sie auch, ob bewusst oder unbewusst, in Gestalt antithetischer Konstruktionen zu einem Teil ihres eigenen Stils („Wird die documenta traumhaft schön oder furchtbar belanglos?“ ⫺ die documenta 12 soll „beglückend und gefährdend, befreiend und bedrohend“ werden). Das Beispiel sollte Möglichkeiten einer Stilanalyse als Bedeutungsanalyse aufzeigen. Die beschriebenen Analyseverfahren greifen über die Betrachtung isolierter Textausdrücke hinaus und zielen auf die für Texte charakteristrische flächige Form der Bedeutungskonstitution.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
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Andreas Gardt, Kassel (Deutschland)
72. Stil und Grammatik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Der Problemzusammenhang Die Struktur des Stilbegriffs Die Struktur des Grammatikbegriffs Der Zeichencharakter von Stil und Grammatik Die innere Sprachform Die Normenproblematik Stil als Perspektivitätsproblem Literatur (in Auswahl)
Abstract Style and grammar are to be understood as linguistic subjects whose true representations find their expression in meaningful and communicative signs. Therefore, seen pragmatically, stylistic and grammatical forms have very similar functions. The purpose of these functions
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Andreas Gardt, Kassel (Deutschland)
72. Stil und Grammatik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Der Problemzusammenhang Die Struktur des Stilbegriffs Die Struktur des Grammatikbegriffs Der Zeichencharakter von Stil und Grammatik Die innere Sprachform Die Normenproblematik Stil als Perspektivitätsproblem Literatur (in Auswahl)
Abstract Style and grammar are to be understood as linguistic subjects whose true representations find their expression in meaningful and communicative signs. Therefore, seen pragmatically, stylistic and grammatical forms have very similar functions. The purpose of these functions
72. Stil und Grammatik is to give basic information a more precise meaning in a metainformative way. Thus, stylistic and grammatical forms are evaluated as manifestations of individual and collective efforts to form concise mental conceptions.
1. Der Problemzusammenhang Die Phänomene Stil und Grammatik kann man nur dann sinnvoll miteinander in Beziehung setzen, wenn man beide nicht nur mit dem Form-, sondern auch mit dem Bedeutungsbegriff in Zusammenhang bringt. Obwohl das ein ziemlich selbstverständliches Postulat ist, so trifft man dennoch immer wieder auf Analyseansätze, die eine große abstraktive Energie darauf verwenden, die beiden Phänomene nicht als sinnträchtige Phänomene zu verstehen. So war beispielsweise die so genannte Abweichungsstilistik bestrebt, das Phänomen Stil nur als Abweichung von bestimmten Erwartungsnormen zu beschreiben, und der frühe Chomsky hat auf sehr provokante Weise erklärt, dass die Frage nach der Bedeutung in der Grammatik genauso irrelevant sei wie die Frage nach der Haarfarbe der jeweiligen Sprecher (Chomsky 1971, 93). Es ist immer eine höchst problematische Aufgabe, den begrifflichen Gehalt von komplexen und geschichtsträchtigen Termini wie Stil oder Grammatik präzise bestimmen zu wollen. Dabei gerät man nämlich entweder in die Gefahr, den gängigen Gebrauch dieser Termini in der Sprache zu verfehlen, oder in die Gefahr, Festlegungen zu treffen, die dem Aspektreichtum der jeweiligen Phänomene nicht mehr gerecht werden, da sie diese nur noch in einer sehr verengten Wahrnehmungsperspektive sichtbar machen. Diesem Dilemma wird hier methodisch folgendermaßen begegnet. Zum einen soll versucht werden herauszuarbeiten, in welchen Wahrnehmungsperspektiven bisher die Phänomene Stil und Grammatik betrachtet worden sind und welches Wissen sich im traditionellen Stilund Grammatikbegriff sedimentiert hat. Zum anderen soll versucht werden, Stil und Grammatik als sehr widerborstige Phänomene ernst zu nehmen, die wegen ihrer äußerst vielfältigen Aspekte theoretisch nicht so leicht in den Griff zu bekommen sind. Das bedeutet, dass wir beide Phänomene im Sinne der Semiotik als dynamische Objekte wahrzunehmen haben, die einerseits allen Versuchen einen nachhaltigen Widerstand leisten, sie auf den Begriff zu bringen, und die andererseits die Betrachter dazu nötigen, sich selbst geistig zu bewegen, um ihren Aspektreichtum adäquat zu erfassen. Um beiden Phänomenen theoretisch gerecht werden zu können, müssen wir uns mit einem relationalen Denken anfreunden. Dieses ist im Gegensatz zu einem essentiellen Denken nicht dadurch bestimmt, dass es den Anspruch erhebt, das Wesen der jeweiligen Phänomene aufdecken zu wollen, sondern vielmehr dadurch, dass es das Ziel hat, die jeweiligen Phänomene in Wenn-Dann-Relationen bzw. in Interdependenzbeziehungen kennen zu lernen. Dementsprechend strebt das relationale Denken auch keine abschließende Wesenserkenntnis an, sondern ein offenes Strukturwissen, für das die Spannung zwischen dem jeweiligen Erkenntnisobjekt und dem jeweiligen Erkenntnissubjekt unter Einschluss seiner Erkenntnisstrategien konstitutiv ist. In unserem Fall lässt sich die Eigenart des relationalen Denkens schon am Beispiel der Konjunktion und demonstrieren, mit der hier die Begriffe Stil und Grammatik programmatisch aufeinander bezogen worden sind. Die Konjunktion und signalisiert als grammatisches Zeichen im Prinzip, dass die mit ihr verbundenen Größen nicht völlig verschiedenen Welten angehören, sondern vielmehr
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil auf irgendeine Weise sinnvoll aufeinander bezogen werden können. Sie sagt uns aber nicht, wie die beiden Begriffe sachlich zusammengehören. Schon bei dem Versuch, die Zusammengehörigkeit beider Begriffe zu klären, lernen wir sowohl etwas über die mit und korrelierten Phänomene als auch etwas über die grammatische und stilistische Sinnbildungsfunktion des grammatischen Zeichens und. Zumindest drei Korrelationsvarianten sind denkbar. Erstens kann uns die Konjunktion und signalisieren, dass zwei Einzelgrößen als Teilgrößen einer übergeordneten Größe in Erscheinung treten (3 und 5 ist 8). Zweitens kann sie signalisieren, dass zwei Größen trotz ihrer Eigenständigkeit in bestimmten Hinsichten kategorial miteinander verwandt sind (3 und 5 sind Primzahlen). Drittens kann sie signalisieren, dass zwei Größen auf interdependente und konstruktive Weise eine neue Einheit bilden (2 Wasserstoffatome und 1 Sauerstoffatom bilden 1 Wassermolekül). Diese Beispiele verdeutlichen zweierlei. Zum einen lässt sich die grammatische Relationierungsfunktion der Konjunktion und nicht ohne die genaue Kenntnis der relationierten Größen präzisieren. Zum anderen sind mit dem Gebrauch der Konjunktion und auch bestimmte Relationspostulate des Sprechers verbunden, die den Hörer dazu zwingen, sich die jeweils relationierten Größen so vorzustellen, dass sie mit diesen Postulaten vereinbar werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ergeben sich drei unterschiedliche, aber sich ergänzende Wahrnehmungsperspektiven für mögliche Zusammenhänge zwischen den Phänomenen Stil und Grammatik. Erstens können wir die beiden Phänomene als natürliche Teilgrößen der Gesamtgröße Sprache ansehen. Dann lässt sich das Phänomen Stil als ein Ordnungszusammenhang verstehen, der sich methodisch auf der Betrachtungsebene der parole erschließt, und das Phänomen Grammatik als einer, der methodisch auf der der langue zugänglich wird. In diesem Denkrahmen kann dann der Stil eines Texts als eine spezifische personen-, epochen- oder textsortenbedingte Auswahl von Formen aus einem vorgegebenen sprachlichen Formenrepertoire verstanden werden. Unter diesen Umständen würde es sich dann aber von selbst verbieten, den verwendeten Analyserahmen selbst in Frage zu stellen und beispielsweise zu debattieren, ob das Phänomen Stil dazu geeignet wäre, den Sinn der Unterscheidung von parole und langue in Zweifel zu ziehen bzw. die kategoriale Opposition der Begriffe Stil und Grammatik. Zweitens können wir die beiden Termini als Bezeichnungen für Ordnungsgrößen ansehen, die hinsichtlich bestimmter Merkmale eine Schnittmenge und hinsichtlich anderer eine Oppositionsmenge bilden. Dann ist zu klären, auf Grund welcher Eigenschaften die Phänomene bzw. Begriffe Stil und Grammatik in einer Analogierelation zueinander stehen und auf Grund welcher in einer Kontrastrelation. Drittens können wir die Termini Stil und Grammatik als Bezeichnungen für recht komplexe Vorstellungsbereiche verstehen, die erst durch die Ausarbeitung von Objektivierungs- und Analysekonzepten ein klares Relief bekommen. Diese Betrachtungsweise impliziert nicht, dass jeder seine eigene Interpretationshoheit über die Begriffsinhalte der Termini Stil und Grammatik hat, sondern nur, dass wir die mit diesen Termini bezeichneten Phänomene als widerborstige Objekte ernst nehmen müssen und dass wir sie nicht vorschnell in das Prokrustesbett von vorgegebenen Theorien und Begriffen stecken dürfen. Vielmehr haben wir uns darum zu bemühen, geeignete Wahrnehmungsperspektiven für sie auszuarbeiten. Dabei können wir uns dann natürlich sowohl an dem gegenwärtigen als auch an dem historischen Gebrauch dieser Termini orientieren, da sich in allen Gebrauchsweisen von Wörtern ein bestimmtes Erfahrungswissen manifestiert hat, das heuristisch zum Einstieg in den hermeneutischen Zirkel eines differenzierten Sachverstehens dienlich sein kann.
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2. Die Struktur des Stilbegris Die historisierende Frage nach der Begriffsgeschichte von Termini ist keineswegs nur von antiquarischem, sondern durchaus auch von sachsystematischem Interesse. Durch sie erschließen sich uns die Motive, die zur Ausbildung und zur Variation von Begriffen geführt haben. Diese Motive gehen im Laufe der Begriffsgeschichte von Termini nie gänzlich verloren, sondern geben den jeweiligen Wörtern eine bestimmte semantische Aura, die ihre Nutzungsmöglichkeiten nachhaltig prägt. Diese Aura ist uns allerdings meist nur über unser Sprachgefühl zugänglich, das uns sagt, in welche Kontexte die jeweiligen Wörter gehören bzw. in welche Geschichten sie verstrickt werden können. Unser heutiger Terminus Stil geht auf das lateinische Wort stilus zurück, mit dem ursprünglich der Griffel für die Beschriftung von Wachstafeln bezeichnet worden ist. Dieser Griffel besaß ein spitzes Ende zum Einritzen von Buchstaben in Wachstafeln und ein plattes Ende, um die eingeritzten Wörter zu Korrekturzwecken wieder beseitigen zu können. Aus dieser Wortgeschichte lässt sich entnehmen, dass sich aus der Bezeichnung für ein Schreibgerät allmählich die Bezeichnung für eine normativ und planvoll gestaltete Schreibart entwickelt hat bzw. die Bezeichnung für eine Machart, die auch auf andere Sachgebiete bezogen werden konnte (Schreibstil, Gattungsstil, Epochenstil, Baustil, Führungsstil, Lebensstil usw.). Bei den verschiedenen Gebrauchsweisen des Wortes Stil hat sich aber immer die Grundvorstellung erhalten, dass das Phänomen Stil etwas mit normorientierten intentionalen Gestaltungsprozessen zu tun hat. Dabei dachte man zunächst an überindividuelle Gestaltungsmuster, aber ab dem 18. Jh. mehr und mehr auch an individuelle Gestaltungs- und Sinnbildungsformen. Die Verschränkung des Stilbegriffs mit normativ und intentional orientierten Gestaltungsprozessen verweist im Bereich der Sprache auf zwei wichtige Implikationen. Einerseits ist der Stilbegriff immer in ganz genuiner Weise mit der Schriftproblematik verknüpft, insofern der schriftliche Sprachgebrauch naturgemäß immer einen höheren Grad an Planung und Durchstrukturierung aufweist als der mündliche. Andererseits steht der Stilbegriff immer in einem sehr engen Zusammenhang mit dem Gestalt- bzw. Gestaltungsbegriff, insofern der Stil eines Textes aus der Befolgung und Variation sprachlicher Normen vielfältiger Art resultiert. Auch der mündliche Sprachgebrauch unterliegt natürlich bestimmten Gestaltungsnormen, nur sind diese längst nicht so differenziert wie im schriftlichen Sprachgebrauch. Während der mündliche Sprachgebrauch im Prinzip eine dialogische Grundstruktur hat und mit Verstehenshilfen rechnen kann, die sich aus der Verschränkung der Rede mit der Situation ergeben bzw. aus der Nutzung von intonatorischen, mimischen und gestischen Zeichen, hat der schriftliche Sprachgebrauch eine monologische und situationsabstrakte Grundstruktur. Schriftlich realisierte Texte müssen in einem sehr hohen Maße sprachlich durchgestaltet werden, um verständlich zu sein, weil die Nutzung zusätzlicher Informationsquellen für den Verstehenden entfällt. Alle relevanten Informationen müssen versprachlicht werden, um Texten einen besonders hohen Grad an semantischer Autonomie zu sichern. Eine solche sprachliche Durchgestaltung ist auch möglich, weil schriftliche Texte im Gegensatz zu mündlichen nicht spontan formuliert werden müssen, sondern vielmehr zeitgedehnt auf planvolle Weise konzipiert werden können, wodurch dann wiederum auch die Ausbildung von differenzierten Textmustern und Stilformen begünstigt wird.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Für die Analyse der Stilproblematik kann uns die Gestaltpsychologie aufschlussreiche Hinweise geben. Sie hat sich nämlich intensiv mit der Frage beschäftigt, in welchem Zusammenhang in Wahrnehmungsprozessen die Wahrnehmung des Ganzen und die Wahrnehmung der Teile steht bzw. wie in solchen Prozessen Analyse- und Syntheseprozesse ineinander greifen. Zur Klärung dieser Problematik hat sie die Primatsthese und die Übersummativitätsthese entwickelt (Wellek 1969, 63 ff.; Köller 1988, 325 ff.). Die Primatsthese besagt, dass die Wahrnehmung des Ganzen sich nicht kontinuierlich aus der Wahrnehmung der Einzelteile ergibt, sondern vielmehr der Wahrnehmung von Einzelteilen vorangeht. Einzelteile könnten praktisch erst nachträglich in analytischen Aufgliederungsprozessen als Bausteine des Ganzen erfasst werden. Dabei wird zugleich angenommen, dass sich nach diesen Aufgliederungsprozessen das Ganze auch prägnanter darbietet als am Anfang. Dieser Prozess der Wahrnehmungsschärfung, in dem durch Analyseund Syntheseanstrengungen aus vagen Vorgestalten über Zwischengestalten prägnantere Endgestalten ausgebildet werden, wird mit dem Stichwort Prägnanztendenz charakterisiert. Wenn ein Wahrnehmungsgegenstand wie z. B. ein Text auf diese Weise eine zunehmend prägnantere Gestalt bekommt, dann gewinnt er damit zugleich auch eine größere Sinnschärfe und Sinntiefe. Die Übersummativitätsthese besagt auf ergänzende Weise, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist bzw. dass die prägnante Sinngestalt am Ende eines Wahrnehmungsprozesses sich nicht aus der bloßen Addition von Teilwahrnehmungen ergibt, sondern vielmehr aus deren konstruktiver Korrelation. Sie besagt weiterhin, dass das Sinnprofil einer Wahrnehmungsgestalt sich nicht logisch stringent aus den jeweiligen Teilen ableiten lässt, weil die Struktur der Gesamtwahrnehmung wiederum erheblichen Einfluss darauf hat, was überhaupt als Teil wahrgenommen wird. Teile sind so gesehen keine fest vorgegebenen Bausteine mit definierten Sinnbildungseffekten, sondern vielmehr variable Bauelemente, die in unterschiedlichen Relationsgeflechten unterschiedliche Sinnbildungsfunktionen bekommen können. Außerdem steht natürlich nicht von vornherein fest, was als Teil und was als Ganzes anzusehen ist, da sich das erst als eine Funktion von Betrachtungsebenen, Erkenntnisinteressen und Wahrnehmungsperspektiven ergibt. Es ist sehr offensichtlich, dass sowohl aus der Primats- als auch aus der Übersummativitätsthese der Gestaltpsychologie wichtige methodische Hinweise abgeleitet werden können, wie man das intuitive Verständnis von Texten über analytische Zugriffe präzisieren kann bzw. wie sich Detailwahrnehmungen synthetisch wieder zu Gesamtwahrnehmungen zusammenführen lassen, sodass sich aus den vagen Vorgestalten einer Textwahrnehmung dann prägnante Endgestalten mit großer Sinnschärfe und Sinntiefe ergeben. Umgekehrt kann dieses Denkmodell auch dabei helfen, dass man sein Einzelwissen über das Sinnpotenzial von grammatischen und stilistischen Formen zu einer klar strukturierten Gestaltung insbesondere von schriftlichen Texten produktiv einsetzen kann.
3. Die Struktur des Grammatikbegris Ebenso wie unsere Stilvorstellung so ist auch unsere Grammatikvorstellung eng mit der Schriftproblematik verschränkt. Der Terminus Grammatik leitet sich von der griechischen Bezeichnung für den Buchstaben (gramma) ab. Dementsprechend bezeichnete man dann auch mit dem Terminus Grammatik zunächst die Kunst des Lesens und Schreibens.
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Bis in die frühe Neuzeit wurde mit dem Terminus Grammatik das benannt, was wir heute mit den Termini Philologie oder Textwissenschaft bezeichnen würden. Erst in der Neuzeit hat sich der begriffliche Inhalt dieses Terminus so verengt, dass mit ihm nur noch das Inventar sprachlicher Formen bzw. die Lehre von diesen Formen bezeichnet wurde, wobei sich das Interesse immer stärker auf die äußere Gestalt dieser Formen konzentrierte und die Frage nach den Funktionen dieser Formen oft ganz nebensächlich wurde. Gleichwohl ist festzuhalten, dass es in allen Schriftkulturen ein immanentes Bedürfnis nach Grammatikunterricht gibt, um prägnante, semantisch autonome Texte herstellen zu können bzw. um schriftlich überlieferte Texte besser zu verstehen. Das pragmatische Bedürfnis, die Sprache mit normierten grammatischen Formen auszustatten, um sie dann als Sinnbildungs- und Sinnvermittlungsinstrument optimal nutzen zu können, zeigt sich nicht nur besonders klar im Zusammenhang mit der Verwendung der Schrift, sondern auch im Zusammenhang mit dem kindlichen Spracherwerb. Der Übergang von Einwort- zu Zweiwortäußerungen kann geradezu als Geburtsstunde der Grammatik bezeichnet werden. In Mehrwortäußerungen muss nämlich immer zwischen der Äußerung als Ganzer und ihren konstitutiven Teilen unterschieden werden, was zwangsläufig dazu führt, den Teilen unterschiedliche Funktionsrollen beim Aufbau des Gesamtsinns einer Äußerung zuzuordnen. Die Ausbildung und Kennzeichnung von Satzgliedern, die Ausbildung von grammatischen Morphemen beim Verb sowie die Ausbildung innersprachlicher Verknüpfungszeichen ist z. B. eine notwendige Folge des Bestrebens, die Sprache als autonomes Sinnbildungswerkzeug zu nutzen. So gesehen zeigt sich, dass die Phänomene Stil und Grammatik genetisch dieselben Wurzeln haben. Die ihnen zuzuordnenden Formen sollen die Sprache tauglich machen, möglichst situationsabstrakte autonome Sinngestalten herzustellen. Die grammatischen Formen sind dabei dann sehr allgemeinen Differenzierungs- und Sinnbildungsbedürfnissen zuzuordnen und die stilistischen Formen eher speziellen und artifiziellen, bei denen es um die semantische Feinstrukturierung und die ästhetische Intensivierung des Sinnreliefs von Texten geht. Die Ausbildung von Stilformen setzt dementsprechend konsequent das Geschäft fort, das mit der Ausbildung grammatischer Formen im phylogenetischen und ontogenetischen Spracherwerb begonnen worden ist. Das bedeutet, dass die Grenze zwischen Stil und Grammatik nicht apodiktisch gezogen werden kann. Individuell entwickelte Stilformen können sich kulturell als so effizient erweisen, dass sie sich nach und nach zu grammatischen Formen verfestigen, wofür die zusammengesetzten Tempusformen und die Passivformen ein gutes Beispiel abgeben, die sich im Deutschen erst am Ende der ahd. Sprachepoche herausgebildet haben. In neuerer Zeit lässt sich vielleicht auf die so genannte erlebte Rede verweisen, die sich zunächst als eine besondere Stilform des Erzählens etabliert hat und die inzwischen wohl ähnlich wie die indirekte Rede als allgemeines grammatisches Muster des Erzählens bzw. der Wiedergabe von Inhalten angesehen werden kann. Leo Spitzer hat ausdrücklich betont, dass grammatische Formen historisch aus funktionskräftigen stilistischen Formen hervorgegangen sind. „Alle Neuerung geht vom schöpferischen Einzelnen aus, nihil est in syntaxi quod non fuerit in stylo. Syntax, ja Grammatik sind nichts als gefrorene Stilistik“ (Spitzer 1961, Bd. 2, 517). Nun ist allerdings einzuräumen und vielleicht auch zu beklagen, dass der neuzeitliche Grammatikbegriff sich gegenüber dem antiken und mittelalterlichen sehr verengt hat und oft nur noch auf die Morphologie sprachlicher Ordnungsmuster Bezug nimmt. Von der Frage nach den sinnbildenden Funktionen grammatischer Formen wird oft abstra-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil hiert, weil man fürchtet, dass grammatische Analysen sonst ihre Exaktheit verlieren und sich weniger gut am Denkstil der Mathematik orientieren können. Ein auf die bloße Form- und Regelproblematik verdünnter Grammatikbegriff verliert aber seine Relevanz für den Stilbegriff, weil grammatisches Wissen dann letztlich nur noch dazu dient, um Aussagen über die Wohlgeformtheit von Äußerungen zu machen, aber keine Möglichkeiten mehr eröffnet, das Sinnpotenzial von Äußerungen umfassend zu erschließen. Ein für den Stilbegriff brauchbarer Grammatikbegriff muss neben der Frage nach der Morphologie grammatischer Formen auch immer die Frage nach den kognitiven und kommunikativen Funktionen dieser Formen stellen. Das ist vielleicht am besten zu bewerkstelligen, wenn man seinen Grammatikbegriff am Zeichenbegriff orientiert und nach der Besonderheit grammatischer und stilistischer Formen als Zeichen fragt.
4. Der Zeichencharakter von Stil und Grammatik Die semiotische Transformation des Grammatikbegriffs lässt sich am besten im Rahmen der Semiotik von Peirce konkretisieren (Köller 1988, 41 ff.). Dessen zeichentheoretische Überlegungen zeichnen sich im Gegensatz zu denen von de Saussure dadurch aus, dass sie nicht auf dem System-, sondern auf dem Funktionsgedanken aufbauen. Da Peirce Zeichen als Mittel der Sinnkonstitution und Sinnzirkulation versteht sowie als Vermittlungsinstrumente zwischen der Objektwelt und der Subjektwelt bzw. zwischen Subjektwelten, sind seine semiotischen Überlegungen sowohl für die Grammatik als auch für die Stilistik sehr interessant. Sie eröffnen die Chance, den Stil- und Grammatikbegriff mit erkenntnistheoretischen, heuristischen und hermeneutischen Überlegungen in Verbindung zu bringen. Allerdings wirft die Verknüpfung des Stil- und Grammatikbegriffs mit dem Zeichenbegriff auch Probleme auf. Zum einen ist zu klären, welche sprachlichen Phänomene überhaupt als stilistische bzw. als grammatische Zeichen anzusehen sind und welchen morphologischen Komplexitätsgrad solche Zeichen haben können. Zum anderen ist zu klären, welche konkreten kognitiven und kommunikativen Leistungen wir den jeweiligen Zeichen zuzuschreiben haben. Diese Fragen sind im Rahmen der Semiotik von Peirce nicht abschließend zu beantworten, da deren Besonderheit darin besteht, dass alle beobachtbaren Phänomene den Status von Zeichen bekommen können, sofern wir ihnen eine Verweisfunktion auf etwas anderes zuschreiben können. Das bedeutet, dass wir den Zeichenbegriff weder an bestimmte Sacheigenschaften von Phänomenen binden dürfen noch an bestimmte Kodekonventionen, sondern allein an die Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen für beobachtbare Gegebenheiten. Diese Bindung des Zeichenbegriffs an den Interpretationsbegriff macht die Frage nach den stilistischen und grammatischen Zeichen etwas unübersichtlich, aber zugleich auch sehr spannend, weil es kein fest vorgegebenes Repertoire solcher Zeichen gibt, weil wir die Chance haben, alle möglichen beobachtbaren sprachlichen Phänomene als Zeichen zu deuten und weil die Grenze zwischen stilistischen und grammatischen Zeichen durchlässig wird bzw. sich als eine Funktion von Betrachtungsperspektiven erweist. Zwar können wir sicherlich auf ein Inventar von sprachlichen Formen zurückgreifen, die wir traditionell als grammatische Zeichen (Kasusmorpheme, Konjunktionen, Artikel, usw.) oder als stilistische Zeichen (Parataxe/ Hypotaxe, Attributgebrauch, Metaphern, usw.) ansehen, aber die Menge dieser Zeichen
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ist nicht nur im Bereich des Stils, sondern erstaunlicherweise auch im Bereich der Grammatik nicht abschließend festzulegen (Köller 1988, 53 ff.). So nimmt Humboldt neben einem „ausdrücklich bezeichneten“ Teil der Grammatik auch noch „einen stillschweigend hinzugedachten“ an (Humboldt 1903, Bd. 5, 319). Kaznelson postuliert neben der „evidenten Grammatik“ auch noch eine „latente“ (Kaznelson 1974, 98) und Whorf neben den grammatischen „Phänotypen“ auch noch „Kryptotypen“ (Whorf 1963, 114). Je komplexer die Zeichenträger für grammatische Zeichen sind und je mehr sie aus der spezifischen Kombination von morphologisch einfacheren Zeichenträgern resultieren, desto schwieriger wird es, eine eindeutige Grenzlinie zwischen stilistischen und grammatischen Zeichen zu ziehen, da beide eine ganz ähnliche pragmatische Sinnbildungsfunktion haben. Diese besteht darin, dass sie den Stellenwert einer Grundinformation metainformativ qualifizieren sollen. Das zeigt sich sehr deutlich, wenn wir uns mit dem Problem beschäftigen, wie sich grammatische von lexikalischen Zeichen abgrenzen lassen und auf welches Semantikkonzept wir bei der Analyse grammatischer Zeichen zurückgreifen können. Alle komplexen Zeichensysteme benötigen zwei unterschiedliche Subeinheiten, nämlich solche, die organisiert werden, und solche, die organisieren, also Zeichen für Größen und Zeichen für Operationen. Humboldt hat deshalb auch betont, dass man in der Sprache die Wörter in solche einteilen müsse, „welche die Materie, den Gegenstand, und solche, welche die Form, die Thätigkeit des Denkens betreffen“. Letztere würden nicht die Gegenstände und deren Eigenschaften betreffen, „sondern nur die Beziehungen und Verhältnisse der Begriffe und Dinge aufeinander, und zu dem Verstande, durch den sie gedacht werden“ (Humboldt 1903, Bd. 5, 438 f.). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur logischen Stufung der Informationsfunktion von sprachlichen Zeichen ist es gerechtfertigt, lexikalische Zeichen als autosemantische Grund- oder Nennzeichen zu qualifizieren, die bestimmte Sachvorstellungen zu objektivieren haben, und grammatische Zeichen als synsemantische interpretierende Metazeichen, die den Stellenwert von Nennzeichen beim Aufbau komplexer sprachlicher Formen vom Wort bis zum Text zu qualifizieren haben. Die konstruktive Verschränkung von lexikalischen und grammatischen Informationen lässt sich deshalb auch als eine Verschränkung von Basisinformationen und Metainformationen verstehen. So informieren uns beispielsweise Kasusmorpheme über die Satzgliedrolle von Substantiven und Konjunktionen über den möglichen Zusammenhang zwischen zwei Einzelaussagen. Wenn in einem Text alle grammatischen Zeichen getilgt würden, dann wird er ziemlich unverständlich, weil wir nicht wissen, in welchem Sinnzusammenhang die lexikalisch objektivierten Einzelvorstellungen stehen. Wenn in einem Text alle lexikalischen Zeichen getilgt würden, dann wird er sinnlos, weil die Vorstellungsinhalte fehlen, die durch grammatische Zeichen interpretiert und relationiert werden sollen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird klar, dass wir die Bedeutung beider Zeichentypen nicht einfach mit Hilfe desselben Semantikkonzeptes erfassen können. Während wir die Bedeutung lexikalischer Zeichen im Prinzip über ihre referenziellen Bezüge zur außersprachlichen Welt beschreiben können, kommen wir mit diesem Verfahren bei der semantischen Analyse grammatischer Zeichen nicht recht weiter. Deshalb hat Weinrich insbesondere für die semantische Analyse grammatischer Zeichen das Konzept einer Instruktions-Grammatik entwickelt (Weinrich 1993, 18). Dieses besagt, dass alle grammatischen Zeichen als Orientierungssignale zu verstehen sind, die der Sprecher in regelmäßigen Abständen setzt, um komplexe Vorstellungsbildungen übersichtlich zu
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strukturieren bzw. um die Verstehensprozesse von Hörern zu erleichtern. Es ist nun offensichtlich, dass sich die konkrete textuelle Instruktionsinformation von grammatischen Zeichen nur dann zutreffend beschreiben lässt, wenn man auch zureichende Kenntnisse über das jeweilige Instruktionspotenzial dieser Zeichen besitzt. Die Frage nach dem Instruktionspotenzial grammatischer Zeichen führt uns dann eine Abstraktionsstufe höher zu dem Problem, welche ontologische Berechtigung die jeweiligen grammatischen Differenzierungsmuster haben. Beispielsweise ließe sich fragen, warum wir im Deutschen grammatisch nur zwischen dem Plural und Singular unterscheiden und auf das Differenzierungsmuster Dual verzichten. Weiter ließe sich fragen, warum wir im Deutschen sechs Tempusformen haben, obwohl wir in der Regel nur die Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden. Solche Fragen lassen sich im Rahmen einer textbezogenen Instruktionssemantik nicht beantworten, sondern nur in dem einer Kognitionssemantik, die sich sowohl an ontologischen als auch an pragmatischen Differenzierungsinteressen orientieren kann. Es ist offensichtlich, dass nicht nur instruktionssemantische Fragestellungen für die Analyse der stilistischen Funktionen grammatischer Zeichen fruchtbar sind, sondern auch kognitionssemantische, weil uns diese ja nicht nur Hinweise auf die Denkstrukturen eines spezifischen Sprechers geben, sondern auch solche auf die spezifischen Differenzierungsinteressen einer bestimmten Sprache oder Kultur. Der stilbildende Wert grammatischer Zeichen speist sich so gesehen aus zwei Quellen. Einerseits resultiert er aus der spezifischen Auswahl, Frequenz und Kombination dieser Zeichen in konkreten Äußerungen. Andererseits resultiert er aus den grundsätzlichen ontologischen Differenzierungsstrategien, die sich in diesen Zeichen objektiviert und sedimentiert haben und die bei ihrem Gebrauch immer wieder verlebendigt werden. Deshalb kann man dann auch sowohl vom Stil eines Textes als auch von dem Stil einer Sprache sprechen, insofern nicht nur Texte, sondern auch Sprachsysteme durchstrukturierte Ordnungszusammenhänge repräsentieren. Mit Hilfe des Konzeptes der inneren Sprachform lässt sich gut erläutern, dass die Phänomene Stil und Grammatik nicht nur oberflächen-, sondern auch tiefenstrukturell aufeinander bezogen werden können.
5. Die innere Sprachorm Wenn man Sprachformen nicht als bloße Transportbehälter für von ihnen unabhängige Inhalte versteht, sondern als Manifestationsformen von Denkmustern, durch die Inhalte erst eine fassbare Erscheinungsgestalt bekommen, dann verbietet es sich von selbst, sein Interesse an der sinnbildenden Kraft der Sprache nur auf die direkt beobachtbaren Sprachformen zu beschränken. Man muss es vielmehr auch auf die Ebene der formbildenden Prinzipien ausdehnen, die zur Existenz dieser Formen geführt haben. Diese Ausweitung des Interesses macht die Frage nach den sinnbildenden Funktionen sprachlicher Formen etwas unübersichtlich, aber zugleich auch fruchtbar, weil sie dabei hilft, die kognitive und kommunikative Funktion von Sprachformen im Kontext ihrer Genese zu beschreiben. Diesbezüglich kann man auch auf eine Parallele bei der Diskussion des Naturbegriffs verweisen. Hier ist es seit dem Mittelalter üblich, zwischen der Natur im Sinne von direkt beobachtbaren Naturphänomenen (natura naturata) und Natur im Sinne von Gestalt bildenden Kräften (natura naturans) zu unterscheiden. Das liegt insbe-
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sondere im Kontext von Entelechievorstellungen nahe, insofern man beispielsweise ein Samenkorn sowohl als geformtes Naturprodukt als auch als Manifestationsweise eines Natur erzeugenden Prinzips betrachten kann. Das Interesse an den form- und damit auch sinnbildenden Kräften hinter den direkt beobachtbaren Formen hat das philosophische und ästhetische Denken seit dem 18. Jh. nachhaltig geprägt. Shaftesbury hat die Begriffe „forming power“ und „form above all forms“ bzw. „inward form“ geprägt, die insbesondere eine große Wirkung in der Klassik und Romantik gehabt haben und wohl auch Humboldt dazu inspirierten, von einer „inneren Sprachform“ zu sprechen (Schwinger 1935, 8 ff.). Auch Cassirer hat im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zu den symbolischen Formen der Sprachreflexion insbesondere folgende Aufgabe gestellt: „Hier kann nur ein Rückschluss vom Geformten zum bildenden Prinzip, von der ,forma formata‘ zur ,forma formans‘ versucht werden“ (Cassirer 1985, 125). Humboldt hat den Begriff innere Sprachform eher beiläufig in die Welt gesetzt, ohne ihn systematisch auszuarbeiten (Humboldt 1903, Bd. 7, 62; 86). Durch Steinthal ist er aber sehr wirksam für die Rezeption der Sprachauffassung Humboldts geworden, insofern er auch seinen Formbegriff sehr gut exemplifiziert. „Unter Form kann man nur Gesetz, Richtung, Verfahrensweise verstehen“ (Humboldt 1903, Bd. 5, 455). Dementsprechend versteht er unter dem Begriff der inneren Sprachform auch nicht eine direkt beobachtbare Sprachstruktur, sondern die sinnbildende innere Kraft einer Sprache. „Nicht, was mit einer Sprache ausgedrückt zu werden vermag, sondern das, wozu sie aus eigner, innerer Kraft anfeuert und begeistert, entscheidet über ihre Vorzüge, oder Mängel“ (Humboldt 1903, Bd. 4, 287 f.). Wenn man in dieser Weise die innere Form einer Sprache als das organisierende Prinzip hinter den konkreten sprachlichen und insbesondere grammatischen Formen versteht, dann kann man hinter dem konkreten sinnbildenden Stil einer Äußerung zugleich auch den sinnbildenden Stil einer Sprache vermuten. Diese fundamentale Objektivierungsstrategie würde dann den Rahmen bilden, in dem sich konkrete individuelle Objektivierungsstile manifestieren können. Wenn z. B. einmal in einer Sprache entschieden worden ist, dass Substantive mit Kasusmorphemen und Verben mit Tempus-, Modus- und Genusmorphemen versehen werden müssen, dann hat das erhebliche Rückwirkungen auf die Ausbildung und die Verwendung des übrigen grammatischen Formeninventars einer Sprache. Obwohl grammatische Formen im Prinzip nicht als Natur-, sondern als Kulturformen anzusehen sind, gibt es quer durch alle Sprachen oft sehr ähnliche Formen, sodass zuweilen auch von angeborenen grammatischen Universalien gesprochen worden ist. Aber hier handelt es sich wohl weniger um angeborene grammatische Ordnungsmuster, sondern eher um Ordnungsmuster, die sich aus systembedingten oder aus lebenspraktisch bedingten Differenzierungsnotwendigkeiten ergeben haben. Grundsätzlich ist diesbezüglich allerdings zu berücksichtigen, dass alle Basisentscheidungen, die bei der Ausbildung grammatischer Ordnungssysteme getroffen worden sind, erhebliche Rückwirkungen sowohl auf die Entwicklungstendenzen des kognitiven Stils einer Sprache haben als auch auf die Möglichkeiten, konkreten Äußerungen einen individuellen Stil zu geben. So ist es z. B. stilistisch nicht unerheblich, dass im Japanischen die grammatische Differenz zwischen Subjekten und Objekten nicht so klar markiert wird wie in den indogermanischen Sprachen. Wegen dieser grammatischen Vagheit kann der Wechsel von einer aktivischen zu einer passivischen Darstellungsweise dann auch nicht als markantes Stilistikum eingesetzt werden. Ähnliches gilt auch für die Differenz von Singular- und Pluralformen, die
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil im Japanischen nicht obligatorisch gekennzeichnet werden müssen. Im Kontrast zu den grammatischen Vagheiten der japanischen Sprache auf diesen Gebieten gibt es in ihr aber einen großen Reichtum von sprachlichen Differenzierungsformen, mit denen soziale Beziehungen markiert werden können. Die Wahl oder Abwahl solcher Formen kann deswegen zu einem wichtigen Stilistikum im konkreten Sprachgebrauch werden (Kishitani 1960, 271⫺281). Für die Beurteilung der inneren Form einer Sprache bzw. für die Beurteilung der sinnbildenden Funktionen grammatischer Formen ist es auch sehr wichtig zu wissen, welche grammatischen Differenzierungskategorien bzw. Zeichen in jedem Sprachgebrauch obligatorisch verwendet werden müssen und welche fakultativ gebraucht werden können. So muss beispielsweise im Deutschen jede Äußerung mit Hilfe von bestimmten Tempus-, Genus- und Modusmorphemen metainformativ qualifiziert werden, ob das nun im konkreten Fall besonders wichtig ist oder nicht. Für den typologischen Vergleich von Sprachen hat Jakobson daraus folgenden Schluss gezogen: „Sprachen unterscheiden sich im wesentlichen durch das, was sie mitteilen müssen und nicht durch das, was sie mitteilen können“ (Jakobson 1974, 159). Zur inneren Form einer Sprache wird man auch den Umstand zu rechnen haben, ob Adjektivattribute prädeterminierend wie im Deutschen oder postdeterminierend wie im Französischen eingesetzt werden, insofern nämlich der prädeterminierende Gebrauch synthetisierende Denkweisen begünstigt und der postdeterminierende analysierende. Auch das Phänomen der Klammerbildung wird man der inneren Form des Deutschen zuordnen können. Wenn nämlich zwischen dem Klammer eröffnenden Hilfs- oder Modalverb und dem Klammer schließenden Hauptverb alle möglichen Informationen eingebettet werden können, dann ergibt sich dadurch nicht nur eine ganz spezifische Erwartungsspannung auf die prädikative Hauptinformation am Satzende, sondern auch eine ganz spezifische Anforderung an unser Kurzzeitgedächtnis in Informationsverarbeitungsprozessen (Weinrich 1993, 29 ff.). Sprachen, die über einen bestimmten Artikel verfügen, wie etwa das Griechische und Deutsche, machen es im Gegensatz zum Lateinischen ungewöhnlich leicht, alle möglichen Wortarten zu Substantiven umzubilden, ohne dabei spektakulär in die Morphologie des Sprachsystems eingreifen zu müssen. Dadurch wird dann das spekulative Denken erleichtert, insofern alle möglichen Phänomene problemlos zu substanziellen Wesenheiten erklärt werden können, über die man dann philosophische Wesensspekulationen anstellen kann (das Gute, das Denken, das Nichts).
6. Die Normenproblematik Die These, dass Normen für die Sprache und insbesondere für die Phänomene Stil und Grammatik eine konstitutive Rolle spielen, ist ziemlich trivial. Sie wird erst interessant, wenn man ihre Prämissen, Implikationen und Konsequenzen aufzudecken versucht. Während es beim Stilbegriff umstritten ist, ob er eher auf die Abweichung von gegebenen oder eher auf die Ausbildung und die spezifische Verwendung von Sprachgebrauchsnormen gegründet werden soll, ist es beim Grammatikbegriff unstrittig, dass er auf die Respektierung von gegebenen Sprachnormen bezogen werden muss. Die metainformative Interpretation lexikalischer Zeichen durch grammatische muss normativ geregelt sein, wenn die intersubjektive Verständlichkeit von Äußerungen gewährleistet werden
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soll. Ohne normierte grammatische Ordnungsmuster entspräche eine Äußerung einem Körper ohne Skelett und bekäme eine quallige Sinngestalt. Eine klare Vorstellungsbildung, ein präziser Informationsaustausch und ein argumentativer Sprachgebrauch wären unmöglich. Je offener man die semantische Normierung lexikalischer Zeichen halten will, desto mehr müssen die grammatischen Zeichen kognitiv und instruktiv normiert werden, was der metaphorische Sprachgebrauch schlagend demonstriert. Die Normierung sprachlicher Zeichen wird allerdings immer dann zu einem Problem, wenn sprachliche Äußerungen nicht nur einem Zweck, sondern zugleich mehreren dienen sollen. Dann müssen sprachliche Ordnungsmuster variiert oder neue entwickelt werden, um die jeweiligen komplexen Objektivierungs- und Mitteilungsziele optimal verwirklichen zu können. Diese Situation ergibt sich insbesondere im natürlichen und poetischen Sprachgebrauch, der seine Flexibilität verlöre, wenn die lexikalischen und grammatischen Zeichen so streng normiert würden wie in den formalisierten Fachsprachen. Die natürliche Sprache bedarf fester Konventionen, wenn sie verständlich sein soll. Sie muss diese Normen aber auch negieren und variieren können bzw. neue lexikalische und grammatische Muster einführen dürfen, wenn sie ihren komplexen kognitiven und kommunikativen Funktionen gerecht werden will. Als sich z. B. am Ende der ahd. Sprachepoche die Differenzierungsbedürfnisse im Tempusbereich so verfeinert hatten, dass sie durch das Präsens und Präteritum nicht mehr zureichend befriedigt werden konnten, hat man zusätzlich vier neue Tempusformen entwickelt, was natürlich zur Folge hatte, dass auch das kognitive Profil und die Gebrauchsweisen der alten Tempusformen im erweiterten Tempusparadigma neu justiert werden mussten. Hinsichtlich der pragmatischen Notwendigkeit, sprachliche Normen sowohl zu stabilisieren als auch zu flexibilisieren, hat Humboldt immer wieder betont, dass man nicht den monologischen, sondern vielmehr den dialogischen Sprachgebrauch zur Grundlage sprachtheoretischer Überlegungen machen müsse. In diesem zeige sich nämlich besonders deutlich, dass das Denken einerseits immer etablierte Sprachnormen durchbrechen müsse, um innovativ zu sein, aber andererseits diese auch immer respektieren müsse, um sich selbst und anderen verständlich zu sein. „Im Menschen aber ist das Denken wesentlich an gesellschaftliches Daseyn gebunden […]. Der Begriff erreicht seine Bestimmtheit und Klarheit erst durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft“ (Humboldt 1903, Bd. 6, 160). Nun ist hinsichtlich der inneren Dialektik von Normen allerdings zu beachten, dass diese hinsichtlich ihrer jeweiligen Funktionsebene natürlich unterschiedliche Grade von Stabilität haben bzw. haben müssen. Grammatische Normen müssen fester als lexikalische und stilistische sein, weil sie deren Fundament bilden. Deshalb hat Hegel auch betont, dass man über das Studium grammatischer Formen zu den elementaren Formen des Denkens vorstoßen könne, auf denen alle bewussten Formen aufbauten. „Die Grammatik hat nämlich die Kategorien, die eigentümlichen Erzeugnisse und Bestimmungen des Verstandes zu ihrem Inhalt; in ihr fängt also der Verstand selbst an, gelernt zu werden“ (Hegel 1986, Bd. 4, 322). So gesehen sind dann stilistische Ordnungsformen in Opposition zu grammatischen genuine Ausdrucksformen individueller Sinnbildungsanstrengungen auf der Basis von schon standardisierten gesellschaftlichen Sinnbildungsmustern. Aus diesem Tatbestand lässt sich ableiten, dass der Begriff Stil in ganz exemplarischer Weise als relationaler Begriff zu verstehen ist, da er sich nur im Bezug auf historische, soziale, textuelle und situative Erwartungsnormen konkretisieren lässt. Solange sprachliche Gestaltungsformen genau dem entsprechen, was man habituell erwartet, fällt
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil es schwer, ihnen eine spezifische Sinnbildungsqualität zuzuschreiben. Erst im Kontext von Alternativen offenbart sich die spezifische Stilqualität von Äußerungsformen. Sprachliche Ausdrücke aller Art können durch die Verwendung in bestimmten Kontexten eine andere kognitive Qualität bekommen. Das lässt sich sprachhistorisch beispielsweise sehr gut an der Konjunktion weil exemplifizieren. Diese geht auf den mhd. Ausdruck di wıˆle zurück, der ursprünglich nur eine zeitliche Verknüpfungsfunktion hatte. Da die zeitliche Verknüpfung aber oft zugleich auch als eine kausale verstanden werden konnte, hat sich allmählich die zeitliche Korrelationsfunktion dieses grammatischen Zeichens ganz zu Gunsten einer kausalen verflüchtigt. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch erleben wir wiederum einen spezifischen Funktions- und Normenwandel bei der Konjunktion weil. Insbesondere im mündlichen Sprachgebrauch wird sie nicht mehr nur als subordinierende Konjunktion mit Verbletztstellung benutzt, sondern auch als koordinierende Konjunktion mit Verbzweitstellung (Er hat einen Unfall gemacht, weil er war betrunken). Daraus kann man nun den Schluss ziehen, dass wir zukünftig vielleicht ein sachthematisch begründendes und subordinierendes weil von einem reflexionsthematisch erläuternden und koordinierenden weil zu unterscheiden haben. Solange man ein unerschüttertes Grundvertrauen in die Ordnungskraft sprachlicher Formen und Gebrauchsnormen hat, solange liegt es natürlich nahe, das Stilproblem als ein Problem der ornamentalen Einkleidung bzw. der optimalen Repräsentation von Gedanken anzusehen und nicht als Problem der Gestaltung von Gedanken. Je mehr sich aber im Laufe der Zeit dieses naive Grundvertrauen in die Sprache nicht zuletzt durch kontrastive Sprachvergleiche verflüchtigte, desto mehr entwickelte sich die Vorstellung, dass der Stil als eine genuine Ausdrucksform des subjektiven Denkens bzw. des Subjekts anzusehen sei. Als Beleg für diese Umorientierung der Stilauffassung wird oft die These Buffons aus seiner Antrittsrede vor der Acade´mie Franc¸aise von 1753 herangezogen, wonach der Stil der Mensch selbst sei. Wolfgang Müller hat nun aber einleuchtend nachgewiesen, dass dieser griffige Topos ursprünglich keineswegs als eine These zur Kennzeichnung der Subjektivität eines individuellen Sprechers im Sinne des 19. Jhs. zu verstehen sei, sondern dass Buffon mit dieser These lediglich thematisieren wollte, dass die sachadäquate sprachliche Darstellung der objektiv gegebenen Welt eine genuine Aufgabe des Menschen als eines rationalen und gebildeten Wesens sei: „Ces choses sont hors de l’homme, le style est l’homme meˆme“ (Müller 1981, 41). In Buffons Denkperspektive ist der Stilbegriff sehr eng mit dem Normbegriff verbunden, insofern er einerseits auf ein umfassendes Sachwissen bezogen ist und andererseits auf logische Ordnungsprinzipien, die nach Auffassung des Rationalismus in grammatischen Ordnungsformen ihren genuinen Ausdruck finden. Guter Stil resultiert so gesehen aus gutem Denken und sachadäquatem Sprachgebrauch. Er ist eine Form der Selbstdarstellung des Menschen, aber weniger in einem subjektbezogenen als in einem gattungsbezogenen Sinne. Erst als sich das Grundvertrauen in sprachliche Formen und Normen immer mehr auflöste, war der Weg frei, das Phänomen Stil als Manifestationsweise des individuellen Denkens von Personen, Gruppen und Epochen zu verstehen. Diese Tendenz zeigt sich sehr klar, als Schopenhauer ein Jahrhundert später die anthropologischen Implikationen des Stilbegriffs thematisiert hat. „Der Stil ist die Physiognomie des Geistes. Sie ist untrüglicher als die des Leibes. Fremden Stil nachahmen heißt eine Maske tragen. Wäre diese auch noch so schön, so wird sie, durch das Leblose, bald insipid und unerträglich; so daß selbst das häßlichste lebendige Gesicht besser ist […]. Die Sprache, in welcher man schreibt, ist die Nationalphysiognomie“ (Schopenhauer
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1988, Bd. 5, 455). Schopenhauers Diktum repräsentiert ein Stilverständnis, das die Stilproblematik aus der primären Orientierung an der Objektsphäre löst und sie stattdessen recht deutlich an die Subjektsphäre bzw. an individuelle Gestaltungsintentionen bindet. Dadurch wird der Stilbegriff auf eine psychologische Ebene gebracht und gerät zunehmend in ein Spannungsverhältnis zu den kognitiven Ordnungsfunktionen der tradierten Sprachformen und zu den Normen ihres konventionellen Gebrauchs. Dieser kulturgeschichtliche Entwicklungsprozess hat zu einer paradoxen Spannung in unserem heutigen Stilverständnis geführt. Einerseits muss man einräumen, dass man in sprachlichen Sinnbildungsprozessen immer stabile Normen braucht, um intersubjektiv verständliche und prägnant strukturierte Sinngestalten zu erzeugen. Andererseits muss man aber auch akzeptieren, dass solche Normen immer wieder gebrochen werden müssen, um individuelle sprachliche Sinngestalten zu erzeugen bzw. um individuelle Sichtweisen auf bestimmte Sachverhalte sprachlich zu objektivieren. Nur wenn sich ein Sprachproduzent nicht als Interpret, sondern als sprachlicher Fotograf der Welt oder gar als Sprachrohr des Weltgeistes versteht, verschwindet diese Spannung. Je schwächer das interpretative und kreative Denken ist, desto identischer ist es mit den vorgegebenen Sprachformen und Sprachverwendungsnormen und desto mehr bewegt es sich in den vorgegebenen Gleisen der Sprache. Je mehr sich jemand seiner Sache unsicher ist bzw. danach strebt, neue Wahrnehmungsperspektiven auf anscheinend bekannte Sachverhalte zu eröffnen, desto mehr muss er auf einen Ausgleich des Spannungsverhältnisses zwischen Sprachnormen und Sprachinnovationen achten bzw. auf die Ausprägung prägnanter Stilformen. Nietzsche hat das auf eine einprägsame Formel gebracht: „Den Stil verbessern ⫺ das heißt den Gedanken verbessern, und gar nichts weiter!“ (Nietzsche 1973, Bd. 1, 930). Die Abweichung von tradierten Normen kann natürlich auch zu einer bloßen Manier werden, durch die der Blick auf die darzustellende Sache zu Gunsten des Blicks auf den Sprecher und dessen mögliche Eitelkeiten abgelenkt wird. Deshalb möchte Heyse den an der Objektsphäre orientierten Stil klar von dem an der Subjektsphäre orientierten unterscheiden. Das ist insgesamt vielleicht etwas unrealistisch, aber es verdeutlicht zumindest ein letztlich nicht ganz aufhebbares Spannungsverhältnis. „Wenn also vom subjectiven Stil das Wort gilt: der Stil ist der Mensch; so kann man von dem objectiven Stil mit noch größerem Recht sagen: der Stil ist die Sache selbst“ (Heyse 1856, 257).
7. Stil als Perspektivitätsproblem Im Anschluss an die bisherigen Überlegungen zur Stilproblematik stellt sich die Frage, ob sich ein umfassendes Ordnungskonzept finden lässt, mit dessen Hilfe man die vielfältigen Aspekte der Stilproblematik übersichtlich ordnen und insbesondere die Sinnbildungsfunktion grammatischer Zeichen in das Verständnis von Stil integrieren kann. Die grammatischen Formen rücken bei Stilanalysen nicht immer in den Fokus der Aufmerksamkeit, weil sie im Einklang mit einer langen grammatischen Denktradition oft nur als semantisch neutrale Organisationsformen der Sprache verstanden werden, die bei der Konstitution von sprachlichen Sinngestalten im Gegensatz zu lexikalischen Formen keine prägende Rolle spielen. Möglicherweise bietet der Perspektivitätsgedanke eine Hilfe, um plausibel zu machen, dass grammatische Formen keine neutralen Transport-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
formen für lexikalisch objektivierte Vorstellungsinhalte sind, sondern ebenso wie diese an der Ausbildung von sprachlichen Sinngestalten konstitutiv mitwirken. Obwohl der Perspektivitätsgedanke seine Herkunft aus der theoretischen Beschreibung von visuellen Gestaltungs- und Wahrnehmungsprozessen natürlich nicht verleugnen kann, ist er dennoch auch für die Analyse von sprachlichen Gestaltungs- und Wahrnehmungsprozessen fruchtbar, insofern sich mit ihm auf ein anthropologisches Urphänomen Bezug nehmen lässt, das alle kognitiven Prozesse grundlegend prägt (Köller 2004, 6 ff.). Durch den Perspektivitätsbegriff lassen sich alle menschlichen Gestaltungs- und Wahrnehmungsprozesse kontrastiv von absoluten bzw. göttlichen absetzen. Sein heuristischer Wert besteht darin, dass mit ihm alle grundlegenden Faktoren erfasst und korreliert werden können, die wirksam werden, wenn Erkenntnissubjekte Kontakt zu Erkenntnisobjekten aufzunehmen versuchen bzw. wenn Vorstellungsinhalte mit Hilfe von Zeichen objektiviert und vermittelt werden sollen. Der Perspektivitätsbegriff ist ein genuin medialer Begriff und eben deswegen für alle stilistischen Analysen von grundlegender Relevanz. Seine Herkunft aus der Welt des Auges mindert aber keineswegs seinen heuristischen Wert, da visuelle Wahrnehmungsprozesse von alters her als exemplarische Modelle für geistige verstanden worden sind. Für den Perspektivitätsbegriff ist konstitutiv, dass er drei grundlegende Faktoren von Sinnbildungsprozessen in einen Interdependenzzusammenhang zu bringen versucht. Diese Faktoren lassen sich mit den Termini Aspekt, Sehepunkt und Perspektive bezeichnen. Das Phänomen Perspektivität ist uns als unausweichliche Rahmenbedingung für die Strukturierung von visuellen und geistigen Sinnbildungsprozessen im Prinzip so selbstverständlich, dass wir darüber ebenso wenig nachdenken wie über das Phänomen Schwerkraft als unausweichliche Rahmenbedingung für unsere körperlichen Bewegungsmöglichkeiten. Gleichwohl lohnt es sich aber, die Struktur und die Implikationen dieses Phänomens etwas genauer ins Auge zu fassen, weil dadurch ein erhellendes Licht auf die medialen Funktionen der Sprache und insbesondere des Stils und der Grammatik geworfen werden kann. Der Begriff Aspekt ist genuin objektorientiert. Er dient dazu, den Umstand hervorzuheben, dass den Menschen ihre Wahrnehmungsgegenstände nie vollständig zugänglich sind, sondern nur hinsichtlich derjenigen Ansichten, die die jeweiligen Wahrnehmungsbedingungen zulassen. Diese Wahrnehmungseinschränkung lässt sich durch keine methodische Raffinesse aufheben, sondern nur dadurch abmildern, dass durch die Variation der jeweiligen Wahrnehmungsbedingungen einzelne Wahrnehmungsaspekte durch andere ergänzt werden. Der Begriff Sehepunkt ist genuin subjektorientiert. Er dient dazu, unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass jede Sachwahrnehmung durch die räumliche und geistige Position des jeweiligen Wahrnehmungssubjekts bedingt wird bzw. durch die von ihm verwendeten Wahrnehmungsmethoden und medialen Objektivierungsmittel. All diese Faktoren präjudizieren, welche Aspekte von Wahrnehmungsobjekten in Erscheinung treten können und welche nicht. Durch die räumliche und geistige Eigenbewegung von Wahrnehmungssubjekten bzw. durch die Variation von medialen Objektivierungsmitteln lassen sich dementsprechend auch neue Aspekte von Wahrnehmungsgegenständen erschließen bzw. alte präzisieren. Der Begriff Perspektive ist genuin strukturorientiert. Er dient dazu, uns verständlich zu machen, dass alle Wahrnehmungsinhalte nicht Ergebnisse von registrierenden, sondern von interpretierenden Akten sind. Durch ihn kann verständlich gemacht werden,
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dass eine Sachwahrnehmung weder allein von der Objektseite her noch allein von der Subjektseite her erkenntnistheoretisch befriedigend beschrieben werden kann, sondern allein im Rahmen derjenigen Wahrnehmungsperspektive, in der sie in Erscheinung getreten ist oder zu treten vermag. Deshalb kann man die Ausbildung von Wahrnehmungsund Objektivierungsperspektiven auch als ein Verfahren ansehen, mit dessen Hilfe Subjekte in die Welt der Objekte hineingleiten bzw. sich diese geistig präsent machen. Infolgedessen sind auch alle von Menschen entwickelten Zeichen als Manifestationsformen von Perspektivierungsanstrengungen anzusehen und somit dem Phänomen der Perspektivität zuzuordnen. Zeichen und insbesondere sprachliche Zeichen bestimmen als hinweisende Repräsentationsmittel nicht nur, worauf sich unsere Aufmerksamkeit richten soll, sondern als interpretierende Repräsentationsmittel und kategorisierende Denkmuster auch, wie wir etwas aspektuell wahrnehmen können und sollen. Zeichen richten unseren Blick nicht nur auf Sachverhalte, sondern beleuchten diese zugleich auch in einem bestimmten kognitiven Licht, insofern sie etwas als etwas wahrnehmbar machen. Stilfragen sind dementsprechend als genuine Perspektivierungsfragen anzusehen, insofern die stilistische Ausformung einer Äußerung festlegt, wie wir Kontakt mit einem Sachverhalt bekommen bzw. in welchem Licht welche seiner Aspekte für uns sichtbar werden. Wenn wir den Perspektivitätsbegriff auf diese Weise strukturieren und in dieser Ausprägungsform auf die Stilanalyse von Texten anwenden, dann empfiehlt es sich, zwischen der kognitiven und der kommunikativen Perspektivität von Texten bzw. Stilformen in Texten zu unterscheiden. Von der kognitiven Perspektivität einfacher und komplexer sprachlicher Formen lässt sich immer dann sprechen, wenn wir uns dafür interessieren, welches Differenzierungswissen sich in diesen Formen sedimentiert hat und wie es kognitiv strukturiert ist. Die Frage nach der kognitiven Perspektivität von sprachlichen Formen richtet sich dementsprechend immer auf die Struktur des kollektiven Wissens, das sich in diesen Formen von den Wörtern bis zu den Textmustern verfestigt hat und das beim Gebrauch dieser Formen immer wieder aktiviert wird, selbst wenn es dabei auch variiert wird. Von der kommunikativen Perspektivität sprachlicher Formen lässt sich immer dann sprechen, wenn wir uns für die Perspektivierungsanstrengungen in konkreten sprachlichen Äußerungen interessieren bzw. wenn wir wissen wollen, von welchen konkreten Sehepunkten und hinsichtlich welcher Aspekte jemand für sich und andere einen Sachverhalt mit Hilfe konventionalisierter Sprachmuster perspektivisch erschließen und objektivieren will. Es ist offensichtlich, dass die Frage nach der kommunikativen Perspektivität sprachlicher Formen unmittelbar mit der Stilfrage verbunden ist, weil wir mit ihrer Hilfe ja etwas über den geistigen Sehepunkt eines Individuums, einer Epoche oder einer Textgattung für einen Sach- und Problemzusammenhang erfahren wollen bzw. über die Aspekte, die an einem Sachverhalt jeweils herausgearbeitet und beleuchtet werden sollen. Die Frage nach der kognitiven Perspektivität sprachlicher und insbesondere grammatischer Formen ist eher indirekt mit der Stilproblematik verbunden. Von ihr können wir uns erst ein Bild machen, wenn wir aus den faktischen Sinnbildungsprozessen heraustreten und uns von einem extrakommunikativen Sehepunkt her Rechenschaft über die Prämissen von konkreten Sinnbildungsanstrengungen abzulegen versuchen. In stilistischen Analysen ist die kognitive Perspektivität sprachlicher Formen allerdings immer mit zu bedenken, weil sich individuelle Perspektivierungsanstrengungen nur im Kontext derjenigen Perspektivierungsanstrengungen qualifizieren lassen, die sich in den verwendeten Sprachmustern schon traditionell verfestigt haben. Die in sprachlichen und insbesondere
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil in grammatischen Mustern gebundene kognitive Perspektivität lässt sich gut über zwei Denkbilder veranschaulichen. Seit dem Mittelalter ist die Vorstellung bekannt, dass die Nachgeborenen im Hinblick auf kulturelle Arbeitsleistungen gleichsam als Zwerge auf den Schultern von Riesen stehen (Merton 1989). Im Hinblick auf unsere Problematik lässt sich dieses Bild auf ambivalente Weise verstehen. Durch den Gebrauch der von unseren Vorfahren erarbeiteten sprachlichen Muster übernehmen wir von ihnen immer auch historisch bewährte Denkperspektiven für unsere aktuellen Perspektivierungsanstrengungen. Dadurch werden wir in unseren eigenen Wahrnehmungsprozessen sowohl unterstützt als auch präjudiziert. Auf den Schultern unserer Vorfahren können wir zwar weiter sehen als diese, aber gleichzeitig sind wir auch von den konkreten Wahrnehmungsobjekten weiter entfernt als diese und können uns diese Objekte immer weniger gut durch eigene Handlungserfahrungen erschließen. Die Traditionsbelastung unseres Wahrnehmens und Denkens durch die konventionalisierten Sprachformen hat Hugo von Hofmannsthal in einem anderen Denkbild eindrucksvoll veranschaulicht: „Denn für gewöhnlich stehen nicht die Worte in der Gewalt der Menschen, sondern die Menschen in der Gewalt der Worte […]. Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit“ (Hofmannsthal 1950, 267). Die in grammatischen Formen gebundene kognitive Perspektivität tritt als stilistisches Problem insbesondere bei Übersetzungen in Erscheinung. Wie soll man beispielsweise die sinnbildenden Funktionen der deutschen Tempus- und Modusmorpheme zur Geltung bringen, wenn man deutsche Texte in die chinesische Sprache übersetzt, wo es grammatische Verbmorpheme dieser Art gar nicht gibt? Wie lässt sich die Wahl solcher grammatischen Morpheme rechtfertigen, wenn man chinesische Texte ins Deutsche übersetzt und dabei in die deutschen Texte notwendigerweise Informationen einschleusen muss, die in dieser dezidierten Form im Ausgangstext gar nicht vorhanden sind? Dieses Problem verdeutlicht sehr klar, worauf Schopenhauer unsere Aufmerksamkeit richten wollte, als er den Stil als Physiognomie des Geistes qualifiziert hat und einzelne Sprachen als Manifestationsformen einer Nationalphysiognomie. Aus der immanenten kognitiven Perspektivität sprachlicher Zeichen ergibt sich nicht, dass sinnäquivalente Übersetzungen unmöglich sind, sondern nur, dass man sich eine sehr genaue Rechenschaft über die kognitive Perspektivität sprachlicher Formen ablegen muss, um einer Übersetzung ein dem Ausgangstext vergleichbares Sinnrelief geben zu können. Solche Analysen sind im Hinblick auf grammatische Zeichen natürlich sehr viel schwerer als im Hinblick auf lexikalische. Das gilt insbesondere dann, wenn wir die Analyse auch auf die innere Form von Sprachen ausdehnen und dabei auf anthropologische Denkmuster stoßen, zu denen wir uns kaum Alternativen vorstellen können. Erst wenn wir darüber spekulieren, welche kognitive Perspektivität grammatische Formen haben müssten, die Engel oder Fledermäuse für ihre kognitiven und kommunikativen Bedürfnisse benötigten, können wir den Stellenwert dieses Problems adäquat einschätzen. Die stilistische Analyse grammatischer Zeichen auf der Basis ihrer kognitiven und kommunikativen Perspektivierungsfunktionen führt uns zu Ergebnissen, die uns meist auch schon über unser Sprachgefühl zugänglich sind, die aber hier in der Regel eine so vage Form haben, dass sie kaum argumentativ für eine Textinterpretation zu verwerten sind. Beispielsweise erfassen wir natürlich intuitiv, dass ein parataktisch strukturierter Text ein anderes Sinnrelief als ein hypotaktisch strukturierter hat. Aber erst durch die Analyse der kognitiven und kommunikativen Perspektivität der verwendeten Konjunk-
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tionen können wir uns von der Suggestionskraft der postulierten Korrelationen von Aussagen befreien und die Frage stellen, ob es berechtigt ist, dass der Sprecher gerade diese und keine anderen konjunktionalen Verkettungen von Einzelaussagen konkret festgelegt hat, und warum er es nicht den Rezipienten überlässt, die entsprechenden Korrelationen im Verstehensprozess selbst vorzunehmen. Außerdem ließe sich fragen, warum ein Sprecher durch die Verwendung von Konjunktionen eher dazu anregen möchte, in argumentativ orientierte Sinnbildungsprozesse einzutreten als in bildlich orientierte. Im Hinblick auf die mögliche Nutzung von Negationsmitteln in einem Text könnte man sich z. B. fragen, warum ein Textproduzent es bevorzugt, einen Sachverhalt perspektivisch im Rahmen einer affirmierenden oder einer negierenden Darstellungsweise zu objektivieren (Er ist zu Hause geblieben. Er ist nicht weggefahren). Bei der Verwendung von grammatischen Negationszeichen wird ein Tatbestand so dargestellt, dass er primär nicht als eigenständiger Sachverhalt in Erscheinung tritt, sondern als Abweichung von einer Erwartung. Deshalb müssen bei der Verwendung von negierten Aussagen auch immer zwei unterschiedliche Denkoperationen vollzogen werden, nämlich eine, in der eine Sachvorstellung erzeugt wird, und eine, in der diese Sachvorstellung metainformativ als nicht gegeben verstanden wird. Aus dem Gebrauch von Negationszeichen können wir dementsprechend rekonstruieren, in welchem Erwartungshorizont ein Sprecher einen Sachverhalt wahrnimmt bzw. wie er das Denken eines Rezipienten diesbezüglich steuern möchte. Nun kann man sich natürlich lange darüber streiten, ob die sprachliche Objektivierung eines Sachverhalts mit unterschiedlichen grammatischen Mitteln nur als eine unterschiedliche perspektivische Darstellung desselben Phänomens zu verstehen ist oder als Darstellung eines ganz anderen Phänomens. Dieses Problem wird sich kaum endgültig lösen lassen. Es muss vielmehr als ein Problem toleriert werden, das uns ständig dazu zwingt, Stilfragen nicht nur als ornamentale Fragen, sondern auch als Perspektivierungsfragen mit bestimmten heuristischen, hermeneutischen und rezeptionssteuernden Implikationen wahrzunehmen. Wenn man grammatische Formen prinzipiell als Perspektivierungsmittel mit einem schon konventionell vorgegebenen kognitiven Perspektivierungspotenzial und einer aktuellen kommunikativen Perspektivierungsintention ansieht, dann stellt sich natürlich auch die Frage, welche Sinnschichten von Texten sich über die Analyse grammatischer Zeichen bzw. Sinnbildungsmittel erschließen lassen (Köller 1988, 355⫺381). Erstens kann man sich auf die Subjektsphäre konzentrieren und danach fragen, welche Rückschlüsse aus den verwendeten grammatischen Formen auf den Sehepunkt des jeweiligen Sprechers und seine aspektuellen Wahrnehmungsinteressen gezogen werden können. Dabei kann man sich dann zugleich auch für den Machtanspruch des Sprechers interessieren, Sachverhalte in der von ihm gewählten Objektivierungsperspektive zu beherrschen und anderen zugänglich zu machen. Zweitens kann man sich medial orientieren und danach fragen, inwieweit sich ein Sprecher bei der Verwendung von grammatischen Formen an deren immanente kognitive Perspektivität und traditionelle Instruktionsfunktion bindet bzw. diese variiert, relativiert oder negiert, indem er diese Formen unüblich verwendet und damit tendenziell auch abändert. So spricht Weinrich etwa von einer Tempusmetaphorik, wenn Tempusformen in Kontexten verwendet werden, in denen sie üblicherweise nicht zu erwarten sind (Weinrich 2001, 192 ff.). Das exemplifiziert sich z. B. sehr eindrucksvoll in der so genannten erlebten Rede, die erhebliche Verstehensturbulenzen auslösen kann, wenn man sich an den traditionellen Perspektivierungsfunktio-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil nen des Präteritums und des Erzählens in der 3. Pers. Sing. orientiert (Köller 2004, 706⫺ 719). Drittens kann man sich auf die Objektsphäre konzentrieren und danach fragen, inwieweit die verwendeten grammatischen Objektivierungsformen dem zu strukturierenden Sachverhalt angemessen sind bzw. inwieweit sich darin kulturbedingte Stärken und Schwächen offenbaren. Eine Antwort auf diese Frage setzt naturgemäß nicht nur ein umfangreiches Sach- und Sprachwissen voraus, sondern auch eine große metareflexive Kompetenz und hermeneutische Beweglichkeit. Der zuletzt angesprochene Problemzusammenhang ist insbesondere im Bereich der Naturwissenschaften sehr aktuell. Hier wird oft postuliert, dass es Sachverhalte gebe, bei denen es sich gleichsam von selbst verbiete, in Betracht zu ziehen, sie in unterschiedlich perspektivierter Weise darzustellen, weil es nur eine einzige sachadäquate sprachliche Objektivierungsform für sie gebe. Daraus ist dann oft der Schluss gezogen worden, dass Stil als individuell bedingte Perspektivierungsform von Sachverhalten sich nur dort entfalten könne, wo fiktive Welten entworfen würden und wo es individuelle Gestaltungsfreiräume gebe, aber nicht dort, wo die Logik der Sache den Gebrauch von Fachbegriffen und grammatischen Mustern reguliere. Diese Argumentation ist allerdings nicht ganz so stichhaltig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Wenn man grundsätzlich der These zustimmt, dass mit sprachlichen Formen nicht die Welt an sich abgebildet werden kann, sondern allenfalls die Welt für uns, dann muss man auch einräumen, dass mit jeder sprachlichen Weltobjektivierung Perspektivierungsanstrengungen und damit Stilprobleme verbunden sind. Im Bereich der Naturwissenschaften unterliegt die stilistische Formung von Äußerungen allerdings weniger dem spezifischen Gestaltungswillen einer individuellen Person, sondern eher den Gestaltungspostulaten einer Objektivierungsmethode bzw. eines anerkannten Denkparadigmas, das den jeweiligen Verwendern als solches meist gar nicht bewusst ist und dessen Besonderheiten sich oft erst durch historische Vergleiche erschließen. Erkenntnistheoretisch sensibilisierte Naturwissenschaftler haben aber keine Scheu, von milieubedingten Sehweisen sowie von kulturbedingten Stilen und Diskursformen in ihren Wissenschaften zu sprechen (Weiss 1997, 125 ff.). Auch Naturwissenschaftler können ihre Gegenstände natürlich nicht perspektivitätsfrei aus göttlicher Sicht betrachten und darstellen. Auch sie unterliegen einem methodischen und einem medialen Relativitätsprinzip, das auch als ein stilistisches verstanden werden kann. Dessen innere Dialektik hat Humboldt im Hinblick auf die Sprache eindringlich beschrieben: „Der Mensch lebt mit den Gegenständen […] so, wie die Sprache sie ihm zuführt. Durch denselben Act, vermöge dessen er die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein“ (Humboldt 1903, Bd. 7, 60). Diese Sichtweise verbietet es, das Phänomen Stil als ein Schmuckphänomen anzusehen, das sich einem von ihm unabhängigen Inhalt auflagert. Es gebietet vielmehr, dieses Phänomen als Ausdruck eines Sinnbildungsverfahrens anzusehen, das nicht auf sich selbst aufmerksam machen will, sondern auf eine bestimmte perspektivische Erfassung von Sachverhalten. Deshalb machen sich gute Stilformen in spontanen Rezeptionsprozessen auch genauso vergessen wie adäquat verwendete grammatische Formen, insofern ein guter Stil zugleich auch ein überzeugendes Denken und eine prägnante Darstellung repräsentiert. Die stilistischen und grammatischen Bedingtheiten unserer Vorstellungsbildung, die wir medial sowohl als Hilfe als auch als Einschränkung verstehen können, lassen sich abschließend vielleicht durch das Denkbild des Fensters und das des Beleuchtungslichtes sinnbildlich veranschaulichen. Fenster sind die strukturellen Voraussetzungen dafür, dass wir aus dem Gehäuse unserer persönlichen, kollektiven und kulturellen Individualität nach draußen sehen kön-
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nen. Fenster gehören einerseits zu einem Gebäude, aber ihre genuine Funktion besteht darin, dass sie jemandem den Blick aus einem Gebäude ermöglichen sollen. Solange Fenster konkret genutzt werden, fallen sie als mediale Phänomene gar nicht auf, obwohl sie natürlich determinieren, wohin wir sehen und was wir sehen. Auf die perspektivierende Funktion von Fenstern werden wir erst aufmerksam, wenn wir unser Denken neu ausrichten und es nicht mehr sachthematisch, sondern reflexionsthematisch orientieren. In ähnlicher Weise fallen uns auch Stil- und Grammatikformen als mediale Phänomene erst dann auf, wenn wir von ihnen keinen direkten Gebrauch machen, sondern sie als sinnbildende sprachliche Perspektivierungsmittel in einem extrakommunikativen Blickwinkel ins Auge zu fassen versuchen. Eine ganz ähnliche Erläuterungsfunktion für die Phänomene Stil und Grammatik lässt sich auch mit dem Denkbild des Beleuchtungslichtes verbinden. Ebenso wie die Beleuchtung aus einem Sandstein keinen Marmor macht, aber doch vorgibt, wie Sandstein und Marmor für uns in Erscheinung treten, so geben auch Stil- und Grammatikformen vor, wie außersprachliche Phänomene für uns geistig präsent werden können. Das Beleuchtungslicht erzeugt keine Phänomene, aber es bestimmt doch, wie diese für uns aspektuell wahrnehmbar und damit auch existent werden. Als Erkenntnismedien lassen sich sowohl Fenster bzw. Beleuchtungsquellen als auch Stil- und Grammatikformen neuen Wahrnehmungsbedürfnissen anpassen, aber sie lassen sich nicht als konstitutive Erkenntnis- und Wahrnehmungsbedingungen aufheben.
8. Literatur (in Auswahl) Cassirer, Ernst (1985): Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandwelt. In: Ernst Cassirer: Symbol, Technik, Sprache. Hamburg, 121⫺160. Chomsky, Noam (1971): Syntactic Structures. 9 th ed. The Hague/Paris. Gauger, Martin (1995): Über Sprache und Stil. München. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1986): Werke in 20 Bänden. Frankfurt a. M. Heyse, K. W. L. (1856): System der Sprachwissenschaft. Nachdruck. Hildesheim/New York 1973. Hofmannsthal, Hugo von (1950): Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Prosa I. Frankfurt. Humboldt, Wilhelm von (1903): Gesammelte Schriften. Nachdruck. Berlin 1986. Jakobson, Roman (1974): Aufsätze zur Linguistik und Poetik. München. Kaznelson, S. D. (1974): Sprachtypologie und Sprachdenken. München. Kishitani, Shoˆko (1960): Die Psyche der japanischen Sprache und die europäische Denkweise. In: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 44, 271⫺281. Köller, Wilhelm (1988): Philosophie der Grammatik. Vom Sinn grammatischen Wissens. Stuttgart. Köller, Wilhelm (2004): Perspektivität und Sprache. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache. Berlin/New York. Merton, Robert (1989): Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. Frankfurt a. M. Müller, Wolfgang (1981): Topik des Stilbegriffs. Zur Geschichte des Stilverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt. Nietzsche, Friedrich (1973): Werke in drei Bänden. Hrsg. v. Karl Schlechta. 7. Aufl. München. Schneider, Wilhelm (1969): Stilistische deutsche Grammatik. Die Stilwerte der Wortarten, der Wortstellung und des Satzes. 5. Aufl. Freiburg u. a. Schopenhauer, Arthur (1988): Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich. Schwinger, Reinhold (1935): Innere Form. Ein Beitrag zur Definition des Begriffs auf Grund seiner Geschichte von Shaftesbury bis W. v. Humboldt. In: Reinhold Schwinger/Heinz Nicolai (Hrsg.):
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Innere Form und dichterische Phantasie. Zwei Vorstufen zu einer neuen deutschen Poetik. München, 1⫺89. Spitzer, Leo (1961): Stilstudien, 2 Bde. 2. Aufl. Darmstadt. Weinrich, Harald (1993): Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim. Weinrich, Harald (2001): Tempus. Besprochene und erzählte Welt. 6. Aufl. München. Weiss, Burghard (1997): „Stil“. Eine vereinheitlichende Kategorie in Kunst, Naturwissenschaft und Technik? In: Eberhard Knobloch (Hrsg.): Wissenschaft, Technik, Kunst. Wiesbaden, 147⫺163. Wellek, Albert (1969): Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie. 2. Aufl. Bern. Whorf, Benjamin Lee (1963): Sprache, Denken, Wirklichkeit. Reinbek.
Wilhelm Köller, Kassel (Deutschland)
73. Stil und Individuum (Individualstil) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Einheit und Differenz Stil als Ausdruck der Persönlichkeit Stil und Idiolekt Stil und Einzeltext (Werkstil) Ausblick Literatur (in Auswahl)
Abstract Both style and the individual aim at forming a unity. However, these separate elements can only be grasped by differentiated concepts, such as the concept of individuality which allows to describe the general by referring to the specific of the style and of the individual, respectively. From a historical perspective, style was first understood as personal style, i. e. as an expression of personality. In the 16th and 17th centuries, style was perceived as a person’s overall manner and image. Then, the concept of individual style emerged in the 18th century, initially standing for a person’s nature. Only in the 19th century was style finally redefined as an expression of the individual’s subjectivity, and in the early 20th century as that of a human’s psyche. The 20th century criticism of this concept led to a more concentrated focus on the linguistic aspects of style. Thus, a distinction between idiolect and personal style gained prominence through theoretical approaches, while forensic linguistics unavailingly searched for the linguistic fingerprint. Criticism of the concept also resulted in a reduced interest in the style of individual texts, which remains a common trend in literary criticism today. Since the 1990s, it has also become a popular topic of discussion in text linguistics. Insights into the role of style for the constitution of individual texts has spurred the demand for text stylistics, which, in turn, should closely collaborate with literary criticism as well as social and communication sciences.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Innere Form und dichterische Phantasie. Zwei Vorstufen zu einer neuen deutschen Poetik. München, 1⫺89. Spitzer, Leo (1961): Stilstudien, 2 Bde. 2. Aufl. Darmstadt. Weinrich, Harald (1993): Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim. Weinrich, Harald (2001): Tempus. Besprochene und erzählte Welt. 6. Aufl. München. Weiss, Burghard (1997): „Stil“. Eine vereinheitlichende Kategorie in Kunst, Naturwissenschaft und Technik? In: Eberhard Knobloch (Hrsg.): Wissenschaft, Technik, Kunst. Wiesbaden, 147⫺163. Wellek, Albert (1969): Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie. 2. Aufl. Bern. Whorf, Benjamin Lee (1963): Sprache, Denken, Wirklichkeit. Reinbek.
Wilhelm Köller, Kassel (Deutschland)
73. Stil und Individuum (Individualstil) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Einheit und Differenz Stil als Ausdruck der Persönlichkeit Stil und Idiolekt Stil und Einzeltext (Werkstil) Ausblick Literatur (in Auswahl)
Abstract Both style and the individual aim at forming a unity. However, these separate elements can only be grasped by differentiated concepts, such as the concept of individuality which allows to describe the general by referring to the specific of the style and of the individual, respectively. From a historical perspective, style was first understood as personal style, i. e. as an expression of personality. In the 16th and 17th centuries, style was perceived as a person’s overall manner and image. Then, the concept of individual style emerged in the 18th century, initially standing for a person’s nature. Only in the 19th century was style finally redefined as an expression of the individual’s subjectivity, and in the early 20th century as that of a human’s psyche. The 20th century criticism of this concept led to a more concentrated focus on the linguistic aspects of style. Thus, a distinction between idiolect and personal style gained prominence through theoretical approaches, while forensic linguistics unavailingly searched for the linguistic fingerprint. Criticism of the concept also resulted in a reduced interest in the style of individual texts, which remains a common trend in literary criticism today. Since the 1990s, it has also become a popular topic of discussion in text linguistics. Insights into the role of style for the constitution of individual texts has spurred the demand for text stylistics, which, in turn, should closely collaborate with literary criticism as well as social and communication sciences.
73. Stil und Individuum (Individualstil)
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1. Einheit und Dierenz Die Begriffe Stil und Individuum arbeiten gleichermaßen mit einer „Einheitsvorentscheidung“ (Heinz 1986, 47), die ihre Koppelung bis heute attraktiv erscheinen lässt, zugleich aber auch deren Folgeprobleme andeutet. Sie vermehren sich in dem Maße, in dem Vorentscheidungen zugunsten von Differenzen insbesondere in Theoriekontexten erfolgversprechender werden als Identitätsannahmen. Es empfiehlt sich daher, auch Stil und Individuum im Fokus einer Differenz zu beobachten. Dafür bietet sich in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften die Differenz von Allgemeinem und Besonderem an (vgl. Nowak 1983, 123), deren Einheit sich systemtheoretisch auf den Begriff der Individualität bringen lässt. Individualität wäre dann nicht länger der „Sorgenfaktor“ (Heinz 1986, 230) der Stildiskussion sondern das Allgemeine im Besonderen des Stils (vgl. Luhmann 1986) wie auch des Individuums (vgl. Luhmann 1989). Für die Position des Allgemeinen, von der sich das Individuelle des Stils abheben lässt, bieten sich neben dem Kunst- oder dem Sprachsystem verschiedene Kollektivstile an, zu denen Zeit- und Epochenstile, Gruppenstile, National- und Kulturstile, Gattungs- und Textsortenstile, Funktionalstile etc. gehören. Umgekehrt bleibt die Konstitution überindividueller Stileinheiten auf die deskriptive Erfassung einzelner Stilvorkommen angewiesen (vgl. Anderegg 1977, 34 f.; Rosenberg u. a. 2003, 642). Historisch ist die Dimension Stil und Individuum zuerst als Gleichsetzung entfaltet worden. Unter den Stichworten Manier, subjektiver oder individueller Stil, Eigenstil, Persönlichkeitsstil, Personalstil und Individualstil wurde in Kunstkritik und Editionsphilologie, sowie in Ästhetik und Didaktik der Stil als Ausdruck der Persönlichkeit verstanden. Differenziert wurde diese Auffassung einerseits linguistisch durch die Beschränkung auf sprachliche Äußerungen des Individuums, andererseits poetologisch und texttheoretisch durch die Konzentration auf die jeweils ausgearbeitete sprachliche Äußerung selbst. Neben der dominant entwickelten autor- bzw. sprecherorientierten und der einzeltextbezogenen wäre auch eine rezeptionstheoretische Fassung der Dimension von Stil und Individuum im Sinne der Sozialisation und Enkulturation einzelner Rezipienten durch Stil(e) denkbar. Dafür liegen jedoch kaum Vorarbeiten vor (vgl. aber Frey 1975; Abraham 1996).
2. Stil als Ausdruck der Persönlichkeit Obwohl seit der Antike in Rhetorik und Poetik ein Set von topischen Formulierungen für das Konzept des Stils als Ausdruck der Individualität zur Verfügung gestanden hätte, erzeugt erst die Frühe Neuzeit den nötigen Problemdruck zur Entwicklung einer eigenen Semantik des Individuums und seines Stils. Ausgearbeitet wurde diese Semantik zuerst in der Kunstkritik. Nachdem sich das Individualstilkonzept nach 1750 durchgesetzt und um 1800 mit der neu aufkommenden Ästhetik verbunden hatte, konstituierte es eine eigenständige, von der normativen zur analytischen überleitende und bis in die 1920er Jahre andauernde Phase der Stilistik (Göttert/Jungen 2004, 23 f.). Gescheitert ist die expressive Individualstilistik am Versuch, im Individuum stilistische Normen zu entdecken.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
2.1. Stil als Charakter/Bild des Menschen 2.1.1. Antike und Mittelalter Zu den Formulierungsmöglichkeiten, die Rhetorik und Poetik der Antike für das Individualstilkonzept bereitgestellt haben, gehören der u. a. bei Platon, Pseudo-Longinus und Quintilian belegte Topos einer „Analogie zwischen rhetorischem Stil und individuellem Charakter“ (Sowinski 1998, 328; vgl. Müller 1981, 11 f.), Ciceros Pluralisierung der Stilarten durch ihre Ableitung aus der Verschiedenheit der Redner im Orator (16 [53]), sowie die spätantike, im Mittelalter vielfach variierte Annahme einer vorbildlichen Stilverwendung einzelner Autoren nach dem Muster: stilus Aesopi, Homeri, Tullianus, Gregorianus, etc. (Sowinski 1998, 329). Stets geht es dabei um Generalisierungen, Typisierungen und Amplifikationen im Rahmen von Temperamentenlehre, genera dicendi und vir bonusIdeal, allenfalls noch um Fälle von rednerischer Freiheit (licentia) oder fehlerhaftem Regelgebrauch (vitium), keinesfalls aber um Formen originärer Stilverwendung.
2.1.2. Frühe Neuzeit Aufgenommen und auf die Artikulation literarischer Individualität bezogen wurden die antiken Ansätze in der Frühen Neuzeit. Das geschieht im Spannungsfeld zwischen imitatio und inventio zuerst ansatzweise bei Petrarca (Rosenberg u. a. 2003, 668), später dann im Kontext des Anticiceronianismus, besonders bei Erasmus von Rotterdam, Montaigne und Robert Burton (Müller 1981, 31⫺39; Gumbrecht 1986, 744 f.). Zugleich kommt es zu einer physiognomischen Zuspitzung des Stilkonzepts, die ihre Parallelen in der Kunst des Porträts findet und seit dem 15. Jh. durch die maniera-Diskussion in Kunst- und Musikkritik unterstützt wird (vgl. Heinz 1986, 14 f.; Rosenberg u. a. 2003, 649; 668). Das physiognomische Stilkonzept, das in der Formulierung vom Stil als Bild des Menschen (mentis character) kulminiert, ist in der europäischen Poetik und Rhetorik des 16. und 17. Jhs. weit verbreitet. Zwar schließt die Inklusion des Individuums in die alteuropäische Sozialordnung, abgesichert durch Typisierungsleistungen der Rhetorik und der Temperamentenlehre, die Formulierung originärer Stilverwendungen noch überwiegend aus, doch werden in Einzelfällen die Rezipienten erstmals mit der Schwierigkeit konfrontiert, inkommensurable Elaborate beurteilen zu müssen (vgl. Gumbrecht 1986, 746).
2.2. Stil als Natur des Menschen Erst die Annahme, der Stil fließe aus der bislang Gott allein zugänglichen Natur des Individuums und verhelfe ihr damit zur allgemeinen Sichtbarkeit, individualisierte die physiognomische Stilauffassung dergestalt, dass um 1750 das Konzept des Stils als Ausdruck der Persönlichkeit ausformuliert werden konnte. Das geschieht, im institutionengeschichtlichen Kontext der Deutschen Rhetorik, (vgl. Weimar 2003, 39⫺54) vor allem in der Epistolographie (Nickisch 1969, 154⫺184), aber auch in Rhetorik- und Stillehrbüchern, die Denken und Sprechen nun zunehmend gleichsetzten, sowie bei Winckelmann, der den Stilbegriff in der Applikation auf die Kunstgeschichte temporalisiert (Luhmann
73. Stil und Individuum (Individualstil)
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1986, 642⫺644). Die klassische Formulierung des Konzepts findet sich in der Antrittsrede des Grafen von Buffon vor der Acade´mie Franc¸aise: „le style est l’homme meˆme“ (Buffon 1753). Gemeint war weiterhin der Mensch als Typus, in diesem Fall der grand e´crivain, zugerechnet wurde das Schlagwort aber nun zunehmend auf das Individuum (vgl. Müller 1981, 40⫺51). Gestützt auf die forcierte Identifikation von Sprechen und Denken durch Hamann und Herder verband sich in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. das Individualstilkonzept mit der Physiognomik Lavaterscher Provenienz, dem Aufrichtigkeitsfuror Rousseaus und dem Genieparadigma (vgl. Gumbrecht 1986, 751). Es prägte die Gattung des Briefromans, war wesentlich an der Epochenkonstitution des Sturm und Drang beteiligt und erlangte in der neu entstehenden Ästhetik den Status eines Grundgesetzes (Sowinski 1999, 21; Rosenberg u. a. 2003, 652). Die kunst- und literaturkritische Leistung des Konzepts erfüllte sich insbesondere im Genre der Charakteristik (Herder, Friedrich Schlegel, etc.) bzw. des Dichterporträts und der Biographie. Karl Philipp Moritz führte schließlich in seinen Vorlesungen über den Stil die Ansätze in Epistolographie, Rhetorik- und Stillehrbüchern, Kunst- und Literaturkritik, literarischer Praxis und Ästhetik zusammen und begründete damit die deskriptive Stilistik als Individualstilistik. Als Identifikations- und Wertbegriff bezeichnet Stil nun „das Eigentümliche, woran man die Schreibart eines jeden wieder erkennet, und wodurch sie eigentlich erst zur Schreibart wird“ (Moritz 1793, 591). Die Gegenposition der Aufklärung vertrat Adelung (Ueber den Deutschen Styl). Für ihn dürfen stilistische Innovationen keineswegs „aus der zügellosen Einbildungskraft des Schriftstellers“ stammen, sondern müssen stets „aus dem schönen Conventionellen der Nation selbst hergenommen werden“ (Adelung 1785, 524). Das Individuelle der Nation wird also dem Individuum vorgeordnet (vgl. Müller 1981, 118⫺123). Eine vermittelnde Position findet sich im Übergang vom Sturm und Drang zur Klassik bei Goethe (Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil), der den Individualstil noch oder wieder als Manier bezeichnet. Sie ist eine vom Künstler selbst entwickelte Sprache, „in welcher sich der Geist des Sprechenden unmittelbar ausdrückt und bezeichnet“ (Goethe 1789, 67). Obwohl die Manier dem auf Wesenseinsichten (und also auf Allgemeinheit) verpflichteten Stil untergeordnet ist, kann sie sich in dem Maße Bewunderung und Respekt erwerben, in dem sie das hochkomplexe Repräsentationsprinzip Stil mit dem unterkomplexen der einfachen Naturnachahmung „durch eine reine, lebhafte, tätige Individualität“ verbindet (Goethe 1789, 70).
2.3. Stil als Subjektivität 2.3.1. Romantik Zentraler Schau- und Kampfplatz des Stils als Ausdruck der Persönlichkeit ist das 19. Jh. Es startet in der Romantik mit einer immensen Steigerung und Ausweitung der Individualstilistik, insofern einerseits die Individualität des Individuums als Subjektivität und unendliche Reflexion gefasst (Luhmann 1989, 208⫺215) und andererseits der Stilbegriff in neuer Weise als unabschließbare Selbstlimitation im Kunstwerk und Kontaktebene zwischen Kunst und Gesellschaft konzipiert wird (Luhmann 1986, 645⫺648). Die Werke werden dadurch zum Ausdruck einer unendlich reflektierten Subjektivität, die das Allgemeine mit dem Besonderen des Individuums fortlaufend verbindet. In funktionaler Per-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil spektive soll der Ausdruck des Individuums im Stil nun „zugleich als Orientierung des Schreibens und Kriterium seiner Beurteilung“ (Gumbrecht 1986, 752) dienen, ohne dass diese Perspektive systematisch ausgearbeitet worden wäre (Linn 1963, 48 ff.). Entsprechend fragmentarisch konzipiert Novalis 1798/99 eine „Physiol[ogische] Stylistik“, die dem Stil zu entnehmen hat, „ob und inwieweit der Gegenst[and] den Verfasser reizt oder Nichtreizt ⫺ und daraus Folgerungen auf seine Constitution“ ableitet (Novalis 1978, 586). Schleiermacher nimmt 1826/27 die in der historisch-kritischen Philologie des 18. Jhs. verankerte Fassung des Individualstilkonzepts in die Allgemeine Hermeneutik auf, wobei er zugleich mit kollektiven Individualitäten rechnet: „Gesetz. Jeder Schriftsteller hat seinen eigenen Stil. Ausnahmen von denen, welche überhaupt keine Individual[ität] haben. Diese bilden aber massenweise eine gemeinschaftliche“ (Schleiermacher 1995, 174).
2.3.2. Ideologie und Wissenschat Die häufig beanspruchte Differenz zwischen kollektiven und individuellen Stilganzheiten ließ sich auch ideologisch nutzen, sobald der Individualstil mit dem Nationalstil korreliert wurde. So verfährt Theodor Mundt (Die Kunst der deutschen Prosa), der im Anschluss an Herder und Wilhelm von Humboldt die (deutsche) Sprache als Individuum und das Individuum als psychophysische Einheit konzipiert. Wenn sich dann „die bestimmteste und gebildetste Individualität“ des Autors/der Nation „mit Freiheit in der Sprache erschließt“ (Mundt 1837, 16), werden sowohl sämtliche patriotischen als auch alle stilistischen Hoffnungen erfüllt werden. Mit vergleichbarer Absicht und im Einklang mit Hegel, der Goethes Manier-Konzept in seinen Ästhetik-Vorlesungen aufgenommen und der Dialektik von Subjektivität und Objektivität zugeordnet hatte (vgl. Gumbrecht 1986, 758⫺761; Rosenberg u. a. 2003, 654), wird in der neu entstehenden wissenschaftlichen Stilistik der Individualstil als subjektiver Stil dem objektiven Stil untergeordnet. Heyse etwa weist ersteren der Stilistik und letzteren der Rhetorik zu und andere verfahren ähnlich (Linn 1963, 37, 51 f., 56 f., 63 f.). Wackernagel hat in seinen seit 1836 gehaltenen Vorlesungen den subjektiven als einer der ersten auch als „individuellen Stil“ (Wackernagel 1873, 317) bezeichnet und ihn aus der allein dem objektiven Stil vorbehaltenen Stilistik ausgeschlossen. Der Individualstil wird auf das Gebiet der grammatischen und ästhetischen Kritik beschränkt, soweit es dieser auf „die Beurtheilung eines einzelnen Autors oder die Vergleichung und Unterscheidung mehrerer unter einander“ ankommt (Wackernagel 1873, 316).
2.3.3. Selbstdarstellung und Stilgebärde Seine maximale In- und Extension findet das Konzept des Individualstils in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. theoretisch beim Hegelianer Weiße und praktisch im Werk des Antihegelianers Nietzsche. Weiße (1867, 364) bestimmt Stil in normativer Absicht als „Signatur der Persönlichkeit“ und fundiert ihn zum einen idiolektal, insofern jeder Sprecher aufgrund seiner leiblichen Konstitution unwillkürlich „eine stilistische Physiognomie, ein individuelles Bild seiner selbst“ zum Ausdruck bringt (Weiße 1867, 306). Zum anderen lässt er die gesamte Ästhetik in einer als Stilkritik konzipierten Individualstilistik aufge-
73. Stil und Individuum (Individualstil)
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hen, die nicht nur Handlungen und sprachliche Äußerungen sowie die Literatur im weitesten Sinne (inkl. Briefe, Philosophie und die Bibel) sondern prinzipiell jede (Kunst)Form als „Medium der Selbstdarstellung des subjectiven, persönlichen Charakters“ begreift (Weiße 1867, 303). Neben dem Stil einzelner Persönlichkeiten und einzelner Werke nimmt Weiße auch stilbildende Kollektive wie Völker und Kulturen, aber auch Naturstile an, die allesamt zum Ausdruck der „ewigen Persönlichkeit“ Gottes hypostasiert werden (Weiße 1867, 371). Methodisch orientiert sich bei ihm die Erschließung individueller Stile an der Altphilologie, besonders am historisch-kritischen, Kongenialität und ästhetische Bildung voraussetzenden Studium. Damit ist auch Nietzsche aufgrund seiner altphilologischen Ausbildung bestens vertraut. Seinen eigenen Stil formt er konsequent für denjenigen unter seinen Lesern aus, der „mit kritischem Takt versucht, die intentio auctoris zu verstehen“ (Benne 2005, 193). Dazu wird das Konzept des Stils als Ausdruck der Persönlichkeit performativ transformiert: „Einen Zustand, eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen […] mitzutheilen ⫺ das ist der Sinn jedes Stils“ ⫺ der somit zur „Kunst der Gebärde“ wird (Nietzsche 1908, 304). Das Konzept der performativen Stilgesten, die sich bevorzugt an Musik und Tanz orientieren, greift neben den textkritischen besonders die ethisch-normativen und die physiognomischen Aspekte des Individualstilkonzepts auf und ergänzt sie um die obligate Adressatenorientierung der Rhetorik, die es egologisch umcodiert und auf der Basis psychologischer Einsichten als (Selbst-)Verführung zur lebensdienlichen Einsicht versteht (vgl. Gauger 1988).
2.3.4. Germanistik Die normativen Aspekte des Stils als Ausdruck der Persönlichkeit sind damit weitgehend ausgereizt und es beginnen die Abbauarbeiten. Der „persönliche Stil eines Schriftstellers“, verstanden als „die Art, wie die Individualität in seinen Schriften zum Ausdruck kommt“ (Scherer 1888, 120), ist in Scherers Poetik nur noch als deskriptive Kategorie zulässig. Zur potentiell unendlichen Extension des Personalstils gehört „die ganze individuelle Grammatik und Metrik“ (Scherer 1888, 120), sowie der Produktionsprozess mit seinen zahlreichen Einflussfaktoren (vgl. Linn 1963, 61 f.). Den germanistischen Zugang zum Individualstil sollen dann „allgemeine Schemata der Charakteristik“ eröffnen (Scherer 1888, 120), die zwischen ethischen und stilistischen Aspekten scharf zu unterscheiden hätten.
2.3.5. Deutschunterricht Die massiven Normierungsfunktionen des Individualstilkonzepts werden im Deutschunterricht des 19. Jhs. sichtbar. Zwar ermöglichte die Berufung auf „Individualstil“ die Ausdehnung des Deutsch- auf Kosten des Lateinunterrichts (Ochmann 1848, 11), schloss aber auch das Erlernen stilistischer Fertigkeiten „zugunsten des passiv-kontemplativen Verstehens“ exemplarischer Autorstile aus (Rupp 1986, 395). Um den als haltlos unterstellten Ausdruckswillen der Schüler zu disziplinieren, wurden die traditionellen Stilübungen durch eine formalisierte Aufsatzlehre ersetzt, die bis ins 20. Jh. in Geltung blieb (Rupp 1986, 402 f.; Abraham 1996, 123).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
2.4. Stil als Psyche, Zahl und Zeichen Im frühen 20. Jh. kam es in den Geisteswissenschaften zu einer „geradezu ,imperialen‘ Expansion des Stil-Paradigmas“ (Gumbrecht 1986, 772). Zugleich sollte die „Fessel der Individualität“ (Heinz 1986, 164) abgeschüttelt werden. Zuerst verblassten die Konturen des Individualstilkonzepts in seiner psychologischen Transformation, und in der semiotischen Gegenbewegung dazu löste es sich auf. Seither spielt das Konzept des Stils als Ausdruck der Persönlichkeit in den Sprach-, Literatur- und Kommunikationswissenschaften keine nennenswerte Rolle mehr, obwohl es in der praktischen Stillehre weiterhin nötig zu sein scheint (vgl. Sanders 1996, 99⫺112) und sich als stylization und imagemaking tief in den Alltag der Moderne eingegraben hat (vgl. Rosenberg u. a. 2003, 688⫺ 701).
2.4.1. Psychologie und Statistik Exemplarisch werden Expansionsdrang und Begrenzungsbedürftigkeit des Individualstilkonzepts bei Meyer (Deutsche Stilistik) sichtbar, der unter Stil den „Ausdruck einer Persönlichkeit“ (Meyer 1906, 228) versteht und diese als „originelle Mischung“ typischer Einflussfaktoren definiert (Meyer 1906, 230). In der vollständigen Beschreibung individueller Sprachgebrauchsweisen findet dann die Stilistik zwar „ihre letzte Verengung und ihre höchste Aufgabe“, gelangt damit aber auch an eine prekäre Grenze: Ihr Fernziel wäre eine empirische Stilistik, die als „individueller Sprachatlas zur deutschen Literaturgeschichte“ entworfen wird. Er hätte „den Gebrauch aller Stilformen und Mittel nach Gattungen, Zeiten und Persönlichkeiten“ darzustellen (Meyer 1906, 230). Einen Ausweg aus den empirischen Überforderungen des Individualstilkonzepts versprach seine psychologische Transformation. Für Elster etwa ist der Individualstil nur noch eine Möglichkeit unter anderen, die festgehaltene „Norm der Einheit“ (Elster 1911, 7) stilistisch zu realisieren. Die neue Konzentration auf die Apperzeptionsweisen der Produzenten löste einen massiven Historisierungsschub des Individualstilkonzepts aus, der es in kulturkritischer Perspektive als kontingenten Effekt einer Spätzeit erscheinen ließ (Elster 1911, 91⫺94). Mit dem Dekadenzverdacht kehrten normative und ideologische Optionen in die Individualstildiskussion zurück. Sie motivierten die Stilgeschichte (vgl. z. B. Nadler 1930) und operierten bevorzugt mit der Differenz von Zeit- und Persönlichkeitsstil (vgl. Martini 1955). Aufgenommen und mit der Linguistik verknüpft wurde die Psychologisierung des Individualstils insbesondere von der neoidealistischen Romanistik, nachdem Voßler im Anschluss an Wilhelm von Humboldt auch Nationalsprachen als Stile verstanden hatte. Normativ gewendet kann man dann auch zu Adelung zurückkehren und die Individualität der Nationalsprache der Erforschung von Individualstilen vorordnen (vgl. Gipper 1982). Den umgekehrten Weg hat Spitzer eingeschlagen, für den „die individuelle Stilsprache […] die biologisch notwendige Auswirkung der Individualseele“ darstellt (Spitzer 1928, 520). Winkler (Grundlegung der Stilistik) macht den Entwurf einer Individualstilphysiologie wieder rückgängig, indem er unter Stil „die charakteristische Eigenart der Gesamtheit“ aller von einzelnen Sprechern oder Sprachgemeinschaften gesetzten seelischen Werte versteht (Winkler 1929, 1) und die Identifikation des Stils mit dem individuellen Sprachgebrauch zurückweist.
73. Stil und Individuum (Individualstil)
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Parallel zu diesen psychologischen Reduktionen ist das Konzept des Individualstils auch von der Stilstatistik depotenziert worden (Göttert/Jungen 2004, 25 f.). Sie setzt eine relevante Autorengesamtheit voraus, vermag aus dieser aber nicht zweifelsfrei den Autor herauszufinden, sondern lediglich einige Kandidaten mit Gründen auszuschließen (vgl. Wickmann 1968, 7; 75).
2.4.2. Semiotik Die Auflösung der expressiven Individualstilistik erfolgt im Prager Strukturalismus. Mukarˇovsky´ hält 1944 fest, dass ein Kunstwerk „keineswegs Ausdruck der Persönlichkeit oder der Seelenzustände seines Urhebers ist, sondern ein Zeichen, das zwischen zwei Seiten [i. e.: Autor und Rezipient, U. B.] vermittelt“ (Mukarˇovsky´ 1966, 79). Das Individuum wird zum Menschen in seiner Stellung gegenüber dem Universum verallgemeinert, der im Spiel der Zeichen seine Realität verliert: „Die durch das semantische Geschehen des Werkes konstituierte Persönlichkeit kann […] keinen anderen als semiotischen Charakter haben. Sie wird durch die Gestaltungsweise des Kunstproduktes indiziert und ˇ ervenka/Jankovicˇ 1976, 98). In expliziter Aberscheint als dessen fiktiver Urheber“ (C wendung von der Ausdrucksästhetik wird der Individualstil performativ als semantische ˇ ervenka/Jankovicˇ 1976, 103). Geste verstanden, die alle Werkelemente vereinheitlicht (C Die Individualität des Stils gerinnt zum bloßen Rezeptionseffekt: „Eben vom Gesichtspunkt des Empfängers aus konnte die Persönlichkeit (Individualität) des Autors als Eiˇ ervenka/Jankovicˇ 1976, 104). genart (Individualität) des Werkes aufgezeigt werden“ (C Konstruktivistische und funktionale Perspektiven auf den Individualstil waren hier anschließbar, darunter auch die De- und Rekonstruktion der Autorkategorie (vgl. Jannidis u. a. 1999). In dem Maße, in dem neue Medien wie der Film das Einzelschöpferkonzept durch Modelle pluraler Autorschaft ergänzten, hat sich schließlich die Vorstellung isolierter Individualstile auch in urheberrechtlichen Kontexten als hinderlich erwiesen (Wermke 1988).
2.4.3. Deutschdidaktik Parallel zu seiner Auflösung in den Kulturwissenschaften wurde das expressive Individualstilkonzept im Deutschunterricht des 20. Jhs. nobilitiert. Ansätze der Reform- und Erlebnispädagogik (vgl. Sowinski 1998, 332) weiterführend entwickelte die nationalsozialistische Didaktik ein Stilkonzept, das die stilexpressive Literaturtheorie verspätet aufzunehmen schien, die damit verknüpfte Emanzipation des Individuums allerdings kollektivistisch abbog (Abraham 1996, 124). Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Deutschdidaktik fallweise zur Förderung individueller Stile zurückgekehrt (Rupp 1986, 403; vgl. Fritzsche 1991). „Individuelle ,Stilhandlungsfähigkeit‘“ wird dabei „als ein zunehmend bewusstes Verfügen über die […] Funktionen topischer Rede“ verstanden, in dem sich Eigenproduktion und Fremdverstehen wechselseitig ergänzen: „Die Fähigkeit zum individuell gestalteten Sprachgestus setzt das […] Einnehmen topischer Gesten ebenso voraus wie die reflektierende Anschauung solcher Gesten in fremden Texten“ (Abraham 1996, 395 f.).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
3. Stil und Idiolekt Während das Konzept des Stils als Ausdruck der Persönlichkeit sämtliche denkbaren Ausdrucksformen des Individuums umfasst, beschränkt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Stil und Idiolekt in linguistischer Perspektive auf sprachliche Ausdrücke. Dabei können grundsätzlich entweder alle rekurrenten stilistischen Merkmale bei der produktiven Sprachverwendung einer Person oder nur die besonderen Merkmale (der ,linguistische Fingerabdruck‘) untersucht werden (vgl. Fleischer/Helbig/Lerchner 2001, 453).
3.1. Idiolekt und Individualstil Überlegungen zur individualsprachlichen Stilverwendung finden sich bereits bei Adelung (1785, 28), für den die stilistischen Besonderheiten im Ausdruck einzelner Sprecher stets durch die Kommunikationszwecke der Sprachgemeinschaft eingeschränkt werden müssen, sowie ⫺ mit umgekehrten Vorzeichen ⫺ bei Goethe, für den jeder Mensch „sich selbst eine Sprache“ bildet, „um das, was er mit der Seele ergriffen, wieder nach seiner Art auszudrücken“ (Goethe 1789, 67). Im Anschluss an Wilhelm von Humboldt, der sich von der Stilistik einen zentralen Beitrag zur „Wesenserfassung der Sprache aus dem individuellen Geist“ (Linn 1963, 79; 100) versprochen hatte, sowie an seinen Lehrer de Saussure hat schließlich Bally eine individuelle Stilistik (im Unterschied zur allgemeinen und kollektiven) entwickelt, deren Aufgabe in der Erfassung von Ausdrucksbesonderheiten der einzelnen Sprecher besteht (vgl. Linn 1963, 101; Peukert 1977, 63). Den neoidealistischen Versuch Voßlers, die Sprachwissenschaft ganz auf die Untersuchung von Individualstilen zu gründen (Linn 1963, 99), hat Spitzer in seinen Studien aufgegriffen (vgl. 2.4.1.). Zur Erfassung von Idiolekten, die als sprachliches System einzelner Sprecher verstanden werden (Spitzer 1928, 514 f.), sind Lexik, Semantik und Syntax literarischer Texte mit der Psyche, der Denkform und der Physis ihres Autors zu verknüpfen. Eine dezidiert auf den Sprachstil bezogene Ausarbeitung des Zusammenhangs von Stil und Idiolekt bietet die empirische Stilpsychologie Busemanns (Stil und Charakter, 1948). Sie geht der Entstehung des Sprachstils aus den Persönlichkeitsmerkmalen des einzelnen Sprechers nach und versteht gestalttheoretisch den entwickelten Stil ebenso wie den Charakter selbst als Produkt einer individuellen Leistung. Dabei wird auch die Stilstatistik einbezogen. Als wesentlich wirkungsmächtiger erwies sich freilich der Strukturalismus, der Stil und Idiolekt zuerst im Rahmen phonologischer Problemstellungen verknüpft hat. Ansätze Trubetzkoys wurden in Amerika durch Bloch (A Set of Postulates for Phonemic Analysis, 1948) aufgegriffen. Er definierte den Idiolekt als Gesamtheit der möglichen Äußerungen eines Sprechers zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb der sprachlichen Interaktion, wobei jeder Sprecher im Laufe seines Lebens und zu jedem Zeitpunkt über verschiedene Idiolekte verfügen kann. Die Unterschiede zwischen ihnen erfasst der Stilbegriff. Wie die Überlegungen Ullmanns (Language and Style, 1964) verdeutlichen, schwebte der Linguistik als Modell und Fernziel idiolektaler Stilverwendung weiterhin die Literatursprache vor. Ullmann arbeitet mit einem unspezifisch zwischen langue und parole vermittelnden Idiolektbegriff, überträgt ihn auf die Literatur und unterscheidet drei Möglichkeiten der Analyse idiolektaler Autorstile: die Stilstatistik, die Stilpsycholo-
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gie und die funktionale Stilistik, der es um die strukturellen Funktionen des Stils im Einzelwerk geht. Einen ⫺ freilich sehr weit gefassten ⫺ rein linguistischen Idiolektbegriff, der sowohl das für ein Individuum spezifische Ausdruckssystem als auch die dadurch ermöglichten tatsächlichen Äußerungen umfasst, hat zuerst Hammarström (1980) eingeführt. Unter die idiolektalen Merkmale rechnet er auch unterschiedlich auf die einzelnen Sprecher verteilte Register, zu denen Phraseologismen, Themen, Rollen und Textsorten gehören und die eher tentativ unter die Stilkategorie subsumiert werden. Präziser meint der Registerbegriff „diejenigen stilistischen Eigenschaften eines Textes […], die durch den situationalen Kontext bestimmt werden“ (Püschel 2000, 480). Auch nach Ansicht der linguistischen Pragmatik sind „individuelle Stile über eine Kombinatorik beschreibbar: durch individuelle Auswahlen aus vorgefundenen Inventaren und durch eine Integration zu einem neuen individuellen Inventar“ (Sandig 1978, 170). Anspruchsvollere Fassungen des Verhältnisses von Idiolekt und Stil sind durch die Unterscheidung und Zuordnung von Idiolekt und Individualstil möglich geworden. Lerchner (1980, 48 ff.) weist die in der (linguistischen) Stilistik verbreitete Subordination des Individualstils unter die (,objektiven‘) Funktionalstile zurück und benennt die methodischen und begrifflichen Mängel des Individualstilkonzepts. Unter der soziolinguistischen Kategorie des Idiolekts wird die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel verstanden, die einem Individuum zur Verfügung stehen, während der Individualstil als individualisierende Gestaltung des idiolektalen Repertoires bestimmt wird (Lerchner 1980, 53). Damit ist der Individualstil zu einer Prozesskategorie mit Systemcharakter geworden. Er umfasst verschiedene Register, zu denen neben Kommunikationsstrategien, Textklassen und Gebrauchsformen auch ästhetische bzw. literatursprachliche Normen gehören. Das stilsemiotische Konzept Lerchners ist mittlerweile operationalisiert (Michel 2001, 117⫺132) und in die Ästhetik integriert worden (Rosenberg 2003, 664).
3.2. Der ,sprachliche Fingerabdruck Zu den Funktionen eines persönlichen Stils gehört seit jeher die Selbstdarstellung des oder der Sprachhandelnden (Sandig 1986, 214 ff.). Die Frage nach den besonderen stilistischen Merkmalen im Sprachverhalten des Individuums ist daher vor allem in anwendungsorientierten Kontexten diskutiert worden. Frühe Versuche der Kriminalistik, die individualisierenden Aspekte der Sprachverwendung erkennungsdienstlich zu nutzen (Müller 1981, 20), wurden von Literaturwissenschaftlern ermutigt, für die ein Autor aufgrund seines Stils ebenso eindeutig zu identifizieren ist „wie den Verbrecher sein Fingerabdruck verrät“ (Petersen 1939, 203). Entsprechende Erwartungen hat Jöns (1982) kritisch reflektiert und ihre forensische Diskussion eingefordert. Seine Anregungen fanden in der Gerichtspraxis Gehör und lösten eine Debatte aus, die Ende der 1980er Jahre auch die Öffentlichkeit erregte. Es kam zu einer intensiven Auseinandersetzung zwischen Gutachtern, Linguisten und Kriminalisten, in der die Metapher des linguistischen Fingerabdrucks übereinstimmend zurückgewiesen und die Möglichkeit einer linguistischen Autorschaftsermittlung einerseits aus theoretischen und methodologischen Gründen (kollektive Autorschaft, Kombination von Texten aus Versatzstücken, etc.) bestritten (Wolf 1989; Brückner 1990; Grimm 1991), andererseits aber unter bestimmten Bedingungen, zu denen etwa die Textsortengleichheit des sprachlichen Materials, die Arbeit mit Merkmalbündeln und die Beschränkung auf Wahrscheinlichkeitsaussagen gehören, als nützli-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil ches Hilfsmittel bei der Erstellung von Täterprofilen empfohlen wurde (vgl. Kniffka 1992). Zu den stylometrischen Analyseprozeduren, die in der Regel auf Ergebnisse der Sprachstatistik zurückgreifen, gehören u. a. Wortlängen- und Fehlermessungen, Einzelwort- und Wortgruppenuntersuchungen, sowie die Analyse von Satzeinleitungen und Satzkomplexen. Stets bedarf jedoch das erhobene Datenmaterial „einer sorgfältigen und vorsichtigen Interpretation“ (Lipold 1999, 256).
4. Stil und Einzeltext (Werkstil) Im Kontext der philologischen Textkritik sowie als Implikation einer jeden Version von Klassik ist Stil auch unabhängig vom Urheber der Äußerung auf der Ebene der sprachlichen Äußerung selbst angestrebt und beobachtet worden. Das folgt bereits aus dem „Homogenitätsprinzip“ (Sowinski 1998, 328) jeder individualisierenden Stilprägung. Mit dem Stilkult Flauberts und seiner Anhänger wird die „Impersonalität des Kunstwerks“ zur ästhetischen Norm (Müller 1981, 151; Gumbrecht 1986, 762 f.), der auch die Hochschätzung des „individuell geschlossenen Stilcharakters eigentlicher strenger Kunstwerke“ (Weiße 1867, 374) verpflichtet ist. Die literarische Moderne findet hier ihren Kompass. Während der Werkstil seit den 1920er und verstärkt in den 1940er und 1950er Jahren eine zentrale Rolle in der disziplinären Selbstbegründung der Literaturwissenschaft spielte, wird er dort inzwischen kaum noch explizit reflektiert, weiterhin aber analytisch beansprucht. Die Linguistik hat dagegen erst in jüngster Zeit eine Theorie des Stils einzelner Textexemplare zu entwickeln begonnen.
4.1. Literaturwissenschat Die Beschränkung der Literaturgeschichtsschreibung auf die Persönlichkeit einzelner Künstler ist 1910 von Walzel als bloßes „Aneinanderreihen der Individuen“ kritisiert worden (Walzel 1926, 3). Der analytischen „Erforschung des Einzelnen, sei es Künstler oder Kunstwerk“ (Walzel 1926, 4), wird eine synthetische Erforschung der „Beziehungen, in denen es steht“ (Walzel 1926, 35), zur Seite gestellt. Relativiert wurde der Werkstil jedoch durch die Kategorie des Zeitstils. Weiter führte der Versuch Ermatingers (Das literarische Kunstwerk, 1921), den literarischen Text als Funktionseinheit zu begreifen, die sich vom Autor zwar abgelöst, durch diesen aber ihre einheitliche, auf einem besonderen Erlebnis basierende Idee erhalten hat. Der Stil des Einzelwerks wird umgekehrt als mehr oder weniger ausgeprägte Individualisierung allgemeiner Stilnormen (Gattungsnormen etc.) verstanden. Für die existenzielle Stilforschung sind dann bereits „eindeutig die Kunstwerke“ Gegenstand der Untersuchung (Pongs 1929, 259). Nadler betont dagegen erneut, dass Stil „immer das Individuelle gegenüber der Norm eines Übergeordneten“ bezeichnet (Nadler 1930, 379) und bezieht daher den Werkstil auf „soziologische Mächte“, unter denen „Stammestümlichem“ (Nadler 1930, 395) der oberste Rang gebühre. Petersen (Die Wissenschaft von der Dichtung, 1939) folgt ihm, indem er für die Analyse des Einzelwerks eine Kategorientafel aufstellt, in der zuoberst das ideologische Konstrukt des Rassestils rangiert. Das ist nach 1945 obsolet. Während Mukarˇovsky´ (1971, 49), allerdings noch ohne Rekurs auf den Stil, bereits „das Kunstwerk als Indivi-
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duum“ auffasst, hat Kayser (1948, 289⫺292) die logischen und ideologischen Prämissen des Ausdrucksdenkens im Personalstilkonzept kritisiert und zurückgewiesen. Seither bildet der Werkstil den zentralen Gegenstand der Literaturwissenschaft. Unter Absehung von Ursprungs- und Referenzfragen wird er als individuelle Haltung (verstanden als einheitliche Wahrnehmung und Gestaltung von Welt) aufgefasst. Aufgrund ihrer Orientierung am Prinzip der Einstimmigkeit wurde die Werkstilistik in epistemologischer Perspektive als wertbezogener Aufweis kategorisiert (Strube 1979), obwohl schon für Szondi die Aufgabe der Literaturwissenschaft zwar weiterhin in der „intensiven Versenkung in das einzelne Kunstwerk“ besteht (Szondi 1962, 276), ohne für dessen Stil noch in jedem Fall Einstimmigkeit (Klassizität) postulieren zu können; stattdessen wird für den Stil des Einzelwerks auch die Möglichkeit widersprüchlicher (manieristischer) Ausgestaltung eingeräumt (Szondi 1962, 284⫺286). Die damit etablierte Differenz von Werk- und Stilindividualität gehört seither zum Basisinventar elaborierter literaturwissenschaftlicher Analysen.
4.2. Sprachwissenschat In jüngerer Zeit hat sich auch die Textlinguistik mit dem Text als Möglichkeitsbedingung von Stil und dem Beitrag des Stils zur Identifikation von Textexemplaren auseinandergesetzt. Anknüpfend an die Handlungsstilistik und die Überlegungen Lerchners zum Individualstil (vgl. 3.1.) hat Fix (1991, 51⫺54) stilistisches Handeln generell als unikalisierende Umsetzung von Stilmustern in jeweils spezifische Textoberflächen verstanden. Neben dieser notwendigen Unikalität von Texten ist jedoch auch eine „bewußt hergestellte Einmaligkeit, bewußte Unikalität“ anzunehmen, die als Individualisieren bezeichnet wird (Fix 1991, 54). Zu den Möglichkeitsbedingungen des Individualisierens von Texten gehören die Identifizierbarkeit von Stilmustern und das Wissen um ihre intertextuelle Relativität. Daraus, sowie aus dem Befolgen bzw. Fortführen innertextueller, zumeist durch den Textanfang bedingter Regularitäten, ergibt sich die konkrete Stilgestalt einzelner Texte (Fix 1991, 54⫺58). Entsprechend wurde dem Stil eine textkonstitutive Funktion zugeschrieben (Sowinski 1999, 10). Sie besteht in der Annahme, dass „die reale Existenz eines Textexemplars auch vom Vorhandensein eines einheitlichen Stils abhängt“ (Fix 2005, 37). Daraus folgt, dass jeder Stilbruch „textliche Verschiedenheit“ (Sowinski 1999, 10) signalisieren müsste (vgl. Fix 2005, 44 f.). Mit dem Fernziel einer Theorie des Stilbruchs wäre hier weiter nachzufragen, um die Regularitäten aufzudecken, nach denen einem Text (mehr als?) ein Stil und einem Stil (mehr als?) ein Text zugeordnet werden können.
5. Ausblick Fragen nach der Einheit und Differenz von Stilen und (individuellen) Texten lassen sich künftig wohl am ehesten in einer eigenständigen Textstilistik beantworten (vgl. Fix 2005, 47 f.), die eng mit den Literatur-, Sozial- und Kommunikationswissenschaften zu kooperieren hätte. In jedem Fall dürfte die Unterscheidung zwischen In/Dividuum, Text/en und Stil/en größere Beobachtungschancen eröffnen als die Voraussetzung ihrer Einheit.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
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Ulrich Breuer, Helsinki (Finnland)
74. Stil und Sozialität (Gruppe, Geschlecht, Alter)
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74. Stil und Sozialität (Gruppe, Geschlecht, Alter) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Sozialität Stil als Beschreibungskonzept Gruppe(n) und Stil(e) Geschlecht und Stil (Genderstile) Alter und Stil Perspektiven Literatur (in Auswahl)
Abstract The social dimension of style has to be constructed according to Niklas Luhmann. In taking not only the ego but also the perspectives of alter egos into account, Luhmann explains the special horizons of such categories as group, sex and age. After defining style and its communicative potential, this article introduces some anthropological studies of group styles. The less formal and the smaller the groups are, the more they create styles for managing identification within the group and disassociating from persons outside of the group. The way peer groups compete among members and the maintenance of norms are illustrated in this article by taking examples from ritual insults, narratives, quarrels and disputes. Styles are reflected in communicative (pragmatic) practices and in rules of speech performance. In chapter 4 of this article, the styles of males and females (women and men) are presented and discussed. Although many interesting findings show that there are substantial gender-specific differences, it turns out that pragmatic factors influence the communicative behavior in multiple ways. These factors have to be taken into account before any conclusions can be drawn with respect to gender-specific styles. The final chapter deals with styles and age, in particular, it focuses on the style of elderly persons. Three theoretical models are presented with major emphasis on current research on the integrationist approach.
Unter Stil verstehe ich im Folgenden mündliche kommunikative Praktiken, die auf der Verwendung sprachlicher Zeichen basieren (Mikrostilistik). Die neueren soziolinguistischen Ansätze zu sozialen kommunikativen Stilen (SKS) werden in meinem anderen Artikel in diesem Handbuch (Art. 100, insbesondere Kap. 3.3) dargestellt. Während dort theoretische und methodische Dimensionen der SKS-Definition im Unterschied zu Varietäten im Vordergrund stehen, werden im Folgenden Eigenschaften von SKS zur Explikation von paradigmatischen Konzepten der Sozialität auf dem Hintergrund von Existenzformen sozialer Lebenswelten herangezogen (vgl. Kallmeyer 1995; Schmidt 2004). Der Artikel von Johannes Schwitalla in diesem Handbuch behandelt Gesprächsstile (Art. 62), die interaktive Dimension des Stils, die im Folgenden, sofern für Gruppe, Geschlecht, Alter einschlägig, berücksichtigt wird.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
1. Sozialität Die grundlegende Bedingung menschlicher Existenz, in einem ungeschriebenen contract social im Nebeneinander kooperativ und human zu leben und dazu überhaupt befähigt zu sein, belege ich mit dem Konzept der Sozialität. „Die sozialen Umgebungen, in denen wir existieren, bestehen nicht bloß aus zufälligen Anhäufungen von Ereignissen oder Handlungen ⫺ sie sind strukturiert“ (Giddens 1995, 23). Strukturierte menschliche Handlungen und Beziehungen sind soziale Systeme: „Was diesen ihr Muster verleiht, ist ihre Wiederholung über Zeiträume und örtliche Distanzen hinweg […] Unser aller Handlungen werden von den strukturellen Merkmalen der Gesellschaften, in denen wir herangewachsen sind und leben, beeinflusst; gleichzeitig reproduzieren wir diese strukturellen Merkmale durch unsere Handlungen und verändern sie dadurch […]“ (Giddens 1995, 23). Die genannten Aspekte erforscht die Soziologie als Wissenschaft der Sozialität in ihrer formalen und funktionalen Komplexität (siehe für einen Überblick Giddens 1995). In systemtheoretischer Perspektive manifestiert sich Sozialität in der Sozialdimension. „Die Sozialdimension betrifft das, was man jeweils als seinesgleichen als ,alter ego‘ annimmt, und artikuliert die Relevanz dieser Annahme für jede Welterfahrung und Sinnfixierung. […] Jedem Sinn kann dann auch eine Verweisung ins Soziale abverlangt werden. Das heißt: Man kann allen Sinn daraufhin abfragen, ob ein anderer ihn genau so erlebt wie ich oder anders. Sozial ist also Sinn nicht qua Bindung an bestimmte Objekte (Menschen), sondern als Träger einer eigentümlichen Reduplizierung von Auffassungsmöglichkeiten. Entsprechend stehen die Begriffe Ego und Alter (alter Ego) hier nicht für Rollen oder Personen oder Systeme, sondern ebenfalls für Sonderhorizonte, die sinnhafte Verweisungen aggregieren und bündeln. Auch die Sozialdimension wird durch einen Doppelhorizont konstituiert; […] die Horizonthaftigkeit von Ego und Alter impliziert ,Unabschliessbarkeit weiterer Exploration‘“ (1985, 119 f.). Als in diesem Sinne Sozialität repräsentierende Sonderhorizonte sollen im Folgenden die (natürlichen) sozialen Erscheinungen Alter, Geschlecht und Gruppe als Grundgrößen sozialwissenschaftlicher Beschreibung betrachtet werden. Alter ist ein Konzept für unterschiedliche Lebensphasen, in deren gerichtetem zeitlichen Verlauf ,von der Wiege bis zur Bahre‘ typische Formen und Funktionen menschlicher Sozialität zum Ausdruck kommen (vgl. Altersphasen in Eckert 1997); eigentlich gibt es keine Größe der Sozialität, die nicht vom Alter ,durchherrscht‘ ist (biologische Konstante). Ohne den Rückgriff auf den soziologischen Kernbegriff Gruppe ist das altersspezifische Durchlaufen von Lebensphasen aber ⫺ über das psychische Innenleben der Individuen hinaus ⫺ nicht sinnvoll zu interpretieren. So ist Alter mit Gruppe, beide wiederum sind mit Geschlecht verzahnt ⫺ insofern die existenzielle Spannung zwischen Mann und Frau eine gruppen- und lebensphasenbestimmende Größe der Sozialität darstellt. Da der Terminus Gruppe als für Sozialität grundlegend, im Zusammenhang mit sprachlichen Praktiken aber eine zentrale Rolle spielt, wird er hier mit logischer Priorität entwickelt (siehe Kap. 3). In sozialwissenschaftlicher Perspektive kann man alters- und geschlechtsspezifische SKS von Individuen sinnvoll nur mit Bezug auf die Gruppe untersuchen, da ihre Beschreibung aus gesellschaftlich relevanten Interaktionen abgeleitet werden müssen (vgl. Schmidt 2004 und Kap. 3). Für die drei Sonderhorizonte der Sozialität, deren SKS-Eigenschaften wir im Folgenden isolieren wollen, legen wir ein interaktionistisch-konstruktivistisches Verständnis zugrunde (Fiehler/ Thimm 2003a, 13 f.; Kotthoff 2006, 6 ff.). Gruppen werden mittels Verhaltenswerten und -normen im sozialen Prozess der Gruppeninteraktion konstruiert. Für Geschlecht wird
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nicht das biologische Konzept Sexus zugrunde gelegt, sondern Gender: Unter diesem Begriff verstehen wir den sozialen Typisierungsprozess, der die Inszenierung von Männlich- und Weiblichkeiten umfasst. Alter wird nach Fiehler/Thimm (2003a, 13 f.) als interaktiv konstituiertes Phänomen betrachtet. Innerhalb der physischen Rahmenbedingungen (Stimme, Körperverhalten etc.) gibt es aber beträchtliche konstruktivistische Spielräume. In welchen stilistischen Mustern diese im Einzelnen in der Interaktionsdynamik hervortreten, ist Gegenstand der Kapitel 3, 4 und 5.
2. Stil als Beschreibungskonzept Sozialer Kommunikativer Stil (SKS) ist eine Funktion der primären (sozialpsychologischen) Bezugsgröße Identität. Soziale Identität ist in Bezug zu Alter, Geschlecht, Kulturund Gruppenzugehörigkeit erfahrbar. Als zeichenspezifische Ausdrucksrepertoires sind SKS Funktionen dieser erfahrbaren Identitätskonstellationen, aber ihrerseits distinktiv strukturierte Kodes, die über Alter, Geschlecht und Gruppe ganz spezifische Aussagen möglich machen, die bei nichtsprachlichen Variablen (z. B. Freizeitverhalten oder Sportvorlieben) in dieser distinktiven Strukturiertheit nicht erklärungsstark werden. Jede soziale Gruppe wahrt in Kontinuität (Stabilität über gewisse Zeiträume) eine Kernidentität, die ein personales oder gruppenspezifisches Überleben im sozialen Kontext sichert. Die Identität ist zum einen wesentlich geprägt durch Herkunft, Lebensraum, Geschlecht und Alter, zum andern im aktuellen Alltagsleben durch Teilbereiche wie Familie, Beruf, Freizeit (u. a.). Die ersteren nenne ich konstitutive Faktoren, die zweitgenannten kontextuelle Faktoren, die ⫺ im Verhältnis zu den ersteren ⫺ eher begrenzte Reichweiten in der Einflussnahme auf die Gesamtidentität haben. Manifest ⫺ und damit wissenschaftlich zugänglich ⫺ werden Stile nur, wenn sie in sozialen Kontexten performativ in Szene gesetzt werden. Die aktuelle Forschung zu soziolinguistischen Stilen ist sich darin einig, dass stilistische Markierungen im Kommunikationsverhalten von Sprecherinnen und Sprechern ein markiertes und gestaltgeprägtes Zusammenwirken selektiver Eigenschaften unterschiedlicher verbaler und nonverbaler Strukturebenen impliziert. Bislang ist der Nachweis des stilkohärenten Zusammenwirkens querebenenspezifischer verbaler und nichtverbaler Eigenschaften interpretativer Natur. Ein kognitiv-konstruktivistischer Ansatz würde die Disparatheit der semiotischen Markierungen mittels anwendungsbezogener Wissensbestände so rekonstruieren, dass daraus eine explizite stilkohärente Lesart entsteht. Eine theoretische Konzeption, in der den performativen Stilprofilen stilkoheränzstiftende Wissensbestände entsprechen, die als Korrelate der ersteren explizit (durch Hörer) rekonstruiert werden müssen, habe ich in Kap. 3 meines anderen Artikels in diesem Handbuch (Art. 100) vorgelegt. (Vertiefende Erläuterungen finden sich unter: http://www.personal. geisteswissenschaften.fu-berlin.de/nordit/LINK: aktuelle Veröffentlichungen, Stil.) Der folgende Überblick fokussiert die Fragestellung, welchen Beitrag die Sozialdimensionen Gruppe, Alter und Geschlecht zur Konstruktion von distinktiven (Bourdieu 1979) soziolinguistischen Stilen leisten (vgl. zu verwandten Fragestellungen Art. 73 von Breuer und Art. 62 von Schwitalla in diesem Handbuch). Anders als die meisten Beiträge dieses Handbuches bezieht sich dieser ausschließlich auf mündliche Rede als gruppen-, altersund geschlechtskonstitutiven Stil.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
3. Gruppe(n) und Stil(e) Unter einer sozialen Gruppe ist ganz einfach eine Anzahl von Menschen zu verstehen, die miteinander regelmäßig interagieren. Durch die Regelmäßigkeit der Interaktion werden die Beteiligten zu einer eigenen Einheit mit einer übergeordneten sozialen Identität verschmolzen. Mitglieder einer Gruppe erwarten voneinander bestimmte Verhaltensformen, die von Nicht-Mitgliedern nicht erwartet werden. Der Größe nach reichen Gruppen von sehr engen Verbänden, wie der Familie, bis zu großen Kollektiven, wie Sportvereine. (Giddens 1995, 305)
Der Begriff Gruppe lässt sich von ähnlichen Konzepten, wie Aggregat und Netzwerk abgrenzen (Näheres dazu wird ausgeführt in http://www.personal.geisteswissenschaften. fu-berlin.de/nordit/LINK: aktuelle Veröffentlichungen, Stil.) In den Sozialwissenschaften versteht man unter Gruppe „eine Anzahl von Personen, die untereinander dependente Beziehungen haben“. Aggregate sind demgegenüber „Anhäufungen von Menschen, deren Interaktionen nicht zentriert sind“ (Goffmann, zit. in Giddens 1995, 105). Je nach Größe (Kleingruppe, Verein), Interaktionsdichte (Ad-hocGruppe, Spontangruppe, dauerhafte Gruppe), Grad der Formalität ihrer Konstitution (formell [⫽ institutionalisiert] vs. informell [nicht-institutionalisiert]), interner Kohäsion (⫽ Zusammenhalt), primärer (Familie, Freundeskreis) und sekundärer Zugehörigkeit (Arbeitsg., Interesseng., Männerg., Fraueng. etc.) werden verschiedene Typen von Gruppen unterschieden (vgl. Abb. 74.1). Gruppen und ihr Verhalten unterliegen mehr oder weniger langfristigen Prozessen, als deren wesentliche Merkmale gelten (Fisch 2005, 423 ff.): (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9)
Entwicklung von Kontakt, Sympathie und sozialer Distanz (Abgrenzung nach außen) Wir-Gefühl, Gruppenidentität (Gefühl der Zugehörigkeit) Zusammenhalt Rollendifferenzierung (Gefüge von Funktionen, differenzierte Rollen und Regeln) Beziehungsmuster innerhalb der Gruppe (langfristige Beziehungen, gegenseitiger Einfluss, geteilte Erlebnisse und Geschichte) Formen der Führung Bezugsgruppen (Beziehung zu und Abgrenzung von anderen Gruppen) Soziale Vergleichsprozesse Leistungsvorteile von Gruppen.
Welche Auswirkungen haben diese Größen auf gruppenspezifische SKS? In der folgenden Forschungsübersicht finden sich vorzugsweise (Kriterium: Stilbezogenheit) Erkenntnisse zu (1) bis (5). Aber nur solche Studien werden einbezogen, in denen SKS-spezifische Aspekte von Gruppen über eine längere Zeit in einschlägigen Situationen/Domänen erhoben bzw. beobachtet wurden.
3.1. Typologische Aspekte Die derzeit beste soziologische Aufarbeitung gruppensoziologischer Forschung (mit einem eigenen theoretischen Entwurf) stellt Schmidt (2004) dar. Er verortet das Konzept soziale Gruppe (G) in Abb. 74.1 als typologisches Kontinuum nach Maßgabe der Parameter (i) Größe (Kleingruppe, Verein), (ii) Interaktionsdichte (Ad-hoc-Gruppe, Spontangruppe, dauerhafte Gruppe), (iii) Grad der Formalität ihrer Konstitution, (iv) interne
Abb. 74.1: Verortung der sozialen Gruppe in einem typologischen Kontinuum nach Schmitt (2004, 30)
74. Stil und Sozialität (Gruppe, Geschlecht, Alter) 1249
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Kohäsion (⫽ Zusammenhalt), (v) primäre (Familie, Freundeskreis) und sekundäre Zugehörigkeit (Arbeitsg., Interesseng., Männerg., Fraueng. etc.). Je größer eine Gruppe ist, desto formalisierter und systemzweckgebundener ist ihre inhaltliche Kohäsion. Je intimer, zweckungebundener und spontanen Interaktionsraum eröffnend eine Gruppe ist, desto kleiner ist sie in der Regel. Dieser vertikalen Dimension steht eine horizontale gegenüber: Je freundschaftlicher die Bindungen in G sind, desto intimer und gefühlsgesteuerter ist das interne Kohäsion stiftende Wir-Bewusstsein. Wichtig ist die in der Konzeption von Schmidt berücksichtigte Interaktionssituation im sozialen Kontext nach Formalität vs. Informalität. Gerade diese Differenzierung wurde in der Soziolinguistik als grundlegend für natürliche, ungezwungene Register vs. formale, stark in der Produktion kontrollierte Register betrachtet. Dass diese Dimension in der G-Konzeption eine Rolle spielt, eröffnet bessere Erklärungsmöglichkeiten für SKS. Cooleys Anfang des 20. Jhs. formulierte These, „dass Prozesse der Subjektgenese bzw. der Identitätsbildung sich im Wesentlichen durch die Spiegelung des eigenen Selbst an bedeutsamen Anderen (sog. ,looking glass self‘) vollziehen und dass solche Prozesse zunächst ausschließlich in Primärgruppen stattfinden und demzufolge dort erworben werden“ (Schmidt 2004, 37), führt Schmidt dazu (2004, 36⫺45), Primärgruppen (lebensweltliche Naturwüchsigkeit, Intimität in kleinen, natürlichen Gruppen) von Sekundärgruppen (institutionalisiert, formeller, weniger intim und spontan) zu unterscheiden. Im Folgenden werden exemplarisch SKS von Primär-, insbesondere aber von Sekundärgruppen mehr oder weniger Gleichaltriger behandelt. Damit stehen kleine, informelle Gruppen im Zentrum. Soweit wir sehen, gibt es keine oder offenbar kaum Stiluntersuchungen zu formalen, institutionalisierten Gruppen (vgl. oberer Teil der Abb. 74.1).
3.2. Jugendliche Gruppen von Gleichaltrigen (JGG) Signifikante Untersuchungen zum Stil von JGG gibt es erst seit der Etablierung der Soziolinguistik in den 1960er und 1970er Jahren. Im für die 1960er Jahre typischen Kampf gegen Analphabetismus und Rassendiskriminierung in den USA verurteilte Labov (1972b) experimentelle, nur auf individuelle psychologische Tests aufbauende Studien zum Schulversagen schwarzer Jugendlicher und stellte diesen Ergebnisse aus teilnehmender Beobachtung von JGG-Cliquen (sogenannten Clubs) entgegen. Die Jets, Cobras oder Thunderbirds gehören einer Straßenkultur an, die der Schule diametral entgegengesetzte Werte vertreten wie Drogen- und Alkoholmissbrauch, Verweigerung von Schulaufgaben, Ausübung körperlicher Gewalt. In ihrer ,Gegenkultur‘ sind körperbezogene Qualitäten gefragt: Härte (toughness), Gewandtheit (smartness), die Fähigkeit ,was-los-zu-machen‘ (trouble) oder Aufregung zu erregen (excitement); weitere Tugenden sind Selbstständigkeit (autonomy) und die Anerkennung des Schicksals (fate). Die Werte und Ziele der Gruppen wurden durch die teilnehmende Beobachtung eines Bandenmitglieds transparent gemacht, das dem Projekt über einem längeren Zeitraum angehörte. Nach den Beobachtungen eines Clubmitglieds, das die teilnehmende Beobachtung durchführte, sind die Clubs Halbwüchsiger (10⫺16) von den Jungen selbst gegründet und werden von den Erwachsenen in der Nachbarschaft abgelehnt. Die Gruppenzugehörigkeit ist mit Rechten und Pflichten verbunden. Labovs zentrales soziolinguistisches Interesse besteht darin, die Regularitäten des Black English und jener Faktoren, die zu seiner Stabilität vs. Instabilität beitragen, zu
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beschreiben. Beschreibungen des Gruppenverhaltens und des damit einhergehenden Stils sind nur insoweit von Bedeutung, als die (sozialen) Gruppengrößen die stabilen Normen eines regelhaft verwendeten Black English erklären (ein kurzer Überblick über die wichtigsten Ergebnisse der Studie finden sich unter http://www.personal.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/nordit/LINK: aktuelle Veröffentlichungen, Stil sowie in Dittmar 1976). In seiner umfassenden Bestandsaufnahme sozialen und kommunikativen Verhaltens Jungendlicher (15⫺18 Jahre) sucht Schmidt (2004, 222⫺240) Antworten auf die leitenden Fragen: Was ist die identitätsstiftende, der Außen- und der Binnenorientierung dienende Selbstdefinition der Peergroup? In welchen kommunikativen und sozialen Praktiken realisiert sich doing peergroup? Als Ergebnis des Vergleichs zahlreicher empirischer Untersuchungen im englisch- und deutschsprachigen Raum formuliert er in zwei Übersichten (2004, 225 f.) Korrespondenzregeln zwischen konstitutiven Mechanismen, Verfahren und verschiedenen Subdimensionen und ihren kommunikativen Realisierungen. Fein unterdifferenziert werden kommunikative Gattungen und Praktiken mit ihren je konfigurativen stilistischen Ausprägungen ethnographisch und soziologisch konturierten inneren und äußeren Arealen von Gruppenaktivitäten zugeordnet. Das Gruppenbewusstsein als explanativer Parameter wird als oberste Instanz in die Analyse einbezogen (metakommunikative Stile). Eine Übersicht über 16 detailliert beschriebene interaktive Szenarien auf dem Hintergrund einschlägiger Peergroupstudien am Beispiel des ethnographisch selbst erhobenen „Frankfurter Korpus ,natürliche Peer-Group-Kommunikation‘ (JuK)“ findet sich in Schmidt (2004, 403). Festzuhalten bleibt, dass der SKS der JGG (a) kein „defizitärer“ Modus des Kommunizierens ist, (b) sich an „Unterhaltung und Wettbewerb, die ihren eigenen Gesetzen folgt“ (Schmidt 2004, 251), orientiert, (c) kooperative und wettkampfbezogene, solidarische und distanzierende Stile ohne schroffe Grenzziehungen impliziert, (d) Selbst-und Fremddarstellungen mit verbalen Praktiken des Spaßes (innovativer, kreativer Sprachgebrauch) und kompetitiven kommunikativen Fähigkeiten (Überbieten [Toppen], Übertreibung [Hyperboli]) verbindet, (e) die ,Mittelknappheit‘ zum unterhaltsamen und untereinander wetteifernden JGG-Stil stilisiert: Handlungsdarstellungen in Erzählungen und Bewertungen werden „über syntaktische Reduktionen bis hin zur Kontraktion und Tilgung von Silben (etwa ku⫽ma statt kuck mal) geleistet ⫺ dies lässt sich dadurch erklären, dass lange Beiträge kaum eine Chance haben, ununterbrochen vollendet werden zu können“ (Schmidt 2004, 249). Die genannten SKS-Eigenschaften tragen wesentlich zur Stabilität und zur Kontinuität der Gruppe bei. Die Studie belegt nachhaltig, dass die Größen Alter und Geschlecht mit den Stilen der Gruppenkommunikation, der Gruppenaktivitäten, der Gruppennormen und ihrer Stabilität aufs Engste verbunden sind.
3.3. Freizeitgruppen älterer Menschen In Kallmeyer (1995, 4 ff.) werden mithilfe des Konzeptes soziale Welten ganz unterschiedliche Arten von Sozialbeziehungen in Städten am Beispiel Mannheim untersucht. Für die Mannheimer Soziolinguisten „zeigen Gruppen von ,Gleichgesinnten‘ am deutlichsten
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Tab. 74.1: Vergleich verschiedener kommunikativer Stile in zwei verschiedenen Milieus in der Stadt Mannheim nach Kallmeyer (1995, Zitate aus diesem Aufsatz) Die Literaturgruppe aus Vogelstang
Die Bastelgruppe aus Filsbach
1. Die Standardsprache wird sowohl in öffentlichen Situationen als auch im privaten Bereich, zu Hause und unter den Freunden, gebraucht. Das Mannheimerisch wird im privaten, inoffiziellen Bereich und auch mit den das Mannheimerisch Sprechenden verwendet. Allerdings wird das unterschiedlich häufig und unterschiedlich konsequent durchgeführt und oft wird hin zur standardsprachlichen Lautung gewechselt.
1. In öffentlichen Situationen wird der „markierte Standard“ verwendet, in privaten Situationen die Mannheimer Stadtsprache.
2. Die Gruppe vermeidet „vulgäre“, grobe und aggresive Lexik. Das Kritisieren der negativen Aspekte wird vermieden. Es werden lieber positive Aspekte gelobt, um „den Ausdruck von negativen Gefühlen wie Gereiztheit“ zu minimalisieren. Bei der Problemund Konfliktbehandlung wird explizite Thematisierung und argumentatives Austragen präferiert.
2. Bei den Auseinandersetzungen wird die Direktheit bevorzugt. Vorwürfe werden explizit formuliert, auch in Form von regelrechten Anklagen. Die Auseinandersetzungen können sogar heftig sein. Scharfe Ironie und Sarkasmus werden auch als Mittel des aggressiven Angriffs verwendet.
3. „Die Gruppe orientiert sich am rhetorischen Leitmotiv des „geordneten“, thematisch zentrierten Gesprächs.“ Die bevorzugten Gesprächsthemen sind dabei aus dem Bereich der Familie und dem Haus.
3. Teilweise ernste, teilweise amüsante Berichte von aktuellen Ereignissen aus der Filsbach, Gespräche über Medien, Prominente und Reisen; Erzählungen aus dem privaten Leben, über Männer und Frauen. Ernste persönliche Probleme werden nur unter vier Augen mit der vertrauten Person besprochen. Vor der Gruppe werden persönliche Probleme spielerisch und selbstironisch präsentiert.
die ,Arbeit‘ der Beteiligten am sozialen Zusammenhalt, die Definition eigener und fremder Identität und die Entwicklung von distinktiven kommunikativen sozialen Stilen“ (1995, 4 ff.). Bei der ethnographischen (teilnehmenden) Beobachtung solcher Gruppen handele es sich nicht um „primäre Gruppen, in die man hineingeboren wird, sondern um sekundäre Zusammenschlüsse von ,Gleichgesinnten‘, die in besonderer Weise ihre Zusammengehörigkeit erst im Prozess der Gruppenkonstitution herstellen bzw. sich gegenseitig verdeutlichen müssen“ (Kallmeyer 1995, 16). Die soziologischen Grundlagen ethnographischer Studien auf der Folie der Chicagoer Soziologie finden sich in Schütze (2003) sowie in Kallmeyer. (1995, Kap. 4). Ein zentraler Teil der Ethnographie, die die
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Tab. 74.1: Fortsetzung 4. Es werden Kommunikationstypen gebraucht, „deren interaktives Zentrum etwas mit der Beziehungsarbeit zu tun hat“, etwa gemeinsame Durchführung von Begrüßungen, Komplimenten, Gefühlsexpressionen und vor allem „narrative und argumentative Sachverhaltsdarstellungen von aktuellen oder weiter zurückliegenden“ persönlich erlebten Ereignissen.
4. Witze werden vor anderen Kommunikationsformen in geselligen Situationen bevorzugt. Dabei können schon seit langem bekannte Witze, wenn sie „dreckig“ sind, trotzdem Freude bereiten. „Die Lust an der Obszönität ist entscheidend für die Gruppenzugehörigkeit.“ Auch „frotzelnde Phantasiespiele“ gehören zur Lieblingskommunikationsform. Allerdings sollen Witze und Phantasiespiele mit dem obszönen Inhalt gewisse Schamgrenzen nicht überschreiten. Es ist eine Tendenz des Lustig-Seins anzumerken, um dem alltäglichen Elend zu entgehen. Das primäre Geselligkeitsziel ist deswegen, gemeinsam Spaß zu haben. Witze und lustige Geschichten werden bevorzugt, alltägliche Probleme werden amüsant und lustig dargestellt.
5. Generelle Bereitschaft zur sowohl körperlichen als auch geistigen Distanz. „Das Individuum hat Anrecht auf ein großes Territorium mit entsprechender Distanz zu den anderen.“
5. Die normalen Formen der Geselligkeit, besonders die gesteigerte Gemeinsamkeit, sind durch Nähe und Distanzreduzierung gekennzeichnet. Für die gesteigerte Gemeinsamkeit ist außerdem eine teilweise parallele Sprechweise charakteristisch.
6. Die Frauen vermeiden, sich zu rühmen und in den Mittelpunkt der Ereignisse zu stellen. Wenn es dazu kommt, über sich zu reden, reden sie über sich als Opfer ihrer Männer und eigensinnigen Kinder.
6. Die Männer sind Gegner der Frauen in Ehe und Politik. Damit ist eine starke Ablehnung der Rolle einer „aufopfernden Frau“ verbunden. „Das Handlungsziel ist im Kern, ,die Welt zu verändern‘ durch die Forderung nach Gleichberechtigung.“ Man unterscheidet zwischen einem „Weibchen“, das alles tut (z. B. schöne Kleidung), um Männern zu gefallen, und einer „guten Frau“, die Tapferkeit, praktischen Sinn und Humor bei der Bewältigung der alltäglichen Schwierigkeiten aufweist und die gut zu ihren Kindern ist.
Kommunikation in ausgewählten Stadtvierteln der Stadt Mannheim dokumentiert, stellen die Porträts städtischer Gruppen dar (vgl. hierzu Kallmeyer 1995, 21⫺38). In den vier Vierteln Sandhofen, westliche Unterstadt (Filsbach), Neckerau und Vogelstang wur-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil den (mit gewisser Repräsentativität für das jeweilige Viertel) acht Gruppen in der Konstitution ihrer sozialen Lebenswelt und der in dieser spezifisch verwendeten SKS untersucht. Die ethnographische Erhebung berücksichtigte u. a. verschiedene Handlungs- und Texttypen (Erzählungen, Interaktionsspiele) sowie ein breites Spektrum konversationeller Themen (Familie, Beruf, Institutionen, Politik, soziale Nachbarschaft, Konflikte, Humor). Die Tab. 74.1 spezifiziert unterschiedliche kommunikative Funktionen in zwei Frauengruppen, eine Bastelgruppe älterer Frauen aus dem Arbeitermilieu (westliche Unterstadt, Filsbach, vgl. Keim 1995) und eine Literaturgruppe aus der Oberschicht (Vogelstang, vgl. Schwitalla 1995). In Kallmeyer (1995) und Schwitalla (Art. 62, in diesem Band) finden sich detaillierte und feinkörnige ethnographische Vergleiche zwischen diesen beiden Gruppen. Was erbringt die linguistische SKS-Analyse des vierbändigen Mannheimer Unternehmens? Exemplarisch greifen wir die ⫺ in Rezensionen sich widerspiegelnden ⫺ erfolgreichsten Aspekte heraus. Repräsentative und valide SKS-Analysen gründen sich (u. a.) auf folgende einschlägige Kriterien für Stileigenschaften: Rekurrenz spezifischer Stilmerkmale, präferierte Formen im konzeptuellen Rahmen vergleichbarer Funktionen, querebenenspezifische phonetische, morphosyntaktische, semantische (lexikalische) Kookkurrenzen und Kongruenzen. In Aussparung jener vielen Gebrauchs- und Diskursmerkmale, die Schwitalla als Mitglied der Mannheimer Forschergruppe in seinem Artikel anführt (in diesem Handbuch, siehe insbesondere 3.3 und 3.6), sehe ich folgende auffällige SKS-Eigenschaften, die durchaus die Habitus-Thesen von Bourdieu (1979, 1982) stützen: (a) Zu ,würziger‘ Sprache (Mannheimer Gosch) passen vitale Gespräche mit Scherzen, Frotzeln, Angriffs- und Abwehrspielen, spannende Erfahrungen in Erzählungen, obszöne Witze, direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht (Filsbach-Welt, Milieu ,einfacher‘, einheimischer Leute). (b) Zu Hochdeutsch passt der sachbezogene Austausch der Frauen in der Literaturgruppe, die den intimen Beziehungsbereich ausklammern, feinsinnige Unterhaltung in ,gutem Ton‘ vorziehen, aber Familienprobleme (z. B. mit Töchtern und Söhnen) durchaus in der Kommunikation zulassen. In den Stilbeschreibungen hat der pragmatische Aspekt (Interaktion, Thematik, Gattungen, kommunikative Funktionen von Äußerungen) Primat vor den formalsprachlichen (grammatischen) Realisierungen (soziolinguistische Perspektive).
3.4. Andere Gruppenstile Am Beispiel von Mannschaftssitzungen beschreiben Dittmar und Hädrich (1988) die Schlagfertigkeit und die kreativen Wortspiele jugendlicher Fußballspieler (sekundäre Gruppe, Fußballverein) untereinander sowie gegenüber dem Trainer. Toppen ⫺ wie beim Aufspießen von Pfannkuchen: der Äußerung eines Mannschaftsmitglieds noch eins draufzusetzen ⫺ ist ein beliebtes Spiel: Der Gewinner hat die Lacher auf seiner Seite. Mit ähnlichen Mitteln wird auch die Abgrenzung der Jugendlichengruppe dem Erwachsenen (Trainer) gegenüber deutlich markiert. Jugendsprachliches Vokabular, aber auch Frotzeln/Necken (offensive und defensive Sprachspiele) und unterhaltsame Spaßkommunikation in lokalem Berlinisch machen den SKS dieser Freizeitgruppe im Rahmen eines Vereins aus (Dittmar 1989, mit theoretischer Konzeption von Stil).
74. Stil und Sozialität (Gruppe, Geschlecht, Alter)
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Schlobinski (1989) und Schlobinski, Kohl und Ludewigt (1994) heben in ihrer ethnographischen Untersuchung einer Gruppe von 19⫺22 Jährigen im Raum Osnabrück das Bricolage-Prinzip der Kommunikation hervor (eine ausführliche Darstellung dieses auf das Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies zurückgehenden Prinzips findet sich unter 2.3 in Artikel 62 Gesprächsstile dieses Handbuchs). In den Medien und im öffentlichen Kommunikationsraum bereits bestehende Wörter, Redewendungen, sozial markierte Ausdrücke werden innovativ in einem aktuellen Diskurs durch Neuordnung und Rekontextualisierung zu neuen (kreativen) Bedeutungen umgruppiert. Dabei gehen spezifische Ausdrucksrepertoires (Onomatopoetika, z. B. dong, ratazong; Anglizismen, z. B. magic stickers; Idiomatik/Wendungen: er darf die Kiste anpfeifen; Modifikatoren: echt voll krass drauf; Alliterationen: flippen floppen flappen; gruppenspezifische Lexik: stöppern; Kommunikativpartikeln: ey, ok) zusammen mit mimetischen und/oder selbstinszenierten Stimmenimporten nachahmenswerter Anderer (bekannte öffentliche Persönlichkeiten, Medienstars etc.) mosaikartige Verbindungen zu einem gruppenspezifischen Stil ein, der sich wiederum von anderen Stilen abgrenzt. Die verfremdenden Importe anderer Stimmen bringen jugendsprachlich stilisierte eigenständige Diskursformen hervor durch Verfahren parallelisierter Repetition und Variation. Nach Schlobinski (1989, 29) werden die jugendspezifischen Ausdrucksrepertoires im Schulterschluss mit den in den Diskurs importierten kulturellen Ressourcen zu einem distinktiven Stil bricolageartig zusammengebastelt und konstituieren damit ein „gemeinsam geteiltes Gruppenbewusstsein“ (Schlobinski 1989, 29; vgl. oben Schmidt 2004). Mädchen scheinen nach Schlobinski (1995) weniger einen eigenständigen Stil zu entwickeln als sich gegen die aggressive Sprache der Jungen abzugrenzen/zu verteidigen (vgl. demgegenüber aber Eckert 1997 und Eckert/McConnel-Ginet 1999): dabei duellieren sie sich allerdings oft brillant mit eigenen (sprachlichen) Mitteln. In sinnfälliger Weise werden daher jugendsprachliche Stile dabei auch von den Parametern Geschlecht (Kendall/ Tannen 2001; Cook-Gumperz/Kyratzis 2001) und soziale Schicht (oder: soziales Milieu) überlagert (vgl. hierzu die Rolle von Beschimpfungen in der Gruppensprache sowie die Inszenierung von Rangordnung vs. Zusammenarbeit im wettstreitorientierten Verhalten der Jungen gegenüber dem kooperationsorientierten Verhalten der Mädchen, 3.2.). Darüber hinaus bemerkt Schlobinski, dass jugendsprachliche Stile nach Altersstufen variieren. Ältere Jugendliche finden die Stile Jüngerer oft nicht (mehr) zeitgemäß, aktuell oder modern. Von oben (Ältere) nach unten (Jüngere) gibt es so etwas wie stilistische Hyperkorrekturen. Parallelen zu den hier angeführten Trends (und Merkmalen) finden sich nach Zimmermann (2003) in den romanischsprachigen Ländern. Insbesondere die Lexik, der Einfluss des Englischen, kreative Kollokationen gleichen (in etwa) den stilistischen Prinzipien, die für anglophone und germanophone Verhältnisse berichtet werden. Zimmermann (2003) plädiert für eine komparative Jugendsprachforschung. Einige Autoren beobachten negative Einstellungen der sprachpolitischen Erwachsenen-Presse gegenüber der Jugendsprache. Der jugendsprachliche Stil wird als restringiert (vereinfacht) und Beleg für aufkommende Spracharmut angesehen. Am Beispiel einer strukturellen Form-Funktionsanalyse haben Schlobinski, Kohl und Ludewigt (1993) eindrucksvoll nachgewiesen, dass der Gebrauch der kommunikativen Partikel ey je nach Stellung im Vor-, Mittel- und Nachfeld von Äußerungen Funktionen übernimmt, die in der Erwachsenensprache drei verschiedene Partikeln abdecken. Von Einschränkungen in der Kommunikation kann somit nicht die Rede sein.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Eine andere Facette der Jugendsprache ist das sogenannte ,Türkendeutsch‘, ein ethnisch geprägter Stil des Deutschen, von Auer (2000, vgl. auch Auer/Dirim 2003) auch Ethnolekt genannt. Der authentische Ethnolekt zwischen (normalerweise) Zweisprachigen mit Migrationshintergrund (meist ,Türkendeutsch‘) wird primärer, seine komödienartige Inszenierung in den Medien sekundärer und seine parodierende Verwendung durch deutsche Muttersprachler tertiärer Ethnolekt genannt. Ein Überblick über die auffälligen soziolinguistischen Merkmale des primären Ethnolekts findet sich in Dittmar/Özcelik (2006) und Dittmar/Steckbauer (2007), erste empirische Untersuchungen zum ethnolektalen Interaktionsstil haben Keim (2004) und Kern/Selting (2006) vorgelegt. Ethnische Stile des Deutschen sind erst seit kurzem Gegenstand soziolinguistischer Forschung. Die einzige gruppenbezogene Studie (türkische Mädchen) ist Keim (2004). Stil als symbolisches Verhalten, in dem der Zusammenhalt und die gemeinsamen Orientierungen einer Gruppe zum Ausdruck kommen, ist in einer Vielzahl weiterer Untersuchungen explizites oder implizites Thema. Meistens geht es in diesen Untersuchungen um größere oder kleinere, formelle oder informelle Gruppen (siehe Abb. 74.1). Dabei überlagern sich in jeweils unterschiedlicher Gewichtung und Salienz in den jeweiligen sozialen Kontexten Effekte der sozialen Dimensionen Gruppe, Alter und Geschlecht. In diesem Kapitel wurde die stilkonstituierende Kraft der Gruppe dominant gesetzt. In den folgenden Kapiteln stehen Geschlecht und Alter im Vordergrund, wobei gruppenspezifische Faktoren die geschlechts- oder altersspezifischen Parameter überlagern. Die genannten drei ,Sonderformen‘ der Sozialität gehen sozialchemische Verbindungen ein, aus denen man eine reine soziale Substanz nicht mehr isolieren kann. In den sekundären Gruppen (Institutionen, Arbeits- und Berufswelt) gibt es nicht annähernd so exhaustive und detaillierte soziostilistische Beschreibungen wie in den Mannheimer Stadtethnograpien (Kallmeyer 1994; Keim 1995; Schwitalla 1995). Bohnsack u. a. (1995) integrieren in ihre Fallstudien Diskursbeschreibungen jugendlicher Gruppen, die sich auf Lehrlinge, Gymnasiasten (und Erwachsene der Elterngeneration) in Gruppendiskussionen beziehen. Dabei werden ⫺ jeweils auf der Folie des sozialen Milieus ⫺ verschiedene sprachliche Merkmale herausgearbeitet (auf dem Hintergrund des Gumperzschen Kontextualisierungsansatzes). Diese Daten geben Auskunft über Erwartungshorizonte, Normverhalten und Gruppenbewusstsein (stilbezogene Beschreibungen metakommunikativer Äußerungen). Die sozialen und kommunikativen Binnendifferenzierungen, wie sie sich in Schmidt (2004) finden (siehe 3.2), lassen sich aus den Gruppendiskussionen nicht erschließen. Gruppenspezifische institutionelle und Berufsstile sind auch häufig unter Sondersprachen (Sprache der Schmiede, Bergarbeiter, Forstleute etc.) untersucht worden (vgl. hierzu das HSK Sondersprachen, ersch. demn.). Meistens spielt dort vor allem das Lexikon eine Rolle. Besondere Gruppensprachen, die gerade nicht transparent (also nicht verstanden) sein wollen, sind die Argots französischer Banlieus um Paris (und anderer Großstädte). Zu diesen Stilen gehören grammatische und codespezifische Sprachspielereien (vgl. Calvet 1992). In einem (viel) weiteren Sinne können auch die durch die ehemalige DDR geprägten (sozialistischen) Oststile und ihre gesellschaftlichen Pendants, die (kapitalistischen) Weststile als SKS betrachtet werden (vgl. Dittmar/Bredel 1999; Dittmar 2002). Hier geht es aber um eine national definierte Gruppe, die unter anderen als hier fokussierten Kriterien zu behandeln wäre. Gal (1978, 65 ff.) hat am Beispiel der österreichischen Ortschaft Oberwarth darauf hingewiesen, dass Stile nicht nur von Monolingualen, sondern auch von Bilingualen
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benutzt werden, wobei der Wechsel von Deutsch zu Ungarisch und umgekehrt häufig unterschiedliche Stillagen repräsentiert. Können Menschen, die aufgrund von Zwang langfristig zusammenleben (Gefangene in Gefängnissen) als Gruppen betrachtet werden und sind ihre Stile als Gruppenstile erfassbar? Sprachliche Anpassungen gibt es sicher; was aber sind die soziologischen Unterschiede zu freiwilligen Gruppen? Letztlich soll darauf hingewiesen werden, dass sich Netzwerkanalysen in der Soziolinguistik der achtziger und neunziger Jahre großer Beliebtheit erfreuen. In ihnen werden u. a. die Intensität und die Dauer zwischenmenschlicher Kontakte erfasst und als Erklärungsdimension für Konvergenz oder Divergenz im Sprachverhalten berücksichtigt. Indem in diesen Untersuchungen die Beziehungsverhältnisse zwischen den Gruppenmitgliedern, damit auch das Norm- und Gruppenbewusstsein, außen vor gelassen wird, geht es nicht um natürliche soziale Gruppen, sondern um mehr oder weniger artifizielle Kontaktinduzierungen und eine Anpassungsmasse, die aus der gemeinsam in Kommunikation befindlichen Dauer und Intensität der Kontakte geschlossen werden. Über die Grundlagen und die Ergebnisse gibt Schlobinski (2004) einen einschlägigen Überblick.
3.5. Zusammenassung In Auseinandersetzung mit dem jeweiligen sozioökologischen Milieu, in dem sie sich bewegen, prägen Gruppen einen eigenständigen SKS: (1) Sie standardisieren gruppenintern kommunikatives Verhalten in der Weise (z. B. Kongruenz in den Regeln der Sprechperformanz), (2) dass gewisse Arten und Strukturen des gemeinsamen Austausches erwartbar gestaltet werden. Hierzu gehört das Verhältnis von An- und Entspannung, Spiel und Ernst, Offensivität und Defensivität, direkte und indirekte Adressierungen, Arten verdeckter Mitteilung, Austragen von Konflikten. (3) Gruppen verfügen über einen Wir-Kode und grenzen sich gegen Außenseiter oder Personen der Außenwelt ab. Sie teilen bestimmte Wörter, Neck- und Streitmuster, verfügen über ein Repertoire von Anspielungen und Abmahnungen, signalisieren mit Binnenvarianten Vertrautheit und grenzen sich mit Varietätenwechseln von außerhalb der Gruppe stehenden Personen stilistisch ab. (4) Binnendifferenziertes Sprechen innerhalb von Gruppen ist durch wettbewerbsspielerische Diskurse mit Vergewisserung der Gruppenzugehörigkeit, aber auch mit rangbezogenem Aushandeln verbunden. (5) Negative und positive Werturteile (metakommunikative Sprechakte) balancieren das Gruppenbewusstsein aus. (6) Den jeweiligen sozialen Funktionen entsprechen Erzählungen (Erfahrungsaustausch), Frotzeln (kreative Unruhe unter den Gruppenmitgliedern), wettbewerbsartige Sprachspiele (Wettstreit wie z. B. rituelle Beschimpfungen), Selbstdarstellungen, Klatsch, Witze, Läster- und Stereotypenkommunikation. (7) Mittels kollaborativen Sprechens, Rekonstruktion eigener Wertvorstellungen, außenorientierter Selbstdefinition, gemeinsamer Zukunftspläne werden auch die Weichen für die Kontinuität der Gruppe gestellt. Die Dauer von Gruppen ist variabel. Die Voraussetzung ihrer Kontinuität ist die Entwicklung von Verhaltensnormen und ein tragendes Gruppenbewusstsein.
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4. Geschlecht und Stil (Genderstile) 4.1. Zur aktuellen Diskussion Umfassende (enzyklopädische) Darstellungen des Zusammenhangs von Geschlecht und Sprache finden sich in Klann-Delius (2005a, b) und Kotthoff (2006). Den Menschen nach seinem Geschlecht zu kategorisieren, scheint eine universell verbreitete Tendenz zu sein. Geschlechtszugehörigkeiten werden im Personalausweis festgehalten, gehen in die Anrede ein und bestimmen in vielerlei Hinsicht das menschliche Zusammenleben und den Alltag (vgl. Trautner 1997). Mit der Neuen Frauenbewegung ist die Kategorisierung von Menschen als weiblich und männlich problematisch geworden. „Ein wesentlicher Grund ist der, dass mit dem Geschlecht einer Person eine unterschiedliche Bewertung verbunden war und ist“ (Klann-Delius 2005a, 1). Dass Männer und Frauen in vielerlei Hinsicht nicht gleichgestellt sind, lässt sich leicht durch Fakten untermauern (Halpern 2000, 6). Als in den 1970er Jahren die Gleichheitschancen eingefordert wurden, wurden auch die sprachlichen Unterschiede thematisiert. Die Theorien, die Frauen etwa eine besondere Irrationalität, Sanftmut und Häuslichkeit zuschrieben, galten nunmehr als männliche Legitimationsstrategien, die weniger eine Deutung als eine Rechtfertigung des jeweiligen Status quo zum Ziel hatten (Hof 1995, 7). Durch wissenschaftliche Analysen und empirische Befunde sollte von nun an ein klares Bild der Differenzen der Frauen- und Männersprache gezeichnet werden, die sich offenbar von Sprache zu Sprache gravierend unterscheiden (vgl. Günthner/Kotthoff 1991). Hellinger und Bußmann (2001) weisen auf die spezifischen Anredeformen (angemessene syntaktische Muster) des Japanischen hin (vgl. auch Nakamura 2001 und Shibamoto Smith 2001). In der nordamerikanischen Indianersprache Koasati besteht Formverschiedenheit von Verben je nachdem, ob sie von Männern oder Frauen verwendet werden. Verschiedene Aussprachevarianten des Lexikons werden für verschiedene Sprachen belegt. Die Liste lässt sich, so scheint es, noch vielfältig erweitern. In allen Punkten stellt sich jedoch heraus, dass die Differenzen niemals so gravierend sind, dass Männer und Frauen eine völlig andere Sprache sprechen (Klann-Delius 2005b, 19). Wir sprechen also immer von unterschiedlichen Gebrauchsweisen des Sprachsystems bzw. von Sprachregistern oder von Asymmetrien hinsichtlich einiger Aspekte der Sprachstruktur. Aktuelle empirische Untersuchungen, beispielsweise zum Lexikon, zeigen jedoch, dass es hier mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt. Es werden bei Halpern (2000) und bei Kimura (2000) weniger geschlechtsbezogene Asymmetrien im Wortschatz festgestellt, als zuvor erwartet wurden. Es zeigt sich bei beiden Studien deutlich, dass keine gravierenden (signifikanten!) Geschlechtsdifferenzen zu belegen sind. Unter Vernachlässigung genderspezifischer Unterschiede auf phonetischer, syntaktischer und semantischer Ebene (siehe hierzu die Zusammenfassung auf meiner Homepage unter http://www.personal.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/nordit/LINK: aktuelle Veröffentlichungen, Stil) befasse ich mich im Folgenden mit Stil und Gesprächsverhalten.
4.2. Stil und Gesprächsverhalten Männer und Frauen unterscheiden sich im Gesprächsstil nach der aktuellen Studie von Brownlow u. a. (2003) folgendermaßen:
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Women provide more personal information and more self-disclosing […], and language concerning social and emotional behaviour, as well as sympathy, is prevalent in women’s speech.[…] These topics may be conveyed by empty adjectives (such as sweet, cute) […], intensifiers (e. g. very), and the use of personal pronouns […]. Women’s speech is prettier and more detailed than men’s although it is also judged as more intellectual […]. (Brownlow u. a. 2003, 122)
Die Sprache der Männer tendiere dazu „[…] to be forceful, very clear about direction of opinion, judgemental and replete with negative emotion“ (Brownlow u. a. 2003, 122). Die unterschiedlichen Sprechstile beruhen nach Tannen (1991) und Mulac (1998) auf einer unterschiedlichen Sozialisation. Aus dieser Tatsache ergeben sich Verständigungsschwierigkeiten, die Tannen an einzelnen Gesprächsausschnitten belegt. Ihre Theorie, die durch aktuelle Studien von Michaud/Warner (1997) und Basow/Rubenfeld (2003) bestätigt wird, ist jedoch laut MacGeorge u. a. (2004) nicht haltbar, da die meisten Studien auf Selbsteinschätzungen beruhen. Die Nachuntersuchungen von Amy Walters (1998) belegen deutlich, dass die Geschlechtsunterschiede (ein kooperativer weiblicher gegenüber einem kompetitiven männlichen Stil) eher gering sind. Wood (1994) kam in ihrer Studie zum Verhalten am Arbeitsplatz zu dem Ergebnis, dass Männer und Frauen durchaus erfolgreich miteinander kommunizieren können. Andererseits wird deutlich belegt, dass Männer häufiger und offener über Gefühle mit Frauen reden als mit Männern (Athenstaed u. a. 2004). Bei den ersten Treffen mit einer Frau liefern sie ebenso viele persönliche Informationen wie die entsprechende Frau selbst (Clark u. a. 2004). Obwohl der empirische Nachweis von signifikanten Unterschieden in der geschlechtsspezifischen Forschung oft durch Gegenbelege relativiert wird, gehen Soziolinguistinnen wie Kotthoff (2006) doch davon aus, dass diese Unterschiede im Alltag und in den Institutionen relevant und erfahrbar sind. Zur Erklärung solcher Unterschiede hat Tannen (1991) den Zwei-Kulturen-Ansatz formuliert. Unterschiedliche sprachliche und kommunikative Praktiken werden von Männern und Frauen als Habitus in der Sozialisation erworben und führen ⫺ nach der Trennung der Geschlechter in der Kindheit ⫺ in ihrer Begegnung im jugendlichen und erwachsenen Alter zu Missverständnissen ⫺ ähnlicher Art wie in der interkulturellen Literatur bekannt. Männer werden als kompetitiver, Frauen als kooperativer dargestellt (vgl. auch Kap. 3 zu männlichen Gruppen von Gleichaltrigen). Dieser Ansatz wird von Günthner/Kotthoff (1991) als zu stark dichotomisch und vereinfachend eingeschätzt; Männer wie Frauen würden in der Breite ihres Stilrepertoires unterschätzt (vgl. Kotthoff 2006). Es scheint eine Ernüchterung in der Zuschreibung genderspezifischer Stile eingetreten zu sein: „Keinem Menschen haftet ein Gesprächsstil an wie Pech und Schwefel. Wir beherrschen eine ganze Bandbreite von Stilen, die aber je nach Kontext unterschiedlich angewendet werden und den Kontext als solchen auch mitproduzieren“ (Kotthoff 2006, 4.1). Das konstruktivistische Potenzial in der Theoretisierung von Gender sei zu Beginn des 21. Jhs. deutlich hervorgetreten. Doing gender wird als eine konstruktivistische Perspektive untersucht, aber auch die Determinierung des Gender in der Sozialisation durch körperliche Inkorporierungen von Verhalten (Habitus nach Bourdieu 1982) wird durch empirische Untersuchungen belegt. Eckert und McConnell-Ginet (1992) heben hervor, das unser Sprachverhalten von den kommunikativen Praktiken geprägt ist, mit denen und durch die wir uns engagieren und soziale Beziehungen eingehen. Sie beschreiben in Längsschnittbeobachtungen, wie Mädchen zu einem bestimmten Zeitpunkt neue Praktiken des Gehens, der weiblichen Gangart, oder des Geschichtenerzählens mit pikanten Spitzen erwerben und damit weibliche Stile schaf-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil fen, die von einer Gruppe imitiert und inkorporiert werden (vgl. Kotthoff 2006, 4.1). Dabei betonen Eckert und McConnell-Ginet (1992), dass verbale und körperbezogene Stile stets zusammenspielen (semiotisches Konzept). Zusammenfassend besteht kein Zweifel daran, dass Männer und Frauen in ihrer Kommunikation unter- und miteinander eigenständige Stilzüge aufweisen und auch verkörpern ⫺ in welchem Ausmaß und wie ausgeprägt in einzelnen Segmenten des Ausdrucksrepertoires bleibt umstritten. Dabei gibt es Untersuchungen, die von politischen Prämissen ausgehen, die die Unvoreingenommenheit der Beobachtungen und Erklärungen bezweifeln lassen. Teilweise haben frauenspezifisches Engagement und feministische Betroffenheit auch die Kodetermination des Verhaltens durch eine Vielzahl pragmatischer Faktoren verkannt oder unterschätzt. Erst in den letzten Jahren ist eine erkenntnisoffene und die Breite der relevanten pragmatischen Faktoren in Rechnung stellende ausgewogene Forschungssituation entstanden. „If it isn’t separation that differentiates the sexes in their behaviour, then it must be some aspect of the distinctive content of their gendered personalities or social positions. Differences in the use of linguistic variables, then, reflect sex-based differences in social practice“ (Eckert/McConnell-Ginet 1992). Festzuhalten ist, dass Sprechstile besonders von der Spracherfahrung (Alter des Sprechers, unterschiedliche Primär- und Sekundärsozialisation, Status der Gesprächsteilnehmer), der Verständigungssituation und der Vertrautheit der Gesprächsteilnehmer sowie dem Gesprächsgegenstand (Themen) abhängig sind.
4.3. Mediale Kommunikation Ein kürzlich im Internetmagazin Wissenschaft erschienener Artikel behauptet, dass unser Stil stark von unserem Gesprächspartner abhängt. Wenn zwei Freundinnen sich unterhalten, kommen bestimmte Redewendungen und Wörter häufiger vor als in einem Gespräch zwischen Männern. So gilt heute die Auffassung, dass es einen weiblichen und auch einen männlichen Sprachstil gibt. Wissenschaftler der University of Otago, Dunedin, stellten fest, dass unser geschlechtsspezifisches Sprachverhalten stark von unserem Gesprächspartner beeinflusst wird (gegenseitige Anpassung). Die Wissenschaftler führten einen Versuch mit elf Frauen und Männern durch. Die Versuchspersonen mussten jeweils auf die E-Mails von zwei Personen antworten. Einer dieser neuen Brieffreunde trug einen weiblichen Namen und nutzte den typisch ,weiblichen‘ Stil. Der andere Brieffreund hatte einen männlichen Namen und schrieb im ,männlichen‘ Stil. Die Versuchspersonen (Frau oder Mann) beantworteten die im ,weiblichen‘ Stil geschriebenen Emails im ,weiblichen‘ Stil und die im ,männlichen‘ Stil geschriebenen Emails im ,männlichen‘ Stil. Sie passten ihren Stil also dem des Briefpartners an (vgl. http://www.wissenschaft.de/wissen/news/ 153989.html). Der weibliche Stil verwendet mehr Adverbien, stellt häufiger Fragen und macht öfter Komplimente. In diesem Stil gingen die Partner mehr auf Gefühle ein und schrieben offener über die eigene Person. Der männliche Stil verwendete mehr Adjektive. Die Betroffenen äußerten öfter eine Meinung und griffen den Partner auch verbal an. In einem zweiten Experiment bekam jede Testperson nur einen Brieffreund. Die Brieffreunde schrieben entweder im ,weiblichen‘ oder im ,männlichen‘ Stil und hatten entweder einen weiblichen oder einen männlichen Namen. Dadurch ergaben sich vier Kombinationsmöglichkeiten: Entweder der Stil und das Geschlecht des Brieffreundes stimmten überein oder sie waren verschieden. Beispielsweise gab es die Brieffreundin Sarah, die
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aber in einem ,männlichen‘ Stil schrieb. Wieder passte sich der Schreibstil des Partners an den Schreibstil des anderen an. Der Name hatte einen geringeren Einfluss auf den Stil. Der Sprachstil ist dieser Untersuchung nach weniger an das Geschlecht, sondern eher an den Sprachstil des Gesprächspartners gebunden. Die US-amerikanische Medienforscherin Susan Herring (2004) untersuchte den Bereich der computergestützten Kommunikation und stellte dabei relevante geschlechtsspezifische Unterschiede in diesen Online-Begegnungen fest. Es gibt geschlechtsspezifische Differenzen zum Beispiel im Verfassen von Nachrichten. Frauen und Männer vertreten offenbar auch unterschiedliche ethische Positionen, was aus der Gestaltung von Kommentaren geschlossen wird. Herring wendet sich gegen Annahmen, die besagen, computergestützte Kommunikation neutralisiere geschlechtsspezifische Differenzierungen. Männer haben einen aggressiveren Stil, indem sie sich zum Beispiel gegenseitig herabsetzen sowie verächtliche Behauptungen äußern. Diese Methoden werden jedoch im Rahmen der Netzfreiheit (Netiquette) als zulässig definiert. Der von Frauen angewandte und eingeforderte Kommunikationsstil basiert hingegen auf gegenseitiger Anerkennung und Abschwächung. Wie beschreiben und bewerten nun die befragten Mädchen den angesprochenen Kommunikationsstil beim Chatten? „[…] wenn ich mit Jungs rede […] die sind so grob also, die können die Gefühle nicht so zeigen wie die Mädchen. Weil ich chatte ja mit Jungs und Mädchen aber die sind irgendwie lieber und alles, aber Jungs sind auch nett“ (Jessica, 17 Jahre). „Bei Jungs ist das mehr so … die sind immer gleich drauf aus, ,ja ich komm’ dich besuchen‘ wir sind nicht gleich so drauf aus, wir wollen die erst mal so kennenlernen […]. Ich weiß nicht die machen das alles irgendwie aufwändiger, machen immer noch ein Bild dazu, das ist bei uns nicht so wichtig […] die sind halt mehr drauf aus sich zu präsentieren“ (Chrissi, 15 Jahre). Anhand dieser Kommentare zeigt sich, dass die befragten Mädchen sehr wohl unterschiedliche Kommunikationsstile erfahren. Einmal formulieren Jungs ihre Anliegen, welche sich von den Mädchen oftmals unterscheiden, direkter und zeigen sich dabei unter Umständen unsensibler, zum anderen versuchen sie mehr auf sich aufmerksam zu machen, indem sie ihre Beiträge umfassender und aufwändiger gestalten. Die Studie geht allerdings nicht auf die Themenbereiche ein, die den Chats zugrunde liegen. Bei den Erklärungen wird allerdings der Faktor Alter (nur Jugendliche) nicht berücksichtigt.
4.4. Envoi Während in dem Gebiet der geschlechtsspezifischen Stile vor allem Frauen aktive Forschung betrieben haben, sollten männliche Stile für sich und in ihren pragmatischen Auswirkungen auf die Zwecke und Ergebnisse der Kommunikation besser untersucht werden. Dagegen fehlen eher Untersuchungen zum Verhalten von Frauen (Mädchen) in kleineren sozialen Gruppen (vgl. dazu die Untersuchungen zu männlichen Jugendlichen in Kap. 3). Zu Frauen in der reifen Erwachsenenphase des Lebens gibt Schwitalla einen guten Überblick (Artikel 62 Gesprächsstile, Kap. 3.2). Im Unterschied zu den schwarzen (männlichen) Jugendlichen, von denen ausführlich in 3.2 die Rede war, hat Kochman (1981) von den schwarzen Mädchen den weniger auf körperlichen Wettstreit angelegten klatschhaften, intrigenfördernden Kommunikationsstil des he-said-she-said hervorgehoben. Mädchen erfahren von Klatsch hinter ihrem Rücken. Damit konfrontiert wird die Wirkung des Klatsches auf das einzelne Mädchen und ihre ,coolen‘ oder emotionalen
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Reaktionen bewertet. Wie geht das Klatschopfer mit der Gerüchteverbreiterin um? Wird sie aggressiv? Welche Entschuldigungen bringt sie hervor? Das signifying von Mädchen besteht aus anspielungsreichem, intrigierendem indirektem Sprechen, das mit großer Phantasie vollzogen wird. In einer detaillierten, informativen Zusammenfassung stellt Kotthoff (2006, 5.3: Sprache als Abgrenzungsverfahren) die Unterschiede zwischen der (Mädchen)Gruppe der Jocks (der Schule nahe stehende Werte) und der Burnouts (schulferne Orientierung) in der Untersuchung von Eckert an einer amerikanischen Highschool dar (2000). Die Langzeitbeobachtung fokussiert Mädchen, arbeitet aber komplementär ihre Beziehungen zu den Jungen (und deren kommunikative Praktiken) detailliert heraus. „Die männlichen jocks kommunizieren im Sport und im Umgang mit Computertechnologie (beliebte Freizeitbeschäftigungen) ein Image starker Selbstkontrolle und Kompetition. Für die Mädchen ist die Gestaltung ihres Äußeren und ihr ansprechendes Auftreten ein viel zentraleres Anliegen“ (Kotthoff 2006, 5.3). In Bezug auf bestimmte Variablen des kommunikativen Stils ergibt sich in dieser Studie „ein höchst differenziertes Bild der verschiedenen Variablen, die einen unterschiedlichen ikonischen Status für die Kommunikation von Identität haben“ (Kotthoff 2006, 2515).
5. Alter und Stil Die jungen Hoffnungsträger der Gesellschaft, die Heranwachsenden, können sich in westlichen Gesellschaften großer Beliebtheit erfreuen. Sicher Dreiviertel aller empirischen Untersuchungen absorbieren sie. Das troisie`me aˆge [die Lebensperiode des Alters] zu thematisieren ist demgegenüber eher ein Tabu, das erst in den letzten Jahren erfolgreich gebrochen wird. Dem Abtritt fehlen Glanz und Glamour des dynamischen Auftritts.
5.1. Au der Suche nach einer Deinition von Alter Den Sonderhorizont (Luhmann) Alter können wir natürlich numerisch definieren ⫺ was jedoch keine Erklärungsmöglichkeit eröffnet. Im französischen Sprachsystem ist mit dem premier aˆge die Zeitspanne 0⫺30, mit dem second aˆge die Zeitspanne 30⫺60 und mit dem troisie`me aˆge [die Lebensperiode des Alters] die Spanne ab 60 verbunden, obwohl das nirgendwo festgeschrieben ist. Die Einschnitte sind mehr oder weniger willkürlich, obwohl Abschnitte von 30 Jahren durchaus sinnvoll erscheinen. Viele Autoren beschäftigen sich mit der Sinnhaftigkeit numerischer, psychologischer oder soziologischer Definitionen. Zweifellos am vielversprechendsten sind Kriterien wie Kommunion oder Konfirmation, Wahlrecht und Führerscheinerlaubnis, Schulabschluss, Heirat und Gründung einer Familie, Aufgabe des eigenen Haushalts, Übersiedlung in ein Altersheim (u. a.). Der zunehmende Erwerb von Reife oder der Erlaubnis zur Übernahme von gesellschaftlich definierten Verantwortungen eröffnet neue Optionen mit neuem Bewusstsein, macht neue Erfahrungen in Gruppen und in Verbindung mit anderen Personen möglich und kann daher dazu dienen, das Leben in Phasen zu gliedern (vgl. die fünf Phasen in Eckert 1997).
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Natürlich wird man beim Spracherwerb des Kindes nicht von einem Altersstil reden. Allerdings erkennen bereits die Heranwachsenden zwischen 12 und 18 die soziale Bedeutung von Varietäten- u. Stilunterschieden (Labov 1972a, b). Die Halbwüchsigen erwerben die Wahrnehmungsfähigkeit der Stilunterschiede und ihrer Wirkung. Wie in Kapitel drei zu den jugendlichen peergroups bereits ausführlich beschrieben, stehen die Heranwachsenden unter 20 im Wettstreit zueinander, probieren in unterschiedlichem Maße die Sprache in Scherz-, Wettstreit- u. Erzählkommunikation aus und arbeiten sich an den potenziellen Mustern des Sprachgebrauchs relativ zu ihrer sozialen Identität ab. In der anglophonen Literatur spricht man von „life stages“ (Cheshire 2005). Nach Cheshire ist das Sprachverhalten in dem mittleren erwachsenen Sprachstadium am stabilsten. Auch Eckert (1997) ist der Meinung, dass die Sprecher und Sprecherinnen in dieser mittleren Phase mündigen und stabilen Gebrauch von der Sprache machen. Indem sie mit der Sprache Handlungen vollziehen, kurz: gesellschaftlich relevante Tätigkeiten ausüben ohne Sprache zu lernen oder sie zu verlieren. Insgesamt geht man davon aus, dass die sozialen Anforderungen an die jeweiligen Lebensphasen das Sprach- und Kommunikationsverhalten bedingen. Studien von Labov (2001) zeigen, dass phonetischer Wandel, erhoben und erfasst in mehreren Sprachgemeinschaften, mit dem Generationenwechsel verbunden ist (dies entspricht etwa der französischen Dreiteilung in erste, zweite und dritte Phase). Der phonetische Sprachwandel bei Jugendlichen, die Festigung von Aussprachenormen bei Erwachsenen im Berufsleben und die Brüchigkeit der erworbenen Normen im späteren Alter sind Teil einer generationsspezifischen Sprachwandelforschung, die vor allem in der anglophonen Variationsforschung durchgeführt wurde (Labov 2001; Cheshire 2005). Es handelt sich hier um Studien zur Übernahme, zur Praktizierung und zum Verlust (⫽ Wandel) von sprachlichem Habitus. Unter Altersstil verstehe ich dagegen das Ausdrucksrepertoire im Sinne stilgewordener sozialer Identität in Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt in der jeweiligen Lebensphase. Da wenig Forschung in der mittleren, stabilen Lebensphase der Erwachsenen gemacht werden konnte, widme ich mich im Folgenden dem Stil der Jugendlichen bzw. der älteren Menschen. Wir werden daher einige exemplarische Studien vorstellen, wobei große Lücken in den mittleren Lebensphasen bleiben. Wie schon für Gruppe und Geschlecht ausführlich dargestellt, kann Alter nicht unabhängig von Gruppe oder Geschlecht isoliert behandelt werden. Natürlich bedingt das Alter spezifische Formen und Funktionen der Verbalisierung und der kommunikativen Mitteilungen. Sie sind in der Regel von der sozialen Dimension der Gruppe und der geschlechtsspezifischen Zugehörigkeit bestimmt.
5.2. Altersphasen und Stil Eine aufschlussreiche Untersuchung zu Kindheit und Jugend ist die des Spielverhaltens von Kindern der Vor- u. Grundschule. Hier hat Streeck (1986) im Anschluss an Goodwin typische Muster jeglicher Kooperation kindlichen Spielens und kindlicher Freude untersucht. Dabei geht es nicht um Erwerb, sondern um Formen der Interaktion, des Handlungsvollzugs während des Spielens und des davon bestimmten kommunikativen Austauschs. Eine Zusammenfassung dazu durchgeführter Untersuchungen findet sich in Cook-Gumperz und Kyratzis (2001, 510⫺611).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Im Übrigen gibt Cheshire (2005, 1552⫺1563) über die soziolinguistischen Aspekte des Sprachgebrauchs nach Altersphasen einen gründlichen Überblick. Die klassischen Variationsstudien zu aussprachebezogenen (phonetischen) Variablen werden unter dem Gesichtspunkt Ausprägung der Variablen nach Alter und Register (formelle vs. informelle Sprechweise) für eine Theorie des Sprachwandels fruchtbar gemacht. Wenn die Ergebnisse dieser Studien auch nicht zur Präzisierung von Altersstilen taugen, so geben sie doch viele Hinweise auf ein kommunikatives Verhalten, das für Altersstile relevant ist (Untersuchungen zum age-grading (⫽ Durchlaufen von Altersphasen im Rahmen einer Generation)). Hier geht es um sprachliche Merkmale und Aspekte, die für Altersgruppen im Laufe des Lebens symbolische Bedeutung haben. Unter den age-exclusive features (Merkmale, die in einer Altersstufe nicht auftreten (können)) versteht man z. B. das biologisch bedingte Sprechen-Üben von Kleinkindern oder das Zittern in der Stimme älterer Menschen. Aus dieser Sicht ist der Erwachsenensprachgebrauch die normale Sprech- und Sprachlage, von der Kinder und Jugendliche sowie ältere Menschen abweichen. Cheshire berichtet von Merkmalen des exklusiven altersspezifischen Sprechens, zitiert aber auch Belege von Androutsopoulos (1998a, b) (und anderen) von ethnischen Mischungen im Sprachgebrauch von zwei- und mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen (Cheshire, 2005). Downes (zit. in Cheshire) belegt anhand vieler empirischer Untersuchungen, dass Jugendliche die prestigebesetzten Merkmale der Umgangssprache bis etwa 30 voll erwerben und bis zu 45 Jahren einen optimalen Gebrauch dieser Merkmale im Alltag dokumentieren. Danach werden diese vernacular-Merkmale langsam wieder abgebaut, was mit dem Verlust von Prestige verbunden ist. Altersspezifische Präferenzen (age-preferential features) weisen demgegenüber positiv nach, was warum in bestimmten Altersphasen benutzt wird. Es gibt offenes und verdecktes Prestige für bestimmte Varianten, die je nach sozialer Schicht, Familien- oder Straßenkulturorientierung, Männern oder Frauen bevorzugt oder stigmatisiert werden (vgl. Cheshire 2005, 1557 ff.). Öffentlich klar wahrnehmbare Normen (overt norms) sind für Jugendliche und später Erwachsene interessant, für Kinder aber nicht. Dagegen hat das öffentliche Leben für die Erwachsenen eine große Bedeutung, der Druck auf Konformität im normgerechten Sprechverhalten nimmt jedoch bei älteren Menschen wieder ab ⫺ Konformität hat an Wert verloren. Sowohl Labov als auch Trudgill unterstreichen (bibl. Angaben bei Cheshire), dass sich die altersbezogenen Unterschiede im Sprachverhalten über alle Registerdifferenzierungen hinweg erhalten. Nach Labov (2001) schlagen sich so die unterschiedlichen Beziehungslagen der Sprecher gemäß ihrer Lebensgeschichten in ihrer altersspezifischen Sprachpraxis nieder. Schließlich führen Untersuchungen in ,realer Zeit‘ (Längsschnittuntersuchungen) im Unterschied zu altersspezifischen Querschnittuntersuchungen zur These generationsspezifischen Sprachwandels. Viele in Altersabschnitte (age-grading) fallende sprachliche Differenzierungen fallen mit den größeren genrationsspezifischen Einschnitten zusammen. Obwohl „the generational change is the basic model for sound change“ (Labov, zit. in Cheshire 2005, 1559), geben graduelle sprachwandelspezifische Veränderungen wichtige Informationen zum kontinuierlichen Wandel. Ergänzend nennt Cheshire Bedingungen des generationsspezifischen Wandels in zwei- und mehrsprachigen Gemeinschaften. Von diesen Studien wird übersehen, dass zweisprachige Schüler und Schülerinnen (Mädchen und Jungen auch außerhalb der Schule) in europäischen Ländern wie BRD, GB, FR, B, IT und SP ihre Ausgangs- oder Muttersprache oft benutzen, um Klassenka-
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meraden, Lehrer und Lehrerinnen, Erwachsene, Sprecher und Sprecherinnen der entsprechenden Landessprache aus der Kommunikation auszuschließen, um ihre eigenen Belange untereinander solidarisch zu regeln.
5.3. Modelle der Beschreibung von Altersstilen Nach Fiehler und Thimm (2003a) liegen im deutschen Sprachraum ⫺ im Unterschied zum englischsprachigen ⫺ nur wenige Untersuchungen zum dritten Lebensabschnitt ab etwa 60 vor. In der Forschung zu diesem Themenbereich gibt es drei Ansätze: (1) die Untersuchung der Alterssprache und Alterskommunikation unter dem Blickwinkel der Abweichungen von der Normalsprache mittleren Alters (age markers); (2) die dritte Lebensphase als „Auslöser von stereotypen Einstellungen und einer daraus resultierenden sprachlichen Anpassung (kommunikative Akkommodation), die in Form von Sprechstilen manifest wird“ (Fiehler/Thimm 2003a, 11); (3) Alter als ein in der kontextspezifischen Interaktion zu erfassender sozialer Konstitutionsprozess, der durch konkrete Interaktionen relevant gesetzt wird und dabei bestimmte kommunikative Verfahren und Mittel freisetzt. (1) steht in der Tradition der „Defizit- und Regressionshypothese“ in der Gerontologie (Fiehler/Thimm 2003a, 12). Sie ist eng mit neurolinguistischer Forschung zum Sprachverlust verbunden. Einerseits muss gefragt werden, ob diese vornehmlich experimentelle Forschung adäquate Erklärungen bereitstellt, andererseits wird uns durch diese Sichtweise ein unvoreingenommener Blick auf andere, komplexe Funktionen und Leistungen der Alterskommunikation verstellt. (2) ist die sozialpsychologische Sicht auf das ,dritte‘ Alter als Problem der Selbsteinschätzung der noch in vollem Umfang vorhandenen Kommunikationsfähigkeit und der Behandlung durch andere „als älter geworden, nicht mehr in vollem Umfange kompetent“. Diese Divergenz bringt Unsicherheit mit sich und sie findet ihren Ausdruck in sprechstilistischen Anpassungen an die „äußere Wahrnehmung“ (Adressierung, patronisierende Kommunikation) als Divergenz zur eigenen „gelebten“ (Fiehler/Thimm 2003a, 12). Die Perspektive (3) stellt „Prozesse der interaktiven Aushandlung eines variabel definierbaren sozialen Alters in das theoretische Zentrum“ (Fiehler/Thimm 2003a, 12). Hier wird Alter als ein Konstrukt verstanden, dessen Erscheinungsweisen interaktional hervorgebracht werden. Brose (2003) widerspricht auf der Grundlage von Interviews mit über Fünfzigjährigen der Stereotypenforschung (2). Sie stellt ein aktives, angemessenes, vollkompetentes Redeverhalten fest (Brose 2003). Kurze Äußerungen, viele Füllwörter, Satzfragmente, übertrieben starke Betonung, längere Sprechpausen und auffällig häufige Verwendung der ersten Person Plural (Stereotypenansatz) kann sie nicht feststellen. In einer wegweisenden, an vorliegenden Forschungen orientierten Aufarbeitung von Merkmalen des fortgeschrittenen Alters gelangt Fiehler (2003) zu einer offenen Liste von Merkmalen, die eine Annäherung an den Altersstil darstellen. Dazu gehören (i) Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart, (ii) Thematisierung des kulturellen und sozialen Wandels, (iii) die Selbst-
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identifikation mit der Vergangenheit, (iv) die größere kommunikative Kontaktfreudigkeit (weniger Hemmungen), (v) die ⫺ je nach Fall und Individuum ⫺ Vergrößerung oder Verringerung des Kommunikationsaufkommens und (vi) der gesteigerte Selbstbezug in der Kommunikation. Bevorzugt werden (i) bis (vi) in Erzählungen (biographisches Erzählen) und im Klatsch angewendet. Die sprachlich-stimmlichen Ressourcen sind die fragile Stimme, übergroße Emphase in der Formulierung, Dialektgebrauch und altersspezifisches Lexikon. Unter anderen/weiteren Merkmalen, die sich bei Fiehler (2003) angesprochen finden, sind zu erwähnen: mangelnder Partnerbezug im Adressantenzuschnitt, zurückhaltende Adressierung (Sprechen mit und für sich selbst), Durchziehen der eigenen thematischen Vorstellungen (mangelndes genaues Zuhören). In dem für das Thema repräsentativen Sammelband Fiehler/Thimm (2003a) handeln verschiedene Autoren theoretisch oder anhand von Gesprächsausschnitten unangemessene stereotypenhafte (präsuppositionsbesetzte) Unterstellungen gegenüber Alten in Gesprächen (Schnieders 2003), den Stil Älterer in Briefen (Cherubim/Hilgendorf 2003) oder die diskursive Sichtweise auf das eigene Altern (Thimm 2003) ab. Richtungweisend ist der von Thimm eingeschlagene vielversprechende Weg, „die sprachlich kommunizierte soziale Welt in ihrer komplexen Auswirkung auf Selbst- und Fremdbild, auf Ingroupund Outgroupbeziehungen anhand von sprachlichen Bezügen auf soziale Kategorisierungen zu erfassen“ (Thimm 2003, 88). Insgesamt scheint es nicht untypisch zu sein, dass die Extreme des Altersspektrums in der Forschung mehr Beachtung finden als die goldene Mitte der Normalität, des kommunikativen Top-Fit-Seins, der Reife und der normativen Korrektheit. So ist der kommunikative Stil der Jugendlichen am besten erforscht (vgl. Kap. 3), gefolgt von der ,dritten Altersphase‘. Die Stillage der Normalität, der Erwachsenen zwischen 30 und etwa 55, scheint wenig unter dem Fokus Alter untersucht worden sein ⫺ dafür steht aber die Fülle der Gesprächs-, Stil- und Variationsforschung für diese ,zweite Altersphase‘ für eine Vielzahl sprachlicher und kommunikativer Aspekte zur Verfügung, die hier nicht anhand von Stilmerkmalen fixiert werden kann. Stattdessen verweise ich auf die Darstellungen des kommunikativen Stils Mannheimer Erwachsener in verschiedenen ethnographisch erfassten Gruppen durch einen der beteiligten Forscher, Johannes Schwitalla, der unter 3.2 im Art. 62 dieses Handbuches wesentliche Aspekte zusammenfasst (vgl. auch Tab. 74.1).
5.4. Ein versöhnlicher Ausblick In vielen Studien werden die Einsamkeit, die körperlichen Rückschritte in der sprachlichen Performanz und der physischen Leistung zum Problem des alternden Individuums erklärt. Not, Krankheit, körperliche und geistige Regression stehen als Abbau der Physis, aber auch der kommunikativen Fähigkeiten (schlechteres Hören, leiser und unartikuliertes Sprechen etc.) im Vordergrund. Wir wollen zum Abschluss auch einen Blick auf die andere Seite, die des genießenden, noch über seine volle Lebensbreite verfügenden Menschen in der sozialen Gruppe werfen. Über die Unterhaltungskunst älterer Frauen in der Filsbachwelt und ihre Kunst der leichten Muse im Gespräch hat Jürgen Streeck (1994) ein eindrucksvolles Porträt gezeichnet. Er beschreibt, wie die Frauen im Mannheimer Dialekt sexuelle Witze erzählen, Obszönität aussprechen und auf die Zuhörerinnen wirken lassen, Obszönität aber auch aussparen, um lustvolle Phantasien anzuregen (die Absicht
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des Witzes ist es nach Freud (1905, 80) „Lust zu erzeugen“). In der Runde die „Lust am sexuellen Witz“ (Streeck 1994, 601 ff.) mit kunstvoll eingestreuten Importen direkter Rede auszuleben, wird an vielen Gesprächsausschnitten und am Beispiel des unnachahmlich erzählten Parabel-Witzes von einem italienischen ,Gockel‘, der Mannheimer Dialekt spricht, gesprächsstilistisch beschrieben und in den allgemein-menschlichen Horizont einer erklärenden Stilzweckbestimmung erhoben: „Die Reinszenierung des Alltags im Gruppengespräch ist eine andere Art der sprachlichen Objektivierung des eigenen Lebens. Sie zielt nicht auf praktischen Eingriff, und insofern mag sich in der Häufigkeit, mit der sie zur Anwendung gebracht wird, die Erfahrung der Sprecherinnen niederschlagen, dass die Welt sprachlich ⫺ durch eigenes Sprechen ⫺ kaum zu ändern ist. Aber Sprache kann eine Alternative zum Alltag bieten, eine ästhetisierte Version, die vorübergehend Entlastung schafft, indem sie für Unterhaltung sorgt“ (Streeck 1994, 610).
6. Perspektiven Stil ist die sprachliche und kommunikative Praxis, mit der Handelnde in ihrer individuellen und sozialen Prägung durch ihre soziale Umwelt und als Antwort auf die Bedürfnisse, die sie mitteilen wollen, kommunikativen Austausch pflegen und ihre soziale Identität zeigen. Stile sind ein Medium, mit dem Akteure im sozialen Alltag ihre Identität in semiotischen Gestaltformaten Ausdruck verleihen können und sich dadurch individuell und sozial wahrnehmbar und berechenbar machen. Das Potenzial des Stilkonzeptes liegt darin, dass es für sprachliche Mittel und pragmatische Kommunikationsverfahren integrierte Beschreibungsverfahren bereitstellt. Es ermöglicht eine Verknüpfung von Makro- und Mikroanalyse. Darin liegt seine Stärke, aber auch seine Schwäche: dass die Beschreibungsebenen oft nicht integrativ ineinandergreifend verzahnt, sondern additiv aneinander ,geklebt‘ werden. Auch bei Stilanalysen müssen Schwerpunkte mit eingegrenztem Fokus gesetzt werden. Für solche Analysen bilden die drei Dimensionen der Sozialität: Alter, Geschlecht und Gruppe ein Forschungsfeld, das voller unbeantworteter Fragen steckt, aber ⫺ wie dieser Überblick zeigt ⫺ auch voller Anknüpfungspunkte an bereits geleistete Vorarbeit.
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Norbert Dittmar, Berlin (Deutschland)
75. Epochenstil/Zeitstil
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75. Epochenstil/Zeitstil 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Der Problemzusammenhang Das Verhältnis von normalsprachlichem und literarischem Epochenstil Historische Stilkonzepte und Epochenstile Epochenstile in der Kunst- und Literaturgeschichte Fazit Literatur (in Auswahl)
Abstract A period style is to be understood as the set of features of expression and artistic form that are characteristic of a particular epoch (age). In the twentieth century, the term period style has developed into a general concept comprising all cultural productions and activities. From classical antiquity onwards, period styles have been related to the changing concepts of style. Since the end of the nineteenth century, there has been an interaction between concepts of period style in the field of visual art and other forms of art, especially literature.
1. Der Problemzusammenhang Der nicht unumstrittene, aber unverzichtbare Begriff des Epochenstils ist zu verstehen als Gesamtheit der epochentypischen Gestaltungsmerkmale in der Literatur und anderen Kunstmedien eines Zeitalters. Der Begriff des Epochenstils hat sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem kulturgeschichtlichen Konzept entwickelt, das alle kulturellen Hervorbringungen und Aktivitäten und alles menschliche Verhalten bis hin zur Lebensführung (Lebensstil) als kulturhistorisches Gesamtphänomen umgreift. Ein derartig weiter Begriff des Epochenstils stimmt mit einem entsprechend weiten Stilbegriff überein, wie ihn z. B. Hans Ulrich Gumbrecht (2003, 509) vertritt, der Stil als „rekurrente Formen der Manifestationen menschlichen Verhaltens im allgemeinen“ definiert und vom Stil als „Verwirklichung von Absichten“ ⫺ Stil als Ergebnis einer Handlung ⫺ und von „absichtslosem Verhalten“ spricht. Der Begriff des Epochenstils wird im Folgenden vor allem auf rhetorisch und literarisch geformte Texte und die bildende Kunst und ihre Interaktion mit der sprachlichen Kunst bezogen. Das Entstehen eines Epochenstils wird vielfach mit einer Zeitenwende zusammengebracht, in der sich das Welt- und Menschenbild verändert und sich ein neues „epochales Sinnsystem“ (Falk 1981, 113) herausbildet, sich eine „Veränderung des ,Denkstils‘“ (Lerchner 1995, 102) oder des „Geists der Epoche“ (Lerchner 2000, 51) zeigt. Der vielfach synonymisch mit Epochenstil gebrauchte Begriff Zeitstil (etwa Staiger 1951) ist neutraler. Ihm fehlt die explizite historische Dimension des Epochenstils, der sein Profil aus der Abgrenzung von einer vorausgehenden und einer folgenden Epoche gewinnt. Aus diesem Grunde ist in dem Wort Zeitstil eine Umkehrung von Determinans und Determinatum, deren Ergebnis das Wort Stilepochen ist (Por/Radno´ti 1990), nicht möglich. Ein Vorteil des Begriffs Zeitstil liegt darin, dass er unabhängig von dem Begriff der Stilepoche ist, deren Bestimmung oftmals problema-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil tisch ist, da es etwa zu stilistischen Kontinuitäten über die Epochen hinaus und zu Übergangsepochen und zum Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen kommen kann (Falk 1981; Steadman 1990). Der Begriff Epochenstil gehört in den Zusammenhang einer Erweiterung und Ausdifferenzierung des Stilbegriffs, die zusätzlich zu den Termini Schreibstil und Individualstil Begriffe bildet wie Zeitstil, Gruppenstil, Gattungsstil, Werkstil, Baustil, Denkstil, Führungsstil, Lebensstil, Funktionalstil. Ein Problem besteht darin, dass sich die einzelnen Stilbegriffe berühren oder überschneiden können (Sowinski 1994, 1320). Die Kategorien des Individualstils und des Epochenstils werden in der Stilistik kontrastiert, aber in Goethes Werthers Leiden z. B. partizipiert der Autor am Epochenstil der Empfindsamkeit und gleichzeitig gibt er seinem Stil eine eigene, unverwechselbare Prägung. Es besteht auch die Möglichkeit, dass ein Individualstil nachgeahmt wird und zur Bildung eines zeittypischen Stils beiträgt, wie das in James Macphersons Ossian der Fall ist, der wesentlich dazu beigetragen hat, den Stil der Epoche der Empfindsamkeit zu prägen. Ähnlich wie mit dem Individualstil 'verhält es sich mit der Entgegensetzung von Epochenstil und Werkstil. Goethes Götz und Iphigenie besitzen einen je eigenen Werkstil, eine textstilistisch nachweisbare Individualität der Komposition, die sich aber zu einem Teil auch dadurch erklärt, dass das erste Werk in der Epoche des Sturm und Drang und das zweite in der Klassik entstand. Ein Autor kann sich durch verschiedene Epochen und deren Stile hindurch entwickeln, wie das bei Goethe der Fall ist. Es ist auch möglich, dass ein Autor im Laufe seiner persönlichen Stilentwicklung unterschiedliche, von Epochenstilen geprägte Phasen durchläuft. In Rilkes Werk spiegeln sich im Übergang von seiner epigonal-romantischen Frühphase zum sachlichen Sagen seiner mittleren Phase und zu der poetologischen Neuorientierung in den Duineser Elegien und den Sonetten an Orpheus auf der Ebene einer individuellen künstlerischen Entwicklung übergreifende dichtungsgeschichtliche Entwicklungen. Auch Gattungsstil und Epochenstil können insofern konvergieren, als sich Gattungen in der Geschichte und damit auch die in ihnen zu erkennenden Stile verändern, wie sich zum Beispiel im Kontrast der klassischen Tragödie eines Racine und der bürgerlichen Tragödie der Aufklärung (Lessing) zeigt. Eine Gattung, wie etwa der Brief, für den Gellert um die Mitte des 18. Jahrhunderts das Natürlichkeitsideal forderte, kann auch eine entscheidende Rolle in der Herausbildung eines Epochenstils spielen. Die Bestimmung von Epochenstilen setzt also eine differenzierte Prüfung und Abgrenzung der zeittypischen Gestaltungsmerkmale eines Werks von individual-, gruppen- und gattungsstilistischen Faktoren voraus. ⫺ Ein weiteres Problem einer stilbezogenen Differenzierung von Epochen liegt im Verhältnis von sprachhistorischer und literarhistorischer Stilistik. Historische Stilistik (Pöckl 1980) kann sich auf die Sprache im allgemeinen und auf die Sprachkunst im besonderen beziehen. „Epochenstil im literarhistorischen und epochenstilistische Merkmale im sprach(stil)historischen Verständnis“ (Lerchner 1997, 49) interagieren zwar, fallen aber aufgrund von Phasenverschiebungen, etwa im „Fall sprachlich-stilistischen Transfers aus dem Bereich des literarischen Diskurses in alltagssprachliche Diskursbereiche“ (Lerchner 1997, 43), nicht zusammen. Auch hier lassen sich Parallelitäten zwischen Individual- und Epochenstil feststellen. Über große zeitliche Distanz sieht sich Thomas Mann auf der Ebene des Individualstils in einer Konkurrenzsituation mit Goethe, der für ihn das höchste Stilideal verkörpert. Mit einem gewissen zeitlichen Abstand ⫺ wenn auch bei weitem nicht einem so großen ⫺ wirken auch bestimmte Autoren wie Luther, Lessing und Goethe auf die deutsche Alltagssprache ein. Es gibt auch Epochenstile wie die des Impressionismus und
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1273
des Expressionismus, die nur begrenzt auf die Alltagssprache einwirken. Historische Stilistik in der Sprach- und der Literaturwissenschaft hat es also nicht immer mit rein zeitlichen Phänomenen zu tun.
2. Das Verhältnis von normalsprachlichem und literatursprachlichem Epochenstil Ein Beispiel für eine Konvergenz von normalsprachlichem und literarischem Epochenstil zeigt sich in der englischen Sprache der Renaissance, in der unter dem Einfluss des Humanismus der Wortschatz ein großes Wachstum erfährt und es zu zahllosen Dubletten kommt von Wörtern germanischen Ursprungs und Wörtern, die direkt aus dem Lateinischen und solchen, die über das Französische vermittelt wurden. Ein viel zitiertes Beispiel findet sich im Titel des vierten Kapitels aus Buch I von Sir Thomas Elyots The Boke named the Gouernour. Es lautet „the education or form of bringing up“. In der Dublette wird zu einem Fremdwort ein einfaches Wort germanischen Ursprungs hinzugefügt. Derartige Dubletten hatten eine didaktische Funktion. Die Sprachkenntnis des Lesers sollte erweitert werden. Aber eine solche enge didaktische Zielsetzung wurde bald überschritten. Dubletten und Tripletten dienten der sprachlichen Abwechslung und der Vergrößerung der Ausdrucksfähigkeit der englischen Sprache. Der Ausbau des Wortschatzes (vocabulary-building) wurde zu einem Aspekt des Aufbaus der Nation (nation-building). Was für die Normalsprache galt, wurde vom Dichter zu Erzeugung poetischer Wirkungen benutzt. Im folgenden Beispiel schöpft Shakespeare den epochentypischen gemischten Wortbestand der englischen Sprache aus, indem er wirkungsvoll lateinische Mehrsilbler und germanische Einsilbler kontrastiert: „no: this my Hand will rather / The multitudinous Seas incarnadine, / Making the Greene one, Red“ (Macbeth, II.2.59⫺61, Hervorhebung W. M.). Hier kehren Phänomene des Epochenstils der Normalsprache, ins Poetische gesteigert, in der Literatur wieder. Entsprechende Erscheinungen ließen sich ohne weiteres auch in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts finden. Auf diese Weise könnte vergleichende historische Stilistik in allen Bereichen der Sprache betrieben werden.
3. Historische Stilkonzepte und Epochenstile Ein nützliches Verfahren bei der Bestimmung von Epochenstilen ist die Frage nach die Epochen prägenden Stilkonzepten oder -idealen. Wenn das Bewusstsein von einheitlichen Kulturepochen und dementsprechend von Epochenstilen in der Antike auch kaum entwickelt war, lassen sich doch sprach- und stilgeschichtliche Formationen ausmachen, die dem, was man als Epochenstile bezeichnen kann, nahe kommen. So spricht man von der Goldenen Latinität, der Literaturepoche des Augusteischen Zeitalters, in der die römische Dichtung und Prosa inhaltlich und formal die Stufe ihrer höchsten Vollendung erreicht hatte (Cicero, Caesar, Livius, Horaz) und der darauf folgenden Silbernen Latinität, die sich durch das Eindringen von Elementen der Umgangssprache und einen auf Effekte zielenden rhetorischen Stil mit gesteigerten Emphasen, Antithesen und harten Fügungen von dem klassischen Ideal des ciceronianischen Stils entfernte (Seneca, Plinius, Tacitus).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
Als Epochenstile kann man wohl auch die einander entgegengesetzten Stilideale des Attizismus und des Asianismus erkennen. Der Attizismus, der aus einer bewundernden Rückbesinnung (imitatio veterum) auf die Redner und Schriftsteller des 4. und 5. Jahrhunderts in Athen (Demosthenes, Thukydides) und ihres schlichten, klaren und bündigen Stils (genus humile) gespeist wurde, wurde im 1. Jahrhundert v. Chr. dem aus den griechischen Städten Kleinasiens stammenden Asianismus entgegengesetzt. Der nach der römischen Provinz Asia benannte Asianismus galt als zu hochgestochen, schwülstig und pathoshaltig, und man verlangte nach einer Gegenposition, die sich im Attizismus fand. Die Opposition zwischen den beiden Stilidealen evoziert Shakespeare in der Forumsszene in Julius Caesar, in der er die sachlich-nüchterne Rede des Brutus, die absolut frei von Tropen (übertragenem Wortgebrauch) ist, und die ungemein emotionale und an Tropen wie Metaphern und Metonymien reiche Rede des Antonius einander gegenüberstellt. Ein Einwand gegen die Asianer war, dass sie sich gegen die kodifizierten Normen der Rhetorik wandten, insbesondere gegen das aptum der Drei-Stil-Lehre, der zufolge Stil und Gegenstand in abgestufter Schmuckverwendung aufeinander abzustimmen sind (Sowinski 1994, 1321). Hans Ulrich Gumbrecht weist darauf hin, dass der Gegensatz zwischen Asianismus und Attizismus in größerer Perspektive weitere Oppositionspaare konnotiert, „unter kulturgeschichtlicher Perspektive […] den Gegensatz zwischen Sophistik und Platonismus; philosophiegeschichtlich die Spannung zwischen einer Sphäre vielfacher Sinnwelten, die sich in Reden, Geschichten und ⫺ letztlich Mythen artikulieren, und jener zweischichtigen Vorstellung von Welt, in der die diesseitige Wirklichkeit immer nur Abbild einer wahren, transzendentalen Welt der ,Ideen‘ ist; damit auch ⫺ religionsgeschichtlich ⫺ den Gegensatz zwischen Polytheismus und Monotheismus“ (Gumbrecht 1986, 733). Die Auseinandersetzung zwischen Attizismus und Asianismus wurde in der frühen Kaiserzeit durch Nachfolgekämpfe zwischen ,moderner‘ und ,konservativer‘ Redekunst fortgesetzt. Sie lebte in neuer Gestalt in der Renaissance im Streit über die Cicero-Nachahmung wieder auf, wo die Imitatoren des ,Attizisten‘ Cicero von Befürwortern eines natürlicheren Ausdrucks wie Erasmus von Rotterdam angegriffen wurden. Als eine Neuauflage des Attizismus-Asianismus-Streits kann auch die Querelle des anciens et des modernes im Frankreich des 17. Jahrhunderts gelten. Die Opposition zwischen Attizismus und Asianismus wurde in der Epochendiskussion als Modell für spätere Entgegensetzungen benutzt. Curtius (1993, 76) sieht im Asianismus „die erste Form des europäischen Manierismus“, im Attizismus „die des europäischen Klassizismus“. Die Formel seines Schülers Hocke (1967) lautet: attizistisch ⫽ klassisch, asianisch ⫽ manieristisch. Hinsichtlich des Mittelalters kann von einem Epochenstil kaum die Rede sein, aber Hans Ulrich Gumbrecht weist darauf hin, dass sich nach Geffroi de Vinsauf allmählich ein Wandel der für „die Stilreflexion relevanten Rahmenbedingungen vollzog, so daß im südeuropäischen Raum selbst ein kastilischer Humanist wie der Marque´s de Santillana Besonderheiten der Sprachformen auf verschiedene Situationen und Traditionen“ (Gumbrecht 1986, 742) bezog, statt sie mit literarischen Stoffen und Gattungen zu verbinden (Rota Virgilii). Zwischen griechischer und lateinischer Dichtung, dem italienische dolce stil nuovo (einem poetischen Sprachstil, der im 13. Jahrhundert in Italien von Guido Gunizelli und Guido Cavalcanti aus dem der provenzalischen Dichtung entwickelt wurde), provenzalischer Poesie, Epen und Liedern der Spielleute „eröffnete sich eine Pluralität von Welten“ (Gumbrecht 1986, 742). Im Zusammenhang mit einer solchen Pluralität wurde die Frage nach den der Situation angemessenen Sprachmitteln relevant, auf die sich Dante in seiner Stil-Definition bezieht: „est enim exornatio alcuius conve-
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nientis traditio“ (zitiert nach Gumbrecht 1986, 742). Gumbrecht findet Anhaltspunkte dafür, dass „eine ganz neue Bereitschaft zur Wahrnehmung von nuancierten Unterschieden in Zeit und Raum der frühneuzeitlichen Proliferation des Stilbegriffs und der sie begleitenden Stilreflexion vorausgegangen zu sein“ scheint (Gumbrecht 1986, 742). Die Renaissance ist als Stilepoche verhältnismäßig heterogen. Sie setzt sich aus einer Vielzahl einzelner Stilbewegungen und -tendenzen zusammen, bei denen die Stilgenera (genera dicendi), die Opposition von Attizismus und Asianismus, die Vorbildfunktion der Stiltendenzen in der Tradition von Cicero und Seneca, die Entgegensetzung von Ornatus und Schlichtheit des Stils und die Strukturprinzipien von Symmetrie und Asymmetrie und vorrangig auch gesellschaftliche und kulturgeschichtliche Aspekte, wie die höfische Kultur und der Humanismus, eine Rolle spielen. Im Mittelpunkt steht in der Renaissance jedoch das Verständnis des Stils als Einkleidung der Gedanken, das aus der Antike stammt (Müller 1981, 52) und sich auch in Dantes oben zitierter Definition findet. Stil wird mit Ornatus gleichgesetzt, wobei es sich um einen Ornatus handelt, der unter dem Gesetz des Dekorums, verstanden auch im Sinne der gesellschaftlichen Angemessenheit, und der Drei-Stil-Lehre steht. In seiner Poetik The Arte of English Poesie (1589), die in hohem Maße eine Stillehre ist, benutzt George Puttenham den Ausdruck exornation [Ausschmückung, Verzierung]. Puttenhams Poetik ist eine höfische Poetik und zugleich ein Anstandsbuch, das dem englischen Höfling helfen soll, sich im sozialen Kräftespiel des Hofes zu behaupten und die Kunst des schönen Scheins (beau semblant) als eine Voraussetzung für höfisches Verhalten zu lernen. Die wichtigste Fähigkeit im höfischen Verhalten ist laut Puttenham die Beherrschung des Ornatus. Nicht umsonst wird die Allegorie als für höfische Rede wichtigste Trope von ihm als Höfling (courtier) und Figur des schönen Scheins (figure of faire semblant) bezeichnet. Diese sozio-ästhetische Dimension gehört unlöslich zu dem vom Ornatus geprägten Epochenstil der Renaissance. Die Faszination des Zeitalters durch den Ornatus zeigt sich ikonographisch in Christophero Giardas bekanntem Bild der Dame Rhetorik (Rhetorica), die mit ihrem reichen Kleider- und Blumenschmuck die Gleichsetzung von Rhetorik und Stil und das Verständnis des Stils als eines Kleides zeigt. Literarisch entspricht diesem Stilverständnis ein virtuoses Spiel mit Tropen und Figuren, das in der Bewegung des so genannten Euphuismus (nach Euphues, dem Protagonisten zweier Romane von John Lyly) und in Shakespeares Dramen, vor allem seiner frühen und mittleren Periode (Love’s Labour’s Lost, Richard II, Romeo and Juliet), seinen Höhepunkt findet. Gegen Ende der Renaissance kommt es in Analogie zum Verhältnis des Attizismus zum Asianismus zu einer Veränderung des Stilideals, ohne dass sich allerdings eine klar definierbare Stilepoche abzeichnet. Der an der elocutio orientierte Stilbegriff gerät im ausgehenden 16. und im 17. Jahrhundert unter dem Einfluss des Puritanismus, der neuen Wissenschaft und des Utilitarismus und Rationalismus und auch des beginnenden Journalismus in Misskredit. Die Dame Rhetorik wird ikonographisch zur billig aufgeputzten und grell geschminkten Kurtisane. Dem Bild vom Stil aus dem Kleid der Gedanken (the dress of thought) wird das Bild der ,Nacktheit‘ des Stils entgegengesetzt. Ben Jonson sagt in Epistle to Master John Selden: „Lesse shall I for the Art of dressing care, / Truth, and the Graces best, when naked are.“ Von den Mitgliedern der um 1660 in London gegründeten Wissenschaftsgesellschaft ⫺ Royal Society ⫺ wird „a close, naked, natural way of speaking“ gefordert (Thomas Sprat, History of the Royal Society, Hüllen 1989). Das neue Stilideal des 17. Jahrhunderts ist das des schlichten Stils (plain style). Hier tritt wohl um ersten Mal in der Geschichte des Nachdenkens über den Stil die Vorstellung eines Stils der
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Wissenschaftssprache auf und in diesem Zusammenhang die Schlichtheitsforderung. Der Stil habe nicht nur konzise und dicht an der Sache zu sein (close), sondern auch natürlich und ,nackt‘. Für den Wissenschaftsstil wird später die Vorstellung der Transparenz oder Durchsichtigkeit des Stils propagiert (Kretzenbacher 1995; Müller 1996). In diesem Zusammenhang taucht in Friedrich Gottlieb Klopstocks Gelehrtenrepublik 1974 im Abschnitt Vom guten Gebrauche der Sprache eine interessante visuelle Vorstellung auf, die als eine Umbildung der Figur der Dame Rhetorik gelten kann. Klopstock drückt das Verhältnis zwischen Sprache und Gedanken metaphorisch so aus: „Wie dem Mädchen, das aus dem Bade steigt, das Gewand anliegt, so soll es die Sprache dem Gedanken“ (zitiert nach Müller 1996, 164). In diesem erotischen Bild verbinden sich zwei traditionelle Metaphern für den Stil, die der Nacktheit des Stils und die des Stils als Kleid. Hier tritt uns ein Topos entgegen, der seit der Antike nichts von seiner Relevanz eingebüßt hat, das optische Bild der perspicuitas, der Durchsichtigkeit des Stils (Müller 1996, 164 f.). Die Vorstellung wird später vielfach mit dem Bild der Fensterscheibe gekennzeichnet: „Style is (like) a window-pane.“ Entsprechend hat man von der „window-pane theory“ gesprochen (Müller 1996, 165). Die Entstehung des Konzepts des Wissenschaftsstils ist somit an die neuzeitliche Stilepoche gebunden, in der das Ideal der Schlichtheit des sprachlichen Ausdrucks aufkommt. Im Rahmen dieser Entwicklung spielt auch die Gattung des Briefs eine herausragende Rolle. Der Brief in der Form des Privatbriefs gehört traditionell in das genus humile. Von der Gattung fordert der bedeutende niederländische Briefschreiber und Theoretiker Justus Lipsius, dass sie ,nackt‘, von aller rhetorischer Ausschmückung frei sein müsse ⫺ „a` cultu omni nudum“ (zitiert nach Müller 1980, 146). Die Gattung des Briefs wird hier zum Exempel eines anticiceronianischen Stilideals. Dass eine Gattung wie der Brief zur Bildung eines Epochenstils beitragen kann, zeigt sich auch in wegweisender Form in Gellerts Praktische[r] Abhandlung von dem guten Geschmack in Briefen (1751), wo die Loslösung des Briefs von der rhetorischen Dispositionslehre und von den Konventionen der Galanterie und den Standesrücksichten des Kanzlei- und Komplimentierstils vollzogen und ein Natürlichkeitsideal propagiert wird. Eine große stilgeschichtliche Wende ereignete sich in Europa in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Kulturgeschichtlich lassen sich die Entwicklungen, die hier stattfinden, anhand eines Stilverständnisses erläutern, das auf gesellschaftliches Verhalten bezogen ist. Diesem zufolge wird Stil als ein „Mittel zur Steigerung sozialer Sichtbarkeit“ verstanden (Assmann 1986, 127). Ein Beispiel dafür zeigt sich in England in der klassizistischen Anwendung der Kleidermetapher auf den Stil. Um die klassizistische Auffassung vom Stil zu verstehen, muss man wissen, dass, nachdem im 17. Jahrhundert für die unterschiedlichsten Arten des Schrifttums von der Predigt über philosophische und wissenschaftliche Traktate bis hin zur Dichtung Schlichtheit, ja Nacktheit des Stils gefordert worden war, gegen Ende des Jahrhunderts und am Anfang des 18. Jahrhunderts der Ornatus rehabilitiert und der Nacktheitstopos verdrängt wurde (Müller 1981, 69⫺82). Die immer wieder zitierte Äußerung von Lord Chesterfield im Brief an seinen Sohn vom 24. 11. 1749 „Style is the dress of thoughts“ bringt das klassizistische Stilverständnis auf den Punkt. Dieses neue Ornatus-Konzept unterscheidet sich von der Schmuckrhetorik in der Renaissance dadurch, dass die Vorstellung von der Einkleidung der Gedanken durch den Stil mit dem Ideal der Prägnanz, Eleganz und Geschliffenheit des sprachlichen Ausdrucks verbunden wird. Ein Beispiel dafür ist die Definition von Wit [Scharfsinn, Geist, Ingenium], welche die Kleidermetapher verwendet, in dem folgenden Verspaar aus Alexander Popes Essay on Criticism: „True Wit is Nature to advantage dress’d; / What
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oft was thought, but ne’er so well express’d“ (1711, 297 f.). Wie schon die Schmuckästhetik der Renaissance im Rahmen der höfischen Kultur gesellschaftlich gebunden ist, ist auch das Ornatus-Verständis des Klassizismus unlösbar sozial bedingt. Alexander Popes Definition des Stils (expression) als Einkleidung des Gedankens im Essay on Criticism ist normativ mit dem Gesetz der sozialen Schicklichkeit (decorum) verbunden, das man zu befolgen hat: „Expression is the dress of thought, and still / appears more decent, as more suitable“ (1711, 318 f.). Einige Verse später wird ebenfalls mit der Kleidermetapher ein Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Stil formuliert: „For diff’rent styles with diff’rent subjects sort, / As several garbs with country, town, and court“ (1711, 322 f.). Assmann spricht mit Bezug auf diese Stelle von der „Verbindung zwischen Stil als äußerlichem Gewand des inneren Gedankens und Stil als sozialem Indikator“ (Assmann 1986, 135). Das Konzept von „Stil als sozialer Identität (im Sinne von Pope und Shaftesbury)“ nimmt im Laufe des 18. Jahrhunderts allerdings „immer mehr die Konnotationen der Heteronomie und Affektation“ an, bis es schließlich von einem „neuen Konzept von Stil als personaler Identität mit Konnotationen der Autonomie und Authentizität“ abgelöst wird (Assmann 1986, 139). Hier zeichnet sich der Wandel vom Klassizismus zur Romantik (einschließlich der vorausgehenden Epochen der Empfindsamkeit und ⫺ in Deutschland ⫺ des Sturm und Drang) ab. Dieser Wandel zeigt sich, um es zusammenzufassen, in dreifacher Hinsicht: 1. Die Unterordnung des Stils unter das Regelwerk der Rhetorik, vor allem der Schmucklehre (Ornatus), wird aufgehoben und unmittelbarer Gefühlsausdruck gefordert. 2. Der Stil wird nicht mehr als Einkleidung, sondern als Inkarnation der Gedanken bezeichnet. 3. Stil gilt als Ausdruck der Persönlichkeit des Autors. Mit paradigmatischer Klarheit lässt sich der Wandel des Stilverständnisses vom Klassizismus zur Romantik bei dem englischen Dichter William Wordsworth beobachten. Im programmatischen Vorwort zur zweiten Auflage der Lyrical Ballads von 1800 rechnet er mit dem Epochenstil ⫺ „poetic diction“ ⫺ des Klassizimsus mit seinen Abstraktionen, Personifikationen, Apostrophen und anderen rhetorischen Elementen ab und erklärt, er wolle in seinen Gedichten die wirkliche Sprache der Menschen ⫺ „language really used by men“ ⫺ benutzen. Wordsworth hat dieses Projekt nach seinen Lyrical Ballads nicht weiter verfolgt. Für die Romantik als Stilepoche ist die Verdrängung des Topos vom Stil als Einkleidung der Gedanken durch Wordsworth kennzeichnend, der den Stil als Inkarnation der Gedanken, „incarnation of the thought“ versteht (Essay upon Epitaphs 3, 1810, zit. nach W. G. Müller 1981, 90). Subjektivistischer noch ist Jules Michelets Definition „le style n’est que le mouvement de l’aˆme“ [Der Stil ist nichts als die Bewegung der Seele] (Mon journal, 4. 7. 1820, zitiert nach Müller 1981, 98). Für die Romantik und die folgenden Epochen ist Buffons berühmtes Wort aus dem Discours prononce´ a` l’Acade´mie Franc¸aise von größter Bedeutung: „le style est l’homme meˆme“. Eigentlich im Sinne des Stils als Ausdruck eines allgemeinen Menschenbilds (honneˆte homme) gedacht, ist Buffons Definition von der Romantik an als die definitive Formel für den individualistischen Stilbegriff interpretiert worden, demzufolge sich im Stil der Geist des Autors manifestiert. In der Romantik ist die Vorstellung des Individualstils mit dem Genie-Konzept verbunden. Demgemäß lässt sich Mme de Stae¨ls Traktat De l’Allemagne „als auf den ,deutschen Geist‘ und den ,französischen Geist‘ projizierte Konfrontation dieses Begriffs (,le langage du beau ge´nie‘) mit der alten Regelpoetik lesen“ (Gumbrecht 1986, 751). Eine epochale Wende des individualistischen Verständnisses des Stils zeigt sich im Ästhetizismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sie wird vorweggenommen in George
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Henry Lewes’ Diktum „The Principle of Beauty is another name for Style“ (zitiert nach Müller 1981, 139) und weiter ausgeführt in Walter Paters Essay Style (1888), wo der Stil insofern mit dem Menschen gleichgesetzt wird, als er ein „absolut getreues Erfassen dessen, was ihm [dem Menschen] am wirklichsten ist“ („absolutely sincere apprehension of what is most real to him“, Pater 1895, 34) darstellt. Ästhetizistisch und gleichzeitig symbolistisch ist Paters Stilbegriff insofern, als er im Stil eine Übertragung des Innerseelischen in unpersönlich-objektive künstlerische Form sieht. Die Debatte über den Stil ist zur Debatte über das Wesen der Kunst geworden. Eine weitere zeitgemäße Tendenz in Paters Stiltheorie ist sein Verständnis des Stils als Sehform. Damit steht er in der Tradition von Flaubert, der den Stil als „tout seul une manie`re absolue de voir les choses“ [ganz allein eine absolute Art, die Dinge zu sehen] (Brief an L. Colet vom 16. 1. 1852, zit. nach W. G. Müller 1981, 165) definiert, und weist auf Marcel Proust voraus, für den der Stil „une qualite´ de la vision, la re´ve´lation de l’univers particulier“ [eine Qualität des Sehens, die Offenbarung des partikulären Universums] ist (zitiert nach Müller 1981, 165). Es ist aufschlussreich, dass die literarische Stiltheorie hier ⫺ besonders in der Definition des Stils als Sehform ⫺ mit wichtigen Tendenzen der Stiltheorie in der Kunsttheorie und Wissenschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts konvergiert. Dabei handelt es sich um die Zeit, in der zunächst mit Blick auf die bildende Kunst das Konzept der Epochenstile ausgebildet wurde.
4. Epochenstile in der Kunst- und Literaturgeschichte Grundsätzlich ist festzustellen, dass Stil als Kategorie nicht aus der Kunstgeschichte wegzudenken ist. Die Abfolge Romanik, Gotik, Renaissance, Barock und Klassizismus, die durch den jeweiligen Epochenstil bestimmt ist, wird nicht in Zweifel gezogen. Schwieriger stellt sich die Situation im 19. Jahrhundert dar, für das vielfach der Ausdruck Historismus verwendet wird, und im 20. Jahrhundert, das unter dem Zeichen der Moderne steht. Engere Kategorien wie Impressionismus und Expressionismus haben sich durchgesetzt. Jeder der großen Zeitstile hat eine spezifische Verlaufsgeschichte mit Übergangs-, Früh-, Hoch- und Spätstilen. Zwischenperioden sind der Manierismus, der zum Barock überleitet, und das Rokoko als Spätphase des Barock. Die Schwierigkeiten der Klassifikation und inhaltlichen Bestimmung der Kunstprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts hat Jost Hermand in seinem Werk Stile, Ismen, Etiketten (1978) reflektiert (Möbius 1984, 12). Die Epochenbegriffe als solche mögen „leer, unlogisch und unsystematisch“ (Möbius 1984, 13) sein, aber sie haben sich als Etikette für die Benennung zeitlich zusammengehörender Kunstprozesse und die „faszinierende Umrüstung des Formenapparates von Epoche zu Epoche“ (Möbius 1984, 13) bewährt. ⫺ Der Begriff des Epochenstils zeichnet sich erstmals deutlich in der Kunsttheorie des Klassizismus ab, in welcher der Stilbegriff erweitert wird und außer dem Ingenium des Künstlers die Gesamtheit der distinkten Merkmale des Kunstwerks sowie die Prägung durch die Epoche und die Nation umfasst. Johann Joachim Winckelmann ist der erste Theoretiker, der den Stilbegriff systematisch auf die Kunstgeschichte anwandte. Er unterscheidet „Stile der Völker, Zeiten und Künstler“ (Geschichte der Kunst des Altertums, Vorrede, Winckelmann 1964, 7). Eine zentrale Rolle spielt das Konzept der verschiedenen Stile der Zeiten. Am Beispiel des Wachstums und Falles der griechischen Kunst stellt er ein Entwicklungsmodell dar, dessen Phasen aus
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vier Stilen bestehen, dem archaischen, dem erhabenen, dem schönen und den nachahmenden. Wenn Winckelmanns Kunsttheorie auch normativ-klassizistisch ist, so macht die Einführung des historischen Stilkonzepts ihn doch zum „eigentlichen Begründer der Kunstgeschichte“ (A. Müller 1981, 124). Im Bereich der Kunsttheorie wurden Winckelmanns stilgeschichtliche Betrachtungen weiterentwickelt (u. a. durch Alois Riegel und Gottfried Semper). Nur sehr vereinzelt bezieht sich Winckelmann auf Parallelen zu den von ihm eruierten Stilepochen in der Literatur. Auf stilistische Merkmale von literarischen Zeitaltern und Völkern weist Friedrich Schlegel in seinem Gespräch über Poesie (1800) zwar hin, er spricht etwa mit Bezug auf Petrarca, Boccaccio und Dante vom „alten Styl der modernen Kunst“ (Schlegel 1967, 298), aber Unterscheidungen im Sinne Winckelmanns fehlen. Bis zur Übertragung kunstgeschichtlicher Epochenbegriffe auf die Literatur sollte es noch über hundert Jahre dauern. Von größter Bedeutung für die Diskussion über Epochenstile in der Kunst- und später auch in Literaturwissenschaft ist Heinrich Wölfflins Typologie der autonomen Sehform, die er der Individualästhetik entgegensetzt, welche als Ursprung des Stils die Ausdruckskraft des Individuums sieht. Zunächst arbeitete Wölfflin in der seiner Schrift Das Problem des Stils in der bildenden Kunst (1912) im Vergleich von Renaissance- und Barockkunst kategoriale Grundformen heraus, die Oppositionen von Linearem und Malerischem, von geschlossener und offener Form, Vielheitlichem und Einheitlichem und von Klarheit und Unklarheit. Vor Wölfflin bereits erscheint der Begriff Barockstil bei Nietzsche in einer Skizze in Menschliches, Allzumenschliches (1878, 2. Bd., 144), wo der endzeitliche dionysische Barockstil dem apollinischen Stil der Klassik gegenüberstellt wird. Als Grund für den Übergang von der Renaissance zum Barock gab Wölfflin einen Wechsel in der Art des Sehens an. Er wollte zeigen, wie verschiedene Sehweisen zu verschiedenen Kunststilen führten. In seinen späteren Arbeiten, namentlich Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (1915), weitet Wölfflin seine Epochenbegriffe von der Bezeichnung für Zeitstile zu überzeitlichen Stilkategorien aus. Er leitet damit eine phaseologische Betrachtung der Kunstgeschichte ein: Die Stilentwicklung vollzieht sich nicht linear, sondern in einem Pendeln zwischen den polaren Gegensätzen von Klassik und Barock, eine Theorie, die E. Gombrich (1966) wieder aufgenommen hat. Wölfflins Ausweitung seines kunsthistorischen Stilbegriffs ins Geistesgeschichtliche, seine Konzeption der „Grundbegriffe“ als geistiger Auffassungsweisen, die durch die „Gesamtphysiognomie des Zeitalters“ bedingt sind (Wölfflin 1963, 29), ist sicher von Ernst Cassirers früher Erkenntnistheorie beeinflusst (Kluge 1977, 577 f.), in der von „wissenschaftlichen Grundbegriffen“ die Rede ist, einem „Grundsystem letzter allgemeiner Begriffe und Voraussetzungen“, aufgrund deren eine Epoche „die Mannigfaltigkeit des Stoffes, den ihr Erfahrung und Beobachtung bieten, meistert und zur Einheit zusammenfügt“ (Cassirer 1911, Bd. I, V). Wölfflins Kategorien sind immer wieder dahingehend kritisiert worden, dass sie zu einer Vereinfachung der kunsthistorischen Entwicklungen führen (Steadman 1990). In unmittelbarer Reaktion auf die Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe kritisiert Erwin Panofsky (1915), Wölfflin habe nur eine kunsttheoretisch mögliche Antithetik schematisch auf die Kunstgeschichte übertragen, „lineares“ und „malerisches“ Sehen z. B. seien nicht „StilWurzel“ oder „Stil-Ursache“, sondern sekundäre Merkmale von Stil-Haltungen, die der Erklärung bedürfen (Panofsky 1992, 25). Trotz derartiger Einwände kann kein Zweifel daran bestehen, dass Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe „den Beginn jener wissenschaftsgeschichtlichen Phase markieren, welche durch die Dominanz der Stilforschung als Paradigma geprägt ist“ (Gumbrecht 1986, 771). Neuere Kunsthistoriker ha-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
ben seinen Ansatz modifiziert. So steht Marc Eli Blanchard zwar in der Tradition Wölfflins: „Die Definition des Stils ist die essentielle Vorbedingung für die Definition historischer Epochen, wie sie von der Kunstgeschichte reflektiert werden“ (Blanchard 1986, 565). Er setzt sich aber von seinem Vorgänger ab, wenn er die Kategorie des Sehens neu bestimmt. Stil sei „nicht bezogen auf die physische Operation des Sehens, sondern auf die vom Künstler verwendeten Verfahren […], mittels derer das Visuelle dem Bewußtsein vermittelt wird.“ Das Historische am Stil sieht er in der Erzeugung eines multiplen Kommunikationssystems, „das die Ideologie einer Epoche hervorbringt“ (Blanchard 1986, 572). Wenn Wölfflin eine Brücke schlägt vom Weltverhältnis des Auges „zum Stil und zum Geist der Zeit“ (Möbius 1984, 14), eröffnet er Möglichkeiten der Epochenbestimmung durch den Stil, die auch von anderen Kunstmedien, z. B. der Literatur, genutzt werden konnten. Die Reflexion über Literaturepochen im geistesgeschichtlichen Kontext, wie sie sich etwa in Wilhelm Diltheys Werk Das Erlebnis und die Dichtung (1906) zeigt, wartete gewissermaßen auf praktikable Kategorien für die Kennzeichnung von literarischen Epochenstilen. Ein Modell dafür bot sich in Wölfflins Neufundierung der Kunstgeschichte an. 1917 wandte Oskar Walzel in seiner Schrift Wechselseitige Erhellung der Künste Wölfflins Kategorien auf die Literaturgeschichte an. Er nahm seinen Ansatz 1923 in dem Werk Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters wieder auf. Walzel ist der Begründer der Methode der wechselseitigen Erhellung der Künste. Dabei handelt es sich um interdisziplinäre Versuche, durch die Übernahme von Begriffen und Methoden verwandter Wissenschaften die jeweilige Erkenntnisbasis zu erweitern, eine Methode, die in modifizierter Form noch später aktuell blieb, z. B. bei Wiley Sypher (1955), der Analogien zwischen literarischen und bildnerischen Stilen kulturgeschichtlich begründet. Im Grunde handelt es sich bei Walzels Projekt um einen „Austausch der Fachterminologie“ (Kluge 1977, 575). Zuvörderst geht es ihm darum, „das Bedürfnis nach eindeutigen Ausdrücken für künstlerische Tatsachen zu befriedigen“ (Walzel 1923, 313). Aber er hofft auch auf tiefere Erkenntnis. Der Literaturhistoriker sollte mit den Augen des Kunsthistorikers sehen lernen, „um gewisse künstlerische Züge besser zu fassen, die ihm seine eigenen Beobachtungsweisen nicht hinreichend enthüllen“ (Walzel 1917, 9). Walzel greift nur auf ein Begriffspaar von Wölfflin zurück, das von geschlossen (tektonisch) und offen (atektonisch): „Das eigentlich Bedeutsame war mir die Scheidung künstlerischer Formmöglichkeiten in zwei große Gruppen, die einander gegensätzlich gegenüberstehen, die Bestimmung eines geschlossenen, streng tektonischen und eines offenen, gelösten, entbundenen, atektonischen Stils“ (Walzel 1917, 42). Eine Bestätigung der Zweipoligkeit seines Stilbegriffs sieht er in den Oppositionen von naiv und sentimentalisch (Schiller) und von objektiv und interessant (Schlegel), Oppositionen, wie sie in der Zeit auch von Nietzsche (apollinisch ⫺ dionysisch) und Worringer (Abstraktion und Einfühlung, 1908) formuliert wurden. So ordnet Walzel Shakespeare dem Barock und Racine und Corneille der Renaissance zu. Man hat ihm vorgeworfen, dass er Wölfflin falsch verstanden habe und sein Stilverständnis rein typologisch sei und das Historische ausschließe (Kluge 1977; Rosenberg 1986), aber Walzel ist sich durchaus der Problematik seines Vorgehens bewusst und hat eine fruchtbare Diskussion ausgelöst. Eine Zweipoligkeit des Stilbegriffs findet sich auch bei Walzels Nachfolger Fritz Strich, der eine Hin- und Herbewegung in der Stilgeschichte zwischen den Polen Vollendung (Klassik) und Unendlichkeit (Romantik) annimmt: Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit (1922). In Strichs Grundbegriffen bezeugt sich in zweifacher Weise das Streben des Geists zur
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Ewigkeit, einmal im Sinne des Vollendeten, das zeitlos „durch die Zeit dauert“, und dann im Sinne des Unendlichen, das „niemals enden kann, weil es niemals vollendet ist“ (Strich 1922, 6). Die folgende programmatische Äußerung Strichs macht deutlich, dass die von Wölfflin inspirierte Stilforschung in die Geistesgeschichte übernommen wurde: „Man nennt die einheitliche und eigentümliche Manifestation der ewigen Grundform in der Zeit, die charakteristische Gestalt, in welcher sie zu einer Zeit erscheint, den Stil dieser Zeit. Der Stil ist also die zeitliche Erscheinung des zeitlosen Menschentums. Die Dauer und der Wechsel des Geistes finden gleichermaßen in ihm den Ausdruck. Darum ist Geistesgeschichte notwendig Stilgeschichte“ (Strich 1922, 5). Strichs Werk firmiert zwar als Stilgeschichte, gehört aber in den Bereich der zu seiner Zeit dominierenden Geistesgeschichte, die sich ebenfalls mit dem Epochenstil befasste. Als einer der charakteristischen Vertreter dieser von der Geistesgeschichte dominierten Richtung der Literaturwissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre sei Emil Ermatinger erwähnt, der wie andere in dieser Zeit vom Zeitstil statt vom Epochenstil spricht. Er versucht, die charakteristischen Merkmale von Literaturepochen aufzuspüren. Zugrunde liegt seinen Darlegungen ein „Idee-Erlebnis“, aus dem sich ein Weltbild entwickele und nach künstlerischem Ausdruck verlange. In den stufenmäßigen Wandlungen der Zeiten änderten sich auch die Stilformen, so dass sich eine Folge von Stilphasen herausbilde. Phasenwechsel findet er jeweils nach zwei Generationen. Er behandelt den Zeitraum von 1640 bis 1900 und identifiziert eine Folge vom „Zeitalter des Barockstils“ über das „Zeitalter des Rokokostils“ und „das Zeitalter des Sturm und Drang, der Klassik und der Romantik“ bis zum „Zeitalter des Realismus“, das er mit dem „Impressionismus“ enden lässt (Ermatinger 1926, 615⫺650). Wie problematisch eine solche Einteilung ist, zeigt sich darin, dass er auf eine verhältnismäßig kurze Epoche wie das Rokoko eine große Epoche folgen lässt, in der sich Sturm und Drang, Klassik und Romantik verbinden. Weniger forciert ist dagegen Paul Böckmanns Verfahren, dessen Formgeschichte der deutschen Dichtung sich explizit an den „höheren Einheiten der Epochenstile“ orientiert (Böckmann 1978, 28 f.). In der Tradition der Zweipoligkeit des Stilbegriffs von Walzel und Strich steht die Untersuchung von Gerhard Storz Klassik und Romantik (1972), die stilgeschichtlich verfährt, ohne sich einer „abstrahierenden Systematik“ (Storz 1972, 12) zu verschreiben. Der Stilbegriff bleibt dabei allerdings vage, wenn er „als notwendige, aus einem tiefer liegenden Wurzelgrund erwachsene Prägung“ defininiert wird, die „nur am jeweiligen, konkreten Ganzen einer Dichtung zuverlässig wahrgenommen werden kann“ (Storz 1972, 12). Statt „Stil“ verwendet Florian Gelzer (2006) den Begriff „Schreibmodus“, um die Opposition „romantisch-komisch“ zu erfassen. Einer der wenigen Literaturwissenschaftler, die noch mit Wölfflins Begriffsoppositionen arbeiten, ist Volker Klotz mit seinem Werk Offene und geschlossene Form im Drama (1960), das nur eines der Begriffspaare verwendet, das „einander diametral entgegenstehende Stiltendenzen“ der neueren deutschen Dramatik [zu] erfassen helfen“ soll (Klotz 1960, 14). Wenn Erich Auerbachs Werk Mimesis (1946) auch nicht in der Tradition der immanentistischen Stilanalyse steht, so geht er in seiner Erforschung des Realismusbegriffs in der Literatur doch von der antiken Vorstellung der drei Stilebenen aus, und sein Versuch, Stilarten als Wirklichkeitsmodelle durch intensive Textarbeit zu eruieren, scheint von dem Vorbild zweipoliger Stilkonzeptionen beeinflusst zu sein, etwa wenn er in einem Vergleich eines homerischen Texts (19. Gesang der Odyssee) und eines alttestamentarischen Texts (Opferung Isaaks) zwei gegensätzliche „Stilarten“ erkennt und damit einen „Ausgangspunkt für Versuche über die literarische Darstellung des Wirklichen in der europäischen Kultur“ gewinnt (Auerbach 1946, 26).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Ein Problem, das weniger in der Kunstgeschichte als in der Literaturwissenschaft auftritt, ist das Postulat von Zwischenepochen, etwa der des Manierismus zwischen Renaissance und Barock (Hauser 1964). Ist schon der Barockbegriff selbst umstritten (z. B. Bahner 1976; Barner 1971, 1975; Sowinski 1994, Sp. 324 f.; Lepper 2006), so stellt der Manierismus ein geradezu unlösbares Problem dar. Stilforscher aus verschiedenen Kunstmedien haben sich den Kopf darüber zerbrochen, wie Manierismus und Barock zu unterscheiden sind, und darauf hingewiesen, dass beide Stilepochen mit Stiltendenzen in der Renaissance und mit anderen zeitgenössischen Stiltendenzen wie dem concettismo (marinismo, gongorismo) und dem Stil der metaphysical poetry (Steadman 1990) zusammenhängen. ⫺ Dass ein zu enger Begriff des Epochenstils problematisch ist, zeigt die Monographie von Richard Hammann und Jost Hermand Stilkunst um 1900 (1967), die in einem beschränkten Zeitraum „eine Anzahl deutlich unterschiedener Stilarten beobachten, die sich nur mit einiger Gewagtheit unter einem gemeinsamen Epochenbegriff vereinigen lassen“ (Hammann/Hermand 1967, 208). Die Autoren unterscheiden in der Stilwende um 1900 (1) eine „ästhetisch-dekorative“ Phase, die man auch als „stilisierten Impressionismus“ bezeichnen könne, deren Auftakt der „Neoimpressionismus“ bilde und die im Zusammenhang stehe mit dem „Jugendstil“, dem „Stimmungslyrismus“ und dem „Symbolismus“, (2) eine „volkhaft-monumentale“ Phase, die durch eine „volkhafte Heimatkunst“ eingeleitet wurde, die im „Stimmungshaften“ wurzelte und sich zu einer „Blut-und-Boden-Kunst mit ausgesprochen präfaschistischen Akzenten entwickelte, während sich die verwandte „Monumentalkunst“ dieser Jahre höhere Ziele setzte, „wo sich der wachsende Formanspruch auch auf das Religiöse, Nationale und Personenkultische auszudehnen beginnt“, (3) die „werkbetont-sachliche“ Phase, ein „Purismus“, der sich am Leitbild einer werkbetonten Sachlichkeit orientiert und bei dem „Stil“ weitgehend mit „Qualitätsarbeit“ gleichgesetzt wird (Hammann/Hermand 1967, 209 f.). Hammann und Hermand weisen daraufhin, dass das durch sie entwickelte Einteilungsprinzip „nicht absolut genommen werden“ dürfe, sondern lediglich dazu diene, „bestimmte Modellsituationen herauszupräparieren“ (Hammann/Hermand 1967, 210 f.). Die Fülle von Stiltendenzen an der Jahrhundertwende ist ein Zeichen einer Epoche, die vom Stil besessen war, der über das eigentlich Ästhetische hinaus eine Weltanschauung war, „die alle Lebensbereiche in sich einzuschließen versucht“ (Hammann/Hermand 1967, 205). Nicht umsonst gibt es in dieser Epoche mit Jugendstil einen Terminus, der das Wort Stil enthält. Von einer Stilepoche lässt sich also trotz der Vielfalt und des Facettenreichtums der einzelnen Stilbewegungen vielleicht doch sprechen. Ein vergleichbarer, wenngleich nicht so stark ausgefächerter Stilpluralismus lässt sich auch in anderen Epochen, etwa der Renaissance, erkennen.
5. Fazit Laut Hans Georg Gadamer ist der Begriff des Stils „eine der undiskutierten Selbstverständlichkeiten, von denen das historische Bewußtsein lebt“ (Gadamer 1975, 466). Wenn man einen weiten Stilbegriff ansetzt, der das gesamte künstlerische Verhalten des Menschen bis hin zu gesellschaftlich wahrnehmbaren Formen der Lebensgestaltung einbezieht, dann erschließt die Stilgeschichte Etappen der „Geistes- und Mentalitätsgeschichte“ (Gumbrecht 1986, 729). In der Geschichte der Kunst und Literatur lässt sich
75. Epochenstil/Zeitstil
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ein fortwährender Prozess der Umrüstung des künstlerischen „Formenapparates von Epoche zu Epoche“ feststellen (Möbius 1984, 13). Epochenbegriffe wie Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko, Klassik, Romantik, Realismus, Naturalismus, Impressionismus, Expressionismus etc., die in hohem Maße durch Wandlungen des Stils und des Stilverständnisses definiert sind, sind im Nachhinein durch Wissenschaftler festgelegt, worden. Die Benennungen der Epochenstile als solche haben wenig Aussagekraft, aber das Phänomen des Epochenstils ist, wenn sich auch kaum monolithische Stilepochen ausmachen lassen und es Kontinuitäten über die Zeiten hinweg und Parallelentwicklungen und Überlappungen gibt, eine nützliche Kategorie im stilgeschichtlichen Diskurs. Der Begriff Epochenstil/Zeitstil rechtfertigt sich nicht allein dadurch, dass sich für einzelne Epochen unbestreitbar charakteristische Stile ausmachen lassen, sondern auch dadurch, dass sich der spezifische Stil einer Zeit maßgeblich zur Definition einer Epoche heranziehen lässt.
6. Literatur (in Auswahl) Adolph, Robert (1968): The Rise of Modern Prose Style. Cambridge, Mass./London. Assmann, Aleida (1986): „Opting in“ und „opting out“. Konformität und Individualität in den poetologischen Debatten der englischen Aufklärung. In: Gumbrecht Pfeiffer (1986), 127⫺143. Auerbach, Erich (1946): Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern/München. Bahner, Werner (Hrsg.) (1976): Renaissance ⫺ Barock ⫺ Aufklärung. Epochen- und Periodisierungsfragen. Kronberg. Barner, Wilfried (1971): Stilbegriffe und ihre Grenzen. Am Beispiel „Barock“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 45, 302⫺326. Blanchard, Marc Eli (1986): Stil und Kunstgeschichte. In: Gumbrecht/Pfeiffer (1986), 559⫺573. Böckmann, Paul (1978, 1. Aufl. 1949): Formgeschichte der deutschen Dichtung. Hamburg. Cassirer, Ernst (1911): Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Bd. 1. 2. Aufl. Berlin. Curtius, Ernst Robert (1993): Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen/Basel. Ermatinger, Emil (1926): Zeitstil und Persönlichkeitsstil. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 4, 615⫺ 651. Falk, Walter (1980): Stil und Epoche. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 12, 98⫺114. Fix, Ulla/Hans Wellmann (Hrsg.) (1997): Stile, Stilprägungen, Stilgeschichte. Heidelberg. Gadamer, Hans Georg (1975): Wahrheit und Methode. 4. Aufl. Tübingen. Gelzer, Florian (2006): Romantisch-komisch: zu einem literarischen Modus in der deutschen Literatur zwischen Frühaufklärung und Klassik. In: German Life and Letters 59, 323⫺343. Gombrich, Ernst H. (1966): Norm and Form. The Art of the Renaissance. London. Gumbrecht, Hans Ulrich/Ludwig Pfeiffer (Hrsg.) (1986): Stil. Geschichte und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M. Gumbrecht, Hans Urich (1986): Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs. In: Gumbrecht/Pfeiffer (1986), 726⫺788. Gumbrecht, Hans Ulrich (2003): Stil. In: Klaus Weimar/Harald Fricke/Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin/New York, 509⫺513. Hamann, Richard/Jost Hermand (1967): Stilkunst um 1900. Berlin. Hauser, Arnold (1964): Der Manierismus. Die Krise der Renaissance und der Ursprung der modernen Kunst. München. Hermand, Jost (1978): Stile, Ismen, Etiketten. Zur Periodisierung der modernen Kunst. Wiesbaden.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
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Walzel, Oskar (1923): Gehalt und Gestalt im sprachlichen Kunstwerk. Berlin. Winckelmann, Johann Joachim (1964): Geschichte der Kunst des Altertums. Weimar. Wölfflin, Heinrich (1912): Das Problem des Stils in der bildenden Kunst. In: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 572⫺578. Wölfflin, Heinrich (1963): Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Erstausgabe 1915. Basel. Worringer, Wilhelm (1908): Abstraktion und Einfühlung. München.
Wolfgang G. Müller, Jena (Deutschland)
76. Stile wissenschatlichen Denkens 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Einleitung Stil als kulturwissenschaftliches Diskurselement Stil als wissenschaftshistorische Kategorie Wissenschaftshistorische Kontroversen Anwendungen und Grenzen des Stilbegriffs Zusammenfassung Literatur (in Auswahl)
Abstract The term style looks back on a long tradition as a descriptive element in the history of literature. Since the Renaissance, a spreading of style from the history of literature to the history of art and from there to other humanities can be observed. Since the beginning of the last century, the term has increasingly been used also (even as an element of discourse) in the epistemology and the history of science and technology. This proliferation of style calls for an explanation. Has it simply been borrowed from art history, as some historians argue? In this contribution, we will analyze the history of style anew and claim that it has been discovered independently in the emerging field of history of science and technology at the beginning of the twentieth century, when the historians’ focus shifted from so-called internal to external determinants of scientific thinking. The positivistic ideal of an unitarian and universal science revealing ultimate truth was called into question in favor of economic, ethnic, geographic, national, regional or even individual factors influencing thought; in short, of factors aggregately called a style. The advantages and limitations of this element of historic discourse will be discussed.
1. Einleitung Der Romanist und Literaturhistoriker Hans Ulrich Gumbrecht diagnostizierte eine Proliferation des Stils: „Eine Form des Verhaltens und Handelns, die über Jahrtausende als
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Walzel, Oskar (1923): Gehalt und Gestalt im sprachlichen Kunstwerk. Berlin. Winckelmann, Johann Joachim (1964): Geschichte der Kunst des Altertums. Weimar. Wölfflin, Heinrich (1912): Das Problem des Stils in der bildenden Kunst. In: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 572⫺578. Wölfflin, Heinrich (1963): Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Erstausgabe 1915. Basel. Worringer, Wilhelm (1908): Abstraktion und Einfühlung. München.
Wolfgang G. Müller, Jena (Deutschland)
76. Stile wissenschatlichen Denkens 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Einleitung Stil als kulturwissenschaftliches Diskurselement Stil als wissenschaftshistorische Kategorie Wissenschaftshistorische Kontroversen Anwendungen und Grenzen des Stilbegriffs Zusammenfassung Literatur (in Auswahl)
Abstract The term style looks back on a long tradition as a descriptive element in the history of literature. Since the Renaissance, a spreading of style from the history of literature to the history of art and from there to other humanities can be observed. Since the beginning of the last century, the term has increasingly been used also (even as an element of discourse) in the epistemology and the history of science and technology. This proliferation of style calls for an explanation. Has it simply been borrowed from art history, as some historians argue? In this contribution, we will analyze the history of style anew and claim that it has been discovered independently in the emerging field of history of science and technology at the beginning of the twentieth century, when the historians’ focus shifted from so-called internal to external determinants of scientific thinking. The positivistic ideal of an unitarian and universal science revealing ultimate truth was called into question in favor of economic, ethnic, geographic, national, regional or even individual factors influencing thought; in short, of factors aggregately called a style. The advantages and limitations of this element of historic discourse will be discussed.
1. Einleitung Der Romanist und Literaturhistoriker Hans Ulrich Gumbrecht diagnostizierte eine Proliferation des Stils: „Eine Form des Verhaltens und Handelns, die über Jahrtausende als
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Privileg der (Sprach-)Künstler galt, ist zur alltäglich dominanten Form des Verhaltens und Handelns geworden. Genau auf diese Strukturverschiebung im Bereich sozialer Aktion […] verweist das Proliferieren des einst ausschließlich den Künstlern und dem Kunstwerk attribuierten Stilbegriffs“ (Gumbrecht 1986, 777). Ein Blick auf die Wissenschaftsgeschichte scheint Gumbrechts These zu untermauern: Seit etwa Mitte der achtziger Jahre hat der Begriff des Stils auch in der Wissenschaft, genauer, in deren Historiographie, Konjunktur. In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts fanden zahlreiche internationale Konferenzen statt, die den Nutzen der Kategorie Stil für die Historiographie der Wissenschaften, und zwar sowohl der Geistes- als auch der Naturwissenschaften, thematisiert haben. Das Thema ist seitdem unverändert aktuell, was der reichliche Gebrauch des Begriffs Stil in der Wissenschafts- und Technikgeschichte beweist, ohne dass dabei jedoch Einvernehmen über Rolle und Tragweite des Begriffs erzielt worden wäre. Hier wird eine Bestandsaufnahme versucht, die von der Frage ausgehen soll, ob es sich in der Tat, wie behauptet wird (Wessely 1991), um die Proliferation einer kunstgeschichtlichen Kategorie in die Geschichtsschreibung der Wissenschaften handelt.
2. Stil als kulturwissenschatliches Diskurselement Stil ist die kulturwissenschaftliche Kategorie par excellence, und dies nicht nur wegen ihrer ubiquitären Verbreitung, sondern auch wegen ihres Alters: Der Begriff ist fast so alt wie unsere abendländische Kultur selbst. ,Am Anfang war die Metapher‘, so könnte eine Geschichte des Stilbegriffs beginnen. Das Wort Stil, so sei hier erinnert, stammt etymologisch gesehen von stilus, dem Wort, das im Lateinischen den Griffel bezeichnet, mit dem der antike Schreiber Worte in die Wachs- oder auch Tontafel ritzte. Stil verweist auf Schriftlichkeit von Überlieferung und damit auf den Beginn schriftlicher Geschichte, eben Geschichtsschreibung. Von der Bezeichnung eines Gegenstandes zur Metapher, die vielfache Konnotationen einschließt, ist es jedoch selbst ein historischer Weg, der etwa in der Zeit Ciceros, also im ersten vorchristlichen Jahrhundert, beschritten wurde. In dieser Zeit begann die Schriftlichkeit der Kultur, die Kultur des Buches also, die mündliche Kultur der Rede in ihrer Bedeutung zu übertreffen. Die Erweiterung des Begriffs setzte an bei der dialektischen Natur des Gegenstandes selbst: Der Griffel hat zwei Enden, das eine, spitze, dient dem Ritzen der Tafel, also dem Schreiben, das andere, stumpfe, aber ihrem Glätten, also dem Löschen des Textes. Das Löschen von Text dient nicht allein der Korrektur von Irrtümern, sondern, im Wechselspiel von Schreiben und Löschen, der Arbeit am literarischen Text schlechthin, also der Suche nach der optimalen Form des Ausdrucks, nach Eleganz, Prägnanz und Schlichtheit. Hier entsteht die Verknüpfung des Begriffs Stil mit ästhetischer Qualität, einer Qualität, die zudem nicht Selbstzweck ist, sondern letztlich der Suche nach Wahrheit dient: Diese Suche nach Erkenntnis, nach Wahrheit im Text, war, wie Gumbrecht unterstreicht, auch Gegenbewegung zur Sophistik, jener Scheinwissenschaft (Sokrates), die allein auf die erfolgreiche Manipulation des Adressaten der Rede abzielte (Gumbrecht 1986, 732). Die Wahrheit, die die Arbeit am Text anstrebt, ist jedoch eine sehr relative, wie schon Plato unterstrich. Die eine, die kosmologische, die eigentliche Wahrheit oder Wirklichkeit, ist nämlich göttlichen Ursprungs und damit dem menschlichen Erkenntnisstreben
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unerreichbar. Was dem Menschen bleibt, sind Bilder, Meinungen, subjektive Ansichten der göttlichen Wirklichkeit. Medium der Vermittlung zwischen der einen, der göttlichen Wahrheit, und der Vielzahl der menschlichen Wahrheiten aber ist der Text, dessen Ausdruck oder Stil zum Synonym wird für die Vielfalt, die Vorläufigkeit, die Unvollkommenheit, die Subjektivität menschlichen Erkennens. Das Mittelalter wurde von dem Glauben dominiert, dass Gott selbst seine Wahrheit all jenen Menschen offenbare, die sich seinem Wort öffnen. Die christliche Weltsicht, ihre Ablehnung einer pluralistischen Weltanschauung, hatte die Zurückdrängung individueller Ausdrucksformen und Stile im literarischen Bereich zur Folge: Der Stilus des Schreibers hatte im wörtlichen Sinn unsichtbar zu bleiben. Selbst im Bereich der säkularen Literatur hatte sprachlicher Schmuck zu unterbleiben, nur Rechtslehre und Rechtspraxis bildeten Enklaven der Subjektkategorie und damit der Möglichkeit einer Reflexion sprachlicher Stile (Gumbrecht 1986, 736). Die Renaissance, mit ihrer Wiederentdeckung des Menschen, erlebte eine Konjunktur des Subjekts und des Stilbegriffs. Die Differenzierung des Wissens, die Entstehung der modernen Naturwissenschaften sowie das aufkeimende Bewusstsein der Nationen und ihr geographischer Drang nach Westen schärfte den Blick für regionale Unterschiede bzw. deren Voraussetzungen, im Besonderen in Kunst und Literatur. Im Bereich der bildenden Künste Italiens entstand der Begriff der maniera, der auf die Machart, die Produktionsregeln, sowie die regionalen Bedingtheiten im Bereich der bildenden Kunst zielte. Maniera konnotierte aber auch Subjektivität des Künstlers, seinen Geschmack, womit der Begriff maniera als Konnotat zum Begriff des Stils hinzutrat, der dadurch selbst seine spezifische Referenz zur geschriebenen Sprache verlor. Die Betonung der künstlerischen Originalität auf Kosten der Tradition, die Hinwendung zur inventio anstelle von imitatio, stimulierte die Suche nach Neuem; in der Literatur im Besonderen zur Orientierung an der Volks- und Alltagssprache und damit, wie Gumbrecht schreibt, zur „impliziten Aufhebung der Prämisse von der einen Wirklichkeit/Wahrheit“ zugunsten einer Pluralität der Welten (und Stile) (Gumbrecht 1986, 748). Die Proliferation des Stilbegriffs, die in der Renaissance ihren Anfang nahm, setzte sich in der Aufklärung fort, wodurch der Begriff weiter an Spezifik einbüßte und wo somit die Ursache für das begriffliche Dilemma zu orten ist, dem wir uns bis heute gegenübersehen. Die für die Renaissance festgestellte Erweiterung des Begriffs von der Literatur auf die bildende Kunst wurde offensichtlich in Richtung der artes mechanicae (und damit in nuce auch der Technik) verlängert: So rubriziert die Encyclope´die von Diderot und d’Alembert unter den Anwendungsbereichen von style nicht allein Literatur, Logik, Musik und Malerei, sondern auch Jagd, Zeitrechnung, Jurisprudenz und Handel (Encyclope´die 15, 551⫺557). Nicht nur im Bereich der Anwendung, sondern auch im Bereich der begrifflichen Interpretation ist fortan eine Mehrsträngigkeit der Entwicklung feststellbar, von der Gumbrecht allein für den Bereich der Literatur drei Stränge unterscheidet. Stil meint danach erstens individuelle Besonderheiten des Sprachgebrauchs, den Stil des Individuums. Die poe´sie du style zielte auf die Emotionen des Lesers, seine Naivität im Sinne von Offenheit gegenüber dem Neuen, wobei sie sich über die Konventionen, die Regeln der Kunstfertigkeit hinwegsetzt. In der Ästhetik der Romantik wird der Individualstil als Ausdruck innerer Einzigartigkeit zum Synonym für den Stil des Genies, der didaktisch nicht zu vermitteln ist. Diese Art des Stils als Zuspitzung von Individualität als Genie ist unvereinbar mit Wissenschaft, denn „Wissenschaft ist universell, Literatur ist persönlich“ (Gumbrecht 1986, 752).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Der zweite Strang zielt dagegen auf einen kollektiven Stilbegriff, den Epochen- bzw. Nationalstil, der im 19. Jahrhundert seine Konjunktur erlebt und bei Winckelmann seinen Ausgang hat. Es war Johann Joachim Winckelmann, der in seiner 1764 erschienenen Geschichte der Kunst des Altertums die Perioden der bildenden Kunst mit jenen der griechischen Literatur parallelisierte und dabei den Begriff des Stils zur Kennzeichnung von Epochen der klassischen Kunst etablierte. Seitdem ist der Begriff des Stils für die Geschichte von Kunst und Architektur zur Kennzeichnung von Epochen und Regionen unverzichtbar geworden (Winckelmann 1764; cf. Castle 1914, 155). Winckelmann weiterführend gab Mitte des 19. Jahrhunderts Gottfried Semper eine auf die sozialen und materiellen Bedingtheiten künstlerischen Schaffens rekurrierende Definition von Stil. Danach ist es eben nicht allein das Genie des Künstlers, das die künstlerische Hervorbringung bestimmt, vielmehr hängt diese von einer Fülle von begleitenden Nebenumständen ab, die die Lösung der künstlerischen Aufgabe modifizieren. Dazu zählen nach Semper nicht nur der Einfluss des Materials, des technischen Verfahrens oder des Herstellungsprozesses, sondern vielmehr auch lokale und ethnische Einflüsse darauf wie etwa Klima, Geographie, Religion oder Politik (Semper 1860⫺63; cf. Castle 1914, 156). Während diese beiden Stränge der Interpretation bzw. Diskussion von Stil eher die soziale Dimension (Individuum oder Kollektiv) tangieren, berührt der dritte Strang die epistemologische Dimension: Stil wird zum Synonym für die kognitiven Fähigkeiten des Menschen schlechthin. War die Aufklärung der rationalistischen Tradition folgend noch davon ausgegangen, dass die kognitive Ausstattung des Menschen, Vernunft und Logik, ihn in die Lage versetzen, Natur, Wirklichkeit und Wahrheit adäquat zu erkennen, so machte sich etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts eine skeptischere Auffassung breit, die die Subjektivität als unausweichliche Bedingung im Erkenntnisprozess hervorhob. Am Beginn dieser Entwicklung steht wohl jener George Louis Leclerc Comte de Buffon, der in seinem berühmten, 1753 anlässlich seiner Aufnahme in die Acade´mie Franc¸aise gehaltenen Discours den Stil zum Synonym für das Erkenntnissubjekt schlechthin werden ließ: „[…] les connoissances, les faits et les de´couvertes […] sont hors de l’homme; le style c’est l’homme meˆme“ [die Erkenntnisse, Fakten und Entdeckungen sich verflüchtigen, sich übertragen und durch geschicktere Hände realisiert werden. Dies alles bleibt außerhalb, der Stil ist der Mensch selbst] (Buffon 1753, 503). Goethe sah im Stil als der Kategorie der Subjektivität die Kategorie des Erkennens schlechthin, da, so Goethe, „jeder Mensch die Welt anders sehen, ergreifen und nachbilden wird“ (Goethe 1789). Bei Goethe meint Stil also ⫺ wie bei Buffon ⫺ die Vollendung der Kunst in ihrer kognitiven Funktion. Kunst (und nicht Wissenschaft) wird zum Instrument der Welterkenntnis; eine Auffassung, die im deutschen Idealismus Zustimmung fand. Das 19. Jahrhundert war damit beschäftigt, diese Weltsicht (in Kunst und Literatur) weiter zu perfektionieren. Stil wurde, um mit Flaubert zu reden, zur manie`re absolue de voir les choses, zur absoluten und höchst individuellen Sicht der Welt, die eine eigene Welt schafft, statt die ehedem eine, äußere, noch verstehen zu wollen. „Der Stil ist […] eine Art des Sehens und Imaginierens (une qualite´ de la vision), die Enthüllung des partikularen Universums, das jeder von uns sieht, und das die anderen nicht sehen“ (Gumbrecht 1986, 765). Nicht nur die Literatur, auch die gerade im Entstehen begriffene Psychoanalyse und mit ihr die phänomenologisch orientierte Philosophie (Husserl) nahmen Abschied von der lang gehegten Illusion, das Ding an sich sei der menschlichen Erkenntnis zugänglich. Diese Hinwendung, dieses Bekenntnis zum Partikularismus und zur Subjektivität konfligierte mit
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den erstarkenden Naturwissenschaften, die sich unter dem Einfluss des Positivismus als letzte Bastion einer auf Allgemeingültigkeit zielenden Wirklichkeitserfassung verstanden: „Die Bewahrung des Glaubens an die eine Wirklichkeit und die Erhaltung des überkommenen Begriffs von ,Wahrheit‘ kamen nun allein der Wissenschaft zu“ (Gumbrecht 1986, 769). So können wir anhand der Geschichte des Stilbegriffs die Entstehung jener inzwischen sprichwörtlichen Trennung der zwei Kulturen nachvollziehen, die danach Resultat eines epistemologischen Bruchs war: des Auseinandertretens von Wahrnehmung und Wahrheit. Stil, so wie ihn das 19. Jahrhundert verstand, wurde damit quasi automatisch zur categoria non grata all jener Wissenschaften, deren Ideale Objektivität und Allgemeingültigkeit (Universalität) waren. Stil, als begriffliche Kategorie subjektiver Anschauung, das war eine Kategorie der Kunst, der Literatur, jener Reiche der Subjektivität also, die auf das Schaffen von Welten anstelle des Verstehens der einen Welt setzten. Hier haben wir den Grund, warum in Geschichten des Stilbegriffs die Geschichte der Naturwissenschaften immer ausgespart geblieben ist: Ihre Autoren, zumeist Literaturhistoriker, wurden Opfer jenes positivistischen Methodenideals der Naturwissenschaften, das, allen Zweifeln zum Trotz, bis in unsere Zeit erfolgreich tradiert wurde. Die Wieder- bzw. Neuentdeckung des Stils in den Naturwissenschaften bahnte sich daher nicht in den systematischen, vom Positivismus dominierten Wissenschaften selbst, sondern im Bereich der erkenntnistheoretischen Reflexion über diese an. Dabei fällt auf, dass von Beginn an die Intersubjektivität menschlicher Erkenntnis nicht in der Weise infrage gestellt wurde, wie dies im Bereich der Kulturwissenschaften geschah. Die Partikularisierung der Welt konnte nur insoweit vollzogen werden, wie die Erkenntnis darüber intersubjektiv nachvollziehbar bzw. vermittelbar blieb.
3. Stil als wissenschatshistorische Kategorie Die Entdeckung des Stils im Bereich der Naturwissenschaften erfolgte zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zwar im Bereich der Epistemologie, allerdings zunächst nicht in der Absicht, mit diesem Begriff die Grundstruktur menschlicher Kognition zu beschreiben. Der französische Physiker und Philosoph Pierre Duhem war bei seiner Analyse von Ziel und Struktur der physikalischen Theorien darauf verfallen, von nationalspezifischen Anschauungsweisen der physikalischen Realität zu sprechen. Dem „tiefen, aber engen Denken der französischen Schule“ stellte er das „umfassende, aber schwache Denken der britischen Schule“ gegenüber, ein Gegensatz, der seiner Ansicht nach vor allem in Unterschieden der wissenschaftlichen Methodik, d. h. der Bevorzugung mechanischer Modelle gegenüber analytischer Mathematik, zum Ausdruck kam (Duhem 1908, 79⫺86). Duhem schrieb in einer Epoche, die von Chauvinismen und Nationalismen und vermehrter Konkurrenz zwischen den europäischen Industrienationen geprägt war. Während des Ersten Weltkriegs ist seine Theorie zur Grundlage national-chauvinistischer Polemik geworden (Kleinert 1978, 509). Wenngleich die Ergebnisse der Duhemschen Analyse also, da von nationalen Ressentiments gefärbt, kritisch zu betrachten sind, so kommt Duhem dennoch das Verdienst zu, das Augenmerk auf die Tatsache gelenkt zu haben, dass die Entwicklung der Naturwissenschaften nicht isoliert von ihrem nationalen, politischen und sozialen Kontext gesehen werden darf, einem Kontext, in dem Traditionen, Präferenzen oder Schulen einen dominierenden Einfluss entfalten können.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Duhem spricht von Schulen, nicht von Stilen. Schule verweist bereits auf die Bindung kognitiver Traditionen an Institutionen und geht insoweit mit dem Begriff des Stils konform, der jedoch noch eine Fülle weiterer Parameter einbeziehen wird. Zwei Zeitgenossen Duhems, John T. Merz und Thorstein Veblen, gingen über Duhem hinaus, indem sie institutionelle und soziökonomische Aspekte hervorhoben. Ein Vergleich dieser drei Autoren liefert damit eine triadische Struktur dessen, was unter dem Aspekt nationaler Bedingtheit von Wissenschaft konnotiert werden kann, drei Ebenen, die miteinander verknüpft bzw. voneinander abhängig sind (Jamison 1987, 150 f.): (a) kognitive Konzepte bzw. Traditionen (Duhem) (b) Bildungssysteme und Institutionen (Merz) (c) sozioökonomische Ressourcen (Veblen). Diese frühen, z. T. noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden komparatistischen Versuche blieben weitgehend wirkungslos, bis im Zuge der dreißiger Jahre, bedingt z. T. durch marxistische Analysen, eine Renaissance einsetzte. Erwin Schrödinger, Pionier der Quantenmechanik und kulturhistorisch engagierter Querdenker unter den Physikern der dreißiger Jahre, konfrontierte 1932 die preußische Akademie der Wissenschaften mit der Frage Ist die Naturwissenschaft milieubedingt? Wohl wissend, dass er die Mehrzahl der Vertreter der Physikalisch-mathematischen Klasse damit provozieren, ja schockieren würde, bejahte Schrödinger diese These mit Nachdruck. Bereits das Interesse, das der Wissenschaftler auf spezifische Methoden, Experimente oder Fragestellungen richtet und die Auswahl, die er dabei unter der nahezu unbegrenzten Zahl von Möglichkeiten trifft, bedinge, so Schrödinger, dass der Subjektivität die Eingangspforte geöffnet werde. Mehr noch als durch die Wahl der Interessenschwerpunkte, die in gewissem Sinne Modesache sei, sei der Subjektivität aber dadurch Vorschub geleistet, dass auch der Wissenschaftler immer einem Milieu, Kulturkreis oder Zeitgeist angehöre, was sich dem Betrachter, so Schrödinger, aber erst in historischer Perspektive erschließe. Indem er die Kultur unter Einschluss der Naturwissenschaften als eine Einheit sah, schien es Schrödinger zwingend, dass sich „auf allen Gebieten einer Kultur gemeinsame weltanschauliche Züge und, noch viel zahlreicher, gemeinsame stilistische Züge vorfinden, in der Politik, in der Kunst, in der Wissenschaft“ (Schrödinger 1932, 38). Einen Beleg versuchte er am Beispiel der Weimarer Kultur zu liefern, indem er zeitgenössische Tendenzen in Architektur und Kunst mit der Quanten- und Relativitätstheorie verglich. Unabhängig von Duhem und Schrödinger entwickelte der polnische Bakteriologe Ludwik Fleck etwa zu selben Zeit seine Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Weit über Duhem hinausgehend und in bewusster Gegnerschaft zum logischen Empirismus des Wiener Kreises unterstrich Fleck (1935) die prinzipielle Abhängigkeit jeglichen Erkennens von sozialen und gesellschaftlichen Randbedingungen, die als „nicht-artikulierte Voraussetzungen“ in das Denken der Wissenschaftler einfließen und folglich ihren Denkstil bestimmen (Fleck 1980, 126). Mit dem Begriff des Denkkollektivs und seiner Beziehung auf die Gesellschaft wollte Fleck eine Einheit anbieten, in der sowohl die kollektiv wirksamen externen Faktoren als auch die einzelnen Forscher mit ihren individuellen Motivationen und erworbenen Fähigkeiten gleichermaßen erfasst werden können (Schäfer/Schnelle 1980). Der historische Vergleich analoger Phänomene, so etwa auch Edgar Zilsel (1941), liefere für die Erkenntnistheorie das, was das Experiment für die Naturwissenschaften tue, nämlich jene empirische Basis, auf deren Grundlage man zu gesetzesähnlichen Aussagen vordringen könne (Zilsel 1976).
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Das Eindringen vergleichender Ansätze in die Geschichtsschreibung der Naturwissenschaften setzte so eine Entwicklung in Gang, die nicht nur zur Entstehung der modernen Wissenschafts- und Technikgeschichte führte, sondern eine Neuentdeckung des Stilbegriffs mit sich brachte.
4. Wissenschatshistorische Kontroversen Seit der von Thomas S. Kuhn 1962 eingeleiteten Renaissance der Fleckschen Gedanken ist die Diskussion um die Brauchbarkeit des Stilbegriffs nicht abgerissen. Die Debatte um die theoretischen Implikationen der Wissenschaftsgeschichte hat gezeigt, dass nicht allein Theorien für den Wissenschaftler erkenntnisleitend sind. Theorien sind vielmehr Bestandteil größerer Einheiten. Die Kontroverse drehte sich um die Frage, wie diese Einheiten zu definieren sind. Während Kuhn den Begriff des Paradigmas formulierte (Kuhn 1962), Lakatos den Begriff des Forschungsprogramms dagegensetzte (Lakatos 1978) und Laudan diesen zum Begriff der Forschungstradition abwandelte (Laudan 1977), so bleibt festzuhalten, dass diese Begrifflichkeit auf den kognitiven Bereich beschränkt blieb. Demgegenüber verweist der Begriff des Denkstils direkt auf die Bedingtheit naturwissenschaftlichen Erkennens; auf seine Konditionierung durch externe, d. h. politische, soziale, allgemeinkulturelle Faktoren, kurz: auf die Standortgebundenheit intellektuellen Tuns. Dies gilt nicht nur für die klassische Geschichte der Wissenschaften, sondern auch für den Typus neuzeitlicher, organisierter Forschung. Auch die zunehmende Vernetzung in der Welt der Wissenschaft, die ihr den Anstrich der Internationalität, ja Globalität verleiht, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sub-Zivilisationen existieren, die sich mit Denkstilen identifizieren lassen (cf. Galtung 1983; Jamison 1987). Unbeschadet der in der Debatte vorgenommenen Akzentuierung des kollektiven bzw. sozialen Elements wurden in der Wissenschaftsgeschichte auch individuelle, dem Literarischen nahe kommende Stile diagnostiziert, vor allem in der Mathematik. Nehmen wir als Beispiel Isaac Newton, von dem wir wissen, dass er zwei große Werke, die Principia und die Opticks, verfasst hat, die sich in mehr als einer Hinsicht stilistisch unterscheiden: nicht nur in der Wahl des Gegenstandes (Mechanik bzw. Optik), sondern vor allem in der Wahl der Darstellungsmittel, sei es Sprache (Lateinisch bzw. Englisch), Wahl mathematischer Methoden (Geometrie bzw. Analysis), syntaktische Form, Einsatz graphischer Darstellungen etc. Interessanterweise haben diese in formaler Hinsicht so unterschiedlichen Werke eines Autors auch unterschiedliche Rezeptionsstränge oder Stile begründet, die sich das ganze 18. Jahrhundert hindurch präzise verfolgen lassen: Die Anhängerschaft Newtons, von den Historiographen lange Zeit als Newtonianer über einen Kamm geschoren, waren untereinander höchst uneins in Bezug auf die Frage, wer von ihnen das Erbe des Meisters am besten verträte. Unterschiedliche Konzeptionen in Bezug auf die rechten, bei der Befragung der Natur einzusetzenden Methoden, standen sich als Schulen oder Stile des Newtonianismus unversöhnlich gegenüber und konnten geographisch bzw. national verortet werden (cf. Hall 1979). Gegnerschaft gab es jedoch auch, und zwar innerhalb der Soziologie des Wissens, was zeitweilig zu einer Zurückdrängung bzw. Vernachlässigung der komparativen Erkenntnistheorie geführt hat. Der Grund ist wohl darin zu sehen, dass die komparative Erkenntnistheorie den klassischen Idealen der Wissenschaft wie Objektivität und Univer-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil salismus Hohn zu sprechen schien. So wurden auch Soziologie und Kulturwissenschaften gelegentlich Opfer des gebetsmühlenhaft wiederholten Anspruchs der Naturwissenschaften, Hüter der Wahrheit bzw. der einen Welt zu sein. So erteilte Robert K. Merton noch 1968 allen Subjektivismen eine Abfuhr, indem er schrieb: „The acceptance or rejection of claims entering the lists of science is not to depend on the personal or social attributes of their protagonist; his race, nationality, religion, class and personal qualities are as such irrelevant. Objectivity precludes particularism. The imperative of universalism is rooted deep in the impersonal character of science“ (zit. n. Jamison 1987, 145 f.).
5. Anwendungen und Grenzen des Stilbegris Die Attraktivität des Begriffs Stil für die Wissenschaftsgeschichte resultiert aus der im Laufe der letzten Jahrzehnte gewonnenen Einsicht, dass es die Historiographie der Wissenschaft nicht mit einer Welt, der Welt, zu tun hat, sondern vielmehr mit Bildern der Welt, also mit Welten, die zwar chronologisch aufeinander folgen und auseinander hervorgehen und damit auch miteinander verwandt sind, sich jedoch, aus ideozentrischer Perspektive betrachtet, als inkommensurabel erweisen. Die von Kuhn bis Feyerabend geleistete Arbeit am Begriff der Wissenschaftsgeschichte weist in diese, einem relativierenden Verständnis Vorschub leistende Richtung. Den Versuch, die Wissenschaftsgeschichte Europas unter Zugrundelegung eines die diachrone Perspektive und die Wahl der Erkenntnismethode und Darstellungsmittel betonenden Stilbegriffs komplett zu schreiben, verdanken wir Alistair C. Crombie (1994). Crombie strukturiert die Geschichte des Wissens, indem er eine Taxonomie wissenschaftlicher Denkstile entwirft. Für die Geschichte der europäischen Wissenschaft von den Griechen bis 1900 sieht Crombie sechs Stile, die er als ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
Postulieren (Griechische Antike, Plato bis Galen), Experimentelles Argumentieren (Mittelalter bis Newton), Hypothethisches Modellieren (imitatio naturae), Taxonomisches Ordnen (Systematik, Linne´, Buffon), Probabilistisches Analysieren (Pascal bis Laplace), Historisches Ableiten (genetische Methode, Darwin)
bezeichnet. Ohne auf die Stile hier näher eingehen zu können sei nur erwähnt, dass diese zwar prinzipiell eine chronologische Abfolge, also Epochenstile darstellen, sich jedoch zeitlich weit überlappen, sodass eine zeitliche Parallelität verschiedener Stile und damit die Möglichkeit horizontalen Vergleichens sichergestellt ist. Interessanter als ein konkretes Eingehen auf die Taxonomie der Stile ist für uns hier die Frage, was Crombie genau unter Stil versteht, nach seinem Stilbegriff also. Wie die oben genannte Bezeichnung der Stilrichtungen bereits nahe legt, liegt der Akzent auf der wissenschaftlichen Methodik, auf der Wahl von Gegenstand und Art des wissenschaftlichen Fragens: „A scientific style identified an object of inquiry, defined the questions to be put, and determined what counted as an answer“ (Crombie 1994, 1; 56). Hier haben wir wie schon bei Schrödinger den Aspekt des Subjektiven, der sich in der Möglichkeit der freien Wahl, der Auswahl, des Interesses manifestiert. Der wissenschaftliche Stil selbst aber ist Teil eines kulturellen Stils, den Crombie uns wie folgt beschreibt: „In every culture at any time men have
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experienced existence through the mediation of a particular vision of existence and of knowledge and their meaning, a vision presupposed in their cultural style. Every society has a cultural ecology in which its view of nature and of humanity is conditioned both by this mental vision and also by its technical capability in relation to its physical and biological environment. Styles of theoretical and practical thinking within any culture, styles of accepting or of making decisions both about the nature of the world and about what should be done in any situation, styles of perceiving and of solving within this vision and experience, not only in natural science and mathematics but also in the aesthetic arts and sciences and those of personal and public government, in morality, law, commerce, industry and so on, all nearly always have the marks of a recognizably common provenance. In any culture then men’s relations to nature as perceivers and knowers and agents have been regulated, as knowledge, by conceptions of human nature and its intellectual capacities within a total scheme of knowledge and existence. This has entailed conceptions of both man and nature, of both perceiver and perceived, knower and known, and man’s place in nature, time and history, of his origins and his destiny. Relations as action have been regulated by practical needs, habits and motivations and by conceptions of man’s practical capacities, freedoms and limitations“ (Crombie 1994, 1; 56). Stil ist für Crombie also ein Synonym für die intellektuellen, moralischen und physischen Bindungen (commitments) der Wissenschaft, ihre Einbindung in die Gesamtheit der Kultur, mithin für deren unauflösliche Einheit. Der kulturelle Stil und die (technische) Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, seinem environment, bestimmen das, was Crombie die kulturelle Ökologie einer Gesellschaft nennt. Dies ist, vielleicht abgesehen von der Begriffsbildung, so neu nicht. Hier gerät der Begriff des Stils in Gefahr, mit anderen geistesgeschichtlichen Begriffen in Konkurrenz zu treten: Kulturelle Ökologie scheint nur ein anderes Wort für wissenschaftliches Weltbild zu sein. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt bei Crombie auf den intellektuellen Bindungen. Crombie geht damit kaum über den Bereich des Kognitiven hinaus. Dies entspricht einem klassischen, nicht-soziologischen Verständnis von Stil. Die zeitlich wie räumlich breite Konzeption von Stil verstellt zudem die Möglichkeit, sinnvoll nach der gesellschaftlichen Kausalität für die Herausbildung bzw. Fortdauer von Stilen zu fragen. Viel häufiger und möglicherweise auch ergiebiger als die von Crombie eingenommene Perspektive, die hauptsächlich diachron, also vertikal vorgeht, ist die synchrone, also horizontale Sicht, die zeitlich parallel Existierendes miteinander in Beziehung setzt und als Stile konfrontiert. Hier scheint uns die eigentliche Stärke des Stilbegriffs zu liegen. Für dieses Vorgehen gibt es zahlreiche Beispiele, wobei der Nationalstil dominiert (cf. Malley 1979; Galtung 1983; Harwood 1987; Jamison 1987; Weiss 1988; SiegmundSchultze 1994; Borck 2006). Trotz der Kommunalität und Interdisziplinarität, ja Globalität der modernen Wissenschaft, die die Abschottung der nationalen communities, wie sie im 19. Jh. bestand, überwinden half, sind solche nationalen Differenzen bis heute von Bedeutung, wobei sich die Frage aufdrängt, wie diese zu erklären sind. Die Frage ist auch, was wir hier unter Erklärung verstehen wollen: nur ordnende Deskription oder die Aufzeigung einer Kausalität? Ist Stil ein beschreibendes oder erklärendes Element? Bereits Fleck hat den Akzent von der Deskription auf die Erklärung verschoben, was unsere These von der Neuentdeckung stützt. Seit Fleck versucht die Forschung über die ordnende Deskription hinauszugehen und zwar primär auf soziologischem Wege. Stil wird oft als lokale bzw. regionale Dominanz kognitiver Traditionen verstanden, die aber letztlich wiederum spezifischer institutioneller Nischen bedürfen, um angesichts
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil des Drucks in Richtung Standardisierung zu überleben und tradiert zu werden (cf. für Großbritannien: Davie 1961; Cantor 1983; für Genf: Montandon 1975; Weiss 1988; für die USA: Schweber 1986; Reingold 1991; Borck 2006). Damit versucht die Wissenschaftsgeschichte dem Vorwurf der Inhaltsleere des Begriffs zu entkommen, einer bereits von Panofsky (1915) geäußerte Kritik, die noch von Gumbrecht als Hinweis auf eine „systematische Insuffizienz des Stilbegriffs“ gewertet wurde (Gumbrecht 1986, 772). Hier sei noch einmal an die triadische Struktur erinnert, die bereits im 19. Jahrhundert mit dem Begriff des nationalen Stils konnotiert wurde, nämlich die Ebenen (a) der kognitiven Konzepte bzw. Traditionen (Duhem), (b) der Bildungssysteme und Institutionen (Merz) und (c) der sozioökonomischen Ressourcen (Veblen). Die Ebenen (b) und (c) können auch ihren Rang tauschen, je nachdem, worauf der Akzent der Analyse gelegt wird bzw. womit die Dominanz intellektueller Konzepte oder Vorurteile legitimiert werden soll. Der Begriff des Stils bietet soziologisch verstanden die Möglichkeit, Unterschiede zu erklären: Fragen der Wissenschaftsorganisation, der Ausbildungswege, der Institutionen wie z. B. Struktur und Dynamik der Universitätssysteme werden vergleichend thematisiert (cf. u. a. Harwood 1987; Jamison 1987; Siegmund-Schultze 1994). Der drittgenannte Bereich (c), der die nationalen Ressourcen thematisiert, bietet so die Chance, die Auswahl bzw. Präferenz für Themen zu analysieren, die nationale wissenschaftlich-technische Interessenlage, die besonders im Bereich der anwendungsorientierten Disziplinen die Selektion von Themen determiniert. Jamison (1987) gelingt es damit z. B. die Unterschiede zwischen Dänemark und Schweden zu erklären: Der Bevorzugung eines mechanistischen, ordnenden und taxonomischen Denkens der Schweden stellt er die Präferenz der Dänen für organismisches, physiologisches, ja vitalistisches Denken gegenüber, was sich unter anderem in dem starken Einfluss manifestiert, den die deutsche romantische Naturphilosophie in Dänemark (und nicht in Schweden) gewinnen konnte. Die Analyse reduziert den Gegensatz der Denkstile auf die sozioökonomischen Strukturen der beiden Länder, die unterschiedliche Interessenlagen und damit auch verschiedene Themenauswahl zur Folge hatte: Das primär auf Handel, Seefahrt und Landwirtschaft angewiesene Dänemark förderte die Astronomie, die Landwirtschaftswissenschaften und die Lebensmitteltechnologie, während das mit Grundstoff- und Schwerindustrie gesegnete Schweden besonders die Mineralogie bzw. Bergbauwissenschaften unterstützte. Einem hoch differenzierten Bildungssystem in Schweden, das für die technischen Wissenschaften spezielle Hochschulen reservierte, stand in Dänemark ein hoch integriertes System gegenüber, das der Volksbildung, im Besonderen den Volkshochschulen, sowie privaten Stiftungen, große Bedeutung einräumte (Jamison 1987). Harwood verglich jene Fragen oder Probleme, die sich während der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen die nationalen scientific communities Deutschlands und der USA auf dem Gebiet der Genetik vorlegten. Während diese Fragestellungen in Deutschland sehr breit und theoretisch angelegt waren, war in USA eine Tendenz zur Einengung bzw. Spezialisierung sowie Präferenz für empirische Untersuchungen erkennbar. Die Ursache dafür sieht Harwood in den unterschiedlichen Dynamiken und Strukturen der Universitätssysteme. Während die deutschen Universitäten nach anfänglicher Expansion im Kaiserreich zwischen den Weltkriegen durch krisenhafte wirtschaftliche Entwicklung finanziell stagnierten, was die Etablierung neuer Disziplinen wie der Genetik behinderte, brachte die Expansion der amerikanischen Hochschulen, unterstützt durch massive staatliche Förderung und private Sponsoren, zahlreiche Chancen zu akademischen Karrieren und damit frühzeitiger Spezialisierung mit sich. Entscheidender noch als diese auf finanzielle bzw. ökonomische
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Faktoren zurückzuführenden Unterschiede in den Dynamiken der Systeme sieht Harwood jedoch die strukturellen Faktoren: Während das deutsche System mit seiner bekannten, auf Ordinarien fixierten hierarchischen Organisation und deren erklärter Feindlichkeit gegenüber angewandten Fragestellungen einer disziplinären Differenzierung im Wege stand, waren die privat finanzierten und departmental organisierten amerikanischen Hochschulen darauf angewiesen, auf neue Trends bzw. Anforderungen der Gesellschaft nach angewandter Wissenschaft rasch zu reagieren, wollten sie für ihre Finanziers, Sponsoren wie Studenten, attraktiv bleiben (Harwood 1987). Der Stilunterschied wird so auf Differenzen der Institutionenentwicklung bzw. das spezielle Institutionalisierungsdefizit Deutschlands gegenüber den USA zurückgeführt. Harwood will seine Untersuchung als Beleg für die Relevanz eines soziologischen Konzepts von Stil verstanden wissen. Kognitive Stile werden durch Rekurs auf Institutionen und damit auf soziologische bzw. gesellschaftliche Fakten (und nicht etwa auf nationale Charaktere wie bei Duhem) erklärt. Aus diesem Grund ist der Befund natürlich immer historisch spezifisch, d. h. er kann nur für eine konkrete Epoche Gültigkeit beanspruchen: Angleichung der ökonomischen Situationen sowie der akademischen Strukturen hätte zur Folge, dass die festgestellten Unterschiede verschwänden. Gleichzeitig weist Harwood auf die Problematik hin, die sich mit dem Begriff nationaler Stile verbindet: Dieser Begriff suggeriert eine Homogenität, die in dieser Form kaum existieren wird, da es auch in der Wissenschaft stets nationale Minoritäten zu berücksichtigen gibt. Eine Nation ist nicht homogen, weshalb die stilistische Analyse auf nationaler Ebene fortgesetzt werden kann bzw. muss.
6. Zusammenassung Wenn in der Geschichtsschreibung der Wissenschaften vom Denkstil die Rede ist, dann sind primär zwei Dinge gemeint, die das Element des Subjektiven in der Wissenschaft sowie den Kontext der wissenschaftlichen Produktion als relativierende Faktoren bezeichnen: ⫺ die spezifische, auch subjektiv getroffene Auswahl von Gegenständen, Problemen, Projekten oder Themen sowie der zur ihrer Bearbeitung, Lösung und Darstellung eingesetzten Mittel sowohl intellektueller als auch materieller Art, seien es Methoden, Verfahren, Instrumente, Maschinen oder Ressourcen (wobei Verfügbarkeit hier vorausgesetzt wird); wobei die Kriterien dieser Auswahl in der Regel bereits in den Fundus jener ⫺ stillschweigenden Voraussetzungen intellektueller, kognitiver oder materieller Art eingehen, die deswegen nicht explizit gemacht werden, weil sie entweder gar nicht als solche bewusst werden oder für selbstverständlich gehalten werden, da sie nach Dafürhalten des Verfassers den zeitgenössischen Adressaten als vertraut gelten können. Der Akzent liegt also zunächst immer auf dem Bereich des Kognitiven, was aber die Frage nach der Erklärung und damit den Verweis aufs Gesellschaftliche nach sich ziehen wird und die Möglichkeit von Antworten eröffnet, sofern wir bereit sind, uns auf die sozialgeschichtliche Perspektive einzulassen. Dies zunächst vorausgesetzt sind es fünf Elemente oder auch Ebenen des Fragens, die sich als konstitutiv für einen wissenschaftlichen Denkstil erweisen. Ein solcher umfasst:
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil (1) neben expliziten Elementen wie theoretischen und praktischen Überzeugungen und Konzepten auch implizite, d. h. nicht-artikulierte und damit dem Wissenschaftler in der Regel nicht bewusste Ideen/Begriffe philosophischer, theologischer, politischer und sozialer Art. Die Tatsache, dass diese Faktoren nicht-bewusst oder zumindest für das wissenschaftliche Tun nicht-reflektiert sind, bedeutet jedoch nicht deren Zufälligkeit. Sie sind vielmehr durch eine lokale Tradition von Unterricht und Ausbildung, im Besonderen durch Institutionen (wie Schulen, aber auch Unternehmen) vermittelt und verweisen damit (2) auf die soziale und geschichtliche Bedingtheit des Denkstils, auf die Standortgebundenheit von Wissen und Erkennen. Ein Denkstil ist damit sozial/regional lokalisierbar, wobei regional nicht immer nur geographisch verstanden zu werden braucht; er gedeiht häufig in klar abgrenzbaren sozialen Nischen (Institutionen), in denen sich das betreffende Denkkollektiv etabliert hat. Damit folgt, (3) dass Wissen nicht von isolierten Individuen erzeugt wird, vielmehr immer einen Kommunikationsprozess (in der Regel innerhalb des Denkkollektivs) voraussetzt. Diese Kommunikation vollzieht sich schriftlich oder mündlich, in jedem Falle aber sprachlich, womit (4) deutlich wird, dass ein Denkstil auch durch einen Sprach- oder Kommunikationsstil gekennzeichnet werden kann. Diese Kommunikation hat, soll sie erfolgreich sein, d. h. verstanden werden, ein Grundmaß von begrifflicher Übereinstimmung zur Voraussetzung. Damit ist (5) klar, dass Wahrheit ein relativer Begriff ist, der lediglich einen sozialen Konsens, ein soziales Konstrukt beschreibt. Wahrheit spiegelt die Wirklichkeitswahrnehmung des jeweiligen Denkkollektivs, das seine Wahrheit als Wahrheit formuliert, ohne sich ihrer sozialen Bedingtheit bewusst zu sein. Hier besteht Übereinstimmung mit Tendenzen der Kunstgeschichtsschreibung, sofern diese die Prämisse teilen, dass nicht ein extremer Subjektivismus, sondern soziale Gemeinsamkeiten über die Rezeption von Kunst entscheiden, was uns die sozialgeschichtliche Perspektive öffnet. Mit spezifischem Blick auf die Kultur der Renaissance aber nicht ohne Anspruch auf Allgemeingeltung schrieb der Kunsthistoriker Michael Baxandall: „Ein Teil der geistigen Ausstattung, mittels derer jemand seine visuellen Erfahrungen strukturiert, ist variabel, und vieles von dieser variablen Ausstattung ist kulturspezifisch in dem Sinne, dass es von der Gesellschaft bestimmt wird, die seine Erfahrungen beeinflusst. Unter diesen Variablen finden sich Kategorien, mit denen er seine visuellen Eindrücke ordnet, das Wissen, das er einsetzen wird, um zu ergänzen, was ihm der unmittelbare Blick bietet, und die Einstellung, die er gegenüber dem gesehenen Kunstgegenstand einnehmen wird. Der Betrachter muss die visuellen Fähigkeiten, über die er verfügt, auf das Gemälde anwenden, auch wenn normalerweise nur sehr wenige davon speziell die Malerei betreffen […]. Der Maler stellt sich darauf ein; die visuelle Kompetenz seines Publikums muss sein Medium sein. Was immer seine eigenen spezialisierten beruflichen Fähigkeiten sein mögen, er ist selbst ein Mitglied der Gesellschaft, für die er arbeitet, und teilt ihre visuelle Erfahrung und Gewohnheit. Wir haben es hier mit dem kognitiven Stil […] im Verhältnis zu seinem malerischen Stil zu tun“ (Baxandall 1987, 54). Diese Stile oder besser Stilelemente aber stehen im wechselseitigen, selbstreferentiellen Bedingungsverhältnis. Baxandall schreibt weiter: „Eine Gesellschaft entwickelt die für sie charakteristischen Fertigkeiten und Gewohnheiten, die einen visuellen Aspekt haben, da der Sehsinn das wichtigste Organ der Erfahrung ist; und diese visuellen Fertigkeiten und
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Gewohnheiten gehen ein in das Medium des Malers [d. h. in die visuelle Kompetenz des Publikums, B.W.]; entsprechend bietet der malerische Stil einen Zugang zu den visuellen Fertigkeiten und Gewohnheiten und über diese auch zu den charakteristischen gesellschaftlichen Erfahrungen. Ein altes Bild dokumentiert eine visuelle Handlung. Man muss lernen es zu lesen, genauso wie man lernen muss, einen Text aus einer anderen Kultur zu lesen, selbst wenn man in gewissem Sinne die Sprache kennt: Sprache und bildliche Darstellung sind konventionsgebundene Tätigkeiten […]“ (Baxandall 1987, 185). Das gilt mutatis mutandis auch für die Wissenschaften, wenn wir visuell mit intellektuell generalisieren. Stil verweist damit letztlich auf das Problem des Verstehens, ein Problem, das allen Disziplinen der Kulturgeschichte gemeinsam ist. Stil ist damit ein kulturwissenschaftlicher Begriff, der disziplinübergreifend verwendet werden kann. So können wir hier, am Ende der Betrachtung, Gewinn und Verlust bilanzieren: Die Einführung einer komparativen Betrachtungsweise in die historische Analyse brachte die relativierende Einsicht mit sich, dass wir es nicht mit einer Welt, sondern mit Welten zu tun haben, die eigener historischer Dynamik unterliegen. Diesem Verlust an Homogenität, diesem Blick auf die „schwindende Stabilität der Wirklichkeit“ (Gumbrecht 1986, 761), steht ein Gewinn gegenüber: Die Suche nach dem Stil bietet uns die Chance, die Kultur einer Epoche oder Region in allen ihren Spielarten, künstlerischen, technischen oder wissenschaftlichen, als eine Ganzheit, eine Einheit zu begreifen und, von der Geschichte ausgehend, durch eine interkulturelle Blickweise die Spaltung der Kulturen zu überwinden.
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Burghard Weiss, Lübeck (Deutschland)
VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik 77. Muster und Abweichung in Rhetorik und Stilistik 1. 2. 3. 4. 5.
Die Kategorien Andersheit, Abweichen und Musterhaftigkeit Andersheit und Stil als kollektive Denkfiguren Rhetorik: Deviation, Normen und Überformung Textstilistik: Verfahren, Typisierungen, Muster, Brüche Literatur (in Auswahl)
Abstract Using the categories of “pattern”, “deviation” and of related terms, this article discusses the general alternatives of focusing on standards (rules, norms, patterns, prototypes) or on applying intentional deviation from such standards when performing language activities. While the strict adherence to standards, on the one hand, ensures proper understanding, eases the reception process and serves the social and esthetic adjustment process, deviation may, on the other hand, increase perceptibility and receptive enjoyment and can take on an individual and creative character. Following the clarification of the above two categories, this article examines to what extent the phenomenon of deviation is considered in various linguistic directions and schools. In this context, major focus is on the 20 th and 21st centuries. However, brief historical reviews are also required as is a perspective on neighboring disciplines. Both “style” and “deviation” are categories that can be found as key terms throughout the humanities and the social sciences. Without considering their usability contexts, linguistic phenomena would remain fairly incomprehensible.
1.
Die Kategorien Andersheit, Abweichen und Musterhatigkeit
1.1. Andersheit und Abweichen Das Phänomen sowie die Denk- und Wahrnehmungsfigur der Andersheit bilden den Hintergrund der folgenden Ausführungen. Im philosophischen Sinne ist Andersheit eine ontologische Kategorie: „Etwas ist, was es ist, indem es anders ist als anderes“ (Waldenfels 1999, 63). Andersheit ist, bezogen auf das menschliche Handeln und dessen Hervorbringungen, aber auch eine anthropologische Größe, nämlich die Reaktion auf das Bedürfnis der Menschen nach Beständigkeit wie nach Veränderung, das ihnen über die Zeiten und Kulturen hinweg als Grundbedingung ihrer Existenz gegeben ist. Es geht um das Wechselspiel zwischen dem Eingehen auf das Verlangen nach Stabilität und dem auf das Verlangen nach Wechsel. Ersteres kann gekoppelt sein mit der Angst vor dem Neuen
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(bis hin zur Xenophobie), letzteres mit der Lust am Neuen (bis hin zur Neophilie). Andersheit ist zudem eine Wahrnehmungskategorie. Das ontologische Anderssein existiert im Sinne der gestaltpsychologischen Figur-Grund-Unterscheidung (Fitzek/Salber 1996) erst dadurch, dass „eine ,ins Auge springende‘ Gestalt“ vor dem „homogeneren und sozusagen ,allgemeineren‘ Hintergrund“ (Städtler 1998, 330) wahrgenommen wird. Das nicht so´ Erwartete hebt sich von dem Hintergrund des Erwartbaren ab. Es geht nicht um das bloße Anderssein, sondern darum, „dass etwas anders [ist], als es eigentlich sein sollte“ (Püschel 1985, 13). Diese Spielart des Andersseins ist es, die als Phänomen der sprachlichen Form in der Stilistik schon immer eine bestimmende Rolle gespielt hat: Stil als Abweichung (s. 1.2) ist eine Konstante verschiedener Stilvorstellungen, in denen die Erwartung der üblichen sprachlichen Form den Hintergrund bildet für die Wahrnehmung der abweichenden Form. Dass das Übliche als das Erwartbare gilt, muss relativiert werden. Mittlerweile ist für Äußerungen bestimmter Kommunikationsbereiche, wie z. B. der Werbung, wohl eher Erwartung von Andersheit üblich (zu künstlerischen Texten s. 2.6). In der Rhetorik bildet das Figurensystem selbst das erlern- und erwartbare Abweichungspotential (s. 3). Das Wechselspiel von Erwarten und Abweichen findet man nicht nur im Formalen, sondern auch im Inhaltlichen, wobei im Kontext von Rhetorik und Stil natürlich die Formseite dominiert. Ob und wie man sich als Rezipient zu Abweichungen positioniert, hängt zunächst davon ab, ob man die Abweichung überhaupt wahrnimmt. Die erste Stufe des Umgehens mit dem Anderssein ist also dessen sinnliche Wahrnehmung. Die zweite Stufe ist die Abgleichung dieser Wahrnehmung mit dem Erwarteten. Man bemerkt es in der Regel, wenn sich die wahrgenommene Form mit den Erwartungen an die als typisch geltende Form nicht deckt. Zu den Prozessen des objektbezogenen Wahrnehmens und Abgleichens gesellt sich die subjektbezogene wertende Stellungnahme. Akzeptiert man die Abweichung vom Erwarteten oder stößt man sich an ihr? Eine solche wertende Reaktion kann moralischer Natur sein. Der Rezipient kann es als positiv bewerten, wenn ein Text in seiner Form Konventionen folgt und damit soziale Werte wie Beständigkeit und Tradition bestätigt: „Gut, dass alles beim Alten bleibt“. Umgekehrt kann der Rezipient es aber auch für gut halten, wenn sich der Text vom Geltenden abwendet: „Endlich einmal etwas Neues“. Eine solche Beurteilung folgt eher einem ästhetischen Kriterium. Der Rezipient würdigt neue Wahrnehmungsmöglichkeiten und neue Reize. Beide Urteile haben mit Beständigkeit und Wechsel zu tun, nur sind die Präferenzen verschieden. Welche dominiert, kann z. B. psychisch, sozial, geschmacks- und altersbedingt sein.
1.2. Der Hintergrund ür Andersheit Norm, Erwartung, Muster in der Stilistik Die Frage nach der Art des „allgemeineren Hintergrunds“ (s. 1.1), vor dem Abweichungen wahrgenommen werden, ist vielfältig beantwortet worden: Normen, Erwartungen und Muster werden genannt. Keine Rolle spielt hier, dass auch jeder „übliche“, den Erwartungen entsprechende Text eine individuelle Hervorbringung, also etwas „anderes“ ist. Es geht nicht um dieses notwendig Individuelle, sondern um das intendierte Anderssein (Dittgen 1989), das eine „kommunikative, funktionelle, semantische oder sonst wie geartete Zusatzbedeutung“ (ebd., 18) vermittelt. Ob diese vom Rezipienten toleriert wird,
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik hängt v. a. von seinen Erwartungen ab, in denen Wissen von Sprachsystemregeln, von Normen sprachlichen Handelns und von prototypischen Mustern geronnen ist (Fix 1987). Bedingung für die Wirkung einer Abweichung ist nicht, dass der Rezipient sie reflektiert. Der Effekt bliebe dann ja in Fällen aus, wo die Normvorgabe nicht bekannt oder bewusst ist. Er tritt aber dennoch ein, weil die intuitiven Erwartungen enttäuscht werden. Während man sich zu Recht schwer damit tut, das Normhafte als den „Hintergrund“ anzusehen, vor dem sich im gestaltpsychologischen Sinne die Abweichung abzeichnet ⫺ schließlich ist offen, was diese Normen sind und wer sie bestimmt (Püschel 1985) ⫺, greifen Konzepte der jüngeren Zeit (Püschel 1985; 2000; Sandig 1986; 2006; Dittgen 1989; Fix 2007) auf die Kategorie der ,Erwartung‘, speziell der von Musterhaftem (s. 4.1), zurück. Nicht die Normen selbst bilden den Hintergrund, sondern Erwartungen als verinnerlichtes Normen- und Musterwissen. Im Laufe der Zeit haben sich die Schwerpunkte also verlagert. Zunächst betrachtete man Abweichungen als intendiertes Abheben von einer Norm, wobei Norm unterschiedlich verstanden wurde. Für den Hermeneutiker Spitzer ist der künstlerische Text immer die sprachliche Neuerung „großer Sprachgebraucher“ (1961, 502) vor dem Hintergrund der „Allgemeinsprache […] als ein Durchschnitt von Individualsprachen“ (ebd., 517). Strukturalistische Auffassungen unterscheiden sich in den Beschreibungen des Sich-Abhebenden nach ihren Normbegriffen. Riffaterre (1973, 51) wendet sich gegen die Annahme einer „globalen“ Norm und setzt dagegen den Kontext, d. h. die im Text selbst etablierten „stilistischen Verfahren“, als Norm, von der abgewichen werden kann. Enkvist fasst als Norm, vor der der Einzeltext zu sehen ist, die Menge aller vergleichbaren Texte, ein „kontextuelles Netzwerk, vor dem sich der Stil eines Werkes abhebt“ (Enkvist 1976, 82). Für Jakobson (1974; 1982) ist Poetizität an die Parallelismus-Technik und Äquivalenz von Texten gebunden. Der Bruch der durch die Parallelismen geweckten Erwartungen, also auch einer Art Textnorm, kann verfremdend wirken. Bierwisch (1965, 61) betrachtet Abweichungen, denen die Regelhaftigkeit der Sprachkompetenz zugrunde liegt, unter strukturalistischem Aspekt als poetisch wirksame Graduierungen auf einer Skala der Poetizität (vgl. Sanders 1973, 62 f.; Asmuth/ Berg-Ehlers 1978, 20 f.; 32 f.). Die Verschiedenheit der Normbegriffe (Spillner 1974, 31 ff.) hat zur Ablösung des Normbegriffs an sich geführt, wenn auch Anderegg (1977, 34) auf die nützliche Interdependenz zwischen Normbefolgen und Abweichen hinweist. An dessen Stelle treten mit der „kognitiven Wende“ die Kategorien ,Erwartung‘ und ,Muster‘. Die Erwartungen der Kommunikationsteilnehmer, in der Normdiskussion der 1970er Jahre ein zentraler Gegenstand (Gloy 1975; Fix 1987), werden als geronnene Norm-Erfahrungen angesehen, deren man sich im Kommunikationsvorgang nicht bewusst sein muss, die man aber (im Sprachgefühl) verinnerlicht und daher verfügbar hat (vgl. Kainz 1946, 37 f.). Erwartungen werden auch gegenwärtig als Hintergrund angesetzt, z. B. von Sandig (2006, 42) als „erwartbare Art der Handlungsdurchführung“ und von Adamzik (2004, 61) als das, „was man […] selbst erwarten kann und was die anderen von einem erwarten“. Der Begriff wird hier jedoch ⫺ im Unterschied zu den 1970er Jahren ⫺ alltagssprachlich gebraucht (so auch Heinemann/Heinemann 2002). Anders verhält es sich mit der Kategorie des ,Musters‘, die sich, wenn auch verschieden aufgefasst, so doch immer reflektiert und (mehr oder weniger scharf) definiert, durchgesetzt hat. Ebenso wie bei ,Erwartung‘ erspart der Gebrauch von ,Muster‘ die Festlegung dessen, was als Norm gelten soll, denn wichtig ist nun, was der Rezipient als Musterwissen im Kopf hat und was sich mit dem Wissen der anderen Rezipienten in etwa deckt. Schon früh hat Steger darauf hingewiesen, dass wir Texte als „erfahrbare interaktionale Ganzheiten“ (1979,
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28 f.) aufnehmen, sie also aufgrund einer Schnittmenge gemeinsamen Wissens verstehen und nicht an dem messen, was ein schwer fassbares Normensystem verlangt. Der Weg von Typenvorstellungen über einen sprechakttheoretischen Musterbegriff hin zu einem prototypischen, wie er heute dominiert, war lang. Er führte von ,Pattern‘ (Riffaterre 1973) über ,Stiltypen‘ und ,Textklassen‘ (Fleischer/Michel 1975, 28 ff.) sowie ,Textsorte‘ (Spillner 1974, 71 ff.) zum „Textmuster“ als „Konventionen für das Bilden von Texten“ (Sandig 1978, Anm. 4). Heute ist die Vorstellung von einem mental repräsentierten Textmuster, das Prototypisches vorgibt und Freiräume lässt, allgemein anerkannt, wenn es auch in der Ausdifferenzierung dessen, was an einem Text bzw. seiner Herstellung musterhaft sein kann ⫺ musterhafte Textherstellungsverfahren, prototypische Vorstellungen vom Text als Resultat ⫺, verschiedene Auffassungen gibt (Fix 1999; 2007; Püschel 2000; Heinemann/Heinemann 2002; Adamzik 2004; Sandig 2006; ausführlicher in 4).
2. Andersheit und Stil als kollektive Denkiguren 2.1. Philosophie/Philosophische Ästhetik Der Stilbegriff begegnet im Kontext von Andersheit und Abweichen in vielen Wissenschaftsdisziplinen, auch bezogen auf Sprachliches. Es handelt sich bei Stil und Abweichen um aktuelle Denkfiguren, entwickelt in „kollektive[r] gedankliche[r] Wechselwirkung“ (Fleck 1994, 5). Ohne einen, wenn auch auf einige Ansätze beschränkten, Überblick über deren Verwendung „hinge“ die sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Phänomenen Muster und Abweichung „in der Luft“. In der Philosophie findet man zunächst die Auseinandersetzung mit dem ontologischen und anthropologischen Begriff der ,Andersheit‘ (s. 1.1). Bereits hier wird Bezug auf andere Disziplinen genommen: „Entsprechende Figuren einer […] Ah. begegnen uns im Kontrast von Gestalt und Grund […] in der Abweichung von bestehenden Normen oder in Prozessen der Sinnverschiebung, wie sie uns aus Gestalttheorie, Semiotik, Poetik oder Psychoanalyse bekannt sind“ (Waldenfels 1999, 65). In der philosophischen Ästhetik geht es zudem um die Beschäftigung mit Abweichen als einer ästhetischen Erscheinung. Für die philosophische Ästhetik, die sich mit Wahrnehmungen aller Art (Welsch 1993, 9) und auf Gefühl beruhenden Erfahrungen (Recki 1999, 1031) befasst, ist das Phänomen der Abweichung zentral. Wenn man Ästhetik nicht als das Schöne, sondern als das Sinnenhafte versteht, folgt daraus ein Verständnis vom Ästhetischen als im Dienste der Wahrnehmbarkeit überhöhte, sichtbar gemachte Gestalt (Fix 1996). Wo die Form hervorgehoben wird, entsteht Ästhetisches. Wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit der durch die Fülle ästhetischer Angebote (Ästhetik) abgestumpften (Anästhetik, vgl. Welsch 1993, 16) Rezipienten zu wecken, kommt Andersheit zum Tragen. Hervorhebung wird vollzogen, indem man über das Gewohnte hinausgeht und bevorzugt zu Verfahren greift, deren Wesen im Bruch kultureller Konventionen besteht.
2.2. Semiotik/Zeichenhatigkeit Stil ist „Teil eines umfassenden Systems von Zeichen, Symbolen und Verweisungen für soziale Orientierung“ (Soeffner 2000, 84). Er entsteht als „Vergemeinschaftungs- und Distinktionsmuster“ (ebd., 79) durch die Verwendung von Zeichen verschiedenster
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Codes. Dieser semiotische Ansatz spielt in soziologischen, literatur-, kultur- und sprachwissenschaftlichen Überlegungen eine Rolle. Eco (1972) entwickelt, bezogen auf ästhetische Phänomene, denen er Ambiguität und Selbstreflexivität zuspricht, eine Vorstellung von Semiose (ebd., 149), die auf jeder Ebene des Artefakts ⫺ er verwendet ein sprachliches („a rose is a rose is a rose is a rose“) ⫺ Abweichungen konstatiert: auf den Ebenen der physikalischen Träger (Töne, Material), der differentiellen Elemente (Rhythmus, Metrik), der syntagmatischen Beziehungen, der denotierten und konnotierten Signifikate und der auf all diesen Informationen beruhenden Erwartungen. „Es etabliert sich eine Art Netz von homologen Formen, das den besonderen Code dieses Werks bildet.“ (ebd., 151) Mit Bezug auf Spitzers Auffassung, dass sich das Ästhetische als Verstoß gegen die Norm verwirkliche, schließt Eco, dass „alle Ebenen der Botschaft die Norm nach derselben Regel [verletzen]“ (ebd., 151). Ein derart entstandener Idiolekt erzeuge Nachahmung und schließlich neue Normen. Mukarˇovsky (1982) entwickelt eine „semiologische“ Vorstellung von der Funktion des Ästhetischen, nicht nur bezogen auf künstlerische Texte. Sprache und andere Codes können an der Herstellung des ästhetischen Angebots beteiligt sein, das in der Rezeption den Prozess der Deautomatisierung fordert, im Gegensatz zur routinehaften Rezeption des „normalen“ Angebots. Nicht ,Ambiguität‘ wie bei Eco (Verdichtung), sondern ,Hervorhebung‘ (Verdeutlichung) ist sein Schlüsselbegriff. Die Leistung des Ästhetischen ist für ihn die „maximale Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen gegebenen Gegenstand“ (1982, 32 f.), dessen Hervorhebung durch die Form also. Diese isolierende Funktion macht das Ästhetische auch geeignet, als sozial differenzierender Faktor zu wirken (s. 2.3).
2.3. Soziologie/Soziologische Ästhetik In der Soziologie hat der Begriff ,Stil‘ Konjunktur. Angesichts der zunehmenden Ästhetisierung der Lebenswelt, der „Versinnlichung von Handlungen, Prozessen, Strukturen“ (Kösser 2006, 453) durch Überhöhung in allen Lebensbereichen, wird die Herausforderung an das Individuum, sich ästhetisch zu präsentieren, sich dabei für soziales Anpassen oder Abheben zu entscheiden und diese Entscheidung zeichenhaft zu realisieren, zum Forschungsgegenstand. Stilisierungsverfahren, darunter auch die des Sprachverhaltens, werden beschrieben. Simmel geht schon Ende des 19. Jhs. unter anthropologischem und gattungsgeschichtlichem Aspekt auf das Wechselspiel von Beharren und Veränderung ein, soziologisch gesehen die Tendenz zu konventionellen oder eigenständigen Lebensformen (Simmel 1998, 57 f.). Die Vorstellung von Stil als Mittel des Anpassens an Kollektive wie des Abgrenzens von diesen begegnet als Grundmuster soziologischer Arbeiten später u. a. bei Bourdieu, Schulze und Söffner, die Stil verschiedenster alltagsweltlicher Lebensäußerungen (Mode, Gebäude, Kunstwerke, Texte, vgl. Soeffner 2000, 87) als zeichenhaft verstehen. Der für Bourdieu (1994, 60 f.) zentrale Begriff der ,Distinktion‘ ist zu verstehen als Gebrauch aller Mittel, die geeignet sind, die Stellung des Individuums in der Sozialstruktur durch Anderssein zu markieren. Das Bestreben nach Abheben vom Gewöhnlichen führt zu einer Erneuerung der „Kundgabemittel“ (ebd., 65 ⫺ herausgehoben werden die sprachlichen „Kundgabestile“, ebd., 69 f.) ⫺, da diese die Fähigkeit, Unterschiede zu markieren, durch allgemeinen und häufigen Gebrauch mit der Zeit einbüßen. Für Schulze (1995) spielt in der „Erlebnisgesellschaft“ Ästhetisierung eine bestimmende Rolle. Ausgehend von einem mit dem Verschwinden der Großgruppengesellschaft ver-
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bundenen Individualisierungsschub, stellt er einen starken Orientierungsbedarf des Einzelnen fest (ebd., 18). Das Vakuum an traditionellen Regulierungen bringt das Bedürfnis nach neuen sozialen Mustern ⫺ „Stil und Stiltypen, alltagsästhetische Schemata, soziale Milieus“ (ebd., 62) ⫺ hervor, dem das Bedürfnis nach Herausstellung von Individualität und Kultivierung der Unterschiede gegenübersteht, das zur Etablierung von Distinktionsmustern führt, die jedoch notwendigerweise wieder in Konformität umschlagen. Milieus werden von Schulze auch durch ihren Sprachgebrauch charakterisiert, wobei er die Vielfalt der hier zu findenden Distinktionsmöglichkeiten bei weitem nicht ausschöpft. Soeffner konstatiert, dass Individuen mit ihren Stilisierungshandlungen zum einen auf soziale Zugehörigkeit verweisen, dass sie zum anderen aber auch ihre individuelle Stellung gegenüber der eigenen Gruppe anzeigen (Soeffner 2000, 82). Dieser Einbindung von Individuen in eine kollektive Darstellungsform auf der einen Seite und der Abgrenzung gegenüber Kollektiven auf der anderen Seite geht „die strukturelle Differenz von Individuum und Kollektiv voraus“ (ebd., 80). In der Gruppenkonkurrenz entstehen so zwangsläufig auch Stilkonkurrenzen. Der Druck, sich einen geeigneten Stil zu suchen, findet ein Ventil in der Andersheit.
2.4. Psychologie/Psychologische Ästhetik Die psychologische Ästhetik, mit fließenden Grenzen zur philosophischen und soziologischen Ästhetik, heute u. a. gestalttheoretisch, kognitiv-konstruktivistisch angelegt, befasst sich mit dem Phänomen der Wahrnehmung des Gestalthaften. Zentraler Gedanke ist, dass es für Ästhetisches Wahrnehmungsschwellen gibt. Ein Objekt muss eine bestimmte Reizstärke haben, um wahrgenommen zu werden und Lust oder Unlust zu erzeugen. Durch Steigerung des ästhetischen Eindrucks ⫺ durch Abweichen vom Üblichen ⫺ wird die Wahrnehmungsschwelle, wenn sie zu hoch gelegen hat (Erwartung stärkerer Reize), wieder überschritten. „Lust entsteht bei Herausforderung unserer psychophysischen Potenzen, Unlust bei Unter- oder Überforderung“ (Kösser 2006, 247 f.). Die Nähe zur philosophischen Ästhetik wird in der Verwandtschaft der Vorstellungen mit denen von Ästhetik und Anästhetik (s. 2.1; Welsch 1993), die Nähe zur soziologischen Ästhetik z. B. in Simmels Überlegungen zur ästhetischen Wahrnehmung deutlich: Selbstbehauptung des Einzelnen gegenüber der Massengesellschaft durch den Stil, in der wahrnehmbar gemachten „individuelle[n] Differenzierung“ (Simmel 1998, 58). Der Umgang mit Anpassen und Abheben, der die Fähigkeit voraussetzt, vor dem Hintergrund von Konventionen (Städtler 1998, 607) etwas Neues zu schaffen, ist ein Fall von Kreativität und somit Gegenstand auch der differentiellen ⫺ divergentes Denken untersuchenden ⫺ Psychologie. Dem reproduktiven Sprachgebrauch (Stein 1995, 103 ff.), der von der Vorgeprägtheit des sprachlichen Handelns bestimmt ist, steht das kreative, durch den Bruch von Normen charakterisierte sprachliche Handeln gegenüber.
2.5. Kulturwissenschat/Tradition und Identität In den Kulturwissenschaften spielt das Problem des Abweichens u. a. eine Rolle bei der Bestimmung der zentralen Kategorien ,Tradition‘ und ,Identität‘. Tradition, eine anthropologische Konstante, ist für die Fortexistenz von Gesellschaften, für deren Überliefe-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik rungsprozesse zuständig. „Texte sollen genauso gelesen, gelernt, erinnert [und geschrieben U. F.] werden wie ehedem“ (Auerochs 2004, 24) Das geschieht in Verbindung von Selbstverständlichkeit und Normativität und konstituiert ein Zugehörigkeitsgefühl (ebd., 27). Tradition verfügt über restriktive wie über kreative Funktionen. Gegenüber der restriktiven führt die kreative Funktion zum Abweichen und damit möglicherweise zur Herausbildung neuer Traditionen: Texte werden nun anders geschrieben, gelesen und gelernt. Assmann (2006) unterscheidet zwischen „Inklusions-Identität“, die durch „opting in, d. h. durch Übernahme einer sozialen Rolle und Erwerb von Identität durch Zugehörigkeit“ entsteht, und „Exklusions-Identität“, die durch „opting out, d. h. durch Markierung einer Differenz zwischen dem eigenen Ich und allen vorformulierten sozialen Rollen“ gebildet wird (ebd., 215). Die Notwendigkeit, eine Differenz zum Vorformulierten herzustellen, bringt den ständigen Zwang „zur Erneuerung, Überbietung, Überhöhung“ mit sich (Assmann 1986, 128).
2.6. Literaturwissenschat/Abweichungsästhetik In der Literaturwissenschaft spielt das Abweichen u. a. unter literaturgeschichtlichem, kunstphilosophischem, evolutionstheoretischem, strukturalistischem und kulturwissenschaftlichem Aspekt eine Rolle. Als ein Topos der Literaturgeschichte kann gelten, dass poetische Regelhaftigkeit, die in Verbindung mit dem „aktuellen, genuin neuzeitlichen staatlichen Ordnungsbedürfnis“ der Zeit steht (Brenner 2004, 28), ein besonderes Merkmal der Literatur des 17. Jh. ist. Aber auch hier ist Abweichung eine Größe: „Das dominierende Kennzeichen der Barockliteratur wird ihr Drang zur Reglementierung sein […], das Zusammenspiel von Regel und Abweichung bleibt eine auffällige Eigenheit ihrer Entwicklung“ (Brenner 2004, 25). Im 18. Jh. ändert sich das aus politischen, geistesgeschichtlichen, philosophischen, ästhetischen Gründen (Stolt 2003, 2595 f.). „Die Künste, insbes. Literatur und Musik, [emanzipieren sich] von den Normen der traditionellen Regelwerke und [finden] zu jener Autonomie, durch die sie dem Selbstbewusstsein des modernen Menschen zur Darstellung verhelfen“ (Recki 1999, 1032). Bis heute bestehe, so Luckscheiter über die Erzählliteratur in diesem Handbuch, der Erwartungsdruck der Moderne, innovativ zu sein und von der Alltagssprache abzuweichen. Gegen die Vorstellung von „historischer Bedingtheit“ und „epochaler Begrenztheit“ der Abweichungsästhetik wendet sich Fricke (2000, 55). Für ihn ist Abweichung ein konstitutives Element von Literatur schlechthin, als kunstphilosophisches Modell stelle sich die Konzeption von Norm und Abweichung dem Anspruch, „Beschreibungskategorien für Kunstwerke aller Zeiten und Sparten“ anzubieten“ (ebd., 55), was Kumulationen nicht ausschließe: „Zumindest das späte 18. wie das frühe 19. Jahrhundert […] erweisen sich als eine einzige Fundgrube für die Geschichtsschreibung einer Ästhetik der Abweichung“ (ebd., 56). Bezogen auf Stil äußert sich van Peer aus evolutionstheoretischer Sicht zum Problem von Muster und Abweichung als Erscheinung zwischen Epigonentum und Kreativität. Im Dienste sozialer Integration folgt der Mensch durch Verwendung imitativer Formen einem herkömmlichen Stil. Im Sinne „einer […] menschlichen Entwicklung, die alle Tendenzen zum Experimentieren und zu Neuschöpfungen […] umfasst“ (van Peer 2001, 48), kreiert er neue Stile. Das Wesen strukturalistischer Ansätze zum Erfassen poetischer
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Abweichungen besteht darin, dass sie die poetische Funktion eines Textes als bewusste Abweichung von der Norm untersuchen. Diese Abweichungen vom „Normalen“ gelten jedoch als „in höchstem Grade angemessen“ (Oomen 1980, 266). „Sie lassen sich automatisch, allgemein verbindlich und eindeutig interpretieren, wenn man die Regelhaftigkeit herausfindet, durch die sie sich auf normale Ausdrücke zurückführen lassen“ (ebd., 270). Die poetische Ausdrucksweise gilt als eine verfremdende Ausschmückung des eigentlichen Sprechens, die im Interpretationsvorgang „durchschaut“ werden muss. Aus kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive fragt Assmann (1988), wie es zu erklären ist, dass das Abweichen vom Üblichen, sogar die Regelverletzung in literarischen Texten nicht auf Rezeptionswiderstände stoße. Es setze, so Assmann, eine spezifische Art von Semiose ein, die in der Intention des Produzenten gelegen haben muss und die die Rezipienten zu vollziehen bereit sind, die sie der Aufnahme regelhafter Texte sogar vorziehen. Es geht um Wahrnehmen durch Bevorzugen und Ausblenden zugleich. Was wahrgenommen wird, ist durch einen freien Umgang mit Normen gelenkte „wilde Semiose“.
3. Rhetorik: Deviation, Normen und Überormung 3.1. Deviation Von den Kategorien der Rhetorik sind für unseren Gegenstand v. a. zentral: ars (Beherrschung eines Regel- und Definitionskanons), imitatio (Nachahmung mustergültiger Beispiele), aptum (Angemessenheit an Situation im weiten Sinne), deviation (Abweichung von einer Normsprache) und Figuren (strukturell verfestigte Sprachmuster). Nach der bis heute in der Rhetorik präsenten Deviationstheorie gelten Figuren aufgrund ihrer Ungewöhnlichkeit als Abweichungen vom „normalen“ Sprachgebrauch. Trotz offener Fragen wie z. B., ob man alle Figuren als abweichend erklären kann, ob der „normale Sprachgebrauch“ ein geeigneter Bezugspunkt ist und ob man auf andere Bezüge, wie z. B. die außersprachlich motivierte Wahl, verzichten kann, sind Beschreibungssysteme für Figuren als Abweichungen nach wie vor im Blick. Zentraler Gedanke ist dabei, dass die Deviationstheorie ihren Gegenstand als die Art von Abweichung versteht, die mithilfe etablierter sprachlicher Operationen zu den Figuren der Änderungskategorien ,Verkürzung‘, ,Erweiterung‘, ,Umstellung‘, ,Ersetzung‘ (andere Klassifikationen: Knape 1992, 549 ff.) führt. Abweichung wird ⫺ anders als im alltagssprachlichen Verständnis ⫺ als regelgeleitet betrachtet (vgl. aber 2.6). Der Hintergrund für Änderungskategorien und Deviation wird verschieden bestimmt, wobei der Ansatz, Abweichung an der Nichteinhaltung von „Normalsprache“ zu messen, als obsolet gilt; denn tatsächlich können rhetorische Figuren nicht als „nicht-normalsprachlich“ (Bachem 1992, 528) angesehen werden, da sie akzeptierten Regeln folgen. Dass diese akzeptierten Regeln ihrerseits auch gebrochen werden können (Lizenz), wird unter verschiedenen Aspekten betrachtet: Plett weist auf gewollte Inkongruenzen hin (1991, 25), Ueding auf die „bewusst unangemessene Stilebene“ (1985, 28) und Knape (2000a, 18) zeigt Gattungsbruch. Es geht um zwei Stufen des Abweichens: die Figuren als „regelgeleitete“ Deviation und der „funktional intendierte Normverstoß“ (Plett 1991, 25). Im Folgenden wird der Umgang mit Deviation an zwei exemplarischen Auffassungen gezeigt.
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3.2. Deviation als Abweichung von primären und sekundären Normen Plett (2000) setzt sich in einem generativen Rhetorikmodell mit dem Problem des „Hintergrundes“, also mit der Frage, woran Abweichungen gemessen werden, auseinander. Er schlägt eine Lösung mit einem differenzierten Normbegriff und ein „neues FigurenModell“ (ebd., 20) vor, das alle Figuren als intendierte Abweichungen darstellt. Zeichentheoretisch begründet, werden nach den Bereichen Syntax, Pragmatik und Semantik drei Klassen von Abweichungen und drei Gruppen von Figuren abgeleitet: (semio)syntaktische, pragmatische, (semio)semantische, die sich auf das jeweils zugehörige Grammatik-, Kommunikations-, Realitätsmodell beziehen. So sind die syntaktischen Figuren z. B. durch Abweichung von der üblichen Kombinatorik der Lautzeichen, also von der standardsprachlichen Norm, gekennzeichnet. Die Abweichungsmöglichkeit sieht Plett in einer „rhetorischen Sekundärgrammatik“ (ebd., 20) beschrieben, die ebenfalls eine Norm bildet, die der „Rhetorizität des Sprachzeichens“ (ebd.). Man hat bei Figuren also immer mit zwei Normebenen zu rechnen, wobei die primäre ⫺ z. B. die syntaktische ⫺ die „Nullebene“ (degre´ ze´ro) darstellt, von der auf der sekundären ⫺ der rhetorischen ⫺ Ebene (Rhetorizitätsnormen) die Figuren gewollt abweichen. Pragmatische und semantische Figuren lassen sich ebenfalls als Deviation erfassen, abweichend von der „üblichen Norm der sprachlichen Kommunikation“ bzw. von der „üblichen Norm des Realitätsbezuges“ (ebd., 31). Die linguistischen Operationen, die die Transformation von Grammatik in Rhetorizität bewerkstelligen, unterscheidet Plett in solche, die primärsprachliche Normen verletzen („Lizenz: A-grammatikalität“ ebd., 21) und solche, die primärsprachliche Normen verstärken („Äquivalenz: Syn-grammatikalität“ ebd., 21). Den Vorwurf des Formalismus will er entkräften, indem er die „rhetorische Situation“ (ebd., 34), dominiert vom „persuasiven Zweck“ (ebd., 35), einbezieht. Defekte Formen („Ungrammatikalitäten“ ebd., 35) sowie unauffällige Deviationsformen (ebd., 36) wie „notwendige Metaphern“ (Flaschenhals, Buchrücken) schließt er aus. Nur in einer persuasiven Situation haben die Deviationsformen den Charakter von Figuren.
3.3. Deviation und Überormung Knape (2000b) wendet sich gegen die generelle Gültigkeit der Deviationstheorie als Erklärung für Änderungskategorien, also für Verfahren, die das Zustandekommen von Tropen und Figuren erfassen. In der Auseinandersetzung mit deren Wesen zeigt er vor dem Hintergrund von Quintilians Kategorie der Bewegung die Komplexität des Begriffs figura. Zum einen handelt es sich bei der Figurenverwendung selbstverständlich um Abweichung. Nach Quintilian müsse es darum gehen, partiell vom Üblichen abzuweichen. Diese Forderung erfüllt die Figur, weil sie entfernt ist von der sich zunächst anbietenden Ausdrucksweise (Knape 2000b, 160 f.). Zweifellos, so Knape, liegt dieser Auffassung eine Deviationstheorie zugrunde. Zum anderen weist Knape auf das Merkmal der Überstrukturierung hin, durch das Figuren auch charakterisiert sind: „Veränderung der einfachen, spontanen Ausdrucksweise nach Art des Poetischen oder Oratorischen“ (Knape 2000b, 162 f.). Das ist nicht Deviation, sondern „Erzeugung von zusätzlichen Strukturen, die vorgegebenen, kodifizierten, außergrammatischen Wohlgeformtheitsregeln gehorchen“ (ebd.). Es geht um Veränderungen nach den Regeln der rhetorischen Kunstlehre, die zu
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einem ästhetischen Mehrwert führen. Nur vor dem Hintergrund vom Wissen um „figurenfreie“ Rede hat man auch eine Vorstellung davon, was überstrukturierte, mehrwertige Rede ist. Änderungskategorien und Figuren repräsentieren also nicht nur das Abweichen von Erwartungen, sondern auch den Gewinn eines zusätzlichen Wertes (s. 2.6). Das Deviationsprinzip gilt nach Knape nur für den Bereich der grammatischen Figuren; denn erst vor dem Hintergrund einer Regelgrammatik können Abweichungen überhaupt entstehen und erkennbar werden. Das trift nicht zu für den Bereich der Tropen, da man von einem vergleichbaren Regelsystem für „richtigen“ Wortgebrauch nicht ausgehen kann.
3.4. Ablösung von Deviation durch Individuation Der Paradigmenwechsel des 18. Jh. ⫺ Etablierung des Faches Ästhetik (Baumgarten 1750/58), Begründung der Individualstilistik (Moritz 1785) und damit die Abwendung von der Regel-Rhetorik ⫺ bringt einen radikalen Bruch mit der rhetorischen Tradition der ars, exercitatio und imitatio. Der Maßstab des rhetorischen Regelwerks wird vom Ideal des Individualstils „als Ausdruck der Persönlichkeit, der sich jeder normativen Definition entzieht“ (Ottmers 1996, 207), abgelöst. Mit Moritz wird Stil als Ausdruck der persönlichen Empfindungen des Autors verstanden. Dreistillehre und Figuren mit Deviationspotential werden nun als mechanisches Regelwerk betrachtet, ungeeignet, einen natürlichen und individuellen Stil hervorzubringen. An ihre Stelle treten das stilistische Vermögen der „nicht regelhaften individualistischen natura des empfindenden Subjekts“ (ebd.) und eine wirkungsästhetische Sicht. Nicht mehr an die Vorgaben der Dreistillehre gebunden, hat das Individuum nun die nicht leichte Aufgabe, eigene Lösungen für seine Ausdrucksbedürfnisse zu finden. „Das eröffnet große, bislang nie da gewesene Spielräume.“ (Braungart 2004, 297), zu denen vor allem die „Sprachverletzungen“ mit Funktion (Fricke 2000, 14), der „kalkulierte Regelbruch“ (ebd., 59) gehören. Der Buchtitel „Regeln für Abweichungen“ (Dittgen 1989) zeigt exemplarisch, dass auch die scheinbar autonomen „Sprachverletzungen“ der Moderne nicht regellos verlaufen, wie man sich überhaupt dessen bewusst sein muss, dass bei aller Freiheit des Stils immer Regelbzw. Musterhaftigkeit (Sandig 2006) zu konstatieren ist. Zudem bilden rhetorische Figuren ein nach wie vor genutztes Arsenal, z. B. in journalistischen Texten.
4. Textstilistik: Verahren, Typisierungen, Brüche 4.1. Pragmatische Stilistik: Fortühren und Abweichen Die verschiedenen Arten von „Hintergründen“ für Abweichungen, die in der Stilistik im Laufe ihrer Entwicklung eine Rolle gespielt haben, Pattern, Regeln, Konventionen, innere und äußere Norm (s. 1.2), sind mit der Etablierung der Pragmatischen Stilistik (bei Püschel 2000: ,Handlungsstilistik‘), der Funktionalstilistik und der Gesprächsstilistik durch die nun dominierenden Begriffe vor allem des ,Musters‘, aber auch der ,Typisierung‘ abgelöst worden. Der Begriff der ,Erwartung‘ wurde, wenn auch unspezifiziert, beibehalten. Während in der Pragmatischen Stilistik die Vorstellung des Abweichens, stärker noch die des Unikalisierens, im Mittelpunkt stehen, sind sie in den beiden ande-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik ren Stilauffassungen eher Randphänomene. In der 1978 vorgestellten sprechakt- und handlungstheorisch begründeten und 1986 um die ethnomethodologische Perspektive erweiterten pragmatischen Stilkonzeption von Sandig spielt das Muster eine zentrale Rolle. Ausgangspunkt ihrer die konventionellen Stile von Gebrauchstexten in den Mittelpunkt stellenden Auffassung ist, dass eine linguistische Stilistik im Gegensatz zur Tradition das Regelhafte, Konventionelle zum Gegenstand zu machen hat (1978, 5), weil im sprechakttheoretischen Sinne die „Befolgung von konventionellen Formulierungsarten als für das richtige Verstehen relevant“ angesehen wird (ebd., 18). Demzufolge spielen Konventionen, Erwartungen (ebd., 11) und vor allem Muster ⫺ zentral sind Textmuster und Formulierungsmuster (ebd., 20) ⫺ eine bestimmende Rolle. Textmuster schriftlicher Texte sind nach dem Modell der Sprechakttheorie beschreibbar als komplexe Sprechakte „nach Voraussetzungen, Intentionen, Ergebnissen und Folgen“ (ebd., 69 f.). Als stilistischen Teil eines Textmusters setzt Sandig Stilmuster oder den konventionellen Stil an und meint damit „eine bestimmte Art von Formulierungsmuster, das Sprecher Adressaten gegenüber benutzen, wenn sie Texte nach einem Textmuster äußern“ (ebd., 26). Zu Stilmitteln werden auch Handlungsarten (Handlungsmuster) gerechnet (ebd., 34). Wenn Sprecher für den Vollzug von Texthandlungen gleichartige sprachliche Phänomene immer wieder gebrauchen, vollziehen sie auch immer wieder gleichartige sprachliche Handlungen (ebd., 32), sie bedienen sich des Handlungsmusters Fortführen, zu dem neben Wiederholen und Variieren auch Abweichen gehört: Werden stilistische Phänomene gezielt nicht fortgeführt, geht es um das Handlungsmuster Abweichen. In der Stilistik von 1986 verliert der Bezug auf das Konventionelle zwar nicht an Bedeutung, erhält aber ein Gegengewicht: Fortführen und Abweichen werden ergänzt durch die Textherstellungsverfahren Typisieren und Unikalisieren (ebd., 147 f.). Während beim Typisieren die Handlung nach den Vorgaben des Musters vollzogen wird, wird beim Unikalisieren als genereller Technik bewusst von Mustern abgewichen, Variationen, Mischungen werden hergestellt (ebd., 147). Unikalisieren führt also zum Auffälligen vor dem Hintergrund des durch Typisieren unauffällig gestalteten Hintergrunds. Zu den Funktionen des Unikalisierens zählt Sandig auch Selbstdarstellung und Beziehungsgestaltung des Produzenten und stellt so einen Bezug zu soziologischen Stilvorstellungen (s. 2.3) her. In der handlungs- und kognitionstheoretisch sowie konversationsanalytisch angelegten Textstilistik von 2006 führt sie das Konzept der Gestalttheorie ein, das mit Abweichen und Unikalisieren bereits angelegt war. Merkmalhafte und neutrale Elemente, das Auffällige und Unauffällige eines Textes, bilden zusammen die Gestalt. Typisieren und Unikalisieren sind die Prozesse, die die individualisierte merkmalhafte Figur vor dem neutralen typisierten Hintergrund herausarbeiten, also Wahrnehmbarkeit schaffen und Aufmerksamkeit wecken. Der Musterbegriff wird nun nicht mehr handlungstheoretisch, sondern kognitionslinguistisch bestimmt. Textmuster werden verstanden als ganzheitlich mental repräsentierte Gestalten prototypischen Charakters mit Funktion und Struktur. Typisierte Stile gelten folgerichtig als „prototypische Gestalten“ (ebd., 72). Abweichungen können nach diesem Konzept sowohl als Verhältnis von Vorder- und Hintergrund als auch als Mischung prototypischer Elemente verschiedener Muster betrachtet werden.
4.2. Funktionalstilistik: Stilzüge und Muster Die von der Prager Schule herkommende Funktionalstilistik (Riesel/Schendels 1975; Fleischer/Michel 1975) geht davon aus, dass es einen korrelativen Zusammenhang gibt zwischen Außersprachlichem (Tätigkeitsbereiche, Kommunikationssituationen) und für
77. Muster und Abweichung in Rhetorik und Stilistik dieses Außersprachliche typische sprachliche Gebrauchsweisen. Nach der Art dieser Korrelationen werden Funktionalstile unterschieden, z. B. die des Alltags, des Amtsverkehrs, der Wissenschaft, der Journalismus, der Belletristik, deren Zahl schwankt und die in Substile oder Textsorten untergliedert werden können. Diese sind durch dominierende Stilzüge gekennzeichnet, also Charakteristika des Gesamttextes, die zwischen den einzelnen Stilelementen und dem Stilganzen auf eine für den Tätigkeitsbereich oder die Textsorte charakteristische Weise vermitteln und nicht fehlen dürfen, wenn der Text einem Funktionalstil zugeordnet werden soll. Diese Auffassung versteht sich als auf das Funktionieren und auf Wirkung hin orientiert und rückt daher das Normative, d. h. die einen Funktionalstil dominierenden Stilzüge, in den Vordergrund. Abweichungen sind daher kein relevantes Thema, wenn auch individuelle Spielräume innerhalb der Vorgaben gesehen werden. Anders verhält es sich in der von den Autoren als formulierungstheoretisch bezeichneten Weiterentwicklung der Funktionalstilistik (Fleischer/Michel/Starke 1993). Sie arbeitet mit dem Prototypenkonzept der Gedächtnispsychologie: Begriffliches Wissen wird als vernetzt betrachtet, „in typischen Konstellationen und mit der Herausbildung von Prototypen (als Mustern mit hohem Typikalitätsgrad) angeeignet und gespeichert“ (ebd., 26). Das trifft auch zu für das Wissen über Textstrukturen und Stiltypen (offene Menge von Texten, die gemeinsame stilistische Dominanzen haben). Im Zentrum eines Stiltyps gibt es Prototypen, konkrete Texte mit hochgradiger Ausprägung der jeweils typischen Merkmale. An der Peripherie finden sich weniger typische Fälle. Das Wissen darum, was als prototypisch gilt, auch für Textsortenstile als wiederkehrende Muster (ebd., 35), teilen die Mitglieder der Sprachgemeinschaft im Wesentlichen. Den „Muster[n] für gesellschaftlich sanktioniertes Formulieren im Bezugsfeld der entsprechenden Textsorte“ (ebd., 52) wird normative Kraft zugesprochen. Möglichkeiten des bewussten Stil- und Musterbruchs, also der Abweichung, werden unter dem Stichwort der Expressivität vorgestellt.
4.3. Gesprächsstilistik: Typisierte Stile In ethnomethodologisch, konversations- und kontextualisierungsanalytisch sowie handlungstheoretisch angelegten Gesprächsstilistiken ist der Grundgedanke, dass Interaktionspartner in Kontextualisierungsverfahren einen für die anstehende Interaktion „,normalen‘, ,unmarkierten‘, ,unauffälligen‘ ,Referenzsprechstil‘“ erst aushandeln, der allerdings auch „Spielraum lässt für lokale Variation oder auch spätere Umdefinitionen“ (Selting 1989a, 203). Stil orientiert sich also nicht an situationsunabhängigen Faktoren wie Redekonstellation, Funktionsbereich, Textsorte, an denen eine etwaige Abweichung gemessen werden könnte, sondern er wird in Beziehung zum Kontext gemeinsam hervorgebracht und aus sozial und interaktiv interpretierten Merkmalen konstituiert. Dies geschieht allerdings nicht im luftleeren Raum, sondern in Relation zu paradigmatischen Alternativen: „aus denen aktiv und immer Sinn-konstituierend gewählt“ werden kann (Selting 1989b, 7). Es wird vollzogen mit Verwendung und in Abwandlung bereits vorhandener typisierter Stile, die als Ressource genutzt und in dem Sinne auch gemischt und gebrochen werden können. In diesem Sinne sind Abweichungen hier als Relation zwischen typisiertem Hintergrund und konkret ausgehandeltem Stil zu verstehen.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
4.4. Stilwissen im Textmusterwissen Die Betrachtung von Musterhaftigkeit im Stil ist von der Musterhaftigkeit der Texte nicht zu trennen. Dies bedeutet einerseits, dass es Stil nur im Textzusammenhang gibt und sprachliche Mittel außerhalb des Textes stilistisch nicht eingeordnet werden können, und andererseits, dass die reale Existenz eines Textexemplars auch vom Vorhandensein eines einheitlichen Stils abhängt. Ohne diesen sind Textmusterbezogenheit und Textualität eines Textes nicht zu erkennen (Fix 2005). Wie auch immer Textmusterwissen spezifiziert und beschrieben wird ⫺ Wissen über textkonstitutive Stilmuster gehört dazu, d. h. Kenntnis der stilistischen Muster und Verfahren, die sich in sozialer Konvention herausgebildet haben und in bestimmter Auswahl für ein jeweiliges Textmuster als kennzeichnend gelten. Stilmuster reichen von komplexen Textmusterstilen und Funktionalstilen, von Stilebenen, Stilschichten und typisierten Stilen (komplexe Ressourcen für bestimmte Kommunikationsaufgaben) über weniger komplexe, aber auch Textualität konstituierende wie Stilzüge bis hin zu punktuellen wie Stilfiguren, die teilweise ⫺ z. B. Anapher, Epipher, Parallelismus ⫺ auch auf Textzusammenhänge angewiesen sind. In handlungsorientierten Stilistiken haben auch Handlungsmuster als auf eine bestimmte Weise Stil herstellende Verfahren einen zentralen Platz. Abweichungsmöglichkeiten sind einerseits insofern gegeben, als Stilmuster dem Hervorheben (s. 3.3) dienen können, andererseits dadurch, dass es, wo es feste Stilmuster und -verfahren gibt, immer auch die Möglichkeit zum intendierten Stilbruch als einer eklatanten Art des Abweichens mit einer bestimmten Wirkung gibt.
4.5. Stilpotenzen nichtstilistischer Muster Auch nichtstilistisches Musterwissen ist eine Ressource für Stil. Wissensmuster, Handlungsmuster, Textmuster können, wenngleich keine stilistischen Phänomene, stilbildend eingesetzt werden, dann nämlich, wenn von ihnen intendiert abgewichen wird. Bei der Umsetzung können Produzenten verschiedene Möglichkeiten des Abweichens wahrnehmen, die bei der Rezeption vor dem Hintergrund der Kenntnis der Merkmale der Textsorte z. B. als stilistisch bedeutsam interpretiert werden. In dem Kontext spielen Verfahren wie Mustermontage, Mustermischung und Musterbrechung eine Rolle: Textmustermontage ⫺ Kopplung mehrere Textexemplare verschiedener Muster, die einer Intention folgen; Textmustermischung ⫺ prototypische Eigenschaften mehrerer Textmuster mischen sich in einem Textexemplar; Textmusterbruch ⫺ ein Textexemplar hat Züge eines Textmusters und darüber hinaus Eigenschaften, die sich keinem Muster zuordnen lassen (Fix 1999; vgl. auch Musterimplementierung, Mustermix, Mustereinbettung bei Sandig 2006, 165). Das Spiel mit den Mustern ist ein immer häufiger zu beobachtendes Phänomen der „Grenzüberschreitung“, wie es in literarischen und nichtliterarischen Texten als Nutzung typologischer Intertextualität (Text-Textsorten-Bezug) begegnet. Dieser dem „normalen“ Gebrauch entgegengesetzte Umgang mit Textmustern hat das Ziel, die Aufmerksamkeit aus der Fülle der Texte gerade auf diesen zur Rede stehenden zu lenken und eine verfremdete Semiose in Gang zu setzen.
77. Muster und Abweichung in Rhetorik und Stilistik
1313
4.6. Stilistische Einheit eines Textes - Stilbruch Während es innerhalb verschiedener Stilauffassungen mittlerweile einen Konsens über die Textgebundenheit von Stil gibt, ist die Lage in der Textlinguistik anders. Zwar wird in der Regel „fraglos vorausgesetzt, dass dem Text Stil eignet […] Eine Entfaltung der Rolle, die Stil für den Text spielt, wird jedoch nicht geboten“ (Püschel 2000, 479). Die Tatsachen, dass ein Text eine sprachliche Einheit bildet, dass beim Textherstellen ein einheitlicher Textgestus hergestellt und damit sowohl ein individueller Textstil kreiert als auch ein der Textsorte angemessener Ausdruck gefunden wird (Fix 2005), können als Textualitätskriterien gelten. Mit dieser Einheitlichkeit wird in Textmustermischungen z. B. (s. 4.4) bewusst gespielt und Abweichung erzielt. Neben Stil als textkonstitutivem Mittel gibt es aber auch das Phänomen des Stilbruchs als ungewollte Vermischungen von Stilebenen, Stiltypen, Darstellungsarten u. a., die nicht als intendierte Abweichungen wirken, sondern als funktionsloser Verstoß, der die Texteinheitlichkeit und damit die Rezeption gefährdet. Bei aller Verschiedenheit der hier vorgestellten Arten und Auffassungen von Abweichung wird doch deutlich, welch zentrale Funktion der Vorgang des Abweichens für die rezipientenorientierte Textgestaltung hat.
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77. Muster und Abweichung in Rhetorik und Stilistik
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
78. Situation als Kategorie von Rhetorik und Stilistik 1. 2. 3. 4. 5.
Situative Grundkonstellationen Zum Stellenwert von ,Situation‘ für die theoretische und praktische Rhetorik ,Situation‘ als Theorieelement in der Stilistik Zur Situationstypik von rhetorischen Gattungen und Stiltypen Literatur (in Auswahl)
Abstract The article deals with a number of views on the role of situational context both for rhetorical communication and stylistic variation. It examines the impact of the category of situation on the derivation of rhetorical or stylistic rules which do not only establish relations between particular situational aspects and characteristic details of speech/conversation/style but also between types on both sides. It is evident that it is impossible to apply the category of situation without taking into account the participants and their activities in a communicative act.
1.
Situative Grundkonstellationen
1.1. Die situative Grundkonstellation der rhetorischen Kommunikation Rhetorik und Stilistik haben mit anderen textwissenschaftlichen Disziplinen (Textlinguistik, Literaturwissenschaft) gemeinsam, dass Erscheinungsformen und Regularitäten der Textkonstitution weitgehend situationsunabhängig beschrieben werden können. Das Hauptaugenmerk kann in der Rhetorik auf die Beschreibung universell verwendbarer Argumentationsmuster gerichtet sein oder auf allgemein verfügbare Ordnungsprinzipien für die Darstellung eines Sachverhalts, in der Stilistik auf die Beschreibung grammatischlexikalischer Stilelemente oder bestimmter Stilmuster wie Nominal- und Verbalstil. Sobald Texte (i. w. S.) und Stile in den Rahmen eines kommunikativen Ereignisses bzw. einer sozialen Veranstaltung (z. B. Gerichtsverhandlung, Wahlkampfveranstaltung, Predigt) gestellt werden, kommt die Situierung der (stilistischen) Textkonstitution in das Blickfeld. In der Ausrichtung auf Letzteres liegen bekanntlich die Wurzeln der Rhetoriktheorie, ist zugleich ihre (wiederentdeckte) Spezifik im Ensemble der textwissenschaftlichen Disziplinen begründet. Rhetorische Situationen im ursprünglichen Sinne liegen dann vor, wenn sie „ein Procedere notwendig machen, das im Austausch der Meinungen eine Klärung über den vorliegenden Sachverhalt ermöglicht, ohne daß für diese Klärung eine übergeordnete und von allen fraglos akzeptierte Perspektive eingenommen werden kann“ (Ptassek 1993, 7). Es handelt sich also um eine problembehaftete situative Konstellation: aus der Sicht des Redners um eine Konflikt- bzw. Streitsituation, aus der Sicht des Redepublikums um eine Entscheidungssituation, insofern als es sich vor die Entscheidung gestellt sieht, einer vorgebrachten Meinung zuzustimmen oder ihr eben die Zustimmung zu verweigern. Diese Bestimmung des Rhetorischen, festgemacht an der Spezifik
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einer Problemsituation zwischen Redner und Redepublikum, orientiert sich an den spezielleren situativen Rahmenbedingungen klassischer Rhetorikbereiche (gemeint sind insbesondere forensische und politische Rhetorik bzw. Gericht und Parlament), so etwa an Platons Rekonstruktion situativer und sozialer Voraussetzungen für rhetorische Kommunikationsereignisse am Beispiel des Interagierens von Redenden vor Gericht. Diese müssten sich, wenn sie sich behaupten wollen, um sozial überleben zu können, bestimmten Bedingungen unterwerfen ⫺ Bedingungen notorischen Zeitmangels, restriktiver Parteilichkeit, strategischen Kommunikationsverhaltens u. a. (vgl. Kopperschmidt 1999, 13). In rhetorischen Situationen müssen sich Menschen durch Reden (oder Schreiben) behaupten, wenn sie ⫺ im übertragenen wie nichtübertragenen Sinne ⫺ überleben wollen. Rhetorik reflektiert solche Situationen einschließlich der für sie geeigneten kommunikativen Verhaltensmuster. Wer das Wesen von Rhetorik verstehen will, muss ihre anthropologischen Voraussetzungen kennen (vgl. Blumenberg 1991; Kopperschmidt 1999).
1.2. Die situative Grundkonstellation bei stilistischer Variation In vergleichbarer Weise ist eine allgemeine Theorie des Stils auf ein anthropologisches Fundament zu stellen (vgl. van Peer 2001, 40 ff.). Die Frage nämlich, warum es stilistische Variation (im Sprachlichen wie Nichtsprachlichen) überhaupt gibt, führt zu zwei unterschiedlichen Grundmustern menschlichen Verhaltens: Zum einen gibt es das Muster der Anpassung an Usuelles/Normatives, dessen Befolgung sozialen Nutzen verspricht, da sie im Interesse einer optimalen sozialen Interaktion liegt; zum anderen gibt es das Muster des Abweichens vom Usuellen/Normativen bzw. des „Experimentierens mit dem Unbekannten“ (ebd., 48), was dem Bedürfnis nach Abgrenzung, dem Wunsch nach kreativem Tätigsein oder auch der Notwendigkeit entspricht, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen, und was insgesamt gesehen die zweite Seite der funktionalen Natur des Stils ausmacht. Bei Assmann (1986, 128) lesen wir in diesem Zusammenhang wesentlich früher von zwei „stilträchtigen Strategien“: der Strategie des Anschlusses an eine Gruppe (opting in) und der des Austritts aus einer Gruppe (opting out). Die anthropologischen Wurzeln der Stilistik zeigen, dass Kommunikationsteilnehmer, indem sie einen Stil imitieren (Anpassung) oder kreieren (Abweichung), sich nicht zwangsläufig in einer Problemsituation befinden müssen. Beide Funktionen des Stils können indes eine rhetorische Dimension erhalten ⫺ je nachdem, ob im Anschluss- oder Austrittsverhalten die geeignete Kommunikationsstrategie gesehen wird, das angestrebte Redeziel zu erreichen. In der Wählbarkeit eines dieser beiden Verhaltensmuster mit ihren je besonderen sozialen Zielrichtungen ist die situative Grundkonstellation bei stilistischer Variation zu sehen. Der Textproduzent befindet sich in einer Entscheidungssituation, allerdings nicht generell im Sinne eines Entweder-Oder. Erstaunlicherweise zeigen gerade die Stilanalysen eines Leo Spitzer, dass bei stilistischer Variation auch ein Kompromiss zwischen Normbefolgung und Abweichung möglich ist, der seinerseits zur Norm werden kann (vgl. Neuschäfer 1986, 285 ff.). Dass sich Spitzers Analysen im Spannungsfeld zwischen den beiden stilträchtigen Strategien bewegen, erstaunt deshalb, weil bei ihm der Text erklärtermaßen in sich selbst ruht und stilkonzeptionell vordergründig als ein einmaliges, autonomes, von äußeren Umständen unbeeinflusstes Gebilde begriffen wird.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
2. Zum Stellenwert von ,Situation ür die theoretische und praktische Rhetorik 2.1. Verweise au ,Situation bei der Bestimmung des Rhetorischen und seiner Bereiche Wie in 1.1 festgestellt, entscheidet die jeweilige Blickrichtung auf rhetorische Textkonstitution über den Stellenwert der Kategorie Situation für die rhetorische Theorie und Praxis. Die „Allgemeine Rhetorik“ von Dubois u. a. (1974) wird ihrem Namen nur insofern gerecht, als sie, gestützt auf literarische (vorrangig poetische) Texte, eine theoretische Neufassung der elocutio anstrebt. Rhetorik sei die Kenntnis der für die Literatur charakteristischen sprachlichen Verfahren (ebd., 45), womit figurative Verfahren des Abweichens von einer Normalform gemeint sind. Situationsaspekte spielen keine nennenswerte Rolle; sie kommen lediglich in den Beispielanalysen zum Tragen, indem einige der als abweichend begriffenen Sprachformen in den Kontext wissenschaftlicher Veröffentlichungen und privater Alltagsgespräche gestellt werden und Besonderheiten der Rede der Bühne und des Films zur Sprache kommen. Selbst bei den herausgehoben beschriebenen „Erzählfiguren“ und „Figuren der Kommunikationspartner“ interessiert allein deren Systematisierbarkeit nach den streng strukturbezogenen Regeln des aufgestellten Systems. ,Situation‘ ist hier demnach nicht mehr als ein gewisser außersprachlicher Rahmen für die Exemplifizierung rhetorischer Figuren. Ein völlig anderes Verständnis von einer Allgemeinen Rhetorik tritt zutage, wenn man den Ursprungsbedingungen des Rhetorischen in der Antike zu folgen bereit ist. Dann nämlich kommen Beredsamkeit und die spezifische Problemsituation (vgl. 1.1) als qualifizierende Merkmale eines Kommunikationstyps in Betracht, der in das Zentrum einer Allgemeinen Rhetorik gerückt werden kann: die persuasive Kommunikation (vgl. Ottmers 1996, 15). ,Situation‘ wird dann zum Kriterium für die Bestimmung des Gegenstands von Rhetorik. Während sich ⫺ wie zu registrieren war ⫺ eine rhetorische Systematik weitgehend anhand literarischer Texte entwickeln lässt, wird rhetorische Kommunikation in ihrer Komplexität erfassbar, wenn man nach den Erscheinungsformen von Persuasion fragt. In die Zuständigkeit von Rhetorik fallen dann sämtliche Formen der mündlichen und schriftlichen Beredsamkeit, weiter untergliedert in monologische und dialogische Redeformen (wie Predigt und Debatte) zu allen öffentlichen und privaten Anlässen (vgl. ebd., 6). Wie zu erkennen ist, zeigen diese Kommunikationsformen eine Bindung an spezifische Situationsaspekte: (1) das Medium der Kommunikation (mündlich/schriftlich), (2) die Kommunikationsrichtung (monologisch/dialogisch), (3) den sozialen Sektor der Kommunikation (privat/öffentlich). Die einzelnen Situationsaspekte dienen als Kriterien für die Erfassung der Vielfalt an rhetorischen Kommunikationsformen. Das Kommunikationsziel der Persuasion, d. h. die strategiegeleitete, entscheidungsstimulierende Einflussnahme auf das Denken, Fühlen und Handeln von Kommunikationspartnern, stellt sich immer nur in einer Problemsituation der beschriebenen Art. Rhetorische Situationen können aber auch umfassender definiert werden ⫺ mit der Konsequenz, dass der Gegenstandsbereich der Rhetorik eine weitere Ausdehnung erfährt. Rehbock (1980, 297 f.) z. B. bezieht rhetorisches kommunikatives Handeln auf alle die Situationen, in denen eine Kommunikationsbarriere in Gestalt von Rezeptionsschwierigkeiten, Wahr-
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nehmungs- und Reaktionshindernissen antizipiert wird, begleitet von Überlegungen, welcher zusätzliche kommunikative Aufwand zu betreiben ist, wenn sie überwunden werden soll. Kommunikationsbarrieren in der persuasiven Kommunikation bestehen in der unterstellten Differenz (Asymmetrie) zwischen den Kommunikationsteilnehmern in Bezug auf Meinungen, Haltungen, Überzeugungen und dergleichen mehr. Außerhalb der für Persuasion maßgebenden Situation hingegen liegen dann etwa die Antizipation einer zu geringen Verstehenskompetenz (bei der Wissensvermittlung) oder einer zu schwach ausgeprägten mentalen Zuwendung zu Personen/Sachen (z. B. bei mangelnder Gesprächsbereitschaft). Bei diesem Rhetorikverständnis erscheint das Rhetorische als ein Spezialfall des Kommunikativen und das Persuasive als ein Spezialfall des Rhetorischen. ,Situation‘ fungiert des Weiteren als Kriterium für die Differenzierung zwischen verschiedenen rhetorischen Kommunikationsbereichen. Klassische Bereiche sind die forensische, politische, homiletische und literarische Rhetorik; moderne die Medien-, Verkaufsund Bewerbungsrhetorik. Der Situationsaspekt ,Kommunikationsbereich‘, definiert als „soziale Sphäre mit den für sie charakteristischen Institutionen (i. w. S.) und Sozialbeziehungen“ (Fleischer/Michel/Starke 1996, 37), bildet dabei auch den Bezugsrahmen, um Veränderungen gegenüber den Ursprungsbedingungen von Rhetorik aufzuzeigen. So gilt aktuell für den Bereich der politischen Rhetorik u. a., dass das, was Politiker in einer demokratischen Gesellschaft öffentlich sagen, so gesagt werden muss, dass der Weg für politische Kompromisse freigehalten wird (vgl. Kammerer 1995, 24). Auch lassen sich innerhalb eines kommunikativen Rhetorikbereichs kulturelle bzw. interkulturelle Besonderheiten darstellen, beispielsweise ⫺ um im Bereich der Politik zu bleiben ⫺ Eigenheiten des Wahlkampfes in den USA (vgl. u. a. Ketteman 1994). Wie weit oder wie eng ein Kommunikationsbereich abgesteckt, in welche Teilbereiche er aufgegliedert wird, ist von speziellen Erkenntnisinteressen und praktischen Bedürfnissen abhängig (vgl. Fleischer/ Michel/Starke 1996, 36). Die neuere Rhetorikforschung entdeckt denn auch immer neue kommunikative Sphären für sich selbst, z. B. die Esoterik, die gewerkschaftliche Bildungsarbeit oder den Unterrichtsraum als Austragungsort für gesprächsrhetorische Wettspiele (vgl. die Beiträge in Mönnich 1999).
2.2. Situationskonzepte bei der Modellierung von rhetorischer Kommunikation Die sich nun anschließende Betrachtung der vom jeweiligen Rhetorikverständnis geleiteten Modellierung des Aufeinanderbezugs von Rede und Situation behandelt die Frage, welche Konsequenzen das betreffende Situationskonzept für die Erfassung und Akzentuierung von Situationsaspekten hat. Die einzelnen Konzepte zeigen nicht nur, wie verschieden ,Situation‘ bestimmbar ist, es wird auch deutlich, dass dem jeweiligen Konzept eine Schlüsselrolle zukommt bei der Darstellung des Situationsbezugs von Redegattungen, Stilarten o. Ä. sowie bei der theoretischen Fundierung der für wesentlich gehaltenen rhetorischen Erfordernisse. Unter Letzteres fallen beispielsweise die Beachtung von Redemaximen, die Abstimmung von Emotionsbekundungen auf den Redeinhalt, die Konzentration auf bestimmte Redezwecke bzw. -funktionen oder die Herstellung von Gemeinsamkeit zwischen den Kommunikationsteilnehmern.
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2.2.1. ,Situation als rededeterminierendes Umeld Einzugehen ist zunächst auf das tradierte Denkmuster, dass jegliche Rede insofern situativ determiniert ist, als die Redesituation ein Umfeld bildet, aus dem sich detaillierte Forderungen nach Angemessenheit (aptum) ableiten, denen sich Redner zu stellen haben, wenn sie ihr Redeziel erreichen wollen. Bei der auf Aristoteles zurückgehenden Situationstrias aus Redner (Rednerpersönlichkeit), Sache (Gegenstand der Rede) und Publikum gilt es Letzteres als grundsätzlich „richtunggebende Instanz“ (Ueding/Steinbrink 1994, 216) zu beachten, denn „der Zweck der Rede ist nur auf ihn, den Zuhörer, ausgerichtet“ (Aristoteles 1999, 19). Redesituationen werden als ein Komplex von äußeren Umständen begriffen; Raum und Zeit finden ebenso Berücksichtigung wie sozialgeschichtliche Einflussgrößen. Ottmers (1996, 152 f.) differenziert zwischen der konkreten Redesituation und der übergeordneten sozialen, politischen oder historischen Situation, so dass sich aptum-Relationen auch in ihrer historischen Wandelbarkeit erfassen lassen. Angemessenheitsforderungen wandeln sich naturgemäß, wenn sich die Rahmenbedingungen von Rhetorik ändern, wie dies für die einzelnen Rhetorikbereiche, so auch für den Bereich der Politik (vgl. Kammerer 1995), zu konstatieren ist, oder wenn sich ein Umdenken bei der Lösung kommunikativer Standardaufgaben abzeichnet, z. B. bei einem sich wandelnden Predigtverständnis. Roelofsen (1999a, 173) spricht ⫺ die gegenwärtige Praxis des Predigens beobachtend ⫺ von der „Wiedereinführung der Rhetorik in die Predigtarbeit“. Zusammenhänge zwischen Situationsaspekten und Redemerkmalen werden dem klassischen rhetorischen Kanon zufolge durch aptum-Muster (Ottmers 1996, 153) hergestellt, die für sämtliche Stadien der Verfertigung von Rede zur Verfügung stehen. Der für das Stadium der elocutio geltende Regelapparat erfasst insbesondere die folgenden situativ determinierten aptum-Relationen mit Einschluss geeigneter Redemittel (vgl. Plett 2001, 28 f.): (1) Stil ⫺ Redner (gefordert wird u. a. eine dem Ethos des Redners angemessene Ausdrucksweise); (2) Stil ⫺ Publikum (gefordert wird u. a. ein dem Bildungshorizont des Publikums angepasster Stil); (3) Stil ⫺ Redeanlass (gefordert wird z. B. ein formeller Stil für einen offiziellen Anlass); (4) Stil ⫺ Redegegenstand (gefordert werden Stilmittel, die z. B. der Bedeutsamkeit der besprochenen Sache entsprechen und diese zur Geltung bringen). Aptum-Muster sind rhetorikdidaktisch von besonderem Wert. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass bereits das antike Regelwerk auf eine flexible Handhabung setzte. Ottmers (1996, 153 f.) betont, dass rhetorische Kommunikation deshalb immer auch Einfühlungsvermögen sowie ein gewisses Fingerspitzengefühl erfordert und gerade auch dann funktionieren kann, wenn es das ausdrückliche Redeziel ist, Normvorstellungen oder gesellschaftliche Erwartungshaltungen zu durchbrechen. Auffällig an neueren, der rhetorischen Praxis verpflichteten Rhetorikdarstellungen sind Situationsdefinitionen, die sich auf das Organon-Modell der Sprache (Bühler 1934) sowie die Unterscheidung zwischen einem sachgerichteten Inhaltsaspekt und einem situationsgerichteten Beziehungsaspekt der Kommunikation (Watzlawick u. a. 1972) stützen. Dabei machen sich Unsicherheiten bemerkbar zu bestimmen, welche kommunikativen Aspekte zum Begriffsinhalt von ,Situation‘ gehören und welche nicht. So begegnet man in Rhetoriklehrbüchern zum einen einem Nebeneinander von Hörer und Situation ⫺ nach Allhoff/Allhoff (2000, 95 f.) gilt es einen Hörer- und einen Situationsbezug zu beachten. Zum anderen wird ein Miteinander von Sache und Situation postuliert, das aber eigentlich als ein Ineinander (Situation als übergreifend auch für die Sache) zu begreifen ist (vgl. Pabst-Weinschenk 2000, 20 f.; 24 f.), wofür es eine simple Erklärung geben mag:
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Wenn es so ist, dass die Beziehung zwischen Sprecher und Hörer einen Situationsrahmen mit gegenseitigen Einschätzungen, Erwartungshaltungen und Redeabsichten konstituiert, dann schließt dieser Rahmen sprecherseitige Überlegungen zur partnergerechten Sachdarstellung und hörerseitige Erwartungshaltungen gegenüber der zum Thema gemachten Sache ein. Insofern hat die Situationseinschätzung der Kommunikationsteilnehmer immer auch einen Sachbezug. Hinzu kommt, dass es Situationen geben kann, in denen eine reine Sachdarstellung kommunikativ am zweckmäßigsten ist, aber auch solche, wo es die Subjektgeprägtheit der Sachdarstellung ist, die der rhetorischen Erwartungshaltung am besten entspricht. Bühlers Zeichenfunktionen erweisen sich in diesem Zusammenhang als geeignet, „Redesorten“ (Pabst-Weinschenk 2000, 22 f.) in verschiedene situativ-funktionale Dimensionen zu stellen. Zu unterscheiden sind die vorrangig sprecherorientierte Meinungsrede (z. B. Kommentar), die vorrangig zuhörerorientierte Überzeugungsrede (z. B. Wahlkampfrede) und die vorrangig sachorientierte Informationsrede (z. B. Vortrag).
2.2.2. ,Situation als redeveranlassender Zustand Von der Bestimmung des Rhetorischen als eines persuasiven Prozesses ausgehend (vgl. 2.1) erscheint ,Situation‘ hier nun als ein vorgefundener, mit rhetorischen Mitteln beeinflussbarer/veränderbarer Zustand. Nach den feingliedrigen Unterweisungen zur persuasiven Kommunikation in Lausberg (1967, 15 f.) vollzieht sich persuasive Rede immer in Bezug auf eine Situation mit der Intention der Änderung dieser Situation. Situation wird als ein Zustand sachlicher, persönlicher oder sozialer Art bestimmt, den Menschen(gruppen) zu einem gegebenen Zeitpunkt antreffen, der für sie von Belang ist und durch Reden verändert werden kann. Obwohl ,Situation‘ somit eigentlich als eine prä- bzw. postkommunikative Gegebenheit bestimmt wird, kommen über die an einem persuasiven Kommunikationsprozess beteiligten Menschen(gruppen) indirekt auch Aspekte der Redesituation zum Vorschein. So baut die Rollenverteilung zwischen den Kommunikationsteilnehmern, bei der eine Trennlinie zwischen dem Situationsmächtigen und den Situationsinteressierten gezogen wird, zugleich eine für diese Art von Redesituation charakteristische Sozialbeziehung auf. Denn in der Hand des Situationsmächtigen liegt es und nur in seiner, eine Änderung der Situation herbeizuführen und damit eine Entscheidung zu treffen, auf die die Situationsinteressierten hingewirkt haben. Letztere spalten sich unter Umständen in Parteien auf, so dass zwischen Befürwortern und Gegnern einer Situationsänderung oder mehreren konkurrierenden Vorstellungen, die Situationsänderung betreffend, zu unterscheiden ist. An anderer Stelle bringt Lausberg (1967, 31) kognitive Aspekte der rhetorischen Kommunikation zur Sprache. Dies ist offenbar auf die Erkenntnis zurückzuführen, dass Situationsänderungen jedweder Art eine Bewusstseinsänderung vorausgehen muss. Der Kommunikationsprozess erscheint nun als die Überführung von Zirkularität (Bewusstseinsinhalten) in Linearität (Rede), an die sich die Überführung von Linearität in Zirkularität (Bewusstseinsresultate) anschließt. In der persuasiven Kommunikation werden diese Vorgänge ⫺ wie es heißt ⫺ von der Intention getragen, auf das Bewusstsein des Situationsmächtigen (z. B. eines Richters) einzuwirken. Dessen „Urteilsspruch“ überführt dann Zirkularität (Bewusstseinsresultate) in außer-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik sprachliche Realität, bewirkt also die eigentliche, intendierte Situationsänderung (gegebenenfalls zum Vorteil einer der beteiligten Parteien). Um sich die dargelegten Verhältnisse zu verdeutlichen, kann man auch auf die moderne Differenzierung zwischen Sinnkonstitution und Handlungsauslösung (vgl. Geißner 1982, 12; 27) zugreifen. Zusammenhänge zwischen Situationsaspekten und Redemerkmalen treten in einem Regelwerk zutage, das sich ⫺ wie bei den aptum-Mustern (vgl. 2.2.1) ⫺ auf alle Stadien der Verfertigung von Rede erstreckt. Für das Stadium der dispositio führt Lausberg (1967, 33 ff.) Redemittel an, die der Realisierung zweier hauptsächlicher Prinzipien der persuasiven Sachverhaltsdarstellung dienlich sind: Parteilichkeit und Verfremdung. Letzteres werde beispielsweise realisiert, indem sich der Redner unerwartet der Redesituation ⫺ hier findet sie explizit Erwähnung ⫺ (und nicht dem Redegegenstand) zuwendet. Für diese rhetorische Aktivität ⫺ so lehrt es die Rhetorik klassischen Zuschnitts ⫺ gibt es probate Muster. Der Redner kann die Schwierigkeit, in der er sich befindet, offen zugeben, die gegnerische Partei loben, das Publikum um Entschuldigung bitten oder mit einer unerwarteten Nachricht schockieren, möglichen Einwänden des Situationsmächtigen zuvorkommen u. a. m. Solche persuasio-Muster der Verfremdung, wie man sie nennen könnte, stehen offensichtlich in Relation zu allen nach ihren kommunikativen Rollen unterscheidbaren Kommunikationsteilnehmern. Mit der Modellierung von rhetorischer Kommunikation als persuasiver Kommunikation, die sich in der Öffentlichkeit vollzieht, geht eine Typologisierung von Reden nach ihrem Redesituationsbezug einher. Zum einen werden nach dem Kriterium der verschiedenen Kommunikationsrollen „drei Arten von Reden“ (Lausberg 1967, 16) unterschieden: die Eröffnungsrede (in der die strittige Angelegenheit zur Sprache gebracht wird), die Parteireden der Situationsinteressierten und die Entscheidungsrede des Situationsmächtigen. Zum anderen werden nach dem Kriterium der Gebrauchsfrequenz zwei Redeklassen (ebd.) gebildet: die Verbrauchsrede, die in singulären, nicht wiederholbaren Redeereignissen in Erscheinung tritt, und die Wiedergebrauchsrede, die in typischen, sich wiederholenden Redesituationen immer auf die gleiche Weise gehalten wird. Wiedergebrauchsreden scheinen aber eher an den Kommunikationstyp der rituellen Kommunikation gebunden zu sein, wo Eide geschworen, Trauungen vollzogen, Veranstaltungen für eröffnet erklärt werden; mit rhetorischer Kommunikation vertragen sie sich außerordentlich schlecht. Die explizierten Modellvorstellungen von persuasiver Kommunikation leben in der neueren Rhetorikforschung vom Denkansatz her fort, sie werden durch Übertragung auf konkrete Rhetorikbereiche spezifiziert und natürlich modernisiert. Aktuelle Modelle von politisch-persuasiver Kommunikation beispielsweise integrieren dezidiert kognitive Komponenten wie Partnerhypothesen/Annahmen über die Situation (vgl. Herrgen 2000, 38), berücksichtigen dezidiert die Vermittlerrolle der journalistischen Medien (vgl. Klingemann/Voltmer 1998, 397) oder stellen den Einfluss der Öffentlichkeit (einschließlich der Medien) auf den politischen Prozess dar, der in den einzelnen Stadien von Politik unterschiedlich stark ausgeprägt ist (vgl. Jarren/Donges/Weßler 1996, 26).
2.2.3. ,Situation als komplexe rhetorische Augabe im Prozess des Miteinandersprechens Der Begriff Redesituation (auch: Sprechsituation) ist in der Rhetorikforschung verschiedentlich problematisiert worden, da er einseitig sprecherbezogen angelegt ist. Mit Beru-
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fung auf Erich Drach und dessen Gedanken der Komplementarität von Sprech- und Hörsituation sowie auf Erving Goffmans aktivitätsbezogen definierten Situationsbegriff argumentiert Geißner (1982, 27 ff.), dass sich rhetorische Kompetenz (als globales Lernziel) wesentlich daran zeigt, inwieweit es gelingt, eine gemeinsame Situation zwischen den Kommunikationsteilnehmern herzustellen. Es könne „genau genommen nie gesagt werden, daß die Situation ,besteht‘ (statisch ist), sondern, daß sie durch die Miteinandersprechenden erst ,hergestellt‘ wird (dynamisch ist)“, und das aber heiße, „daß Verständigung nur gelingen kann, wenn es den Miteinandersprechenden gelingt, diese Situation zu ihrer gemeinsamen zu machen“ (ebd., 28). Wir begegnen hier einer Position, die auch in der Gesprächslinguistik bzw. interaktionalen Gesprächsstilistik als methodologisch bedeutsam gilt (vgl. 3.2.3). In Geißners didaktisch orientierten Darlegungen zur rhetorischen Kommunikation kommen aber letztlich durchaus situative Zustände vor, nämlich die bestehenden Ausgangssituationen von Sprecher und Hörer, zu verstehen als ein Zusammenwirken von relativ objektiven und relativ subjektiven Faktoren, die von der herzustellenden Situation zwischen Sprecher und Hörer zu unterscheiden sind. An die erfolgreiche Bewältigung der bezeichneten rhetorischen Aufgabe (Herstellung einer gemeinsamen Kommunikationssituation) wird eine weitere als Voraussetzung geknüpft: die Analyse der Ausgangssituationen (von Sprecher und Hörer) und der Zielsituation (zwischen Sprecher und Hörer) ⫺ eine Situationsanalyse, bei der grundlegende Arten situativer Beziehungen als Relationen zwischen situationskonstituierenden Faktoren (WANN, WO, WER, MIT WEM, WORÜBER u. a.) im Rahmen eines Situationsmodells des Gesprächs einzeln unter die Lupe zu nehmen sind. So wird u. a. als wesentlich herausgestellt, dass ein Ich (ego) und ein Gegenüber (alter) grundsätzlich Inhaber sozialer Rollen (Kommunikationsrollen) sind, was für die Analyse der interpersonalen Dimension dann konkret heißt, Rollenerwartungen, -definitionen, -interpretationen und auch Rollenkonflikte zu reflektieren. Gestützt auf die Beobachtung, dass nicht jeder mit jedem über alles sprechen kann, und die Erkenntnis, dass dieses Worüber bzw. das Thema an verschiedene Wissens-, Erfahrungs- und Erlebnishorizonte gebunden ist, werden konzeptionelle Überlegungen auch dahingehend für notwendig erklärt, wie im Gemeinsammachen der Situation ein gemeinsames Thema zu finden/auszuhandeln ist. Das vordergründig am Gespräch als einem Sprechen mit anderen ausgerichtete Situationskonzept wird im Weiteren auf Rede als ein Sprechen zu anderen ausgedehnt. Bei den rhetorischen Kommunikationsformen Gespräch und Rede, aufgefasst als zwei Seiten einer Medaille (vgl. Geißner 1981, 69; 71), werden jeweils zwei Grundtypen unterschieden: zum einen das Klärungs- und das Streitgespräch, zum anderen die Informationsund die Überzeugungsrede (vgl. Geißner 1982, 99 ff.; 141 ff.). Anhand der Gegenüberstellung von phatischen und rhetorischen Gesprächen wird verdeutlicht, dass rhetorische Gesprächsprozesse weniger an glänzenden Formulierungen oder schlüssigen argumentativen Prozeduren zu erkennen sind, sondern hauptsächlich an Kommunikationsakten bzw. Gesprächsschritten wie Fragen und Fragenlassen, Ratsuchen, Klären von Sachverhalten und Beziehungen, Problematisieren von Handlungszielen, Suchen nach gemeinsamen Lösungen, Streiten über Lösungswege, Aushandeln von Entscheidungsmöglichkeiten usw. ⫺ an Gesprächsschritten also, die dem für grundlegend erklärten Situationsaspekt ,Gemeinsamkeit‘ Rechnung tragen. Es entspricht der Logik des zugrunde gelegten Situationskonzepts, wenn zwei weitere Gesprächstypen, das Schein- und das Kampfgespräch, als nichtrhetorisch apostrophiert werden. Bei Scheingesprächen beanspruche ein Situationsmächtiger für sich allein das Frage- und Entscheidungsrecht, Kampfgespräche
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik basierten auf einem von Aggressivität getragenen Freund-Feind-Schema und endeten häufig mit brachialer Gewalt.
2.2.4. ,Situation als Beziehung zwischen kooperativ handelnden Kommunikationsteilnehmern Rhetorische Aktivitäten wie das Herstellen und Gemeinsammachen von Situationen (vgl. 2.2.3) finden sich als Theorieelemente im Paradigma einer Kooperativen Rhetorik wieder, dessen Grundzüge u. a. in Bartsch (1990) dargestellt sind. Der innovative Charakter des hier zu besprechenden Situationskonzepts zeigt sich darin, dass Kooperation, als eine kommunikative Haltung bestimmt und zur rhetorischen Obermaxime erhoben, auch dann Geltung haben soll, wenn zwischen den Kommunikationsteilnehmern ein sozial oder anderweitig asymmetrisches Rollenverhältnis besteht. In Geißners Theorie (1982 u. ö.) war diesbezüglich noch von phatischen oder Scheingesprächen die Rede ⫺ infolge fehlender Chancengleichheit/Möglichkeiten des Rollentauschs bei der Gesprächsführung. Die neue Richtung betrachtet auch Bewerbungs-, Verkaufs- und Prüfungsgespräche als rhetorische Gespräche, orientiert sich demnach wieder stärker an der situativen Grundkonstellation von Rhetorik (1.1), geht aber zugleich über das tradierte Rhetorikverständnis hinaus, denn mit der Redemaxime Kooperation kommen Verhaltensmuster auf den Prüfstand, die einseitig die Interessen des Sprechers bedienen, mit anderen Worten Muster, die als nützlich bei der Durchsetzung nur seiner Interessen im Zuge sozialer Selbstbehauptung gelten. Der theoretische Anspruch der Kooperativen Rhetorik wird allerdings erst dann deutlicher, wenn man mit Fiehler (1999, 53 f.) begrifflich differenziert zwischen ,kommunikativer Kooperation‘ als Bezugnahme auf gemeinsame Kommunikationsregeln einerseits und ,kommunikativer Kooperativität‘ als einer Modalität der kommunikativen Interaktion andererseits. Es ist nämlich nicht das Grice’sche Kooperationsprinzip gemeint, zumal dieses keinerlei Bindung an spezielle Situationsaspekte aufweist; gemeint ist vielmehr ein Kommunikationsprinzip, das die Gestaltung von Beziehungen zwischen den Kommunikationsteilnehmern steuert. Kooperative Rhetorik ist vom Anspruch her eine Rhetorik der Gestaltung partnerschaftlicher Beziehungen. Einen Schwerpunkt bilden Kommunikationsbarrieren, die aus asymmetrischen Kommunikationsverhältnissen hervorgehen. Solche Asymmetrien kommen ⫺ wie man weiß ⫺ auf unterschiedlichen Beziehungsebenen vor: Ungleichwertige Verhältnisse können die soziale Position betreffen, darüber hinaus Sichtweisen und Interessenlagen, aber auch die verschiedenen Arten von Kompetenz (Sach-, Sprach-, Kommunikationskompetenz). Das Profil eines kooperativ handelnden Menschen (vgl. Jaskolski 1999, 27 f.) umfasst die Bereitschaft und die Fähigkeit, asymmetrischen Beziehungen, die der Herstellung eines echten Partnerschaftsverhältnisses abträglich sind, mit rhetorischen Aktivitäten (Herstellen von sozialer Nähe, Erzeugen von Transparenz im Hinblick auf die eigenen Interessen, Einnehmen der Partnerperspektive) wirksam zu begegnen. Partnerschaftlichkeit heißt im Situationskonzept der Kooperativen Rhetorik allerdings keinesfalls völlige Aufhebung von Divergenz. Als wesentlich gilt die Herstellung einer gemeinsamen Gesprächsbasis als Schnittmenge aus den Anschauungen und Einstellungen der Gesprächsbeteiligten, das Erzielen eines partiellen Konsensus. Am Beispiel religiöser Gruppengespräche stellt Roelofsen (1999b, 214) fest, dass Gemeinsamkeit gerade in der Vielfalt der zusammengetragenen und gegenseitig respektierten Sicht- und Verstehensweisen bestehen kann und sollte.
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3. ,Situation als Theorieelement in der Stilistik 3.1. Verweise au ,Situation bei der Bestimmung von Stil Stiltheoretische Bestimmungen des Phänomens Stil enthalten ⫺ sofern sie kommunikationsorientiert angelegt sind ⫺ explizite oder implizite Verweise auf ,Situation‘. Im Weiteren soll dargelegt werden, wie von einem allgemein akzeptierten Leitsatz stiltheoretischen Denkens aus der Zusammenhang von Stil und Situation erfassbar wird und wie die entsprechenden Positionen Eingang in Stildefinitionen gefunden haben. Über den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich Stiltheoretiker einigen können, nämlich „Stil ist immer das Wie einer Ausführung, auf welchem Gebiet des Lebens auch immer“ (Riesel/Schendels 1975, 15), findet man mehrere Zugänge zur Relationierung von Stil und Situation. Zum einen lässt sich aus dem Verweis auf alle möglichen Gebiete des Lebens ⫺ gemeint sind Bereiche der sprachlichen Kommunikation (vgl. 2.1), Kunstbereiche (Musik, Tanz, Malerei) sowie weitere Bereiche wie Mode und Sport ⫺ ableiten, dass stilistische Variation prinzipiell in Relation zu einem spezifizierten gesellschaftlichen Umfeld (Tätigkeitsbereich) zu denken ist. Zum anderen verbindet sich mit dem „Wie einer Ausführung“ immer auch Erklärungsbedarf dergestalt, dass erklärt werden muss, warum es stilistische Variation und verschiedene Stile gibt. Einige der Erklärungsansätze, die dabei mit der Kategorie Situation operieren, seien genannt: (1) Stil ist kontextbedingt: „Der Stil eines Textes ist das Aggregat kontextbedingter Wahrscheinlichkeitswerte seiner linguistischen Größen“ (Enkvist/Gregory/Spencer 1972, 26). Kontext wird in dieser Stilistik zum einen bestimmt als eine textinterne (sprachliche, textstrukturelle) Zeichenumgebung, zum anderen als ein Umfeld, das außerhalb des Textes liegt und Einflussgrößen umfasst wie Epoche, Gattung, Erfahrungsbereiche der Kommunikationsteilnehmer, Situation u. a. Kontextbedingt kann also u. a. heißen: situationsbedingt. (2) Stil ist die funktionsgerechte Verwendungsweise der Sprache ⫺ oder genauer: „die funktionsgerechte, dem jeweiligen Sprachusus im schriftlichen und mündlichen Gesellschaftsverkehr angemessene Verwendungsweise des sprachlichen Potentials“ (Riesel/Schendels 1975, 16). Der Begriff der Funktionsgerechtheit umgreift dabei sowohl die Ausrichtung auf die gesellschaftliche Funktion der Sprache, die von Kommunikationsbereich zu Kommunikationsbereich verschieden ist, als auch die Berücksichtigung von Kontaktfaktoren, etwa die Einstellung auf den Kommunikationspartner oder den Unterschied zwischen direkter und indirekter Kontaktaufnahme. Funktionsgerecht heißt demnach nichts anderes als: der Situation angemessen. (3) Stil erfasst eine charakteristische Verwendungsweise von Sprache, nämlich „die auf charakteristische Weise strukturierte Gesamtheit der in einem Text gegebenen sprachlichen Erscheinungen, die […] zur Realisierung einer kommunikativen Funktion in einem bestimmten Tätigkeitsbereich ausgewählt worden sind“ (Fleischer/Michel 1975, 41). Dass Stil ein charakteristisches Wie ist, verdient besonders herausgestellt zu werden, denn erst mit diesem Erklärungsansatz werden Zusammenhänge von Stil und Situation herstellbar, die sich zu Stiltypen (Stilklassen, -arten, -gattungen o. Ä.) verallgemeinern lassen. Charakteristisch heißt hier: charakteristisch für eine Situation. Der Tätigkeits- bzw. Kommunikationsbereich stellt stiltypologisch gesehen allerdings nur einen der in Frage kommenden Situationsaspekte dar.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Einzugehen wäre auf eine Reihe weiterer Stilbestimmungen, so auch auf die Abweichungsstilistik (Stil als abweichender Sprachgebrauch), die die Relation zwischen Stil und situativen Erwartungen, „das Anderssein als erwartet/erwartbar“ (Püschel 1985, 13), (verabsolutierend) fokussiert. Diese Art von Stilistik hat das ihrige dazu beigetragen, Beobachtungen zum relativen/relationalen/relationierenden Charakter des Stils (van Dijk 1980, 97 ff.; Sandig 1986, 95 ff.; Sandig 2001) in eine Grunderkenntnis über den Stil zu überführen. Die Komplexität stilistischer Sachverhalte erwächst aus einem Gefüge von Relationen, die sowohl für die Stilbildung als auch für die Stilinterpretation und -wirkung maßgebend sein können. Relationen zwischen Stil und Situation/situativen Erwartungen bilden dabei nur einen Teilbereich und sind ihrerseits von äußerst vielfältiger Natur.
3.2. Konzepte des Zusammenhangs von Stil und Situation in der Stilistik Bei den stiltheoretischen Erörterungen des Verhältnisses von Stil und Situation zeichnet sich in gewisser Weise eine Parallelentwicklung zur Rhetorik ab. Wird Stil ⫺ der rhetorischen Tradition entsprechend ⫺ zunächst mit den situativen Rahmenbedingungen von Textkommunikation relationiert, so interessieren später vornehmlich die situationskonstituierenden Aktivitäten von Kommunikationsteilnehmern im Kommunikationsprozess. ,Situation‘ wird weniger als etwas von außen Vorgegebenes, vielmehr als etwas (gemeinsam) Hervorzubringendes angesehen. Darüber hinaus werden aber auch Konzepte entwickelt, zu denen es kein so offenkundiges Pendant in der Rhetorik gibt. Dies betrifft beispielsweise semiotisch orientierte Ansätze, die sich der Zeichenhaftigkeit von stilistischer Variation zuwenden, was zur Folge hat, dass Situatives textsemantische Wertigkeit erlangt. Deutlicher noch als in der theoretischen Rhetorik wird die Bestimmung der Kategorie Situation zum Aushängeschild für die ganze Richtung. Darauf ist im Folgenden näher einzugehen.
3.2.1. ,Situation als stildeterminierendes Umeld Die Rede von der Situationsbedingtheit des Stils, die in der Stilistik weite Verbreitung gefunden hat, ist im Laufe der Zeit zu einem stiltheoretischen Problem geworden. Versetzt man sich in die Lage der Stiltheoretiker, die dem konditional-konsekutiven Denkmuster folgen, beginnen die Schwierigkeiten bereits damit, dass geklärt werden muss, welche situativen Faktoren in welcher Konstellation bei der Theoriebildung zu bedenken sind. Folgt man z. B. dem Grundsatz, dass Situationen nicht an sich existieren, sondern immer nur mit Bezug auf Personen, die sich in einer Situation befinden (vgl. Asmuth/ Berg-Ehlers 1976, 73), wird der Blick von vornherein auf die Kommunikationsteilnehmer und ihre Beziehung gelenkt. Der Zusammenhang von Stil und Situation stellt sich dann so dar, dass außersprachliche Restriktionen für die Selektion und Kombination von sprachlichen Mitteln aus personalen und sozialen Konstellationen heraus zu erklären sind. Sanders differenziert in seiner „Linguistischen Stilistik“ (1977, 32⫺62) zwischen der individuell-sozialen und der kollektiv-sozialen Determiniertheit, d. h. zwischen Faktoren wie Bildungsgrad, Interessen einerseits und Sprecher/Hörer-Konstellation, Kommunikationszweck andererseits, um in einem nächsten Schritt diese inneren und äußeren
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Sprachverwendungskonditionen situationsbegrifflich zusammenzuführen. Die Faktorengruppen in ihrem Zusammenwirken erfassend, spricht er von einer komplexen Voraussetzungsituation des Sprechers/Schreibers und einem nicht weniger komplexen Erwartungshorizont des Hörers/Lesers; das stildeterminierende situative Umfeld wird also kommunikationsteilnehmerbezogen perspektiviert (vgl. bereits Spillner 1974, 64 ff.). Erwähnung verdient des Weiteren, dass Sanders’ Konzept neben der Perspektivierung der jeweiligen Ausgangssituationen auch kommunikationsprozessbezogene Perspektiven auf ,Situation‘ vorsieht. Danach gibt es sprecher-/schreiberseitig eine Situation der Textproduktion, die über die komplexe Voraussetzungssituation hinaus durch einen bestimmten Bewusstheitsgrad bei der Hervorbringung von Stil beherrscht wird, wodurch sich zugleich mehrere Stilbereiche bilden lassen. Anhand der Dreiheit von Alltagssprach-, Gebrauchssprach- und Kunstsprachstil wird verdeutlicht, dass sich Stilbildung auf einer Skala von mangelnder bis intensivierter Bewusstheit bewegen kann. Die Situation der Textrezeption hingegen wird über den komplexen Erwartungshorizont hinaus von Aufmerksamkeitsstufen des Hörers/Lesers beherrscht. Die Aufmerksamkeit des Rezipienten entscheide letztlich darüber, was an Interpretationsleistungen erbracht wird, und erkläre in gewissem Sinne auch den jederzeit einzukalkulierenden Auseinanderfall von efficiens (der intendierten Wirkung) und effectum (der ausgelösten Wirkung). Ein weiteres Problem besteht in der Frage, wie man den Zusammenhang zwischen Stildeterminanten (der Situation) und Stilelementen (des Textes) beschreiben soll. In der Funktionalstilistik ist dazu deutlich gesagt worden, dass die Verbindung zwischen dem jeweiligen Kommunikations- bzw. Funktionsbereich der Sprache (als Situationsaspekt) und den einzelnen Stilistika (im Text) keine direkte, sondern eine über Stilzüge vermittelte ist (vgl. Riesel/Schendels 1975, 24). Mit den funktionalen Stilzügen (Beispiel: die Förmlichkeit von Amtsdokumenten) sind normative Stilprinzipien gemeint, die sich aus der gesellschaftlichen Spezifik der Kommunikation ableiten, die Textgestaltung steuern und stilprägend in Erscheinung treten. Stillehren, die demgegenüber an allgemeinen Normen/Prinzipien eines guten Stils festhalten, gewinnen dann an Systematik und Format, wenn sie diese zu grundlegenden Faktoren des Kommunikationsprozesses in Beziehung setzen. „Kommunikationsfaktoren sind für uns nur insoweit wichtig, als sich ihnen Stilprinzipien zuordnen lassen“, heißt es in der praktischen Stillehre von Sanders (1990, 73), und in der Gruppe der Stilprinzipien, die speziell der Redekonstellation (Kommunikationspartner, raum-zeitliche Umstände u. a.) zugeordnet werden, findet man ein Grundprinzip der rhetorischen Stilistik wieder: das der Angemessenheit. Wer hingegen den Begriff der Norm in Anspruch nehmen will, hat zu berücksichtigen, dass Stilnormen dem Sprecher/Schreiber „einen relativ breiten Spielraum für individuelle, nicht normbare oder nicht genormte stilistische Varianten lassen“ (so bereits Michel 1978, 541). Die Aristotelische Rhetorik lehrt mit der Dominantsetzung des Redepublikums innerhalb der Situationstrias aus Redner, Sache und Publikum, dass (stil)determinierende Faktoren nicht in einem Nebeneinander, sondern in ihrem hierarchischen Miteinander zu erfassen sind (vgl. 2.2.1). In der Stilistik sind die Auffassungen über die Dominanz eines Faktors weit auseinander gegangen. Als primäre Stildeterminanten galten u. a. die Mitteilungsabsicht des Sprechers/Schreibers, der Gegenstand und das Thema der Äußerung, Besonderheiten des Kommunikationsmediums (mündlich/schriftlich), aber auch die konkrete soziale Praxis der Kommunikationsteilnehmer. Eine Entscheidung in dieser Frage ⫺ wird sie so gestellt ⫺ erscheint kaum möglich, und eine Lösung des Problems ist wohl erst dann in Sicht, wenn der Blick auf einzelne Faktoren gänzlich aufgegeben
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik und statt dessen ein teilnehmerperspektivierter Situationsrahmen konzipiert wird, der an der sozialen Praxis orientierte kommunikationsfunktionale Aspekte verschiedener Art (Intentionen, Strategien, Aufgaben u. a.) in sich aufnehmen kann. Regularitäten der Textund Stilkonstitution können dann z. B. mit Bezug auf „Darstellungsaufgaben“ (W. Heinemann in Fleischer/Michel 1975, 298) erklärt werden, d. h. Aufgaben, die ⫺ im Unterschied zu den Darstellungsarten (Berichten, Beschreiben usw.) ⫺ aus einer Situation erwachsen und auf die Situation zugeschnitten zu bewältigen sind (z. B. das Beschreiben eines Vorgangs für Leser einer Bedienungsanleitung). Bei Hundsnurscher (1989, 115) heißt es: „Möglicherweise hat ,die Situation‘ oder ,etwas an der Situation‘ etwas Besonderes an sich, das die Menschen veranlaßt zu sprechen und, wenn sie sprechen, so zu sprechen, wie sie sprechen.“ An anderer Stelle (ebd., 135) wird betont, dass Sprecher nicht so sehr von der Situation abhängig/durch sie bestimmt sind, sondern sich vielmehr bemühen, die Situation zu meistern/ihr gerecht zu werden. Die Anerkenntnis dessen erfordert stiltheoretisch, der funktionalen Dimension kommunikativer Situationen in besonderem Maße Rechnung zu tragen.
3.2.2. ,Situation als Inhalt/Bedeutung von Stilzeichen Eine andere Blickrichtung auf das Verhältnis von Stil und Situation wird daraus ersichtlich, dass an die Stelle einer Determinationsbeziehung zwischen beiden Größen eine Repräsentationsbeziehung gesetzt wird: Stil repräsentiert die Kommunikationssituation im Text. Der Zusammenhang von Stil und Situation wird auf die Formel ,Stil als Situation‘ gebracht (vgl. Hoffmann 1990, 46; 61). Stil gibt dieser Auffassung zufolge Informationen über die Situation an den Textrezipienten weiter, d. h. insbesondere über das Situationsverständnis des Textproduzenten: dessen Einstellungen gegenüber dem Kommunikationspartner, dem Kommunikationsgegenstand und auch gegenüber dem kommunikativen Kode ⫺ eine Auffassung, die sich die Entdeckung der Zeichenhaftigkeit des Stils zunutze macht und sich an einer semiotischen Semantik der Texte orientiert, in der alles Zeichenhafte an Texten interessiert, das sich im Medium der Sprache manifestiert, aber nicht alles sprachlich Zeichenhafte ausschließlich auf das Sprachsystem als Zeichenreservoir beziehbar ist. Entscheidende Impulse, stilistische Einheiten/Merkmale als Stilzeichen und den Stil insgesamt als ein komplexes kommunikatives Zeichen zu begreifen, kommen in den 70-er Jahren des 20. Jhs. von der Übersetzungswissenschaft und der literarischen Stilistik. Übersetzungswissenschaftler stellen fest, dass Stil im Translationsprozess von der Ausgangs- zur Zielsprache nur dann Äquivalenz beanspruchen kann, wenn er als etwas Inhaltliches, als eine Komponente des Textinhalts aufgefasst wird. Stilistische Merkmale werden deshalb als Textzeichen bestimmt, als Träger von Informationen über das Kommunikationsziel und die gesamte Kommunikationssituation (vgl. Schmidt 1979, 58). In der literarischen Stilistik hingegen wird der Zeichencharakter des Stils von der Praxis der Textinterpretation hergeleitet. „Die Art und Weise des Sprachgebrauchs zeugt von der Art und Weise, wie ein Sprecher oder Schreiber sich zu seiner Umwelt, zu seinem Adressaten verhält, sie verrät, wie er sich jene Wirklichkeit bildet, um die es im jeweiligen Text oder Sprechakt geht“ (Anderegg 1977, 52 f.; Hervorhebungen M. H.). Erstaunlicherweise ist es gerade der Literaturwissenschaftler und nicht der Linguist, der es dezidiert für notwendig erachtet, bei stilistischen Zeichen von bedeutungstragenden Einheiten zu sprechen (ebd., 57) ⫺ mit der Begründung, dass man stilistische Merkmale nicht
78. Situation als Kategorie von Rhetorik und Stilistik
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bestimmen kann, ohne sie zu interpretieren, und die Interpretation eines Merkmals nur dann gelingen kann, wenn sie zum Erfassen einer Bedeutung führt. Ansonsten wird der Bedeutungsbegriff innerhalb dieser Stilrichtung nur zögerlich verwendet, vorzugsweise greift man auf verwandte Begriffe wie ,Index‘, ,Indiz‘, ,Konnotation‘ (im Verständnis der Glossematik), ,Sinn‘ oder eben ,Information‘ zurück. Für die Schwierigkeiten, Stilzeichen der Situationsrepräsentation im Text als textsemantische Einheiten zu behandeln, gibt es eine Reihe von Gründen. Die Probleme erklären sich nicht nur aus speziellen Bedeutungskonzepten, die so (eng) gefasst sind, dass sie stilistische Bedeutungen ausschließen; sie hängen auch mit dem relationierenden Charakter von Stil (vgl. 3.1) zusammen. Schmidt (1979, 72) verweist auf „nicht-vertextete Informationen über die Kommunikationssituation/den Kommunikationsgegenstand“ als spezielle Kontextarten. Wenn jemand die Frage Wie geht es Ihrer Frau Mutter? stelle, so würden damit in Abhängigkeit z. B. vom Alter des Fragestellers (älterer Mensch, Jugendlicher) verschiedene stilistische Informationen gegeben. Probleme bereitet auch die Grenzziehung zwischen semantischen und pragmatischen stilistischen Informationen, zumal die Repräsentationsbeziehung zwischen Stil und Situation an Aktivitäten der Zeichenbenutzer gebunden wird. Informationen darüber, ob die Kommunikation von sozialer Nähe oder Distanz geprägt ist, über die Gruppenzugehörigkeit der Teilnehmer, die Bindung an Institutionen usw., die als stilistische Informationen gelten, lassen sich in Beziehung setzen zu stilistischen Handlungsmustern (vgl. Hoffmann 1990, 52 ff.), so dass es nahe liegt, Motive/Ziele/Zwecke des Gestaltens als Sinneinheiten in der Kommunikation zu betrachten. Die kommunikative Zeichenhaftigkeit von Stil ist in gewissem Sinne im Sprachsystem (oder anderen Zeichenordnungen) vorgeprägt. Die Stilschichten/-ebenendifferenzierung im Sprachsystem reflektiert die bevorzugte Verwendung sprachlicher Einheiten in sozial merkmalhaften Kommunikationssituationen. Zwischen Stilmitteln (im System) und Situation werden Reflexionsbeziehungen folgender Art hergestellt (vgl. Fleischer/Michel/ Starke 1996, 104 ff.; 208 ff.): (1) Stilschicht ,gehoben‘/Superstandard ⫺ Bindung an rhetorisch aufwendige, anspruchsvolle, feierliche Kommunikation; (2) Stilschicht ,normalsprachlich‘/Vollstandard ⫺ Bindung an den mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch des öffentlichen Lebens; (3) Stilschicht ,umgangssprachlich‘/Substandard ⫺ Bindung an ungezwungene Situationen des (mündlichen und nichtöffentlichen schriftlichen) Alltagsverkehrs; (4) Stilschichten ,salopp‘ und ,vulgär‘/Substandard ⫺ Bindung an die Kommunikation im engeren Kreis von Vertrauten bzw. zwischen Teilnehmern mit geringerem Sozialprestige.
3.2.3. ,Situation als zeichenhate stilistische Aktivität von Kommunikationsteilnehmern In diesem Abschnitt ist auf die literarische, pragmatische und interaktionale Stilistik einzugehen, die jeweils einen eigenständigen Beitrag zum Thema ,Situation als stilistische Aktivität‘ beigesteuert haben. Das Verbindende zwischen den einzelnen Ansätzen ist, dass sie das Verhältnis zwischen Stil und Situation (auch) als eine Konstitutionsbeziehung bestimmen. Stilistische Aktivitäten konstituieren die Situation, stellen sie her. Dabei erscheinen die folgenden spezielleren Akzentsetzungen als besonders wesentlich:
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik (1) Situationsschöpfung In der literarischen Stilistik Herbert Seidlers (1953, 80 ff.) bezeichnet der Begriff Situationsschöpfung das Erzeugen einer Gesamtstimmung im Sprachkunstwerk, wofür die Oden- und Hymnendichtung mit ihrer Stimmung des Getragenen, Feierlichen überzeugende Beispiele liefert. Dieser Begriffsbildung liegt die Unterscheidung zugrunde zwischen Situationen, die unabhängig von Sprachlichem gegeben sind, und solchen, die mittels Sprache erst hervorgebracht werden (ebd., 40, Anm. 1). Situationsschöpfungen werden der Sprache zugeschrieben ⫺ eine metonymische Verkürzung, denn gemeint sind eigentlich die Sprachbenutzer, die Atmosphärisches, Stimmungsvolles erzeugen, bzw. die Rezipienten, die Entsprechendes auf sich wirken lassen. Mit dem Verweis darauf, dass Situationen im Sinne von Gesamtstimmungen auch außersprachlich geschaffen sein können (Beispiel: die Inszenierung von Dramentexten), ergehen indirekt Hinweise auf die Semiotik des Theaters (Bühnenbild, Lichtgestaltung usw.). Der Gedanke, dass Situationen (sprach)künstlerisch hervorgebracht werden, findet seine Weiterführung in der Beschreibung von Möglichkeiten einer „bewußten Koloritzeichnung“ (Riesel/Schendels 1975, 64 ff.) sowie in der Kategorisierung von Milieukolorierung und Figurenporträtierung als Typen stilistischen Sinns im Bezugsfeld ästhetischer Kommunikationshandlungen (Hoffmann 2003, 115 ff.). (2) Situationsgestaltung Wird stilbegrifflich eine Relation zwischen Stil und Situation hergestellt, steht stilistische Variation in aller Regel in einer pragmatischen Dimension. Das Besondere einer pragmatischen Stilistik indes besteht darin, dass die Grunderkenntnis über den Stil (Stil ist immer ein Wie) bzw. der kontextbedingte, funktionsgerechte, charakteristische, abweichende Sprachgebrauch (vgl. 3.1) in den Erklärungsrahmen kommunikativen Handelns gestellt wird. Unter ,Stil‘ wird die „Art der Durchführung konkreter Handlungen mittels Texten/Äußerungen in Situationen“ (Sandig 1986, 157; Hervorhebung M. H.) verstanden. Sprachlich-kommunikatives, speziell stilistisches Handeln, wird als situationsgerichtet begriffen, wobei dem Stil die Aufgabe zukommt, die konkrete Handlung den Gegebenheiten (Erfordernissen, Bedürfnissen) der Situation anzupassen. In der pragmatischen Stilistik ist es üblich, von Handlungssituationen zu sprechen. Nun muss beachtet werden, dass Situationsanpassung zweifelsohne eine stilistische Aktivität ist, jedoch keine (i. e. S.) situationskonstituierende. Im Wesentlichen gehört Situatives (in Gestalt von Situationseigenschaften wie Mündlichkeit/ Schriftlichkeit, Massenmedialität, Institutionsgebundenheit) zu den Handlungsvoraussetzungen, nicht zu den Handlungsaktivitäten. In Sandigs Stiltheorie wird vordergründig eine Akkommodationsbeziehung zwischen Stil (der Handlung) und Situation hergestellt, das Konzept lässt aber auch ⫺ und das entspricht ethnomethodologischem Denken ⫺ die Konstitution von Situationen mittels Stil zu. So heißt es, dass stilistische Variation an soziale Situationstypen gebunden ist und zur Gestaltung sozialer Situationen beiträgt (ebd., 27). Und eine Aussage wie die, dass die Einschätzung der Situation in der Art der Handlungsdurchführung ihren Ausdruck findet (ebd., 42), macht das angenommene Verhältnis von Stil und Situation auch im Sinne einer Repräsentationsbeziehung auslegbar. Dieser „Beziehungsreichtum“ zwischen beiden Größen liegt in der Natur der Sache. Wer kommunikativ (stilistisch) handelt, gibt immer auch etwas zu verstehen, setzt also Zeichen, macht Äußerungen sprachlicher wie nichtsprachlicher Art interpretierbar, z. B. im Hinblick auf Situationsein-
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schätzungen. Es durchdringen sich also handlungsfunktionale und zeicheninhaltliche Aspekte ⫺ so auch bei Hoffmann (1990, 61), wo beides, ,die Situation gestalten‘ und ,die Situation repräsentieren‘, unmittelbar aufeinander bezogen ist. Ob allerdings der Handlungsbegriff für die Modellierung des Zusammenhangs von Stil und Situation unabdingbar ist, kann durchaus in Frage gestellt werden. Aus dem Blickwinkel einer semiotisch orientierten Stilistik formuliert: „Die Invariante des Stilbegriffs besteht offenbar nicht im Handlungsbegriff, wohl aber in der Funktion zeichenhaft repräsentierter Situationsverweise“ (Firle 1990, 25). (3) Situationskontextualisierung Für die interaktionale Stilistik, die sich die Erforschung von stilistischer Variation in natürlichen Gesprächen, in authentischen Interaktionssituationen zur Aufgabe macht, ist die Annahme eines wechselseitigen Verhältnisses, einer Interdependenzbeziehung zwischen Stil und Kontext (einschließlich des Situationskontextes) grundlegend (vgl. Selting 1997, 12): Einerseits beeinflusst der Kontext stilistische Entscheidungen, macht bestimmte Stile erwartbar. Andererseits ist Stil ein Mittel der Kontextherstellung (Kontextualisierung). Er setzt Kontexte relevant oder verändert sie. Das besondere theoretische wie analytische Interesse ist mit Bezug auf die Kontextualisierungstheorie John J. Gumperz’ (1990 u. ö.) darauf gerichtet, die interaktive Kontextherstellung mittels Stil zu rekonstruieren. Wie in der Kontextstilistik von Enkvist/ Gregory/Spencer (vgl. 3.1) werden mehrere Kontextarten in Betracht gezogen, hier u. a. der Interaktionstyp (z. B. ,Erzählen‘) und der Situationstyp (z. B. ,privater Alltag‘). Interaktionstheoretisch ist ,Kontext‘ in erster Linie kognitiv bestimmt: als ein Interpretationsrahmen bzw. -schema. Es wird anhand stilistischer Daten ermittelt, welche Interpretationsrahmen sich Gesprächspartizipienten interaktiv nahe legen. Situationskontexte stellen sich ⫺ in Anlehnung an Erving Goffmans ,social frames‘ ⫺ als Interpretationsrahmen dar, die typisierte soziale Situationen erfassen (vgl. van Dijk 1980, 232 ff.). (Ein verwandter Begriff in der pragmatischen Stilistik ist ,Situationsmuster‘.) Sozial geprägte Rahmen für Situationsinterpretationen schließen mehreres ein: stereotype Rollen und Beziehungen ebenso wie Konventionen verschiedener Art; als Beispiele werden u. a. die Rahmen ,zu Hause‘, ,Straße‘, ,Universität‘ ,Gericht‘, ,Gefängnis‘ und ,Supermarkt‘ genannt (ebd., 236). Diese gehen eine Verbindung mit Interaktionsrahmen ein, z. B. der soziale Rahmen ,Gericht‘ mit den Interaktionsrahmen ,Anklage‘, ,Verteidigung‘ und ,Urteilsverkündung‘. Darin eingebunden sind typisierte Sozialstrukturen, wie sie sich in Relationen der Autorität und Macht und/oder in typisierten Strukturen des Gebens und Nehmens, z. B. im Dienstleistungssektor, zeigen (ebd., 237 f.).
4. Zur Situationstypik von rhetorischen Gattungen und Stiltypen Obwohl die Kategorie Situation für die Herleitung von kommunikativ-pragmatischen Regularitäten des Rhetorischen und Stilistischen unverzichtbar ist, fehlt es an einer Situationstypologie, auf die rhetorische Gattungen und Stiltypen systematisch beziehbar wären. Die Textlinguistik sieht sich in Bezug auf die Situationstypik von Textsorten vor die gleichen Schwierigkeiten gestellt (vgl. Brinker 1997, 134). Selbst der Begriff Situationstyp wird von Rhetorik und Stilistik nur sporadisch verwendet; er weist zudem keinen
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik fest umrissenen Inhalt auf. Im Grunde kann jedes beliebige Situationsmerkmal (Öffentlichkeit, Institutionalität, Ungezwungenheit, Direktheit/face to face, Massenmedialität, Feierlichkeit, Alltäglichkeit usw.) zu einem situationstypisierenden werden. Situationsmerkmale können aber auch gebündelt werden. Aus Gegenüberstellungen wie Situation der Textproduktion vs. Situation der Textrezeption (vgl. 3.2.1), äußere (relativ objektive) vs. innere (relativ subjektive Situation (Geißner 1982, 29 ff.) oder freigewählte vs. verordnete Situation (ebd., 31), die auf kommunikationstheoretischen Erkenntnissen basieren, wird ersichtlich, dass das Verhältnis von Mensch (Kommunikationsteilnehmer) und Situation von besonderer situationstypologischer Relevanz sein muss. Hinzu kommt, dass Situationen nach Komplexitätsgraden differenzierbar sind. Situationstypen bilden dann eine hierarchische Ordnung, wie in der Unterscheidung zwischen Makro-, Meso- und Mikrosituation, z. B. ,Schule‘ ⫺ ,Unterricht‘ ⫺ ,Unterrichtsphase‘ (ebd., 29). Eine Hierarchie von Situationstypen zeichnet auch das Modell einer Gesamtsituation aus, das drei ineinander greifende Situationskomponenten enthält: (1) die Tätigkeitssituation (als übergeordnete Komponente), (2) die soziale Situation und (3) die Umgebungssituation (vgl. Hartung 1974, 273 ff.). Dieses Modell erweist sich als geeignet, Zusammenhänge herzustellen zwischen Situationstypen einerseits und rhetorischen Gattungen bzw. Stiltypen andererseits, was hier nur exemplarisch aufgezeigt werden kann. ,Tätigkeitssituation‘ erfasst nach diesem Modell einen Ausschnitt aus der sozialen Praxis der Kommunikationsteilnehmer, mit dem Anlässe, Ziele, Inhalte und Formen der interpersonalen Kommunikation verknüpft sind. Solche Tätigkeitskontexte werden von der Rhetorik als Rhetorikbereiche (vgl. 2.1) beschrieben, wo sich spezielle Gattungen, z. B. die Wahlkampfrede im Bereich der politischen, das Glaubensgespräch im Bereich der religiösen Rhetorik ausgeprägt haben; sie konkretisieren sich darüber hinaus in sämtlichen Kommunikationsbereichen im Verständnis der Funktionalstilistik ⫺ in Bereichen, denen sowohl Stiltypen auf einem hohen Abstraktionsniveau zugeordnet werden, d. h. Funktional- bzw. Bereichsstile wie ,Stil der Wissenschaft‘ und ,Stil der Presse und Publizistik‘, als auch speziellere Textsortenstile, etwa der Stil wissenschaftlicher Gutachten oder der Leitartikelstil. Tätigkeitssituationen schließen charakteristische Sozialbeziehungen ein, die von den Kommunikationsteilnehmern respektiert, aber auch modifiziert oder ignoriert werden können. In der rhetorischen Gattungstypologie zeigt die Abgrenzung zwischen Klärungsund Streitgespräch sowie die Ausgrenzung von Schein- und Kampfgespräch (vgl. Geißner 1982, 99 ff. und 2.2.3), dass der Beziehungsaspekt der Kommunikation (Partnerschaft, Gegnerschaft, Repression, Aggression) als prominentes Kriterium fungiert. Stiltypologische Textkennzeichnungen, die speziell auf die soziale Situation bezogen sind, erstrecken sich auf das Feld der Rollen-, Beziehungs- und Gruppenstile (vgl. Michel 2001, 96 ff.; 133 ff.). Der Situationstyp Umgebungssituation bündelt alle die Situationsmerkmale, die als raum-zeitliche Begleitfaktoren auf das kommunikative Geschehen Einfluss nehmen (können): (1) raum-zeitliche Merkmale des kommunikativen Kontakts (direkt/vermittelt), (2) die Kommunikationsrichtung (monologisch/dialogisch), (3) das Kommunikationsmedium (mündlich/schriftlich), (4) die Kommunikationsplanung (spontan/vorbereitet). Als umgebungssituativ bestimmt erweist sich daher die Differenzierung zwischen rede- und konversationsrhetorischen Gattungen (Beispiele in Bader 1994, wo mit Bezug auf Koch/Oesterreicher über mediale und konzeptionelle Aspekte des Rhetorischen reflektiert wird) sowie zwischen Sprech- und Gesprächsstil (Sandig/Selting 1997, 5). Hier
78. Situation als Kategorie von Rhetorik und Stilistik
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einzuordnen ist auch der Stiltyp Situationsstil, der durch Auffälligkeiten des Sprachgebrauchs bei direktem Kontakt zwischen Sprecher und Hörer in der spontanen mündlichen Kommunikation gekennzeichnet ist (vgl. Sanders 1977, 90 ff.). Dem entspricht texttypologisch die Klasse der situativen Texte, deren Umgebungssituation durch ein „gemeinsames augenblickliches Wahrnehmungsfeld“ (Asmuth/Berg-Ehlers 1976, 72) geprägt ist.
5. Literatur (in Auswahl) Allhoff, Dieter-W./Waltraud Allhoff (unter Mitarbeit von Brigitte Teuchert) (2000): Rhetorik und Kommunikation. Ein Lehr- und Übungsbuch zur Rede- und Gesprächspädagogik. 12. Aufl. Regensburg. Anderegg, Johannes (1977): Literaturwissenschaftliche Stiltheorie. Göttingen. Aristoteles (1999): Rhetorik. Stuttgart (bereits Stuttgart 1862). Asmuth, Bernhard/Luise Berg-Ehlers (1976): Stilistik. 2. Aufl. Opladen. Assmann, Aleida (1986): „Opting in“ und „opting out“. Konformität und Individualität in den poetologischen Debatten der englischen Aufklärung. In: Gumbrecht/Pfeiffer (1986), 127⫺143. Bader, Eugen (1994): Rede-Rhetorik, Schreib-Rhetorik, Konversationsrhetorik. Eine historisch-systematische Analyse. Tübingen (ScriptOralia, 69). Bartsch, Elmar (1990): Grundlinien einer ,kooperativen Rhetorik‘. In: Hellmut Geißner (Hrsg.): Ermunterung zur Freiheit. Rhetorik und Erwachsenenbildung. Frankfurt a. M., 37⫺49. Blumenberg, Hans (1991): Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Josef Kopperschmidt (Hrsg.): Rhetorik. 2 Bde. Bd. 2: Wirkungsgeschichte der Rhetorik. Darmstadt, 285⫺312. Erstveröffentlichung 1970. Brinker, Klaus (1997): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 4. Aufl. Berlin (Grundlagen der Germanistik, 29). Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena. Dijk, Teun A. van (1980): Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung. Tübingen (Utrecht 1978). Dubois, Jaques u. a. (1974): Allgemeine Rhetorik. München (Paris 1970). Enkvist, Nils Eric/Michael Gregory/John Spencer (1972): Linguistik und Stil. Heidelberg (London 1964). Fiehler, Reinhard (1999): Was tut man, wenn man ,kooperativ‘ ist? Eine gesprächsanalytische Explikation der Konzepte ,Kooperation‘ und ,Kooperativität‘. In: Mönnich/Jaskolski (1999), 52⫺58. Firle, Marga (1990): Stil in Kommunikation, Sprachkommunikation und poetischer Kommunikation. In: Fix (1990), 19⫺45. Fix, Ulla (u. Autorenkoll.) (1990): Beiträge zur Stiltheorie. Leipzig. Fleischer, Wolfgang/Georg Michel u. a. (1975): Stilistik der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig. Fleischer, Wolfgang/Georg Michel/Günter Starke (1996): Stilistik der deutschen Gegenwartssprache. 2. Aufl. Frankfurt a. M. u. a. Geißner, Hellmut (1981): Gesprächsrhetorik. In: Literaturwissenschaft und Linguistik 11, H. 43/44 (Perspektiven der Rhetorik, hrsg. v. Wolfgang Haubrichs), 66⫺89. Geißner, Hellmut (1982): Sprecherziehung. Didaktik und Methodik der mündlichen Kommunikation. Königstein/Ts. (Monographien Literatur ⫹ Sprache ⫹ Didaktik, 30). Gumbrecht, Hans Ulrich/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.) (1986): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M. Gumperz, John J. (1990): Contextualisation and understanding. In: Alessandro Duranti/Charles Goodwin (eds.): Rethinking context. Language as an interactive phenomenon. Cambridge, 229⫺252. Hartung, Wolfdietrich (u. Autorenkoll.) (1974): Sprachliche Kommunikation und Gesellschaft. Berlin (Sprache und Gesellschaft, 1). Herrgen, Joachim (2000): Die Sprache der Mainzer Republik (1792/93). Historisch-semantische Untersuchungen zur politischen Kommunikation. Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik, 216).
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Michael Hoffmann, Potsdam (Deutschland)
79. Handlung (Intention, Botschat, Rezeption) als Kategorie der Stilistik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Handlungsstilistik/pragmatische Stilistik Stildefinition Stilabsicht, Stil als Wahl, Stilwirkung Stilistische Funktionstypen bezogen auf kommunikatives Handeln Stilrelevante Typen von Textherstellungshandlungen Stilistische Handlungsmuster Sprechakte und Satzsemantik Beispiele sprachpragmatischer Stilanalyse von Texten/Gesprächen Literatur (in Auswahl)
Abstract Pragmatic stylistics investigates the types of meanings which style can contribute to linguistic action and to the organization of themes. This includes, among other things, the expression of attitudes, the establishment of relationships between partners and relating action(s) to situations in order to communicate with utmost efficiency. Style is expressed both
79. Handlung (Intention, Botschaft, Rezeption) als Kategorie der Stilistik
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Michael Hoffmann, Potsdam (Deutschland)
79. Handlung (Intention, Botschat, Rezeption) als Kategorie der Stilistik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Handlungsstilistik/pragmatische Stilistik Stildefinition Stilabsicht, Stil als Wahl, Stilwirkung Stilistische Funktionstypen bezogen auf kommunikatives Handeln Stilrelevante Typen von Textherstellungshandlungen Stilistische Handlungsmuster Sprechakte und Satzsemantik Beispiele sprachpragmatischer Stilanalyse von Texten/Gesprächen Literatur (in Auswahl)
Abstract Pragmatic stylistics investigates the types of meanings which style can contribute to linguistic action and to the organization of themes. This includes, among other things, the expression of attitudes, the establishment of relationships between partners and relating action(s) to situations in order to communicate with utmost efficiency. Style is expressed both
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik through single remarks and their components and through complex structures such as an entire text or discourse (or rather discourse units). Stylistic awareness (competence) of the participants is the key element for producing, conveying and interpreting stylistic meaning or effects compliant to the communicative intentions. Styles can be interpreted based on their structure and relation to the multiple conditions of language usage. This articles focuses on different types of stylistic acts, on the one hand, it examines the stylistic text producing acts (text constituting acts) of different degrees of generality versus specificity and different complexity. On the other hand, stylistic patterns of action as inventories (resources) of highly different elements are described, which can be interpreted as a unit within the text. Finally, the variety of potential options of analysis is considered.
1. Handlungsstilistik/pragmatische Stilistik „Die Rhetorik ist im Kern eine sprachpragmatische Stilistik“, allerdings noch ohne Handlungskategorien (Püschel 1991a, 53). Handlungsstilistik ist weit mehr als die rhetorische Elocutio. Sie basiert auf der Auffassung der linguistischen Pragmatik, dass mit der Verwendung von Sprache in unterschiedlichen Situationen Handlungen vollzogen werden. Da in derselben Situation dieselbe Handlung jeweils verschieden durchgeführt werden kann und die Verschiedenheit stilistisch bedeutsam ist, hat jede Äußerung und mithin jede kommunikative Handlung Stil: erwartbar in der Situation, bezogen auf unsere Kenntnisse von Situationstypen (vgl. Artikel 74 in diesem Handbuch) und damit unauffällig oder auffälliger bzw. auffallend aufgrund gradueller Abweichungen vom Erwartbaren. Auch Sprach-Kontexte schaffen Erwartungen, von denen zu stilistischen Zwecken abgewichen werden kann. Das bedeutet, dass der Beitrag von Stil zum kommunikativen Handeln auf Wahl beruht, nämlich auf den in der Situation und/oder dem Sprach-Kontext vorgegebenen, d. h. erwartbaren oder gradweise ungewöhnlichen Alternativen. Drei verschiedene Zugänge der Handlungsstilistik lassen sich unterscheiden: (1) die Beschreibung der Arten des Beitrags von Stil zum sprachlichen Handeln, d. h. seiner typischen Funktionen (s. 4), (2) die Beschreibung stilistischer Textherstellungshandlungen verschiedener Reichweite (s. 5) und komplexe stilistische Handlungsressourcen (s. 6) sowie (3) die stilistisch relevante Analyse von Sprachhandlungen angesichts jeweils möglicher Handlungsalternativen (s. 7 und 8) Zur pragmatischen Stilistik wird verwiesen auf den knappen Überblick bei Göttert/Jungen (2004, 32 ff.), die programmatischen Artikel von Püschel (1991a; 1995), den Überblick bei Fix/Poethe/Yos (2001, 35 f.) sowie die Grundlegung bei Sandig (1978, 61 ff.). Nach Püschel (1991b, 22) „ist es die Aufgabe der sprachpragmatischen Stilanalyse, die stilistische Bedeutung von Sprachhandlungen bzw. Texten zu erklären.“
2. Stildeinition Eine pragmatische Stildefinition setzt Einheiten voraus, die in der folgenden Weise erfragt werden können (vgl. Stolt 1984; Sandig 1984; Sanders 2003; Fix/Poethe/Yos 2001,
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32; 35 f.; 152): WAS (Botschaft) wird WIE von WEM (Rolle/Individuum) für WEN (Rezipient: Rolle/Individuum) WOZU (mit welcher Intention: welcher Art von Text) unter WELCHEN Handlungsumständen FORMULIERT und ⫺ weitergehend ⫺: BEBILDERT, farblich, typografisch … bzw. mit Stimme, Mimik, Gestik … GESTALTET. Zu unterscheiden sind Textstile, Textmusterstile (in anderer Terminologie „Textsortenstile“) und Gesprächsstile bzw. die mehr auf Intonation fokussierten Sprechstile (Selting/Sandig 1997). Es gibt individuelle Stile (Individualstil oder ad hoc verfertigter Stil) und typisierte Stile wie den Märchenstil oder Fachstile, die als Ressourcen für das Herstellen von realisierten Stilen bereitliegen und die anhand charakteristischer Merkmale (Schlüsselmerkmale wie Es war(en) einmal) oder Merkmalsbündel von Rezipienten erkannt werden können. Stil, das WIE, ist die bedeutsame, situations- und funktionsbezogene Variation der Verwendung von Sprache (und anderen Zeichentypen) zum Zweck möglichst erfolgreichen kommunikativen Handelns in sozialen Situationen. Mit dem Stil kann außerdem die Handlung um weitere Sinnaspekte angereichert werden. Mit Stilen werden Handlungen typisiert oder gradweise individualisiert: Sie ermöglichen bedeutsame Differenzierungen beim kommunikativen Handeln. Sie basieren auf sozialem Wissen, auf kommunikativer Kompetenz.
3. Stilabsicht, Stil als Wahl, Stilwirkung Kommunikatives Handeln ist grundsätzlich intentional, wobei auch mit automatisierten, routinierten und unbewussten Intentionen zu rechnen ist. Das Verstehen geschieht mit Bezug auf gewusste Regeln und Muster, nach denen gehandelt wird bzw. von denen gradweise abgewichen wird. „Handlungen ⫺ also auch stilistische Handlungen ⫺ (sind) Interpretationskonstrukte […]. Hörerleser können etwas als stilistische Handlungen verstehen, auch wenn es vom Sprecherschreiber keineswegs so gemeint ist“ (Püschel 1991a, 53), z. B. bei der Epochenzuordnung älterer Texte. Kommunikatives Handeln erfolgt bezogen auf bestimmte Handlungsumstände und -voraussetzungen. Analog zu den Handlungsaspekten Intention und Rezeption stehen auf der Produzentenseite die Stilabsicht und auf der Rezipientenseite die Stilwirkung. Die Botschaft als Handlungsinhalt oder Thema wird im Rahmen der Handlungsintention, z. B. einer brieflichen Bitte, übermittelt. Die Stilabsicht soll die Handlung mit ihrer Botschaft unterstützen und dies in der gegebenen Situation, angesichts des oder der Rezipienten mit ihrem zu antizipierenden Wissen, auch angesichts des Kanals (z. B. visuell-schriftlich), des Textträgers (Briefpapier unterschiedlicher Qualität), des sozialen Umfelds der Beteiligten, d. h. der gesamten Handlungskonventionen. Es liegt auf der Hand, dass bei derart komplexen Voraussetzungen die Stilabsicht mehr oder weniger gut realisiert werden kann; es handelt sich um einen Gestaltungsversuch (Püschel 1987). Auch bei der Stilwirkung auf der Rezipientenseite bestehen Risiken: Stil wird nicht immer bzw. nicht immer voll erkannt, d. h. die Stilmerkmale eines Textes sind nur virtuell (Spillner 1995, 70); sie müssen rezipierend realisiert werden. Ein entsprechendes Stilwissen (stilistische Kompetenz) muss vorhanden sein. Außerdem können Voreingenommenheiten sowie regionale, soziale, auch historische bzw. kulturelle Zugehörigkeiten von Rezipienten dazu führen, dass die Stilabsicht nicht gelingt: Dann wirkt der Stil ,altmodisch‘,
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik ,gekünstelt‘, ,komisch‘, ,fremd‘ usw. Auch eine andere ideologische Ausrichtung kann zur Folge haben, dass das in den Text über den Stil eingeschriebene Wertesystem (Fowler 1991, 10 ff.) abgelehnt wird: z. B. kann ein traditionell am generischen Maskulinum ausgerichteter Stil in den Augen einer Feministin negativ bewertet erscheinen (Mills 1995). Das bedeutet, dass die Stilabsicht analog zur Perlokution bei der Sprechaktbeschreibung als Versuch gesehen und vom tatsächlich bei der Rezeption eintretenden Effekt (Stilwirkung) unterschieden werden muss (vgl. Luge 1991, 75 f.: perlokutionärer Versuch und perlokutionärer Effekt). Die Handlung und ihr Inhalt (Botschaft) können in verschiedener Weise GESTALTET werden, so kann ich geradeheraus um etwas BITTEN oder gleichzeitig mich SELBSTDARSTELLEN (als Experte, als originell) und/oder die Beziehung in bestimmter Weise GESTALTEN (als familiär oder förmlich distanziert …), dabei den situativen Gegebenheiten (institutionsbezogen, privat …) usw. Rechnung tragen. In allen derartigen Aspekten besteht eine Wahlmöglichkeit (Stil als Wahl, s. Short 1993). Für solche Wahlen verfügen wir über vielfältige Vorgaben, Ressourcen: individuelle Stile, Stilebenen, typisierte Stile verschiedener Art wie Telegrammstil, Parlando (Sieber 1998), soziale Stile (Habscheid/Fix 2003) oder Textmusterstile, mediale Stile (für die beiden letzteren Bachmann-Stein 2004), Mündlichkeit, Schriftlichkeit und deren unterschiedliche Mischungen für den jeweils konkreten Zweck. Die Stilstruktur, die als Ergebnis der jeweiligen Wahl bei der Produktion entsteht, ist bei der Rezeption in vielfältigen Relationen zu interpretieren: zum Handlungstyp, zum Inhalt oder Thema, zu den Handlungsbeteiligten und zu den komplexen Gegebenheiten der gesamten Situation, für deren Deutung wir über Situationstyp-Wissen verfügen (vgl. Artikel 74 in diesem Handbuch). Stil hat Struktur und ist relational auf das gesamte kommunikative Handeln bezogen: Erst aus beiden kann ein Rezipient einen stilistischen Sinn interpretieren. So verwundert es nicht, dass der Beitrag von Stil zum kommunikativen Handeln „eine über die sprachliche Form vermittelte Information pragmatischer Art“ (Fix/Poethe/Yos 2001, 35) ist, aber auch dazu, wie sich die kommunizierende Person zu den Konventionen und konkreten Gegebenheiten des Handelns verhält und zu ihren diesbezüglichen Einstellungen.
4. Stilistische Funktionstypen bezogen au kommunikatives Handeln Kommunikatives Handeln beruht auf Konventionen, auf in einer Gemeinschaft eingespielten Regeln und komplexeren Mustern, von denen jedoch ⫺ mit besonderem Sinn ⫺ auch abgewichen werden kann. Zu diesen Konventionen gehört, dass wir über generelle Typen stilistischen Sinns verfügen, nach denen wir kommunikative Handlungen interpretieren. Im konkreten Fall sind diese generellen Typen spezifiziert. Zunächst ist danach zu fragen, wie die konkrete Kommunikationshandlung relativ zum per Konvention vorgegebenen Handlungsmuster durchgeführt ist. Daraus ergibt sich stilistischer Sinn. Die Botschaft, das Thema kann je nach konkreter Handlungsabsicht mit verschiedenem Sinn GESTALTET werden. Beides wird an (einen) Adressaten über einen Kanal übermittelt: Geschieht es kanalgemäß oder ,besonders‘? Wenn es einen Textträger gibt, stellen sich die folgenden Fragen: Hat er eine ,besondere‘ Qualität oder folgt seine Wahl dem Üblichen, ist er unauffällig? Wie ,passt‘ er zur Handlung mit ihrem
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Thema? Wer äußert die Handlung? Gibt es eine besondere Selbstdarstellung des oder der Beteiligten (als Experte, als gebildet, als ,schlicht‘, als einer bestimmten Gruppe zugehörig usw.)? Wie wird mündlich oder schriftlich auf den/die Adressaten eingegangen? Wie wird die Beziehung zwischen Produzent und Rezipient GESTALTET? Findet die Kommunikation in einem institutionellen oder in einem privaten Rahmen statt und wie verhalten sich die Beteiligten zu den dadurch vorgegebenen Erwartungen. Wird die Kommunikation medial vermittelt und entspricht sie dem ,Image‘ des Mediums (ein Fernsehsender, eine bestimmte Tageszeitung …)? Wie verhält sich die Kommunikation zu den regionalen, sozialen, zeit- und damit kulturgegebenen Erwartungen? Schließlich können mit dem Stil nebenher, nicht explizit, Meinung und Ideologie vermittelt werden, aber auch andersartige Einstellungen wie Bewertungen und Emotionen oder Einstellungen zur Sprache, auch ästhetische Werte (Hoffmann 2003). Diese ganze Vielfalt, die Art der Handlungsdurchführung und ihres Themas, gegebenenfalls angereichert mit dem Ausdruck von Einstellungen, und der vielfältige Situationsbezug können durch Stil ausgedrückt werden. Und das heißt: implizit, nebenher. Methodisch ist die Relevanz dieser Sinnaspekte nachweisbar durch das typische Reden über Stil in der Gemeinschaft (vgl. Sandig 1986, 20 ff.). Anhand der Kategorisierungsausdrücke für literarisch-ästhetische Stile entwickelt Hoffmann (2003, 115 ff.) eine zusätzliche Typisierung ästhetischen Sinns literarischer Werke. Die Sinnaspekte gehören zur Handlungskompetenz. Dabei kann man den situationsbzw. traditionsgegebenen Erwartungen folgen oder gradweise davon abweichen, ja sogar die Situation neu definieren (Selting 1997, 12). Damit ist Stil das Mittel der Individuierung oder Typisierung kommunikativer Handlungen und das Mittel, sie in Relation zu den Erwartungen zu sehen, die durch Handlungs-, Themen- und Situationstypen geweckt werden. Auf Typen von Stilwirkungen (Sandig 1986, 64 ff.) sei hier nur kurz hingewiesen.
5. Stilrelevante Typen von Textherstellungshandlungen Antos (1982) unterscheidet zwischen den Handlungen, die dazu dienen, einen Text zu verfertigen (Textherstellungshandlungen oder Textkonstitutionshandlungen, „stilbildendes Handeln“ bei Fix/Poethe/Yos 2001, 35), und Handlungen, die mit dem Text als Ergebnis dieses Textherstellungsprozesses vollzogen werden (s. dazu 8). Kommunikative Handlungen desselben Typs werden stilistisch auf verschiedene Weise, den aktuellen Intentionen entsprechend, DURCHGEFÜHRT, indem sie einerseits stilistisch GESTALTET werden und andererseits mit den Gegebenheiten der Kommunikation, mit den Konventionen des Handlungstyps bzw. Textmusters und mit dem kulturell relevanten Wissen RELATIONIERT werden. Das DURCHFÜHREN erfolgt durch FORMULIEREN (Püschel 1987, 144), durch WÄHLEN von Stilelementen, auch von Elementen stilistischer Handlungsmuster (s. 6). Wichtig ist auch das WÄHLEN von Teilhandlungen und/oder Teilthemen und des Textmusters (s. 2: mit welcher Art von Text), z. B. Erzählen oder Berichten bei der Wiedergabe eines Geschehens, auch der Interaktionsmodalität, z. B. ,heitere‘ oder ,besinnliche‘ Erzählung. Weiter geht es um das WÄHLEN von Aspekten materieller Gestaltung sowie um das STRUKTURIEREN des Gesamttextes: Sprachliches, Typografie, Bild(er), Farbe(n) …, und schließlich durch das SEQUENZIEREN der Teilhandlungen und/oder der Botschaft (Genaueres dazu Sandig 2006, Kap. 4.1). In Gesprächen werden Stile als gemeinschaftliche „interaktive Leistung“
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik (Selting 1997, 10) hergestellt, beibehalten oder verändert und bilden so einen gemeinsamen „Interpretationsrahmen“ für die Aktivitäten der Beteiligten: „interaktionale Stilistik“ (Selting 1997, 13). Weiter zählt zu den generellen Textherstellungshandlungen beim WÄHLEN von Stilelementen das FORTFÜHREN (Sandig 1978) von meist verschiedenartigen Merkmalen, die alle zusammen in ähnliche Richtung wirken, wie z. B. EMOTIONALISIEREN durch Exklamativsatz oder Wunschsatz, Betonung des Satzanfangs und insgesamt akzentreiche Sprache, emotionale Lexik und entsprechende Phraseologismen usw. Untermuster des FORTFÜHRENSs sind WIEDERHOLEN der Form und/oder der Semantik (kein Mensch, kein Schwein für ,niemand‘) und VARIIEREN als Standardfall (dazu genauer Besch 1989). Das FORTFÜHREN mit seinen Untermustern kann ausdrucksseitig sein (dann ist es markiert) oder inhaltsseitig, was der Standardfall ist. Muster können GEMISCHT (vgl. Rehbein 1983), VERSCHOBEN, GEWECHSELT werden, oder von ihnen kann ABGEWICHEN werden (Püschel 1995, 317). GESTALTEN oder auch der sich auf die Stilabsicht beziehende Gestaltungsversuch ist der stilistische Handlungstyp schlechthin (Püschel 1987, 143; 1995, 306), da er die gesamte sprachliche, parasprachliche und nonverbale Textgestalt umfasst (Fix 1996a): Die stilistische Textgestalt als Ergebnis des GESTALTENs ist ein komplexes Ganzes aus verschiedensten Teilaspekten. Eine solche Gestalt ist immer eine bedeutsame Gestalt. Dieses Ganze wird in verschiedenen Relationen, d. h. RELATIONIERT rezipiert. Auf diese Weise wird die Handlung, die mit dem Text vollzogen wird, zu einer individuellen Handlung, d. h. UNIKALISIERT (Fix 1991b; Fix 1991a, 302). Dabei kann sie durchaus auch TYPISIERT sein (bei einem stark konventionalisierten Textmusterstil wie etwa dem von Gesetzestexten), aber auch INDIVIDUALISIERT oder gar ORIGINALISIERT (Fix 1991b, 54 ff.). Hoffmann (2003, 109) bringt mit Bezug auf Fix (1996a) auch „ästhetisierendes Handeln“ ein; man kann es auch ÄSTHETISIEREN nennen. Dies geschieht durch FORTFÜHRENDES „Gewährleisten von Einheitlichkeit“ (Hoffmann 2003, 110) oder EINHEITLICH MACHEN durch GESTALTEN nach einem „Formprinzip bzw. einer Formidee“ (ebd., 108). Dabei sieht Hoffmann „künstlerisches Gestalten […] als eine von pragmatischen Zwängen befreite Tätigkeit“ (ebd., 110 f.). Spezielle stilistische Verfahren dienen dazu, im Text Stilmittel herzustellen, die dann zusammen mit anderen konventionellen Stilmerkmalen (Stilfiguren, Satzkonstruktionen, Lexemen, Morphemen, Phraseologismen, Wortbildungen etc.) zusammenwirken. Dazu gehören ABWEICHEN (Püschel 1985; Fix/Poethe/Yos 2001, 186 ff.; Sandig 2006, Kap. 4.1.2.1) und VERDICHTEN (Dittgen 1989; Sandig 2006, Kap. 4.1.2.2; von Polenz’ vier Typen komprimierter Aussagen 1980, 145⫺150).
6. Stilistische Handlungsmuster Stilistische Handlungsmuster im engeren Sinn (auch „Stilmuster“, dieser Terminus aber auch mit weiterer Bedeutung, Fix/Poethe/Yos 2001, 218; Sandig 1978, 167 ff.: „Stilinventare“) sind komplexe Vorgaben, d. h. gewusste Muster als Teil der stilistischen Kompetenz für das DURCHFÜHREN spezieller stilrelevanter Teilhandlungen, wie EMOTIONALISIEREN oder ÄSTHETISIEREN (Fix 2001) als Spezialfälle des Einstellungsausdrucks. Das bedeutet, dass sie in ihrer Realisierung bereits als solche zur stilistischen Bedeutung des Textes beitragen. Sie bestehen aus einer Bandbreite stilistischer Merkmale
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verschiedener Sprachbeschreibungsebenen und eventuell anderer Zeichentypen als komplexe Ressource, aus denen für die konkreten Handlungsziele FORTFÜHREND ausgewählt wird, so dass im Text ein charakteristisches Merkmalsbündel entsteht (s. 3), das den entsprechenden stilistischen Sinn nahe legt. Bei der Rezeption werden Zusammenhänge unter den Merkmalen interpretiert, was zur Deutung der Anwendung eines stilistischen Handlungsmusters im Text führt. Derartige stilistische Handlungsmuster sind sehr variabel einsetzbar, und je nach kommunikativen Gegebenheiten und Textmuster sind die entstandenen Merkmalsbündel im Text verschieden. Sie sind unterschiedlich komplex und unterschiedlich spezifisch. Zum Beispiel können KONTRASTIEREN und DIALOGISIEREN (im Schrifttext), auch HERVORHEBEN, mit ganz verschiedenen Funktionen zur Ausgestaltung der Intention und/oder der Botschaft eingesetzt werden. Bereits speziellerer stilistischer Sinn wird vermittelt durch ATTRAKTIV MACHEN (Sandig 1986, 228 ff.) als Spezialisierung der Adressatenberücksichtigung mittels gängiger Stilmerkmale, aber auch mittels Typografie, Farben, Bildern, Form des Textträgers usw. Vergleichbares gilt für VERSTÄNDLICH MACHEN (Groeben 1982, Teil II; Sandig 1991) als Mittel der Sachverhaltsdarstellung und der Adressatenberücksichtigung. Beispielsweise können sowohl für das ATTRAKTIV MACHEN als auch für das VERSTÄNDLICH MACHEN die stilistischen Handlungsmuster KONTRASTIEREN, DIALOGISIEREN und HERVORHEBEN verwendet werden. Stilistische Handlungsmuster sind also nicht fest begrenzt und die einfacheren können in die komplexeren integriert werden. Noch komplexer als die bisher genannten stilistischen Handlungsmuster ist z. B. das PERSPEKTIVIEREN: Es kann das ERZÄHLEN aus einer Perspektive mit Zitaten aus einer anderen enthalten, aber auch das KONTRASTIEREN unterschiedlicher Perspektiven, das Doppeln von Perspektiven wie bei der erlebten Rede (Sie war ja so glücklich darüber!), Perspektivenschwenks usw. Auch Stilebenen können als stilistische Handlungsmuster gesehen werden, denn mit ihrer Hilfe kann man distanziert (,poetisch‘, ,erhaben‘, ,pathetisch‘ …), normal (,neutral‘, ,unauffällig‘ …) oder nah (,familiär‘, ,salopp‘, ,vulgär‘ …) GESTALTEN. Dialekte, Soziolekte, fremde Sprachen können wie stilistische Handlungsmuster eingesetzt werden.
7. Sprechakte und Satzsemantik Auf einer Mikroebene geht es um die Art der Durchführung von Sprechakten. Hier lauten die Fragen: Wie wird auf Gegenstände REFERIERT? Was wird darüber PRÄDIZIERT? Wie wird die illokutionäre Rolle versprachlicht? Werden (z. B. durch Konnotationen oder Präsuppositionen) nebenbei Handlungen mit vollzogen? Es geht also um das Problem, mit welchem stilistischen Sinn im gegebenen Kontext ein Sprechakt ausgedrückt, FORMULIERT bzw. auch weitergehend GESTALTET ist. So kann jemand je nach der Art der Beziehung und/oder seiner Einstellung zum Sachverhalt jemand anderen auf sehr verschiedene Weise BITTEN oder AUFFORDERN, das Fenster zu schließen; zum sprachlichen Ausdruck kommt Artikulation, Intonation und gegebenenfalls Mimik und Gestik hinzu: (1)
a. Mach das Fenster zu (!) b. Mach bitte das Fenster zu (!) c. Mach doch bitte mal das Fenster zu.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik d. e f. g.
Würdest du wohl das Fenster schließen! Das Fenster ist (ja) (immer noch) offen. Kannst/Könntest du bitte mal das Fenster zumachen? Es zieht! usw. (nach Maas/Wunderlich 1972, 123 f.)
Auch die Art der Sequenzierung von Sprechakten kann betrachtet werden: vom selben Sprecher, in der Replik. Ein Beispiel für misslingende Sequenzen erörtert Fix (1996b) im Kontext von sprecher- und hörerbezogenen Kommunikationsmaximen. Man kann auch danach fragen, wie jeweils auf Gegenstände REFERIERT wird. So wurde im „Stern“ (11/2000, 25) in der Rubrik „Leute“ auf die frühere englische Premierministerin und ihren Ehemann folgendermaßen VARIIEREND Bezug genommen: (2)
a. die Eiserne Lady, Mrs. Thatcher, die Lady, Maggie; b. ihr Gatte Sir Dennis Thatcher, der millionenschwere Geschäftsmann, der Gatte, der Herr Gemahl.
Man kann weiter danach fragen, wie über einen Gegenstand PRÄDIZIERT wird. Man vergleiche: (3)
a. Die Unterstellung von Absichten ist ein praktischer Turbolader der Kommunikation, für die Kommunikationswissenschaft ist sie Sand im Getriebe und eine veritable Störgröße. (Knobloch 2005, 14). b. Die Unterstellung von Absichten ist nützlich für die Kommunikation, für die Kommunikationswissenschaft ist sie (problematisch und) störend.
Es ist z. B. möglich, dass die Botschaft, das Thema ,interessant‘ oder ,witzig‘ gemacht wird, indem die Referenz unbestimmt bleibt. In diesem Fall versuchen die Rezipierenden, aus den Prädikationen das Gemeinte zu erschließen: (4)
Jedesmal wenn ich dort bin, schwöre ich mir, ich gehe nie wieder hin. Wenn ich dort war, schäme ich mich. Ich schäme mich, weil ich ohne nicht sein kann, weil es Tage gibt, wo ich am Morgen schon spüre, ich muß wieder hin. Und dann gehe ich wieder hin […] Und man merkt, daß es dem anderen ebenso peinlich ist, hier gesehen zu werden. Auch ihn trieb irgendeine Sehnsucht her. Neulich traf ich dort einen alten Bekannten, einen Filmarchitekten. „Du hier?“ „Und du?“ So unser verklemmtes Begrüßungsritual. „Ich statte doch jetzt diese TV-Soap-Geschichten aus ⫺ dusselige Familienserien ⫺, wie soll ich die anders einrichten als mit IKEA? Aber was machst du hier?“ „Recherche“ […] (Elke Heidenreich/Bernd Schroeder (2005): Rudernde Hunde. Frankfurt/M., 59 f.)
Dieses Verfahren kann zum Aufbau von fiktionalem Wissen führen oder wie hier für eine unerwartete Wendung genutzt werden. Auch was es mit dem ich auf sich hat, erfährt man erst nach dem Stichwort Recherche, ebenfalls über die Prädikationen. Eine komplexe Methode zum „Zwischen-den-Zeilen-Lesen“ hat von Polenz (1980) entwickelt. Zu diesem Zweck erweitert er die Sprechaktkategorien: den Referenzakt um „Größenbestimmung“ zur genauen Bestimmung der Quantität, um „Sprechereinstellung“ und um „soziale und psychische Beziehung“. Nach der Bestimmung der „wesentli-
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chen Texthandlungen“ und des notwendigen Kontext- und Situationswissens folgt von Polenz in seiner „satzsemantischen“ Beschreibung der Abfolge des Textes: Schritt für Schritt werden die Teilhandlungen ermittelt, indem auch Angedeutetes, ,Mitgemeintes‘, Konnotiertes usw. beschrieben wird und zwar immer ganz nah an den Äußerungen. Die Methode ist vorzüglich demonstriert bei von Polenz (1980; 1988, 328 ff.).
8. Beispiele sprachpragmatischer Stilanalyse von Texten/Gesprächen Grundsätzliches zur pragmatischen Stilanalyse komplexer Einheiten ist zu finden bei Püschel (1991b), bei Faber (1994) und bei Holly/Kühn/Püschel (1986). Püschel (1995) setzt sich zum Ziel seiner stilpragmatischen Überlegungen die praktische Anwendbarkeit. Als theoretische Voraussetzungen formuliert er Folgendes (1995, 307): Sprachhandlungen erfolgen nach in einer Gemeinschaft eingespielten Mustern, nach regelhaft gewordenen Mustern. Aufgrund der Musterkenntnis erkennen wir Musteranwendungen, und wir können diese beschreiben. Aus der Gestalt der sprachlichen Handlung erkennen wir zudem den „durch die Gestalt bewirkten stilistischen Sinn“ (ebd.). Er gibt als Beispiel die Anrede des Publikums in einer Neujahrsansprache von Helmut Schmidt: Meine Damen und Herren mit einer stilistisch neutralen Formel. Helmut Kohl hingegen benutzt zum vergleichbaren Anlass: Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. In beiden Fällen wird die Beziehung verschieden GESTALTET und die Fortsetzungserwartungen sind verschieden: ,distanziert‘ im ersten Fall, ,förmlich-distanziert‘ und außerdem „integrierend und Nähe schaffend“ (ebd.) im zweiten. Er betont, wir müssten „die Details und das Ganze gleichermaßen im Blick haben, wir müssen zwischen beiden Perspektiven hin und her springen […] und zwischen ihnen vermitteln“ (1995, 310). Püschel geht darauf ein (1995, 311), dass der stilistische Sinn in der Regel nicht explizit gemacht wird ⫺ dies kann zusätzlich geschehen, unterstützend ⫺, sondern dass sein impliziter Charakter an der Gestaltung, an Äußerungsqualitäten des Textes nachgewiesen werden muss, am WIE, vgl. Faber (1994, 48⫺85): Die Interpretation muss plausibel gemacht werden. Um die Analyse durchschaubar zu halten, unterscheidet Püschel (1995, 312 f. ebenso wie Holly/Kühn/Püschel 1986, 43 ff.) drei „Aufgabenfelder“ (die zugleich Aufgaben für die sprachlich Handelnden benennen): (1) textsortenkonstitutive Muster, die also konventionsgemäß bei einem Gesprächs- oder Textmuster erwartbar sind (hinzuzufügen sind die fakultativen Teilhandlungen, sofern sie nach den Konventionen vorkommen können); (2) Organisationsmuster: Diese betreffen die Strukturierung und Gliederung von dialogischen und monologischen Texten, die thematische Organisation sowie die Verständnissicherung und die Aufmerksamkeitslenkung; (3) Kontakt- und Beziehungsmuster: die Etablierung, Aufrechterhaltung und Ausgestaltung kommunikativer Beziehung. Das unterschiedliche WIE weist Püschel bezüglich dieser drei Aufgabenfelder an den genannten beiden Neujahrsansprachen nach. Es ist zu betonen, dass Püschel (1995, 319) nicht bei der textinternen Beschreibung stehen bleibt: Gemäß der Einbettung von Äuße-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik rungen/Texten in Situationen sind diese, so Püschel, mit ihren Eigenschaften auf die Gegebenheiten der gesamten Situation zu beziehen, d. h. mit diesen zu RELATIONIEREN (s. 5). Das betrifft Handlungsrollen, Zusammenhänge und Anlass des Textes, den kulturellen Rahmen etc. (vgl. Sandig 1995, 33 f.).Um das Ausufern einer sprachpragmatischen Stilbeschreibung zu vermeiden, betont Faber (1994) außer den Aufgabenfeldern die jeweilige Zielsetzung einer Beschreibung. Bei Püschel geht es beispielhaft um die Erarbeitung der unterschiedlichen Stile der Ansprachen zweier Regierungschefs. Es folgen einige Beispiele, um die Vielfalt der Zielsetzungen und Anwendungen sprachpragmatischer Stilanalyse zu zeigen: Frier (1978, 106) behandelt den Nachweis der „möglichen Anwesenheit der gesellschaftlichen Kommunikation im literarischen Text“ und auch die „Freiheit, die der literarische Text bei der Integration der Alltagskommunikation hat“ (ebd., 95). Hier wird also der literarische Text mit bekannten Mustern RELATIONIERT. Short (1996) betrachtet den Dramentext als Sequenz kommunikativer Akte, die auf der Basis der Discourse Analysis interpretiert werden: Es geht um Sprechakte und Sprechaktsequenzen, pragmatische Präsuppositionen, Grices Kooperationsprinzip mitsamt den Konversationsmaximen, die alle auf der Grundlage des kommunikativen Wissens in ihrem WIE interpretiert werden. Weiter spielen das Anredeverhalten der Figuren und die Formen der Gestaltung von (sozialen) Beziehungen eine Rolle. Dabei sind verschiedene Kommunikationsebenen des Textes relevant: Intention und Botschaft des Autors an die Rezipierenden sowie der Figuren untereinander, Mitteilung einer Kommunikation mit Dritten an eine Figur etc. Neben den bei Short genannten und problematisierten Analysekriterien spielen weiter die Interaktionsmodalitäten wie Scherz, Ernst, Fantasie etc. eine Rolle. Zu einer Analyse mittels der Griceschen und weiterer Konversationsmaximen s. auch Fix (1996b). Faber (1994) reichert für die Dramenanalyse die sprachpragmatische Beschreibung um ethnomethodologisches Gedankengut an: Der zu interpretierende Sinn wird durch die Beteiligten (hier die Dramenfiguren) selbst hergestellt; dabei orientieren sie sich an Modellen oder Mustern, die in ihrer Gemeinschaft geläufig sind. Die so erarbeiteten alltagssprachlichen Muster, z. B. das eines Gesprächsbeginns, nimmt Faber als Hintergrund für ihre Beschreibungen. So kann sie zeigen, dass Thomas Bernhards Figuren derartige Muster nur teilweise befolgen ⫺ ein Zeichen „gestörter Kommunikation“ (1994, 34). Insofern sind die Gespräche „stilisiert“. Auf diese Weise zeigt sie das WIE der Dialoge auf, auch die Art der Entwicklung der Dialogtechnik bezüglich der Beziehungsqualität bei Bernhard. Holly/Kühn/Püschel (1986) geht es um den Inszenierungscharakter von Fernsehdiskussionen. Sie ergänzen die sprachpragmatische Beschreibung von Fernsehdiskussionen mit Politikern um die Beschreibung der nonverbalen, visuellen Inszenierung mittels Kameraführung und Bildregie: Auch in dieser Hinsicht sind die Sendungen GESTALTET. Im Rahmen der genannten Aufgabenfelder werden „textsortenkonstitutive Muster“ herausgearbeitet, nämlich Aufgaben der Moderatoren (wie kritisch FRAGEN, AUFLOCKERN zur Unterhaltung der Zuschauer, Ausgewogenheit herstellen usw.) und Aufgaben der Politiker (wie WERBEN und LEGITIMIEREN). Im Rahmen des Aufgabenfeldes Organisation geht es um die besondere Art der Gesprächsorganisation und die Art der Themenabhandlung. Dabei werden vor allem auch die Tricks von Politikern aufgezeigt. Holly (1990) untersucht das Sprachhandeln eines ,einfachen‘ Bundestagsabgeordneten. Seine Einbindung in verschiedene Institutionen und der Zwang, als „Transmissions-
79. Handlung (Intention, Botschaft, Rezeption) als Kategorie der Stilistik
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riemen“ (ebd., 128 ff.) zwischen Basis und Politiker-Kollegen zu fungieren, führt zu „Mehrfachadressierungen und Mehrfachfunktionen von Äußerungen“ (1990, 54). Die Rede wird „inszeniert“ (ebd., 54 ff.), indem gegenüber dem Publikum bestimmte Effekte intendiert werden, die das eigentliche Handeln überdecken: „Politische Akteure sind gleichzeitig auf der Bühne und im Zuschauerraum tätig, die Rampe ist beweglich und jeweils an anderer Stelle […]“ (ebd., 58). Der daraus resultierende besondere Stil der institutionellen Kommunikation wird mittels Sprachhandlungsanalysen aufgezeigt. Dabei ist Persuasion wesentlich „als eine stilistische Weise, bestimmte Textsorten zu gestalten“ (ebd., 105). Holly zeigt auch Möglichkeiten der Vermeidung von Rollenkonflikten auf und ihre Auswirkungen auf die stilistische Handlungsgestaltung. Fix/Poethe/Yos (2001, 82⫺93) analysieren einen Aufforderungstext im institutionellen Kontext mit Blick auf die Sprechaktformulierungen und zeigen sprachkritisch mögliche Alternativen auf. Sie beziehen die Typografie als Zeichentyp mit ein. Im selben Band (ebd., 150⫺157) wird ein Werbebrief analysiert. Beide Analysen enthalten auch Reflexionen über Grundsätzliches und die Methodik und sind durch Übungsaufgaben ergänzt. Oberhauser (1993) beschreibt bei ein- und mehrzeiligen Zeitungsschlagzeilen 43 verschiedene gängige Handlungstypen, die auch gleichzeitig realisiert werden können. Er geht aus von der Austinschen Einteilung des Sprechakts in Lokution, Illokution und Perlokution und ergänzt diese Gesichtspunkte um den Beziehungsaspekt, den „ko-textuellen“ Aspekt (Relation von Überschrift(en) und zugehörigem Text), den „intertextuellen“ Aspekt des Zusammenhangs mehrerer Nachrichten in derselben Zeitung, den „perspektivierenden“ Aspekt durch Vergleich von Gestaltungen desselben Sachverhalts in verschiedenen Zeitungen und schließlich den „intratextuellen“ Aspekt durch die Art der Verknüpfung der Äußerungen einer mehrteiligen Überschrift untereinander. Auf diese Weise kann er der gängigen Vorstellung von der ,Objektivität‘ der hard news-Überschriften Handlungstypen wie BEWERTEN und KRITISIEREN, EMOTIONALISIEREN, FAMILIÄR MACHEN, sich DISTANZIEREN oder IDENTIFIZIEREN, HOCHoder HERABSTUFEN usw. entgegensetzen. Stile in Arbeitskontexten untersuchen z. B. Müller (1997) und Brünner (1997). Bei Müller (1997) wird z. B. die Prosodie mit einbezogen und ebenso die Themenwahl, um eine asymmetrische Rollenbeziehung in einem Betrieb zu beschreiben. Brünner (1997) beschreibt unterschiedliche Stile eines Dienstleisters, je nach der Einschätzung der Kunden als Experten oder Laien. Für die Darstellung des Handlungsmusters nutzt sie eine Modellierung mittels Flussdiagramm, die auf Rehbein (1977) basiert und die auch mentale Tätigkeiten der Beteiligten einbezieht. Andere „Beziehungsstile“ werden in Holly (1983) und Sandig (1983) beschrieben. Die handlungsstilistischen Analysen gehen, basierend auf Text- oder Gesprächsmustern und Beschreibungsinteresse, mehr und mehr in Richtung einer umfassenden ganzheitlichen, einer „holistischen“ Beschreibung. Dies wird besonders deutlich durch den Vergleich der stilistischen Analyse von Zeitungshoroskopen über die Jahre hinweg: als zwei Varianten eines Textmusterstils in Sandig (1978, 99 ff.) einerseits und BachmannStein (2004) andererseits. Bachmann-Stein beschreibt anhand eines Textmustermodells ebenso die materielle, visuelle Gestalt in ihren Funktionen wie die Handlungsstrukturen, die thematischen Strukturierungen und die sprachlichen Formulierungsmuster bezogen auf vier verschiedene Zeitungen mit ihrer jeweiligen Klientel.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
9. Literatur (in Auswahl) Antos, Gerd (1982): Grundlagen einer Theorie des Formulierens. Textherstellung in geschriebener und gesprochener Sprache. Tübingen. Bachmann-Stein, Andrea (2004): Horoskope in der Presse. Ein Modell für holistische Textsortenanalysen und seine Anwendung. Frankfurt/M. Besch, Elmar (1989): Wiederholung und Variation. Untersuchung ihrer stilistischen Funktionen in der deutschen Gegenwartssprache. Frankfurt/M. u. a. Brünner, Gisela (1997): Fachlichkeit, Muster und Stil in der beruflichen Kommunikation. In: Selting/Sandig (1997), 254⫺285. Dittgen, Andrea Maria (1989): Regeln für Abweichungen. Funktionale sprachspielerische Abweichungen in Zeitungsüberschriften, Werbeschlagzeilen, Werbeslogans, Wandsprüchen und Titeln. Frankfurt/M. Faber, Marlene (1994): Stilisierung und Collage. Sprachpragmatische Untersuchung zum dramatischen Werk von Botho Strauß. Frankfurt/M. Fix, Ulla (1991a): Vorbemerkungen zur Theorie und Methodologie einer historischen Stilistik. In: Zeitschrift für Germanistik NF 1, 299⫺310. Fix, Ulla (1991b): Unikalität von Texten und Relativität von Stilmustern. In: Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache 10, 51⫺60. Fix, Ulla (1996a): Gestalt und Gestalten. Von der Notwendigkeit der Gestaltkategorie für eine das Ästhetische berücksichtigende pragmatische Stilistik. In: Zeitschrift für Germanistik NF VI, 308⫺323. Fix, Ulla (1996b): Text- und Stilanalyse unter dem Aspekt der kommunikativen Ethik. Der Umgang mit den Griceschen Konversationsmaximen in dem Dialog „Das Ei“ von Loriot. In: Angelika Feine/Hans-Joachim Siebert (Hrsg.): Beiträge zur Text- und Stilanalyse. Frankfurt/M. u. a., 53⫺67. Fix, Ulla (2001): Die Ästhetisierung des Alltags ⫺ am Beispiel seiner Texte. In: Zeitschrift für Germanistik NF XI, 36⫺53. Fix, Ulla/Hannelore Poethe/Gabriele Yos (2001): Textlinguistik und Stilistik für Einsteiger. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, unter Mitarbeit von Ruth Geier. Frankfurt/M. u. a. Fowler, Roger (1991): Language in the News: Discourse and Ideology in the Press. London/New York. Frier, Wolfgang (1978): Zur Anwesenheit kommunikativer Handlungen im Text. Pragmatische Analyse der „Linkshänder“ von G. Grass. In: Der Deutschunterricht 30. H. 5, 95⫺110. Göttert, Karl-Heinz/Oliver Jungen (2004): Einführung in die Stilistik. München. Groeben, Norbert (1982): Leserpsychologie: Textverständnis ⫺ Textverständlichkeit. Münster. Habscheid, Stephan/Ulla Fix (Hrsg.) (2003): Gruppenstile. Zur sprachlichen Inszenierung sozialer Zugehörigkeit. Frankfurt/M. u. a. Hoffmann, Michael (2003): Stil und stilistischer Sinn im Bezugsfeld pragmatischer und ästhetischer Kommunikationshandlungen. In: Irmhild Barz/Gotthard Lerchner/Marianne Schröder (Hrsg.): Sprachstil ⫺ Zugänge und Anwendungen. Ulla Fix zum 60. Geburtstag. Heidelberg, 107⫺121. Holly, Werner (1983): „Die Mutter is wie alt?“ Befragungstechniken und Bewältigungsstile eines Psychotherapeuten in Zweitinterviews. In: Germanistische Linguistik 5⫺6/81, 103⫺147. Holly, Werner (1990): Politikersprache. Inszenierungen und Rollenkonflikte im informellen Sprachhandeln eines Bundestagsabgeordneten. Berlin/New York. Holly, Werner/Peter Kühn/Ulrich Püschel (1986): Politische Fernsehdiskussionen. Zur medienspezifischen Inszenierung von Propaganda als Diskussion. Tübingen. Knobloch, Hubert (2005): „Sprachverstehen“ und „Redeverstehen“. In: Sprachreport 1/2005, 14. Luge, Elisabeth (1991): Perlokutionäre Effekte. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 19, 71⫺86. Maas, Utz/Dieter Wunderlich (1972): Pragmatik und sprachliches Handeln. Frankfurt/M. Mills, Sara (1995): Feminist Stylistics. London/New York.
79. Handlung (Intention, Botschaft, Rezeption) als Kategorie der Stilistik Müller, Andreas Paul (1997): ,Reden ist Chefsache‘. Linguistische Studien zu sprachlichen Formen sozialer ,Kontrolle‘ in innerbetrieblichen Arbeitsbesprechungen. Tübingen. Oberhauser, Stephan (1993): „Nur noch 65.000 Tiefflugstunden“. Eine linguistische Beschreibung des Handlungspotentials von hard news-Überschriften in deutschen Tageszeitungen. Frankfurt/M. u. a. Polenz, Peter von (1980): Möglichkeiten satzsemantischer Textanalyse. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 8, 133⫺153. Polenz, Peter von (1988): Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. 2. durchges. Auflage. Berlin/New York. Püschel, Ulrich (1985): Das Stilmuster „Abweichen“. Sprachpragmatische Überlegungen zur Abweichungsstilistik. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 16, 9⫺24. Püschel, Ulrich (1987): GESTALTEN als zentrales Stilmuster. In: Forum Angewandte Linguistik 13, 143⫺145. Püschel, Ulrich (1991a): Stilistik: Nicht Goldmarie ⫺ nicht Pechmarie. Ein Sammelbericht. In: Deutsche Sprache 19, 50⫺67. Püschel, Ulrich (1991b): Sprachpragmatische Stilanalyse. Überlegungen zur interpretativen Stilistik. In: Der Deutschunterricht 43. H. 3, 21⫺32. Püschel, Ulrich (1995): Stilpragmatik. Vom praktischen Umgang mit Stil. In: Gerhard Stickel (Hrsg.): Stilfragen. Berlin/New York, 303⫺328. Rehbein, Jochen (1977): Komplexes Handeln. Elemente zur Handlungstheorie der Sprache. Stuttgart. Rehbein, Jochen (1983): Zur pragmatischen Rolle des „Stils“. In: Germanistische Linguistik 3⫺ 4/81, 21⫺48. Sanders, Willy (2003): Über WAS und WIE und andere W-Fragen. In: Irmhild Barz/Gotthard Lerchner/Marianne Schröder (Hrsg.): Sprachstil ⫺ Zugänge und Anwendungen. Ulla Fix zum 60. Geburtstag. Heidelberg, 269⫺275. Sandig, Barbara (1978): Stilistik. Sprachpragmatische Grundlegung der Stilbeschreibung. Berlin/ New York. Sandig, Barbara (1983): Zwei Gruppen von Gesprächsstilen. Ichzentrierter versus duzentrierter Partnerbezug. In: Germanistische Linguistik 5⫺6/81, 149⫺197. Sandig, Barbara (1984): Ziele und Methoden einer pragmatischen Stilistik. In: Bernd Spillner (Hrsg.): Methoden der Stilanalyse. Tübingen, 137⫺161. Sandig, Barbara (1986): Stilistik der deutschen Sprache. Berlin/New York. Sandig, Barbara (1991): Stilistische Handlungsmuster. In: Werner Barner/Joachim Schildt/Dieter Viehweger (Hrsg.): Proceedings of the Fourteenth International Congress of Linguistics. Band III. Berlin, 2222⫺2225. Sandig, Barbara (1995): Tendenzen der linguistischen Stilforschung. In: Gerhard Stickel (Hrsg.): Stilfragen. Berlin/New York, 27⫺61. Sandig, Barbara (2006): Textstilistik des Deutschen. Berlin/New York. Selting, Margret (1997): Interaktionale Stilistik: Methodologische Aspekte der Analyse von Sprechstilen. In: Selting/Sandig (1997), 9⫺43. Selting, Margret/Barbara Sandig (Hrsg.) (1997): Sprech- und Gesprächsstile. Berlin/New York. Short, Michael H. (1993): Style: Definitions. In: Ronald E. Asher (ed.): Encyclopedia of Language and Linguistics. Oxford et al., 4375⫺4382. Short, Michael H. (1996): Discourse analysis and the analysis of drama. In: Jean Jacques Weber (ed.): The Stylistics Reader. From Roman Jakobson to the Present. London et al., 158⫺180. Sieber, Peter (1998): Parlando in Texten. Zur Veränderung kommunikativer Grundmuster in der Schriftlichkeit. Tübingen. Spillner, Bernd (1995): Stilsemiotik. In: Gerhard Stickel (Hrsg.): Stilfragen. Berlin/New York, 62⫺93. Stolt, Birgit (1984): Pragmatische Stilanalyse. In: Bernd Spillner (Hrsg.): Methoden der Stilanalyse. Tübingen, 163⫺173.
Barbara Sandig, Saarbrücken (Deutschland)
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthatigkeit 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Stil als Frage der Wahrnehmung: eine kognitionspsychologische Dimension Stil als Frage des Verstehens: eine hermeneutische Dimension Stil als Frage der Gestaltwahrnehmung: eine gestaltpsychologische Dimension Stil als Frage der Analyse und Beschreibung: eine linguostilistische Dimension „Stilgestalten“ in rezeptions- und produktionsästhetischer Sicht Holistische Konzepte der Stilwahrnehmung Resümee: Wahrnehmen und Gestalten von Stil-Zeichen an eigenen und fremden Texten Literatur (in Auswahl)
Abstract The article discusses the problem that “style” is not a set of single traits in a text but an overall quality, which is best defined as “Gestalt”, a term developed by German “Gestalt” psychology in the early 20th C. Several approaches to this problem are being considered: A psychology of cognition found that there is no uninterested, “objective” perception at all. Hermeneutics, as developed by Schleiermacher in the late 18th C., has ever since been dealing with the problem that “jumping” from isolated observations in a text and its individual traits to a general conclusion results in a logical problem. This problem can only be solved by “psychological” means, which Schleiermacher called “divination”. A psychology of perception explains how forms ⫺ in geometry, in architecture, in music, and in literature ⫺ can be perceived in their “Gestalt” character. In linguostylistics, means of investigating style in texts have been discussed for three decades, without resolving the problem of “total impression” (Wilhelm v. Humboldt) created by the text in linguistic terms. German “Rezeptionsaesthetik” (text analyses under aesthetic aspects) has shown that “Gestalt” is not a trait but an interpretation of the text ⫺ a fact that is also relevant for any aesthetics of production. Finally, “holistic” style perception, as treated in a didactic and methodical way, is considered in the opposition of “Klang ⫺ Ton” (sound ⫺ tone) and “Haltung ⫺ Habitus” (attitude ⫺ habit), as well as Brecht’s “Gestus” (gesture). In a nutshell, the article points out that style looked upon as “Gestalt” is not a verbal work of art’s property but rather a product of its perception. It is formed in the reader’s mind ⫺ the more clearly, the more aware the readers are.
1. Stil als Frage der Wahrnehmung: eine kognitionspsychologische Dimension Texte kann man lesen, nicht aber ihren Stil. Man muss ihn wahrnehmen. Stil ist ein übersummatives Ganzes. Man hat auch gesagt: Er ist eine Gestalt. In welchem Sinn das richtig ist, davon handelt dieser Artikel. Fix (1996, 320) stellt fest, dass „die Kategorie
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit
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,Gestalt‘ sich offensichtlich in linguistische, soziologische, literaturwissenschaftliche und andere Gedankengänge einfügt“. Nicht zuletzt sind das sprach- und literaturdidaktische Gedankengänge. Mit ihnen soll dieser Artikel schließen.
1.1. Von der einzelheitlichen zur ganzheitlichen Wahrnehmung Linguistische Kategorien der Stilanalyse zielen auf Wahrnehmung einzelner Textmerkmale. Was ist typisch für einen geschriebenen Text überhaupt, für ein bestimmtes Textmuster, für eine bestimmte kommunikative und/oder gestalterische Absicht? So wichtig es ist, diesen Fragen nachzugehen, so wenig ist damit schon reflektiert, wie man einen Stil im Ganzen wahrnehmen kann. Immer wieder in der Geschichte der Sprachund Literaturwissenschaft, aber auch Sprach- und Literaturdidaktik, hat man diesem Problem beizukommen versucht. Auffällig ist, dass man überall dort, wo es nicht um entweder textgrammatisch fassbare Phänomene (wie z. B. Satzverknüpfung) oder aus der Rhetorik bekannte Figuren (wie z. B. Alliteration) geht, Zuflucht nimmt zu metaphorischen Beschreibungen (z. B. „leichtfüßiger“, „schwerfälliger“ Stil). So hat etwa Lanham (1974, 47) vorgeschlagen, Prosastile in einem Spektrum zwischen transparent und opak anzuordnen. Bezeichnet sind damit nicht Texteigenschaften, sondern Wahrnehmungsweisen. Wenn Lanham (ebd., 54) danach fragt, in welchem Ausmaß der ,Stil‘ eines rezipierten Textes sich selbst auf Kosten von ,Inhalten‘ in den Vordergrund schiebe, so meint er: in welchem Ausmaß er sich der Wahrnehmung anbietet.
1.2. Gerichtetheit jeder Wahrnehmung als sinnlicher Erkenntnis Aebli (1980, 171) unterscheidet zwischen „Wahrnehmung der elementaren Einheiten (Ränder, Ecken)“, für die der Mensch angeborene neurale Detektoren besitze, und Wahrnehmung von „Einheiten höherer Ordnung“, die erlernt werden müsse. Stil ist eine solche Einheit höherer Ordnung, seine Wahrnehmung wird in kultureller Praxis erlernt. Also ist diese Wahrnehmung auch erlernbar. Dass Menschen sich darum bemühen, hängt mit dem zusammen, was man symbolic selfcompletion genannt hat (vgl. Wicklund/Gollwitzer 1982). Gemeint ist unser Interesse daran, die eigene Selbstdarstellung durch symbolischen Ausdruck und Setzen von Zeichen (z. B. Kleidung, Haartracht, Schreibstil) zu gestalten. Im Feld der Literatur hat es weiterhin auch mit dem zu tun, was eine konstruktivistische Literaturtheorie (vgl. Scheffer 1992) als „endlos autobiografische Tätigkeit“ des Lesens beschreibt: Wir erhoffen uns für unseren eigenen „Lebensroman“ (Scheffer 1992, 24 f.) eine Bereicherung durch die lesende Aneignung von Sprech- und Schreibstilen. Obwohl wir dabei Stilkonstruktion als Rekonstruktion erleben und beschreiben, geht es zuallererst um den selbstsuggestiven Charakter jener Wahrnehmungen, die zum Erkennen von Stilen in und an Texten führen. Wir versichern uns deshalb der theoretischen Grundlagen einer Psychologie der Wahrnehmung als „sinnlicher Erkenntnis“ (Holzkamp 1986, 22⫺31): ⫺ Wahrnehmung setzt sinnliche Präsenz des Wahrgenommenen voraus und hat Erkenntnischarakter, ist also nie passives Aufnehmen.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik ⫺ Wahrnehmung ist allemal perspektivisch und auf „sinnvolle Ganzheiten“ gerichtet; insbesondere gilt das für Wahrnehmungsgegenstände, die ihrer wesentlichen Eigenart nach Träger von Symbolbedeutungen sind; also gilt es für Sprache. ⫺ Wahrnehmungsbedingungen können optimiert werden durch Veränderung der standortgebundenen Perspektive, durch Vergleich verschiedener Wahrnehmungsobjekte oder Intensivierung der Gerichtetheit und Gespanntheit auf den Gegenstand. Da Wahrnehmung ganz grundsätzlich selektiv ist und ohne Interpretation nicht möglich, ist die Wahrnehmung stilistischer Eigenheiten eines Textes immer auch Ergebnis einer Interpretation; sie ist Stilkonstruktion, nicht bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen.
1.3. Stilisierung als kulturelle Praxis Ein Blick auf nichtsprachliche Stile zeigt, dass wir es hierbei mit einem grundlegenden Zug kultureller Praxis zu tun haben: Auch die Soziologie erforscht ja Stile (vgl. Luckmann 1986). Neben Interaktionsstilen sind hier vor allem Selbststilisierungen und, oft unter Berufung auf Bourdieu (1982), Lebensstile schlechthin Gegenstand des Interesses (vgl. Lüdtke 1989). So hat eine interpretative Soziolinguistik (vgl. Hinnenkamp/Selting 1989) etwa Konfliktlösungsstile herausgearbeitet und über solche Einzelfragen hinaus nach dem Verhältnis von Natürlichkeit und Stil gefragt (vgl. Auer 1987). Stile werden allgemein als „Mittel und Ressource sozialer Kategorisierung“ (Hinnenkamp/Selting 1989, 20) verstanden: „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1982) sind häufig fassbar als Stilunterschiede. Auch für diesen Bereich der Stilforschung gilt, dass nicht einzelne Handlungen der (Selbst-)Stilisierung schon genügen um einen Stil zu fassen, sondern dass ein ganzheitlicher Wahrnehmungseindruck zu untersuchen ist.
2. Stil als Frage des Verstehens: eine hermeneutische Dimension Schleiermacher (1838/1977), unter dem Einfluss der romantischen Ästhetik eine Theorie des Verstehens von Texten entwerfend (vgl. z. B. ebd., 176), bedient sich des Begriffs der Eigentümlichkeit als einer ganzheitlichen Qualität, die eher im Stil als im Stoff eines Werkes zu suchen sei (vgl. ebd., 170). Im 20. Jahrhundert hat die kritische Rekonstruktion der Hermeneutik Schleiermachers deutlich machen können: „Der Stil entzieht sich der begrifflichen und grammatischen Analyse […] aus prinzipiellen Gründen“ (Frank 1977, 316). Die Deutung der Singularität des Stils bedürfe stets eines divinatorischen Sprungs von der Summe der Einzelbeobachtungen zum ganzheitlichen Verstehen eines Stils, wobei „das Nichtverstehen sich niemals gänzlich auflösen will“ (ebd., 330). In der Tat lehrt praktische Erfahrung mit der Rezeption literarischer Texte, dass Beobachtungen zur sprachlichen Gestalt nicht nur etwas Intuitives haben, sondern dass das kluge Wort vom „Vermutungscharakter allen Verstehens“ (Glinz 1973, 41) ganz besonders gilt, wo ein Sinn im Stil gesucht werden soll. Einfühlung in einen Autor, wie Dilthey sie lehrte, mag auch zur Hermeneutik gehören; das von Schleiermachers „divinatorischem Sprung“ Gemeinte deckt sie nicht ab. Mit Schleiermacher psychologisch denkend, kann sich eine Hermeneutik des Stils nur durch diesen Sprung über den Graben zwischen der Eigentümlichkeit des Autors und dem „erratenden“ Leserbewusstsein retten.
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit
1351
3. Stil als Frage der Gestaltwahrnehmung: eine gestaltpsychologische Dimension 3.1. Gestalt als holistisches Konzept Mit Gestaltqualität bezeichnet die Gestaltpsychologie „einen von der [Wahrnehmungs-] Grundlage abhängigen und doch von ihr zu unterscheidenden Vorstellungsinhalt“ (v. Ehrenfels 1890, 266). So, wie eine visuell erfasste Gestalt in der Malerei mehr ist als die Summe aller Teile, so ist auch Stil mehr als die Summe der vom Autor benutzten rhetorischen Figuren, stillagenspezifischen Vokabeln oder dergleichen. Damit haben Texte „andere Eigenschaften, als sie sich aus der Summe der Eigenschaften ihrer Teile ergäben“ (Fix 1996, 314 f.). Schon Walzel (1923) und dann auch, wie Fix (1996, 315) herausarbeitet, Kainz (1926) übertrugen den holistischen Begriff der Gestaltqualität, den v. Ehrenfels (1890) geprägt hatte, auf das literarische Kunstwerk. Walzel (1923, 185) sprach polemisch von der Stilistik als „niederer Mathematik“, der er eine Lehre von der Gestalt als „höhere Mathematik“ überordnete: Das Herauspräparieren von Stilmitteln und Stilfiguren der Rhetorik und Poetik schien ihm die stilistische Eigenart eines Werkes gar nicht zu erfassen. Auch Kainz (1926, 57) stellte einen Bezug zwischen Gestalthaftem und Ästhetischem her und bewegte sich auf eine „holistische“ Stilauffassung zu (vgl. Fix 1996, 315). Inzwischen ist auch die Rede von „textsortenspezifischen Stilmitteln“ in diese Anmahnung einer abhanden gekommenen Ganzheitlichkeit einzubeziehen. Komplexe Textstrukturen müssen als Gestalten erfahren werden. Wie das geschehen soll, ist allerdings schwerer zu beschreiben als bei geometrischen Figuren. Dennoch ist die Anwendung dieses Begriffs auf die Wahrnehmung literarischer Texte folgerichtig: Auch hier handelt es sich um „Gestaltqualitäten höherer Ordnung“ (Walzel 1923, 278), die sich durch Vergleich einfacher Gestaltqualitäten in der Wahrnehmung des Subjekts bilden können: „So erkennen wir etwa den Componisten einer Melodie an ihrer Aehnlichkeit mit anderen, bekannten, ohne dass wir des Näheren anzugeben vermöchten, worin jene Aehnlichkeit besteht. So erkennen wir den Angehörigen einer Familie an einer Aehnlichkeit, welche sein gesammtes physisches Wesen, sein ,Habitus‘ aufweist, und welche sich der Analyse in die Gleichheit einzelner Bestandtheile oft hartnäckig widersetzt.“ (ebd., 279) Es geht also um die eher intuitive als bewusste Wahrnehmung eines Gleichklangs, einer „Familienähnlichkeit“ auch der Texte. Walzel, der mit seinen Überlegungen einen Anfangspunkt bezeichnet, steht andererseits damit auch am Ende einer Entwicklung: Es lässt sich in der Geschichte der Rede vom Stil nachweisen, dass der Begriff selbst gerade deshalb Karriere gemacht hat, weil er die Aporie des unmöglichen Schlusses aus Einzelbeobachtungen auf ein (Gestalt-)Ganzes in sich aufzunehmen vermochte (vgl. Abraham 1996, 286).
3.2. Semantisierung des Stils durch den Gestaltbegri in Anwendung au Sprache und Literatur Nun ist die sprach- und literaturtheoretische sowie didaktische Wirkungsgeschichte der Gestalttheorie erst angerissen (vgl. Wermke 1989, Bd. 1, 32; Abraham 1996). Klar wird
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik aber die Anschließbarkeit gestaltpsychologischer Einsichten an philologische Stiltheorie und Stildidaktik durch eine Bemerkung Bühlers (1960, 20): „Was der Ausdruck ,Schlankheit‘ bedeutet, ist kein Teil, sondern ein anschauliches Moment an dem präsentierten Etwas.“ Nun spricht Bühler hier zwar von Rechtecken und nicht von Texten. Aber die Analogie zwischen Gestaltqualitäten geometrischer Figuren (wie „Schlankheit“) und solchen literarischer Texte wurde oben schon skizziert. Gerade auch metaphorische Beschreibungsversuche für Stilqualitäten in der Tradition Schneiders (1931) sind nicht nur ganzheitlicher, sondern gestaltpsychologischer Natur, indem sie im Sinne Bühlers die Mitte halten (vgl. Bühler 1960, 91 f.) zwischen Begriff und sinnlicher Wahrnehmung: Die Gestaltqualität ist eine Brücke. Sie ist erlebbar, weil inhaltsgesättigt, und doch auch abstrakt, weil transponierbar (Bühler 1960, 89). Dies lange vor seiner theoretischen Formulierung durch Bühler für die literarische Ästhetik nutzbar gemacht zu haben, ist die wesentliche Leistung Walzels: „Im weitesten Umfang“, sagt er über die Ehrenfels’sche Prägung, „sind durch diese Begriffsbestimmung alle Vorstellungen zusammengefaßt, in denen eine Verknüpfung von Einzelheiten zu einem Ganzen sich vollzieht.“ (Walzel 1923, 277) Diese Verknüpfung muss auch wahrnehmungspsychologisch gedacht werden und nicht nur hermeneutisch; sie ist Sache des Lesers und nicht Sache einer letztlich ohnehin schwer ergründbaren Autorintention. Die „Werkimmanente Schule“ um Spitzer, Staiger und Kayser hat später diese Semantisierung (vgl. Abraham 1996, 149 f.) des Stilbegriffs in der Literaturwissenschaft weitergetrieben (vgl. Kaleri 1993).
4. Stil als Frage der Analyse und Beschreibung: eine linguostilistische Dimension 4.1. Gestalthatigkeit in der pragmatischen Stilistik „Stil hat mit ,Gestalt‘ und ,Gestaltung‘ zu tun“. Dieser vorwissenschaftliche Satz von Eggers (1973, 7) bezeichnet einen seither verifizierten gestaltpsychologischen Anfangsverdacht (vgl. Fix 1996, 313): Die Rede vom Gestaltcharakter der Stile fordert auch die Linguistik heraus. Eine sprachliche Handlung ist nur in der Überschau über einzelne Formulierungen (Auswahl aus einem Register, Abweichung von einer Norm) zu fassen. Unter Berufung auf Wilhelm v. Humboldt hat Trabant (1986) auch von dieser Seite aus eine ganzheitlichen Beschreibung von Stil(en) eingeklagt und damit bekräftigt, dass Ersatzkategorien wie Textsorte oder Register nicht hinreichen (vgl. ebd., 172). Auch für die pragmatische Stilistik ist die Kategorie Gestalt notwendig, wobei Fix (1996, 320) mit Luckmann (1986) zwischen Handeln und Gestalten unterscheidet: Ist Handeln auf außersprachliche Ziele gerichtet, so zielt Gestalten als „ästhetisierendes Handeln“ auf innersprachliche Einheitlichkeit (vgl. Fix 1996, 317 f.). Das damit verbundene Wahrnehmungsproblem freilich wird zu wenig reflektiert. Auch Nussbaumer (1991, 258⫺269) hat keine befriedigende Lösung. Er führt zwar als eine von neun Textsortenkonstituenten die „Sprachmittelwahl“ an. Hier ist aber nicht alles versammelt, was traditionell als Stil von Texten diskutiert worden ist. Vielmehr sind makrostilistische und stilpragmatische Phänomene in verschiedenen Konstituenten zu
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit
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suchen (vgl. Nussbaumer 1991, 260⫺264). Das Problem, wie man vom einzelnen Sprachmittel zum Gesamturteil über die Stilschicht oder den Tonfall eines Textes kommt, wird ausgeblendet durch eine Logik des Nebeneinander.
4.2. Drei Ebenen ganzheitlicher Stilwahrnehmung: Medium, Muster, Intention Es geht bei der Wahrnehmung von Stil in Texten nicht um den einzelnen Ausdruck, die einzelne Formulierung, wie Deutschlehrer traditionell an den Rand von Aufsätzen schrieben, sondern um den alles Einzelne synthetisierenden Zugriff auf eine sprachliche Gestalt. Sie zu erfassen, gelingt ⫺ hier mögen sich verschiedene Künste unterscheiden ⫺ jedenfalls in der Literatur (im weitesten Sinne) nur in Schritten. Abraham (1993) hat methodologisch einen Dreischritt vorgeschlagen, der didaktisch motiviert und linguistisch abgesichert ist: ⫺ Auf der Ebene des Kommunikationsmediums (Mündlichkeit/Schriftlichkeit) ist Stil als Wahl zu begreifen, d. h. als Entscheidung für eine „Sprache der Nähe“ bzw. „der Distanz“. ⫺ Auf der Ebene der Kommunikationsmuster ist Stil als Abweichung zu begreifen, d. h. als opting-out in Bezug auf Textsorten bzw. literarische Schreibmuster. ⫺ Auf der Ebene der Intention ist Stil als Zeichen (oder, im Fall der Nichtintentionalität, als An-Zeichen) zu begreifen; der Stilsinn einzelner markierter Textpassagen und ihre Funktion für das Textganze ist zu bedenken.
4.3. Textualität als Zuschreibung Auch für die linguistische Dimension von Stilgestalten aber gilt, dass man sie nicht zu fassen bekommt, solange man sich Stil als Eigenschaft der Texte (oder Textsorten) vorstellt und die stilkonstitutive Leistung des Lesers nicht in Anschlag bringt. Was Nussbaumer (1991, 132) richtig von der Textualität sagt, dass nämlich kein sprachliches Gebilde prinzipiell davor geschützt sei, „als Text oder auch als Nicht-Text aufgefasst zu werden“, das gilt auch für Stil: Kein Text ist davor sicher, in einer (oder keiner) Stilgestalt wahrgenommen zu werden. Es kommt auf die erbrachten oder unterlassenen Zuschreibungen an. Das von Abraham (1996) als aporetisch bezeichnete Dilemma jeder Rede vom Stil, das Einzelne wie das Ganze gleichermaßen zu ,meinen‘, ist tatsächlich ja nur solange Aporie, wie man einen statischen Stilbegriff zugrunde legt, der Beobachtungen am Text machen und als objektive Ausdruckswerte (Schneider 1931) ausgeben will. Die scheinbare Aporie löst sich auf, wenn in der Konsequenz von Walzels und Bühlers Überlegungen ein dynamischer Stilbegriff konzipiert wird, der Stilqualitäten als Gestalterlebnis im wahrnehmenden Subjekt aufsucht und nicht im Text. Der „holistische Charakter“ von Stil, den nicht nur die Literaturwissenschaft, sondern auch eine pragmatische Linguostilistik betont (vgl. Püschel 1988), spricht dafür, dass strittige Urteile über Texte sich nicht nur an abweichenden Rubrizierungen einzelner Sprachmittel festmachen können, sondern auch an den Resultaten ganzheitlicher Wahrnehmung. Sinnlich präsent werden eher fiktionale oder diskursive Inhalte als die sprachliche Verfasstheit, solange man nicht auch für die letzteren die Wahrnehmungsbedingungen
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik optimiert (vgl. Holzkamp 1986). Dieser „Optimierung“ dient theoretisch der Gestaltbegriff; praktisch hat die Didaktik mit den Konzepten Ton, Haltung und Gestus experimentiert (vgl. 6).
4.4. Gestalthatigkeit in der empirisch-statistischen Stilistik Eine statistisch arbeitende empirische Stilistik hat versucht, Individualität des sprachlichen Ausdrucks kontrastiv nachzuweisen (vgl. Grimm 1991, 43⫺46): Wenn Stil zugleich Resultat der Wahl aus einem Ausdrucksrepertoire und Resultat der Abweichung von einer Erwartungsnorm ist, so könnte der Abweichungsgrad helfen, Individualität des Ausdrucks zu ermitteln, vor allem in literarischen Texten. Vergleicht man aber verschiedene gattungsgleiche Texte desselben Autors untereinander oder mit Texten anderer Autoren, erweist sich ein solcher Individualstil als „Mythos“ (vgl. Grimm 1991, 272). Die empirisch-statistische Stilforschung arbeitet sich also am selben Dilemma ab, das die Literaturwissenschaft lösen wollte, indem sie eine Persönlichkeits-, Werk-, Epochenstillehre konzipierte (vgl. historisch Abraham 1996, Kap. 2; zum gegenwärtigen Stand Fix/Wellmann 1997). Intuitiv ,weiß‘ man von der Individualität zumindest literarischer Texte (vgl. z. B. Michel 1968, 113). Aber bei wissenschaftlicher Nachprüfung durch Auszählen graphischer, morphologischer, lexikalischer und syntaktischer Stilmittel verflüchtigt sich dieses Intuitionswissen.
4.5. Stil als Totaleindruck in der Linguistik Der ganzheitliche bzw. Gestalt-Charakter von Stilphänomenen hat die Linguistik beträchtlich irritiert. Trabant (1986, 171), der sich ⫺ wie angedeutet ⫺ mit der Unbeliebtheit der Stilistik („Anti-Linguistik“) in der Linguistik auseinandergesetzt hat, hält der Sprachwissenschaft vor, sie betreibe Begriffsvermeidung und handle stilistische Fragestellungen lieber ausweichend in der Textlinguistik, der Soziolinguistik oder der Pragmatik ab. Mit dem Verzicht auf den Stilbegriff aber ⫺ und das betrifft nicht nur eine literarische Stilistik, sondern auch eine Stilistik der Alltagsrede ⫺ habe die Sprachwissenschaft den „totalisierenden“ Anspruch aufgegeben, „das Individuelle des Individuums“ einzufangen (vgl. ebd., 172; dazu auch Abraham 1996, 159 f.). Trabant (1986, 173) möchte daher die Kategorie Stil „im Rahmen wissenschaftlichen Sprechens über sprachliches Handeln“ beibehalten. Er klagt ⫺ mit Humboldt (1822) ⫺ die Aufmerksamkeit für das „Besondere“ an Texten bei seiner Disziplin ein. Was dieser aber auf ganze Sprachen bezieht, will Trabant für einzelne Texte und ihre Beschreibung geltend machen (vgl. Trabant 1986, 182).
5.
Stilgestalten in rezeptions- und produktionsästhetischer Sicht
5.1. Rezeptionsästhetische Perspektive: Stilgestalten in Texten, die wir lesen oder hören Ein Versuch van Peers (1986), stilistische Markierungen in veränderten Fassungen englischer Gedichte des 19. und 20. Jahrhunderts empirisch nachzuweisen, ergab unter ande-
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit
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rem, dass wiederholte Textbegegnung die Wahrnehmungsfähigkeit für solche Effekte schärft ⫺ also die konstitutierende Wahrnehmung einer Stilgestalt begünstigt. Nach wiederholter Lektüre seien die Probanden durchschnittlich besser in der Lage, die originale Stilgestalt einer Textstelle zu erraten (vgl. ebd., 112). Van Peer fragt sich, ob seine Testpersonen (Studierende verschiedener Fächer) vielleicht allmählich den Zweck erraten und deshalb jeweils eine stilistisch möglichst stark markierte Lösung gewählt hätten. Er müsste weniger überrascht sein, würde er die Rezeptionsbedingungen der Erstleser (Testpersonen) von seinen eigenen als Textanalytiker unterscheiden. Er selber hat ja die Entscheidung über Stilmarkierungen nicht nach einmaliger Lektüre getroffen, sondern nach vielfachem Lesen. Je öfter die Rezipienten den Text wahrzunehmen gezwungen waren, desto näher waren ihre Angaben an van Peers Voraussagen über die zu erkennende Stilgestalt ⫺ weil sie den Übergang zur Zweitlektüre nachholten, den der Tester schon hinter sich gebracht hatte. Die Wahrnehmung von Stilgestalten ist an die wiederholte Textrezeption gebunden, da der Eindruck einer Gestalt sich bei Texten (anders als bei Rechtecken) nicht durch einmaliges Hinsehen hervorrufen lässt. Überdies ist Gestalt nicht Eigenschaft, sondern „konsistente Interpretation“ eines Textes, „weder auf die Zeichen des Textes noch auf die Dispositionen des Lesers ausschließlich zu reduzieren“ (Iser 1984, 194 f.). Erst die Beziehung zwischen beiden schaffe die Gestalt. Die Forderung, an die Stelle der „registrierenden Auffassung der Stilistik ˇ ervenka/Jankovicˇ 1976, 115) zu setzen, […] die Beobachtung von Stil in Aktion“ (C leuchtet ein ⫺ allerdings mit der Einschränkung, dass der objektivistische Terminus Beobachtung nicht über den selbstsuggestiven Charakter jeder Stilwahrnehmung hinwegtäuschen sollte. Wie kann Stil in Aktion beobachtet werden? Der Blick auf den Kontext nach links und rechts ist Voraussetzung, genügt aber nicht. Man muss die räumlich-zweidimensionale Perspektive des optischen Paradigmas überschreiten durch (vgl. 6): ⫺ Hören eines Klangs und synthetisierende Wahrnehmung eines Tons, ⫺ Betrachten einer Haltung und synthetisierende Wahrnehmung eines Habitus, ⫺ Studieren eines Gestus.
5.2. Produktionsästhetische Perspektive: Stilgestalten in Texten, die wir ormulieren Eggers (1973, 8) sagt zu Recht, die Linguistik könne „keine Grenzen anerkennen, unterhalb derer Gestalt und Stil aufhören“. Das gilt für die Wahrnehmung fremder und eigener Texte. Es gibt nämlich auch produktionsästhetisch eine Zweitlektüre ⫺ sei es als bewusste und planmäßige Textredaktion, sei es als „Monitoring“ im Prozess der Textproduktion. Auch einfache Gestalten sind bereits Gestalten; sie lassen sich aber bearbeiten. Arnheim (1964, 30 f.) sagt über Architektur, dass Funktion allein noch keine Form ausmache und auch Beschränkung auf reine Zweckdienlichkeit den Schöpfer nicht der Notwendigkeit einer Stilwahl enthebe. Das gilt auch für das ,Bauen‘ von Texten, insoweit sie es überhaupt zu Formhaftigkeit bringen; und zwar in ⫺ nicht neben ⫺ ihrer Funktionalität. Die an der Schreibprozessforschung orientierte Schreibdidaktik behauptet gerade nicht, dass Gestaltung erst an einem komplett vorliegenden Text ansetzen könnte (vgl. z. B. Augst 1988). Auch die Alltagserfahrung widerspräche einer solchen Modellie-
1356
VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik rung: Versierte Schreiber nehmen bereits während einer Erstniederschrift Ansätze zu Stilgestalten an ihrem Text wahr und schöpfen bewusst die in ihnen liegenden Möglichkeiten aus ⫺ ähnlich, wie ein geübter Redner auch ohne Manuskript rhetorische Figuren wirkungsvoll in seinen Text einbauen kann. Phasen der Produktion und der Wahrnehmung/ Gestaltung können einander so schnell abwechseln, dass von Gleichzeitigkeit gesprochen werden muss.
5.3. Gleichzeitigkeit von Stilwahrnehmen und Stilverstehen Es gibt also eine vertrackte „Gleichzeitigkeit von Stilwahrnehmen und Stilverstehen im Rezeptionsprozeß“ (Püschel 1983, 118). Und es gibt eine nicht minder vertrackte Gleichzeitigkeit von Stilwahrnehmen und Stilgestalten im Produktionsprozess: Wie und an welchem Punkt im Rezeptionsprozess kann und soll ein Text dem Leser zur Gestalt werden? An welchem Punkt des Entstehungsprozesses kann oder soll der eigene Text dem Schreiber zur Gestalt werden? Und wie ist dabei zu vermeiden, dass eine methodisch willkommene temporäre Fremdheit in irreversible Entfremdung zwischen Text und Leser bzw. Autor umschlägt? Lesende und Schreibende brauchen nicht nur eine Checkliste stilistischer „Gütekriterien“, sondern Kategorien der Gestaltwahrnehmung. Die bereits erwähnten Begriffe Ton, Haltung und Gestus beschreiben sowohl die Rezeption im Leseprozess als auch die Selbstrezeption im Schreibprozess: Wie kommt der Leser hinter den Ton des Werkes, wie der Sprecher oder Schreiber auf den Ton, in dem er am besten sein Formulierungsproblem löst? Welche „Haltung“ beim Lesen und beim Sprechen oder Schreiben ist also angemessen? Wie ergibt sich ein dem Text angemessener Gestus, der den Sprachhandlungscharakter eines Textes zugleich enthält und überformt? Sowohl literatur- als auch sprachdidaktisch ist es also wichtig, bereits in ein Gespräch über Stilgestalten einzutreten, solange der Text noch Spuren des Gemachtwerdens an sich hat. Literaturdidaktisch wird diese Möglichkeit als kontrastive Stilanalyse genutzt ⫺ überall dort, wo Texte in verschiedenen Varianten vorliegen (z. B. zu C. F. Meyers „Brunnen“ oder zu Stifters „Mappe meines Urgroßvaters“; vgl. Püschel 1993). Schreibdidaktisch setzt sich die Einsicht durch, dass es nützlich ist, auch den Schülertext in verschiedenen Varianten zu haben und diese vergleichen zu können.
6. Holistische Konzepte der Stilwahrnehmung 6.1. Der Text als Partitur: Klang/Ton als holistische Konzepte der Stilwahrnehmung Der Ton entspricht derjenigen Komponente von Stil, die Abraham (1996, 295 f.) als das „Allgemeine“ gegenüber dem Klang als dem „Besonderen“ bezeichnet. Realisierungsmuster für einen Ton wirken typisierend. Klang ist hingegen das Ergebnis eines individuellen Gestaltungsversuchs im Rahmen eines dominanten Tons. Ton und Klang sind Kategorien aus einem akustischen Paradigma der Stilwahrnehmung, nahe gelegt nicht nur durch die zitierten Überlegungen v. Ehrenfels’ und Walzels, sondern auch durch die didaktische Tradition des klanggestaltenden Textlesens. Göttler (1990) fordert die Wie-
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derentdeckung der Klangerfahrung also zu Recht. Wie etwas „klingt“, kann hinführen zu der Frage nach dem Ton, in dem es geschrieben ist. Analog zu Farb-Tönen gibt es auch in Texten Töne, allerdings ⫺ wie einleitend gesagt ⫺ nur wahrnehmbar, nicht lesbar im engeren Sinn. In der Rede vom Ton verschränken sich eine didaktische und eine philologische Tradition, die beide der Erfahrung von Totaleindrücken gelten. Auch in der Literaturwissenschaft ist die Notwendigkeit gesehen worden, die Polyphonie des Ganzen mithilfe der Begriffe Haltung und Ton zu thematisieren (vgl. Strelka 1989). Und die Linguistik hat mehrfach bemerkt, dass alltagssprachliche Stilbeschreibungen im Gegensatz zu solchen der Rhetorik vorwiegend auf akustisch-musikalische Kategorien rekurrieren (vgl. Sanders 1977, 140 ff.; Püschel 1983, 102). Ton, Klang, Polyphonie: Dieses Vokabular des Ohres signalisiert den Bezug zur didaktischen Tradition des lauten Lesens als einer „tonalen Realisation“ des Textes (vgl. Abraham 1996, 295⫺306). Allerdings gibt es in Studium und Unterricht eine „herrschende Praxis der Unterbewertung des Akustischen“ (Klöckner 1986, 167). Sie lässt sich damit erklären, „daß unser Begriffsinstrumentarium für die Beschreibung optischer Phänomene ungleich reicher ausgebildet ist“ (ebd.). Unterbewertet in diesem Sinn scheint vor allem der heuristische Wert tonaler Realisation. Die deutschdidaktische Tradition des klanggestaltenden Lesens, die ja nicht nur Ideen der Kunsterziehungsbewegung, sondern auch Traditionsstränge von Deklamationsunterricht und „Tonlesekunst“ fortführt, war lange verschüttet. Dabei geht eine Linie von Arbeiten Petschs (z. B. 1938) bis zur Poetik Herders zurück: Die dichterische Sprache vermittle zwischen Sinnlichkeit und Reflexion (vgl. ebd., 1). Es gehe um „die Schallformen der Seele, die sich nur mit ihrer Hilfe äußern kann.“ (ebd., 2) Den Begriff Register versteht Petsch wörtlich, betont aber, die sprachliche Tongestaltung unterscheide sich von der „Registrierung der Orgel“, da immer nur ein Ton zu einer Zeit „aus der Rede herausgeholt werden“ könne, diese aber im Gegensatz zum Musikinstrument über unzählige Zwischentöne verfüge (vgl. ebd., 8). Diese sind zwar schwierig näher zu bestimmen. Richtig ist aber, dass „die Tonführung in ihrer für die poetische Wirkung letzthin ausschlaggebenden Bedeutung bei der wissenschaftlichen Behandlung von Dichtungen nicht mehr übersehen werden“ darf (vgl. Petsch 1938, 22). Und was für fachwissenschaftliche Behandlung gilt, muss für die fachdidaktische erst recht gelten (zum Vorlesen vgl. Beisbart 1993; Ockel 2000). Schon Drach (1953, 212) stellt fest, im Vortrag liege oft die beste Erklärung. Der Text wird damit zur Partitur (vgl. Arens 1980), die erst tonal realisiert werden muss, um Wirklichkeit zu gewinnen. Theoretisch ist das natürlich anschließbar an Einsichten der Rezeptionsästhetik, aber auch an den gestaltpsychologischen Zugang zum Phänomenen des Stils (vgl. Janning 1980, 39). Ungeklärt bleibt allerdings das Verhältnis von Gefühlsausdruck und Stilerfahrung. Lockemann (1952) versuchte den Klang eines Textes sukzessive gestisch und mimisch umzusetzen. Die Frage nach einem Maßstab für die Angemessenheit der tonalen Realisation eines Textes beantwortete er allerdings nicht. Essen (1972, 26) berichtete, „dass mehrere ,gute Autorenleser‘ das gleiche dichterische Werk in annähernd gleichem Sinne melodisieren.“ Das spricht für eine starke Vorgabe durch die Textvorlage. Auf der anderen Seite betont Gutenberg (1985, 13) zu Recht den Spielraum, den der Leser/Sprecher dabei hat. Man ist keineswegs festgelegt: „Die vollständige Determination der Schallgestalt gilt noch nicht einmal für Lieder. Obwohl hier ein Teil des Sprechausdrucks […] durch die musikalische Partitur vorgeschrieben ist […]“. Beide Sichtweisen stimmen darin überein, dass es die eine Klanggestalt eines Textes ebensowenig gibt wie die eine Deutung. Aber wo Literaturwissenschaftler eher die vom
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Text ausgehenden Forderungen an die Realsituation hervorheben, betonen Deutschdidaktiker die gestalterischen Möglichkeiten von „Partituren“ (Arens 1980), die noch weniger als diejenige von Liedern eine tonale Realisation determinieren. Im Überblick über didaktische Entwürfe, in denen klangliche Gestaltung eine Rolle spielt, erscheint tonale Realisation (Vorlesen, Sprechen, Inszenieren) als Überführung von Sprachgestalt in Sprechgestalt, von Schreibfigur in Klanggestalt (vgl. Janning 1980, 39). Das sprachliche Werk ist Partitur (vgl. ebd., 35), deren Realisation als rückverwandelnde Herstellung oder Darstellung tonaler Gestalten gelten kann. Ohne den konzeptuellen Unterschied zwischen spontan-mündlicher Textproduktion und (Vor-)Lesehandlung zu verkennen, kann man davon ausgehen, dass auch für die letzteren solche „Schallbilder“ bedeutsam sind, weil sie ein Text-Leser-(Sprecher)-Verhältnis buchstäblich verlautbaren: Der Sprecher zeigt, wie ihn der Text gestimmt hat und wie seiner Meinung nach die Hörer gestimmt werden sollten, wenn sie als Folge von Klangbildern seinen Ton wahrnehmen: zornig, heiter, traurig, usw. (vgl. Arens 1980, 192). Fremde und eigene Texte werden gesehen als „Klanggestalten“ (Lockemann), als „Partituren“ (Drach 1953; Janning 1980; Arens 1980), als evozierte „Hörmuster“ (Geißner 1984). Dass die auch historisch beglaubigte Quasi-Synonymität von Stil und Ton in einer ,ganzheitlichen‘ Stildidaktik Sinn ergibt, belegen die drei „determinierenden Faktoren“, die Gutenberg (1985, 14 f.) für die Erarbeitung einer Sprechfassung benannt hat: der Text selbst in seiner „Sprachgestalt“, der „intrapsychische Vollzug“ der von diesem Text evozierten „Begriffe, Gedanken, Bilder, Emotionen“ und schließlich die „TextSprech-Situation“.
Abb. 80.1: Tonale Realisation (aus: Abraham 1996, 306)
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit
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Da die Sprechwissenschaft eigene Überlegungen zur Stilistik vorgelegt hat und mit Kategorien arbeitet, die zum Teil aus der Didaktik des klanggestaltenden Lesens stammen, ist von sprechwissenschaftlichen Kategorien aus eine Kriterientafel für die Beurteilung tonaler Realisationen zu entwickeln. So bietet die von Gutenberg (1983, 257 f.) vorgelegte, ältere einschlägige Arbeiten integrierende Systematik von Dimensionen einer sprechwissenschaftlichen Stilistik ⫺ bei Abraham (1996) vereinfacht dargestellt ⫺ die Möglichkeit, Sprachtätigkeiten der tonalen Realisation eigener und fremder Texte sprechwissenschaftlich einzuordnen und begrifflich zu fassen (s. Abb. 1).
6.2. Körperlichkeit der Rede: Habitus und Haltung als holistische Konzepte der Stilwahrnehmung An einem Versuch Gerths (1988), mit Haltung einen ganzheitlichen und entsprechend unscharfen Begriff zum Kronzeugen eines besseren, sowohl sinnlichen als vernünftigen Bildungsbegriffs zu ernennen, interessiert hier die Analogie dieser Rede von der ,Haltung‘ zur Rede vom Stil in ihren expressiven, pragmatischen, ethischen und ästhetischen Implikationen. Haltung ist für Gerth eine expressive Größe (sie berühre den „Kern der Person“), aber auch eine pragmatische Kategorie sowie ein ethischer Begriff: Die „Haltung, die hinter dem Sprechen und Schreiben steht“, sei „das Ethos, das sich in der Sprache spiegelt“. Daneben ist „Haltung“ auch Gegenstand ästhetischer Wahrnehmung: „Wir wollen eine Stimme vernehmen, die unsre Achtung und Zuneigung gewinnt; Sinnlichkeit und Vernunft sollen sich die Waage halten ⫺ Schiller sprach von Schönheit …“ (Gerth 1988, 38). Hinter Gerths Kritik steckt, in Abwandlung des berühmten Grundsatzes von Buffon, die Prämisse: Die Haltung, das ist der Mensch selber. Auch Haltung drückt Stil aus. Vom Gespann ,Klang-Ton‘ unterscheidet sich ,Haltung-Habitus‘ zwar durch eine körpersprachliche Komponente. Wiederum aber schreitet hier eine Wahrnehmung vom Individuellen zum Typischen fort und denotiert die Verfestigung einmaliger und textspezifischer ,Haltungen‘ zu einer Habitualität, in der als ähnlich wahrgenommene Texte in ähnlicher Grundhaltung gelesen oder gesprochen werden. Heinitz (1972, 33) will diese Grundhaltung durch „begleitende Mitbewegungen oder Sprachgesten“ fassen. Diese stellen sich, ebenso wie Körperhaltungen beim Sprechen, prinzipiell spontan ein. Wiederum ist dies das Ergebnis einer ,ganzheitlichen‘ Wahrnehmung, ohne dass die Familienähnlichkeit (v. Ehrenfels 1890) zwischen individuellen Haltungen, die zusammen einen Habitus ergeben, analytisch leicht fassbar wäre. Der Begriff der Haltung ist nicht weniger als der Tonbegriff historisch besetzt. Auch er entstand nämlich im Kontext didaktischer Konzepte als ganzheitliche Kategorie der Wahrnehmung von Stilgestalten bzw. der Gestaltung von Stilwahrnehmung. Dabei geht es um mehr als didaktisch-methodische Verlängerung der literarästhetischen Rede von einer „im Werk sich aussprechenden ,Haltung‘“ des Dichters (vgl. Helmich 1969, 114). Helmich sagt: „Dichtung ist gestaltete Ganzheit“ (ebd., 127). Abraham (1996, 308) kontert: „Der poetische Text ist ⫺ wie jeder andere ⫺ zu gestaltende Ganzheit.“ Ebenso, wie die Vorstellung einer tonalen Realisation auf die klanggestaltende Literaturdidaktik zurückgreifen konnte, kann die Vorstellung eines Findens von Haltungen auf die Theaterpädagogik zurückgreifen. Scheller (1989) hat spieldidaktische Prinzi-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
pien und Methoden entwickelt, die mit dem Begriff der Haltung arbeiten. „Eine Haltung nenne ich das Gesamt an inneren Vorstellungen, Gefühlslagen, sozialen und politischen Einstellungen und Interessen (,innere Haltung‘) und körperlicher und sprachlicher Ausdrucksformen (,äußere Haltung‘), das eine Person oder Personengruppe in bestimmten Interaktionssituationen zeigt, aber auch längerfristig gegenüber anderen Personen und sich selbst aufrechterhält. Haltungen drücken Beziehungen aus.“ (Scheller 1989, Bd. 2, 26) Wie für den Tonbegriff, so lassen sich auch für den Haltungsbegriff Analogien zum Stilbegriff herausarbeiten: Wie ,Stil‘, so ist auch ,Haltung‘ im von Scheller explizierten Sinn ein Begriff, der holistisch eine Reihe einzelner „Ausdrucksformen“ zu einem Gesamtbild synthetisieren kann. Wie der Stilbegriff ist er pragmatisch an Interaktionsformen gebunden und von ihnen aus zu verstehen. Und wenn sich in der Rede vom Stil das Typische so gut wie das Individuelle am Text (und seinem Autor) wiederfindet, so gilt das auch für den Gebrauch, den Scheller von dem Begriffspaar Haltung/Habitus macht: Definiert er Haltung als Summe individueller Ausdrucksformen, so versteht er Habitus als Summe kultur-, schichten- und geschlechtsspezifischer Ausdrucksklischees (vgl. ebd., 15 f.). Schellers Haltungsbegriff empfiehlt sich nicht nur, weil er diese Unterscheidung begrifflich fasst und die dialektische Spannung zwischen den unterschiedenen Größen als Beziehung wechselseitiger Vermittlung begreifbar macht, sondern aus einem noch wichtigeren Grund: Wenn die tonale Realisation der ,Übersetzung‘ einer Stilgestalt in Klang und Rede dient (etwa: Pathos, Ironie, Trauer, hämische Freude (usw.) und so zuallererst für sinnliche Präsenz sorgt, so ergänzt das „Erarbeiten von Haltungen“ (vgl. Scheller 1989, Bd. 1, 38 ff.) diese didaktische Arbeit um eine körpersprachliche Dimension. Die Überlegungen Schellers sowie die sich daran anschließenden Vorschläge für die Erarbeitung von Geh-, Sitz-, Steh- und schließlich Sprechhaltungen basieren auf Brechts Begriff der „Haltung“. Scheller (1989, Bd. 1, 31) übernimmt dessen Auffassung, „daß nicht nur ,Stimmungen und Gedankenreihen‘ (also die inneren Vorstellungen) zu bestimmten Haltungen und Gesten führen, sondern daß umgekehrt auch Haltungen und Gesten Stimmungen und Gedanken logisch hervorbringen.“ Umgekehrt bringen Haltungen und Gesten Stilgestalten hervor. So sagt Schau (1991, 12) über Queneaus Exercices de Style: „Jeder einzelnen ,Stilübung‘ liegt eine ganz bestimmte Haltung zugrunde, die man durch Gesten und durch Mimik ausdrücken kann.“ Auch für solche aus Haltungen resultierenden Stilgestalten gilt aber, was Scheller von den Haltungen der Spieler sagt: Sie „stehen zur Disposition“ (Scheller 1989, Bd. 1, 42) und dienen keineswegs nur der Beeindruckung der Hörer oder der Demonstration von Beeindrucktsein des Sprechers. Auch Widerstände gegen eine tonal und gestisch/mimisch realisierte Stilgestalt dürfen sichtbar werden. Es geht gerade nicht um eine theatralische Textinszenierung, sondern um Rekonstruktion der zugrundeliegenden Haltung und probeweises Transponieren in andere Haltungen. So können am Text verschiedene Stilgestalten wahrgenommen werden. Das geschieht gleichsam in Fortsetzung ,Glinzscher Proben‘ durch körpersprachliche, gestischen und mimischen Mittel. Ziel ist weniger die Darbietung eines Textes als die Inszenierung der Beziehung, die zwischen seiner stilistischen Verfasstheit und seinem Leser im Augenblick besteht. Brechts Haltungsbegriff (vgl. Brecht 1967, Bd. 12, 485) steht zum einen für eine „innere Haltung“ (d. h. ein Sich-Hineinfinden in die Figur) und für das Erproben und schließlich Festlegen einer „äußeren Haltung“, gar eines „Habitus“ dieser Figur. Zum
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit
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andern steht er für die prinzipielle Erreichbarkeit einer Einheit von Innen (,Einstellung‘) und Außen (Körper-Haltung) im Vorgang des ,Übersetzens‘ individueller Wahrnehmung von Stil. Das ins Allgemeine und Typische weisende Pendant zum Begriff der Haltung ist aber nicht nur spielpädagogisch, sondern auch stildidaktisch derjenige des „Habitus“. Es geht um eine Übersetzung literarischer und alltagssprachlicher Stilgestalten in Körpersprachstile (vgl. auch Schwarz 1979). Sprechen kann „zu einem Sprachwerk ausgebaut“ werden (ebd., 30); und da es sich hier um eine gegenüber der bloß tonalen Realisation weiter ausgreifende Ausgestaltung der sinnlichen Präsenz handelt, kann man sagen: Es geht bei der Einführung des Haltungsbegriffs ⫺ der auch Bewegungsabläufe einschließt ⫺ in eine ganzheitliche Arbeit am Stil tatsächlich nicht nur um Wahrnehmen, sondern auch um Hervorbringen von „Gestaltqualitäten höherer Ordnung“ (v. Ehrenfels 1890, 280).
6.3. Der Text als geronnene Sprachhandlung: Gestus als holistisches Konzept der Stilwahrnehmung „Er brachte nur Haltungen in Sätze und ließ durch die Sätze die Haltungen immer durchscheinen. Eine solche Sprache nannte er gestisch, weil sie nur ein Ausdruck der Gesten der Menschen war. Man kann seine Sätze am besten lesen, wenn man dabei gewisse körperliche Bewegungen vollführt, die dazu passen.“ (Brecht 1967, Bd. 12, 458 f.) Hier ist nicht nur auf den Begriff (Gestus) gebracht, sondern funktional und methodisch plausibel gemacht, was ein sinnliches Zur-Disposition-Stellen von Stilgestalten vor bloßer Rezitation oder Deklamation auszeichnet. Das „gestische Prinzip“ bei Brecht hat Ritter (1986) als ein Gestaltungsprinzip herausgearbeitet, das nicht nur für den Schauspieler auf der Bühne gelten soll, sondern auch für Stückeschreiber, Dramaturgen und für alle das Theater betreffenden Einzelkünste (vgl. ebd., 7). Es gilt darüber hinaus für jede Art stilgestaltender Arbeit. „Der Begriff Gestus kann sich […] beziehen auf den Tonfall eines Wortes, eines Ausspruchs, auf eine mimische Bewegung, eine Handbewegung, eine Körperhaltung, auf eine Folge von Tönen in der Musik, einen Rhythmus, […] die Brechung der Zeilen in einem Gedicht, auf kleinste Momente also und große Zusammenhänge: eben alles, was die Beziehungen zwischen Menschen prägt oder von diesen Beziehungen geprägt wird“ (Ritter 1986, 7). So kann Ritter Brechts Gedanken auslegen, weil schon dieser selbst den Begriff Gestus als sinnliches Pendant zum abstrakten Stilbegriff gebraucht: Das „gestische Prinzip“ ist darauf gerichtet, „einzelne Sprechhandlungen“ zu übergreifen (ebd., 140). Bei so weitreichender Analogie der theoretischen Bestimmung überrascht es nicht, dass auch eine methodische Analogie in Ritters Ausführungen sich andeutet: „Wie können Sprechweise und Tonfall als Teilelemente eines übergeordneten Gestus aus einem Text herausgearbeitet werden?“ (ebd., 48) Brecht (1967, Bd. 15, 409) sagt: „Worte können durch andere Worte ersetzt, Gesten durch andere Gesten ersetzt werden, ohne daß der Gestus sich darüber ändert.“ Jener „Komplex von Gesten, Mimik und für gewöhnlich Aussagen“, den Brecht (1967, Bd. 15, 409) im Gestusbegriff zusammenfasst, repräsentiert den dominanten Ton einer Sprachhandlung als sich verfestigende ,Klänge‘ und den Habitus des Sprachhandelnden als sich verfestigende ,Haltungen‘, und dabei sind mimische, gestische oder tonale Einzelmerkmale durchaus austauschbar. Und dies gilt nicht nur
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik für dramatische Sprechhandlungen und überhaupt nicht nur für literarische Sprachverwendungssituationen, sondern auch für pragmatische Texte. Mimische und gestische Begleithandlungen, die sich der tonalen Realisation an mehreren Textstellen nacheinander anbieten, ergeben einen Gestus, der den gesamten Text unter einem bestimmten Blickwinkel (re)präsentiert und eine Verständigung über den ihm zugeschriebenen Sinn ermöglicht. Das ist nicht nur für poetische Texte von Belang. So spricht Feilke (1994, 152 ff.) in seiner Theorie der „common sense-Kompetenz“ im Anschluss an G. H. Mead von einem „gestischen Prinzip“ bei der Produktion idiomatischer Rede. Es gibt nun einen Punkt, an dem der fortgesetzte Austausch gestisch-mimisch-tonaler Teilhandlungen in eine insgesamt neue Qualität des Gestus umschlägt ⫺ auch hier gilt die Analogie zum Stil. Dieser Punkt des ,Umschlags‘ ist der Punkt, an dem Stilgestalten als gestische Gestalten kenntlich werden. Die Analogie zur Hermeneutik Schleiermachers liegt auf der Hand: Es ist der „Sprung“ vom Einzelnen zum Ganzen (vgl. 2.). In der Rede vom Gestus steckt prinzipiell dasselbe Problem, aber auch eine Lösung; denn ein Gestus ist, im Unterschied zu einem Stil, sinnlich präsentierbar. „Die Zitierbarkeit des Stils stellt sich dar als Zitierbarkeit des Sprachgestus.“ (Lerchner 1984, 65) Methodisch lässt sich daraus folgern, die Gestalten, ,sinnlich‘ zu konkretisieren, indem man Texte oder Auszüge daraus auf eine bestimmte Weise spricht und gestisch begleitet. Damit ist der Einsicht Rechnung getragen, mit der dieser Beitrag begonnen hat: dass man zwar Texte, nicht aber ihren Stil lesen kann. Man muss ihn nämlich wahrnehmen, und das heißt didaktisch: inszenieren. „Ein Gestus zeichnet die Beziehungen von Menschen zueinander“, sagt Brecht (1967, Bd. 16, 753): Wer ihn gestaltet, zeichnet sie bewusst, will keine nur mimetische Wiedergabe von Tätigkeiten.
Abb. 80.2: Übersetzen von Stilen: tonale und gestisch-mimische Realisation (aus: Abraham 1996, 321)
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit
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Wo Brecht von „zeichnen“ (gelegentlich auch „zeigen“) spricht, scheint ein Problem auf, das dem stiltheoretischen Spannungsverhältnis von Zeichen und Anzeichen entspricht (vgl. 4.2). Im Gegensatz zum Gestusbegriff in der Theorie des epischen Theaters versteht es sich nämlich bei einem didaktischen Gestusbegriff keineswegs von selbst, dass ein gestalteter Gestus gemeint ist. Wir verhalten uns vielmehr im Alltag auch spontan und unreflektiert gestisch. Abraham (1996) schlägt vor, diesen Gestus einen topischen Gestus zu nennen (vgl. Abb. 98.2). Er lässt sich szenisch herausarbeiten. Dabei wird durch körpersprachliche, mimische und verbale Realisation die Wahrnehmung auf einen Habitus hin gespannt und gerichtet. Das gestische Prinzip ist ein Prinzip des (Vor-)Zeigens (vgl. auch Menzel 1970, 85) oder Sichtbarmachen der „Zusatzbedeutung“ (Sandig 1986), die im Stil liegt ⫺ auch und gerade dann, wenn dies dem Sprechenden oder Schreibenden nicht bewusst ist.
7. Resümee: Wahrnehmen und Gestalten von Stil-Zeichen an eigenen und remden Texten Stil ist auf der Basis seines holistischen Charakters zu bestimmen als die im Prozess der Wahrnehmung eigener oder fremder, mündlicher oder schriftlicher Texte sich bildende Konstruktion einer Gestaltqualität im Bewusstsein des Rezipienten. Diese Gestaltqualität hält ungefähr die Mitte zwischen Abstraktion und Sinnlichkeit, zwischen Denken in den Kategorien von Zeichen oder Anzeichen (Was will mir das sagen, was verrät es mir?) und Empfinden ihrer Attraktivität bzw. Repulsivität (Wie finde ich das?). Einerseits können wir Stil als zeichenhaft verstehen und analysieren, von auffälligen Abweichungen in Textsorten des Alltags bis hin zu Werk- oder Epochenstilen in der Literatur (vgl. Fix/Wellmann 1997). Andererseits reagieren wir auf den Anmutungscharakter von Stilen auch affektiv, mit spontanem Gefallen oder Missfallen. Wahrnehmung von Stilgestalten erfordert, dass man über einzelne Stil-Zeichen hinaus geht und den Blick auf das Ganze richtet. Der Herausforderung, die darin liegt, öffnet sich zunehmend auch die Linguistik. Ein Buchtitel wie „Von der Stilfibel zum Textdesign“ (Ballstaedt 1999), bezeichnet nicht nur einen historischen Fortschritt und einen Einbezug Neuer Medien im Nachdenken über Stilgestalten, sondern auch einen für den Ganzheitscharakter von Stil geöffneten Blick: Auch „Design“ ist ein Begriff, der die einzelne Gestaltungsentscheidung übergreift in Richtung auf einen ganzheitlichen Gesamteindruck. Stil, Gestalt, Design: Es geht um das Potenzial eines Textes, solche Eindrücke hervorzubringen, zugleich aber um die Wahrnehmungskompetenz des Rezipienten. Denn dieses Ganze, um dessen Wahrnehmung es geht, ist aus heutiger Sicht nicht das Werk, wie noch die Hermeneutik in der Nachfolge Schleiermachers annahm, sondern die (Re-)Konstruktion eines Textes im Bewusstsein des Rezipienten: Stil ist nicht eine Texteigenschaft, sondern eine Bewusstseinsqualität des textproduzierenden und/oder -rezipierenden Subjekts. Diese bleibt ein Vorbewusstsein, falls sich die Stilerfahrung diesseits der Mitte auf der begriffsabgewandten Seite der Sinnlichkeit bewegt; sie wird zum analysierenden und synthetisierenden Bewusstsein jenseits dieser Mitte (vgl. Abraham 1996, 284). Die Stilgestalt eines Textes ist ebensowenig eines seiner Merkmale, wie es Schlankheit für ein Rechteck dies ist, sondern sie ist das Ergebnis einer ganzheitlichen und per-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik spektivischen Wahrnehmung. Sie stellt nicht eine sprachliche Struktur dar, sondern die Beziehung zwischen einem Sprachgebilde und seinem Leser oder Sprecher. Welche Stilgestalt hier vorliegt, entscheidet die Realisation, und diese Entscheidung hat mehr von einer Festlegung als einer Feststellung. Das gilt zwar auch für das stille Augenlesen, aber dieses ist als Akt der Wahrnehmung nicht beobacht- und beschreibbar, außer im Spezialfall der Selbstbeobachtung. Soll Fremdbeobachtung möglich sein, so muss ⫺ und das ist die sprach- und literaturdidaktische Konsequenz ⫺ in Unterricht oder Lerngruppe öffentlich werden, was ein Rezipient als Stilgestalt wahrnimmt beziehungsweise als Stilwahrnehmung gestaltet.
8. Literatur (in Auswahl) Abraham, Ulf (1993): „Mit diesem Stil bekommen Sie auch keine Arbeit“. ,Stil‘ als vorbewußte Wahrnehmungskategorie im Korrekturhandeln von Deutschlehrern. In: Peter Eisenberg/Peter Klotz (Hrsg.): Sprache gebrauchen, Sprachwissen erwerben. Stuttgart, 159⫺178. Abraham, Ulf (1996): StilGestalten. Geschichte und Systematik der Rede vom Stil in der Deutschdidaktik. Tübingen. Aebli, Hans (1980): Denken: das Ordnen des Tuns. Bd. II: Denkprozesse. Stuttgart. Antos, Gerd (1988): Eigene Texte herstellen! Schriftliches Formulieren in der Schule. Argumente aus der Sicht der Schreibforschung. In: Der Deutschunterricht 40. H. 3, 37⫺47. Arens, Bernd (1980): Texte als Sprechpartituren. In: Peter Conrady u. a. (Hrsg.): Literaturunterricht 5⫺10. München/Wien/Baltimore, 182⫺202. Arnheim, Rudolf (1964): From Function to Expression. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism XXIII, 29⫺41. Auer, Peter (1987): Natürlichkeit und Stil. In: Hinnenkamp/Selting (1989), 27⫺59. Augst, Gerhard (1988): Schreiben als Überarbeiten ⫺ ,Writing is rewriting‘. In: Der Deutschunterricht 40. H. 3, 51⫺62. Augst, Gerhard/Evelyn Jolles (1986): Überlegungen zu einem Schreibcurriculum in der Sekundarstufe II. In: Der Deutschunterricht. H. 6, 3⫺11. Ballstaedt, Steffen-Peter (1999): Textoptimierung: Von der Stilfibel zum Textdesign. In: Fachsprache 21. H. 3/4, 98⫺124. Beisbart, Ortwin (1993): Der Ton macht nicht nur die Musik. Plädoyer für das Vorlesen in der Schule sowie einige Ratschläge für die Vermittlung dieser Fähigkeit. In: Ortwin Beisbart u. a. (Hrsg.): Leseförderung und Leseerziehung. Theorie und Praxis des Umgangs mit Büchern für junge Leser. Donauwörth, 167⫺176. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. Brecht, Bertolt (1964): Über Lyrik. Zusammengestellt v. E. Hauptmann und R. Hill. Berlin/Weimar. Brecht, Bertolt (1967): Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart. (Unveränd. Nachdr. von 1965. Stuttgart/New York) Bühler, Karl (1960): Das Gestaltprinzip im Leben des Menschen und der Tiere. Bern/Stuttgart. Busemann, Adolf (1945): Stil und Charakter. Untersuchungen zur Psychologie der individuellen Redeform. Meisenheim/Glan. ˇ ervenka, Miroslav/Milan Jankovicˇ (1976): Zwei Beiträge zum Gegenstand der Individualstilistik in C der Literatur. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 6. H. 22: Stilistik, 86⫺116. Drach, Erich (1953): Sprecherziehung. Die Pflege des gesprochenen Wortes in der Schule. 12. Aufl. Frankfurt/M.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
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81. Fehlformen rhetorisch-stilistischen Handelns
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Schau, Albrecht (1991): Szenisches Interpretieren im Unterricht. Stuttgart. Scheffer, Bernd (1992): Interpretation und Lebensroman. Zu einer konstruktivistischen Literaturtheorie. Frankfurt a. M. Scheller, Ingo (1989): Wir machen unsere Inszenierungen selber. 2 Bde. Oldenburg. Schleiermacher, Friedrich (1977): Hermeneutik und Kritik. Hrsg. u. eingel. v. Manfred Frank. Frankfurt/M. (entspricht Bd. 7 der I. Abteilung der Sämmtlichen Werke, hrsg. v. Ferdinand Lücke, Berlin 1838). Schneider, Wilhelm (1931): Ausdruckswerte der deutschen Sprache. Eine Stilkunde. Leipzig/Berlin (reprograf. Nachdruck Darmstadt 1974). Schwarz, Wolfgang (1979): Lyrik ⫺ Rhetorik ⫺ Theater. Bericht und Bilanz. In: Der Deutschunterricht 31. H. 1, 26⫺37. Sowinski, Bernhard (1978): Deutsche Stilistik. Beobachtungen zur Sprachverwendung und Sprachgestaltung im Deutschen. Frankfurt a. M. Sowinski, Bernhard (1991): Stilistik. Stiltheorien und Stilanalysen. Stuttgart. Strelka, Joseph (1989): Einführung in die literarische Textanalyse. Tübingen. Trabant, Jürgen 1986: Der Totaleindruck. Stil der Texte und Charakter der Sprachen. In: Gumbrecht/Pfeiffer (1986), 169⫺188. Van Peer, Willie (1986): Stylistics and Psychology. Investigations of Foregrounding. London. Walzel, Oskar (1923): Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. Berlin. Wermke, Jutta (1989): „Hab a Talent, sei a Genie!“ Kreativität als paradoxe Aufgabe. 2 Bde. Weinheim. Wicklund, Robert A./Peter M. Gollwitzer (1982): Symbolic Selfcompletion. Hillsdale, N.J.
Ulf Abraham, Bamberg (Deutschland)
81. Fehlormen rhetorisch-stilistischen Handelns 1. 2. 3. 4. 5.
Begriffsklärung, Erscheinungsformen, Abgrenzungen Forschungsziele, Methodenprobleme Quellentexte für Fehlformen Möglichkeiten der Inventarisierung Literatur (in Auswahl)
Abstract There are three types of linguistic malformations which can develop during rhetorical-stylistic activity: ⫺ Autonomous malformations such as a lie or gossip; ⫺ Use of wrong formats, for example when a scientific report is written in form of a narration, or a coverage which reads like a chapter taken from a espionage novel; ⫺ Embedded wrong forms which carry negative stylistic tenor, e. g. schoolmaster tone or academic superiority tone.
81. Fehlformen rhetorisch-stilistischen Handelns
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Schau, Albrecht (1991): Szenisches Interpretieren im Unterricht. Stuttgart. Scheffer, Bernd (1992): Interpretation und Lebensroman. Zu einer konstruktivistischen Literaturtheorie. Frankfurt a. M. Scheller, Ingo (1989): Wir machen unsere Inszenierungen selber. 2 Bde. Oldenburg. Schleiermacher, Friedrich (1977): Hermeneutik und Kritik. Hrsg. u. eingel. v. Manfred Frank. Frankfurt/M. (entspricht Bd. 7 der I. Abteilung der Sämmtlichen Werke, hrsg. v. Ferdinand Lücke, Berlin 1838). Schneider, Wilhelm (1931): Ausdruckswerte der deutschen Sprache. Eine Stilkunde. Leipzig/Berlin (reprograf. Nachdruck Darmstadt 1974). Schwarz, Wolfgang (1979): Lyrik ⫺ Rhetorik ⫺ Theater. Bericht und Bilanz. In: Der Deutschunterricht 31. H. 1, 26⫺37. Sowinski, Bernhard (1978): Deutsche Stilistik. Beobachtungen zur Sprachverwendung und Sprachgestaltung im Deutschen. Frankfurt a. M. Sowinski, Bernhard (1991): Stilistik. Stiltheorien und Stilanalysen. Stuttgart. Strelka, Joseph (1989): Einführung in die literarische Textanalyse. Tübingen. Trabant, Jürgen 1986: Der Totaleindruck. Stil der Texte und Charakter der Sprachen. In: Gumbrecht/Pfeiffer (1986), 169⫺188. Van Peer, Willie (1986): Stylistics and Psychology. Investigations of Foregrounding. London. Walzel, Oskar (1923): Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. Berlin. Wermke, Jutta (1989): „Hab a Talent, sei a Genie!“ Kreativität als paradoxe Aufgabe. 2 Bde. Weinheim. Wicklund, Robert A./Peter M. Gollwitzer (1982): Symbolic Selfcompletion. Hillsdale, N.J.
Ulf Abraham, Bamberg (Deutschland)
81. Fehlormen rhetorisch-stilistischen Handelns 1. 2. 3. 4. 5.
Begriffsklärung, Erscheinungsformen, Abgrenzungen Forschungsziele, Methodenprobleme Quellentexte für Fehlformen Möglichkeiten der Inventarisierung Literatur (in Auswahl)
Abstract There are three types of linguistic malformations which can develop during rhetorical-stylistic activity: ⫺ Autonomous malformations such as a lie or gossip; ⫺ Use of wrong formats, for example when a scientific report is written in form of a narration, or a coverage which reads like a chapter taken from a espionage novel; ⫺ Embedded wrong forms which carry negative stylistic tenor, e. g. schoolmaster tone or academic superiority tone.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
Using samples of wrong forms that are criticized as gossip, gobbledygook etc., this contribution examines how an analysis of linguistic malformations can be carried out. The analysis usually starts with an evaluation of the sources in which such wrong forms were described and in which the raters provide evidence for their judgement, for example by demonstrating cases that clearly point to the legitimacy of their negative rating. Major sources for such evaluation and legitimizing argumentation are book reviews and speaker portraits (e. g. “Der Schwätzer” ⫺ “The Talkative Man” by Theophrastus). During legitimization analysis, the norm systems will be reconstructed which are valid for a linguistic community/arena and the route traced on which the evaluator finally made his conclusion. The individual norms that can be revealed in such reconstruction can both be used to establish an inventory of norms and to categorize linguistic malformations on the various levels of abstraction. One potential classification level is that of social and communicative roles. Thus, malformations can be classified according to role expectations and their breach.
1. Begrisklärung, Erscheinungsormen, Abgrenzungen Warum gibt es eigentlich keine linguistischen Arbeiten über das Geschwätz, über die Prahlerei und über das zynische Sprechen? Das sind doch bedeutende Fehlformen des sprachlichen Handelns. ⫺ Es scheint, dass manche Phänomene des sprachlichen Lebens einfach zu groß für die linguistische Wahrnehmung und Analyse sind. (Es hat ja auch 2000 Jahre Sprachwissenschaft bedurft und der massiven Geburtshilfe durch die Philosophie, bis der Zusammenhang zwischen Sprache und Handlung erkannt worden ist.) Impulse, die zu einer Fehlformenforschung hätten führen können, die über den (Einzel-)Fehler hinausgeht, hat es zwar gegeben, aber in Gang gekommen ist sie nicht. ⫺ Die Sprechakttheorie z. B. hat das Konzept des missglückten Sprechakts geliefert ⫺ aber es ist sprachwissenschaftsgeschichtlich nicht besonders wirksam geworden. ⫺ Die sich im 20. Jahrhundert in mehreren Anläufen etablierende Fehlerlinguistik ist mehr oder weniger beim (Einzel-)Fehler stehen geblieben; bis zu den „großen“ Fehlformen ist sie nicht vorgestoßen. ⫺ Die Sprachtheorie, die über die Versprecher-Forschung zu ganz neuen Konzepten und Einsichten gelangt ist, hat sich an die den Versprechern analogen Großformen des rhetorisch-stilistischen Fehlverhaltens nicht herangewagt. Neben der fachlichen Wahrnehmungsblindheit sind sicher auch praktische Probleme für diesen weißen Fleck auf der Karte der Sprachwissenschaft verantwortlich: Probleme der Objektivität der Fehlerfeststellung (Reliabilität), der theoretischen Klassifikation und ⫺ vor allem ⫺ der Materialbeschaffung. Trotz dieses wenig ermutigenden Ist-Zustands wird im Folgenden versucht, Umrisse einer möglichen Fehlformen-Forschung zu skizzieren. So wie eine Gesteinsader in Zentralasien, die zusammen Zinn und Kupfer enthielt, mit großer Wahrscheinlichkeit die Erfindung der Bronze ermöglicht und damit die Bronzezeit eröffnet hat, gibt es auch eine Goldader für die Fehlformenforschung. Es sind die metakommunikativen Äußerungen des Typs zynisch gesagt. „Am Sonntag bebte im Iran dann auch noch kurz die Erde, zynisch gesagt (das darf man, weil das Erdbeben offenbar keine nennenswerten Schäden anrichtete) war das ein schöner Symbolismus.“ (Harrer in Standard 20. 7. 2005, 24) (Es
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geht um den überraschenden Wahlsieg des Teheraner Oberbürgermeisters, der ein politisches Erdbeben eingeleitet hat.) Auf solche Beispiele stützt sich der folgende Artikel in erster Linie. Sie enthalten eine metasprachliche/metakommunikative Bewertung (zynisch gesagt) und den objektsprachlichen Gegenstand der Bewertung (das war ein schöner Symbolismus). (Zusätzlich wird in dieser Äußerung noch über eine zentrale Bedingung reflektiert, unter der man zynisch sprechen darf.) Solche metakommunikative Äußerungen sind Ausdruck laienlinguistischer Kompetenz ⫺ im Hinblick auf Fehlformen und deren rhetorisch-stilistischen Einsatz. Sie sind als solche aber auch eine Quellenform, die einen raschen Zugang zum Phänomen Fehlform erlaubt. Das soll im Folgenden vor allem an der Fehlform (geschriebenes) Geschwätz demonstriert werden. Es gibt drei einigermaßen selbständige und qua Nomination etablierte Handlungsgroßtypen, die man als Fehlformen (nicht nur als Einzelfehler) des rhetorisch-stilistischen Handelns betrachten kann: erstens die autonomen (elementaren) Fehlformen, zweitens die fehlplatzierten Formen ⫺ das sind Fehlformen nur im Hinblick auf den Kontext, bei ihnen passen Pragmatik und Textsorte nicht zusammen ⫺ und drittens die eingebetteten Fehlformen. Die autonomen Fehlformen sind Fehlformen an sich und als type. Dazu gehören die Lüge, die Lügengeschichte, die faule Ausrede, das Märchen (in der Bedeutung „unglaubwürdige, [als Ausrede] erfundene Geschichte“; Duden 1989), das Gerücht, die Räuberpistole, die Konfabulation („auf Erinnerungstäuschung beruhender Bericht über vermeintlich erlebte Vorgänge“; Duden 1989), der Klatsch, das Geschwätz, das Gewäsch („(ugs. abwertend): leeres Gerede“; Duden 1989), die unhaltbaren Versprechungen. Autonome Fehlformen sind negativ bewertete kommunikative Gattungen/Textsorten. Fehlplatzierte Formen dagegen sind an sich keine Fehlformen; es sind Irrläufer. Sie werden erst zu Fehlformen, wenn die in einem Kontext angemessene Textsorte/kommunikative Gattung verfehlt wird (Fehlertypus: „Textsorte verfehlt“). Beispiele für kontextbedingte Fehlformen aus Rezensionen: die Nacherzählung, die statt einer (eigenständigen) wissenschaftlichen Arbeit geboten wird (vgl. Zeit 42/2007, 62), der zeitgeschichtliche Beitrag, der über das Niveau eines „schwachen Seminarreferats“ nicht hinauskommt (Geyer in Zeit 14/1996, 18), das Sachbuch, das wegen der vielen sachlich nicht haltbaren Aussagen als Roman (dis-)qualifiziert wird. Beide Typen von Fehlformen sind ganzheitliche Phänomene: Hyperzeichen, die auf Hyperwahrnehmungen beruhen. Bei ihrer Analyse tauchen dieselben Probleme auf wie bei der Analyse von Textsorten. Die Probleme betreffen meist Fragen der Ontologie, der Existenz bzw. der hypostasierten Existenz, der sachlichen Identität, der Synonymie und generell die Konstitution als soziale Form in der res-verba-Beziehung: Haben Gerede und Geschwätz ein Relatum? Beziehen sie sich auf zwei Fehlformen, oder sind sie zwei Benennungen derselben Fehlform? Bezeichnet auch Geschwafel dasselbe Phänomen oder nur ein ähnliches, aber nicht identisches? Ein drittes Zentralproblem ist die Teil-Ganzes-Beziehung, aus deren Verarbeitung der Hyperzeichen- und der Hyperwahrnehmungscharakter hervorgehen. Neben diesen ganzheitlichen Fehlformen gibt es eingebettete Fehlformen. Es sind Fehlformen in einem angemessen gebrauchten Ganzen. Hier handelt es sich z. B. um negativ bewertete Stilzüge in kommunikativen Gattungen: das falsche Pathos, die haltlosen Übertreibungen, die Dunkelheit der Rede, der Grundton von Salopperie, der Gutsherrenton (inklusive Herrengestus) oder der Schulmeisterton: „Ein schicker Jetset-Philosoph war er [Rorty] gewiss nicht, und auch der akademische Herrengestus eines Jürgen Habermas war ihm fremd.“ (Misik in profil 25/2007, 123); „Da wird Kierkegaard abgekanzelt wie ein Schuljunge“ (Hildebrandt in Zeit 31/1995, 42). Fehlformenverhalten auf der Ebene der eingebetteten Stil-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
züge manifestiert sich in einer Menge kookurrierender negativ bewerteter Stilelemente, die diesen Stilzug konstituieren. Ein als (eingebettete) Fehlform bewertetes Kommunikat muss mindestens eines dieser Stilelemente und dieses mehrfach enthalten. Welche Stilelemente bei einer Fehlform kookurrieren ist konkreten Argumentationen zu entnehmen. In manchen Kritiken werden ganze Florilegien präsentiert, Paradigmen des Falschen, z. B. das der: „[…] Flottismen, die eine billige Sorte von Magazin-Journalismus und die Artikulationsversuche der reiferen Jugend vom Teenager aufwärts durchsetzen: ,kein Vater zum Anfassen‘ ⫺ ,klammheimlich‘ ⫺ ,Spätentwickler‘ ⫺ ,Goethe ist dieses Mal einfach nicht gut drauf‘ ⫺ ,August wird fremdbestimmt‘ ⫺ ,Caroline von Humboldt brieft aus Karlsbad …‘ Auf nur zwei Druckseiten gelang es dem Autor, eine eindrucksvolle Kette heiter-schmerzlicher Albernheiten aufzureihen […]“ (Harpprecht in Zeit 14/1993, 8). Fehlformen sind ganzheitlich aufgefasste Hypererscheinungen. Der Status als Hyperzeichen und die Eigenschaft der Ganzheitlichkeit ergeben sich aus der gewichteten Wahrnehmung und aus der Verarbeitung vieler disjunkter Elemente, wobei bestimmt wird, welche Teile als dominante und welche als nebengeordnete Details eines größeren Ganzen aufgefasst werden. Darauf nimmt das Präfix hyper- in Hyperzeichen Bezug. Im Zuge der Verarbeitung kommt es z. B. zur Dominanz bei der Wahrnehmung eines Stilzugs gegenüber vielen anderen im bewerteten Objekt ⫺ und zur metonymischen Benennung, etwa wenn das Ganze als Gewäsch angesprochen wird oder als Kitsch. Fehlformen sind Konstrukte im Zuge der Verhaltenswahrnehmung und -beurteilung. Als solche sind sie Objekte des Diskurses, Phänomene des Denk- und des Sprachverkehrs, gleichzeitig Wahrnehmungs- und Sozialkonstrukte. Ein Sozialkonstrukt sind Fehlformen deshalb, weil sie nicht Ergebnis einer individuellen, sondern einer sozialen Kategorisierung sind. Sie sind „Teilnehmerkategorisierungen“ (Sandig 2006, 3), die durch die Benennung (mit-)konstituiert werden. Durch die benennende Bezugnahme kommt es zur Reifizierung, das angesprochene Phänomen wird als eigenständig und real behandelt, obwohl die Fehlform durch die Benennung als soziale Größe so real wird und so fiktional bleibt wie das Einhorn. Kitsch gibt es in den sozialen Arenen, in denen über Kitsch gesprochen wird: „In dem Buch gibt es jede Menge Schwulst und Kitsch (,dieses wunderbare Geschenk namens Liebe‘)“ (Rathjen in Zeit 19/2000, 61). Als Wahrnehmungs- und Sozialkonstrukte geraten Fehlformen ins Visier der Kritik, wenn sie entweder als autonome Fehlform gegen elementare Normen des kommunikativen Umgangs verstoßen, gegen Normen der Wahrheit und Verständlichkeit vor allem (vgl. 4), oder wenn sie als fehlplatziertes Syndrom wahrgenommen werden. Die Metapher Syndrom bezieht sich auf ein „Krankheitsbild“, das „sich aus dem Zusammentreffen verschiedener charakteristischer Symptome ergibt“, auf einen „Symptomkomplex“ (Schulz 1978, 669). Eine Fehlform ist ebenso wie ein Syndrom durch eine „Gruppe von Faktoren o. ä. [konstituiert], deren gemeinsames Auftreten einen bestimmten Zusammenhang oder Zustand anzeigt“ (Duden 1989; zur Beschreibung eines Syndroms sprachlichen Fehlverhaltens vgl. Polenz 1989, 289 ff.). Die erste Beschreibung von Fehlformen-Syndromen in der Geschichte der abendländischen Sprachreflexion dürften die Charaktere Theophrasts sein. Dort findet sich auch ein Porträt des Schwätzers. Er wird als jemand charakterisiert, der ständig um das Rederecht kämpft, dieses exzessiv ausnützt und jeden Versuch, einen Sprecherwechsel einzuleiten, vereitelt; als jemand, der dauernd spricht, an alles und jedes anknüpft und der sein Geschwätz jedem aufdrängt, dessen er als Adressaten habhaft wird (Theophrast ca. 319 v. Chr., 21; 23). Zum Syndrom Geschwätzigkeit gehören ferner: die vom Schwätzer nicht beherrschbare Egozentrik, der Verstoß gegen das Gebot der Kürze ⫺
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„Be brief (avoid unnecessary prolixity)“ (Grice 1975, 46) ⫺, die unzusammenhängenden Redeteile, z. B. als Folge von Sätzen/Sprechakten, deren Relevanz untereinander und in Bezug auf das Kommunikationsziel nicht erkennbar ist, die nicht ausgeführten, nur angerissenen Teilthemen sowie die Anschlüsse auf der Basis unkontrollierter und nicht ausgeführter Assoziationen: „Mit einer in der Masslosigkeit schamlosen Anhäufung von Worten und Begriffen schadet er mehr, als dass er nützt. So herkulisch kann ja heute kein Künstler sein, dass er mit seinem Werk Vergleichen mit den Grössten aus der Kunstund Geistesgeschichte (von Giotto bis Beckmann und Kokoschka, von Pythagoras bis Nietzsche) standzuhalten vermöchte. Und so dumm kann kein Leser sein, dass er das Geschwätz als Hilfe zum Verständnis (zur ,Annäherung‘) akzeptiert.“ (Neue Zürcher Zeitung 2. 4. 1986 Fernausgabe, 31). Zum Syndrom Geschwätz gehört ferner das Glaubwürdigkeitsdefizit, das sich z. B. darin ausdrückt, dass ein Schwätzer ständig kommissive Sprechakte vollzieht, z. B. Versprechen macht, die er nicht einlösen kann. Das zweite Merkmal, das außer dem des Hyper-Status’ alle Fehlformen verbindet, ist der Bezug auf ein Bewertungssystem, auf dessen Basis die negative Bewertung erfolgt. Dieses Bewertungssystem ist ein unterschiedlich ausdifferenziertes Normensystem. Ein großes Problem ist die Abgrenzung zum Einzelfehler: Ein unwahrer Satz, eine substanzlose oder nicht relevante Aussage, eine herablassende Aussage innerhalb einer längeren Äußerung ⫺ das sind Einzelfehler, falsch oder unangemessen gebrauchte Teile in einem angemessen gebrauchten Ganzen. Ein Einzelfehler macht im Allgemeinen keine Fehlform; ein falsches Wort aus dem Repertoire spießbürgerlicher Großmäuligkeit macht weder den ganzen Text zu einem spießbürgerlich-großmäuligen Produkt noch dessen Verfasser zu einem Spießbürger oder Großmaul: Der Autor „interpretiert Brechts ,Weiberverbrauch‘ als konsequenten Ausbruch aus bürgerlichen Moralvorstellungen. Auf die Idee, daß die Brecht-Vokabel ,Weiberverbrauch‘ eine typisch spießbürgerlich-großmäulige ist, kommt er nicht.“ (Henrichs in Zeit 29/1976, 38). Der Übergangsbereich zwischen Einzelfehler und Fehlform bleibt diffus, wenn Einzelfehler wiederholt (wie viele Male?) auftreten. Wenn sie zwar eine Folge aus gehäuft (seriell, repetitiv) auftretenden Einzelfehlern sind, aber kein Syndrom bilden.
2. Forschungsziele, Methodenprobleme Die Forschungslage ist nicht gut. Selbst in der „großen“ Zeit der Fehlerlinguistik in den 1970er und 1980er Jahren (vgl. Cherubim 1980) waren die Fehlformen im hier verstandenen Sinn so gut wie kein Thema. Im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (Ueding 1992 ff.) fehlt sogar das Stichwort Lüge. Auch zu den negativ bewerteten Stilzügen gibt es keine nennenswerte Forschung. Nicht einmal die notwendigen begrifflichen Klärungen sind vorgenommen worden. In der Fehlerlinguistik ging es fast nur um Einzelfehler. Das gilt auch für die heutige Fehlerlinguistik, die sich mehr oder weniger in die Nische der DaF- und Zweitsprachenforschung zurückgezogen hat. Wegen der deplorablen Forschungslage wird im Folgenden vor allem die Fehlform Geschwätz exemplarisch ins Zentrum gerückt, um auf diese Weise ein mögliches Analyseverfahren und die Kontur wenigstens einer Fehlform zu skizzieren. Neben der grundlegenden ontologischen Frage, ob es überhaupt so etwas wie Fehler bzw. Fehlformen gibt, steht die Fehlformenforschung vor einer weiteren ontologischen
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Frage, die sich aus der res-verba-Beziehung ergibt. Entschärfen kann man diese, indem man sie zu einer sprachanalytischen macht und z. B. fragt: Gibt es hinter der Benennungsvielfalt einen res-Bereich mit deutlich wahrnehmbaren Phänomenen, mit einem oder mehreren? Auf diese Weise kann man mit der Benennungsvielfalt aus synonymen, teilsynonymen, meronymen, metonymen nennlexikalischen Einheiten zurechtkommen. Die Benennungsvielfalt ist gerade im Bereich des Geschwätzes beträchtlich: z. B. Gerede, Gewäsch, Geschwafel, stilistisch ganz unterschiedlich markiert: Galimathias, „Wortgetöse“ (Hentig in Zeit 39/1985, 49), große Worte (bildungssprachlich) vs. Käse, regionale Varianten wie Holler, Schmafu und Semmel in Österreich usw. Sind die als Geschwätz, Klatsch usw. benannten Phänomene durch die Reifizierung als (relativ) eigenständige, ganzheitliche Erscheinungen registriert, stellt sich die Frage, wie mit den kategorial unterschiedlichen Bedeutungen umgegangen wird, die z. B. in Schwätzer, geschwätzig und Geschwätz enthalten sind. Die Eigenständigkeit der Phänomene macht es möglich, dass nicht immer das Produkt, sondern manchmal nur eine Eigenschaft oder eine Konstituente des Produkts, manchmal auch der Produzent bzw. die Produzentin (Schwätzer, Großmaul, Klatschbase) oder die Wirkung auf den Rezipienten im Fokus der Wahrnehmung und Bewertung stehen. Das größte methodische Problem, vor dem die Fehlformenforschung steht, ist das der Indirektheit der Beurteilung, die starke Abhängigkeit von Schlüssen in meistens nur durch Rekonstruktion explizit zu machenden Normenund Aussagensystemen. Wie bei allen Bewertungsanalysen spielen Probleme der Objektivität und Intersubjektivität eine große Rolle. Man kann sie neutralisieren, wenn man ⫺ dem Ansatz der ordinary-language-Philosophie folgend ⫺ mit metakommunikativen Bewertungssprachhandlungen beginnt und diese als Hauptquellen nutzt (zur Nutzung der Metakommunikativa vgl. Ortner/Sitta 2003, 58 f.). Die metakommunikativen Bewertungssprachhandlungen sind oft als legitimierende Ausführungen mit mindestens einer Zweier- oder Dreierstruktur angelegt: bestehend erstens aus den als Fehlformen gewerteten Kommunikaten im O-Ton, den Belegen, zweitens (fakultativ) einer Belegbeschreibung und ⫺ drittens ⫺ der metakommunikativen Beurteilung. Ideal sind Quellen mit Bewertungshandlungen auf (quasi-)ostensiver Grundlage: Das ist Geschwafel (zu verwandten Prädikationstypen vgl. Erben 1978). Beispiel: In „Die Zeit“ (14/1988, 55) wird als objektsprachlicher Teil ein Textabschnitt aus dem Katalog einer Ausstellung zitiert: „Einige der Objekte in diesem Environment deuten ihre physikalische Wirkungsweise, ihr Funktionieren selbst. Sie sagen, was gewesen ist, und verlieren dieses prozeßhaft Gewesene zugleich in der Gegenwart der anderen Formen. Erst im Gesamtbild, als offene Struktur, die sich nicht als homologes Inventar versteht, sondern als Beziehung des einzelnen zueinander, entsteht jene Ausstrahlung, die den ganzen Denkprozeß aus Vertrautem und Unvertrautem berührt.“ Darauf bezieht sich ⫺ wie aus dem Kontext hervorgeht ⫺ die ironische Frage „Ist das nicht berückend formuliert?“ und dann ⫺ als metakommunikativer Teil mit ostensiv deutbarem Bezug: „Ist das Poesie? Ach nein, es ist erhabenes Geschwafel.“ Vor der vernichtenden Schlussbewertung „es ist erhabenes Geschwafel“ wird expliziert, d. h. plausibel gemacht, aufgrund welcher Elemente des kritisierten Textes der Schreiber zu seinem Urteil kommt: „Halten wir einen Augenblick inne: Das Gewesene wird zur Gegenwart, die Gegenwart zum Gesamtbild, das Gesamtbild zur offenen Struktur, die offene Struktur zur Beziehung des einzelnen zueinander, und die wird zur Ausstrahlung, die wiederum den Denkprozeß berührt. Welchen Denkprozeß? Natürlich, den aus Vertrautem und Unvertrautem. Noch Fragen? […] Ist das Poesie? Ach nein, es ist erhabenes Geschwafel.“ Den
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Leser dieses Artikels von Ulrich Greiner stimmt schon die Überschrift auf das zu Erwartende ein: „Sänger des höheren Schwachsinns“. Aus dem Gebrauch im Artikel darf, gestützt durch weitere Belege aus anderen Quellen, auf ein zumindest metonymisches Verhältnis, wenn nicht gar auf eine Teilsynonymie von „(höherem) Schwachsinn“ und „Geschwafel“ geschlossen werden. Das Wichtigste für das Verständnis des Phänomens sind aber die objektspachlichen Einheiten, auf die sich die metakommunikative Bewertung „Geschwafel“ bezieht. Aus ihrer Analyse lassen sich die wichtigsten Merkmale allen Geschwätzes erkennen: ,nicht nachvollziehbare Aussagen‘, ,gehäuft, d. h., in dichter Abfolge auftretend‘. (Dass Aussagen des satzthematischen Rollentyps „identifikativ“ besonders anfällig sind für die Behauptung schwer nachvollziehbarer Zusammenhänge, könnte durch die Analyse weiterer analoger Fälle bewiesen werden.) Die Untersuchung muss methodisch mit Fällen beginnen, in denen Behauptbarkeitslegitimationen und/oder Explikationen, die Urteile plausibel machen sollen, (relativ) explizit und immer qua metakommunikativer Grundstruktur gegeben werden. Im zweiten Schritt dürfen per analogiam andere nicht explizit bewertete Fälle herangezogen und interpretiert werden. Dieses methodische Verfahren zielt auf eine Rekonstruktion des Schlusssystems einzelner Bewerter und geht dann zu Verallgemeinerungen über, um etwa festzustellen, dass Geschwätz u. a. auch dann vorliegt, wenn jeweils die nominalen Elemente auf Kosten der Aussage ein zu großes Gewicht bekommen. Noch allgemeiner ⫺ wenn die jeweils kleineren auf Kosten der größeren Einheiten dominieren: die Sätze auf Kosten des Absatzes, der Textteil auf Kosten des Textes. Durch diesen methodischen Zugang lässt sich ein Fehlverhaltenstyp wie Geschwätz phänomenologisch umfangreich und methodisch sauber erfassen und beschreiben. Phänomenologisch umfangreich heißt ,das Gesamtspektrum sowohl der objektsprachlichen Phänomene wie der metakommunikativen umfassend ⫺ von der expliziten Bewertung bis zur nur angedeuteten oder gar nicht ausgesprochenen Bewertung‘. Beispiele für letztere lassen sich etwa bei Karl Kraus in „Die letzen Tage der Menschheit“ finden. Da wird Geschwätz nur vorgeführt. Die Bewertung wird dem Zuhörer überlassen. Allerdings sichern die Ausgeprägtheit und die Dichte der Merkmale (Übermarkierung, Syndrom-Charakter), dass der Hörer selbst zu diesem Urteil kommt. Der linguistische Nachweis, dass es sich tatsächlich um Geschwätz handelt, kann aufbauend auf den Erkenntnissen aus der Analyse expliziter und plausibel gemachter Fälle leicht erbracht werden. Die Legitimationsanalyse geht oft weit über die einfache Argumentationsanalyse hinaus. Speziell die Texte/Textteile mit objektsprachlichen und metakommunikativen Elementen sind oft Argumentationen in Argumentationen in Argumentationen usw. Selten folgen sie Schritt für Schritt dem Schema, das Toulmin für die Argumentation rekonstruiert hat (Toulmin 2003). Aber es kommen in ihnen Teilthemen vor, nicht alle, aber einige relevante, die eine Argumentation konstituieren: Fall/Daten, Konklusion, Grundsatz, Rechtfertigung (warrant), Stützung, Qualifikator (signalisiert „den Wahrscheinlichkeits- oder Möglichkeitsgrad (,vermutlich‘, ,vielleicht‘, ,sicher‘ usw.)“ (Wunderlich 1974, 70)), Ausnahmebedingungen (vgl. ebd., 70 f.). Eine Argumentation, die auf die Konklusion „Geschwätz“ abzielt, verläuft ⫺ Informationen und Hintergrundwissen verarbeitend ⫺ über folgende Stationen: Fall: Text(-Abschnitt) X enthält die Aussagen X, Y, Z. Die Aussagen X, Y, Z sind nicht nachvollziehbar. Grundsatz: Ein Text, der nicht nachvollziehbare Aussagen enthält, ist Geschwätz. Konklusion: Der Text(-Abschnitt) X ist Geschwätz. Ausnahmebedingung: Wenn nur vereinzelte nicht nachvollziehbare Aussagen vorkommen, ist das ein Einzelfehler (keine Fehlform).
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
Hinter dem Grundsatz stehen Stützungen. Ganz spezielle, die z. B. die Kohäsion und Kohärenz von Sätzen regeln, oder ganz allgemeine wie: Für die Kommunikation gilt, dass man seinen Text zu einem (für dein Zielpublikum) problemlos verarbeitbaren, d. h., problemlos wahrnehmbaren, d. h., zu einem möglichst prägnanten Gegenstand machen muss. Dazu gehört auch die Aufeinanderbezogenheit der Teile im Hinblick auf einen (autonomen) Inhalt, eine Botschaft; das Ganze darf nicht zerfallen. Diese Forderungen betreffen die Wahrnehmungsprägnanz. (Die Feststellung, dass ein Text(abschnitt) unverständlich ist, wäre die am stärksten verallgemeinerte und am wenigsten spezifische Form des Urteils über nicht mögliche Verarbeitbarkeit, über nicht vorliegende Wahrnehmungsprägnanz.) Über die Legitimationsanalyse kann man so aus dem obigen Beispiel den Grundsatz rekonstruieren: Ein Text, dessen Teile nicht zusammenstimmen und/oder in dem nicht nachvollziehbare Aussagen gehäuft auftreten, ist Geschwätz; dieser Befund lässt sich auch als Phänomenbeschreibung lesen: Geschwätz liegt dann vor, wenn … Weitere solche Herleitungen zeigten, dass Geschwätz auch dann vorliegt, wenn z. B. klar ist, dass die Selbstverpflichtung, die mit den kommissiven Sprechakten verbunden ist, nicht eingelöst werden kann, z. B. wenn es sich um leere Versprechungen handelt. Allmählich könnten so die relevanten Merkmale ermittelt werden, die einer Typologie und den unterschiedlichen Ausprägungen der Geschwätzigkeit zugrunde liegen, die Nietzsche beobachtet hat: „Geschwätzigkeit des Zornes“, „Geschwätzigkeit aus einem zu großen Vorrathe an Begriffsformeln“, „Geschwätzigkeit aus Lust an immer neuen Wendungen der selben Sache“, „Geschwätzigkeit aus Lust an guten Worten und Sprachformen“ (Nietzsche 1882, 451). Besondere Fundstücke sind Belege, in denen eine weitere Textkategorie vorkommt: die objektsprachliche Übersetzung. „Die ,entschlossene Weiterentwicklung Europas‘ sei das ,beste Mittel‘, um den Prozeß der Klärung des Verhältnisses von Großbritannien zu Europa und seinen Willen zur Teilnahme an weiteren Integrationsschritten positiv zu beeinflussen‘. Dieses geschraubte Bürokraten-Deutsch [Stilbewertung] bedarf der Übersetzung: Die Fünf mögen sich zusammenrotten, um die spröden Briten zu isolieren und so unter die Knute zu zwingen.“ (Süddeutsche Zeitung 203/1994, 4). Die methodisch von den Metakommunikativa ausgehende Analyse hält Eigenbewertung und Beschreibung der Bewertungspraxis einer Sprachgemeinschaft bzw. in einer Domäne streng auseinander. Sie geht von der vorgefundenen Praxis aus, und sie analysiert nicht Einzelausdrücke, sondern konkrete Sprachspiele in ihrer Gesamtheit. So entkommt sie der Gefahr der isolationistischen Analyse und bekommt Einblick in die Legitimationspraxis der Bewerter und in den Normenkosmos einer Kommunikationsgemeinschaft. Denn in vielen Rezensionen, aber auch in Gutachten usw. werden die Urteile zumindest andeutungsweise begründet. Die Beurteiler bemühen sich um intersubjektive Nachvollziehbarkeit ihrer Urteile. Dies tun sie, indem sie argumentieren, indem sie an Beispielen plausibel machen, warum sie zu dem in der ist-Prädikation ausgesprochenen Urteil kommen. Diese Legitimationspraxis lässt sich für die linguistische Beschreibung auswerten. In ihr stecken alle relevanten Informationen, die zur phänomenologischen Erfassung einer Fehlform gebraucht werden. Allerdings gehen Beurteiler nur sehr selten nach dem Schema der expliziten Argumentation vor. Sie verlassen sich auf die Fähigkeit der Leserinnen, die richtigen Schlüsse zu ziehen und die richtigen Bezüge herzustellen. Oft wird nur gerade so viel gesagt, dass sich die Argumentation zurückverfolgen lässt, manchmal nur über Schlussfolgerungen entlang von rhetorischen Figuren. Eine vielfach genutzte rhetorische Figur ist der pars-pro-toto-Modus, bei dem die Qualitätsbeurteilung auf Elemente gerichtet ist statt auf die Beurteilung der Gesamtqualität: „Ein roter Faden, der die Darstellung
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zusammenhält und ihr Profil gibt, ist nicht erkennbar.“ (Ullrich in Zeit 43/1997, 29). In diesem Beispiel werden fehlende Produkteigenschaften moniert, doch der Weg zum bewertenden Urteil ist nicht weit. Er führt über den Grundsatz: Ein Text, der die Qualität X nicht aufweist (nachvollziehbare Zusammenhänge, Thema), ist nicht gut. Keine nachvollziehbaren Zusammenhänge, kein Thema ⫺ das heißt: ,Die Textteile dominieren auf Kosten des Ganzen (der nächst größeren Einheit, des Gesamttextes)‘, das heißt: ,Geschwätz‘. Oder „Pudding“: „Und fast schon ist man versucht, die eigene ⫺ ursprüngliche ⫺ Vorstellung als hoffnungslos überholt abzuhaken, ein Buch müßte eigentlich ein Thema haben. Doch halt, auf den Seiten 361 bis 364 ist vielleicht doch so etwas wie ein Thema, doch so etwas wie ein Zweck des Buches, doch so etwas wie ein harter Kern des Puddings zu entdecken.“ (Pelinka in profil 42/1993, 38). Häufig wird Kritik metonymisch präsentiert; es wird der Produzent, nicht das Produkt kritisiert, statt Text-, wird Sprecherkritik geübt. So kommt es manchmal zu Orgien der Sprecherkritik, etwa beim „Sloterdijkbashing“: „Wanderprediger“, „ein Weltendeuter und Segen spendender Friseur“ (Ilse Aichinger zit. von Goubran in Standard 13. 1. 2007, Album A 7), der „Philosophie-Entertainer Peter Sloterdijk“ (Spiegel 11/1998, 210), „seine Gebärde ist die eines Sehers“ (Schmitter in Zeit 16/1998, 52). Auch Dispositionen, Einstellungen, Kompetenzen, die sich ungünstig auswirken, die nicht vorhanden sind, usw. stehen metonymisch anstelle der Qualität des Produkts: „[…] seine begrenzte Fähigkeit, große und komplexe Stoffmassen durchdenkend zu organisieren […] Etwas kurzatmig reiht Roazen bloß assoziativ verbundene Einzelzüge auf, kommt dabei vom Hundertsten ins Tausendste […].“ (Krieger in Zeit 2/1976, 38). Mit Abstraktbildungen lässt sich auf ein großes Spektrum von Dispositionen des Sprechers/Schreibers Bezug nehmen, die für die Äußerungs- bzw. Textqualität relevant sind: Großmäuligkeit, Schnodderigkeit, Verzagtheit, Unhöflichkeit, Umständlichkeit. Als habituell gewordene Verhaltenseigenschaften sind sie die Ursache für das (wiederholt und als Syndrom auftretende) sprachliche Fehlverhalten, das zu Fehlformen führt. Weitere Metonymien, die für die Phänomenrekonstruktion herangezogen werden können, liegen vor, ⫺ wenn die bewertete Art der Produktion für die Bewertung des Produkts steht: „mit hölzerner Feierlichkeit beschrieben“ (Henrichs in Zeit 29/1976, 38) ⫺ wenn ein Element/eine Konstituente eines Produktes statt des Gesamtprodukts bewertet wird: das Thema, der Stil, die „zerfaserte Handlung“ (Stock in Zeit, Beilage Literatur & Musik, Mai 2004, 53), „eine überzeichnete Figur“ (Winkler in Zeit, Beilage Literatur & Musik, Oktober 2003, 70), die fehlende Ordnung. ⫺ wenn von Wirkungen statt vom Produkt die Rede ist (vgl. Sandig 2006, 40). Auch satzthematisch lassen sich reichlich Metonymien und Vergleiche erzeugen. In „herrschte ein Umgangston wie auf einer Galeere“ (Standard 19./20. 5. 2007, 37) steht z. B. die Lokalisierung für die Form des kommunikativen Umgangs. Die metonymische Formulierung macht die Analyse zwar aufwändiger, aber sie kann auch als Indiz für die Häufigkeit einer Fehlform gedeutet werden. Wenn das gesamte Szenario ausgebaut ist wie bei Geschwätz, geschwätzig, Schwätzer und wenn zudem eine lange Reihe von Synonymen und sonstigen aspektvariierenden Benennungen existiert, dann hat die Fehlform ihren Sitz mitten im kommunikativen Leben.
3. Quellentexte ür Fehlormen Das Spektrum möglicher Quellen reicht von Argumentationen mit (quasi-)ostensiven Sprachhandlungen und ausführlicher Legitimation bis zu Texten, in denen man nur auf
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik dem Umweg über längere Schlussketten zum (mehr oder weniger legitimierten) Urteil „Fehlform“ gelangt. Die weitaus häufigsten und ergiebigsten Quellen sind Rezensionen, manchmal auch Gutachten. Rezensionen öffnen Fenster in die Welt der Normen und sie machen die Urteilspraxis öffentlich. Ebenfalls ergiebig, aber als eigenständige Textsorte (außerhalb der Schule) nur selten anzutreffen, sind Charakteristiken. Historisch bedeutsam ist die Sammlung von Charakteristiken von Theophrast aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. Sie enthält eigenständige Fehlverhalter-Porträts, z. B. „Der Schwätzer“, „Der Redselige“, „Der Schmeichler“ (Theophrast ca. 319 v. Chr., 7 ff.; 11; 21 ff.) usw. La Bruye`re übernimmt von Theophrast zwar den Titel „Les caracte`res“, doch nicht die Textsorte des Porträts. In seiner Theophrastübersetzung kommen zwar der „grand parleur“ und der „impertinent ou diseur de rien“ (La Bruye`re 1688, 45) vor, doch zeichnet er in seiner eigenen Arbeit keine Porträts dieser Archetypen mehr, sondern hält nur einzelne Züge fest. Als Thema in unterschiedliche Textsorten eingebettet tauchen Porträts sowohl in fiktionaler Literatur auf als auch in nicht-fiktionaler, z. B. in Reportagen usw. In den Massenmedien finden sich gelegentlich ganz knappe Charakterisierungen (ohne objektsprachliche Komponente) wie in der Feststellung, Gordon Brown habe „das Image eines rechthaberischen Miesepeters“ (Borger in Standard 28. 6. 2007, 36), selten so umfangreiche wie in der Replik von Hans Küng auf einen Kritiker, den er als „Hämling“ charakterisiert. Dort heißt es u. a.: „Dreist führt sich ein Hämling auf, wenn er sich in Fragen, in denen er sich nicht genügend auskennt, als Oberlehrer gibt und seine Ignoranz mit Arroganz und Süffisanz überspielt. […] Dreckig benimmt sich ein Hämling, der die ethischen Intentionen eines Autors zynisch und gehässig in den Dreck zieht und dessen Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit mit allen Mitteln zu diskreditieren versucht.“ (Weltwoche 48/2002, 67). Gelegentlich verzerrte, in manchen Punkten aber überdeutliche Charakteristiken bekommt man in Parodien und sonstigen karikierenden Porträts von individuellen Sprechern/Schreibern. Negativ-Archetypen des Verhaltens, auch des sprachlichen Verhaltens, so wie auch einzelne negativ bewertete rhetorisch-stilistische Fehlformen nehmen die Ratgeberliteratur und die Sprachkritik in den Blick, z. B. „Stilgecken und Stilgaukler“, „Phrase und Plattheit“, „Kitsch“ (Reiners 1967, 213 ff.). Die Schreibpraxis kann dort für die Fehlformenforschung zur Quelle werden, wo Textherstellungsprozesse auswertbar werden, z. B. wenn in Seminaren, Schulen, Redaktionen oder Schreiber(-innen-)teams intensiv und im Kollektiv an der Textoptimierung gearbeitet wird (Fix 1988). Auch die Ergebnisse der Textkorrektur können etwas hergeben, sei es in der Form der Selbstkommentierung in einer Lautes-Denken-Aufzeichnung: „oder klingt das zu salopp?“ (Keseling 1988, 72), sei es in Form von Spät- oder Fremdkorrekturen.
4. Möglichkeiten der Inventarisierung Fehlformen sind Fehlformen sowohl in Bezug auf Normen in einer Kommunikationsgemeinschaft als auch in Bezug auf eine in ihr herrschende Praxis, die deontisch aufgefasst wird. Aus der Gesamtheit der Normen ebenso wie aus der herrschenden Praxis ergeben sich ⫺ durch Emergenz ⫺ die regulativen Sozialkonstrukte, die als Kommunikationsideale/-muster und als Normalwerte in den relevanten Parametern hinter der Praxis stehen und normengleich wirksam werden. Sie ermöglichen die Selbststeuerung und sind
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die Bewertungsgrundlage aller Kritik. Sie bilden zusammen den Kosmos der für die Äußerungs- und Textproduktion sowie -bewertung relevanten Kategorien. Dieser Kosmos wird durch die Fehlformenanalyse sichtbar. An ihm müssen sich alle Versuche der Inventarisierung und Klassifizierung der Fehlformen orientieren. Einige Fehlformen sind Fehlformen, weil in und mit ihnen auf der abstraktesten Ebene gegen die elementaren Bedingungen der „kommunikativen Rationalität“ (Habermas 2004, 110) verstoßen wird. Es sind dies nach Habermas die Forderungen nach Wahrheit/Behauptbarkeit der Aussagen, nach Wahrhaftigkeit (Glaubwürdigkeit) der Sprecherin und nach Legitimität des sprachlichen Tuns. Vor der Zentrierung auf die kommunikative Rationalität rechnete Habermas auch noch die Verständlichkeit zu den Grundvoraussetzungen des „verständigungsorientierten Handelns“ (Habermas 1976, 11). Da es bei der Fehlformenanalyse um Kommunikation schlechthin geht, nicht nur um die kommunikative Rationalität, ist aus linguistischer Sicht die Verständlichkeitsbedingung weiter zu den Grundvoraussetzungen zu rechnen, zumal Fehlformenkritik oft auf das Manko der Nicht- bzw. Schwerverständlichkeit zielt, angefangen von der autonomen Fehlform „Abrakadabra“ („sinnloses, unverständliches, unsinniges Gerede“ nach Duden 1989) bis zu Bewertungen wie „nicht/ kaum/schwer verständlich“. Gegen die Auflagen der Wahrheits- bzw. Behauptbarkeitsnorm, den neben den Verständlichkeitsnormen vielleicht wirkmächtigsten und allgemein geltendsten, also dominantesten, verstoßen die Fehlformen Lüge, Zeitungsente, Fake („ugs. für Fälschung, Betrug, Schwindel“, Duden 2006), Falschaussage, unzulässige Verallgemeinerung. In etwas harmloserer, weniger pathetischer Form tritt die Forderung nach Behauptbarkeit als Forderung nach sachlicher Richtigkeit auf. Ein Text muss nicht wahr schlechthin sein, aber sein Status und der Status seiner Aussagen müssen klar sein, z. B. ob er fiktional ist oder nicht. Die Forderung nach Wahrhaftigkeit ist in der Geschichte der Kommunikation die am stärksten zeitbedingt interpretierte (und verstümmelte). Forderungen nach Aufrichtigkeit, Authentizität und Individualität sind Kinder der Aufklärung (Rousseau). Authentizität kollidiert oft mit Ritualisierung. Wird diese Spannung nicht bewältigt, kann es zu einem Übergewicht der „Fertigteilsprache“ in der Kommunikation kommen, wie sie in der Kitschkritik thematisiert wird; vgl. auch den Bildungsjargon bei Horvath (1978, 147 ff.). Das Plagiat, die faule Ausrede, das erfundene Zitat sind deshalb Fehlformen, weil sie gegen Facetten des Wahrhaftigkeitsgebotes in heutiger Lesart verstoßen. Gleiches gilt für den Stilzug der Großmäuligkeit, der aus dem Gesagten Geschwätz macht, wenn die Glaubwürdigkeit beschädigt ist. Ein Beispiel wäre das Legitimationsdesaster, das Günter Grass mit seinem späten Geständnis der Mitgliedschaft bei der Waffen-SS ausgelöst hat (vgl. Zeit 34/2007, 1; Zeit 35/2007, 41 f.; Zeit 36/ 2007, 18). Weitaus am häufigsten begegnet Kritik an der Legitimität; sie artikuliert sich auf verschiedenen Ebenen und fokussiert auf unterschiedliche Faktoren der Kommunikationssituation, woraus sich ein Panoptikum an Fehlformentypen ergibt. Viele Fehlformen sind eine Folge der Inkongruenz zwischen Situations-, Positions- und Statusrollen (Gerhardt 2004, 388). Wenn Zimmer feststellt, dass „einige heimische Vertreter der Biologie […] gern in der Rolle des politischen Predigers“ auftreten, dann thematisiert er damit ein Fehlverhalten, das darin besteht, dass von ihnen Legitimität beansprucht wird, indem „sie in dieser Rolle zwangsläufig mehr sagen, als ihre Wissenschaft hergibt, der Leser aber nur schwer erkennen kann, wo die Wissenschaft aufhört und die Ideologie beginnt […]“ (Zimmer in Zeit 43/1988, 60). Das Rollenkonzept dürfte sich besonders dafür eignen, viele unterschiedliche Parameter einer Situation analytisch für die Fehlformenanalyse in den Griff zu bekommen. Es kann u. U. fruchtbarer werden als das Situationskon-
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zept. Die Rollenanalyse geht auf der obersten Ebene von den Statusrollen aus: Inländer vs. Ausländer, Geschlechterrollen, Kinder-, Elternrolle, Mitglied einer Dialektsprechergemeinschaft, Muttersprachler vs. Zweitsprachler usw. Auf mittlerer Ebene bezieht die Rollenanalyse Formen des rhetorisch-stilistischen Handelns auf Positionsrollen, z. B. Professor oder ⫺ historisch ⫺ Schulmeister: „,hierzulande dominiert bei Bildungsthemen eher der professorale Ton […]‘ heißt es schulmeisterlich […]“ (Schmundt in Spiegel 16/ 2007, 188). Positionsrollen sind oft in Institutionen organisiert oder an Bräuchen in Institutionen orientiert. Diese legen Normenkomplexe für Domänen/Sphären/Bereiche fest, die wiederum für Fächer, Themen, Aufgaben und/oder (prototypische) Situationen spezifiziert werden können. Kritik an Fehlanwendungen von Stilzügen basiert häufig auf normativen Orientierungen, wie man sich in bestimmten Domänen verhalten muss: „,Die einsame Masse‘ oder die Bücher von Foucault werden häufig als unwissenschaftlich, journalistisch oder ⫺ der schlimmste Vorwurf ⫺ als literarisch abgekanzelt.“ (Sennett in Zeit 40/1994, 61). Auf der untersten Analyseebene sind es Erwartungen im Hinblick auf Situationsrollen, die der Fehlformenkritik zugrunde liegen. Sie regeln das sprachliche Verhalten in „Lebenssphären a` la Reisen (inklusive Straßenverkehr), Essen, Sexualität“ (Gerhardt 2004, 387). Aus der unterschiedlichen Nutzung der formalen Gesprächsrollen, der Inkongruenz zwischen idealem (gleichberechtigtem) und tatsächlichem Sprechrollenverhalten, resultieren viele Fehlformen, auf die vor allem mit nomina agentis Bezug genommen wird: Viel- und Dauerredner, Filibuster, Monologisierer. Die fehlende Legitimität ergibt sich aus dem (neuzeitlichen) Kommunikationsideal der prinzipiellen Gleichberechtigung der Kommunikationsteilnehmer. Weitere Fehlformen ergeben sich aus den Inkongruenzen ⫺ zwischen vorgeblicher und tatsächlicher Illokution, zwischen angestrebter und erreichter Performanz: „Diese Kritik will den Rufmord“ (Pretzel in Zeit 35/2001, 38); „Hetzparolen“ (Spiegel 23/1989, 26). Sprechhandlungstypen mit nicht legitimierbaren Zielen sind per se Fehlformen: verhetzen, heruntermachen, beschimpfen, holzen (Spiegel 23/1989, 26, im Sinn von ,verbal zulangen, niedermachen‘). ⫺ zwischen „normaler“, erwartbarer und praktizierter Adressatenberücksichtigung: Der Adressat wird vom Kommunikator und vom Kommunikat mitgeschaffen. Manchmal allerdings nicht im Sinn des Adressaten, z. B. wenn er wie ein Schulbub/ein Rekrut/ ein Anfänger behandelt wird. ⫺ zwischen Anspruch und Ausführung: Das häufigste Ärgernis für Rezensenten und Lektoren, neben den Lehrern die wichtigsten Ordnungshüter der Schriftlichkeit, ist die interne Delegitimation, die sich z. B. aus der Diskrepanz zwischen Anspruch/Ankündigung und Umsetzung ergibt: „So weit sein Anspruch, wie sieht es mit der Umsetzung aus? Das Ärgernis beginnt schon auf den ersten fünfzig Seiten.“ (Wehr in Zeit 1/1999 (29. 12. 1999), 50). Ansprüche können mit der Wahl der Textsorte erhoben, im Titel angekündigt oder in einer Einleitung programmatisch formuliert werden. „Der Untertitel formuliert […] einen Anspruch, dem der Autor nicht gerecht wird. Es geht ihm um mehr als eine Reportage. […] Damit übernimmt er sich, denn es gelingt ihm nirgends, plausibel darzutun […]“ (Walther in Zeit 40/1997, 21). Die Inkongruenz zwischen Anspruch und Ausführung gehört in einer größere Klasse von Ursachen für Fehlformen. Es sind Verstöße gegen Teil-Teil- und Teil-Ganzes-Erwartungen: Die Teile müssen zueinanderpassen und zusammen ein akzeptables Ganzes ausmachen. Mit jedem verwendeten Element werden Kohärenzerwartungen aufgebaut be-
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züglich der Teile, die dazu passen, die als Fortsetzung zumindest akzeptabel sein müssen. Jedes wiederholt auftretende Ergebnis eines Verstoßes gegen die Teil-Teil-Ganzes-Erwartungen wird, wenn es sozial, d. h. sprachlich kategorisiert wird, als Fehlform wahrgenommen. Das akzeptable Verhältnis der Elemente unter- und zueinander und im Verhältnis zum Ganzen, ist eine Voraussetzung für die Verständlichkeit. Die Teil-Teil-Ganzes-Verhältnisse können auf jeder Ebene gestört sein, z. B. ⫺ wenn Gesamtstil und Stilzug/Stilelement nicht zusammenpassen. Ist ein Stilzug/Stilelement nicht vom Ganzen her funktional legitimiert, wird sein Vorkommen als Inkompetenz oder „rhetorische Wichtigtuerei“ (Wapnewski 1989, 439) gewertet. ⫺ wenn Gesamthandlung und eingebettete Teilhandlung nicht zusammenpassen. ⫺ wenn die Teile nicht gleich relevant sind: „Tatsächlich ist der zweite Band sehr schnell gearbeitet. Der Fluss der Erzählung schleppt viel unnötiges Geröll mit sich, mäandriert in ein zu weites Umfeld, wiederholt sich ständig.“ (Hanisch in Standard 20. 1. 2001, Album 6) ⫺ wenn das Thema nicht durchgehalten wird, wenn Hauptthema und Teilthemen nicht zusammenpassen: „Irgendwann hat Kershaw die Lust an dem Modell der charismatischen ,Herrschaft‘ verloren, jedenfalls fasst er es nicht mehr mit der nötigen analytischen Schärfe ins Auge. Die Biographie wird auf weiten Strecken eine konventionelle Diplomatie- und Militärgeschichte, allerdings auf hohem Niveau.“ (Hanisch in Standard 20. 1. 2001, Album 6) Die Zahl der Normen ist fast unendlich. Deshalb ist auch die Zahl der möglichen Fehlformen (und Fehler) fast unbegrenzt, ebenso (scheinbar) unbegrenzt wie die Zahl der Faktoren, die explizit bei der Produktion und bei der Rezeption (in unterschiedlicher Gewichtung) berücksichtigt werden können/müssen. Das gesamte Universum der Fehlformen kann am besten im Hinblick auf die Dimensionen im Bühlerschen Raum (Ortner/ Sitta 2003, 33 ff.) geordnet werden. Die Dimensionen bestehen aus den Faktoren, die durch sie konstituiert und in ihnen kombiniert werden. Vom Faktorenspezifizierungsansatz ausgehend können auch Veränderungen in diesem Universum analysiert werden. So verändert sich im Lauf der Ontogenese und mit dem Grad der Routiniertheit z. B. die Dimension der einfachen res-verba-Beziehung, die bei Bühler (1934/1978, 28) aus den Faktoren „Zeichen“ und „Welt der Gegenstände und Sachverhalte“ besteht. Sie differenziert sich im Laufe einer langen Lernzeit bei vielen Schreibern zu einer Dimension aus, die aus den Faktoren „Wissen“ ⫺ „Sachverhalt“ ⫺ „Inhalt“ ⫺ „Text“ ⫺ „Aufgabe“ ⫺ „Anliegen“ besteht. Je nach Ausdifferenziertheit ändern sich die Gesichtspunkte, die für die Beurteilung (Fehlform oder nicht?) entscheidend sind: Welches Wissen wird wie zu einem Sachverhalt verarbeitet? Wie viel Wissen wird in welcher Menge verarbeitet? Werden der Sachverhalt, das Anliegen usw. autonom sichtbar? Die in 2. vorgeschlagene Legitimationsanalyse kann durch die Rekonstruktion der urteilsbegründenden Grundsätze und deren Stützungen den Kosmos geltender Normen in einer Sprachgemeinschaft auf jedem beliebigen Niveau ermitteln, für jeden beliebigen Bereich und im Hinblick auf jeden beliebigen Faktor, der am Kommunikationsgeschehen beteiligt ist. Auf diesem Weg kann ein möglichst vollständiges Inventar der Normen und ein Gesamtpanorama möglicher und tatsächlicher Fehlformen erstellt werden. Auf jedem beliebigen Niveau heißt z. B.: ganz abstrakt wie bei Habermas, der mit drei Fehlformen auskommt, oder schon weniger abstrakt und im Hinblick auf weitere Eigenschaften des Kommunikates spezifiziert wie bei Grice (1975). Oder ganz konkret und im Hinblick auf
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Normen der Mündlichkeit, der Schriftlichkeit, der Alltagskommunikation, der Bildungssprache oder für besondere Rollen, Situationen usw. wie z. B. im Hinblick auf Normen, die für Journalisten gelten, die bei Medizinthemen eine „unangemessen sensationelle Darstellung zu meiden [haben], die unbegründete Befürchtungen oder Hoffnungen beim Leser erwecken könnten“ (Deutscher Presserat zit. n. Spiegel 27/1994, 34).
5. Literatur (in Auswahl) Bühler, Karl (1934/1978): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Frankfurt a. M. u. a. (Ullstein Buch, 3392). Cherubim, Dieter (Hrsg.) (1980): Fehlerlinguistik. Beiträge zum Problem der sprachlichen Abweichung. Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik, 24). Duden (1989): Deutsches Universalwörterbuch. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Mannheim/ Wien/Zürich. Duden (2006): Die Deutsche Rechtschreibung. 24., völlig neu bearb. u. erw. Auflage. Mannheim u. a. Erben, Johannes (1978): Über „Kopula“-verben und verdeckte (kopulalose) Ist-Prädikationen. In: Hugo Moser/Heinz Rupp/Hugo Steger (Hrsg.): Deutsche Sprache: Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Friedrich Maurer zum 80. Geburtstag. Bern/München, 75⫺92. Fix, Ulla (1988): Redebewertung beim Lektorieren und Redigieren aus der Sicht des Linguisten. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gesellschaftsund sprachwissenschaftliche Reihe 37, H. 4, 104⫺113. Gerhardt, Uta (2004): Rolle/Role. In: Ulrich Ammon et al. (eds.) (2004): Sociolinguistics: an international handbook of the science of language and society. Soziolinguistik: ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. Volume 1/1. Teilband. 2. Aufl. Berlin/New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 3.1), 384⫺391. Grice, Herbert P. (1975): Logic and Conversation. In: Peter Cole/Jerry L. Morgan (eds.): Syntax and semantics. Volume 3: Speechacts. New York u. a., 41⫺58. Habermas, Jürgen (1976): Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a. M. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 154). Habermas, Jürgen (2004): Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität. In: Jürgen Habermas: Wahrheit und Rechfertigung. Philosophische Aufsätze. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt a. M. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1723), 102⫺137. Horvath, Ödön (1978): Gebrauchsanweisung. In: Ödon Horvath: Kasimir und Karoline. Frankfurt a. M. (Bibliothek Suhrkamp, 316), 147⫺155. Keseling, Gisbert (1988): Probleme der inhaltlichen und verbalen Planung beim Schreiben. Bericht über ein Forschungsprojekt. In: Dieter Nerius/Gerhard Augst (Hrsg.): Probleme der geschriebenen Sprache. Beiträge zur Schriftlinguistik auf dem XIV Internationalen Linguistenkongreß 1987 in Berlin. Berlin (Linguistische Studien, Reihe A, 173), 65⫺86. Kraus, Karl (1966): Die letzten Tage der Menschheit. 2 Teile. München (dtv, 23⫺24). La Bruye`re, Jean (1688): Les caracte`res de The´ophraste traduits du grec avec les caracte`res ou moeurs de ce sie`cle. Neuausgabe 1965. Chronologie et pre´face par Robert Pignarre. Paris (Granier-Flammarion, 72). Neue Zürcher Zeitung. Tageszeitung. Zürich. Nietzsche, Friedrich (1882): Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“). In: Friedrich Nietzsche: Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999 (Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 3), 343⫺651. Ortner, Hanspeter (1999): An den Grenzen der Sprachgeschichte: geschichtslose Textnormen. Normen ,hinter‘ den Buchrezensionen. In: Maria Pümpel-Mader/Beatrix Schönherr (Hrsg.): Spra-
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che ⫺ Kultur ⫺ Geschichte. Festschrift für Hans Moser zum 60. Geburtstag. Innsbruck (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe, 59), 297⫺324. Ortner, Hanspeter/Horst Sitta (2003): Was ist der Gegenstand der Sprachwissenschaft? In: Angelika Linke/Hanspeter Ortner/Paul R. Portmann-Tselikas (Hrsg.): Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis. Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik, 245), 3⫺64. Polenz, Peter v. (1989): Verdünnte Sprachkultur. Das Jenninger-Syndrom in sprachkritischer Sicht. In: Deutsche Sprache 17, 289⫺316. profil. Wochenzeitung. Wien. Reiners, Ludwig (1967): Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa. München. Sandig, Barbara (2006): Textstilistik des Deutschen. Berlin/New York. Schulz, Hans (1978): Deutsches Fremdwörterbuch. Fortgeführt von Otto Basler. Bd. 4. 2. Aufl., völlig neubearb. im Institut für Deutsche Sprache. Berlin/New York. Spiegel. Wochenzeitung. Hamburg. Der Standard. Tageszeitung. Wien. Süddeutsche Zeitung. Tageszeitung. München. Theophrast (ca. 319 v. Chr.): Charaktere. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Dietrich Klose. Mit einem Nachwort von Peter Steinmetz. Stuttgart 1970 (Universal-Bibliothek 619/19a). Toulmin, Stephen (2003): The Uses of Argument. Updated edition. Cambridge et al. Ueding, Gert (Hrsg.) (1992 ff.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen. Wapnewski, Peter v. (1989): Sprache, die über ihre Verhältnisse lebt. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 33, 436⫺441. Wunderlich, Dieter (1974): Grundlagen der Linguistik. Reinbek bei Hamburg (rororo studium, 17). Die Zeit. Wochenzeitung. Hamburg.
Hanspeter Ortner, Innsbruck (Österreich)
82. Stilwandel und Sprachwandel 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Wandel von Stil und Sprache Typen des Stilwandels Stilwandel zwischen Idiolekt und Norm Stilwandel als Folge sprachlicher Stilisierung Stil als semiotische Universalie Literatur (in Auswahl)
Abstract Natural languages’ expressive potentialities change constantly. In this context, the connection between systematic changes and the development of styles is complex because styles change within a deeply interconnected set of fields, namely the linguistic system, linguistic norms and language usage. In spite of the varied dimensions of style and the complex references of language and stylistic changes, four dimensions can be distinguished to de-
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che ⫺ Kultur ⫺ Geschichte. Festschrift für Hans Moser zum 60. Geburtstag. Innsbruck (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe, 59), 297⫺324. Ortner, Hanspeter/Horst Sitta (2003): Was ist der Gegenstand der Sprachwissenschaft? In: Angelika Linke/Hanspeter Ortner/Paul R. Portmann-Tselikas (Hrsg.): Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis. Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik, 245), 3⫺64. Polenz, Peter v. (1989): Verdünnte Sprachkultur. Das Jenninger-Syndrom in sprachkritischer Sicht. In: Deutsche Sprache 17, 289⫺316. profil. Wochenzeitung. Wien. Reiners, Ludwig (1967): Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa. München. Sandig, Barbara (2006): Textstilistik des Deutschen. Berlin/New York. Schulz, Hans (1978): Deutsches Fremdwörterbuch. Fortgeführt von Otto Basler. Bd. 4. 2. Aufl., völlig neubearb. im Institut für Deutsche Sprache. Berlin/New York. Spiegel. Wochenzeitung. Hamburg. Der Standard. Tageszeitung. Wien. Süddeutsche Zeitung. Tageszeitung. München. Theophrast (ca. 319 v. Chr.): Charaktere. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Dietrich Klose. Mit einem Nachwort von Peter Steinmetz. Stuttgart 1970 (Universal-Bibliothek 619/19a). Toulmin, Stephen (2003): The Uses of Argument. Updated edition. Cambridge et al. Ueding, Gert (Hrsg.) (1992 ff.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen. Wapnewski, Peter v. (1989): Sprache, die über ihre Verhältnisse lebt. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 33, 436⫺441. Wunderlich, Dieter (1974): Grundlagen der Linguistik. Reinbek bei Hamburg (rororo studium, 17). Die Zeit. Wochenzeitung. Hamburg.
Hanspeter Ortner, Innsbruck (Österreich)
82. Stilwandel und Sprachwandel 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Wandel von Stil und Sprache Typen des Stilwandels Stilwandel zwischen Idiolekt und Norm Stilwandel als Folge sprachlicher Stilisierung Stil als semiotische Universalie Literatur (in Auswahl)
Abstract Natural languages’ expressive potentialities change constantly. In this context, the connection between systematic changes and the development of styles is complex because styles change within a deeply interconnected set of fields, namely the linguistic system, linguistic norms and language usage. In spite of the varied dimensions of style and the complex references of language and stylistic changes, four dimensions can be distinguished to de-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik scribe their theoretical interconnections. The differentiation between intended and non-intended change is of central importance for a theory of language and style change. This differentiation results in further categories: Stylistic change and language change in the field of tension of idiolect and norm, as well as stylistic change and language change as a result of linguistic stylisation. Furthermore, it has to be taken into consideration that style must be accepted as a semiotic universality. Consequently, a theory of language and stylistic change concerns the general semiotic theory, too.
1. Wandel von Stil und Sprache Natürliche Sprache unterliegt einem ununterbrochenen Wandel ebenso wie sich Stile des sprachlichen Ausdrucks immer wieder verändern. Es liegt nahe, beide Formen sprachlicher Veränderung als ein Phänomen des Sprachwandels zu beschreiben oder zumindest einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Veränderungen natürlicher Sprachen und ihrem Gebrauch anzunehmen. Doch der Zusammenhang zwischen Umgestaltungen des syntaktischen, semantischen und pragmatischen Systems einer Sprache einerseits und dem Wandel von Stilen andererseits ist durchaus komplex. Diese Komplexität resultiert vor allem aus dem unklaren kausalen Bezug von Sprachwandel im Allgemeinen und Stilwandel im Besonderen, der kaum aufzuklären ist, da interne und externe Faktoren des sprachlichen Wandels in unterschiedlichen Phasen mit verschiedener Konsequenz wirksam sind. Für den Zusammenhang von Stilwandel und Sprachwandel stellen sich damit zunächst drei Fragen allgemeiner Art: (1) Ist Stilwandel eine Folge des Systemwandels? (2) Kann Stilwandel eine Änderung des Systems bewirken? (3) Sind Stilwandel und Sprachwandel isoliert voneinander verlaufende Prozesse? Die Fragen (1) und (2) beziehen sich auf die Vorstellung einer deduktiven oder induktiven Korrelation von System und Stil. Die Beantwortung setzt eine Bestimmung des Determinationsverhältnisses von System und Gebrauch voraus, die derart komplex ist, dass sie implizit als zentrales Problem nahezu aller neueren Theorien der Sprache erscheint, ohne dass damit eine hinreichende Klärung erreicht wurde. Im Strukturalismus betrifft dies das bereits bei Saussure behandelte Problem von langue und parole bzw. in späterer Ergänzung von System, Norm und Gebrauch, im transformationsgrammatischen Modell die Unterscheidung von Kompetenz und Performanz (vgl. Dresselhaus 1979). Damit wird bereits deutlich, dass eine Theorie des Wandels von Sprache und Stil immer Teil einer allgemeinen Sprachtheorie ist. Dies gilt auch im Hinblick auf Frage (3), die nicht von einer notwendigen Korrelation zwischen System und Stil ausgeht, sondern diese bezweifelt und eine Autonomie von System- und Stilwandel für möglich hält. Für alle drei Fragen, die den Problemkreis um Stilwandel und Sprachwandel umreißen, wird es keine Antworten allgemeiner Art geben können. Die Komplexität sprachlicher Dynamik sowie die Fülle an Stilbegriffen und Modellen zum Sprachwandel sind Gründe für die Vielschichtigkeit des Zusammenhangs von stilistischer und sprachlicher Veränderung. Dass es eine enge Beziehung zwischen Sprachsystem und Stil gibt, kann dabei aber nicht in Frage gestellt werden. Stil ist eine Globalkategorie, die sich auf alle Ebenen des Sprachsystems bezieht, auf den Wortschatz, den Satzbau, die textuelle Strukturierung usw. (vgl.
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Ullmann 1972, 124). Dennoch werden Fragen des Stilwandels in historisch orientierten Arbeiten der Sprachwissenschaft wenig gestellt und kaum systematisch beantwortet. Lange Zeit galt der Beschäftigung mit der sprachlichen Substanz mehr linguistische Aufmerksamkeit als den Dimensionen der konkreten Handlungsformen von Sprache. Stil wird nicht selten als zu vernachlässigendes Oberflächenphänomen von Sprache angesehen und der marginalisierten Sphäre der vereinzelten Phänomene zugeschrieben, für die wissenschaftlich keine Regelhaftigkeit zu beschreiben ist. Der Wandel einer reinen Positivität des Ausdrucks ist daher ein wenig behandeltes Thema. Sofern man sich in der Linguistik mit Sprachwandel befasst, war man lange Zeit vor allem an einer „Sprache hinter dem Sprechen“ (Krämer 2001) interessiert und hat die materiale Grundlage kommunikativen Handelns wissenschaftlich vernachlässigt. Die Marginalisierung der sozialen Interaktion in den Leitparadigmen der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts führt im strukturalistischen und nativistischen Modell der Sprache zu einer wissenschaftlichen Perspektive auf die vom Gebrauch autonom gesetzte Sprache. Haspelmath (2002, 262) widerspricht im Zusammenhang einer zahlreiche Sprachwandelphänomene anführenden Arbeit dieser Haltung und nimmt eine konstruktivistische Position ein, wenn er davon ausgeht, dass Grammatik „als Nebenprodukt des Sprechens in der sozialen Interaktion“ entsteht. Mit dem wachsenden Interesse der Sprachwissenschaft an so genannten Oberflächenphänomenen geht in jüngster Zeit auch die Beschäftigung mit Fragen des stilistischen Wandels einher. Veränderungen des Stils betreffen immer auch den Gebrauch der systematischen Potenzen einer Sprache und sind verbunden mit Veränderungen lexikalischer, grammatischer und anderer Dimensionen einer Sprache, insofern die Palette stilistischer Möglichkeiten dabei modifiziert wird. Wenn es in der Stilistik unter anderem um Fragen der Sprachrichtigkeit, der Klarheit des Ausdrucks, der Rhetorik des Einzelwortes und Satzes, der Angemessenheit sprachlicher Mittel und der Wahl von Ausdrucksformen geht, so hängen diese Stilaspekte immer mit den Ausdrucksmöglichkeiten einer Sprache zusammen und mit dem, was üblich ist bzw. als Sprachnorm gilt. Der Wandel von Sprachstilen erfolgt daher grundsätzlich im Spannungsfeld von Sprachsystem, Sprachnorm und Sprachgebrauch. Was außerhalb des Sprachsystems steht, wird immer stilistisch stark markiert sein und den kommunikativen Status von Idiosynkrasien haben. In der Regel umfasst das stilistische Repertoire einer Sprache diejenigen Ausdrucksmöglichkeiten, die Teil der Norm sind. Die Akzeptanz von Ausdrucksformen und ihre regelhafte Verwendung in spezifischen Kommunikationssituationen ist daher auch Maßstab vieler Stillehren. Der Stil ist nicht nur eine Art und Weise des individuellen Ausdrucks, sondern auch eine normbezogene Anwendung sprachlicher Möglichkeiten im Zusammenwirken unterschiedlicher sprachlicher Ebenen. Der Sprachgebrauch als Art der Handlungsdurchführung (vgl. Sandig 1986) kann aber durchaus auch alternative Modelle zum Üblichen ausbilden. Dabei ist zu bedenken, dass der Stilgebrauch nicht nur als Realisierung einer Einzelsprache in der Rede funktioniert, sondern in hohem Maße durch sprachliche und in der Interaktion eingespielte Routinen geprägt ist. Feilke (1994, 338) führt aus, dass sich das „grammatische Wissen“ nicht nur auf das bezieht, was in einer Sprache möglich vs. nicht möglich ist, sondern auch auf „verschiedene Möglichkeiten“, die „pragmatisch als Präferenzen des Meinens und Verstehens strukturiert werden“. Stile des Ausdrucks sind dabei immer vor dem Hintergrund zeitgebundener Routinen des Meinens und Verstehens zu sehen, denn jeweilige Gebrauchs- und Verstehenspräferenzen sind die Folge sprachlicher Routinen. Stein (1995) bezieht dies auf die Ebene der Textproduktion, wenn er gegen den Pol der sprachlichen Kreativität die Routine setzt, bei der es um die
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Formelhaftigkeit und Musterprägung der Sprache gehe. Vor diesem Hintergrund ist die Wahl eines bestimmten routinegeprägten Stils eine ökonomische Entscheidung „zu reibungslosen und störungsfreien Kommunikationsabläufen“ (Stein 1995, 127). Stil ist zudem ein sprachliches Phänomen in Abhängigkeit vom gesamten Varietätengefüge und insofern nicht allein über die Betrachtung der standardsprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zu erfassen; dies zeigt bereits die antike Bezeichnung von Kommunikationsformen nach den Stilschichten genus sublime, genus grande, genus mediocre, genus humilis bzw. genus subtile. Trotz der vielfältigen Dimensionen des Stils und der komplexen Bezüge von Stilwandel und Sprachwandel lassen sich vier Dimensionen ihres theoretischen Zusammenhangs deutlich unterscheiden. Von zentraler Bedeutung für eine Theorie des Sprach- und Stilwandels ist zunächst die Unterscheidung zwischen intendiertem vs. nicht intendiertem Wandel. Daraus ergeben sich die weiteren Kategorien der theoretischen Kennzeichnung: Stilwandel und Sprachwandel im Spannungsfeld von Idiolekt und Norm sowie Stilwandel und Sprachwandel als Folge sprachlicher Stilisierung. Dass Stil als semiotische Universalie zu gelten hat, ist dabei nicht aus dem Auge zu verlieren, sodass eine Theorie des Sprach- und Stilwandels letzthin auch die allgemeine semiotische Theorie betrifft.
2. Typen des Stilwandels 2.1. Intendierter vs. nicht intendierter Wandel Bereits die Geschichte der Sprachwandeltheorien zeigt, wie zentral die Kategorie der Intention in Modellierungen sprachlicher Dynamik ist. Während systemimmanent argumentierende Theorien des sprachlichen Wandels von internen Motiven der sprachlichen Dynamik ausgehen, wie etwa Lautgesetzen, Prinzipien der Assimilation und Ökonomie oder Fragen der kognitiven Prädisponiertheit jeglichen Sprachvermögens und dabei die Frage der Intendiertheit systematischer Veränderungen von Sprache ausklammern, konzentrieren sich beispielsweise mediengeschichtliche oder funktional orientierte Sprachwandeltheorien gerade auf die Frage der kommunikativen Absichten von Sprachteilhabern und sehen dabei einen direkten Zusammenhang zwischen Handlungszweck und sprachlichen Veränderungen. Da die Konfrontation von strukturorientierter und funktionsorientierter Linguistik nach Jäger (1993) das wissenschaftshistorische Kennzeichen der jüngeren Sprachwissenschaft ist, manifestieren sich gerade für Fragen der Stilistik die divergenten sprachtheoretischen Grundüberzeugungen. Keller (1994) führt die Pole von systemimmanenter und sprachexterner Motiviertheit des sprachlichen Wandels auf die Unterscheidung von Sprache als Naturphänomen vs. Kulturphänomen zurück. Sprache als Natur ist vorstellbar als selbstregulierendes System ohne Einfluss intendierter Handlungen. Sprache als künstliches System ist demgegenüber in erster Linie Produkt kommunikativer Intentionen. Kellers Sprachwandeltheorie bricht das tertium-non-daturPrinzip der traditionellen Theoriebildung, indem Sprache als System der dritten Art beschrieben wird. Sprachwandel ist demnach ein Invisible-hand-Prozess, das heißt eine nicht intendierte kausale Konsequenz aus einer Vielzahl gleichgerichteter Handlungen; die eigentlichen Intentionen von Sprachteilhabern müssen nicht direkt mit den kausalen Konsequenzen übereinstimmen. Dass es Folgen kommunikativer Absichten im Sprach-
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wandel gibt, wird in der neueren Theorie also keineswegs ausgeklammert, jedoch wird eine unmittelbare Intendiertheit systematischer Veränderungen kaum für möglich gehalten. Bei Keller/Kirschbaum (2003) werden damit verbundene Erklärungen auf Vorgänge des Bedeutungswandels bezogen. Für die theoretische Einordnung des Stilwandels ist die neuere sprachwissenschaftliche Einsicht in Invisible-hand-Prozesse nicht unbedeutend. Denn auch der Wandel von kollektiven Ausdrucksformen, den so genannten Kollektivstilen, ist zwar einerseits nur gebunden an kommunikative Absichten und Zwecke denkbar. Andererseits wandelt sich Stil nicht allein in Folge definierbarer Absichten, sondern entsteht aus dem Zusammenhang komplexer sozialer Bedingungen sowie den faktischen Möglichkeiten jeweiliger Sprachsysteme. Stilwandel ist damit intendiert, wenn er zurückzuführen ist auf individuelles Handeln, doch ebenso nicht intendiert, wenn er als soziales Phänomen der kollektiven Veränderung von Gebrauchsformen erscheint. Die Unterscheidung von intendiertem vs. nicht intendiertem Wandel ist in Verbindung mit zwei Formen des Stilwandels zu sehen: selektiver Stilwandel und deviatorischer Stilwandel.
2.2. Selektiver Stilwandel In der Stiltheorie wird Stil unter anderem als Auswahl aus den Möglichkeiten eines Systems beschrieben. In deutscher Sprache erscheint dieser Stilbegriff erstmals umfassend dargestellt in Johann Christoph Adelungs Über den deutschen Styl (1785). Die selektive Stiltheorie versteht Stil einerseits als Teil der systematischen Potenzen einer Sprache und andererseits als Präferenz bestimmter Ausdrucksformen im Gesamtspektrum kommunikativer Möglichkeiten. Sprache wird dabei als optionaler Code bzw. Auswahlsystem betrachtet. Wofür der Sprachbenutzer jeweils optiert, ist dabei abhängig von kommunikativen Zwecken, individuellen Präferenzen, Normen usw. Die Veränderung des Stils ist im Kontext selektiver Stiltheorien nichts anderes als eine Verschiebung im Auswahlverhalten, wie es etwa bei Grußformeln unmittelbar zu beobachten und beschreiben ist: (1)
a. Grüß dich Hans. b. Hallo Hans. c. Hi Hans.
(2)
a. Sehr geehrter Herr Maibach. b. Lieber Herr Maibach. c. Hallo Herr Maibach.
Während die Varianten (1a) bis (1c) in nähesprachlicher Mündlichkeit in der deutschen Gegenwartssprache nahezu ohne stilistische Markierung gleichwertig im Gebrauch sind, ist die Abwahl aus dem stilistischen Paradigma (2) mit Stilentscheidungen verbunden. Dabei ist ein Stilwandel durch Merkmalsverschiebung infolge veränderter Selektion von (2c) erkennbar. Während der übliche Sprachgebrauch (2a) bis (2c) auf einer Achse von Distanzkommunikation zu Nähekommunikation taxiert, ist im offiziellen Schriftverkehr jüngst die Variante (2c) als Substitut für (2a) bzw. (2b) erkennbar. Das Merkmal ,informeller Stil‘ für (2c) wird also durch veränderte Selektion getilgt. Dies führt zu einem Wandel im Stil der Anredeformen, ohne dass neue Formen ausgebildet werden oder gegen Normen des sprachlichen Ausdrucks verstoßen wird. Stilwandel kommt stattdes-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik sen durch Änderungen der Präferenzen im Abwahlverhalten aus einem Paradigma usueller Formen zustande. Hier ist ein Zusammenhang zur Stilisierung erkennbar (s. auch Abschnitt 4), also der Produktion von Stilformen. Stilisierungen sind durch ein bewusstes Nutzen von Ausdrucksformen gekennzeichnet, bei dem die Abwahl aus der Palette der Gestaltungsmöglichkeiten den Ausdrucksintentionen angepasst wird. Dies gilt auch für Stilformen in der Bildenden Kunst. So versteht man zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Russischen Stil als „eine nationale Umbildung des byzantinischen Stils unter orientalischen Nebeneinflüssen“ (Spemann 1905, 820). Die Stilisierung präferiert aus einem Paradigma von Ausdrucksmöglichkeiten bestimmte Formen und prägt damit Stilwandel im Rahmen vorgegebener Muster. Stilistische Veränderungen sind also Substitute für andere potentielle Formen sprachlichen Verhaltens. Damit gewinnt jeder sprachliche Ausdruck eine stilistische Dimension, denn die Formulierung von Aussagen erfolgt in der Vorstellung der selektiven Stiltheorie immer in einem stilistischen Paradigma möglicher Formen, aus denen eine Auswahl erfolgt. Stilwandel durch Selektion ist insofern begrenzt durch das, was stilistisch möglich erscheint. Das stilistisch Mögliche ist schließlich die Norm, also der Umfang der im Regelfall denkbaren Ausdrucksmittel einer Sprache. Selektiver Stilwandel vollzieht sich daher in den Grenzen zeittypischer Formen des Sprachgebrauchs, in den Grenzen der Norm.
2.3. Deviatorischer Stilwandel Stil wird nicht nur als Produkt der Selektion von Normpotenzen beschrieben, sondern in der so genannten deviatorischen Stilistik auch als Normabweichung. Die Spezifik des Stils ist dabei gerade nicht die Präferenz bestimmter Normpotenzen, sondern die Differenz gegenüber üblichen Ausdrucksformen. Stil ist dabei e´cart, also Abweichung von der Norm bzw. Normverstoß (vgl. Gauger 1992, 10). So kann der Bruch mit üblichen Formen des Ausdrucks zum Kennzeichen neuer Sprachgebrauchsformen werden. Die Abgrenzung etwa von den barocken Ausdrucksvorgaben der Regelpoetik in Empfindsamkeit und Sturm und Drang bis hin zur Romantik ist dafür beispielhaft. Bekannt ist auch die im Zuge der Autonomisierung des Subjekts stattfindende Wortbildungsproduktivität mit dem Stamm Mensch(heit) im ausgehenden 18. Jahrhundert, bei der die Fülle an Neologismen zur Stilsignatur der Zeit wird (vgl. Maurer/Rupp 1974, 316 f.): Mensch, Menschenberuf, Menschendenkart, Menschenform, Menschenfreund, Menschenfurcht, Menschengeist, Menschengröße, Menschengüte, Menschenhärte, Menschenhelfer, Menschenjammer, Menschenkenntnis, Menschenlauf, Menschenliebe, Menschenmenge, Menschenpflicht, Menschenrechte, Menschensinn, Menschensprache, Menschenstrom, Menschenton, Menschentum, menschentümlich, Menschenvertilger, Menschenwert, Menschlichkeit, Menschenwürde
Zeitgleich beschreibt man Stil erstmals als distinktives Merkmal für die Periodisierung von Kunstepochen (vgl. Winckelmann 1764). Ein Gedanke, der dann im Hegelschen Konzept des Zeitgeistes pointiert erscheint. Dabei ist Stilwandel im Konzept des deviatorischen Stilwandels gerade nicht bezogen auf Stil als „the constant form ⫺ and sometimes the constant elements, qualities, and expressions ⫺ in the art of an individual or
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a group“ (Schapiro 1953, 137), sondern als Vorgang des Bruchs mit überkommenen Formen des Ausdrucks realisiert. Die konstanten Elemente sind demnach Inventar des Üblichen, der Stil hingegen weicht davon ab. Diese Vorstellung geht unmittelbar in das Konzept des Personalstils ein, für das im Hinblick auf Sprache die idiolektalen Eigenheiten des sprachlichen Ausdrucks zum Stilmarker erklärt werden. Ein solcher Normverstoß ist stilistisch markiert und wird als produktive Form des sprachlichen Ausdrucks verstanden, mit der auch Veränderungen der Norm verbunden sein können. Erst mit der Individualisierung des Stilbegriffs am Ende des 18. Jahrhunderts gewinnt diese Stilvorstellung an Bedeutung gegenüber selektiven Stilkonzeptionen; anzuführen ist hier vor allem Karl Philipp Moritz mit seinen Vorlesungen über den Styl (1793/94). Die Eigentümlichkeit subjektiver Ausdrucksformen wird dabei als wesentlicher Ausweis stilistischer Prägung verstanden. Deviatorischer Stilwandel vollzieht sich außerhalb der Grenzen zeittypischer Formen des Sprachgebrauchs und ist die Folge abweichenden Verhaltens durch Sprachteilhaber.
2.4. Ursachen des Stilwandels Selektion vs. Deviation, also Auswahl gegen Abweichung, sind im Zusammenhang mit Intendiertheit und Nichtintendiertheit stilistischen Wandels zu sehen. Daraus ergeben sich vier Ursachen des Stilwandels: intendierter Stilwandel Stil als Auswahl Stil als Abweichung
STILWAHL STILPRÄGUNG
nicht intendierter Stilwandel STILANPASSUNG STILEREIGNIS
Abb. 82.1: Vier Ursachen des Stilwandels
Stilwahl ist der beabsichtigte Vorgang einer Bevorzugung von Formen innerhalb der Sprachnorm. Die Entscheidung für ein bestimmtes Stilregister mit seinen je üblichen Ausdrücken und Satz- sowie Textstrukturierungsverfahren erfolgt im Rahmen der usualisierten Muster einer Sprache bzw. Sprachvarietät. Eine Veränderung von Stilen ist insofern die Folge einer Veränderung im Auswahlverhalten; Stilwandel als Wandel der intendierten Wahl aus sprachlichen Möglichkeiten. Zur Stilwahl kommt es bereits im Alltagsgebrauch der Sprache und grundsätzlich dann, wenn für bestimmte Funktionsbereiche oder kommunikative Zwecke angemessene Formen des sprachlichen Ausdrucks gewählt werden. (3)
a. Entschuldigen Sie meine mangelnde Geistesgegenwart. b. Ich bitte um Nachsicht für meine fehlende Konzentration. c. Ich möchte mein Bedauern über meine Zerstreutheit ausdrücken.
(4)
a. Sorry für das Missgeschick, hab ich verpennt. b. War echt nicht so gemeint, habe ich einfach nicht gepeilt. c. Tut mir wahnsinnig leid. War einfach nicht bei mir.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
Die Varianten (1) und (2) sind dabei stilistisch im Kontrast gleichwertig, zwischen (1) und (2) kann mithin eine Stilwahl stattfinden, innerhalb (1) und (2) kann stilistisch moduliert werden. Stilanpassung erfolgt demgegenüber nicht beabsichtigt, sondern als nicht intendiertes Resultat einer Wechselwirkung zwischen üblichem Sprachverhalten und individueller Auswahl. Die Entscheidung für jeweilige Formen des sprachlichen Ausdrucks geschieht häufig ohne Überlegung und gezielte Reflexion alternativer Möglichkeiten, dies hat Ullmann (1972, 149 f.) mit seiner Behandlung von expressiven vs. impressiven Stilwerten gezeigt. Stilauswahl funktioniert durchaus auch als Automatismus in spezifischen sozialen bzw. funktionalen Konstellationen. Die Veränderung von Stilen ist insofern die Folge einer Veränderung im Anpassungsverhalten; Stilwandel als Wandel der nicht intendierten Wahl aus sprachlichen Möglichkeiten. Dabei kann die Anpassung bezweckt oder die Folge einer nicht gesteuerten Assimilation sein. Ein Modell für die soziolinguistischen Dimensionen einer nicht gesteuerten Stilanpassung ist etwa die Angleichung im sprachlichen Ausdruck bei der Integration von Russlanddeutschen (vgl. Berend 1998). Anpassung unter Zwang ist historisch beispielsweise in Veränderungen der Ausdrucksformen als Folge kolonialer Sprachpolitik zu beobachten. Auch die stilistischen Folgen der Political-Correctness-Bewegung sind ein gutes Feld zur Beobachtung sprachlicher Assimilation. Stilprägung ist das Ergebnis eines intendierten Verstoßes gegenüber der Norm. Kennzeichen dieser sprachlichen Abweichung ist die beabsichtigte Differenz im sprachlichen Ausdruck. Die Entscheidung für eine bestimmte Formulierungsvariante erfolgt dabei bewusst außerhalb dessen, was usualisiert ist. Die Veränderung von Stilen ist insofern die Folge von beabsichtigten Normverstößen; Stilwandel als Wandel der intendierten Normdifferenzen. Zu Stilprägungen kommt es häufig in sprachlichen Äußerungen mit starker Markierung der poetischen Funktion, also dann, wenn Sprache mit selbstreflexiven Bezügen etwa im literarischen Schreiben gebraucht wird und dabei Funktionen des Ausdrucks, der Darstellung oder des Appells in den Hintergrund der kommunikativen Absichten rücken. Ein Stilereignis vollzieht sich bei nicht beabsichtigtem Normverstoß. Kennzeichen dieser sprachlichen Abweichung ist die unbeabsichtigte Differenz im sprachlichen Ausdruck, also eine stilistische Markierung. Die Veränderung von Stilen ist insofern die Folge von unbeabsichtigten Normverstößen; Stilwandel als Wandel der nicht intendierten Normdifferenz. Dass solche Normverstöße als Stilereignisse wiederum genutzt werden können für Stilprägungen und schließlich auch die Anpassung oder Wahl eines Stils beeinflussen, kann am Beispiel des Türkischdeutschen als Migrantensprache exemplarisch beschrieben werden oder an Normverstößen in der Jugendsprache, die sich kommunikativ durchsetzen.
3. Stilwandel zwischen Idiolekt und Norm Die Differenzierung von Stilwahl, Stilanpassung, Stilprägung und Stilereignis zeigt, dass Unterschiede im Stilwandel durch die Merkmale Intention und Nichtintention sowie Auswahl und Abweichung bedingt sind. Stilwandel im Besonderen, aber auch Sprachwandel im Allgemeinen vollziehen sich zudem auch im Spannungsfeld von individuellem und kollektivem Sprachgebrauch, also zwischen Idiolekt und Norm. Die Veränderung im Aus-
82. Stilwandel und Sprachwandel
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wahlverhalten oder in der Abweichung von üblichen Mustern kann als anonymer Prozess in Gruppen von Sprachteilhabern ebenso erfolgen, wie es auch möglich ist, dass diese durch Einzelpersonen motiviert ist. Gehen vom individuellen Sprachgebrauch Impulse für Stilveränderungen aus, so sind diese vor allem durch Abweichungen von üblichen Mustern gekennzeichnet. Idiolekte bedingen Stilwandel im Hinblick auf Neuerungen im sprachlichen Ausdruck. Sofern Stil aber im Zusammenhang der Sprachpflege, des Purismus bzw. der Fragen des richtigen Ausdrucks eine Rolle spielt, geht es um den so genannten angemessenen Stil, wie er in den Rede- und Stillehrbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts bereits beschrieben wird (vgl. Schmidt-Wächter 2004). Der Versuch einer Steuerung des kommunikativen Verhaltens von Individuen durch die Formulierung solcher Sprachnormen kann durchaus auch Stilwandel bedingen, dieser geht dann jedoch nicht vom Individuum aus, sondern resultiert aus der Anpassung des Individuums an formulierte Normen. Veränderungen des Sprachgebrauchs vollziehen sich somit zwischen den Polen der Anpassung an kollektive Normen und der idiolektalen Abweichungen von solchen Normen. Die Dimensionen des Normbezugs und der idiolektalen Differenz sind zentral für jede Erklärung des sprachlichen Wandels. Sie sind zurückzuführen auf zwei Typen des individuellen Verhaltens, wie sie unter anderem in der Sozialtheorie von Coleman (1990) beschrieben werden: Verhalten als Nachahmung und Verhalten als intendierte Abweichung. Mit Anderen im sprachlichen Ausdruck übereinstimmen oder von Anderen sprachlich abweichen, sind die Grundfunktionen jeder Stiläußerung. Peer (2001) erkennt in der imitatorischen Funktion des Stils eine evolutionstheoretische Dimension, insofern die stilistische Abgleichung mit dem Verhalten Anderer immer vor dem Hintergrund einer Optimierung von Verhalten im sozialen Evolutionsprozess denkbar ist. Stilwandel als Folge des individuellen Stilgebrauchs ist mithin das Ergebnis einer Selektion im Normierungsdruck der sprachlich handelnden Gemeinschaft. Neben der stilistischen Angepasstheit mit den sozialen Vorteilen einer Adaptation an gesellschaftliche Normen gibt es die kreativen Potenzen des Individuums, die der Norm entgegenstehen (vgl. Eaton 1978). Eine Theorie des stilistischen Wandels, die vom Stil als Performanzphänomen ausgeht, hat diese soziologischen, evolutionspsychologischen und semiotischen Beschreibungen von Stilfunktionen zu berücksichtigen. Denn Stil ist, in welchen Formen auch immer, ein Mittel zur „Steigerung sozialer Sichtbarkeit“ (Assmann 1986, 127). So kann die Wahl bestimmter Argumentationsstile beispielsweise ein Mittel zur Herstellung von gesellschaftlicher Akzeptanz sein. Da Stil, gleich ob als Anpassung an die Norm oder als idiolektale Abweichung von derselben, von Individuen produziert wird, „um beobachtet zu werden“ (Soeffner 1986, 319), sind Veränderungen in der Stilistik einer Sprache nicht losgelöst von Intentionen zur sprachlichen Stilisierung zu betrachten.
4. Stilwandel als Folge sprachlicher Stilisierung Der Begriff Stilwandel lässt sich keinesfalls auf alle Veränderungen sprachlicher Ausdrucksformen übertragen. So sind etwa Vorgänge des Bedeutungswandels nicht zwingend stilistische Phänomene. Dies gilt auch für phonologische, flexionsmorphologische bis hin zu syntaktischen Veränderungen von Sprachelementen. Mit Stil werden vor allem soziale Identität und funktionale Domänen markiert. Hier ist Stolt (1984, 163) zu folgen, wenn sie Stil als eine Funktion beschreibt, die aus der Relation von Konformismus und
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
Originalität erwächst. Der Wandel von Stilen ist insofern nicht identisch mit dem Wandel von Sprache überhaupt, sondern ergibt sich aus den je verschiedenen Kombinationen von obligatorischen und fakultativen Elementen des Systems. Im Rahmen einer allgemeinen Expressivitätslehre wird man Stil daher als individuelle Gestaltung des Systems beschreiben. Bereits in der Stilistik von Bally (1909) findet sich die Unterscheidung von affektiver vs. intellektueller Sprachverwendung. Die Affektivität oder auch Expressivität der Alltagssprache sei Gegenstand der Stilistik, da die Expression Ausdruck der individuellen Gestaltung des Systems ist. Eine Ausprägung sprachlicher Stilistik ist demnach verbunden mit expressiven Handlungen, mit der Gestaltung von Systempotentialen. Gumbrecht (1992) bezeichnet die Ergebnisse solcher stilbildenden Tätigkeiten als Stilisierung. Dass der Stil als Kommunikationsform, die Unterscheidung hervorruft und der Vorstellung einer einheitlichen Wirklichkeit entgegensteht (vgl. Gumbrecht 1986, 736 ff.), immer auch Veränderungen in den Ausdrucksformen bedingt, ist evident. Zunächst jedoch ist Stil gebunden an Stilisierungen im Spannungsfeld von Anpassung und Abweichung. Bereits 1753 erklärt Georges Louis Leclerc Buffon le style est l’homme meˆme; Johann Georg Hamann versteht in Anlehnung daran Stil als Ausdruck der Individualität (vgl. Trabant 1992). Diesem Konzept entspricht die neuzeitliche Vorstellung, dass das Subjekt Schöpfer eines persönlichen und vor allem auch literarischen Stils ist, des so genannten Individualstils. Die sprachliche Stilisierung ist dabei jedoch nicht zwingend als Herstellung geschraubter Künstlichkeit zu verstehen. Im Gegenteil formulieren Michel de Montaigne und auch Johann Wolfgang Goethe das Ideal der dissimilatio artis (Verbergung von Künstlichkeit), das besagt, dass ein angemessener Stil dazu diene, den Geist des Sprechenden unmittelbar auszudrücken. Metzger (2004, 84) führt hierzu aus, dass Stil insoweit als Inkarnation des Subjekts im Text verstanden wird. Während die Rhetorik ein Regelsystem der langue sei, resultiere die Stilistik einer Sprache aus ihrer parole. Man wird also in Theorien zum Stilwandel nicht umhin kommen, den individuellen Gebrauch von Sprache in Verbindung mit seinen differenzierten Bedingungen zu berücksichtigen. Stilisierung ist dabei ein wichtiges Kennzeichen des sprachlichen Verhaltens. Dass Stil überhaupt „die sozial relevante Art der Durchführung einer Handlung mittels Text oder interaktiv als Gespräch ist“ (Sandig 1995, 28), wird in den neueren pragmatischen Stilkonzepten immer wieder betont. Die Veränderung der Stilistik mag man insofern auch als Umgestaltung sprachlichen Handelns im Allgemeinen verstehen. Gebunden ist der Umbau von Ausdrucksformen an sozio-kulturelle Bedingungen, an Moden, an die Zeitläufte. Bereits bei Staiger (1963) wird der Wandel von Ausdrucksformen explizit mit dem Begriff des Stilwandels belegt. In der Begründung der werkimmanenten Interpretation entwickelt Staiger jedoch unter anderem mit den werkbezogenen Begriffen Vollendung, Steigerung, Verflüchtigung, Stilbruch eine bewertende Theorie des Stils, die für sprachwissenschaftliche Stiltheorien keine nachhaltige Bedeutung gewonnen hat. Wenn Stil nach Retamar (1958, 11) immer das Außerlogische der Sprache betrifft, so sind es eben nicht nur die ästhetisch-literarischen Kategorien wie „Gefühlsbeiklang, Betonung, Rhythmus, Symmetrie, Wohlklang […], Stilfärbung […]“ (Ullmann 1972, 114), die die sprachliche Durchführung einer Handlung charakterisieren, sondern es sind die unterschiedlichen Formen der Stilisierung des Individuums im Kontext von individuellem Sprachgebrauch und kollektiver Norm, die Stilwandel bedingen. Die bereits dargestellten Unterschiede in den Ursachen können in einer Theorie des Stilwandels als Veränderung von Stilisierung auch mit den Begriffen Abweichung, Imitation, Kontrastierung und Epigonalität beschrieben werden.
82. Stilwandel und Sprachwandel
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4.1. Abweichung und Imitation Stil als Abweichung, gleich ob intendiert als Stilprägung oder nicht intendiert als Stilereignis, gehört zu den häufigsten Formen der sprachlichen Stilisierung. Die Markierung einer kommunikativen Position durch Differenz zur Norm ist ein wirkungsvolles Mittel der pragmatischen Organisation von sprachlichen Handlungen. Bei der Stilprägung erfolgt die Nutzung einer nicht normierten Stilvariante mit dem bewussten Ziel einer sprachlichen Stilisierung, während diese sich beim Stilereignis unbeabsichtigt ergibt. Abweichungen können also von der gesteuerten medialen Prägung von Stilen, etwa sprachlichen Moden, bis zu unbewussten Idiosynkrasien reichen. Ihre Wirkung im Stilwandel entfalten solche Abweichungen durch Imitationen. Wie bereits im Lois de l’imitation von Tarde (1895) dargelegt wird, ist Nachahmung ein zentraler gesellschaftsbildender Vorgang. Sprachliche Stilisierungen erfolgen in Entsprechung dazu häufig über die Imitationen von Stilabweichungen, die Ausbildung von Gruppenstilen ist dafür ein Beispiel. Die Vorgabe von Stilabweichungen durch anonyme Produzenten oder Individuen entfaltet über die Nachahmung eine stilverändernde Wirkung. Die Differenz zu anderen Ausdrucksmöglichkeiten kennzeichnet dann den jeweiligen Stil. Dies wird strukturalistisch bereits bei Hockett (1965, 556) beschrieben, wenn er eine Stildifferenz da erkennt, wo zwei Äußerungen mit annähernd gleicher Information in ihrer linguistischen Struktur verschieden sind. Die Prägung oder unbeabsichtigte Bildung eines Stils erzeugt neue Auswahlmöglichkeiten. Stilwahl und Stilanpassung beziehen sich also nicht nur auf die usualisierten Ausdrucksmöglichkeiten, sondern gerade auch auf das Neue, noch nicht Normierte, mit dem eine Steigerung der sozialen Sichtbarkeit verbunden ist. Über die Imitation von geplanten oder ad-hoc-gebildeten Varianten vollzieht sich Stilwandel. Insofern ist die Differenzierung von Ursachen des Stilwandels (siehe 2.4) auch kausal zu formulieren. Wenn Stilprägung oder Stilereignis als abweichende Ausdrucksformen das Repertoire an Auswahlmöglichkeiten erweitern oder verändern, erfolgt Stilwandel über imitatorische Stilwahl oder Stilanpassung. Das komplexe Zusammenwirken von Abweichung und Auswahl bei der Stilbildung hat Ullmann (1972, 115) behandelt. Für den Stilwandel lässt sich festhalten, dass der Zusammenhang von Stilisierung durch Abweichung und Stilisierung durch Auswahl eine sprachliche Dynamik in Gang setzt.
4.2. Kontrastierung und Epigonalität Neben den üblichen und verbreiteten Stildifferenzen sowie ihren jeweils neuen Bildungen im Varietätenspektrum einer Sprache kommen auch Stilprägungen vor, die Nachahmung auszuschließen versuchen. Hier besteht das kommunikative Ziel in der Kontrastierung zu usualisierten Ausdrucksformen. Literarische Sprache, sofern sie das unverwechselbar Artifizielle in den Vordergrund spielt, oder aber auch Unternehmensstile im Sinne eines corporate style sind dafür Beispiele. Bei der Stilkontrastierung soll die Imitation möglichst vermieden werden, denn es geht nicht nur um die Herstellung sozialer Sichtbarkeit in einzelnen Kommunikationssituationen, sondern um die anhaltende Identifikation eines Stils mit einem Autor, einer sozialen Gruppe, einer Band, einem Unternehmen usw. Eine Nachahmung solcher Kontraststile ist dann nicht einfach Imitation, sondern Epigonalität. Immer da, wo etwa durch ästhetischen Anspruch oder Unternehmensziele die
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Kontrastierung gegenüber Anderen zu den kommunikativen Intentionen gehört, wird zwar Stil als Abweichung erkennbar, dieser geht aber über imitatorische Auswahl nicht einfach in einen Stilwandel über, sondern bleibt als Marke, als stilistisches Kennzeichen des Stilproduzenten sichtbar. Gerade im Zusammenhang von Kontrastierung und Epigonalität wird deutlich, dass Stil nicht allein den sprachlichen Ausdruck betrifft, sondern auch andere Formen der Stilisierung.
5. Stil als semiotische Universalie Weil Stil nicht allein auf den sprachlichen Ausdruck begrenzbar ist, wird im Zusammenhang semiotischer Forschungsinteressen ein erweiterter Stilbegriff formuliert, der Stil als eine semiotisch komplexe Einheit definiert (vgl. Fix 2001). Wenngleich die aus der rhetorischen Tradition erwachsene Stilistik lange Zeit allein sprachliche Formen in den Blick genommen hat, so wird nicht von der Hand zu weisen sein, dass Stil neben seinen linguistisch und literaturwissenschaftlich traditionell berücksichtigten Realisierungen auch in außersprachlichen Ausdrucksformen zentrale Bedeutung besitzt. Bei der Etablierung eines erweiterten Stilbegriffs wird zu bedenken sein, dass es auch Malstile, Musikstile, Lebensstile etc. gibt; gerade der Zusammenhang dieser verschiedenen Formate des sozialen Verhaltens wird besonders zu gewichten sein. Stil als Mittel der Stilisierung ist multimodal und multiformal, also eine semiotische Kategorie der Entgrenzung einzelner Formen. Dies hat für die wissenschaftliche Behandlung des Stilwandels erhebliche Konsequenzen, denn Veränderungen in den sprachlichen Ausdrucksformen vollziehen sich häufig in Verbindung mit dem Wechsel anderer kultureller Kodierungsmedien. Die Formen von Handlungsdurchführungen sind weder auf Sprache beschränkt noch wandeln sich Stile allein in einem Medium. Sprachstile, Malstile, Baustile, Filmstile, Kompositionsstile usw. sind Gegenstände einer semiotischen Stilistik, die Stil als eine Universalie des individuellen Ausdrucks bis hin zum so genannten Lebensstil beschreibt. Grundfiguren der sprachlichen Stilistik, wie die ornamentkritische Forderung nach einer Ausrichtung des Schriftstils am Sprechstil mit dem Ziel der Klarheit des Ausdrucks, finden sich auch für andere kulturelle Medien, so in Debatten um Form und Funktion. Vom Stilwandel sind daher nicht nur konkrete Stileigenschaften betroffen, sondern auch die strukturellen Grundeigenschaften des Stils, die man in Anlehnung an Grice (1975) mit Quantität, Qualität, Relevanz und Modalität bezeichnen kann. Die Veränderung von Stilen ist immer mit Modifikationen dieser Eigenschaften verbunden. Dabei sind „Zeichen verschiedener Zeichenvorräte“ (Fix 2001, 118) in der Regel in einen komplexen Stilwandel eingebunden. Derartige Veränderungen sind weniger die Folge systemimmanenter Wandlungen als vielmehr einer Veränderung von kommunikativen Intentionen. In seinem grundlegenden Aufsatz Die funktionale Linguistik führt der Begründer des Prager Linguistenzirkels Mathesius (1929) aus, dass die sich damals formierende neuere Linguistik unter Berücksichtigung funktionaler Phänomene von den Ausdrucksbedürfnissen der Sprachteilhaber ausgehe. Diese manifestieren sich nun keinesfalls allein in den im engeren Sinne sprachlichen Formen. Da man in der funktionalen Stilistik Sprachstil nicht als langue-Phänomen versteht, sondern als „Funktionsweise des Systems in der gesellschaftlichen Kommunikation“ (Fleischer 1992, 118), wird man mit einem erweiterten Stilbegriff die unterschiedlichsten Kommunikationsformen zu berücksichtigen haben. Die
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funktionale Unterscheidung von fünf Stiltypen (Fleischer u. a. 1993, 32 ff.) ist dabei auch für die multimediale Stilanalyse brauchbar: (1) Der Textsortenstil ist nicht nur auf Texte im engeren Sinne zu beziehen, sondern auch auf Texturen in anderen Medien. Ein Porträt etwa weist ein anderes formales Repertoire auf als eine Produktvisualisierung. Der Zusammenhang von Textsorten im engeren Sinne und Sorten von Texturen in nicht sprachlichen Medien ist Gegenstand einer Untersuchung von Stilwandel. (2) Der Bereichsstil oder auch Funktionalstil wird in der Stilistik als Funktionsweise in einzelnen Domänen verstanden. Nicht nur die Stilisierung durch Sprache markiert hier eine Zugehörigkeit bzw. ein kommunikatives Gelingen, sondern auch visuelle und andere Medien, wie dies z. B. Unternehmensstile zeigen. Stilwandel kann dabei sowohl eine Veränderung von Ausdrucksformen innerhalb einzelner Domänen bedeuten als auch eine gegenseitige Bezugnahme von Stilen in verschiedenen Kommunikationsbereichen. (3) Unter einem Gruppenstil versteht man in der funktionalen Stilistik die Ausdrucksbesonderheiten von sozialen Gruppen und auch Altersgruppen. Diese sind keineswegs auf Sprache beschränkt, wie das etwa das Beispiel der Popkultur deutlich macht. Gruppenstile sind einer starken Dynamik unterworfen, die nicht zuletzt durch Moden beeinflusst und auch gesteuert wird. (4) Gerade auch Zeit- oder Epochenstile sind ein wichtiger Gegenstand von semiotischen Untersuchungen des Stilwandels. Die Sprache der Neuen Sachlichkeit etwa, die sich stilistisch an einer nicht artifiziellen Alltagssprache der 1920er-Jahre orientiert, ist Teil eines Zeitstils, der auch in Malerei, Architektur, Film, Musik usw. zu finden ist. Dabei ergibt sich das Problem der Abgrenzung von Stil und Epoche. Der International Style ist beispielsweise weit weniger ein einheitlicher Stil als vielmehr eine Sammelbezeichnung für Architektur der 1920er- und 1930er-Jahre vor allem in Europa und den Vereinigten Staaten. Nicht jede Stilbezeichnung ist also von Interesse für eine semiotische Stilistik, wenngleich ein Zusammenhang zwischen dem Wandel kommunikativer Formen und der Entstehung von Stilrichtungen in außersprachlichen Medien fast immer angenommen werden kann. (5) Der Individualstil schließlich bezieht sich vor allem auf Abweichung und Kontrastierung in einzelnen Medien, kann aber bei Medientransformationen, wie etwa bei Literaturverfilmungen, durchaus in unterschiedlichen kulturellen Kodierungssystemen seinen Ausdruck finden. Bei solchen Transformationen kommt es auch zu medienbedingten Modifikationen, die ebenfalls Phänomene eines sprachübergreifenden Stilwandels sind. Die Wandlung der gesellschaftlichen Kommunikationsbedingungen ist insofern mit der Ausbildung veränderter medialer Bedingungen im Hinblick auf Kommunikationsteilnehmer und Vermittlungsziele verbunden. Dabei werden neue Funktionen etabliert und im Zuge dessen auch neue Stile ausgeprägt, die kommunikativen Sprachwandel bedingen. Von Haynes (1989) wird der Zusammenhang sprachlicher und insbesondere textueller Formen des Ausdrucks mit anderen Medialisierungen von Informationen am Beispiel von Photographie und Landkarte stilistisch untersucht. Stil als Mittel zur Erreichung bestimmter kommunikativer Zwecke ist dabei nicht auf Sprache beschränkt.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
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Ingo H. Warnke, Bern (Schweiz)
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik 83. Exercises or text composition (exercitationes, progymnasmata) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Introduction and definition Current status of research The progymnasmata in ancient education Ancient sources The exercises: system and pedagogy The modern aftermath Contemporary continuations and revivals Selected bibliography
Abstract The progymnasmata are exercises in composition developed in ancient education to smoothly progress from the teaching of grammar to rhetorical education. A number of ancient textbooks show that the progymnasmata form a graduated series of ten to fourteen writing assignments ⫺ starting from small and easy exercises and proceeding to progressively complex ones that are intended to prepare for full-fledged declamation. Their pedagogy is based on the principle that, at first, the parts should be taught and mastered before the whole can be grasped ⫺ small items prior to big ones, easy tasks prior to difficult ones. They can be related to various genres of oratory or parts of speech, and practiced on different levels of difficulty. Thus, they teach textual composition to students, along with topics of invention, critical thinking and effective argumentation, orderly arrangement, and versatility in style, but their positive effects are tempered by their formal rigidity and repression of individuality and personal fantasy. The progymnasmata were widely used in early modern education and are currently being revived for schooling in compositional writing and speech.
1. Introduction and deinition From its very beginnings, ancient rhetorical education has been fully aware of the fact that well-developed speech and writing skills required more than just natural talent and theoretical instruction. They required continuous and persistent practice (see, for example, Isocrates Oratio XIII,14 f.; 17 f.; XV,187 f.; 191 f.; 209 f.; 295 f.). The composition exercises applied in written prose met this demand. Originally, they were called gymnas-
83. Exercises for text composition (exercitationes, progymnasmata)
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mata (‘exercises’), and only from the fourth century C. E. onwards were they designated as ‘preliminary’ to be distinct from the advanced rhetorical ‘exercises’ of oral declamation. The name progymnasmata (‘preliminary exercises’) is now standard. The progymnasmata were a graduated series of writing tasks for beginning students in rhetoric. Each task built successively on the skills learned in the immediately preceding task, so that despite the tasks becoming progressively more difficult, the particular exercise was still within the capability of the student at any one stage. This sequential process assigned each task its special value, and the entire sequence was intended to prepare for entry into the world of civic oratory. There are fourteen sequential exercises: 1. Fable; 2. Narration; 3. Chreia (Anecdote); 4. Maxim (Proverb); 5. Refutation; 6. Confirmation; 7. Common Topic (Commonplace); 8. Praise (Encomium); 9. Blame (Vituperation); 10. Comparison; 11. Ethopoeia (Speechin-Character); 12. Description; 13. Thesis; 14. Proposal of a Law. This ‘classical’ sequence derives from the fourth-century handbook by Aphthonius, but other sources show that the number and order of exercises could vary slightly. The names of most of these exercises are self-explanatory, but some of them are less familiar today. Chreia (or Anecdote) is a discussion of a wise saying or action by a famous person, and the student would elaborate that wisdom into an anecdote by following the same argumentative pattern used for a Maxim (or Proverb) that had not originated with an individual person. Common Topic (or Commonplace) is an exercise in amplification of the vices of a stereotypically evil character such as a murderer, tyrant, or adulterer, and this set kind of amplification could be applied in later speeches. Ethopoeia (or Speech-in-Character) is a fictitious speech put into the mouth of some mythical or historical person in a particular situation. A Thesis is a discussion of a philosophical or ethical question of a general kind, such as Should one marry? or Should one learn rhetoric? The exercise called Proposal of a Law is a detailed argument for or against a proposed law (more often than not a fanciful law) fictitiously presented to the legislature.
2. Current status o research During the Renaissance, as part of the revival and adaptation of classical rhetoric for contemporary needs, there was renewed interest in the progymnasmata, usually based on translations of Aphthonius. Not until the end of the eighteenth century did the exercises cease to be a common daily classroom practice. In the nineteenth and early twentieth century, classical scholars edited the principal texts, but otherwise the progymnasmata all but disappeared from the scholarly agenda. New interest only emerged with the rediscovery of the early modern history of the progymnasmata in a short article by Clark (1952), and the exercises then began to be mentioned in handbooks on ancient education and rhetoric (e.g. Clark 1957, 177⫺212; Bonner 1977, 250⫺276; Kennedy 1983, 54⫺73). In the very last decade of the twentieth century there was a major surge of scholarship as the progymnasmata suddenly became the object of intense international and interdisciplinary research. Translations rapidly appeared in several languages so that the texts are no longer the domain just of classicists. Historians of rhetoric, Renaissance scholars,
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
educationalists, teachers of composition and many others now also collaborate in this field. Several national and international long-term projects have been started in Sweden, Spain, the United Kingdom, the United States, and in other countries. These projects focus not only on the ancient tradition, but also examine the modern history of the exercises. The progymnasmata are once again being adopted and adapted for contemporary use in writing education. A comprehensive history of their early modern textual and educational tradition is now in progress. But the establishment of a comprehensive inventory of literary examples of elaborated progymnasmata has only just begun. Principal issues of current research include the specific pedagogy of the exercises, their relevance to social education, and their impact on literary texts and genres (see D’Angelo 2000; Webb 2001; Desmet 2005 and 2006; Kraus 2005 and 2008).
3. The progymnasmata in ancient education In the Hellenistic Greek and Roman educational system, students first acquired basic skills in reading and writing, and then studied with a grammarian who taught them to read and interpret the works of classical poets and writers. Only the best students then went on to study with a rhetorician. The progymnasmata were located within this progression precisely at the transition from grammar to rhetoric, and thus provided a smooth passage from analytical reading to rhetorical education. This transitional position is also reflected in other ways. Grammatical study used written materials, while rhetorical study aimed at oral presentation, and some of the written exercises of the progymnasmata could be adapted for oral delivery. The level of difficulty for many of these preliminary exercises could also be adjusted for the needs of either grammatical or rhetorical instruction. This intermediary position, however, often led to professional rivalry, and Quintilian complained that grammarians in Rome were usurping progymnasmata that rightly belonged to the rhetoricians (Inst. or. I,9,6; II,1,4⫺13). Instruction in the epideictic or ceremonial genre of rhetoric was conducted entirely on the level of progymnasmata, since no exercises in epideictic were available at the advanced level of declamation. This curricular anomaly granted the progymnasmata an unrivalled position within ancient rhetorical education, particularly for exercises such as Praise, Blame, Commonplace, Comparison, or Description, and as a result the upper range of the sequential progression shows a stronger emphasis on epideixis. As panegyric oratory continued to grow in importance during the Imperial period (and later in the Byzantine and early modern periods), so also did the progymnasmata. In recent decades, classical scholars have come to a new appreciation of the extent and importance of schooling in progymnasmata in antiquity, especially in comparison with the practice of declamation. Papyrus documents and other writing materials that show practical assignments for students have finally been investigated (Morgan 1998, 198⫺226; Cribiore 2001, 221⫺230; Webb 2001; Hock/O’Neil 2002). We now understand better the appropriate place of practical schooling in progymnasmata in ancient literary education. The sizeable literary evidence of ancient textbooks dealing with progymnasmata, which long lay neglected, has attracted increasing attention of scholars.
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4. Ancient sources Progymnasmatic exercises were first developed for classroom purposes in Greek rhetorical schools of the late Hellenistic period (second or first century B. C. E.), although some of the individual exercises, such as Fable or Thesis, may have a much longer tradition. Our knowledge, however, rests largely on later sources, since hardly any Hellenistic rhetorical treatises have survived. Late Roman republican rhetoric shows clear indications of acquaintance with progymnasmatic material, as in the anonymous Rhetorica ad Herennium (e.g. I,12; II,47; III,15; IV,56⫺58) and in Cicero (e.g. De or. I,150⫺158). Suetonius testifies to the popularity of the exercises in Rome by the first century B. C. E. (De grammaticis 25, 4). At some time during that century the exercises were organized systematically to form a graded, sequentially structured series. The oldest surviving progymnasmata handbook is believed to have been composed by Aelius Theon, who probably was a schoolmaster in Alexandria during the first century C.E. Theon’s handbook is a scholarly, comprehensive, and somewhat cumbersome work devised for teachers rather than students and shows noticeable traces of a grammatical approach. Quintilian explicitly incorporates the progymnasmata (named primae exercitationes) into his Institutio oratoria much in the manner of Theon, thus suggesting that both authors were writing at about the same time. Quintilian still assigns to the grammarian a small number of basic exercises, such as Fable, Maxim, Chreia, prosification of verse, and what he calls aetiology, arguably an elementary exercise in Confirmation (Quint. Inst. or. I,9). However, he clearly assigns the great majority of the progymnasmata to the rhetorician (Inst. or. II,4). The famous rhetorician Hermogenes of Tarsus was long thought to be the author of a more succinct Greek handbook of the second or third century C.E. Scholars no longer accept the attribution, but the manual is crucially important because it is the first to organize the exercises in what became the standard sequence of tasks that conform to a distinctly rhetorical point of view. The most influential handbook is that by Aphthonius, a fourth-century rhetorician from Antioch and a student of the famous schoolmaster Libanius. For the most part it follows, and slightly expands on, the sequence in Pseudo-Hermogenes, but most importantly Aphthonius adds practical examples. A slightly later treatise that appears to draw on both Theon and Aphthonius was composed by Nicolaus of Myra, who taught rhetoric in Constantinople in the fifth century. It is remarkable for its philosophical reflection and of the four Greek treatises by Theon, Pseudo-Hermogenes, Aphthonius, and Nicolaus, the latter has been called “the most thoughtful and mature of the four” (Kennedy 1983, 66). All four are now available in a convenient English translation (Kennedy 2003). Aphthonius’ handbook in time came to dominate all other manuals for two reasons. First, it presented the most complete sequence comprising fourteen individual tasks. Second, the theoretical chapter for each task was followed by a practical example that could be adopted in the pedagogical method of imitatio. But the variety of progymnasmatic tasks and curricula in antiquity was certainly much richer and more diversified than the subsequent dominance of the ‘canonical’ Aphthonian system would suggest. Manuals of progymnasmata are also credited to many other Greek rhetoricians such as Harpocration, Minucianus, Paul of Tyre, Epiphanius, Onasimus, Ulpianus, Siricius, Sopater, and Syrianus, all dating from the second to the fifth centuries C. E. Only a few fragments of these works have survived, but their sheer number testifies to the great popularity and productiveness of the genre. As late as the sixth century, the grammarian
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Priscianus translated into Latin the Greek handbook by Pseudo-Hermogenes, now entitled Praeexercitamina, and adapted the exercises to a typically Roman cultural and literary background. In addition to those textbooks, several collections of elaborated examples of such exercises (e.g. by Libanius) have also come down to us.
5.
The exercises: system and pedagogy
5.1. Pedagogical principle and method The pedagogy for the progymnasmata is based on the idea that rhetoric as a whole can be broken down into smaller parts (units) that can be taught and practiced separately before they are then brought together to form a whole. The parts should be taught and mastered before attempting the whole, small items prior to big ones, easy tasks prior to difficult ones. This method of acquiring practical skills is well-known from activities such as sports, military drill, fine arts, or craftsmanship. The very term progymnasma itself is a borrowing from the world of physical education (Greek gymnasma literally refers to a gymnastic exercise). In ceramics, large objects present of expensive technical problems that are best mastered by working on inexpensive small objects first. Thus, it is not surprising that Theon, in the preface to his manual, complains: “Most students […] proceed to debate judicial and deliberative hypotheses without having been practiced in the proper way ⫺ as the proverb says, ‘learning pottery-making by starting with a big jar’” (Kennedy 2003, 3). Beginners in rhetoric are advised first to work out individual parts of a speech, to concentrate separately on single tasks, and once they have acquired a skill, first to practice it on a very small scale before combining it with other skills in a methodical fashion to produce a full-scale speech. The complexity of rhetoric, says Nicolaus, explains why “the use of progymnasmata came about; for in them we do not practice ourselves in the whole of rhetoric but in each part individually” (Kennedy 2003, 131). There is a further benefit in that each task can separately be viewed as a synechdoche for the entire task of rhetoric as a whole, and this is what John of Sardis had in mind in his ninth-century commentary on Aphthonius, when he said that the progymnasmata were “miniature rhetoric” (Kennedy 2003, 176). Thus the entire progymnasmatic curriculum can be regarded as an attempt to downsize rhetoric to make it easy and teachable, both in mastering its individual parts and using each part as a pattern for the whole.
5.2. Modes o treatment The progymnasmata could practically be used on different intellectual levels, and this flexibility made them an ideal tool for linking the teaching of grammar and rhetoric. This is particularly evident with the first four exercises of Fable, Narration, Chreia (Anecdote), and Maxim. They could be used on the easiest level as simple texts for reading and copying, or for simple grammatical modification, as in the popular grammatical exercise called Declension, in which a student modified a sentence by passing its subjects
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through all possible cases and numbers (see Theon in Kennedy 2003, 20 f.). They could be used for reproduction from memory upon hearing or reading, or for paraphrase, for conversion from verse to prose, or for translation into another language. In fact, Theon’s manual, in an appendix only preserved in Armenian translation, includes the additional exercises of Reading, Listening, Paraphrasing, Elaborating, and Contradicting (Kennedy 2003, 66⫺72). On a slightly more advanced level, these same exercises could serve as the initial texts for stylistic variation and modification, ranging from expansion and condensation to adjustment for stylistic levels, and even to refutation and confirmation. This method is what the Romans used to call pluribus modis tractare (treatment in multiple ways). We use this practice today in music as the technique of Theme and Variation. On this level, the exercises helped to practice close work on a given text along stipulated requirements and standards, and thus they made possible intensive schooling in stylistic versatility. On the highest level, these same exercises could also be elaborated independently by students as pieces of original composition, involving a good deal of invention, disposition and argumentation of their own. This latter procedure was standard practice for the most advanced set of exercises, such as Thesis and Proposal of a Law. It is evident that the easiest level of treatment (still very prominent in Theon’s manual) clearly belongs to grammar, whereas the highest level will take the student far into the realm of rhetoric.
5.3. Scope and sequence The major pedagogical feature of the progymnasmatic exercises is their sequential character which, generally speaking, advances from easier to progressively more complex and demanding exercises. Aphthonius’ chapters, for example, steadily increase in length, from a few lines on Fable, Narration, Chreia (Anecdote), and Maxim, to half a dozen pages each for Thesis and Proposal of a Law. Similarly, the initial exercise for Fable is still close to what students would know from grammar school, while the final exercise for Proposal of a Law approaches full rhetorical declamation. This deliberate sequential pattern is even more conspicuous when the individual exercises are categorized according to their respective affinity with different oratorical genres, as Nicolaus explicitly suggests (Kennedy 2003, 133). The first four exercises in the Aphthonian sequence clearly belong to deliberative speech. Numbers 5 to 7 (Refutation, Confirmation, and Common Topic or Commonplace) are assigned to the judicial genre. Numbers 8 to 10 (Praise, Blame, and Comparison) represent the epideictic. The last group of four exercises instructs the student in exactly the skills needed for the composition of a full rhetorical declamation. Aphthonius explains that the theme of a declamation (called a hypothesis) differs from the progymnasmatic exercise of Thesis in that the latter lacks the two features of individual characters and definite circumstances, that is, indications of place and time (Kennedy 2003, 120 f.). Yet, these are exactly the features provided by the advanced exercises of Ethopoeia and Description. Ethopoeia, or Speech-in-Character, provides the sense of individual character. Description creates the sense of definite circumstances. When the exercises of Ethopoeia and Description are combined with the exercise of Thesis, the whole will transform into a formal hypothesis for declamation in the deliberative genre.
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A full rhetorical declamation in the judicial genre requires one more element past that of the deliberative genre ⫺ the discussion of a particular law. The final progymnasmatic exercise, Proposal of a Law, thus provides precisely this element, and, of course, the exercise can be used in both genres. The actual elaboration in Thesis and Proposal of a Law can go in either direction, for or against, and thus allows for arguing for both sides of a question, which is a common practice in full-fledged declamation. Such argument in utramque partem presupposes advanced skills in argumentation and decisionmaking on the part of the student. This presupposition highlights once again the sequential character of the methodology; in the earlier exercises of Confirmation and Refutation, the student does not need advanced skills in argumentation because the direction of the exercise, for or against, is part of the assignment. The sequence is generally arranged in a way that the more advanced exercises build on the simpler ones. Thus, any Refutation or Confirmation will contain Narration; any Blame will make use of Commonplace; and any Thesis or Proposal of a Law will show elements of Refutation or Confirmation. The arrangement of the sequence, however, is not rigid, since exercises do not always build on one another. Some exercises, in fact, go as far as to presuppose one another in a reciprocal fashion. Thus, any Praise or Blame will contain a Comparison, and in turn any Comparison will contain elements of Praise or Blame. The place of any single exercise within the sequence may also vary, because the grade of difficulty of any exercise depends on the mode of treatment. Theon, for example, gives first place to Chreia (in its grammatical treatment), and both Description and Ethopoeia are placed considerably earlier. The scope of the exercises may also vary (see table in Kennedy 2003, xiii). Theon uses only ten different exercises, while Pseudo-Hermogenes and Nicolaus use twelve, and Aphthonius fourteen. On the other hand, Theon and Quintilian each add a number of purely grammatical tasks. From Pseudo-Hermogenes onwards, however, purely grammatical exercises disappear, and the progymnasmata take on a distinctly rhetorical flavor. In antiquity, neither the scope nor the sequence of the exercises appear to have been rigidly fixed, and a number of different arrangements was still allowed.
5.4. Pedagogical assets The progymnasmata are more than just progressive exercises in writing and textual composition; they are also structured exercises in critical thinking and effective argumentation. The compositional aspects echo the traditional rhetorical concerns for invention, arrangement, and style. In writing progymnasmata, students are given very detailed instructions on where to look for suitable arguments. They are invited to arrange the elements of their arguments according to headings such as legality, justice, expediency, and possibility. They learn to examine a narrative according to categories such as clarity, plausibility, possibility, consistency, propriety, and expediency. This approach to argument and narrative provides students with a convenient repertory of topics of invention. Schooling in progymnasmata can also teach method and orderliness, so that a student can see how to arrange a text and organize thoughts. The simple exercises of Chreia and Maxim, for example, provide a standard eight-step pattern for elaboration that teaches formal techniques of argumentation such as direct and indirect proof, arguments by example or analogy, or the argument from authority. Implicit in many exercises, such as
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the Chreia, are patterns for arranging elements of discourse that students derive for organizing their own discourse. Style is perhaps one of the most difficult subjects to teach in composition, but it is an inherent part of the progymnasmata. The precise advice given in theoretical instructions for choosing an appropriate style, and advice about the linguistic means to achieve that style, will develop skills in the whole range of stylistic levels, from sober and plain to extremely powerful and pathetic. A standard element of many exercises is amplification, and mastering the techniques for amplifying an idea will promote ease with language. But the progymnasmata teach more than just compositional practices. They have a distinct affinity with conventional literary forms and genres, because the exercises have a very general character that is detached from specific cases or circumstances. Features such as Description, Praise, Blame, and Ethopoeia developed historically into independent literary forms. The same exercises that led to these literary genres can supply the tools needed for analysis and interpretation of poetry and literary prose. More broadly, the progymnasmata implicitly convey moral and cultural values, particularly in basic exercises such as Fable, Chreia, or Maxim. Advanced exercises such as the Common Topic, Thesis, and Proposal of a Law involve categories such as law and equity, and thus lay the basis for cultural and moral identities. An exercise such as Ethopoeia even invites students to experiment with social and gender identity by trying to speak in the voice of another character.
5.5. Shortcomings and drawbacks Despite the tremendous success of the progymnasmata over a great many centuries, there have been drawbacks and trade-offs. The formal rigidity of the exercises can suppress individuality and personal fantasy. For this reason, rhetoricians of the Enlightenment period were not particularly happy about them. The examples provided by the textbook authors themselves occasionally signal that it is not easy to comply strictly with their rules and still write a good text. Even in antiquity, the selection of exercises did not embrace all of the genres of composition. Thus, the progymnasmata did not include letter-writing, apologies, expressions of gratitude, appeals, exhortations, exordial topics, or other important rhetorical components, all of which were, however, on occasions added in early modern adaptations. The exercise of the Common Topic showed how to vilify an evil character, but strangely enough, there was no counterpart exercise for celebrating a virtuous character. The judicial genre of oratory seems slightly underrepresented. There was no reflection of stasis theory and never any discussion of the differences between written and oral style.
6. The modern atermath In the Greek-speaking East, the progymnasmata and particularly Aphthonius’ manual remained highly popular as a standard textbook until the fall of Constantinople in 1453, but the situation proved more difficult in the Latin West. With the neglect of declamation, the sequence of progymnasmata was nearly forgotten. In the fifteenth century, however,
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Byzantine refugees reintroduced Aphthonius to Italy and the West. Humanist educators such as Erasmus, Sturm, Ascham and Melanchthon recognized the value of the Greek exercises, but Latin translations were imperative for their implementation in schools. Therefore, about a dozen of different translations and adaptations were quickly produced in an immense number of printings, partly by prominent scholars such as Agricola, Camerarius, Mosellanus, or Daniel Heinsius (Kraus 2005, 167⫺177). The most successful of these was Reinhard Lorich’s translation and commentary Aphthonii Progymnasmata, first printed in 1542 and reprinted over 150 times until the eighteenth century. During the entire seventeenth century, and a major part of the eighteenth, Aphthonius’ Progymnasmata were used as a standard school textbook in rhetoric throughout Western Europe and the Americas, in numerous different editions, in Protestant and Catholic schools (Kraus 2005, 177⫺187). Various school curricula attest to its massive use in grammar schools, and the common practice of ‘theme writing’, popular throughout the whole early modern period, is entirely based on progymnasmatic sources, a particularly late offshoot being J. C. Gottsched’s German adaptation in his Vorübungen der Beredsamkeit (1754, 1756, 1764). Only in the last decades of the eighteenth century (rather than of the seventeenth, as Clark (1952, 262 f.) had insisted) did the tremendous success of the progymnasmata draw to an end.
7. Contemporary continuations and revivals Parts of the progymnasmatic curriculum have survived to the present day, but the exercises have been transformed into writing assignments and deprived of any ultimate rhetorical objective. Narration, Description, and Thesis are still found in the context of the art of composition (Aufsatzlehre) in schools. In the United States, however, there has been a very recent revival of the progymnasmata in rhetorical education and training, as evidenced by books such as those by Corbett/Connors (1999), D’Angelo (2000) or Crowley/Hawhee (2004). The practical training of the progymnasmata enjoys popularity particularly among parents and schoolteachers, to such an extent that Christy Desmet recently could declare that “progymnasmata have become pretty big business” (Desmet 2006, 186).
8. Selected bibliography Bonner, Stanley Frederick (1977): Education in Ancient Rome: From the Elder Cato to the Younger Pliny. Berkeley, CA. Cicero (2007): De oratore/Über den Redner. Lateinisch-deutsch. Hrsg. von Theodor Nüßlein. Düsseldorf. Clark, Donald Lemen (1952): The Rise and Fall of Progymnasmata in Sixteenth and Seventeenth Century Grammar Schools. In: Speech Monographs 19, 259⫺263. Clark, Donald Lemen (1957): Rhetoric in Greco-Roman Education. New York. Reprint Westport, CT 1977. Corbett, Edward P. J./Robert Connors (1999): Classical Rhetoric for the Modern Student. 4th ed. New York/Oxford.
83. Exercises for text composition (exercitationes, progymnasmata) Cribiore, Raffaella (2001): Gymnastics of the Mind. Greek Education in Hellenistic and Roman Egypt. Princeton/Oxford (22005). Crowley, Sharon/Debra Hawhee (2004): Ancient Rhetorics for Contemporary Students. 3rd ed. New York. D’Angelo, Frank J. (2000): Composition in the Classical Tradition. Boston, MA. Desmet, Christy (2005): Progymnasmata. In: Michelle Ballif/Michael G. Moran (eds.): Classical Rhetorics and Rhetoricians: Critical Studies and Sources. Westport, CT, 296⫺304. Desmet, Christy (2006): Progymnasmata, Then and Now. In: Patricia Bizzell (ed.): Rhetorical Agendas: Political, Ethical, Spiritual. New York, 185⫺191. Gottsched, Johann Christoph (1754): Vorübungen der Beredsamkeit. Zum Gebrauch der Gymnasien und größeren Schulen. Leipzig. Hagaman, John (1986): Modern Use of the Progymnasmata in Teaching Rhetorical Invention. In: Rhetoric Review 5.1, 22⫺29. ˚ storp. Hansson, Stina (ed.) (2003): Progymnasmata. Retorikens bortglömda text- och tankeform. A Hock, Ronald F./Edward N. O’Neil (1986): The Chreia in Ancient Rhetoric. Vol. 1: The Progymnasmata. Atlanta, GA (Texts and Translations, 27. Graeco-Roman Religion Series, 9). Hock, Ronald F./Edward N. O’Neil (2002): The Chreia and Ancient Rhetoric: Classroom Exercises. Atlanta, GA (Writings from the Greco-Roman World, 2). Kennedy, George Alexander (1983): Greek Rhetoric under Christian Emperors. Princeton, NJ. Kennedy, George Alexander (2003): Progymnasmata. Greek Textbooks of Prose Composition and Rhetoric. Translated with introduction and notes. Atlanta, GA (Writings from the Greco-Roman World, 10). Kraus, Manfred (2005): Progymnasmata, Gymnasmata. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 7, 159⫺191. Kraus, Manfred (2008): Aphthonius and the Progymnasmata in Rhetorical Theory and Practice. In: David Zarefsky/Elizabeth Benacka (eds.): Sizing Up Rhetoric. Long Grove, IL, 52⫺67. Morgan, Teresa (1998): Literate Education in the Hellenistic and Roman Worlds. Cambridge. Quintilian (2006): Institutio oratoria. Ausbildung des Redners. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. 2 Bde. Unveränd. Nachdruck der 3. Aufl. Darmstadt (Texte zur Forschung, 2 u. 3). Rhetorica ad Herennium (1994): Lateinisch⫺deutsch. Hrsg. von Theodor Nüßlein. München/ Zürich. Suetonius (1995): De grammaticis et rhetoribus. Edited with a translation, introduction, and commentary by Robert A. Kaster. Oxford. Webb, Ruth (2001): The Progymnasmata as Practice. In: Yun Lee Too (ed.): Education in Greek and Roman Antiquity. Leiden/Boston/Köln, 289⫺316.
Manfred Kraus, Tübingen (Deutschland)
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
84. Regulative und Normen der Textgestaltung (imitatio vs. aemulatio) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Begriffliche Klärungen und konzeptionelle Paradoxien Regulative und Normen Konjunkturen der imitatio-Debatte und ihr diskursgeschichtlicher Stellenwert Performative Dimension: Sprachhandeln und textuelle Macht Forschungspositionen und -desiderate Literatur (in Auswahl)
Abstract From a technical perspective, the principle of imitatio auctorum with its widespread impact on European literary history (to the end of the 18 th century and beyond) provides a clear system of rules for producing rhetorical and literary texts. It is constituted by a relation between a model (or a canon of exemplary texts and authors), which claims normativity, and an imitator. Beneath this almost pragmatically arranged surface, however, the ongoing debate on an adequate understanding of imitative textual production and possible alternatives to it, a debate by seemingly repeating the same arguments over and over, turns out to mirror the fundamental and complex poetological problems, not least of all the questions referring to the performative power of rhetorical and literary texts.
1. Begriliche Klärungen und konzeptionelle Paradoxien Imitatio, verstanden als imitatio auctorum, d. h. als rhetorisch-stilistische Nachahmung normativer exempla, kann als poetologische Leitkategorie begriffen werden, anhand derer sich, beginnend mit der römischen Antike, eine Geschichte der europäischen Literaturproduktion schreiben ließe, der sich bis ins 18. Jh. vermutlich nur wenige Bereiche gänzlich zu entziehen vermöchten. Nimmt man die in einem ersten umfassenden Kanonisierungs- und zugleich radikalen Selektionsprozeß im 3./2. Jh. v. Chr. von den alexandrinischen Gelehrten für tradierungswürdig befundenen Texte der griechischen Antike hinzu, denen freilich als Originalen und kanonischen Mustern hinfort ein grundlegend anderer Status zukommt, so kann dem Konzept der imitatio auctorum ein Einflußspielraum von knapp 2500 Jahren attestiert werden. Sucht man den Ursprung von imitatio schon in Griechenland, so ist er (natürlich nicht unter diesem Begriff) im Athen des 5. Jhs. v. Chr. zu greifen, im rhetorischen Lehrbetrieb der Sophisten; zur auch theoretisch reflektierten poetologischen Kategorie, bei der an die Stelle des pragmatischen Wertmaßstabs situativen rhetorischen Erfolgs nun die Norm einer klassizistischen Ästhetik tritt, entwickelt sich die imitatio ⫺ zunächst noch parallel zu einer lebendigen rhetorischen Praxis ⫺ erst im Rom des 1. Jhs. v. Chr. Eine Schlüsselfigur in dieser ersten Phase systematischer Begriffs- und Theoriebildung ist Cicero, der sowohl auf dem Feld der Rhetorik als auch auf dem der Philosophie als imitator griechischer Vorbilder, insbesondere des
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Redners Demosthenes und des Philosophen Platon, Pionierarbeit leistet. Ausgerechnet der imitator Cicero aber avanciert im Humanismus seit Petrarca seinerseits zunehmend zum Musterautor, bis hin zu seiner normativen Absolutsetzung im Ciceronianismus vom ausgehenden 15. Jh. an. Gerade am Beispiel Ciceros und seines Stellenwerts in der diskursgeschichtlichen Entwicklung der europäischen imitatio-Poetik lassen sich paradigmatisch jedoch auch die Paradoxien und Aporien entfalten, die dem imitatio-Konzept von seinen römischen Anfängen an inhärent sind. Mittels der begrifflichen Trias interpretari [übersetzen], imitari [nachahmen], aemulari [wetteifern] sucht die römische imitatio-Reflexion das Verhältnis zwischen imitator und (griechischem) Muster abzustufen. Nimmt man dieses Begriffsinstrumentarium beim Wort, so wäre die Stellung zumal von Ciceros philosophischen Schriften zu ihren platonischen Vorbildern über weite Strecken mit Fug und Recht als interpretatio zu bezeichnen. Gleichwohl spricht Cicero selbst nicht nur von imitari, sondern beansprucht aufgrund der translatio in einen neuen kulturellen Kontext (was prinzipiell aber für jede Übersetzung gilt) für seine lateinische Aneignung der griechischen Philosophie eine spezifische novitas, versteht sich somit wenigstens partiell auch als aemulator (vgl. Reiff 1959, 22⫺51); der humanistischen Rezeption rückt er gar selbst in den Rang des nachzuahmenden Originals. Die hier zu beobachtende konzeptionelle Unschärfe des vorgeblich linear-graduellen Begriffspaars imitatio ⫺ aemulatio hat symptomatischen Charakter. Versteht man imitatio und aemulatio von ihrem ursprünglichen lebensweltlichen Kontext der lebendigen politischen Rede her, so bezeichnen beide Begriffe eine zweistellige Relation synchronen Vergleichs, einmal unter (noch) Ungleichen, das andere Mal unter potentiell Gleichen. Das zumal im zweiten Begriff mitschwingende Moment des Agonalen legt das Vorstellungsfeld des (rhetorischen) Wettstreits nahe, wie es exemplarisch etwa in der Konkurrenz zwischen Cicero und Hortensius greifbar wird. Hier wäre der imitandus das Idol, also (je nach Geschmack) einer dieser beiden römischen Starredner, der imitator derjenige, der es (als angehender Rhetor) seinem Vorbild nachzutun sucht; die diesem Nacheifern zugrundeliegende Relation aber wäre im Zeichen von Über- bzw. Unterlegenheit klar hierarchisch strukturiert. Die Vorstellung der aemulatio impliziert hingegen einen Agon, dessen Ausgang offen ist, in dem zwei potentiell Ebenbürtige gegeneinander antreten, von denen situativ bald der eine, bald der andere überlegen sein kann ⫺ beispielhaft der Prozeß gegen Verres im Jahr 70 v. Chr., in dem Hortensius die Verteidigung, Cicero die Anklage des Verres übernahm. Eben diese Offenheit des Ausgangs aber eignet der literarischen imitatio auch dort, wo sie offensiv als aemulatio verfochten wird, schon aufgrund der konstitutiven Ungleichzeitigkeit von bereits kanonisiertem imitandus und nachgeborenem imitator gerade nicht. Diese Ungleichzeitigkeit, die im Laufe des 16., 17., 18. Jhs. mehr und mehr als historischer Abstand bestimmt werden wird, entzieht der Vorstellung des Agonalen vielmehr von vornherein den Boden, läßt die Relation asymmetrisch werden. Gegenläufig zu diesem Befund paradoxer Begriffsbildung ist zugleich eine charakteristische Paradoxie der Theoriebildung im Verhältnis zur jeweiligen poetischen Praxis zu konstatieren. Sieht man von ausschließlich pragmatischem wörtlichen Übersetzen ab, so wird jeder ambitionierte Text, sei er im engeren Sinne literarisch oder ein Sachtext, implizit die Kategorie der aemulatio für sich in Anspruch nehmen. Wenn demnach in poetologischem Kontext von imitatio gehandelt wird, ist in Wirklichkeit dem Anspruch nach immer schon von aemulatio die Rede. Wovon aber ist die Rede, wenn über aemulatio geschrieben wird? Vom Weg, ein Original zu werden? Symptomatisch für praktisch den
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gesamten europäischen imitatio-Diskurs ist die diskursive Unzugänglichkeit des Originalen, heiße es nun ingenium oder Genie, worauf imitatio doch per definitionem ausgerichtet ist: ein leeres bzw. opakes Zentrum von quasi mythischer Qualität, das metaphorischperiphrastisch von einer Rede über imitatio umkreist wird, die doch eigentlich aemulatio meint.
2. Regulative und Normen Wenn man im Horizont universeller Intertextualität davon ausgeht, daß in einem Regreß ad infinitum jedem Text bereits eine Vielzahl von Prätexten vorausliegt, dann sind Relationen im Sinne der imitatio auctorum darin mitinbegriffen, doch fehlt die differentia specifica des Normativen. Unter die Überschrift Regulative und Normen der Textgestaltung ist das (begrifflich von vornherein paradox verfaßte) Feld von imitatio und aemulatio im vorliegenden Handbuch gestellt, und reflektiert ist darin, daß imitatio auctorum ihrem theoretischen Selbstverständnis nach ausschließlich oder doch dominant produktionsästhetisch gedacht ist. In dogmatischer Perspektive impliziert imitatio auctorum eine vorangegangene Auslese von Musterautoren, denen darum qualitative Autorität eignet, einen Prozeß der Kanonbildung somit, der aus historischen Kontexten Erwachsenes in den tendenziell zeitlosen Status von ,Klassischem‘ erhebt. Die daraus für die nachfolgende Textproduktion im Zeichen von imitatio bzw. aemulatio abgeleitete Norm kann im Einzelfall sehr verschieden aussehen, strukturell lassen sich jedoch zwei Grundmöglichkeiten unterscheiden: Entweder konkretisiert sich die Norm in einem, zum Optimum erklärten Vorbild (am prominentesten Cicero, aber im Zuge antiklassizistischer Gegenkanonisierung etwa auch Seneca oder Tacitus, zudem in homogenisierendem Zugriff etwas wie ,die Griechen‘, die augusteische Klassik). Oder der Norm liegt als Substrat eine abstrakte Wertvorstellung zugrunde, etwa die im berühmten Bienengleichnis erstmals von Lukrez formulierte und wirkungsmächtig von Seneca und Petrarca reformulierte Vorstellung einer das jeweils Beste zusammentragenden Blütenlese, woraus im Prozeß einer Anverwandlung der Honig des Eigenen entstehe. Daß die abstrakten Leitwerte einer demnach nicht puristisch, sondern eklektisch verfahrenden imitatio ⫺ das Beste, etwas Neues, ein eigener Stil usw. ⫺ sich aus dem Bereich des diskursiv unzugänglichen Originalen speisen, kann wiederum als symptomatisch gelten. Zugleich bildet sich in dieser Grundalternative imitativer Normbestimmung einmal mehr das begriffliche Paradox von imitatio versus aemulatio ab. In diachroner Perspektive wird das Normativ-Verpflichtende einer orthodoxen imitatio-Doktrin von dem Moment an fraglich, da sich die Vorstellung historischen Wandels und daraus folgender epochaler Unvergleichlichkeit gegen typologische oder zyklische Auffassungen von Geschichte durchsetzt. In dieser Entwicklung sind durchaus Ungleichzeitigkeiten des Gleichzeitigen zu verzeichnen. Jedenfalls ist, ungeachtet dessen, daß die Begriffe imitatio und aemulatio bereits im Laufe des 17. Jhs. mehr und mehr außer Kurs geraten, strukturell das imitatio-Paradigma mit der Genieästhetik im letzten Viertel des 18. Jhs. keineswegs verabschiedet; nur gibt sich die auf die Fahnen der Stürmer und Dränger geschriebene Norm im Zeichen eines Pindar, Shakespeare oder Ossian nicht mehr als Regulativ, sondern als (freilich ihrerseits verpflichtende, um so apodiktischer sich artikulierende) Regellosigkeit. Das Paradox einer nun umgekehrt zur verdeckten
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Norm erhobenen Originalität, ohne daß daraus produktionsästhetisch konkrete Regulative ableitbar wären, gelangt symptomatisch zum Ausdruck in der wachsenden Konjunktur von Fälschungen. Die vorgeblich ,originellen‘, den homerischen zur Seite zu stellenden Gesänge Ossians sind nur ein besonders prominentes Beispiel. Daß sich parallel dazu eine rezeptionsästhetische Wende vollzieht, die das Problem echter oder vorgeblicher Originalität an den (selbst-)kritischen Leser und dessen problematische Originalitätserwartungen delegiert, können die sog. Ipsefacten in Arnims und Brentanos Sammlung ,alter deutscher Lieder‘ Des Knaben Wunderhorn ebenso belegen wie schon die Goethesche Werther-Figur, deren individueller Originalitätsanspruch durch die unhintergehbare intertextuelle Determination ihrer Selbstdarstellung im Zeichen Homers, Klopstocks, Ossians konterkariert wird.
3. Konjunkturen der imitatio-Debatte und ihr diskursgeschichtlicher Stellenwert Eine historisch orientierte und zugleich europäisch ausgerichtete Darstellung von der Antike bis zum 20. Jh. bieten im Historischen Wörterbuch der Rhetorik die Artikel zu aemulatio (Bauer 1992) und zu imitatio auctorum (Kaminski 1998). Demgegenüber sollen hier in selektiv-exemplarischem Zugriff zwei Phasen besonderer Konjunktur von imitatio bzw. aemulatio in den Blick genommen und auf ihre je spezifische und zugleich repräsentative diskursgeschichtliche Symptomatik befragt werden: zum einen das 1. vorchristliche Jh. im Rom der ausgehenden Republik und beginnenden Kaiserzeit, zum anderen der Humanismus von Petrarca bis ins 16. Jh. Kennzeichnend für die ausgewählten Untersuchungszeiträume ist, daß imitatio bzw. aemulatio für das jeweilige epochale Selbstverständnis konstitutiv sind, und zwar nicht bloß für den in engerem Verständnis literarischen Bereich, sondern im Sinne eines umfassenden kulturellen Paradigmas. Die griechische (das heißt in erster Linie: attische) Kultur in ihrer literarischen, rhetorischen, theatralischen, philosophischen, architektonischen, bildkünstlerischen, nicht aber in ihrer spezifisch politischen Ausprägung übernimmt mit der Ausdehnung der römischen Herrschaft auf den gesamten Mittelmeerraum vom 1. Jh. v. Chr. an in Rom mehr und mehr die Rolle der Leitkultur. Dieses charakteristische Ungleichgewicht von politischer Überlegenheit und (dem Gefühl) kultureller Unterlegenheit zeichnet verantwortlich für eine mentale Disposition, wie sie für Ciceros zwiespältiges Verhältnis zu seinen griechischen Vorbildern auf dem Feld der Rhetorik und Philosophie bereits angedeutet worden war (vgl. 1. Begriffliche Klärungen und konzeptionelle Paradoxien). Der nicht mehr bloß imitative, sondern aemulative Anspruch, mittels translatio in den lateinischsprachigen Bereich Neuland zu erschließen, bedarf zu seiner Entfaltung ja eben der Selbstwahrnehmung als kulturell rückständig. Strategien des Umgangs mit dieser ambivalenten kulturellen Identitätsbegründung sind im Rom des 1. vorchristlichen Jhs. beispielhaft in der Auseinandersetzung um den sog. Attizismus zu beobachten. Während etwa zeitgleich im griechischsprachigen Bereich das Ideal des Attice dicere bzw. scribere im eigentlichen Sinn sprachbezogen (hinsichtlich Wortwahl, Grammatik, Syntax) normative Kraft erlangt, mit unangefochtener Wirkung bis ins 4. Jh. n. Chr. (vgl. Dihle 1992, 1169⫺1174), findet die Kategorie des Attischen in Rom von vornherein ausschließlich metaphorisch Verwendung. Selbstverständlich spricht ein Redner auf dem
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Forum Romanum nicht attisches Griechisch, sondern lateinisch. Mit dieser begrifflichen Verschiebung ins Uneigentliche geht aber zugleich ein semantisches Verfügbarwerden des Attischen einher. Gilt den sich selbst als Attici bezeichnenden Rednern und Redetheoretikern um M. Iunius Brutus und C. Licinius Calvus als attisch ein besonders schlichter, am attischen Redner Lysias orientierter Stil, so avanciert mit dem Eintritt Ciceros in die Debatte das Prädikat des Attischen, losgelöst von einem konkreten (attischen) Stilvorbild, zum programmatischen Kampfbegriff (mit dem polemisch zur Disqualifizierung gebrauchten Pendant des Asianischen). Bestes Beispiel ist wieder Cicero selbst. Von seinen sich als Attizisten verstehenden Kontrahenten des Asianismus bezichtigt, bricht er gegen jene Attici eine Lanze für das Attice dicere, allerdings metaphorisch verschoben von der (ihrerseits im Lateinischen nurmehr metaphorischen) Ebene des Stilistischen zu einer ethischen Begriffsbestimmung: „Ut non omnes, qui Attice, idem bene, sed ut omnes, qui bene, idem etiam Attice dicant“ [daß nicht alle, die attisch sprechen, auch gute Redner sind, sondern umgekehrt, daß alle, die gute Redner sind, auch attisch sprechen]; (Brut. 291). Mit dieser Umkehrung von Definiens und Definiendum hat sich unter gleichbleibend klassizistischem Begriff eine Emanzipation vom imitatio-Diskurs vollzogen. Die Verantwortung für ein situationsangemessen dem ethischen bonus-Ideal genügendes bene dicere kann dem Redner kein (attisches) Vorbild abnehmen. Vollends zur „symbolische[n] Qualitätsmarke“ (Gelzer 1979, 26), nun freilich erneut an den imitatio-Diskurs rückgebunden, wird der Attizismus in der Definition Quintilians, „Attice dicere“ bedeute „optime dicere“ (Inst. or. 12,10,26). Trotz der Wiedereinspeisung in den imitatio-Diskurs aber hat sich eine signifikante Verschiebung ereignet: was ursprünglich ein im strengen Sinn imitativer Begriff war, wird nun zur Umschreibung eines Ideals, das selbst tautologisch die Vorbildlichkeit des Originals benennen könnte. Diese Tendenz zur metaphorischen Verschiebung der im eigentlichen Sinn des Wortes keinerlei ,Fortschritt‘ gestattenden Rolle des imitator hin zur definitorisch nicht einholbaren Position des Originals ist wenig später offensiver noch auf dem Feld der Poesie zu beobachten. Nicht umsonst wird die im Umkreis von Kaiser Augustus und C. Maecenas entstehende Dichtung eines Vergil, Horaz, Properz u. a. unter dem Begriff der augusteischen Klassik gehandelt (und nicht etwa Klassizismus). Auch die augusteischen Dichter, insbesondere Horaz, verstehen wie zuvor bereits Cicero ihr Schreiben als translatio von Griechenland nach Italien; auch bei Horaz erfährt die imitatio-Vorstellung eine metaphorische Verschiebung von der Ebene des Inhaltlichen und Stilistischen („res et […] verba“) hin zu einer ethischen Dimension, mithin eine Verinnerlichung, unter Beibehaltung allerdings der geradezu als individuelle Signatur fungierenden lyrischen Versmaße („numeros animosque secutus“; Epist. 1,19,24 f., vgl. insgesamt 12⫺34). Das Innere aber, der animus, ist der Ort, der begrifflich in signifikante Nähe des für originalschöpferische Qualitäten konstitutiven ingenium rückt. Insofern erscheint es auch folgerichtig, wenn sich Properz poetisch als „Roman[us] […] Callimach[us]“ (Eleg. 4,1,64), Horaz (wenngleich in ironischer Brechung) als ein neuer „Alcaeus“ (Epist. 2,2,99) präsentiert. Doch gehen die augusteischen imitatores des (um die alexandrinischen Dichter erweiterten) klassischen griechischen Kanons in ihrem poetologischen Bestreben, den eigenen Status als Klassizisten ihrerseits in denjenigen von Klassikern zu überführen, noch einen Schritt weiter. Wie Zetzel (1983/84) hat zeigen können, treten die augusteischen Dichter von vornherein unter dem Anspruch an, in der ,klassizistischen‘ imitatio der griechischen Klassiker selbst den Rang von ,Klassikern‘ zu erlangen, was am augenfälligsten in der schon von den Autoren selbst vorgenommenen ,klassischen‘ Buchkomposition zum Ausdruck kommt.
84. Regulative und Normen der Textgestaltung (imitatio vs. aemulatio) An ,Nachahmung‘ erinnert in diesem Gebaren eigentlich nur noch der gleichwohl allenthalben in Gebrauch bleibende Begriff, der nun allerdings eine um so entschiedenere Diversifizierung in eine ,gute‘ und eine ,falsch verstandene‘ imitatio erfährt. Der zweite hier paradigmatisch herausgegriffene Zeitraum, der Renaissancehumanismus von Petrarca bis ins 16. Jh., ist in diachroner und europäischer Perspektive unter dem Aspekt der imitatio vor allem durch zwei Bewegungen geprägt: den Ciceronianismus und den Petrarkismus. Obwohl die Auseinandersetzungen um die imitatio Ciceros selbstredend auf dem Feld des Lateinischen ausgetragen werden, während der Petrarkismus sich programmatisch im volgare entfaltet, konvergieren beide in der Schlüsselfigur Pietro Bembo, der sowohl überzeugter Ciceronianer ist als auch Begründer des Petrarkismus im engeren Sinn (vgl. dazu Borgstedt 2003, 59). In diskursgeschichtlicher Perspektive ist die Beziehung zwischen Ciceronianismus und Petrarkismus weniger als Nebeneinander analoger Entwicklungen zu beschreiben denn als Wechselwirkung von emanzipatorischen Tendenzen und erneuter normativer Regulierung. Im Verhältnis zur ersten Phase epochal entfalteter Wirksamkeit des imitatio-Paradigmas in der römischen Antike stellt der Renaissancehumanismus von vornherein ein Phänomen potenzierter Imitativität dar, dem in dieser Hinsicht ein (auch theoretisch expliziertes) selbstreflexives Moment eignet. Denn die für das humanistische Selbstverständnis konstitutive ,Wiedergeburt‘ der Antike in der eigenen Gegenwart bedeutet nicht nur objektbezogen die imitatio einzelner, zu Vorbildern erklärter antiker Modellautoren bzw. eines antiken Kanons. Vielmehr impliziert die Renaissanceprogrammatik zugleich auch verfahrensbezogen die imitatio des im Rom des 1. vorchristlichen Jhs. formierten imitatio-Diskurses. Exemplarisch reflektiert dies Petrarcas produktive Rezeption des senecanischen Bienengleichnisses, die durch Akzentuierung der Verwandlung des Gesammelten „in aliud et in melius“ (Fam. 1,8,23) zwar das Tun des imitator qualitativ in die Nähe von originaler Schöpfung rückt, diese Aussage aber performativ im imitativen Rekurs auf das bereits von Lukrez und Seneca verwendete Bild unterläuft. Zwar sollen Petrarcas im Dienst literarischer imitatio tätige Bienen aus dem Vorgefundenen Neues und Besseres produzieren, sie selbst bleiben jedoch die altbekannten Bienen und verwandeln sich nicht etwa in das Gegenbild der originell aus sich selbst heraus schaffenden Seidenraupe (vgl. Fam. 1,8,5). Operationen metaphorischer Verschiebung wie die im Attizismusstreit oder von den augusteischen Klassikern praktizierten fallen somit im Renaissancegestus der Wiederholung schon von vornherein dem Verdikt imitativer Wiederholung anheim. Hinzu kommt für die Wiederentdeckung der klassischen Latinität als Idiom einer wiederzuerweckenden Kultur ein doppeltes Moment von Restriktion, das den humanistischen imitatio-Konzepten insgesamt den Stempel ,unfreier‘ Textproduktion aufprägt. Denn die programmatische Rückkehr zum klassischen Latein (anstelle von translatio in die eigene Sprache) bedeutet Schreiben nicht nur in der Fremdsprache, sondern darüber hinaus in einer nicht mehr als lebendige, veränderbare, ,zukunftsoffene‘ langue zu Gebote stehenden Sprache, beschränkt somit die Textproduktion auf die schriftlich fixierte, sakrosankte parole anderer, von der eigenen Gegenwart durch historischen Abstand und Kanonisierung getrennter Autoren. Unter diesen Extrembedingungen aber kommt die lateinischsprachige imitatioReflexion poetologischen Grundproblemen auf die Spur wie der Verhältnisbestimmung von Eigenem und Fremdem, Tradition und Innovation, der Frage nach der Begründbarkeit absoluter Normen oder der Möglichkeit sprachlicher Individualität, so daß die aporetischen Vorgaben nachgerade als experimentell gesucht verstanden werden können. Gegenüber dieser ,ausweglosen‘ Versuchsanordnung nimmt sich das Konzept des Petrar-
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kismus aus wie ein Weg ins Offene. Petrarcas Canzoniere, Referenztextcorpus aller petrarkistischen Textproduktion, bedient sich nicht von ungefähr des volgare, sondern tritt mit der Entscheidung für die nichtantike, um 1230 von Giacomo da Lentino ,erfundene‘ Gattung des Sonetts in die Nachfolge der vom Sizilien Friedrichs II. ausgehenden italienischen Herrschaftsdichtung, die sich im Zeichen mathematisch-naturwissenschaftlicher Rationalität sowohl klerikaler als auch gelehrt-lateinischer Autorität selbstbewußt entzieht (dazu ausführlich Borgstedt 2001, 117⫺167). Gegenläufig zu dieser Emanzipation vom herrschenden lateinischen Diskurs, zu dessen wichtigsten Vertretern Petrarca selbst gehört, markiert die von der Mitte des 16. Jhs. an sich vollziehende Epigrammatisierung des Sonetts (vgl. Borgstedt 2001, 200⫺253), die insbesondere für die französische und englische Petrarca-Rezeption die Weichen stellt, eine wenigstens partielle Unterwerfung der eigengesetzlichen volksprachlichen Gattung unter den antik-humanistischen Normativitätsanspruch. Eine noch rigidere Restringierung findet zeitgleich systemimmanent mit dem Übergang von Petrarca zum programmatischen Petrarkismus unter der Ägide von Pietro Bembo statt. Indem Petrarca durch den Ciceronianer Bembo in den Rang Ciceros erhoben und zum „modello di lingua“ (Hempfer 1987, 257) erklärt wird, erfährt das Italienische mit der daraus resultierenden „Toskanisierung der Dichtersprache“ (Hempfer 1987, 257) eine dem Ciceronianismus analoge Ausrichtung an einer absoluten, in einem begrenzten Textcorpus fixierten Norm. Gerade die Systematisierung, die sich nicht nur auf die sprachlich-morphologische Ebene erstreckt, sondern auch auf Rhetorik, Sprechgestus, metaphorisches Arsenal, bildet freilich andererseits die Voraussetzung dafür, daß das petrarkistische System nicht ans Italienische gebunden bleibt, sondern als die einzelnen Nationalsprachen übergreifender Code in strukturelle Konkurrenz zum Latein (als der europäischen lingua franca) tritt. Mit der seit dem 16. Jh. fortschreitenden Europäisierung der petrarkistischen Bewegung gewinnt auch die Figur der translatio wieder an Boden, die im gleichen Zug erfolgende Auslotung poetischer Freiräume ist am deutlichsten an den (nicht nur parodistischen) Spielarten antipetrarkistischen Dichtens im englischen und deutschen Sprachraum zu beobachten. Daß sich von hier aus, etwa im Falle Shakespeares oder Paul Flemings, freilich nicht unproblematische Brücken zu erlebnislyrischen Paradigmen schlagen lassen, kann wiederum als symptomatisch gelten.
4. Perormative Dimension: Sprachhandeln und textuelle Macht Parallel zur bis ins 18. Jh. prinzipiell unangefochtenen Geltung der imitatio auctorum läßt sich auch die Gültigkeit eines grundlegend anderen Textbegriffs feststellen. Durch ratio und oratio grenzt Cicero (De officiis, 1,50) den Menschen gegen die vernunft- und redelosen Tiere ab; „mit worten herrschen wir!“ heißt es rund sieben Jahrhunderte später im ersten „Reyen“ von Andreas Gryphius’ Trauerspiel Leo Armenius. Diese performative Macht der Rede gilt nicht nur im engeren Sinn für den rhetorisch handelnden Menschen im Bereich öffentlich-politischer Mündlichkeit, sondern auch für ,literarische‘ Texte, deren Reichweite unter dem in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. aufkommenden Begriff der Belletristik nicht einmal annähernd erfaßt wird. Wenn der über Normen und Autoritäten geregelte imitatio-Diskurs als hochgradig autoritär beschrieben werden kann, so eröffnen sich unter performativem Aspekt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, mit diesem Macht-
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potential im Sinne einer pragmatisch auf Sprachhandeln ausgerichteten Textkonzeption umzugehen: durch diese im mainstream eines starken Diskurses gewonnene textuelle Macht den je eigenen Rede- und Schreibzielen Nachdruck zu verleihen; oder aber in subversiver Unterminierung der den Diskurs zentrierenden Autorität(en) und gleichwohl unter ihrem Schutz das freiwerdende Machtpotential umzulenken und unter dem Deckmantel traditioneller imitatio-Doktrin ganz anders geartete Ziele zu verfolgen. Für ersteres stellt eines der wirkungsmächtigsten Beispiele die imitatio morum dar; hervorgegangen aus dem rhetorischen Kunstmittel der Ethopoiia, verschränkt sie sich vom 11./12. Jh. bis zu Petrarca mit der imitatio auctorum, so daß im Idealfall etwa von Dantes Divina commedia höchste lebenspraktische Norm, die imitatio Christi, und höchstes stilistisches Ziel, die imitatio des auctor Vergil, konvergieren und doch einer klaren typologischen Stufung, angezeigt durch den Führerwechsel (von Vergil zu Beatrice), unterliegen (vgl. De Rentiis 1996; 1998, 294⫺300). Die subversive Variante textueller Machtausübung via imitatio-Diskurs sei ebenfalls beispielhaft an zwei Fällen veranschaulicht, der erste nochmals aus dem Rom des 1. vorchristlichen Jhs. Daß der politischen Rede wie dem politischen Schrifttum in der aufgeladenen Atmosphäre eines Bürgerkriegs um so eher der performative Status sprachlichen Handelns zukommt, liegt auf der Hand. Die machtpolitische Auseinandersetzung zwischen Caesar und Cicero wird von letzterem jedoch ganz gezielt aufs literarische Feld verlagert: eine „Profilierung der eigenen politischen Person durch die Bildung“, die „von seinen Zeitgenossen wahrgenommen und als Herausforderung zum Wettstreit verstanden wurde“ (Arweiler 2003, 302; vgl. insgesamt das Kapitel „Aemulatio im literarischen und politischen Feld: Das Beispiel Caesar“, 301⫺ 306). Wie Caesar bereits auf Ciceros Schrift De oratore mit De analogia, einem Werk über den rechten Sprachgebrauch, geantwortet und so seinen „militärische[n] Ruhm […] durch den der Gelehrsamkeit wirkungsvoll flankiert“ hatte (Arweiler 2003, 303), so reagiert er auch auf dem Feld des genus demonstrativum auf Ciceros Lobschrift Cato umgehend mit einem Anticato. Formal lassen sich Caesars (nicht überlieferte) Gegenschriften als ein Spezialfall literarischer imitatio bzw. aemulatio beschreiben: als kontrafazierende Repliken. Berücksichtigt man aber den strategisch-realpolitischen Stellenwert dieser schriftstellerischen Tätigkeit, dann verhandeln beide Kontrahenten „am vorgeblichen Thema Cato […] tatsächlich die eigenen Beziehungen und die aktuellen Fragen der Machtverteilung“, wird „das Medium der Schriftlichkeit als Weg politischer Kommunikation […] von beiden effizient eingesetzt, um Anhänger zu mobilisieren, ohne dabei die Rücksicht auf die dignitas des Gegners außer acht zu lassen“ (Arweiler 2003, 304). Daß auch das zweite Fallbeispiel durch den Kontext eines Krieges bestimmt ist, des Dreißigjährigen nämlich, ist womöglich kein Zufall, wiewohl der Kriegszustand allein gewiß weder notwendige noch hinreichende Bedingung für das Ausgreifen des imitatio-Diskurses in die Performanz darstellt. Die Rede ist von der Gründungsurkunde neuzeitlicher deutschsprachiger Kunstdichtung, Martin Opitz’ 1624 erschienenem Buch von der Deutschen Poeterey. Vordergründig handelt es sich im Verhältnis zu den europäischen Renaissancepoetiken eines Scaliger, Ronsard, Heinsius um nochmalige Potenzierung der imitativen Faktur: imitatio der humanistischen imitatio der antik-römischen imitatio. So jedenfalls wurde die Opitzsche Poetik, ungeachtet ihrer enormen Wirkung, in der Forschung vielfach gesehen, einerseits selbst Produkt weitgehend unselbständiger imitatio, andererseits Anweisung zu Textproduktion mittels einer handwerklich-technisch verstandenen imitatio vor allem der Franzosen und Niederländer (vgl. z. B. Nilges 1988, 177⫺195). Liest man das Buch von der Deutschen Poeterey hingegen vor dem konfessionspolitischen
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Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges, so wird unter der traditionellen Oberfläche der humanistischen imitatio-Poetik ein „kulturpolitisches Manifest“ erkennbar (Jaumann 2002, 194). Mehr noch: eine poetologische Strategie intertextueller ,Kriegsführung‘, die den lebensweltlich gegenwärtigen, seit der Schlacht am Weißen Berg im November 1620 für die protestantisch-calvinistische Seite auf lange Sicht verlorenen Krieg textuell unter umgekehrten Vorzeichen re-inszeniert (vgl. Kaminski 2004, 16⫺52; 69⫺80). Im Licht der konfessionspolitisch motivierten militärischen Auseinandersetzungen im kriegsgeteilten Europa wird so die imitatio von Gedichten Ronsards, der in den Hugenottenkriegen Partei für die katholische Seite des französischen Königs ergriffen hatte, als poetische ,Kriegshandlung‘ kenntlich, als ,Besetzung‘ feindlichen poetischen Terrains durch deutsche Wörter. Umgekehrt eignet der Übernahme der alternierend-akzentuierenden Metrik von den Niederländern eine spezifische militärgeschichtliche Codierung: als rhythmische Archivierung des Sieges der calvinistischen Niederlande über die spanischen Habsburger, der maßgeblich auf die militärtechnischen Errungenschaften der sog. oranischen Heeresreform mit ihrer Disziplinierung der Soldaten durch gleichmäßiges Marschieren gegründet war. Unter der vermeintlichen Homogeneität einer humanistischen res publica litteraria bricht sich so in diesem ersten europäischen ,Weltkrieg‘ in radikaler Aktualisierung des imitatio-Modells ein neues Paradigma Bahn, das den europäischen Kanon in konfessionelle und national(literarisch)e Lager spaltet. Daß sich dieser fundamentale Innovationsschub des poetologischen Normensystems gerade im deutschen Sprachraum vollzieht, ist kein Zufall. Denn ihm war hundert Jahre zuvor mit der Reformation und Luthers Bibelübersetzung eine Entwicklung vorangegangen, die dem volgare in Deutschland eine nachhaltige konfessionspolitische Codierung mitgab (als protestantische Option gegen das römisch-katholische Latein).
5. Forschungspositionen und -desiderate Als charakteristische Signatur der Forschung zur imitatio auctorum kann gelten, daß sie sich ⫺ von wenigen Ausnahmen abgesehen ⫺ fast ausschließlich in Einzelstudien zu konkreten imitativen Text- bzw. Autorenkonstellationen abspielt. Eine umfassende, diachron und europäisch ausgerichtete monographische Darstellung ist Desiderat, muß aber möglicherweise auch grundsätzlich in den Irrealis verwiesen werden. In der dem Format eines Lexikonartikels geschuldeten Skizzenhaftigkeit unternehmen einen Vorstoß in diese Richtung die Artikel zu aemulatio, imitatio auctorum und imitatio morum im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (Bauer 1992, Kaminski 1998, De Rentiis 1998). Die Monographie von Petersen (2000) unter dem Titel Mimesis ⫺ Imitatio ⫺ Nachahmung löst solche Erwartungen jedenfalls nicht ein, nicht nur weil sie sich hauptsächlich der Rezeption des aristotelischen μι´μησι/mimesis-Konzepts widmet (insofern ist die Titelformulierung irreführend), sondern auch weil sie, wo sie von imitatio auctorum handelt, extrem reduktionistisch verfährt (vgl. etwa Petersen 2000, 53⫺80 zur römischen Antike, wo der Stellenwert von imitatio auf rhetorische „Nachahmungsübungen“ verkürzt wird, 67; oder 137⫺160 zum „Fall Opitz“). Wenigstens erwähnt sei zudem, daß die vermeintlich fatale Rolle, die Opitz durch seine Formulierung, „die gantze Poeterey“ bestehe „im nachäffen der Natur“, für das nachfolgende μι´μησι/mimesis-Verständnis gespielt habe (Petersen 2000, 11 ff.; 137 ff.), lediglich darin gründet, daß Petersen nicht zwischen natura naturata und natura naturans unterscheidet.
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Nach wie vor grundlegend für alle Beschäftigung mit der imitatio auctorum ist die unabgeschlossen gebliebene monographische Darstellung von Gmelin aus dem Jahre 1932, deren Verdienst es ist, das Prinzip der Imitatio als poetologische Kategorie von epochaler Relevanz entdeckt und literaturgeschichtlich von Dante bis zur Imitatioliteratur nach Erasmus entfaltet zu haben (zur forschungsgeschichtlichen Würdigung von Gmelins Studie vgl. De Rentiis 1996, 3⫺12). Mit Ausnahme von Erasmus, Jacobus Omphalius und Johannes Sturm konzentriert Gmelin sich ganz auf Autoren der Romania, und auch die nachfolgende imitatio-Forschung ist da, wo sie über konkrete Einzeluntersuchungen hinausgeht, eine Domäne der Romanistik geblieben. Das liegt nicht zuletzt daran, daß explizite Reflexion und Diskussion über den produktionsästhetischen oder allgemeiner poetologischen Stellenwert von imitatio besonders in der italienischen und französischen Renaissance anzutreffen sind. Forschungsgeschichtlich lassen sich zwei, vielleicht bereits drei Phasen wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Phänomen der imitatio auctorum unterscheiden. Am Anfang steht mit der Pionierstudie von Gmelin (1932) und unmittelbar daran anschließenden Arbeiten, etwa Ulivi (1959) oder von Stackelberg (1956), die Auslotung eines neuen Forschungsfeldes, die innerhalb eines literaturgeschichtlichen Rahmens überwiegend positivistisch verfährt. Eine stärker begriffsgeschichtlich orientierte Bestandsaufnahme liefert ungefähr zeitgleich für die römische Antike Reiff (1959). Hatte bereits von Stackelberg (1956) die Aufmerksamkeit auf das für den imitatio-Diskurs charakteristische Ausweichen aufs Feld bildlicher Rede gelenkt, so erfährt diese Fragestellung eine Weiterführung in den Untersuchungen von Cave (1979), Pigman (1980) und Greene (1982), nun allerdings unter entscheidend veränderter Akzentsetzung. Was jetzt unter dem Einfluß methodischer Konzepte, die nicht mehr vom autonomen Autorsubjekt ausgehen (Rezeptionsästhetik, Dialogizität, Intertextualität, Dekonstruktion), interessiert, ist die Symptomatik der Bildwahl und ihrer spezifischen Brüche, die Frage nach Intentionalität versus Unfreiwilligkeit von imitatio, die zwiespältige mentale Disposition imitativer Autorschaft, Macht und Notwendigkeit von Epochenkonstrukten, Reflexion auf die Geschichtlichkeit des eigenen Schreiborts u. ä. Nicht einer der geringsten Erträge dieser zweiten Phase methodisch reflektierter imitatio-Forschung ist eine zunehmende Sensibilität dafür, daß der in seinen konstitutiven Oberflächenstrukturen über Jahrhunderte hinweg relativ simpel und konstant bleibende imitatio-Diskurs zur Projektionsfläche grundsätzlicher poetologischer Reflexionen, Fragen und Aporien wird, aus denen sich individuell wie epochal mentalitätsgeschichtliche Profile rekonstruieren lassen. Fortzuschreiben wäre diese seit den ausgehenden 70er Jahren des 20. Jhs. sich vollziehende methodische Wende in der imitatio-Forschung durch konsequentere diskursgeschichtliche Situierung von vermeintlich ,bloß‘ auf poetisch-poetologischem Feld zu konstatierenden imitativen Textkonstellationen. Die unter 4. vorgestellten Überlegungen und Ansätze in diese Richtung sind bislang erst Einzelvorstöße, breiter angelegte Untersuchungen von den verschiedenen Philologien aus bleiben ein Forschungsdesiderat. Klärungsbedarf besteht ferner, gerade infolge dieser fruchtbaren Öffnung der imitatio-Forschung für neuere Intertextualitätskonzepte, hinsichtlich einer differenzierteren Abgrenzung zwischen ,traditioneller‘ imitatio und ,(post)moderner‘ Intertextualität. Daß es mit der schlichten Vorstellung diachroner Abfolge eines nichtnormativen auf ein normatives Paradigma jedenfalls nicht getan ist, haben die Beiträge von Kablitz 1985 und 1986 sowie vor allem von Bauer 1994 bereits deutlich gemacht.
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6. Literatur (in Auswahl) Mit Blick auf die unter Punkt 5. charakterisierte Eigenart der imitatio-Forschung, sich überwiegend in konkreten Einzelstudien zu entfalten, erscheint eine auch nur annähernd repräsentative Forschungsauswahl auf dem knapp bemessenen Raum eines Handbuchartikels von vornherein aussichtslos. Aus pragmatischen Gründen werden daher nur die im Artikel zitierten Beiträge sowie übergreifende und monographische Untersuchungen aufgeführt; für die (vielfach anregende) Einzelforschung wird auf die umfangreichen Bibliographien zu den Artikeln Aemulatio, Imitatio auctorum und Imitatio morum im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (Bauer 1992, Kaminski 1998, De Rentiis 1998) verwiesen. Arweiler, Alexander (2003): Cicero rhetor. Die Partitiones oratoriae und das Konzept des gelehrten Politikers. Berlin/New York (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte, 68). Bauer, Barbara (1992): Aemulatio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1, 141⫺187. Bauer, Barbara (1994): Intertextualität und das rhetorische System der Frühen Neuzeit. In: Wilhelm Kühlmann/Wolfgang Neuber (Hrsg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Frankfurt a. M., 31⫺61 (Frühneuzeit-Studien, 2). Borgstedt, Thomas (2001): Topik des Sonetts. Eine pragmatische Gattungskonzeption. Habil.schrift Frankfurt a. M. Borgstedt, Thomas (2003): Petrarkismus. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3, 59⫺62. Cave, Terence (1979): The Cornucopian Text. Problems of Writing in the French Renaissance. Oxford. Cicero (1990): Brutus. Hrsg. und übers. v. Bernhard Kytzler. Düsseldorf. Cicero (2008): De officiis. Hrsg. u. übers. v. Rainer Nickel. Düsseldorf. De Rentiis, Dina (1996): Die Zeit der Nachfolge. Zur Interdependenz von ,imitatio Christi‘ und ,imitatio auctorum‘ im 12.⫺16. Jahrhundert. Tübingen (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie, 273). De Rentiis, Dina (1998): Imitatio. 2. I. morum. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 4, 285⫺ 303. Dihle, Albrecht (1992): Attizismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1, 1163⫺1176. Gelzer, Thomas (1979): Klassizismus, Attizismus und Asianismus. In: Hellmut Flashar (Hrsg.): Le classicisme a` Rome aux Iers sie`cles avant et apre`s J.-C. Genf, 1⫺41. Gmelin, Hermann (1932): Das Prinzip der Imitatio in den romanischen Literaturen der Renaissance (I. Teil). In: Romanische Forschungen 46, 83⫺360. Greene, Thomas M. (1982): The Light in Troy. Imitation and Discovery in Renaissance Poetry. New Haven/London (Elizabethan Club series, 7). Hempfer, Klaus W. (1987): Probleme der Bestimmung des Petrarkismus. Überlegungen zum Forschungsstand. In: Wolf-Dieter Stempel/Karlheinz Stierle (Hrsg.): Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania. München, 253⫺277 (Romanistisches Kolloquium, 4). Jaumann, Herbert (2002): Nachwort. In: Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Hrsg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart, 191⫺213. Kablitz, Andreas (1985): Intertextualität und die Nachahmungslehre der italienischen Renaissance. Überlegungen zu einem aktuellen Begriff aus historischer Sicht I. In: Italienische Studien 8, 27⫺38. Kablitz, Andreas (1986): Intertextualität und die Nachahmungslehre der italienischen Renaissance. Überlegungen zu einem aktuellen Begriff aus historischer Sicht II. In: Italienische Studien 9, 19⫺35. Kaminski, Nicola (1998): Imitatio. 1. I. auctorum. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 4, 235⫺285. Kaminski, Nicola (2004): Ex Bello Ars oder Ursprung der „Deutschen Poeterey“. Heidelberg (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 205).
85. Kriterien der Textgestaltung (virtutes elocutionis)
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Nilges, Annemarie (1988): Imitation als Dialog. Die europäische Rezeption Ronsards in Renaissance und Frühbarock. Heidelberg (Beihefte zur Germanisch-Romanischen Monatsschrift, 7). Petersen, Jürgen H. (2000): Mimesis ⫺ Imitatio ⫺ Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München. Petrarca, Francesco (1933⫺1942): Le Familiari. Hrsg. v. Vittorio Rossi. 4 Bde. Florenz. Pigman, George W. III (1980): Versions of Imitation in the Renaissance. In: Renaissance Quarterly 33, 1⫺32. Quintilian (2006): Ausbildung des Redners. Institutio oratoria. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. 2 Bde. Unveränd. Nachdruck der 3. Aufl. Darmstadt (Texte zur Forschung, 2 u. 3). Reiff, Arno (1959): interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern. Diss. Köln. Stackelberg, Jürgen von (1956): Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Imitatio. In: Romanische Forschungen 68, 271⫺293. Ulivi, Ferruccio (1959): L’imitazione nella poetica del rinascimento. Milano. Zetzel, James E. G. (1983/84): Re-creating the Canon. Augustan Poetry and the Alexandrian Past. In: Critical Inquiry 10, 83⫺105. Bibliographischer Nachtrag: Müller, Jan-Dirk/Jörg Robert (Hrsg.) (2007): Maske und Mosaik. Poetik, Sprache, Wissen im 16. Jahrhundert. Münster (Pluralisierung & Autorität, 11).
Nicola Kaminski, Bochum (Deutschland)
85. Kriterien der Textgestaltung (virtutes elocutionis: latinitas, perspicuitas, ornatus, aptum) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Das systematische Problem Aristoteles Begriffliches Auctor ad Herennium (Herennius-Rhetorik) Dionysios von Halikarnass Literatur (in Auswahl)
Abstract Since the time of Aristotle, ancient rhetoric has established an inventory of norms to optimize the production of texts. Not by mere chance, the term virtus, aœρετη´ /arete, in this context, originally denotes an ethic norm, since the choice of the proper mean of style orients itself along the lines of the clever choice of the golden mean (aurea mediocritas). Theophrastus applied this concept to a number of virtues (resembling the cardinal virtues of Plato in his Politeia); however, these merely represent aspects of a previous unit that is achieved in the process of persuasion.
85. Kriterien der Textgestaltung (virtutes elocutionis)
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Nilges, Annemarie (1988): Imitation als Dialog. Die europäische Rezeption Ronsards in Renaissance und Frühbarock. Heidelberg (Beihefte zur Germanisch-Romanischen Monatsschrift, 7). Petersen, Jürgen H. (2000): Mimesis ⫺ Imitatio ⫺ Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München. Petrarca, Francesco (1933⫺1942): Le Familiari. Hrsg. v. Vittorio Rossi. 4 Bde. Florenz. Pigman, George W. III (1980): Versions of Imitation in the Renaissance. In: Renaissance Quarterly 33, 1⫺32. Quintilian (2006): Ausbildung des Redners. Institutio oratoria. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. 2 Bde. Unveränd. Nachdruck der 3. Aufl. Darmstadt (Texte zur Forschung, 2 u. 3). Reiff, Arno (1959): interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern. Diss. Köln. Stackelberg, Jürgen von (1956): Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Imitatio. In: Romanische Forschungen 68, 271⫺293. Ulivi, Ferruccio (1959): L’imitazione nella poetica del rinascimento. Milano. Zetzel, James E. G. (1983/84): Re-creating the Canon. Augustan Poetry and the Alexandrian Past. In: Critical Inquiry 10, 83⫺105. Bibliographischer Nachtrag: Müller, Jan-Dirk/Jörg Robert (Hrsg.) (2007): Maske und Mosaik. Poetik, Sprache, Wissen im 16. Jahrhundert. Münster (Pluralisierung & Autorität, 11).
Nicola Kaminski, Bochum (Deutschland)
85. Kriterien der Textgestaltung (virtutes elocutionis: latinitas, perspicuitas, ornatus, aptum) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Das systematische Problem Aristoteles Begriffliches Auctor ad Herennium (Herennius-Rhetorik) Dionysios von Halikarnass Literatur (in Auswahl)
Abstract Since the time of Aristotle, ancient rhetoric has established an inventory of norms to optimize the production of texts. Not by mere chance, the term virtus, aœρετη´ /arete, in this context, originally denotes an ethic norm, since the choice of the proper mean of style orients itself along the lines of the clever choice of the golden mean (aurea mediocritas). Theophrastus applied this concept to a number of virtues (resembling the cardinal virtues of Plato in his Politeia); however, these merely represent aspects of a previous unit that is achieved in the process of persuasion.
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
1. Das systematische Problem Die antike Rhetoriktheorie verfügt über ein sehr weit ausdifferenziertes Konzept sprachlicher Kodebildung. Dieser Kode soll dazu dienen, durch den Einsatz sprachlicher Mittel jeweils das Optimum des rhetorisch Gebotenen zu erreichen. Die Frage, warum ein solches Optimum anzustreben ist, ergibt sich aus der antiken techne-Konzeption. In dieser geht es stets darum, dass ein technisch gesehen bestes Resultat erzielt wird; dabei kann zwischen extrinsischen und intrinsischen Kriterien unterschieden werden. Je ausdifferenzierter eine antike techne (Fachtheorie) sich gibt, desto mehr wird das intrinsische Optimum für den Techniten bestimmend. Im Zuge solcher Konzentration kann der extrinsische Erfolg einer ,technischen‘ (d. h. theoriekonformen) Produktion zwar nicht vollständig ausgeblendet werden, doch es wird deutlich, dass der Erfolg technisch eingesetzter Mittel nicht unbedingt über die technische Richtigkeit dieser eingesetzten Mittel entscheiden kann. Die wichtigsten und frühesten Überlegungen zu diesem Komplex finden wir in Aristoteles Rhetorik. Ausgehend von seiner Tugendlehre, in der zwischen richtigem und falschem Handeln allein nach Maßstäben der Angemessenheit entschieden wird, entwirft er das richtige und falsche Handeln des Orators auch im Bereich der sprachlichen Ausarbeitung nach dem Prinzip des Angemessenen (πρε´ πον/prepon). Der Orator handelt also nicht als vir bonus richtig, d. h. aus rhetorisch betrachtet sachfremden moralischen Aspekten, sondern entsprechend den Strukturanalogien zum Handeln im allgemeinen Sinn wird speziell rhetorisches Handeln auf eine Werttaxonomie zurückgeführt. Im Zuge hierauf bezogener Entscheidungen im Vertextungsprozess können sowohl Aspekte des Superkodes als auch untergeordnete Kodefragen beantwortet werden.
2. Aristoteles Aristoteles definiert das Angemessene der sprachlichen Gestaltung (λε´ ξι/lexis) als dasjenige, das durch den Einsatz von pathos und ethos den zu behandelnden Gegenständen analog ist. Diese Analogie beruht darauf, dass weder über solche Gegenstände, die dem Publikum als bedeutend gelten, nur in einem sprachlich unaufälligen Kode geredet wird, noch über Dinge, die beim Publikum als banal gelten, in einem zu aufgeladenen sprachlichen Kode. Sollte das nicht bedacht werden, führt dies zu komödiantenhafter Wirkung; dieser Effekt ist für das rhetorische Handeln aber verheerend. Die Konzeption des Angemessenen (Rhet. 3,7,1⫺2) wird ebenfalls in den Nikomachischen Ethiken 4,2, 1122a18⫺26 (nach ed. Bywater) als dasjenige bestimmt, das in einem bestimmten Verhältnis zu etwas stehen müsse, und zwar unter Beachtung der Sachlage und der Situation. In den Nikomachischen Ethiken 10,8; 1178a10 ff. (nach ed. Bywater) zeigt sich, dass es in den elementaren Bereich menschlichen Handelns gehört. Entsprechend den Aristotelischen Konzeptionen zur rhetorischen Beweisführung gemäß ethos, pathos und logos führt der Stagirit solche Unterscheidungen auch für die Wahl der angemessenen lexis an. So unterscheidet er drei Situationen, in denen es besonders wichtig sei, analog den zugrundeliegenden Gegenständen (πρa¬γματα/pragmata) zu sprechen. So müsse man etwa über Fälle von Gewalt (yÕβρι/hybris) als ein Zorniger sprechen, geht es aber um Unfrommes (aœσεβη˜ και` αiœσχρa¬ /asebe kai aischra), dann müsse man wie jemand auftreten, der sich scheue, etwas auszusprechen, dem seine ganze Entrüstung gelte. Dagegen müsse über Lobenswertes (eœπαινετa¬ /epaineta) bewundernd gesprochen werden, und über Mitleid Er-
85. Kriterien der Textgestaltung (virtutes elocutionis)
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regendes als ein Mensch, der sich niedergeschlagen fühlt (eœλεεινa¬ /eleeina, vgl. Rhet. 1408a16⫺19). Entscheidend für die Wahl der sprachlichen Mittel ist also die psychosoziale Komponente des Gegenstandes, über den der Redner zu sprechen hat. Aristoteles führt dazu einen psychologischen Grundsatz an: Die Seele werde bei solchen Performanzen regelmäßig in die Irre geführt, und zwar unabhängig von der Frage, ob sie tatsächlich glaube, was der betreffende Sprecher sagt (Rhet. 3,7,4⫺5; 1408a20⫺24). Das bedeutet also, dass affektische Performanz wie im Theater so auch in der Rhetorik regelmäßig auf eine Grunddisposition der menschlichen Rezipienten zielt: Die Seele kann sich bestimmten pathetischen Einwirkungen grundsätzlich schwer entziehen und gerät, solchen Einwirkungen ausgesetzt, regelmäßig in diejenigen Affekte, die im Sinne der Entscheidung (κρι´σι/krisis), um die es der Rhetorik gehen muss, relevant sind. Diese Irreführung der menschlichen Seele scheint für Aristoteles zu den zentralen Aspekten rhetorischen Handelns zu gehören. Man kann diesen Fehlschluss der Psyche auch als Verwechslung von notwendig und hinreichend erklären. Weil also oft Menschen, die emotional bewegt auftreten, dies tun, weil ihnen etwas widerfahren ist, schließt die Seele fälschlich, dass jeder Mensch, der so auftritt, sich einer emotional aufregenden Situation hatte aussetzen müssen. Sozialpsychologisch interessant ist diese Bemerkung, weil tatsächlich Phänomene wie Massenhysterie, die wir heute in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen wahrnehmen, auf diesem psychischen Mechanismus beruhen. Rhetoriktheoretisch bedeutsam ist, dass Aristoteles solche Phänomene nicht als ein Massenphänomen sui generis darstellt (das wäre für die Antike in solcher Form wohl auch nicht denkbar), sondern sehr konkret bei der Frage der technisch gesehen richtig zu wählenden Sprachkodeebene ansetzt. Aristoteles nennt eine solche Form, emotional qualifiziert aufzutreten, auch eine auf Anzeichen (σημει˜α/semeia) beruhende Beweisführung. Semeia deshalb, weil, wie erwähnt, die Seele eben bestimmte Anzeichen registriert, die sie zu dem vom Redner intendierten (Fehl-)Schluss führen. In der lexis kann damit allerdings auch das ethos des Redenden gesteuert werden. Es geht hierbei insbesondere um soziologische Aspekte, also volks- oder altersmäßig bestimmte Zugehörigkeit (Rhet. 1408a27⫺30). Hierbei wird die hexis (eÕξι, Habitus, Haltung) als dasjenige definiert, wodurch ein Mensch einen bestimmten Typ im Leben repräsentiert. Also nicht jede hexis ist relevant, sondern nur diejenige, die jene lebensqualifizierende Funktion erfüllt. Das Regulativ des prepon (πρε´ πον, Angemessenheit) ist der kairos (καιρο´ , richtiger Augenblick). Damit ist ein Begriff genannt, der zum Kerninventar rhetorischen Handelns gehört. Den kairos zu beachten, bedeutet die Situativität der rhetorischen Handlung zu berücksichtigen. Das kann sogar explizit erfolgen. Aristoteles nennt dies eine Art ,Generalrezept‘. Ein solches sieht eine Rücknahme des gleichwohl Ausgesprochenen vor oder auch die Kommentierung dessen, was gesagt worden ist. Dadurch gibt sich der Redner den Anschein von Objektivität, weil er den affektierten Ausdruck, der der techne entspricht, gewissermaßen relativiert; in römischer Terminologie findet sich hier der Grundsatz des artem celare, d. h. dass man die Kunstmäßigkeit zu verbergen habe. Der Redner scheint sich also seiner Mittel bewusst zu sein, er versucht nicht das Publikum durch solche Mittel zu überwältigen, sondern strebt danach, seinen Einsatz von sprachlichen Mitteln gewissermaßen transparent zu machen. Damit begibt er sich dem Anschein nach auf dieselbe Stufe wie die Rezipienten. Der Effekt solchen uneigentlichen Sprechens oder metasprachlichen Handelns kann darin gesehen werden, dass der Redner sich vorübergehend mit dem Auditorium gemein macht. Auf derselben Linie solcher Zurücknahme bewusst eingesetzter Kunstmittel liegen denn auch die von Aristoteles ge-
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
gebenen Ratschläge, man solle nicht zu viele Kunstmittel anwenden, weil dadurch ein Zuviel und vor allem ein zu sehr gemachtes Kunstwerk produziert werde (Rhet. 1408b 1 ff.). Alle diese Vorsichtsmaßregeln belegen, dass bereits in der Zeit des Aristoteles ein sehr differenziertes Bild vom Einsatz sprachlicher Mittel gegeben war. Denn es ist die sophistische lexis, die Aristoteles immer wieder als ein zu Meidendes tadelt. Es sind dies insbesondere die frostigen (ψυχρο´ ν/psychron) Formulierungen, in denen sich das sprachliche Virtuosentum ohne Rücksicht auf den kairos selbst feiert und damit rhetorische Erfolge oft verspielt, da auf die Rezipienten nicht genügend geachtet wird. Die Mittel einer pathetisch aufgeladenen Rede gehören in den Bereich des sprachlichen Kodes, der unterhalb des Superkodes liegt. Aristoteles gibt hierfür konkrete Anweisungen, dass z. B. Beiwörter (eœπι´θετα/epitheta) und selten benutzte Wörter zu verwenden seien, um entsprechend der Regel zur Sachverhaltsanalyse für unerhörte Gegenstände auch eine unerhörte lexis zu gebrauchen (Rhet. 1408b10⫺12). Hierbei jedoch sei der sozio-psychische Aspekt zu berücksichtigen, dass der Redner solche Ausdrücke nämlich erst dann einsetzen dürfe, wenn er sein Publikum bereits enthusiastisch affiziert habe (Rhet. 1408b13⫺16). Erst wenn das Publikum vom Redner pathetisch vorbereitet ist, kann dieser sinnvollerweise eine pathetische lexis einsetzen. Interessant ist nun, dass Aristoteles neben dieser direkten pathetischen Einwirkung auch das Mittel der Ironie empfiehlt. Dies mag befremdlich scheinen, da Ironie bekanntlich jeglicher pathetischen Einwirkung zuwiderläuft. Aristoteles nennt als Beispiele hierfür Reden des Gorgias und den platonischen Phaidros. In der Tat ist der platonische Phaidros einerseits eine pathetisch strukturierte Rede über die Wirkung des eros (Rhet. 1408b19⫺20), andererseits aber auch vom Sprecher Sokrates durch zahlreiche ironische Signale durchsetzt. Vielleicht will Aristoteles die Ironie als eine Möglichkeit des überlegenen Redners in Erwägung ziehen, der sich einer Als-ob-Pathetik bedient, ähnlich wie Aristoteles ja auch die Kommentierung und Zurücknahme gewagter Ausdrücke empfiehlt. Nun finden sich für die lexis neben dem Kapitel 3,7 in der Rhetorik noch in 3,2 und 3,3 definitorische Aussagen. In 3,2 geht Aristoteles von einer einfachen Grundüberlegung aus. Sprache dient zunächst der Kommunikation, d. h. sie muss deutlich sein, damit das sprachlich Geäußerte verstanden wird. Auf der anderen Seite betrachtet Aristoteles den Rezipienten. Der Rezipient will nicht nur etwas erfahren, er will bei der Rezeption auch unterhalten werden. Oft steht die Unterhaltung auch im Vordergrund und ist eine Voraussetzung der Informationsvermittlung. Damit ist neben dem Sachaspekt zugleich ein affektisches Moment genannt. Zwischen diesen beiden Polen der Sachvermittlung und der pathetisch bewirkten Unterhaltung des Rezipienten hat der Stil nun sein Angemessenes (πρε´ πον/prepon) zu treffen. Denn gemäß der Situation ist davon auszugehen, dass der Rezipient entweder mehr Sachinformationen oder mehr Unterhaltung wünscht. Entsprechend dieser Dichotomie empfiehlt Aristoteles zum Zwecke der Deutlichkeit etwa Verben und ihre Nomina in ihrer üblichen Bedeutung; für die pathetische lexis empfiehlt er Fremdheit im Ausdruck, die insbesondere durch entweder selten benutzte oder in dieser Bedeutung nicht gebräuchliche Ausdrücke erreicht wird (Rhet. 1404b10⫺12). Es zeichnet die Aristotelische Konzeption aus, dass sie die Grundmomente der Rhetoriktheorie, wie in den ersten beiden Büchern dargelegt, auch für das 3. Buch heranzieht. Deutlich erkennbar ist die Trias in grundlegenden Sachverhalten (πρa˜ γμα/pragma) und rednerperformantes ethos (Selbstdarstellung) und rezipientenorientiertes pathos (Affekte). Auf der anderen Seite wird in Rhetorik 3,3 die Gefahr des Frostigen (ψυχρο´ ν/psychron) behandelt. Das
85. Kriterien der Textgestaltung (virtutes elocutionis)
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Frostige ist ein zu aufgeladener Ausdruck, der entsprechend dem Grunderfordernis der Rede, nämlich etwas deutlich zu machen, defizient ist: Er zeigt zwar etwas, aber nicht hinreichend deutlich. Außerdem gibt es noch eine Reihe von Mitteln, die sehr sparsam eingesetzt werden müssen. Es kommt wiederum jenes Moment zum Tragen, dass die Rede nicht als artifizielles Produkt, sondern als ein Überzeugungsmittel fungieren sollte. Die von Aristoteles genannten vier Fehler sind im Grunde alle Übertragungen dichterischer Diktion auf die Prosa. Die Übertragungen sind deswegen falsch, weil sie die Genauigkeit des sprachlichen Ausdrucks (σαφε´ /saphes), nicht beachten. Sie können in wohldosierter Form jedoch durch den spezifischen Verfremdungseffekt das Banale (ταπεινο´ ν/tapeinon) vermeiden und somit als affektische Steuerung eingesetzt werden. Grundsätzlich gilt also hier, gemäß dem prepon das richtige Maß zu finden, um das Publikum zu lenken. Aristoteles beginnt seine Darstellung der lexis zu Beginn des 3. Buches mit einer grundsätzlichen Rekapitulation seiner Rhetoriktheorie und bekennt, dass die Beschäftigung mit der lexis theoretisches Neuland darstelle. Die Rhetorik steht hier in der Tradition der Poetik, die sich schon länger mit der Frage der Performanz (y«πο´ κρισι/hypokrisis) und auch dem dichterischem Ausdruck beschäftigt hat. Aristoteles selbst verweist an dieser Stelle auf seine eigene Poetik, in der die Probleme dichterischer Diktion erörtert werden: Historisch gesehen sei die Beschäftigung mit der rhetorischen lexis von den Sophisten begonnen worden (Rhet. 1404a25⫺26), die aber das Proprium der prosaischen Rede noch nicht hinreichend bestimmt hatten. Aristoteles verknüpft dies mit der Unterscheidung von schriftlich und mündlich (Rhet. 1404a7⫺18). Die schriftliche lexis sei wesentlich genauer, allerdings könne sie oft nicht dieselbe Wirkung entfalten wie die mündliche lexis, die zwar ungenauer, aber pathetisch und ethisch wirkungsvoller sei. Aristoteles nennt die schriftliche lexis im Vergleich zur mündlich orientierten trocken; die mündliche wirke, wenn sie denn schriftlich vorläge, naiv bzw. stümperhaft, und dabei vergleicht er die mündlich orientierte lexis mit der flächigen und illusionistischen Theatermalerei (σκιαγραφι´α/skiagraphia, eigentlich: ,Schattenmalerei‘ (Rhet. 1414a8)). Das liege an der mangelnden Ausarbeitung des mündlichen Vortrages in Hinsicht auf strukturierende Verknüpfungen von Einzelsätzen und gewissen Wiederholungen. Nun bringt Aristoteles auch noch seine Unterscheidung in die drei Redegenera ein, die er eingeführt hatte (Rhet. 1,3; 1,12; 1413b3⫺5). Offenbar verknüpft er mit der dikanischen Form auch die mündliche Rede; allerdings muss bemerkt werden, dass die scheinbar nur mündlich vorgetragene Rede im 4. Jh. v. Chr. durch Logographen schriftlich vorformuliert war. Die mündliche Rede wird von Aristoteles mit der Wirkung von Schauspielern auf der Bühne verglichen (Rhet. 1413b9 ff.). Da die mündliche Vortragsform am meisten der Vortragsform der Schauspieler ähnle, seien Schauspieler, die sich sowohl pathetisch als auch ethisch zu performieren verstehen, besonders gefragt. Andererseits jedoch habe der Dichter, der schriftlich rezipiert wird, zu beachten, dass die schriftliche lexis, und das ist zugleich die genaueste, hier den größten Ruhm garantiert. Diese Bemerkungen können verwirrend erscheinen, denn offenbar wird im Theater derjenige Dichter als der beste angesehen, der sich an den Vorteilen der schriftlichen lexis orientiert; jedoch spielt bei der Performanz eines solchen Stückes wiederum eher das ethisch-pathetische Potenzial des Schauspielers eine Rolle. Daraus könnte der naheliegende Schluss gezogen werden, dass, unabhängig von der Grundunterscheidung in schriftliche und mündliche lexis, es darauf ankommen müsse, auch den schriftlich ausformulierten Text in der Performanz durch ethos- und pathos-Einsatz zur Wirkung zu bringen. Aristoteles äußert sich darüber
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
allerdings nicht. So haben seine Bemerkungen an diesem Punkt etwas Unfertiges. Festzuhalten bleibt jedoch, dass für Aristoteles mündlich und schriftlich wiederum nach den Kriterien der Angemessenheit differenziert werden.
3. Begriliches Wir finden in Fragmenten des Aristoteles-Schülers Theophrast, die der Schrift Περι` λε´ξεω (Peri lexeos, De elocutione) zugeordnet werden, vier aœρεται` τη˜ λε´ ξεω (aretai tes lexeos, virtutes elocutionis): Es sind dies πρε´ πον/prepon, aptum, Angemessenheit, κο´ σμο/kosmos, ornatus, Schmuck, e«λληνισμο´ /hellenismos, latinitas, Sprachrichtigkeit, σαφη´ νεια/sapheneia, perspicuitas, Deutlichkeit (Fortenbaugh 1992, Fr. 684 ⫽ Cic. Or. 79). Diese vier Begriffskategorien lassen sich unschwer in zwei Paare einteilen: (1.) aptum und ornatus, die sich auf die Angemessenheit der angewandten Kodes (Sprachkodes und Overkodes) beziehen, indem sie soziale oder kommunikative Aspekte betrachten oder im Sinne des ornatus ästhetische Kategorien berücksichtigen. Man kann also sagen, dass es um einen sozial-kommunikativ ästhetischen Kode geht, der nach diesen virtutes generiert werden soll. (2.) Auf der anderen Seite stehen mit Sprachrichtigkeit und perspicuitas Aspekte der Normierung des Kodes nach einem sensus communis, bzw. anerkannten Autoritäten. Dies waren in der Antike der sermo cottidianus (Alltagssprache) bzw. vor allem in römischer Zeit und der Gräzität der Kaiserzeit die Aufstellung von Sprachnormen durch paradeigmata bestimmter Autoren. Hierhin gehört auch der Superkode wie etwa Attizismus versus Asianismus. Mit perspicuitas (Verständlichkeit) ist dagegen ein funktionaler Kode gemeint, denn hierbei geht es im Grunde um das, was Herbert P. Grice die Regeln der Kommunizierbarkeit nannte (Grice 1989, 22⫺40; 41⫺57): Das Kooperationsprinzip, das besagt, dass der Sprecher dem anerkannten Zweck und der akzeptierten Ausrichtung des Gespräches folgen will. Der Informationsgehalt muss dabei zwischen einem Zuviel und Zuwenig austariert sein, und man sollte insbesondere Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten vermeiden. Vergleicht man nun die Aristotelische mit der Theophrastischen lexis-Konzeption, so ergibt sich, dass Aristoteles die sozial-kommunikative Seite in den Vordergrund stellt und die ästhetischen Aspekte weitgehend zu funktionalisieren strebt. Theophrast hingegen differenziert und artifizialisiert mit Sprachrichtigkeit und ornatus das Grundkonzept von Aristoteles. Mit seiner Einführung des ornatus als eines Affekts rhetorischen Handelns begründet er einen in der Folge besonders weit ausdifferenzierten Bereich der rhetorischen techne. Man kann aber leicht erkennen, dass Theophrast tatsächlich nur Aspekte expliziert, die in der denkbar kurzen Definition des Aristoteles bereits vorgegeben sind. Die Stoiker haben nach Diogenes Laertius 7,59 bereits zu den vier virtutes von Theophrast die συντομι´α (syntomia, Kürze) als fünfte gerechnet, die sich dann wieder bei Dionysios unter den notwendigen virtutes findet.
4. Auctor ad Herennium (Herennius-Rhetorik) In der Herennius-Rhetorik scheint der Autor im Anschluss an die Dreistillehre (4,11⫺16) auch die Lehre von den virtutes elocutionis zu reflektieren. Er nennt drei Vorzüge: elegantia, compositio und dignitas. Elegantia wird in latinitas und explanatio unterteilt. Ers-
85. Kriterien der Textgestaltung (virtutes elocutionis)
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tere bezeichnet die Sprachrichtigkeit, letztere die Deutlichkeit, die durch die Wahl landläufiger Wörter oder solcher in eigentlicher Bedeutung gewährleistet wird (4.17). Compositio achtet auf eine sorgfältig gestaltete Reihenfolge der Wörter, die Hiate vermeidet (4.18). Dignitas schließlich sorgt für den rhetorischen Schmuck durch Wort- und Gedankenfiguren (4.18). Diese Zusammenstellung verweist auf die Konzeption von Theophrast. Allerdings ist die virtus der Angemessenheit ausgelassen und die compositio ist als eigener Bereich vom Kosmos getrennt.
5. Dionysios von Halikarnass In der literarkritischen Schrift des Dionysios von Halikarnass, die er für Geminus Pompeius verfasst hat, kommt der Autor (Ad Pompeium Geminum § 3,16⫺20) im Zuge eines Vergleiches von Herodot mit Thukydides zu einer Anzahl von, wie er es nennt, notwendigen und zusätzlichen aœρεται´ (aretai, eigentlich: ,Tugenden‘) der lexis. Unter die notwendigen aretai zählt er an erster Stelle das πρε´ πον (prepon, das Angemessene), sodann das καθαρο´ ν (katharon, das Reine) im Sinne der Sprachrichtigkeit, die Genauigkeit und die Kürze. Zusätzliche aretai sind ihm die eindringliche Darstellung (eœνa¬ργεια/enargeia), die Darstellung von ethos und pathos (μι´μησι hœθv˜ ν και` παθv˜ ν/mimesis ethon kai pathon), eine das Erhabene (yÕψο/hypsos) tangierende Kategorie, die er με´ γα και` θαυμαστο´ ν/ mega kai thaumaston nennt, sowie iœσχυ´ /ischys und το´ νο/tonos (starker und kraftvoller Ausdruck), und schließlich Aspekte des Angenehmen (h«δονη´ /hedone), zu denen auch überzeugende Darstellungen (πειθω´ /peitho) und τε´ ρψι/terpsis (Erfreuen des Rezipienten) gehören. Die Unterscheidung in notwendig und zusätzlich geht aller Wahrscheinlichkeit auf die hellenistische Rhetorik zurück. Jedenfalls finden wir diese Unterscheidung bei Cicero in De oratore 3,38. Notwendig ist die Sprachrichtigkeit und die Verständlichkeit (latinitas, perspicuitas), zusätzliche virtutes sind ornatus und aptum. Cicero begründet diese Unterteilung damit, dass die notwendigen Tugenden für die Kommunikation grundlegend sind und sich im engeren Sinne das rhetorische Proprium erst bei ornatus und aptum findet. Diese Reflexion könnte freilich dazu führen, dass latinitas und perspicuitas keine im engeren Sinne rhetorischen virtutes, sondern Grundvoraussetzungen sprachlicher Kommunikation überhaupt sind, wie wir sie auch bei Grice feststellen konnten (Grice 1989, 22⫺40; 41⫺57). Bemerkenswerterweise werden diese Kategorien nicht abstrakt erörtert, sondern im Zuge einer Synkrisis der stilistisch sehr unterschiedlichen Autoren Thukydides und Herodot benannt. Die Wahl dieser auch im Dialekt unterschiedlichen Autoren (ionisch und attisch) erklärt sich aber aus dem für den Literaturbetrieb kennzeichnenden Umgang mit etablierten Vorbildern (παραδει´γματα/paradeigmata). Hier gelten Thukydides und Herodot als sprachliche Normen. Die Entscheidung des Dionysios, den gefälligen, reihenden Stil des Herodot vor den des Thukydides zu setzen, zeigt bereits die Perspektive einer bestimmten literarästhethischen Wertung. In dieser wird das historiographisch anspruchsvollere Unternehmen des Thukydides als für den griechischen Geist nicht willkommenes Sujet abgewiesen. Dagegen ist der episch breit erzählende, bisweilen auch enkomiastische Stil des Herodot eher geeignet, sowohl inhaltliches als auch stilistisches Vorbildmaterial zu liefern (Ad Pompeium Geminum § 3,15). Dies ist ganz aus der Perspektive der kaiserzeitlichen Gräzität gesprochen. So wird man zwar auch dem Urteil zustim-
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
men, dass die sprachliche Gestaltung (φρa¬σι/phrasis) bei Herodot eher natürlich (κατa¡ φυ´ σιν/kata physin), bei Thukydides bisweilen schroff (κατa¡ δεινο´ ν/kata deinon) gestaltet ist (§ 3,19); doch ist diese ästhetische Wahl dem unterschiedlichen historiographischen Anspruch der beiden Autoren geschuldet. Dieser Aspekt des prepon hätte durchaus in der Kategorientafel des Literarkritikers liegen können; es ist bezeichnend, dass er hier aus offenbar ideologischen Gründen die naheliegende Unterscheidung außer Acht lässt.
6. Literatur (in Auswahl) Aristoteles (1894): Ethica Nicomachea. Ed. by Ingram Bywater. Oxford. Reprint Oxford 1942. Aristoteles (2002a): Die Nikomachische Ethik. Aus dem Griech. u. mit einer Einf. u. Erl. versehen von Olof Gigon. 5. Aufl. München. Aristoteles (2002b): Rhetorik. Übers. u. erl. von Christof Rapp. 2 Bde. Berlin (Aristoteles. Werke in dt. Übersetzung, 4,1 u. 4,2). Cicero (1998): Orator. Lat./dt. Hrsg. v. Bernhard Kytzler. 4. Aufl. München/Zürich (Sammlung Tusculum). Dionysios von Halikarnass: Ad Pompeium Geminum. In: Hermann Usener/Ludwig Radermacher (Hrsg.) (1899): Dionysii Halicarnasei Opuscula. 2 Bde. Leipzig. Diogenes Laertius (2008): Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Übers. v. O. Apelt. Neu hrsg. sowie mit Einl. u. Anm. versehen v. Klaus Reich. 2 Bde. Hamburg. Fortenbaugh, William W. (1992): Theophrastus of Eresus. Sources for his life, writings, thought and influence. 2 vls. Leiden (Philosophia Antiqua, 54). Fortenbaugh, William W. (ed.) (2005): Theophrastus of Eresus. Sources on rhetoric and poetics. Commentary. Leiden (Philosophia antiqua, 97). Grice, Herbert P. (1989): Studies in the way of words. Cambridge, Mass. Grube, George M. A. (1952a): Theophrastos as a literary critic. In: Transactions of the American Philological Association 83, 172⫺183. Grube, George M. A. (1952b): Thrasymachus, Theophrastus, and Dionysius of Halicarnassus. In: American Journal of Philology 73, 251⫺267. Innes, Doreen C. (1985): Theophrastus and the theory of style. In: William W. Fortenbaugh/Pamela M. Huby/Anthony A. Long (eds.): Theophrastus of Eresus. On His Life and Work. New Brunswick, 251⫺267 (Rutgers University Studies in Classical Humanities, 2). Moretti, Gabriella (1995): Acutum dicendi genus. Brevita`, oscurita`, sottigliezze e paradossi nelle tradizioni retoriche degli Stoici. Bologna (Testi e manuali per l’insegnamento universitario del latino, 42). Rhetorica ad Herennium. Lat./dt. Hrsg. u. übers. v. Theodor Nüßlein. Düsseldorf/Zürich 1994. Stroux, Johannes (1912): De Theophrasti virtutibus dicendi. Leipzig.
Thomas Schirren, Salzburg (Österreich)
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86. Niveau der Textgestaltung (Dreistillehre/genera dicendi) 1. Systematisches 2. Aristoteles 3. Ps.-Demetrios: De elocutione 4. Rhetorica ad Herennium 5. Cicero: Orator 6. Quintilian 7. Dionysios von Halikarnassos 8. Ps.-Aristeides: Über die politische Rede (Περι` πολιτικου˜ λο´ γου/Peri politiku logu) 9. Hermogenes: De ideis 10. Ps.-Longin: De sublimitate 11. Literatur (in Auswahl)
Abstract In ancient rhetoric, style was not only considered as a process of optimization (cf. art. 85 this vol.), but also of differentiation into categorizing style registers, in which the virtues could shape in various form. When considering an overview of the history of the theory, then Theophrast’s four stylistic virtues remain dominant, but have undergone further differentiation processes. This process finally merged into Hermogenes’ theory of forms, that distinguishes between a multitude of style qualities. Obviously, the guiding intention was to create a complex range of instruments for imitating and criticizing style. For the modern reader of these works, it will not always be evident what aim such allocation of predicates pursued.
1. Systematisches Der Begriff des genus spielt für die Einteilung der rhetorischen Systematik eine grundlegende Rolle. Neben dem Begriff der Redefallgenera (genera causarum) hat sich auch der Begriff der Stilgenera (genera dicendi) etabliert. Für eine solche Systematisierung ist regelmäßig der praktische Bedarf der Rhetorik ausschlaggebend. So wie die generacausarum-Lehre Standardsituationen festlegt, um rhetorisches Handeln zu vereinfachen, hat man sich auch darum bemüht, die Frage der elokutionären Ausarbeitung des Textes auf eine geringe Anzahl von elocutio-Registern zu reduzieren. Der moderne Stilbegriff unterscheidet den Genrestil vom Individualstil und dem Zeitstil. Der Genrestil gehört in die Bereichs- bzw. Funktionalstile und lässt sich in zwei Bereichen unterscheiden: a) Gattungsstile, b) Textsortenstile. In den Gattungsstilen finden wir in modernen, (linguistisch geprägten) Untersuchungen eine Einteilung in vier Sparten (Übersicht bei Sowinski). Hier werden literarische Formen unterschieden, nämlich lyrisch, ethisch, dramatisch, didaktisch. Auf der anderen Seite finden wir so genannte Textsortenstile. Es geht dabei um Texte, die in einem nicht-literarischen Kommunikationszusammenhang ste-
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hen. Diese lassen sich als rhetorisch, journalistisch, administrativ oder innovativ unterscheiden. Für die Konzeption einer solchen Taxonomie sind Stilebenen und Kommunikationsbedingungen, bzw. unterschiedliche Redeanlässe kombiniert worden. Dabei ist das Bemühen deutlich, dem jeweiligen Redeanlass möglichst einen eigenen Stil zuzuschreiben. Blickt man von dieser modernen Konzeption des Genrestils auf die antike Textausarbeitungslehre, so zeigt sich, dass die genera-causarum-Lehre nicht einfach auf die Stillehre abzubilden ist; vielmehr werden je nach Maßgabe des rhetorisch Erforderlichen in den einzelnen Redegenera unterschiedliche Stilformen verwendet. Zudem muss unterschieden werden, dass in der antiken Stillehre Poetik und Rhetorik geschieden werden. Es werden allenfalls Beispiele aus der Dichtung zur Illustration der einzelnen Stilqualitäten verwendet. Außerdem unterscheidet das moderne Genrestilschema zwischen so genannten Gebrauchstexten und literarischen Texten. Auch diese Frage der Pragmatisierung von literarischen Textprodukten findet in der Antike keinen Anhaltspunkt.
2. Aristoteles Aristoteles kommt im 3. Buch der Rhetorik, das der Vertextungslehre gewidmet ist, im 2. und im 7. Kapitel auf die Grundbestimmungen des Prosastils zu sprechen. Er definiert die höchste Vortrefflichkeit sprachlichen Ausdrucks (λε´ ξεω aœρεται´ /lexeos aretai) durch die Spannung von Deutlichkeit und Verfremdung, reguliert durch die Angemessenheit (πρε´ πειν/prepein). Die beiden Pole ergeben sich aus zwei Funktionen der sprachlichen Mitteilung. Erstens muss die Rede einen Inhalt bezeichnen (semantischer oder Inhaltsaspekt), zweitens muss die Bezeichnung des Inhalts adressiert werden (Adressatenaspekt). Bei der Adressierung spielen jene Momente eine Rolle, die auch beim Redeteilschema wirksam werden. Es ist dies die Aufmerksamkeit, bzw. die Gerichtetheit der Rezipienten auf dasjenige, was die Rede inhaltlich zu bieten hat. Mit dem Begriff der Verfremdung (ξε´ νον/xenon, eœξαλλα´ ξαι/exallaxai) ist bezeichnet, dass es möglich ist, Sachverhalte auch mit solchen Ausdrücken zu bezeichnen, die vom gewohnten Sprachgebrauch abweichen. Verfremdende Ausdrücke sind regelmäßig solche, in denen der Inhalt durch nicht übliche Lexeme ausgedrückt wird. Hierbei müssen die Rezipienten eine ungewohnte Semantisierung vornehmen, um den bezeichneten Inhalt möglichst deutlich zu verstehen. Aristoteles nennt die üblichen Ausdrücke τα` κυ´ ρια/ta kyria, die allerdings dazu führen können, dass die Ausdrucksweise banal (ταπεινο´ ν/tapeinon) wirken könnte. Davon unterscheidet er die verfremdende Lexis, eine eher poetische Lexis, die dem Stil einen gewissen ornatus verschafft (κεκοσμημε´ νη λε´ ξι/kekosmemene lexis). Dieser Verfremdungseffekt bewirkt eine höhere Stilebene (σεμνοτε´ ρα λε´ ξι/semnotera lexis). Aristoteles führt dazu aus, dass Menschen, die diese ungewohnte Ausdrucksweise vernehmen, ähnliches ,erleiden‘ wie Menschen, die Fremden zuhören, also Menschen, die nicht den gleichen Sprachraum teilen. Diese Neuartigkeit bewirkt das Interesse der Rezipienten. Denn der Mensch sei von Natur dazu geneigt, dasjenige, was ihm neu und fremd erscheint, interessant zu finden (θαυμασται` τv˜ ν aœπο´ ντων/thaumastai ton aponton, Bewunderer des Abwesenden). Während nun in der poetischen Sprache ein weit höheres Toleranzpotential für solche unerwarteten, bzw. fremden Ausdrucksweisen besteht, muss sich der Rhetor auf eine geringere Devianzbreite beschränken. Andernfalls riskiert er
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nämlich eine geringere Glaubwürdigkeit. Aristoteles benennt dies mit dem Begriff des natürlichen Sprechens und setzt es vom künstlerischen (πεπλασμε´ νω/peplasmenos) ab. Bedient sich der Redner einer solchen künstlichen Ausdrucksweise zu offensichtlich, setzen allgemeine Misstrauensprozesse ein, wie sie bei nicht kaschiertem rhetorischen Handeln zum Tragen zu kommen pflegen. Hiermit hat man bereits einen wirkungsmächtigen Begriffsapparat, der später dazu dienen wird, den Ornatus/Kosmos gelungener elocutio vom so genannten Schwulst zu unterscheiden. Aristoteles verweist auf seine Poetik Kap. 21⫺22, wo er die verschiedenen Wortarten unterschieden hat und beschränkt sich bei der rhetorischen Lexis darauf, dass nur drei Formen Verwendung finden könnten: nämlich erstens der eigentliche Ausdruck (το` κυ´ ριον/to kyrion), zweitens der gewohnte Ausdruck (το` οiœκει˜ον/to oikeion), dieser muss nicht mit dem κυ´ ριον/kyrion übereinstimmen, es kann sich nämlich um eine verblasste Metapher handeln, und drittens die Metapher (μεταφορα´ /metaphora), also die Übertragung des semantischen Gehaltes von einem Gegenstandsbereich auf einen anderen. Aristoteles fasst diese Bestimmungen darin zusammen, dass man das rhetorische Optimum dann erreicht, wenn die Rede verfremdend ist, ohne dass dies deutlich zutage tritt, und wenn sie deutlich dasjenige bezeichnet, was Gegenstand der Rede ist. Nach diesen virtutes der sprachlichen Gestaltung kommt er in Rhet. 3,7 auf die vitia zu sprechen. Diese bestehen im Gebrauch von doppelten Ausdrücken, in der Verwendung von zusammengesetzten Wörtern, aber auch in der Verwendung von Glossen, also fremdsprachlichen oder dialektalen Ausdrücken. Schließlich werden auch zu große, bzw. unpassende und allzu häufig verwandte Epitheta als für die Prosa ungeeignet angesehen. In Rhet. 3,7 nimmt er auch das Thema der richtigen rhetorischen Lexis noch einmal auf. Hier ergänzt er die Bestimmungen zur richtigen Lexis als zwischen den Extremen der Deutlichkeit und Banalität befindlich durch die aus der Beweislehre bekannten Pisteis des Pathos und des Ethos. Die bereits erwähnte Kategorie des Angemessenen werde ihrerseits nämlich reguliert durch Pathos und Ethos, das sich durch ein weiteres ergänzen lässt, nämlich durch die Forderung nach „Analogie“ der sprachlichen Mittel mit den zugrunde liegenden Sachverhalten (y«ποκειμε´ νοι πρα´ γμασι aœνα´ λογον/hypokeimenois pragmasi analogon). Dieses Analogieprinzip wird dann gewahrt, wenn über gewichtige Dinge nicht oberflächlich und über einfache nicht übertrieben „würdig“ (σεμνv˜ /semnos) gesprochen werde. Außerdem dürfe bei einfachen Wörtern kein zu großer sprachlicher Schmuck (κο´ σμο/kosmos) angebracht werden; andernfalls werde die gesamte Rede lächerlich (κωμìδι´α/komodia). Das Überzeugungsmittel des Pathos komme in der elocutio/Lexis dann zum Tragen, wenn die Affekte des Sprechers Ausdruck finden. Dies geschieht z. B., wenn sich der Sprecher über Gottloses oder Schändliches zu ärgern scheine oder gar eine Scheu zu bemerken sei, gewisse Dinge überhaupt auszusprechen. Außerdem müsse er über Dinge, die zu loben seien, wohlwollend, und über Dinge, die unser Mitleid erfordern, in niedergeschlagener Betroffenheit sprechen. Der Effekt solcher Pathos anzeigenden, sprachlichen elokutionären oder pronuntiativen Mittel (s. Art. 37 actio) liegt darin, dass sich das angezeigte Pathos auf die Rezipienten überträgt, denn die Seele des Zuhörers begehe einen charakteristischen Fehlschluss, indem sie die zur Erscheinung gebrachten Äußerungen als Folgen tatsächlicher Vorgänge interpretiert. Dadurch aber gerät sie in denjenigen Affekt, der vom Sprecher performiert wird. Die richtige ethische Darstellung geschieht dann, wenn ein zum Sprecher passender Verhaltens- oder Sprachcode verwendet wird. Aristoteles differenziert hierbei zwischen Gattungs- und Charaktereigenschaften: Ersteres bezeichnet Lebensalter oder Zugehörigkeit zu einer Volksgemeinschaft, letzteres bezeichnet eine individuelle
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Charaktereigenschaft, etwa im Sinn der Lebensform, die gepflegt wird (Rhet. 3,7, 1408a25 ff.). Im Anwendungsfall ist demnach darauf zu achten, dass ein Mann vom Lande anders spricht als der Städter, dass sich ein Greis anders als ein junger Mann äußert. Diese Typologien lassen sich literarisch am ehesten in der neuen Komödie fassen, in der es bekanntermaßen feste Typen gab, auf die zurückgegriffen wurde (Horaz Ars poetica 119⫺130 mit Kommentar von Brink 1971, 198⫺208). Es ist daran zu erinnern, dass zur Zeit des Aristoteles vor allem Redenschreiber (Logographen) an den Gerichtshöfen Athens arbeiteten und für Prozessparteien entsprechende Reden schrieben. Hierbei spielt die Adaption an den Typ des Sprechers eine besondere Rolle. Bei der richtigen Regulierung des sprachlichen Mittels legt Aristoteles auch Wert darauf, dass Dinge gewissermaßen in Anführungsstriche gesetzt werden. Sie werden also zwar geäußert, gleichwohl soll der Sprecher zu verstehen geben, dass er sich über die Wahl der besonderen Mittel im Klaren ist. Interessanterweise ist Aristoteles auch daran interessiert, zwischen actio und elokutionärer Form ein Spannungsverhältnis aufzubauen. Wenn also die sprachliche Gestalt schon eine bestimmte Form hat, dann dürfe diese nicht noch durch die actio unterstützt werden. Wenn es darum geht, die pathetische Lexis angemessen anzuwenden, so widerspricht der Redner eigentlich den von Aristoteles aufgestellten Regeln für die Prosa. Dieser Regelverstoß jedoch ist dadurch gerechtfertigt, dass der Zürnende aus seinem normalen Verhalten gerade herausfallen muss. Genauso darf der Redner, wenn er sich im Zustand der Begeisterung (eœνθουσιασμο´ /enthusiasmos) befindet, erheblich mehr Lizenzen für sich beanspruchen, als wenn er noch bei der Darstellung des Sachverhalts ist. Dieser Durchgang durch die aristotelischen Reflexionen über die richtige sprachliche Gestalt (Lexis) zeigt, dass er eigentlich kein taxonomisches System von mehreren unterschiedlichen Stilen zu Grunde legt, sondern seine Lexis am Modell der richtigen Handlungen, wie er sie in der Nikomachischen Ethik darlegt (Arist. Nikomachische Ethik 2,5), orientiert ist. Das Richtige ergibt sich als Mitte zwischen zwei Extremen, die er als Deutlichkeit und Exaltiertheit bezeichnet hat. Je nach Gegenstand und rhetorischer Situation muss der Redner entweder stärker die Semantik gewichten, das heißt um Deutlichkeit bemüht sein, oder seine Zuhörer überraschen und interessieren, indem er sich um sprachliche Verfremdung bemüht; so kann er seine Zuhörer begeistern oder von eigener pathetischer Anteilnahme überzeugen, riskiert aber eventuelle Verständnisprobleme. Man hat diese Theorie des Aristoteles wegen ihrer drei Elemente, nämlich der Mitte zwischen zwei Extremen, auch als ein Protomodell für die spätere so genannte Dreistillehre ansehen wollen. Diese Auffassung verträgt sich jedoch gerade nicht mit dem von Aristoteles bezweckten aurea mediocritas-Modell; die beiden Extreme, Deutlichkeit und Banalität, sind zu meiden und nicht als mögliche Alternativen zu einem, wie auch immer gefassten Mittleren zu verstehen. Genau das ergibt sich aus der Parallele der ethischen Schriften (Hendrickson 1904; Grube 1952).
3. Ps.-Demetrios: De elocutione Ein bedeutender Beitrag zur Stiltheorie ist im Umkreis der peripatetischen Lehre zur Lexis entstanden. Nachdem Theophrast in seinem verlorenen Werk zur Lexis in zwei Büchern die Lehre von den Vorzügen des sprachlichen Ausdrucks (aœρεται` τη˜ λε´ ξεω/
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aretai tes lexeos, virtutes decendi) ausgeführt hatte, ist ein gewisser Demetrios ⫺ wahrscheinlich im ersten vorchristlichen Jahrhundert ⫺ mit einer stilkritischen Schrift hervorgetreten. Man hat diesen Demetrios noch nicht identifizieren können: vorgeschlagen werden Demetrios aus Syrien (Chiron 1993) und Demetrios von Magnesia (Dührsen 2005). Sie verdankt ihre Überlieferung wohl nur dem Umstand, dass man diesen Demetrios fälschlich für den aus Phaleron hielt, der ebenfalls in den Peripatos gehört und als Historiker, Politiker und Rhetor tätig war. Die Theorie des Demetrios weicht in einigen Punkten signifikant von der im Hellenismus offenbar ausgearbeiteten sogenannten Dreistillehre ab. Bei Demetrios finden wir nicht drei Stile, einen niedrigen, einen mittleren und einen hohen, sondern es werden vier unterschiedliche Charaktere aufgestellt. Diese bezeichnet er zu Beginn seines Traktates (§ 36) als elementare Charaktere: der einfache (iœσχνο´ /ischnos), der erhabene (μεγαλοπρεπη´ /megaloprepes), der glatte, elegante (γλαφυρο´ /glaphyros) und der gewaltige (δεινο´ /deinos). Aus diesen elementaren Stilen gehen weitere durch Mischungen hervor. Die Mischung jedoch ist nicht zwischen jedem der vier möglich, sondern es können sich der einfache mit dem eleganten, der einfache mit dem gewaltigen und der großartige mit dem eleganten, jedoch nicht der einfache mit dem großartigen, noch auch der gewaltige mit dem eleganten mischen. Die Struktur des Traktates verfolgt nun diese vier einfachen Stilformen, indem sie jeweils in drei Bereichen vorgestellt werden. Diese Bereiche sind: 1) Gedankeninhalte (δια´ νοια/ dianoia, πρα´ γματα/pragmata), 2) Lexis (sprachlicher Ausdruck, aber auch Wortwahl) und 3) συ´ νθεσι/synthesis (Zusammensetzung bzw. Fügung von Wörtern in einem Satz). Grundlagen für diese Betrachtungen sind in den Abschnitten 1⫺35 gelegt, wo über den Satz (περι´οδο/periodos) und das Glied (κv˜ λον/kolon) (§ 10⫺12) gehandelt wird. Diese Reihenfolge wird jedoch nicht immer streng eingehalten.
3.1. Der großartige Stil (χαρακτη` ρ μεγαλοπρεπη´ /charakter megaloprepes) So beginnt die Darstellung des großartigen Stiles mit der Synthesis und zwar am Beispiel des großartigen Autors schlechthin, nämlich des Historiographen Thukydides. Der einleitende Satz seiner Beschreibung der Pest: „es begann aber das Übel aus Äthiopien“ (hœρξατο δε` το` κακο` ν eœξ Aiœθιοπι´α/erxato de to kakon ex Aithiopias, vgl. Th. 2,48,1) wird von Demetrios als paeanisch strukturierter Satz interpretiert; die Bedeutung des Paeans für den frühen Prosarhythmus ist uns durch Thrasymachos gesichert, der den ersten Versuch eines mit Paean rhythmisierten Prosastiles gemacht haben soll (Diels/ Kranz 1961, Nr. 85 A11). Ein anderes Beispiel (§ 44) gewinnt er ebenfalls aus Thukydides, und dieses betrifft die Länge der Kola. Die Stilistik des Einleitungssatzes des Thukydides wird dem Autor gerade im Vergleich mit dem Prooemium des Herodot evident. Denn bei Herodot ende der Satz abrupt und auf diese Weise würde die eigentümliche Würde des Stiles zunichte gemacht. Das Prinzip, dass der Stil den Gegenständen analog sein soll, wie dies schon Aristoteles mit dem Begriff des Ziemenden (πρε´ πον/prepon) gefasst hat (Arist. Rhet. 3,1, 1404b18; 1408a10), belegt er mit einem Satz (§ 45), der den Fluss Achelοos beschreibt und dabei den Hörer ebenso wenig zur Ruhe kommen lasse, wie der Fluss zur Ruhe komme, da er durch mehrere Gebiete fließt. Dieser Eindruck wird durch die Häufung von Partizipialkonstruktionen erreicht, wie der Autor durch
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einfache Veränderung und Auflösung solcher Konstruktionen belegen kann. Der Effekt dieser Partizipialkonstruktionen ist, dass der Satz nicht vorzeitig an ein Ende kommt, sondern die Spannung des Rezipienten bis zum Einsetzen des Prädikates gehalten wird. Ein anderer Aspekt von Großartigkeit kann durch den Zusammenklang von Vokalen erreicht werden. Großartiger Stil vermeidet auch klanglich glatte Formulierungen und strebt stets eine heroische Ruppigkeit an; auch hierfür dient Thukydides als Beispiel. Die eigentliche Synthesis, also die Anordnung der Wörter im Satz, strebt beim großartigen Stil nach einer deutlichen Hervorhebung der wichtigsten Wörter am Ende des Satzes. Dabei können einzelne korrespondierende Glieder durchaus auf den engen Verbund entsprechender Partikeln verzichten; jede exakt befolgte Korrespondenz mache den Eindruck der Großartigkeit durch zu große Akribie vielmehr zunichte. Andere emphatische Partikeln jedoch sind gerade Indikatoren großartigen Sprechens. Mit dem Begriff der Synthesis werden auch die Figurationen gefasst (§ 59). Großartig wirke der harsche Zusammenprall von Vokalen (Hiat), der üblicherweise gerade vermieden wird. Man kann also sagen, alles das, was der normale Sprecher oder auch der gepflegte Stil meidet, kann Ausdruck großartigen Sprechens sein, weil es sich vom Normalen abhebt. Tropen wie die Metapher oder der detailliert ausgeführte Vergleich sind ebenfalls Ausdruck des großartigen Stiles, nämlich aufgrund der spezifischen Verfremdung (§ 78 ff.). Hier gilt freilich der aristotelische Grundsatz, dass die Auswahl der Vergleichsbereiche im sinnvollen Verhältnis zum auszudrückenden Sachverhalt stehen sollte. Ebenso sollte auch der Gebrauch nicht überhand nehmen, weil sonst der Eindruck dichterischer Sprache entstehen könnte (Dithyramben). Es ist bezeichnend für diese Auffassung der Großartigkeit, dass der Autor gerade den Gebrauch von Metaphern bisweilen für genauer und wahrheitsgemäßer hält als die Verwendung von Worten in den eigentlichen Bedeutungen. Etwa der homerische Vergleich von der schaudernden Schlacht (Hom. Il. 13,339: ε φριξεν δε` μα´ χη/ephrixen de mache: es schauerte die Schlacht) sei ein Beispiel dafür, dass man den zugrunde liegenden Sachverhalt nicht mit Lexemen in ihrer eigentlichen Bedeutung ausdrücken könne. Der Klang der zusammengeschlagenen Speere würde gerade die „schaudernde“ Schlacht (φρι´σσουσα μα´ χη/phrissusa mache) bezeichnen (§ 82). Dabei würde man die Schlacht gewissermaßen als ein Lebewesen ansprechen, das die Haare aufstelle. Der Charakter der Großartigkeit könne auch durch die zugrunde liegenden Sachverhalte zum Ausdruck gebracht werden. Solche können etwa Schlachten zu Lande oder zu See sein oder Beschreibungen des Himmels oder der Erde. Dabei jedoch müsse beachtet werden, dass nicht schon die Gegenstände an sich die Großartigkeit hervorbrächten, sondern erst die Art und Weise, wie darüber gesprochen werde. Also, nicht das Was der Rede, sondern das Wie der Rede ist für die Großartigkeit ausschlaggebend. Denn nur wenn über großartige Dinge in großartiger Weise gesprochen wird, ist der Grundsatz der Angemessenheit erfüllt. Der Maler Nikias könne hierfür als Beispiel angeführt werden: habe dieser doch behauptet, dass ein nicht geringer Bestandteil der zu beurteilenden Malerei auf die Wahl des richtigen Sujets falle: man dürfe die Techne nicht dadurch „zerkleinern“, dass man niedrige Gegenstände wie Vögel oder Blüten wähle, sondern Pferdeschlachten, Seeschlachten und dergleichen, wobei viele Schemata aufgewiesen würden von laufenden oder sich aufbäumenden Pferden, von Reitern, die einen Speer schleudern oder herabstürzen (§ 75⫺76). Die Verfehlungen des großartigen Stiles liegen darin, nicht die Angemessenheit zu wahren; dieses kann sich in denselben drei Bereichen vollziehen, die auch bei der Analyse des großartigen Stiles von Belang sind. Bei der Darstellung des Frostigen hält sich Deme-
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trios eng an Aristoteles, der in der Rhetorik bereits dieselben Regeln formulierte. In der Synthesis werde etwa Frostiges durch einen nicht rhythmischen Wechsel langer und kurzer Silben bewirkt; oder auch dadurch, dass der Eindruck der Rhythmisierung nicht durch Unterbrechung an bestimmten Einschnitten wieder verwischt wird. Die Frostigkeit entspricht daher der leeren Prahlerei (aœλαζονει´α/alazoneia), denn der Prahler behauptet, dass ihm etwas zu Gebote stünde, was tatsächlich nicht der Fall ist. Aus diesem Grunde sei auch die Hyperbole für den großartigen Stil ungeeignet: sie bezeichne ein Unmögliches (aœδυ´ νατον/adynaton) und durchbricht damit das Prinzip der Glaubwürdigkeit. Die Folge ist ein komödisches Element, denn die Sachverhalte werden ins Lächerliche gezogen. Ausnahmen können hier nur bei ingeniösen Dichtern gefunden werden, dann nämlich, wenn die Übertreibung einen spezifischen Liebreiz generiert (χα´ ρι/charis), mit charis ist auch ein zentraler Terminus des eleganten Stiles gemeint.
3.2. Der elegante Stil (χαρακτη` ρ γλαφυρο´ /charakter glaphyros) Der elegante Stil besteht aus zwei Elementen, dem Anmutigen und dem Heiteren. Im nicht-rhetorischen Kontext bedeutet γλαφυρο´ /glaphyros ,hohl‘, z. B. in Bezug auf einen Schiffskörper, so etwa in den homerischen Epen; das Verbum γλα´ φω/glapho bedeutet ,aushöhlen‘, ,ausgraben‘ (Il. 2,454; 2,516 u. ö.). Der so bezeichnete Charakter scheint die feine und genaue Bearbeitung der sprachlichen Mittel zu implizieren (,polieren‘ oder ,ausarbeiten‘). Der Autor differenziert, indem er den Begriff der charis auf die Chariten erweitert: im Bereich der Dichtung gebe es größere und würdigere, doch habe auch die Prosa die ihr eigenen Chariten. Als Beispiele werden genannt: Aristoteles, Sophron und Lysias. Hierbei können einzelne urbane Ausdrucksweisen (aœστει¨σμοι´ /asteismoi) bereits die Grenze zum Lächerlichen überschreiten, wenn z. B. ein Rhetor von einem alten Menschen sagt, man könnte dessen Zähne leichter zählen, als seine Finger (§ 128). Die dichterischen Chariten würden von Homer vorbildlich angewandt, jedoch nicht nur für eine angenehme Unterhaltung, sondern insbesondere zur Erzeugung von Schrecken und Angst. So etwa, wenn er den Zyklopen Polyphem sagen lässt: „Utis [Niemand] aber werde ich als Letzten verspeisen, die anderen aber zuerst, das ist das Gastgeschenk des Zyklopen.“ Dieser Ausspruch mache den Zyklopen viel furchtbarer als alles andere, was von ihm erzählt werde, etwa wie er die beiden Gefährten des Odysseus verspeise, oder wie von der großen Tür und von seinem baumstammgroßen Knüppel berichtet werde. Damit aber nähere sich Homer auch dem aœστει¨σμο´ /asteismos (§ 130), also der witzigen, urbanen Ausdrucksweise. Diese Form hat insbesondere Xenophon kultiviert, der auch im Folgenden immer wieder als Paradeigma angeführt wird. Eine andere wichtige Zeugin ist dem Autor die frühgriechische Dichterin Sappho (§ 132, 140 ff.). Eine Funktion dieses eleganten Stiles ist es, auch über Gegenstände, die unangenehm und abscheulich sind, in einer kultiviert-witzigen Form zu sprechen, so dass der Zuhörer in eine freudige Stimmung gerät und nicht in eine angstvolle. Diese Funktion des Charakters mag wohl auch für jene homerischen Beispiele gelten, die das Grausame in einer urbanen Form präsentieren. Verfehlungen des eleganten Stiles werden ,falscher‘ oder ,schlechter Eifer‘ genannt (κακο´ ζηλον/kakozelon, § 186). Man gerät dabei auf eine falsche Bahn, indem der Redner den schmalen Grat zwischen witziger Unterhaltung und burlesker Bufferie verlässt. Die von Demetrios gebrachten Beispiele zur δει´νωσι/deinosis (§ 131) könnten dem entsprechen, was anfangs über die Möglichkeit der Mischung verschiedener Charaktere an-
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gekündigt worden war. Sowohl Homer als auch Xenophon wenden die Mittel des eleganten Stiles auch zum Effekt der Deinosis an, d. h. der Beeindruckung des Publikums, wenn sie die Furcht oder verwandte emotionale Zustände evozieren wollen. Auch die Hyperbole (y«περβολη´ /hyperbole, Übertreibung) kann im eleganten Stil verwendet werden. Sappho nutzt sie jedoch anders, als sie im großartigen Stil gebraucht werden könnte, indem sie sich, wie Demetrios behauptet, bei der Formulierung selbst wieder zurücknimmt (§ 148): Wenn der Bräutigam mit Ares verglichen wird und hinzugesetzt wird, dass er um vieles größer sei als ein großer Mann. Denn mit dieser Formulierung würde sie sich selbst korrigieren, weil sie sich bewusst würde, dass sie eine unmögliche Übertreibung benutze, da ja kein Mensch dem Ares gleich sein könne. Im Bereich der Figurenlehre ist die Anadiplosis (aœναδι´πλωσι/anadiplosis), die Wiederholung des selben Wortes, anaphorisch oder auch epiphorisch (§ 140) für den eleganten Stil kennzeichnend. Entsprechend der vorher ausgeführten Bedeutung urbaner Schlagfertigkeit wird in § 156 das Proverbium zu einem Inhaltsaspekt des eleganten Stiles erhoben. Wichtiger Referenz-Autor ist Sophron. Dieselbe Funktion erfüllen auch die Fabeln, für die Aristoteles genannt wird, (offenbar als eine Art angenehmer Unterhaltung) oder auch die Erleichterung, wenn sich eine Angst als unbegründet erweist (§ 159). Ebenso können Vergleiche (εiœκασι´αι/eikasiai) den Effekt des eleganten Stiles erfüllen (§ 160). Der Gebrauch von Übertreibungen (y«περβολαι´ /hyperbolai) tendiert dann aber schon in den Bereich der Komödie (§ 161⫺162). Der Unterschied zwischen dem Lächerlichen und dem Eleganten besteht zumal in der Wahl der Sujets: Eleganz ergibt sich durch die Wahl von Nymphenhainen oder Eroten, also solchen mythischen Figuren, die an sich nicht lächerlich sind, das Lächerliche aber etwa finde sich in Figuren wie dem Bettler Iros oder dem hässlichen Thersites. Der Autor begnügt sich hier wieder mit Beispielen und bemüht sich nicht um eine definitorische Differenzierung zwischen dem Lächerlichen und dem anmutig Erheiternden. Man hat in der Literatur auf Parallelen zum sogenannten Codex Coislianus verwiesen (Chiron 1993, XC), einer der wenigen uns fassbaren theoretischen Traktate über die Komödie, da uns ja die Ausführung des Aristoteles in der Poetik über die Komödie nicht erhalten ist. Zum Unterschied des galanten Unterhalters und des Komödianten ist § 168 aussagekräftig. Sie unterscheiden sich nämlich durch ihre Wahl (προαι´ρεσι/proairesis), der eine wolle erheitern, der andere verlacht werden. Grundsätzlich aber eignet sich die Tragödie nicht für den eleganten Stil (§ 169). Das würde nämlich dazu führen, dass man ein Satyrspiel anstelle der Tragödie verfasse.
3.3. Der schlichte Stil (χαρακτη` ρ iœσχνο´ /charakter ischnos) Der schlichte Stil (§ 190⫺222) ist durch äußerste Einfachheit der Mittel charakterisiert. Er ist das genaue Gegenteil zum großartigen Stil, da er einfach ist und sich eng am Sprachgebrauch orientiert. Es geht ihm vor allen Dingen um die Deutlichkeit und dieser Aspekt verbindet ihn mit der oben ausgeführten aristotelischen Lehre des richtigen Stiles zwischen den Extremen der Deutlichkeit und der Verfremdung. Interessanterweise findet sich hierbei auch wieder der Gedanke der Unterscheidung zwischen dem schriftlichen und dem mündlichen Stil, den Aristoteles am Ende der Rhetorik betrachtet (Rhet. 3, 1413b3 ff.). Um vor allen Dingen Ambiguitäten zu vermeiden, bemüht sich der einfache Stil darum, entscheidende Wörter wieder aufzunehmen (eœπανα´ ληψι/epanalepsis, § 196). Die einzelnen Kola dürfen auch nicht zu lang sein, da sonst das Satzgebilde unüber-
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sichtlich wird (§ 204). Die wichtigste Stiltugend ist die eœνα´ ργεια/enargeia: sie wird dann erreicht, wenn man sich möglichst genau ausdrückt und nichts von dem auslässt, was einem schnellen Verständnis hilfreich ist. Die Kakophonie, also der unschöne Zusammenprall von Vokalen, ist dann tolerabel, wenn im einfachen Stil eine Nachahmung (μι´μησι/mimesis) von Gegenständen in der Sprache vollzogen ist (§ 219⫺220). An diese Ausführungen zur Schlichtheit schließt sich ein Exkurs über die epistularische Techne, (Wissenschaftslehre zur Fertigung von Briefen bzw. Briefstellerei) an (§ 223⫺235). Der Brief hat nämlich eine besondere Affinität zum schlichten Stil, da er als ein Spiegel der Seele definiert wird (κα´ τοπτρον τη˜ ψυχη˜ /katoptron tes psyches) und als ein Teil eines Dialoges. Der verfehlte einfache Stil besteht in zu großer Sprödigkeit. Demetrios nennt dieses Verfehlen den trockenen Stil. Hier wird all das übertrieben, was den schlichten Stil gerade auszeichnet. Die Gegenstände werden als zu klein dargestellt. In der Lexis bleibt das Prinzip der Angemessenheit unberücksichtigt, wenn selbst über bedeutende Gegenstände mit „kleinen Worten“ geredet wird. Auch werden in der Synthesis zu viele und zu kurze Kommata als spröde empfunden.
3.4. Die Eindringlichkeit (δεινο´ τη/deinotes) Der vierte Stil ist der Stil der Eindringlichkeit; er wird nach dem selben Schema behandelt wie die vorangegangenen. In der Synthesis zeigt sich die Eindringlichkeit dadurch, dass statt Kola Kommata verwendet und überhaupt längere Satzgebilde vermieden werden: Jede Länge verursacht eine Form von Ausführlichkeit, die der Eindringlichkeit zuwider läuft. Dagegen gelten symbolisch-allegorische Formulierungen als besonders eindringlich. Wenn Periodenbau vorliegt, dann ist darauf zu achten, dass die Prägnanz am Ende liegt, ähnlich wie beim großartigen Stil. Die archaische Ausdrucksweise ist dem gegenüber offener und zeigt einen irgendwie lauteren Charakter des Sprechers an. Demetrios jedoch wendet sich dem zu seiner Zeit besonders gewünschten Stil der Eindringlichkeit zu. Selbst Antithesen oder Parhomoia sind zu vermeiden, da sie zwar ein gewisses Gewicht anzeigen, jedoch nicht eigentlich auf den Punkt bringen, wie es die Eindringlichkeit erforderlich mache. Die Spontaneität jedoch, die sich aus den Dingen selbst zu ergeben scheint, ist ein geeignetes Stilmittel. Solche Spontaneität kann sich etwa in lakonischer Kürze, die auch die Undeutlichkeit (aœσα´ φεια/asapheia, § 254) nicht zu meiden braucht, ausdrücken. Dasselbe gilt für unschön aufeinander treffende Vokale (Kakophonie), die dazu dienen können, die Fiktion zu schaffen, der Sprecher spreche ex tempore. Ein wesentlicher Zug dieser Eindringlichkeit wird in der kynischen Diatribe realisiert. Die Kyniker übten sich in einer schroffen Kritik an den Sitten ihrer Mitmenschen und fassten solche Äußerungen oft in knappe Dikta. Wir haben eine ganze Reihe solcher facete dicta in der antiken Literatur überliefert (z. B. bei Valerius Maximus, Aulus Gellius und bei Livius vgl. Schanz/Hosius 1935, 588⫺595; Sallmann 1997, 68⫺73). Interessant ist, dass dieselben Beispiele genannt werden wie für den eleganten Stil. Die im eindringlichen Stil verwandten Gedankenfiguren sind auch solche der Kürze, also die praeteritio, das Übergehen von Punkten oder auch die Aposiopese, der plötzliche Abbruch im Sprechtext. Bei den Wortfiguren rangieren Anadiplosis, in der Form von Anaphern und Epiphern ganz oben, oder auch der Verzicht auf Satz- oder Kolon-Konnektoren. Schließlich erfreut sich auch die Klimax, die steigernde Aneinanderreihung von einzelnen Punkten durch Wiederaufnahme des zuletzt genannten Wortes der Beliebtheit. Die verfehlte
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Form des eindringlichen Stiles ist der unangenehme (aχαρι/acharis, § 302⫺304). Dieser besteht darin, über schändliche und schwer auszudrückende Sachverhalte ganz offen (aœναφανδο´ ν/anaphandon) zu sprechen. Bei der Synthesis entsteht der Eindruck des Unangenehmen dann, wenn die Tendenz zur Verknappung der einzelnen Kommata zu weit getrieben wird, so dass zwischen den einzelnen Bestandteilen keinerlei Verbindungen mehr erscheint.
4. Rhetorica ad Herennium In der Herennius-Rhetorik wird der Abhandlung der Figurenlehre die Lehre der genera dicendi vorangestellt. In 4,11 hält der Autor fest, es gebe drei genera, die er figurae nenne, nämlich die figura gravis, die figura mediocris und die figura attenuata. Die figura gravis bestehe aus einer flüssigen und mit Wortschmuck versehenen Konstruktion gewichtiger Worte, die mittlere bestehe aus Wörtern, die im mittleren Sprachbereich anzutreffen sind, die figura attenuata bediene sich der geläufigsten Verben eines korrekten Sprachgebrauches. Die einzelnen Stile werden in der Folge jeweils durch Beispiele illustriert; die Definition ist knapp und stereotyp gehalten. Der schwere Stil bedient sich besonderer Ausdrücke, nämlich entweder eigentlicher Bezeichnungen oder übertragener, außerdem können gewichtige Sentenzen zum Zweck der Amplifikation oder der Erregung von Mitleid eingesetzt werden. Ebenso müssen die Wort- und Gedankenfiguren eine spezifische gravitas aufweisen. Der mittlere Stilbereich reduziert den Einsatz dieser sprachlichen Mittel auf ein Mittelmaß. Im einfachen Stil werden diese Mittel noch weiter reduziert. Die Grenze gibt hier die virtus der Sprachrichtigkeit (latinitas) an. In 4,15⫺18 werden nun die Verfehlungen aufgezeigt, die jeder einzelne Stil aufweisen kann. So dürfe etwa der schwere Stil nicht „aufgeblasen“ (sufflatus) wirken. Dieser Begriff wird wiederum mit der Metapher der körperlichen Konstitution illustriert; der deutsche Begriff Schwulst (von schwellen) leitet sich von dieser Metapher ab. Dieser übertriebene Schmuck kann entweder durch neuartige oder altertümliche, nicht mehr gängige Wörter bewirkt werden. Eine andere Möglichkeit der Verfehlung ist ein zu kühner metaphorischer Gebrauch von Ausdrücken. Die Gefahr beim mittleren Genus besteht darin, zu wenig auf die Verknüpfung der einzelnen Satzteile zu achten, so dass die Wort- und Satzkonstruktion instabil wird. Ähnlich wie bei Demetrios wird auch beim Anonymus der verfehlte einfache Stil als ,trocken‘ bezeichnet (aridum et exsangue genus). Für den Theoretiker scheint klar, dass es die rhetorischen Figuren sind, die den einzelnen Redeformen ihr spezifisches Gepräge geben. Der Autor fordert außerdem, dass die unterschiedlichen Stilniveaus in ein- und derselben Rede abgewechselt werden müssten. Er begründet dies mit dem allgemeinen Prinzip der varietas: also dem Prinzip, dass Abwechslung gefällt. Für alle drei Redestile gelten nun noch die allgemeinen virtutes elocutiones (§ 17⫺18).
5. Cicero: Orator In der stilkritischen Schrift Der Redner (Orator) kommt Cicero in den §§ 69⫺99 auch auf die Dreistillehre zu sprechen. Für Cicero ist die ganze Frage des richtigen Redestils eine aktuelle Debatte, der er sich auch selbst als Redner ausgesetzt sieht. Es ist daher
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sein Bestreben, in dieser theoretischen Schrift die Fragen des Stiles mit fundamentalen rhetorischen Aufgaben zu verknüpfen und von dieser Position aus die polemisch geführte Diskussion über den Unterschied der sogenannten attizistischen und asianischen Redner zu betrachten. Der wahrhafte beredte Redner (eloquens) beherrsche die drei officia oratoris, nämlich des sachlichen Unterrichtens (docere), des Erfreuens und Geneigtmachens der Zuhörer (delectare) und auch der affektischen Beeinflussung des Publikums (movere). Diese officia stehen nun in enger Relation zu den von ihm erkannten und aus der Tradition bereits geläufigen genera dicendi: dem genus subtile, das beim Unterweisen (in docendo) angewandt wird; das genus modicum, das beim Geneigtmachen und Unterhalten des Publikums Verwendung findet (in delectando) und das genus vehemens, also der hohe Stil, der bei der affektischen Beeinflussung (in flectendo) angewandt wird. Für Cicero ist die Perspektive auf den Orator gerichtet: Was muss der Textproduzent im Auge haben, wenn ihm diese unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten zu Gebote stehen? Cicero fordert vom Redner die Fähigkeit, die Situation und den Gegenstand, der behandelt wird, auf seine persuasiven Möglichkeiten hin zu prüfen. Dabei kommen insbesondere die Personen, mit denen er als Redner zu interagieren hat, in Betracht und auch die allgemeine Sachlage, in der sich Redner und Publikum befinden. Der Redner muss sehen, was sich ziemt (decere), und diese Aufgabe erfordert bereits ein Höchstmaß an Kompetenz. Doch ist diese Kompetenz wiederum so allgemeiner Natur, dass man sagen kann, wer diese Aufgabe nicht meistert, wird auch sonst im Leben mit erheblichen Problemen zu rechnen haben. Es geht nämlich bei diesen Fragen um eine Form des richtigen Gebrauchs von sprachlichen Mitteln, die sich im Grunde nicht von der Frage des richtigen Handelns unterscheiden. Während es Philosophenschulen gibt, die den Begriff der Pflicht (το` καθη˜ κον/to kathekon) in einer absoluten Form untersuchen und damit auch das richtige Handeln gewissermaßen more geometrico feststellen wollen, gibt es durchaus auch andere, die die Wahl der richtigen Handlung mehr im Bereich der allgemeinen Vernünftigkeit ansiedeln. Der Redner muss nun nicht nur im gesamten Fall, sondern auch in den einzelnen Teilen des Falles sich immer wieder darüber klar werden, wie sich Inhalt und Form (Ausdruck) zueinander verhalten. Zwar muss jeder Redner seine eigene Form finden, das heißt, Cicero toleriert individuelle Unterschiede gerade im Hinblick auf die Akzeptanz einer individuellen Person durchaus, doch gibt er zu bedenken, dass im Allgemeinen Übertreibungen erheblich mehr Ablehnung evozieren, als eine Reduktion der eingesetzten Mittel. Diese Unterscheidungen führt Cicero noch weiter, indem er dieses decere vom Notwendigen (oportere) unterscheidet. Während letzteres die perfectio officii (Vollendung des Gebotenen) bedeutet, ist das decere die Suche nach dem Passenden für die Zeitumstände und für die Person. Dies gelte sowohl für den sprachlichen Ausdruck als auch für alle Aspekte der actio. Die Universalität dieses Grundsatzes ergibt sich für Cicero aus der Analogie mit den Dichtern, die ihren Figuren passende, alsο plausible Reden in den Mund legen müssen, und auch in der Malerei, wo die Maler wissen müssen, was darstellbar ist und was nicht. Zeichentheoretisch gewendet, könnte man sagen, dass Cicero auf die jeweiligen semiotischen Spezifika hinweist, die es zu berücksichtigen gilt. Cicero widmet die ausführlichste Darstellung dem Orator Atticus (attizistischem Redner). Diese Ausführlichkeit ist dem eingangs erwähnten Umstand zuzuschreiben, dass Cicero sich in der Diskussion um den richtigen Stil, die zwischen den lateinischen Attizisten und den von diesen als asianisch verschrieenen Rednern mit einer gemäßigten Observanz geführt wurde, mit apologetischen Absichten zu Wort meldet. Der Orator Atticus ist derjenige, der sich am engsten an die consuetudo (alltäglichen
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Sprachgebrauch) anpasst. Dieses scheinbar einfache Sprechen ist in Wirklichkeit jedoch höchst schwierig, da es sich um eine künstlich hergestellte Einfachheit handelt. Allgemeine Merkmale dieses Stiles sind das scheinbare Fehlen einer exakten Ausarbeitung im Bereich der Wortfügung und auch des Periodenbaus. Cicero prägt hierfür den oxymoralen Begriff der neglegentia deligens (sorgfältige Sorglosigkeit), da sie bewusst das Zusammentreffen von Vokalen (Hiat) herbeiführen will. Die virtutes, die hierbei berücksichtigt werden, sind bis auf den Begriff des rhetorischen Schmucks (ornatus, gr. κατασκευη´ / kataskeue) durchaus gewahrt. Tropische Ausdrucksweise ist durchaus möglich, doch bleibt sie auf einige wenige Fälle beschränkt. Hierbei kann auch wiederum der Sprachgebrauch (norma loquendi) zitiert werden, in welchem sogar die einfachen Leute Metaphern benutzen, um den Zustand des Getreides oder des Rebstocks zu bezeichnen. Auch Witze sind erlaubt, vielleicht sogar erforderlich, um die stilistisch sehr reduzierte Form des sprachlichen Schmuckes nicht um die allgemeine rhetorische Forderung nach delectare zu bringen. Doch auch diese Mittel bleiben immer sehr sparsam angewandt. Während die Attizisten seiner Tage diese Form des delectare bereits als ungebührlichen Schmuck ablehnen, kann Cicero auf die attischen Redner (Lysias, Hyperides, Demades, Demosthenes) verweisen, um die echt attische Natur solchen Sprechens zu belegen. Die Formen des γελοι˜ον/geloion und der χα´ ρι/charis führen uns auf die Abhandlung des Demetrios (s. o. Der elegante Stil (3.2)), der ebenfalls für den χαρακτη` ρ γλαφυρο´ /charakter glaphyros diese Kategorien verwandte. Der mittlere Stil wird nach dieser ausführlichen Besprechung des einfachen Stiles als eine Steigerung all jener Mittel verstanden, die im einfachen Stil zur Anwendung kommen. Hierbei spielen insbesondere Übertragungen eine Rolle, die von Cicero in zwei Formen unterschieden werden, dem mutare und dem transferre. Transferre geschieht immer durch eine similitudo (Ähnlichkeit), mutare ersetzt einen gewöhnlichen Ausdruck oder solchen eigentlicher Bedeutung durch einen anderen. Die griechischen Entsprechungen werden hier als Hypallage (y«παλλαγη´ ), Metonymia (μετωνυμι´α) und Katachrese (κατα´ χρησι/katachresis) bezeichnet. Der mittlere Stil erweist sich somit als ein insbesonders von Philosophen gepflogener, der seinen Ursprung aus der Lexis der Sophisten nicht verleugnen kann. Das genus grande übt die höchste Wirkung auf die Rezipienten aus (tractare, movere). Denn dieses genus hat es zumal auf die opiniones der Rezipienten abgesehen. Damit ist aber auch der Zielpunkt rhetorischen Handelns überhaupt bezeichnet; es nimmt daher nicht Wunder, dass Cicero dem orator tenuis als dem Orator Atticus im besten Falle das Prädikat magnus zubilligen will, nur die besten Redner indes seien dem genus grande gewachsen. Dieser Redner (gravis, acer, ardens) müsse seine Wortgewalt jedoch mit Stilmitteln der beiden anderen zuvor behandelten Genera gewissermaßen abmischen, andernfalls könne es ihm passieren, dass er vor seinem Publikum als wahnsinnig erscheine. Mit dieser Formulierung ist ein zentrales Problem des genus grande im Kontext der officia oratoris formuliert: Es kann nur gelingen, auf die Einstellung der Rezipienten einzuwirken, wenn zuvor durch das delectare ein emotionaler Kontakt hergestellt ist und auch die Sachlage hinreichend deutlich im genus tenue vorgestellt ist (docere). Andernfalls würde ein mit zu vielen sprachlichen Mitteln aufgeladener Stil von den Rezipienten nicht mehr akzeptiert werden. Der Einsatz affektischer Mittel ist also von den analogen emotionalen Zuständen im Publikum abhängig. Vor dem Hintergrund der bisher behandelten Stillehre ist diese Einsicht wichtig: hatte Aristoteles noch von der Analogie, von Sachverhalt und sprachlichen Mitteln als den zentralen Punkten gesprochen und die vitia als ein Abweichen von dieser Analogieregel bezeichnet, so erweist sich für Cicero das Problem komplexer. Die Analogie
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ist ein Wesensmerkmal, jedoch nicht das allein entscheidende der richtigen Stilwahl. Wichtiger ist, dass die Rezipienten dem emotionalen Weg des Redners folgen können. Die durch die Verknüpfung der drei Redegenera mit den drei officia oratoris entstandene Konzeption führt Cicero nun zur conclusio seiner Stilüberlegungen (§ 100⫺101). Der orator perfectus ist derjenige, der alle drei Stilarten beherrscht und sich nicht auf einen Stil beschränken muss. Da er in verschiedenen Teilen seiner Rede verschiedene officia erfüllen muss, ist das Programm der Attizisten zu unbeweglich für die verschiedenen Fälle, in denen ein Orator zu agieren hat. Cicero mildert diese Kritik an den Attizisten dadurch ab, dass er zu Bedenken gibt, dass sein orator perfectus die Idee der eloquentia selbst ist, also Prinzipielles aufzeigen möchte, ohne den Anspruch auf eine vollständige Verwirklichung zu erheben. Damit wendet Cicero die Frage nach der Unterscheidung von drei Stilarten gemäß individuellen Vorlieben dahingehend um, dass es nicht um solche unterschiedlichen Stilarten als solche geht, sondern um die vom orator perfectus zu beherrschenden Stilhöhen, und zwar mit dem Ziel, seine Rezipienten zu überzeugen.
6. Quintilian Eine ähnlich umfassende Behandlung lässt Quintilian im zwölften und letzten Buch seiner Institutio oratoria Kap. 10, 1⫺80 der Frage des genus orationis zuteil werden. Er beginnt denkbar allgemein mit dem Vergleich der Rhetorik und anderer Künste, der Malerei und der Bildhauerei, und kommt zu dem Ergebnis, dass es zu verschiedenen Zeiten je verschiedene Ziele bei Stilfragen gegeben habe und dass es nicht nur individuelle, durch den Redner bedingte Stilunterschiede gebe. Dies betrifft die Entwicklung der einzelnen artes. Gleichwohl kann man zeitbedingte Fehler konstatieren, die man vor der ars als einer überzeitlichen Instanz vermeiden sollte. Dies ermöglicht nun Quintilian eine Taxonomie der Redner, die Cicero an die Spitze stellt. Er erwähnt auch, dass Cicero zu Lebzeiten von den Attizisten wegen seines, ihrer Meinung nach nicht rein attischen Stiles angegriffen wurde. Die ganze Diskussion der Attizisten und deren Gegner beruht nach Quintilian jedoch auf einem Missverständnis: die römischen Attizisten sprechen sich für eine Sprachform aus, die das Lateinische phonetisch gar nicht realisieren könne. Daher könne die einfache Form der attischen Sprache nicht in gleicher Weise dem römischen Hörer auf Latein zugemutet werden. Quintilian leitet aus dieser Tatsache eine gewisse Lizenz gegenüber den weitgehenden Beschränkungen ab, die die Attizisten dem lateinischen Redner auferlegen wollen. Ein anderer Aspekt des rhetorischen Stiles wird in der Differenzierung durch Mündlichkeit und Schriftlichkeit offenbar: ohne es eigens auszudrücken, schließt Quintilian sich mit dieser Diskussion Gedanken an, die Aristoteles im dritten Buch seiner Rhetorik formuliert hatte (Rhet., 1413b3 ff.). Der schriftliche Stil einer Rede ist komplexer und erlaubt eine höhere Sprachform als der für den mündlichen Vortrag bestimmte, dennoch müsse beachtet werden, dass die schriftliche Ausarbeitung einer gehaltenen Rede sich nicht zu weit von der mündlichen Performanzleistung entfernen dürfe. Quintilian ist sich bewusst, dass viele Redner nur durch deren schriftliche Reden bekannt und überliefert worden sind. Daher möchte er die schriftliche Rede als monumentum orationis habitae (Denkmal der einst gehaltenen mündlichen Rede) verstanden wissen. Bei der eigentlichen Dreistillehre (§ 58⫺76) lehnt er sich mit knappen Hinweisen an die von Cicero eingeführte Konvergenz der officia
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oratoris und der tria genera orationis, bzw. dicendi an (s. o. 5. Cicero). Ebenso folgt er dessen Taxonomie, wenn er dem genus grande den größten Erfolg verspricht. Das untermauert und illustriert er mit den homerischen Rednern, die er in der Reihenfolge Menelaos für das genus subtile, Nestor für das genus medium und Odysseus für das genus grande vorstellt. Wie Cicero aber empfiehlt Quintilian, dass der Redner nicht auf einen Stil festgelegt ist, sondern seinen Stil je nach Situation und Sachlage anwenden müsse. Die Frage der Anwendung sprachlicher Mittel selbst wird durch das aptum reguliert. Dieser Gedanke entspricht dem des decere bei Cicero. Die Frage des richtigen Stiles wird von Quintilian dahingehend fortgeführt, dass es neben den drei Hauptstilen unzählige gebe, die sich durch Mischungen dieser drei Hauptqualitäten ergäben. Warum aber, so fragt er sich, kann es geschehen, dass die Zuhörer an einem Stil Gefallen empfinden, der nach Gesichtspunkten der ars als verfehlt (vitia-Lehre) angesehen werden muss? Die Antwort für Quintilian ist denkbar einfach: Den Zuhörern mangelt es an Vergleichsmöglichkeiten; würden sie neben der von ihnen zunächst als gelungen empfundenen Rede eine Rede eines wirklich versierten Redners hören, müssten sie den Unterschied einräumen. Die Taxonomie der Reden richtet sich also nach dem iudicium der Rezipienten.
7. Dionysios von Halikarnassos In den stilkritischen Traktaten des Dionysios findet sich auch eine Adaption der Dreistillehre, und zwar in seiner Darstellung des Demosthenes im Rahmen seiner Abhandlung Über die alten Redner (s. Art. 1: Rhetorik und Stilistik der griechischen Antike 3.4., wo die Schrift Über die alten Redner besprochen wird). Dionysios setzt, wie auch schon Demetrios (s. o. 3.1. Der großartige Stil und 3.2. Der elegante Stil), Lysias und Thukydides als stilistisch diametral entgegengesetzte Autoren an und ordnet zwischen diesen Extremen alle anderen Stile an. Der dritte Stil findet sich daher in der Mitte zwischen diesen Extremformen und wird allgemein als gemischt (λε´ ξι μικτη` και` συ´ νθετο/lexis mikte kai synthetos) bezeichnet. Neben Thukydides wird auch Gorgias dem aufwendigen, zumal in der Epideiktik verwandten Stil zugerechnet. Die Charakteristika sind: Abweichung vom normalen Sprachgebrauch, ,geschraubte‘ Wendungen, die mit viel Wortschmuck durchsetzt sind. Thukydides selbst hat dies in einer bislang unerreichten Form vorgeführt. Er repräsentiert also einen idealen und überzeitlichen Kanon. Auf der anderen Seite steht Lysias, dessen Sprache einfach und ungekünstelt, so wie die alltägliche Rede der Menschen, wirke. Dieser Stil wird in verschiedenen Prosabereichen gepflegt: bei den Historiographen, den Philosophen und den Rednern. Lysias und Thukydides entsprechen den obersten und untersten Tönen einer Tonleiter, zwischen denen sich alle anderen Töne finden lassen. Während Thukydides seine Zuhörer überwältige, und deren Sinne gefangen nehme, könne sich der Zuhörer des Lysias entspannen. Die unterschiedlichen Wirkungsweisen werden auf die Begriffe Pathos (Thukydides) und Ethos (Lysias) gebracht. Dies entspricht der Bedeutung dieser beiden Beweismittel bei Quintilian. Den mittleren Stil soll der Sophist Thrasymachos von Chalkedon erfunden haben. Diese Charakterisierung soll von Theophrast stammen. Wichtigste Rezipienten dieser Richtung waren Isokrates, Platon und Demosthenes, dem ja dieser Essay eigentlich gilt. Offenbar also (der Text ist leider lückenhaft) sah Dionysios die Notwendigkeit, die
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eigentümliche Stilqualität des Demosthenes allererst als Mischung von zwei Extremen konzipieren zu können, dass diese Auffassung historisch nicht triftig ist, zeigt Grube 1952. Über die Aspekte der Beurteilung der Stile haben wir in der fragmentarisch überlieferten Schrift Über die Nachahmung (De imitatione, Epitome § 3) einige Bemerkungen und auch in der Schrift Über Thukydides (§ 22⫺23). In Über die Nachahmung vergleicht Dionysios Thukydides und Herodot miteinander; während sie in der Wortwahl ihrem jeweiligen Dialekt treu bleiben, ergeben die anderen Qualitäten eine Art von Beurteilungskatalog von Stilmerkmalen: Genauigkeit (σαφη´ νεια/sapheneia), Kürze (συ´ ντομον/syntomon) und Deutlichkeit (eœναργε´ /enarges) sind von Theophrast und der Stoa her bekannt (s. Art. 85); Sprachreinheit (also keine Mischung der Dialekte), Deutlichkeit und Kürze werden auch als „notwendige Vorzüge“ bezeichnet (Thukydides 23). Ethische und pathetische Qualitäten könnten auf den Bereich des Schmuckes zu beziehen sein; es folgen schöner Ausdruck (καλλιλογι´α/kallilogia), Großartigkeit (μεγαλοπρε´ πεια/megaloprepeia) und Begriffe, die auf eine gewisse Dynamik des Stils verweisen (r«ω´ μη/rhome, iœσχυ´ / ischys, το´ νο/tonos). Außerdem gibt es rezipientenorientierte Begriffe wie Anmut (χα´ ρι/ charis), Gefälligkeit (πειθω´ /peitho), aber auch Schlichtheit (aœφε´ λεια/apheleia). Diese scheinen zu den zusätzlichen Vorzügen zu zählen (vgl. Thukydides 23). In Thukydides 22 gibt Dionysios die Bereiche an, wo sich diese Stilqualitäten ablesen lassen: Einerseits ist dies die Ausdrucksebene (κυρι´α/kyria, bzw. τροπικη` φρα´ σι/tropike phrasis eigentlicher oder tropischer Ausdruck), die durch die Auswahl der Lexeme gestaltet wird, andererseits der Satzbau (Synthesis), welcher durch den Bau von Perioden und kleineren Einheiten (Kola, Kommata) zu differenzieren ist. Für die Stiltheorie des Autors ist dessen Auffassung von Mimesis und ζη˜ λο/zelos/ Eifer grundlegend. Erstere ist ihm „eine Wirksamkeit, die aufgrund eines theoretischen Konzeptes ein Vorbild (παρα´ δειγμα/paradeigma) anfertigt“, letzterer ist „eine Wirksamkeit der Seele, die sich zur bewundernden Betrachtung des als schön Empfundenen hinreißen lässt“ (De imitatione, Fr. 3 u. 5). Beide Begriffe zusammen erklären das Vorgehen, aus mustergültigen Werken und Autoren einzelne Merkmale herauszuheben und daraus einen Tugendkatalog gelungener Stilistik abzuleiten.
8. Ps.-Aristeides: Über die politische Rede (Περι` πολιτικου˜ λο´ γου/Peri politiku logu) Überliefert unter dem Namen des großen Sophisten Aelius Aristeides ist eine rhetorische Techne in zwei Büchern, die auf mehrere Autoren zurückgeht, die wichtigsten sind Basilikos von Nikomedien (2. Jh. n. Chr.) und Dionysios von Milet (unter Kaiser Hadrian). Das erste Buch ist der Stilistik der politischen Rede gewidmet, worunter man offenbar das genus causae der beratenden Rede zu verstehen hat. Tatsächlich finden sich überwiegend Beispiele von Reden dieses Genus. Es geht dabei um eine Bewertung und Beschreibung von Stilphänomenen, die nicht mehr auf ein Schema von drei oder vier Hauptstilen zu beziehen sind, sondern als Ideen den Stil konstituieren und differenzieren. Im Traktat ´ μη/gnome/ werden 14 benannt und behandelt und zwar nach den Aspekten Inhalt (γνω Sentenz), Figuration (σχη˜ μα/schema/Figur) und Sprach- bzw. Ausdrucksform (aœπαγγελι´α/ apangelia/Lexis). Diese 14 Ideen entsprechen denjenigen Qualitäten, die die genera-di-
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cendi-Konzeption als Merkmale der einzelnen Stile aufgestellt hat. Doch in der späteren Theorie der Ideen werden die Merkmale nicht mehr zu Stilen gebündelt, sondern werden, ähnlich den platonischen Ideen, zu quasi selbstständigen Konstituenten. Der Sinn solcher Ideen kann darin gesehen werden, dass sie eine größere Variabilität der Beschreibung und auch der Nachahmung erlauben. Man kann sich füglich fragen, ob die Anzahl a priori festgelegt ist oder nicht doch mehr oder weniger beliebig erweiterbar ist. Bei der Darstellung der einzelnen Ideen fällt zudem auf, dass sie bei den ersten Ideen ausführlicher ist als bei den später behandelten. Die genannten drei Bereiche, in denen sich die Idee ausprägen kann, müssen auch nicht bei jeder Idee einschlägig sein, auch ist der Bereich der Figuration nicht einfach mit rhetorischen Figuren gleichzusetzen. So finden sich die hier aufgeführten Figuren Diastasis (δια´ στασι/diastasis) und Apostasis (aœπο´ στασι/apostasis) nicht im Repertoire der klassischen Figurenlehre, wohl aber das Bild (εiœκω´ ν/eikon) und die Sentenz (γνω´ μη/gnome). Es geht also um Figurationen im weiteren Sinne, die zumal als Gedankenfiguren fungieren. Oftmals fehlt sogar ein knapper Begriff, und der Autor umschreibt statt dessen eine seiner Meinung nach spezifische Ausdrucksweise einer Idee. Es wird also keine Figurenlehre geben, sondern es werden konkrete Textbausteine vorgestellt, die der Schüler nachahmen kann. Musterautor ist hier stets Demosthenes, der auch im späteren Traktat des Hermogenes prominent ist. Die Lexis im engeren Sinne kann etwa im Falle der σεμνο´ τη/semnotes, Würdigkeit (§ 2⫺34) eine Nominallastigkeit aufweisen oder generische Ausdrücke im Sinne der Synekdoche (die hier jedoch nicht genannt wird). Ein rhetoriktheoretisch interessanter Begriff ist der der Glaubwürdigkeit (aœξιοπιστι´α/axiopistia, § 89⫺108), da Aristoteles seine Stiltheorie insgesamt auf das Konzept der Glaubwürdigkeit (πιθανο´ ν/pithanon) abstellt (s. o. 2.1 Aristoteles). Basilikos gibt nur Inhalt und Figuration als Bereiche der Axiopistia an. Inhaltlich kann sich ein Redner mit Formulierungen wie das kann man leicht zeigen eine Vertrauenswürdigkeit verschaffen oder durch Schwüre; das hätte man übrigens auch als figurativen Ausdruck (obsecratio) bezeichnen können, was hier unterbleibt. Bei den σχη´ ματα/schemata indessen wird behauptet, dass Formulierungen, die statt des Fraglichen auf Unstrittiges verweisen, am besten mit Evidenzausdrücken wie Ihr seht ja, wie ... besondere Glaubwürdigkeit bewirken. Die Ideen der Emphase (eμφασι/emphasis), der Heftigkeit (σφοδρο´ τη/sphodrotes) und der Rauheit, Harschheit (τραχυ´ τη/trachytes) werden als einander sehr ähnlich angesehen, doch in zwei eigenen Abschnitten abgehandelt (§ 109⫺123). Man erkennt daraus die Schwierigkeit einer klaren Distinktion der Ideen. Eine heftige Rede verwendet das eœπιφορικο` ν σχη˜ μα/epiphorikon schema (§ 114), eine aggressive Ausdrucksform, die sich der repetitio, der Tautologie und der commoratio una in re (eœπιμονη´ /epimone) bedient, doch auch hier werden die Fachtermini vermieden. Auf der Ausdrucksebene wird Heftigkeit durch die Figur der Übertreibung (y«περβολη´ /hyperbole) hergestellt. Man fragt sich auch hier, ob diese Formen nicht im Abschnitt über die schemata hätten behandelt werden müssen. Die Deinotes (Redegewalt), bekannt bereits durch Demetrios’ Charakter (De elocutione, § 240⫺286), erfährt bei Hermogenes von Tarsos, der die hier vorgestellte Ideenlehre erheblich weiter ausführt, eine monographische Behandlung. Basilikos scheint sie eher knapp abzufertigen, indem er sie nur inhaltlich als Idee untersucht. Eine Rede wirke dann „gewaltig“, wenn der Redner suggeriert, er habe einen Vorteil bereits von langer Hand geplant und nicht ad hoc seine Strategie entwickelt (§ 124). Oder auch wenn er Gegenargumente aus dem Weg räumt, bevor er eine Position vorstellt (§ 126).
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Der als zweites Buch überlieferte Traktat beschäftigt sich allein mit dem einfachen Stil, dessen wichtigster Referenzautor Xenophon ist. Die apheleia (aœφε´ λεια) bildet inhaltlich und formal gegenüber dem politischen Logos eine sehr reduzierte Idee aus. Zusätzlich zu den Bereichen des ersten Buches tritt als vierter der Rhythmus hinzu. In allen Aspekten des schlichten Stiles wird betont, dass dieser höchste Einfachheit produziert. Daher entspricht diese Idee am ehesten dem genus tenue der Dreistillehre, die ja ebenfalls Lysias und Xenophon als Vorbilder empfiehlt. Thematisch scheint es oft um eine Gebrauchsprosa zu gehen, wie sie in der Biographie und einer beruhigten Historiographie gepflogen wird. Man könnte etwa auch an das Attische als Idiom der wissenschaftlichen und unterhaltenden Prosa kaiserzeitlicher Gräzität denken (Dihle 1989, 62⫺72; Dihle 1992). Dementsprechend heißt es zu Beginn: „Und allgemein ist der Unterschied zwischen der Einfachheit (apheleia) und dem politischen Logos derjenige, dass es typisch für die Einfachheit ist, dass sich das Thema einfach entwickle und die Rezeption sich gleichmäßig vollziehe; nirgends gebe es Abbrüche (eœγκοπαι´ /enkopai) oder widersetze sich etwas dem Zuhören. Wo aber im Fortlauf des Textes eine Wendung auftrete und etwas sich dem Zuhören gleichsam entgegenstelle, weil der Satz sich durch einen jähen Abbruch umwende, dort zeige sich bereits eine agonistische Figuration und der Text werde durch den Rhythmus politischer.“ (1,7)
9. Hermogenes: De ideis Während die Kompilation der rhetorischen Technai des Ps.-Aristeides in vielfacher Hinsicht oberflächlich und wenig strukturiert wirkt, scheint Hermogenes seine Ideenlehre auf einer bereits bestehenden Grundlage weiter entwickelt und verfeinert zu haben. Es spricht alles dafür, dass ihm das Werk des Ps.-Aristeides selbst vorlag. Er legt gegenüber den zwölf Ideen des Ps.-Aristeides zunächst nur sieben zugrunde, nämlich Genauigkeit (σαφη´ νεια/sapheneia), Größe (με´ γεθο/megethos), Schönheit (κα´ λλο/kallos), Vehemenz (γοργο´ τη/gorgotes), Charakter (hÓθο/ethos), Wahrheit (aœλη´ θεια/aletheia), und Gewaltigkeit (δεινο´ τη/deinotes); doch differenziert er diese weiter, so dass er schließlich auf eine erheblich höhere Anzahl von Ideen kommt. Eine andere wichtige Quelle für Hermogenes waren die stiltheoretischen Schriften des Dionysios von Halikarnass, deren Lehre von den Vorzügen des Stiles er vollständig in die Ideenlehre transponiert. Man hat daher den Schluss gezogen, dass die Ideenlehre der kaiserzeitlichen Rhetoriktheorie aus der alten virtutes-elocutionis-Lehre entwickelt worden ist (Hagedorn 1964). Die Ideen werden von Hermogenes als Bausteine (στοιχει˜α/stoicheia) der Rede angesehen; damit möchte er sich offenbar von solchen Theoretikern unterscheiden, die sich am Stil nur eines Redners orientieren. Zwar ist für den Autor Demosthenes der unübertroffene stilistische Meister, doch will er seine Theorie auf eine rationale Grundlage stellen. Diese soll gewährleisten, dass sowohl Textproduzenten als auch Textkritiker ihr Ziel erreichen können. Eine hohe natürliche Begabung sichere nämlich keineswegs den Erfolg und eine mangelnde Begabung könne durch eine rationale Methode der Nachahmung kompensiert werden (Hermogenes De ideis, ed. Rabe, 213⫺218). Die Ideen ihrerseits setzen sich aus weiteren Elementen zusammen: aus den eννοιαι/Gedanken (⫽ Inhalten) einerseits und einer weiter untergliederten Ausdrucksebene (λε´ ξι/lexis), nämlich eœκλογη´ /ekloge, σχη´ ματα/schemata, συ´ νθεσι/synthesis, die sich auf κv˜ λα/kola und r«υθμο´ /rhythmos
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verteilt. Die Gedanken lassen sich in Entsprechung zur Lexis auch durch με´ θοδοι/methodoi figurieren und bilden so die Gedankenfiguren (Hermogenes De ideis, ed. Rabe, 218). Die Deutlichkeit (σαφη´ νεια/sapheneia) ist ein Charakteristikum der von Ps.-Aristeides behandelten apheleia. Sie wird in die Begriffe Reinheit und Durchschaubarkeit (καθαρο´ τη/katharotes, εyœκρι´νεια/eukrineia) aufgegliedert. Auf der Inhaltsebene sind dies geläufige Tatsachen oder Gedanken; die methodos der Reinheit besteht darin, sich nur auf die Tatsachen zu beschränken. Die Diktion soll klar und unumwunden sein; statt der casus obliqui (also der grammatisch komplizierteren Konstruktionen) sollte man möglichst Nominative und finite Verbformen benutzen. Die σαφη´ νεια/sapheneia ist die einfachste Stilform. Um einen aufwendigeren Stil zu gestalten, muss man jene Ideen verwenden, die unter der Rubrik Wert(-haftigkeit) (aœξι´ωμα/axioma) und Größe (με´ γεθο/megethos) behandelt werden: nämlich Ehrwürdigkeit (σεμνο´ τη/semnotes), Aufwand (περιβολη´ /peribole), Rauheit (τραχυ´ τη/trachytes), Glanz (λαμπρο´ τη/lamprotes) und die Akme (aœκμη´ /eig. ,Gipfel‘, ,Spitze‘, ed. Rabe, 242⫺ 296). Die Würdigkeit etwa findet sich ganz ähnlich auch bei Ps.-Aristeides (s. o. 8. Ps.Aristeides). Inhaltlich wird diese Idee durch Geschichten von Göttern oder göttlichen Dingen (Naturphänomen) und menschlichen Vorgängen, die allgemeine Wertschätzung für sich beanspruchen dürfen (Schlachten bei Salamis und Marathon), gefüllt; Gedankenfiguren dieser Idee sind unzweideutige Aussagen, jedoch auch Allegorien. Oft wird Platon als Musterautor genannt, der zumal eine mystisch-emphatische Diktion verwandt habe. Unversehens scheint Hermagoras hier in einen Widerspruch zu geraten; denn auch die genannten Beispiele sind alles andere als deutlich bezeichnend (apophantisch), sondern gerade die von Platon gebrauchten Kautelen verbleiben oft bei Andeutungen. Der Grund, warum Hermogenes hier dennoch Platons mystische Lexis erwähnt, dürfte sein, dass die sich darin aussprechende Zurückhaltung vor dem Unsagbaren ein charakteristisches Moment der mit religiösen Zügen ausgestatteten Idee der Würdigkeit ist. Bei den würdevollen Rhythmen werden nun insbesondere poetische Metren genannt, allen voran der Hexameter, aber auch Anapäste, Päane und Iamben. Nur Trochäen und Ionier bleiben ausgeschlossen. Man fragt sich, warum hier keine Beispiele aus der Prosa verwendet werden, denn grundsätzlich herrsche ja eine Zurückhaltung bei der Übernahme von dichterischen Metren in die Klauseln der Prosa. Die Peribole ist eine vor Ps.-Aristeides bei den Rhetoren nicht geläufige Stilqualität; sie bezeichnet allgemein jede Form der figuralen Erweiterung im Sinne der Vermehrung (αyξησι/auxesis). Strahlender Glanz (λαμπρο´ τη/lamprotes) und Akme bezeichnen eine gewisse Pracht im Ausdruck oder Inhalt; hier liegt der Akzent nicht auf der Verehrung (σεμνο´ τη/semnotes), sondern auf einem für sich einnehmenden Glanz. Es ist unübersehbar, dass sich die Ideenlehre aus den Vorzügen des Stiles entwickelt habe, die Dionysios von Halikarnass in seinen literarkritischen Essays vorgestellt hat und die auch die Vorzüge der Erzählung mitumfassen (Hagedorn 1964, 77).
10. Ps.-Longin: De sublimitate Eine Sonderrolle nimmt die Lehre vom Hypsos des Ps.-Longin ein. Dieses genus dicendi scheint sich zwar zunächst in die Stiltheorie der Antike integrieren zu lassen, doch wird bei eingehenderer Prüfung deutlich, dass das Erhabene weder Idee noch Redestil ist,
86. Niveau der Textgestaltung (Dreistillehre/genera dicendi)
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sondern ein ästhetisches Konzept sui generis. Man kann in diesem zwar Bestandteile der von Dionysios zu Hermogenes sich entwickelnden Ideenlehre wiederentdecken, doch sind sie insgesamt vollständig umgearbeitet. Das Erhabene ist kein Gebrauchsstil wie die anderen, sondern soll die Rezipienten in Ekstase versetzen. Erhabenes Sprechen in diesem speziellen Sinne ist also eine Ausnahmeerscheinung, die auch nur Ausnahmenaturen gelingt. Die Intention des anonymen Autors geht denn auch dahin, in der Literatur erhabenes Sprechen aufzuweisen und zur Nachahmung zu empfehlen.
11. Literatur (in Auswahl) Ps.-Aristeides siehe Patillon (2002). Aristoteles siehe Rapp (2002). Auctor ad Herennium [Cicero] (1998): Rhetorica ad Herennium. Lat./Dt. Hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein. 2. Aufl. München u. a. Brink, Charles O. (1971): Horace on Poetry. The Ars Poetica. Cambridge. Cicero (1988): Orator. Lat/Dt. Hrsg. und übers. von Bernhard Kytzler. 3., durchges. Aufl. München. Chiron, Pierre (1993): De´me´trios Du Style. Paris. Ps.-Demetrios siehe Chiron (1993). Diels, Hermann/Walther Kranz (Hrsg.) (1960/61): Die Fragmente der Vorsokratiker. Griech.⫺dt. 3 Bde. Berlin. Dihle, Albrecht (1989): Die griechische und lateinische Literatur der Kaiserzeit: von Augustus bis Justinian. München. Dihle, Albrecht (1992): Attizismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1, 1169⫺1176. Dionysios siehe Usener/Radermacher (1899). Dührsen, Niels Christian (2005): Wer war der Verfasser des rhetorischen Lehrbuchs Über den Stil (Περι` e«ρμηνει´αw?) In: Rheinisches Museum für Philologie 148, 242⫺271. Grube, George M. A. (1952): Thrasymachus, Theophrastus, and Dionysius of Halicarnassus. In: American Journal of Philology 73, 251⫺267. Hagedorn, Dieter (1964): Zur Ideenlehre des Hermogenes. Göttingen (Hypomnemata, 8). Hendrickson, George L. (1904): The Peripatetic Mean of Style and the three Stylistic Characters. In: American Journal of Philology 25, 125⫺146. Hermogenes siehe Rabe (1913). Kennedy, George A. (1963): The Art of Persuasion in Greece. Princeton. Kennedy, George A. (1972): The Art of Rhetoric in the Roman World. Princeton. Kennedy, George A. (ed.) (1989): The Cambridge History of Literary Criticism. Cambridge. Ps.-Longin siehe Russel (1964). Patillon, Michel (ed.) (2002): Pseudo-Aelius Aristide. Arts rhe´toriques. Le discours politique. Paris. Quintilian siehe Winterbottom (1970). Rabe, Hugo (Hrsg.) (1913): Hermogenis Opera. Stuttgart. Nachdruck Stuttgart 1969 (Rhetores Graeci, 6; Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teuberiana). Rapp, Christof (2002): Aristoteles. Rhetorik. Übersetzung. Einleitung und Kommentar. Berlin (Werke in deutscher Übersetzung/Aristoteles 4,1). Russell, Donald A. (ed.) (1964): On the Sublime. With Introduction and Commentary. Oxford. Russell, Donald A./Michael Winterbottom (eds.) (1972): Ancient Literary Criticism. The Principal Texts in New Translations. Oxford. Sallmann, Klaus (Hrsg.) (1997): Die Literatur des Umbruchs: Von der römischen zur christlichen Literatur; 117 bis 284 n. Chr. München. Schanz, Martin/Carl Hosius (1935): Geschichte der römischen Literatur bis zum Gesetzgebungswerk des Kaiser Justinian. 4 Bde. 4. Aufl. München.
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
Schirren, Thomas (2005): Persuasiver Enthusiasmus in Rhetorik 3,7 und bei Ps.Longin. In: Joachim Knape/Thomas Schirren (Hrsg.): Aristotelische Rhetoriktradition. Stuttgart, 105⫺126. Sowinski, Bernhard (1996): Genrestil. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 3, 750⫺759. Usener, Hermann/Ludwig Radermacher (1899): Dionysii Halcarnasei quae exstant Opuscula 1⫺ 2. Leipzig. Verdenius, Willem J. (1983): The Principles of Greek Literary Criticism. In: Mnemosyne 36, 27⫺58. Volkmann, Richard (1885): Die Rhetorik der Griechen und Römer. Leipzig. Winterbottom, Michael (1970): M. Fabi Quintiliani Institutiones Oratoriae. Libri Duodecim. Oxford.
Thomas Schirren, Salzburg (Österreich)
87. Topik im Rahmen der klassischen Rhetorik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Systematisches Isokrates Rhetorik an Alexander Aristoteles Die Aristotelischen Topika Cicero und Herennius-Rhetorik Quintilian Spätere Rhetoren Literatur (in Auswahl)
Abstract One of the major achievements of rhetoric with regard to systematization is its rule-based doctrine of the theory of findings and proof; the systematic topic introduced by Aristotle provides a set of instruments so that the orator may apply specific argumentation patterns. These can convey more or less precise contents. However, most decisive for this dialectically influenced topic is that the topoi also include structures of reasoning, or may easily be integrated into such. Aristotle categorizes topoi according to their fields of application into specific topoi, topoi which belong to certain speech genera (τα` iδια εiδη/ta idia eide) and into more generally applicable common topoi (κοινοι` το´ ποι/koinoi topoi). The later history of rhetorical topic has returned to its pre-Aristotelian roots in that the suitability of textual building blocks, as exercised in sophistics, has turned into a fixed part of rhetorical instructions; these were called loci communes, but have nothing in common with the koinoi topoi of Aristotle. In contrast, the topoi to be considered were basically limited to the requirements of juridical argumentation. Thus, the topical inventory was also standardized.
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
Schirren, Thomas (2005): Persuasiver Enthusiasmus in Rhetorik 3,7 und bei Ps.Longin. In: Joachim Knape/Thomas Schirren (Hrsg.): Aristotelische Rhetoriktradition. Stuttgart, 105⫺126. Sowinski, Bernhard (1996): Genrestil. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 3, 750⫺759. Usener, Hermann/Ludwig Radermacher (1899): Dionysii Halcarnasei quae exstant Opuscula 1⫺ 2. Leipzig. Verdenius, Willem J. (1983): The Principles of Greek Literary Criticism. In: Mnemosyne 36, 27⫺58. Volkmann, Richard (1885): Die Rhetorik der Griechen und Römer. Leipzig. Winterbottom, Michael (1970): M. Fabi Quintiliani Institutiones Oratoriae. Libri Duodecim. Oxford.
Thomas Schirren, Salzburg (Österreich)
87. Topik im Rahmen der klassischen Rhetorik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Systematisches Isokrates Rhetorik an Alexander Aristoteles Die Aristotelischen Topika Cicero und Herennius-Rhetorik Quintilian Spätere Rhetoren Literatur (in Auswahl)
Abstract One of the major achievements of rhetoric with regard to systematization is its rule-based doctrine of the theory of findings and proof; the systematic topic introduced by Aristotle provides a set of instruments so that the orator may apply specific argumentation patterns. These can convey more or less precise contents. However, most decisive for this dialectically influenced topic is that the topoi also include structures of reasoning, or may easily be integrated into such. Aristotle categorizes topoi according to their fields of application into specific topoi, topoi which belong to certain speech genera (τα` iδια εiδη/ta idia eide) and into more generally applicable common topoi (κοινοι` το´ ποι/koinoi topoi). The later history of rhetorical topic has returned to its pre-Aristotelian roots in that the suitability of textual building blocks, as exercised in sophistics, has turned into a fixed part of rhetorical instructions; these were called loci communes, but have nothing in common with the koinoi topoi of Aristotle. In contrast, the topoi to be considered were basically limited to the requirements of juridical argumentation. Thus, the topical inventory was also standardized.
87. Topik im Rahmen der klassischen Rhetorik
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1. Systematisches Die Rhetoriktheorie hat bereits zu Beginn ihres Auftretens, nämlich im Zuge der sophistischen Bewegung, das Problem erkannt, wie sie die Arbeit am Inhalt des Textes in ein technisches Verfahren bringen kann. Als Erfinder der topoi-Lehre wird der Sophist Protagoras angesehen. So berichtet Cicero in Brutus 46: „Es seien von Protagoras Erörterungen berühmter Themen schriftlich niedergelegt und vorbereitet worden, die man jetzt loci communes nennt.“ Aristoteles kritisiert diese sophistische Methode, sozusagen Textbausteine bereit zu halten, um sie an mehr oder minder passenden Stellen einzubauen, mit folgenden Worten (Arist. Soph. El. 183b38 ff.): „Sie gaben nämlich rhetorische und Frage-Antwort-Redestücke zum Auswendiglernen, von denen beide Interessengruppen glaubten, dass ihre zu verfertigenden Reden in diese Themenbereiche fielen. Deshalb erfolgte diese untechnische Unterweisung im Schnellverfahren für diejenigen, die es von den Sophisten lernten. Nicht nämlich die Techne selbst, sondern dasjenige, was mittels der Techne geschaffen wird, gaben sie weiter und glaubten so zu unterweisen. Wie nämlich einer, der verspricht, die Fertigkeit weiterzugeben, keine Fußbeschwerden mehr zu haben, dann aber nicht das Schusterhandwerk lehrt noch woher man sich so etwas aneignen könnte, sondern viele Arten ganz unterschiedlicher Sandalen anbietet.“ Ungeachtet dieser Kritik scheint sich diese Praxis einer besonderen Beliebtheit erfreut zu haben, denn wir haben aus diesen Werkstätten einige Redestücke erhalten: die Tetralogien des Antiphon, die Helena und den Palamedes des Gorgias, den angeblich von Lysias verfassten Text über die Liebe (eœρωτικο` λο´ γο /erotikos logos) im platonischen Phaidros 230e ff., den der Schüler des Lysias auswendig lernen soll. Von Thrasymachos wird berichtet, er habe Jammerreden (eλεοι /eleoi) verfasst (Arist. Rhet. 1404a14⫺15; Platon Phaidros 267c). Man hat sogar vermutet, dass der Begriff des Hypomnema (y«πο´ μνημα, Erinnerungsstück) in diesem Zusammenhang das weiterzugebende Musterbuch des Meisters an seine Schüler bezeichnet (Kennedy 1963, 57). Die oben zitierte Kritik des Aristoteles geht nun darauf, dass mit solchen Textbausteinen die Rhetorik gerade keinen technischen Anspruch erheben dürfe. Denn eine techne (Kunstlehre) habe die Herstellung zu erklären, nicht fertige Produkte zu liefern. Der Herstellungsgedanke ist bei Aristoteles ein leitendes Thema seiner Rhetoriklehrschrift. In seiner Behandlung der inventio (Findungslehre; Arist. Rhet. Buch 1⫺2) gibt er immer wieder Hinweise für die Produktion. Er differenziert die Frage nach den Inhalten des Textes in zwei Hinsichten: Auf der einen Seite erkennt er die Notwendigkeit von Sachwissen, das der Produzent von Texten haben müsse, wenn er Inhalte überzeugend zur Darstellung bringen möchte; daher gibt er in der Behandlung des spezifischen Inhalts der drei Redegenera die sogenannten Protasen an (προ´ τασι/protasis; s. Art. 86 in diesem Band). Dies sind Sätze mit Sachinformationen, über die der Orator als Textproduzent verfügen muss. Auf der anderen Seite legt er in Rhet. 2,23 einen stark formalisierenden topoiKatalog vor. Begrifflich sondert er die beiden topos-Formen durch die Epitheta eigentümlich (iδιο) und gemeinsam (κοινο´ ): Spezielle topoi für die einzelnen Redegattungen, gemeinsame für alle Redegattung. Diese Unterscheidung jedoch bringt mit ihren unterschiedlichen Adaptationsmöglichkeiten der topoi auch den kategorialen Unterschied mit sich, zwischen einem materialen und einem formalen topos zu trennen. Die gemeinsamen topoi sind eben deshalb Allgemeingut aller Redegenera, weil sie sich als formale Suchanleitung zur Herstellung von Argumenten auffassen lassen, während die speziellen topoi noch in der Tradition der sophistischen Textbausteinlehre stehen, wenngleich sie als Sammlung von Sachinformationen vorgestellt werden.
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
Für die rhetorische Theoriegeschichte des topos-Begriffes sind diese beiden Formen nach Aristoteles nie zugunsten nur einer aufgegeben worden, wenngleich in der Moderne das Interesse an der logischen Suchformel, nicht zuletzt zur Bewältigung von Alltagskommunikation, deutlich überwiegt.
2. Isokrates Wir finden bei Isokrates eine erstaunlich hohe Anzahl von Begriffen, die auch in der Rhetorik des Aristoteles vorkommen. Hierzu zählt auch der Begriff des topos. Schaut man jedoch näher hin, so zeigt sich, dass Isokrates dem topos die Bedeutung eines Gesichtspunktes zuschreibt, den man zur Textproduktion einnehmen kann: So verhelfe einem ein topos dazu, sich lobend zu äußern (Panathenaikos 111; Sendschreiben an Philipp 109). In der Lobrede auf Helena 15 scheint Isokrates dieselbe Vorstellung mit iœδε´ α/ idea zu bezeichnen. Isokrates bezeichnet mit topos und idea also kein Redeversatzstück, sondern einen Gesichtspunkt, ein Thema, das man bei der Textproduktion berücksichtigen kann. Diese Konzeption stellt somit einen Schritt zur Aristotelischen Auffassung dar, ohne dass dem Autor selbst seine Begriffsleistung offenbar geworden zu sein scheint (Sprute 2000).
3. Rhetorik an Alexander Zu diesem Befund eines terminologisch unsteten Umgangs, wie er für die archaische Wissensvermittlung typisch ist, fügt sich die Alexander-Rhetorik. In 1421b32⫺1422a1 will der Autor erklären, wie man Argumente für das Zu- und Abraten auffinden kann: „Ich will nun definieren, was ein jedes von diesen Dingen ist, und zeigen, woher sich bei diesen Material für die Rede gewinnen lässt.“ Solche Felder sind etwa das ungeschriebene Gesetz, Vater und Mutter zu ehren, den Freunden wohl zu tun und sich den Wohltätern dankbar zu erweisen. Der Redner soll sich also im Bereich des ungeschriebenen Gesetzes ,umtun‘, um dort entsprechende Argumente oder Beispiele ,aufzufinden‘. Statt einer Suchformel wird ein thematisches Areal angegeben, in welchem sich Material befindet, das man zur Produktion nutzen kann. Auch hier ist nicht von einer Suchanleitung die Rede, sondern schlicht von einem „Woher“. An einer späteren Stelle (1440a16) könnte für genau diese Bedeutung auch der Begriff topos gebraucht worden sein, doch lautet die überlieferte Lesart tropos (τρο´ πο, Art und Weise), die jedoch mit Recht angezweifelt wird. Es heißt dort nämlich, dass man den Gegner, der sich auf die Gerechtigkeit bezieht, durch den topos widerlegen kann, dass die behauptete Gerechtigkeit hier die größte Ungerechtigkeit darstelle, unmöglich sei und dergleichen.
4. Aristoteles Die differenzierteste Behandlung erfährt der topos-Begriff bei Aristoteles, der, wie oben erwähnt, den materialen und den formalen Begriff kennt. Zunächst zum materialen. Lange Zeit glaubte man, dass Aristoteles den alten topos-Begriff, wie er aus der sophis-
87. Topik im Rahmen der klassischen Rhetorik
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tischen Tradition geläufig war, in sein Protasenkonzept übernommen hätte, und die Protasen als material gefüllte Prämissen verstand, die entsprechende Protasenenthymeme erlaubten, welche nach dem klassischen Syllogismus-Schema geschlossen würden. Mit der Unterscheidung von den „eigentümlichen Topoi“ bzw. den εiδη/eide einerseits und „den gemeinsamen“ (τα` κοινα´ /ta koina) andererseits wäre so auch ein ganz unterschiedliches Schluss-Schema gegeben, da die „echten“ Topoi aus den Kapiteln 2,23⫺24 in topos-typischer Form schließen und nicht in der syllogistischen. Diese Schlussfolgerungen scheinen wenig akzeptabel angesichts eines Autors, der den Bereich der Topik zudem noch monographisch in seinen Topika behandelt hat. Sollte ihm nicht ein größeres integratives Vermögen zugebilligt werden? Man hat daher versucht, diese Sichtweise zu korrigieren, indem man die Darstellung der Protasen im 1. Buch der Rhetorik genauer untersuchte. Es stellte sich heraus, dass dort gerade nicht Prämissen als Aussagen mit zwei Termen aufgelistet sind, wie sie für die Aristotelische Syllogistik bezeichnend sind, sondern statt einzelner Propositionen ganze Schemata solcher Propositionen aufgeführt werden. Durch ,wenn … dann‘ oder ,… denn …‘ verbinden sich einzelne Propositionen zu einer Art Begründungscluster. Inhalte solcher Cluster sind auf die einzelnen Redegattungen abgestimmt, betreffen also das Schöne, das Gerechte und das Vorteilhafte. Daraus hat man den Schluss gezogen, dass Aristoteles nicht zwischen einfachen Sätzen bzw. Prämissen (Protasen) im Bereich der einzelnen Redegenera und einer allgemeinen Topik für alle Redegenera unterscheidet, sondern für beide Bereiche gilt, dass es sich um topoi handelt, die nur nach dem Gegenstandsbereich differieren. Das hat man auch in den einleitenden Bemerkungen des Aristoteles wiedererkennen wollen (Rhet. 1,2, 1358a12⫺ 22): „Dies sind die Topen, die gemeinsam über Fragen der Gerechtigkeit, der Naturwissenschaft, der Politik und vieler anderer, der Art nach unterschiedener Dinge handeln, wie etwa der Topos über das Eher und Weniger. Nicht eher nämlich wird man aus diesem eine Deduktion oder ein Enthymem über Fragen der Gerechtigkeit als über solche der Naturwissenschaft oder was auch immer formulieren; und doch unterscheiden sich diese der Art nach. Eigentümliche (Topen nenne ich die), welche aus Sätzen über eine einzelne Art oder eine einzelne Gattung herrühren, wie es etwa Sätze über naturwissenschaftliche Fragen gibt, aus denen weder ein Enthymem noch eine Deduktion über ethische Fragen zustande kommt, und wie es über ethische Fragen andere Sätze gibt, aus denen kein Schluss über naturwissenschaftliche Fragen möglich sein wird. Ebenso verhält sich dies bei allen. Jene (gemeinsamen) werden einen nicht über eine bestimmte Gattung verständig machen, denn es gibt keinen zugrunde liegenden Gegenstandsbereich“ (Übers. Rapp 2002). Damit scheint deutlich, dass Aristoteles bemüht ist, die materialen Aspekte der Topik möglichst in ein topisches Argumentationsmuster zu integrieren. Der von ihm gebrauchte Begriff der Protase muss dann als Satz aufgefasst werden, nicht als Prämisse im engeren Sinne. Denn zur Prämisse müssten zunächst Teile solcher Sätze gemacht werden (zu dieser ganzen Frage Rapp 2002 2, 263⫺269). So einleuchtend diese Deutung des Befundes in der Aristotelischen Rhetorik auch scheinen mag, muss dennoch beachtet werden, dass Aristoteles in Bereichen, die er einer systematischen Durcharbeitung und Neustrukturierung nicht unterzieht, mit dem alten materialen Toposbegriff arbeitet (Rhet. 1,15; 3,15; dazu Rapp 2002 2, 298⫺300). Man könnte nun sicherlich an vielen Stellen der Spezialtopik zeigen, dass die dort gegebenen Sätze eine überwiegend materiale Funktion haben und der von Christof Rapp gesehene Begründungszusammenhang sehr lose ist. Es ist aber unter Aristoteles-Interpreten auch keine unbekannte Tatsache, dass der Philosoph selbst sich keineswegs immer an seine eigenen begrifflichen Vorgaben hielt.
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
Aristoteles sieht bei Beratungsreden fünf Felder im Kompetenzbereich des Redners (Rhet. 1,4,7, 1359b18⫺1360b3): Finanzaufkommen der Stadt; militärische Fakten (Rüstungsaufkommen der eigenen Stadt im Verhältnis zu den Nachbarn); Kriege der Vergangenheit; Verteidigung des Landes; Handelsaufkommen; Gesetzgebung mit den Feldern Geschichtsschreibung und Ethnographie. Im Falle der Finanzen möge ein Beispiel illustrieren, was das Problem der neuen Deutung von Rapp ist. „Ferner sollte [der Redner] alle Ausgaben der Stadt kennen, damit eine Ausgabe, wenn sie überflüssig ist, gestrichen werden kann und, wenn sie zu hoch ist, verringert werden kann. Denn man wird nicht nur dadurch reicher, dass man das bestehende Vermögen vergrößert, sondern auch dadurch, dass man die Ausgaben verringert.“ (Rhet. 1359b26⫺30) Kenntnis der Ausgaben ist sicherlich ein materialer topos; wenn Aristoteles nun mit „Denn …“ eine Begründung gibt, dann ist dies zwar eine kausale Begründung dafür, wie der Staatshaushalt ausgeglichen werden könnte; ist damit aber auch schon ein topos der Form formuliert: ,Wenn man die Staatskasse möglichst gefüllt halten möchte, kann man entweder die Einnahmen erhöhen oder die Ausgaben verringern‘, beruhend auf dem allgemeineren topos: ,Eine Summe x wird dann höher oder jedenfalls nicht zu sehr reduziert, wenn sie entweder vermehrt wird oder nur wenig verringert‘? Die unbestreitbare Omnipräsenz von topischen Argumentationsmustern kann also den Interpreten dazu verleiten, die spezifische Form mehr oder weniger materialer topoi zu verkennen. Es ließen sich nämlich auch die sophistischen topoi in solche allgemeineren und formalen topoi überführen. Dass die Protasen in 1,4⫺6 kaum anders denn als Sätze im Sinne von Prämissen aufzufassen sind, räumt Rapp selbst ein (Rapp 2002 2, 364⫺365). Die Versuche, die weiteren topoi (Rhet. 1362b32 ff.) eindeutig als formale topoi zu erweisen, bleiben fraglich. Weitere Kompetenzbereiche des Redners betreffen die Frage nach dem Nützlichen (Rhet. 1,6); das Nützliche wird als ein Gut definiert, und als Güter werden Erwerb von materiellen Dingen, Befreiung von Übeln, die Tugenden, die Lust, das Angenehme, das Edle usw. erörtert. Es zeigt sich daran zweierlei: Zum einen orientiert sich Aristoteles konsequent an den Endoxa (τα` eνδοξα), also den Meinungen über derlei Nützliches. Zum anderen werden die einzelnen Gegenstände selbst in einer topischen Form vorgestellt. Denn die Suche nach den einzelnen Protasen vollzieht sich am Leitfaden eines zusammenhängenden thematischen Gewebes, so wie Quintilian später die loci-Lehre als sedes argumentorum definieren wird. Ist also etwa erst einmal das Gut als Befreiung von Übel formuliert, so ergibt sich die Lust als Abwesenheit der Unlust usw. Freilich ist auch klar, dass, wenn man sich an den Endoxa orientiert, es auch zu divergierenden Auffassungen kommen kann. Den Protasen des epideiktischen Genus schickt Aristoteles folgende Definition des Schönen und der Tugend voraus (Rhet. 1,9 1366a33⫺b3; Übers. Rapp): „Schön ist also das, was aufgrund seiner selbst gewählt wird und dabei lobenswert ist, oder das, was gut und dabei aufgrund des Gutseins angenehm ist. Wenn also dies das Schöne ist, dann ist notwendigerweise die Tugend schön; sie ist nämlich gut und dabei lobenswert. Tugend aber ist, wie es scheint, eine Fähigkeit, Güter zu beschaffen und zu bewahren, sowie eine Fähigkeit, viele und große Wohltaten zu erweisen, und zwar alle Arten von Wohltaten bei allen Dingen. Die Teile der Tugend sind Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit, Großgeartetheit, Großgesinntheit, Freigebigkeit, Sanftmut, Klugheit, Weisheit.“ Diese Definition weist eine doppelte Struktur auf, die das Schöne (το` καλο´ ν/to kalon) einerseits als einen Wert an sich fasst, anderseits als einen Beitrag zum Lustgewinn (το`
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h«δυ´ /to hedy, das Angenehme, Lustvolle). Es geht also nicht um eine Definition des Schönen/Guten und der Tugend im engeren, philosophischen Sinne, sondern es werden landläufige Meinungen (im Sinne der Endoxa) genannt. Gleichwohl bemüht sich Aristoteles um eine Begründungsstruktur, die die Tugend als Mittel erscheinen lässt, das Gute zu erlangen und zu bewahren. Die Aufzählung von Teilen der Tugend verfolgt darüber hinaus offenbar den Zweck, weitere Aspekte der Tugend zu benennen. Diese werden anschließend im einzelnen kurz definiert. Wenn der Orator nach Argumenten sucht, könnte er sich daher einer solchen Definition bedienen, um daraus eine Behauptung der Form aufzustellen: ,Person X hat die Fähigkeit bewiesen, Wohltaten zu erweisen; Wohltaten zu erweisen ist aber tugendhaft, Tugend gehört zu den lobenswerten Eigenschaften. X muss also gelobt werden, weil er tugendhaft gehandelt hat.‘ Im Falle eines Teiles der Tugend, wie etwa der Gerechtigkeit (1366b9⫺10): „Gerechtigkeit ist eine Tugend, durch die jeder das Seine besitzt, und zwar so wie es das Gesetz vorsieht“, wäre die Argumentation in ähnlicher Weise als einfacher Subsumtionsschluss zu formulieren: ,X ist gerecht, denn er besitzt nur, was ihm zukommt‘. Man könnte hier von der inventiven Funktion der Topik sprechen. Zugleich ist damit aber auch eine ⫺ wenn auch schwache ⫺ probative Funktion verbunden, denn durch den Rekurs auf die Endoxa ist die Definition der Tugend jedenfalls nicht zweifelhaft, die als Prämisse eines Schlusses gebraucht wird, in welchem einer Person die betreffende Eigenschaft zugesprochen wird. Für das dikanische Redegenus steht das Unrechttun im Mittelpunkt der Topik (Rhet. 1368b6⫺7): „Es sei das Unrechttun ein willkürliches Schädigen gegen das Gesetz.“ Es schließen sich daran Kurzdefinitionen des Gesetzes, der Freiwilligkeit und über Motive des Unrechttuns an (Schlechtigkeit, Ehrgeiz etc.). Solche Definitionslisten können dazu dienen, einen Gegenstandsbereich zu erschließen. Dem Textproduzenten bietet sie eine Möglichkeit, Themenaspekte zu finden, die er verarbeiten kann. In den weiteren Kapiteln 1,11⫺13 untersucht Aristoteles sodann die Lust als Motiv des Unrechttuns, Zustand des Täters und Qualitäten der Opfer des Unrechts und deren Befindlichkeit. Dabei werden die Ausführungen auch sehr ausgedehnt, etwa die zur Lust in 1,11. In der Darstellung dieser Topik scheint Aristoteles selbst unversehens vom Rhetoriktheoretiker zum Psychologen zu mutieren, eine Gefahr, die er grundsätzlich der topischen Inventivik der Rhetorik anzulasten scheint: „In dem Maße nämlich, wie einer Dialektik und Rhetorik nicht wie Vermögen (δυνα´ μει/dynameis), sondern wie Wissenschaften versucht zu etablieren, wird er unvermerkt die eigentliche Natur beider Disziplinen überdecken, da er sich daran macht, sie zu Wissenschaften der zugrunde liegenden Dinge zu machen, aber nicht nur als Vermögen zur Produktion von Texten“ (Rhet. 1,4 1359b12⫺16). Dieser Übergang verdankt sich der Tatsache, dass die Aufstellung von Protasen bereits als Geschäft der jeweiligen Wissenschaften vollzogen wird, obwohl dies nur eine notwendige Voraussetzung ist, als Redner Sachargumente vorbringen zu können. Die Endoxa haben für Aristoteles doppelte Funktion: Zum einen sind sie notwendige Bezugspunkte der Argumentation, insofern die Zuhörer diese Prämissen bereits akzeptieren und daher auch daraus abgeleitete Schlüsse. Auf der anderen Seite aber sieht Aristoteles in der Meinung der Menge und der überwiegenden Anzahl von Spezialisten auch einen Anhalt für die Wahrheit des Sachverhaltes, der ohnehin über ein besonderes persuasives Moment verfügt, da der Mensch sich von der Wahrheit auch leichter überzeugen lasse (Rapp 2002 2, 300⫺308).
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4.1. Allgemeine Topen In Rhetorik 2,22 rekapituliert Aristoteles die Bedeutung der Spezialtopik für die einzelnen Redegattungen; er hält fest, dass ohne diese Sätze, aus denen sich die Prämissen ableiten lassen, ein Textproduzent versagen würde (1396a6⫺7): „Wenn man nichts in der Hand hat, hättest du nichts, woraus du deduzieren könntest.“ Aristoteles fasst dies nun darin zusammen, dass die Protasen der drei Gattungen ausgewählt seien, so dass auch die topoi bestimmt sind, aus denen die Enthymeme über die Gegenstände der drei Gattungen gebildet werden müssten (2,22; 1396b30⫺1397a1). Die Protasen bilden also inhaltlich gefüllte Sätze, aus denen man topoi konstruieren kann, um enthymematische Schlüsse zu bilden. Die Reihung Protase ⫺ topos ⫺ Schluss lässt sich denn auch als Raster über die Abhandlung der Spezialtopik legen. So könnte man auch erklären, warum es immer wieder schwer fällt, zwischen mehr oder weniger argumentativen Strukturen der Spezialtopik zu differenzieren. Was nun folgen soll, sind allgemeinere topoi, die generell beweisend oder widerlegend sind. Die Liste dieser 28 topoi in 2,23 ist nicht systematisch strukturiert, sie haben aber alle das gemeinsame Merkmal, dass sie auf alle drei Argumentationsformen aller drei Redegattungen anwendbar sind. Der erste topos lautet beispielsweise (Rhet. 2,23, 1397a7⫺ 12): „Ein beweisender Topos ergibt sich aus den konträren Gegensätzen; man muss nämlich prüfen, ob dem Kontrarium ein (anderes) Kontrarium zukommt, beim Aufheben, ob es nicht zukommt, beim Aufstellen, ob es zukommt, wie zum Beispiel: Besonnen zu sein ist gut; denn zügellos zu sein ist schädlich. Oder wie es im Messeniakos (des Alkidamas) heißt: ,Wenn der Krieg Ursache für die gegenwärtigen Übel ist, dann muss man die Dinge mit Frieden wieder in Ordnung bringen.‘“ Aristoteles sieht in diesem topos die Möglichkeit der Argumentation aus dem Kontrarium: Wenn sich P zu S konträr verhält, dann gilt dies auch für das Gegenteil von P und von S, nämlich P’ und S’, aber auch für das Prädikat p zu P und das Prädikat s zu S. Wenn also gilt, p kommt P zu, dann kann auch für s geschlossen werden, dass es S zukommt. Dieser topos ist ähnlich denen, die Aristoteles in seiner Monographie Topika verwendet; so findet sich in Topika 2,7, 113a20⫺23: Wenn S ein Akzidenzprädikat A zukommt, kann S nicht (zur selben Zeit) das (konträre) Gegenteil A’ zukommen (vgl. Rapp 2002 2, 751). Ebenfalls mit den topoi aus den Topika verwandt (Christof Rapp 2002 2, 287 spricht hier von „Topik-affinen“ topoi) ist topos Nr. 4 (Rhet. 2,23, 1367b13⫺15; Übers. Rapp): „Ein weiterer Topos ergibt sich aus dem Eher und Weniger, wie zum Beispiel: ,Wenn schon die Götter nicht alles wissen, dann wohl kaum die Menschen.‘ Denn das bedeutet: Wenn etwas dem, dem es eher zukommen könnte, nicht zukommt, dann ist offensichtlich, dass es auch nicht dem zukommt, dem es weniger zukommen könnte.“ Diese Affinität kann darin aufgewiesen werden, dass konstitutive Merkmale eines Topik-topos auch in einem Rhetorik-topos vorhanden sind. Solche Merkmale nennt Rapp (2002 2, 273⫺274): Zunächst gehe es darum, Prämissen aufzufinden (inventorischer Schritt), dann diese daraufhin zu prüfen, ob sie mit den etablierten Meinungen, die relevant sind (Endoxa), auch vereinbar sind. Schließlich solle ein Schluss aus solchen Prämissen zum gewünschten Ergebnis erfolgen. Bei den einzelnen topoi finden sich daher eine allgemeine Verfahrensanleitung, ein Schlussschema der Form ,wenn … dann‘ sowie erläuternde Beispiele. Das möge folgender topos verdeutlichen (Arist. Top. 113a20⫺23; nach Rapp 2002 2, 274): „Ferner, wenn etwas dem Akzidens entgegengesetzt ist, muss man prüfen, ob es auf das zutrifft, von dem gesagt wurde, dass das Akzidens darauf zutreffe. Wenn jenes nämlich
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darauf zutreffen sollte, dann dürfte dieses nicht zutreffen. Denn es ist unmöglich, dass die entgegengesetzten Dinge zugleich auf dasselbe zutreffen.“ Einen anderen Typus von topoi stellen die argumentativen topoi dar, die in ihrer Anwendbarkeit erheblich reduziert sind, da sie keine allgemeinen Regeln voraussetzen, sondern man auf bestimmte Gegebenheiten einer Situation rekurriert, wie vorherige Behauptungen, die im Widerspruch zu späteren stehen (topos 5); Motivationsfragen (topos 20); Möglichkeiten, um Verdachtsmomente aufzulösen (topos 23). Schließlich finden sich noch nicht-argumentative topoi, etwa, wenn empfohlen wird, dem Gegner genau den Vorwurf zurückzugeben, den er gerade erhoben hat. Dies ist eine Anweisung ähnlichen Formats wie wenn Gorgias empfiehlt, den Gegner auszulachen. Auch Argumente ex nomine gehören hierher: ,Du bist streitsüchtig, wie dein Name Thrasymachos (,scharf kämpfend‘) bereits anzeigt‘.
5. Die Aristotelischen Topika Die Monographie zur dialektischen Topik versteht sich als allgemeine Anleitung, wie ohne Spezialkenntnisse allein aus der Kenntnis von allgemein akzeptierten Sätzen und argumentativen Formen Thesen etabliert oder widerlegt werden können (Top. 100a18⫺ 27, Übers. Wagner/Rapp): „Die Abhandlung beabsichtigt, ein Verfahren zu finden, aufgrund dessen wir in der Lage sein werden, über jedes vorgelegte Problem aus anerkannten Meinungen zu deduzieren und, wenn wir selbst ein Argument vertreten, nichts Widersprüchliches zu sagen. […] Eine Deduktion ist also ein Argument, in welchem sich, wenn etwas gesetzt wurde, etwas anderes als das Gesetzte mit Notwendigkeit durch das Gesetzte ergibt.“ Die Topik sei eine allgemeine Lehre, wie die Disputation einer These durch dialektische Argumente durchgeführt werden kann. Ein Angreifer versuche dabei, eine zuvor behauptete These durch dialektische, d. h. nicht fachspezifische Einwände, sondern solche formaler Art zu entkräften oder zu widerlegen. Die Formalität bestehe speziell darin, zu prüfen, ob eine bestimmte (allgemeine) Konklusion zu einer bestimmten (allgemeinen) Prämisse passt oder nicht. Dialektisch würden sich solche Disputationen dann vollziehen, wenn es darum geht, Konklusionen solcher Prämissen zu bilden, die den Gegner zur Aufgabe seiner Position zu zwingen vermögen (Wagner/Rapp 2004, 7⫺9). Während die Topik also eine regelgeleitete Disputation zwischen zwei Disputanten ermöglichen will, versucht die Rhetorik lediglich bestimmte topoi für enthymematische Schlüsse zu nutzen. Aristoteles bezeichnet das Enthymem auch als rhetorischen syllogismos. Dies ist ein Schluss, der den kommunikativen Bedingungen der Rede vor einem größerem Publikum höchst unterschiedlicher Kompetenz angepasst ist: die Prämissen gelten als allgemein akzeptiert und können daher oft sogar implizit bleiben bzw. müssen nicht von weit her geholt werden (Rhet. 1357a7⫺22, 1395b24⫺26; Rapp 2002 2, 229⫺230). Da es bei Argumentationen, wie sie die Rhetorik betrachtet, stets um Dinge und Bereiche geht, die kontingent sind, haben die Prämissen ihrerseits auch keine strenge Gültigkeit, sondern sind vielfach nur wahrscheinlich, da sie Wahrscheinliches betreffen. Enthymematische Schlüsse operieren deshalb öfters mit Anzeichen und Wahrscheinlichem, ohne dass dies ein notwendig konstitutives Merkmal des Enthymems wäre (Rapp 2002 2, 230⫺232). Der Nutzen, den der Orator aus den Topoi ziehen kann, liegt dann zumal darin, dass sich ihm ganze Listen von topoi bieten, aus denen er solche Argumente
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wählen kann, die ihm zweckdienlich sind. Grundsätzlich lassen sich solche topoi-Listen dahingehend differenzieren, ob sie spezielle sind oder allgemeine im oben dargelegten Sinne (Rapp 2002 2, 237⫺238).
6. Cicero und Herennius-Rhetorik 6.1. Ciceros De inventione Die nächste uns greifbare Station innerhalb der Rhetoriktheorie ist Ciceros Jugendschrift De inventione. Die Topik erscheint hier fest integriert in die Inventivik der gerichtlichen Statuslehre (s. Art. 33 in Band I). In den partes orationis (s. Art. 91 dieses Bandes) werden die loci der confirmatio auf die adtributa personis und die adtributa negotiis verteilt, denn jeder Sachverhalt könne in der Argumentation entweder durch diejenigen Aspekte definiert werden, die sich auf die Handlungsträger, oder diejenigen, die sich auf die Umstände (später circumstantiae/Umstände genannt) beziehen. Zu den adtributa personis gehören nomen (Name), natura (allgemeine Eigenschaften wie Mann, Nationalität, Verwandte), virtus (Erziehung und berufliche Laufbahn), fortuna (Freier oder Sklave, reich, Macht etc.), habitus (erworbene Eigenschaften, gewolltes Erscheinungsbild), affectio (psychische Disposition), studia (philosophische oder literarische Interessen), consilia (Handlungsplanung), facta, casus, orationes (außerhalb der Verhandlung stehende Taten, Ereignisse und Reden, die einbezogen werden können) (De inv. 1,34⫺36). Cicero schließt mit einem Resümee diese Kurztopik des Gerichtsgenus ab: Jede Argumentation, die aus diesen loci bestehe, sei entweder wahrscheinlich oder notwendig. Vor dem Hintergrund der aristotelischen Topik wird deutlich, dass der topos als formale Anleitung zur Herstellung eines rhetorischen syllogismos zurücktritt und die Inventivik sich auf die Angabe von Themen beschränkt, die der Orator durchzugehen hat, um geeignete Argumente auszuwählen. Der deutliche Praxisbezug dieser Topik führt zu einer Reduktion an Komplexität der topoi. Doch was ist aus den aristotelischen allgemeinen topoi (κοινοι` το´ ποι/ koinoi topoi) geworden? Diese erscheinen in De inventione 2,47⫺49, und zwar im Rahmen der Argumentationslehre im status coniecturalis (s. a. Art. 33 in Band I unter 4. Hermagoras): „Denn bei jedem Fall ist ein Teil der Argumente nur dem Fall zugehörig, der zur Verhandlung steht und aus diesem selbst entnommen (daher können sie, von diesem getrennt, nicht wohl zu allen Fällen derselben Gattung übertragen werden), ein Teil aber ist weiter gefaßt und paßt entweder zu allen Fällen derselben Gattung oder doch zu den meisten. (48) Diese Argumente, die sich auf viele Fälle anwenden lassen, nennen wir Gemeinplätze (loci communes). Denn der Gemeinplatz enthält eine gewisse Erweiterung entweder einer eindeutig bestimmbaren Sache […] oder einer unbestimmten und zweifelhaften Sache, die auch gegenteilige, wahrscheinliche Argumentationsgründe aufweist. […] Ein Teil der Gemeinplätze wird durch Empörung oder Wehklage eingeleitet, […] ein Teil durch irgendein wahrscheinliches Argument, das in beide Richtungen, pro und contra, gebraucht werden kann. […] Aller Redeschmuck nämlich, in dem die meiste Anmut und Würde besteht, und alles, was durch die Auffindung der Sachaspekte und der Gedanken eine gewisse Würde aufweist, kommt bei den Gemeinplätzen zur Anwendung.“ Cicero unterscheidet hier zwei Typen von Argumenten, nämlich solche, die nur zu dem einen zu verhandelnden Falle gehören, und solche, die auch auf alle anderen Fälle dessel-
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ben Redegenus übertragen werden können. Diese werden daher loci communes genannt. Diese dienen amplifikatorischen Zwecken, und zwar sowohl wenn sie hypothetisch, d. h. in einem konkreten Fall, angewendet, als auch wenn sie für eine thesis, d. h. eine allgemeine Frage herangezogen werden. Cicero verändert also die aristotelische Unterscheidung der speziellen und allgemeine Topik dahin, dass die spezielle für den konkreten Fall gilt, die allgemeine für dasselbe Genus. Zusätzlich führt er die von Hermagoras begründete Unterscheidung in Thesis und Hypothesis ein (s. a. Art. 1 in Band I unter 3.3.2. Hermagoras von Temnos). Offenbar versucht Cicero so die verschiedenen Grade der Verallgemeinerbarkeit von loci zu steuern. Diese Option zur Verallgemeinerung lässt nun sogar als Gedankenfiguren genutzte Äußerungen wie die indignatio und die conquestio als loci erscheinen, da sie einer festgelegten Form folgen. Freilich sind diese so allgemein, dass sie auch von der Gegenseite genutzt werden können. Dass man Gerüchten keinen Glauben schenken solle oder dass an Gerüchten immer etwas Wahres sei (,ohne Feuer kein Rauch‘), findet sich bei Aristoteles auch als ein topos, der wegen seiner defizienten syllogistischen Form aber eher als Sonderfall anzusehen ist (s. o.). Es ist diese allgemeine Form, die Cicero zufolge den Orator zur Vorsicht gemahnen müsse: denn sein Produkt gewinne erst dann an Profil, wenn diese allgemeinen loci nicht zu häufig eingebracht würden und vor allem erst dann, wenn der beweisende Part der Argumentation bereits abgeschlossen sei (De inv. 2,49). Denn zwar würden sich alle amplifikatorischen Mittel als besonders wirkungsmächtig erweisen, da sie sprachlichen ornatus mit bedeutungsvollen Inhalten verknüpfen, doch liege gerade in dieser prominenten Gestalt auch eine Gefahr, da wegen der leichten Applikationsmöglichkeit die Relevanz des spezifischen Falles nicht mehr wahrgenommen werden könne. Deshalb sei gerade diese Versatzstückrhetorik schwierig und überfordere den Anfänger: nur der erfahrene Orator verfüge über Routine im Umgang mit und einen großen Schatz an solchen Elementen. Auf diese allgemeinen produktionstheoretischen Aspekte folgt nun der besondere Teil, in welchem solche in-utramque-partem-Argumente aufgelistet werden, die in Konjekturalprozessen Verwendung finden, z. B. dass man Gerüchten grundsätzlich glauben solle oder gerade nicht usw. In der weiteren Behandlung der einzelnen status wird die Topik stets berücksichtigt, so kann man im status definitionis (Begriffsstatus) den ,Gemeinplatz‘ (locus communis) anbringen, dass es empörend sei, wenn Übeltäter sich nicht nur Macht über die Dinge, sondern auch über die Benennungen der Dinge anmaßen; und der Verteidiger könne sich auf einen ähnlichen berufen, indem er dem Kläger vorwirft, er versuche, nur um den Beklagten in Gefahr zu bringen, nicht nur die Sachlage zu verwirren, sondern auch neue Benennungen einzuführen (De inv. 2,55). Beim status translationis könne man den Gemeinplatz anbringen, der Gegner wolle das Gericht fliehen oder es drohe ein ungerechtes Verfahren, wenn man die translatio nicht vollziehe (2,61). Für die amplifizierenden Gemeinplätze gelte grundsätzlich, dass sie sich nur nach der konkreten causa richten, nicht nach dem genus causae. Zwar könnten sie grundsätzlich in jedes genus causae fallen, doch hängt ihre Verwendbarkeit von den konkreten Umständen des Falles ab, insbesondere davon, ob überhaupt ein Potenzial zur Affekterregung gegeben ist (2,56).
6.2. Rhetorica ad Herennium Auch in der Herennius-Rhetorik finden wir eine locus-Lehre. Ihr systematischer Ort ist in der argumentatio der einzelnen status. Bezeichnenderweise ist diese loci-Lehre vor-
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nehmlich als letzte Bekräftigung vorausgegangener Argumente zu sehen. In 2,9 heißt es daher: „Die Bestätigung (adprobatio) wenden wir zum Schluss an, wenn der Verdacht bereits hinlänglich bewiesen wurde. Sie umfasst sowohl eigentümliche loci als auch gemeinsame (proprii, communes).“ Die loci proprii könnten nur vom Ankläger bzw. Verteidiger genutzt werden, während die communes beiden Kontrahenten offen stehen, da sie jeweils das Vertrauen in Zeugen stärken oder untergraben, Gerüchten Glauben schenken oder Glauben entziehen wollen usw. Der Schlussteil einer Rede (s. Art. 91 dieses Bandes unter 4. Auctor ad Herennium) bestehe aus Aufzählung der wichtigen Punkte, Amplifizierung und Erregung von Mitleid. Die amplificatio könne durch zehn loci communes erreicht werden (2,48⫺49): Wenn man zeigt, dass der Fall im Interesse von bedeutenden Persönlichkeiten/Wesen liegt (locus ab auctoritate) oder wer davon betroffen wird oder was passieren würde, wenn das zu Verhandelnde zu einem Präzedenzfall würde usw. Im Unterschied zur Schrift des jungen Cicero erscheint die loci-Lehre in der HerenniusRhetorik noch eingegrenzter auf die Erregung von Affekten.
6.3. Ciceros Topica Der ältere Cicero widmet der juristischen Topik ein eigenes Werk, die Topica, die er nicht zufällig nach der Schrift des Aristoteles benennt. Im Inhalt jedoch ist diese Spezialschrift weit mehr an den Bedürfnissen des damaligen Juristen orientiert und nicht an einer dialektischen Disputationskunst (Fuhrmann 2000). Gleichwohl ist darin ein Kategoriensystem verarbeitet, das Cicero möglicherweise von dem Akademiker Antiochos von Askalon übernommen hat. Die direkte Benutzung der Aristotelischen Topik ist trotz anderslautender Versicherungen im Proömium (Top. 1⫺5) wenig wahrscheinlich. Was uns aber Aristoteles schuldig bleibt, nämlich eine Definition des topos, liefert Cicero (Top. 7⫺8): „So nämlich sind diese loci gleichsam sedes (Stätten, Sitze) von Aristoteles genannt worden, aus denen die Argumente genommen werden. Und so mag man definieren, dass der Topos (locus) der Sitz des Argumentes ist, das Argument indessen die Begründung, die einer zweifelhaften Sache Geltung (fides) verschafft.“ Des Weiteren werden solche Argumente unterschieden, die im Sachverhalt selbst zu finden sind (in eo ipso de quo agitur), andere werden von außen hinzugenommen (extrinsecus). Ersteres liefere definitio (Definition; 9), divisio (Aufteilung in Teile; 10), notatio (Etymologie; 10) sowie ein dreizehnfach untergliedertes Schema von „Gegebenheiten, die in einer gewissen Beziehung zum Gegenstand der Untersuchung stehen“ (res quae quodam modo adfectae sunt ad id de quo quaeritur): dies seien coniugata (Verwandtheit), a genere (von der Gattung), a forma (von der Spezies), ex similitudine (nach der Ähnlichkeit), ex differentia (nach der Verschiedenheit), ex contrario (aus dem Gegensatz), ab adiunctis (von der Analogie), ex antecedentibus (von den Voraussetzungen her), ex consequentibus (von den Folgen her), ex repugnantibus (von der Unvereinbarkeit), ex causis (von den Ursachen), ex effectis (von den Wirkungen), ex comparatione maiorum aut parium aut minorum (vom Vergleich mit Größerem, Gleichem oder Geringerem). Was von außen hinzugezogen werde, gehöre nicht unmittelbar zum Fall und sei disparater Natur (quae absunt longeque disiuncta sunt); daher nennt Cicero diese Argumente auch untechnisch (aτεχνοι/atechnoi; 11⫺24). In einem ersten Durchgang (6⫺24) werden diese topoi kurz durch Beispiele illustriert, aneinander gereiht, um in einem zweiten ausführlicheren (25⫺79) noch einmal mit Ergänzungen diskutiert zu werden (25). Diese Form ist charakteristisch für die antike
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Fachliteratur, da zunächst eine auf Fasslichkeit zurechtgetrimmte Kurzform geboten wird, ehe weitere Aspekte in den Blick kommen können. Einige Beispiele mögen das Verfahren des ersten Durchgangs illustrieren (Übers. nach Bayer 1993): „Verwandt (coniugata) werden die Bezeichnungen genannt, die aus Wörtern derselben Art genommen sind; von derselben Art aber sind Wörter, die aus dem gleichen Wortstamm erwachsen, wie sapiens, sapienter, sapientia: […] Wenn ein Grundstück Gemeindeweide (compascuus) ist, besteht ein Recht, es gemeinsam zu beweiden (compascere)“ (12). „Nach der Ähnlichkeit (a similitudine) auf folgende Weise: Wenn ein Haus, dessen Nießbrauch Gegenstand eines Vermächtnisses ist, einstürzt oder sonst Schaden nimmt, braucht der Erbe es ebensowenig wiederherzustellen oder zu renovieren, wie wer einen Sklaven ersetzen muß, wenn derjenige, dessen Nießbrauch Gegenstand eines Vermächtnisses war, ums Leben gekommen ist“ (15). Einige dieser Gesichtspunkte für eine Argumentation finden sich auch in der Topik des Aristoteles: so ex toto/ex partibus in Top. 126a26, 150a17a33; definitio 102a5, 107a36; partitio 120a32, 156a5⫺b15; res affectae 102a27, 109b18, 114a13; genus 102a31; species 109b10; similitudo 108a7; differentia 107b20⫺34; contrarium 113b15; adiuncta 152b10; consequentia 111b22; comparatio 102b15 (weitere in der Übersicht von Bayer 1993, 186⫺ 189). Diese Übereinstimmungen sind aber nicht auf eine direkte Benutzung, sondern wohl auf eine rhetoriktheoretisch-dialektische Vulgata-Überlieferung zurückzuführen, in der verschiedenes Material vereint war. Die topoi extrinsecus finden sich beispielsweise ebensowenig bei Aristoteles wie effectae res oder symbolon (Cic. Top. 35) (vgl. Fuhrmann 2000, 51⫺53). Den Schluss (Top. 79⫺100) bildet eine weitere Rasterung rhetorischer Invention, nämlich die Unterscheidung in thesis (§ 79⫺90) und hypothesis (§ 90⫺100), worin auch die Statuslehre (§ 87⫺100) und die genera-causarum-Lehre eingeflochten wird (§ 91 ff.). Damit versucht Cicero, die Topik in alle Bereiche der Rhetorik einzugliedern und ihren Wert für die inventio herauszuheben. Die hohe Bedeutung der Thesis für Argumentation und loci lässt Cicero durch Antonius in De oratore herausstellen (2,146): „Dieses Rüstzeug von Fällen und allgemeinen Gattungen müssen wir auf das Forum bringen und nicht, sobald wir einen Fall übernehmen, erst dann die loci durchstöbern, aus denen wir die Argumente hervorholen, die alle, die diese auch nur durchschnittlich erwägen, mit Eifer und Erfahrung in den Griff bekommen können. […] Dennoch muss man sich mit den Hauptpunkten und jenen loci, die ich schon oft genannt habe, beschäftigen, aus denen man alle aufgefundenen Gesichtspunkte für eine Rede ableiten kann.“ Denn man müsse „jene Bereiche kennen, wo man jagen und verfolgen kann, was man sucht“.
7. Quintilian In der Institutio oratoria wird die Ciceronische Definition des locus aufgegriffen (Inst. or. 5,10,20): „Loci nenne ich nicht, wie man es jetzt landläufig tut, Themen wie gegen die Verschwendung, und gegen den Ehebruch und dergleichen, sondern die Örter der Argumente, in denen verborgen ist, was man aus diesen herausholen muss.“ Diese Abgrenzung gegen die nun eindeutig negativ konnotierten loci communes erklärt sich aus der kaiserzeitlichen Deklamationspraxis, in der diese Textbausteine von besonderer Bedeutung waren (s. Art. 16 in Band I zur Praxis römischer Rhetorik). Quintilian empfiehlt solche loci communes allenfalls als rhetorisches Propädeutikum (Inst. or. 2,4,22⫺23).
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Dementsprechend stellt er zunächst die inventorische Seite der Topik in den Vordergrund. Als sedes argumentorum würden die loci communes Bereiche angeben, in denen passende Argumente aufgefunden werden können (auch in der Fauna könne nicht jedes Tier in jeder Region aufgefunden werden). Will man daher nicht auf gut Glück Argumente finden, gebe die Topik Suchformeln an. Was folgt, sind zunächst die von Cicero her bekannten attributa personis (5,10,23⫺31). Die Sachaspekte werden mit den Fragen nach den circumstantiae erörtert: quid?, quare?, ubi?, quando?, quo modo?, per quae? Diese Erschließungsfragen werden im folgenden näher ausgeführt: Der Ort in § 37⫺41; die Zeit § 42⫺48; Hilfsmittel § 51; Art und Weise § 52; Statuslehre § 53⫺70; Abfolge (ordo rerum) § 71⫺72; Ähnlichkeit (similitudo) § 73; Widersprüche (ex pugnantibus) § 74; consequentia § 75⫺77; Relationalität § 78 (vgl. Arist. Rhet. 2,23,2); Ursachen (a causis) § 80; Vergleiche nach dem ,eher‘ und ,weniger‘ § 87⫺94. Am Ende dieser Behandlung sieht sich der Theoretiker zu einer Reflexion veranlasst: Die übliche Aufteilung nach Aspekten zur Person und zur Sache, aber auch die nach den anderen oben aufgeführten Aspekten führe zu einer so großen Menge von Beweismöglichkeiten, dass die Rhetorikschüler die Übersicht verlören, „zumal ja die meisten Beweisformen sich nur so, im ganzen Gefüge der Fälle verflochten, finden lassen“. Das heißt, dass die zu untersuchenden circumstantiae des konkreten Falles von größter Bedeutung sind. Bis zum Ende des Kapitels listet der Rhetoriklehrer daher einzelne Fälle auf, in denen es jeweils darum geht, den richtigen Punkt für die Argumentation zu finden. Die topoi-Listen selbst garantierten also nicht nur keine gelingende Argumentation, sie könnten in ihrer Fülle sogar verdecken, wo der beste Ansatz verborgen liegt. Dafür bedürfe der Orator jenes iudicium, das auch Quintilian an anderer Stelle als wichtigste rhetorische Kompetenz beschreibt (Inst. or. 6,5). Zwar ermögliche die Sammlung von topoi eine große Nähe zur Praxis, da sie sich eben aus der Beobachtung von gelungenen Argumentationen in der Wirklichkeit ergeben hat. Doch müsse jeder Orator selbst die Erfahrungen erwerben, die richtigen Argumente aufzufinden. So wie auch Ringen nicht theoretisch erlernt werden könne, sondern durch Übung und die richtige Lebensform (Inst. or. 5,10,119⫺121). In diesen Reflexionen zeigt sich auch eine grundsätzliche Kritik an der von Aristoteles gepflegten Darstellungsform, die Topik vielfach in langen Listen aufzustellen und den Produzenten darüber zu vergessen.
8. Spätere Rhetoren Aus späterer Zeit sind Kommentierungen und Exzerpte der adtributa-personis- und adtributa-negotiis-Lehre aus De inventione überliefert: Incerti auctoris tractatus de adtributis personae et negotio (Halm 1863, 305⫺310) und De attributis personis et negotiis (Halm 1863, 593⫺595). Auch in der Darstellung des Martianus Capella (Kap. De rhetorica) fehlt die Topik nicht; er gliedert sie unter der aristotelischen Beweistrias in den Bereich der argumentatio ein und nennt die topoi genus, species, differentia, proprium, accidens, pars, nota vel etymologia, coniugata, contrarium, coniuncta, antecedentia, consequentia, repugnantia, causae, effecta, comparatio. In Marius Victorinus’ Erklärungen (Explanationes) von Ciceros De inventione aus dem 4. Jh. wird zunächst die gesamte Topik knapp zusammengefasst: Die gesamte Argumentation zu einer Hypothesis (causa) ließe sich in den sieben Fragen zusammenfassen:
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quis?, quid?, cur?, ubi?, quando?, quemadmodum?, quibus auxiliis?, wobei die beiden ersten Fragen das Hauptgewicht der Argumentation zu tragen hätten, nämlich persona und factum, also die beiden Hauptbereiche der adtributa personis bzw. negotiis (ed. Halm 1863, 213⫺214). Boethius (480⫺524) hat im Zuge seiner Beschäftigung mit dem aristotelischen Organon, aus der Übersetzungen der Topika und der Sophistischen Widerlegungen hervorgegangen sind, auch einen Kommentar zu den Topica Ciceros verfasst, und vor allem eine Abhandlung über die Unterschiede der topischen Argumentationen (De differentiis topicis), in welcher er Ciceros Topica mit dem Werk des Griechen Themistius vergleicht, das jedoch nicht überliefert ist. Im vierten Buch dieses Werkes kommt er auch auf die rhetorische Topik zu sprechen, die er in Thesen und Hypothesen unterteilt und nach den Redegenera differenziert, wie dies auch in den Topica des Cicero geschieht. Es schließt sich noch eine kompakte Darstellung der Rhetorik an, ehe die Topik erörtert wird, und zwar nach Ciceros De inventione und Topica (ed. Migne 1212 A). Der Vergleich zwischen Rhetorik und Dialektik wird dann an Themistius‘ Topik exemplifiziert (ed. Migne 1215 A). Ähnlichkeiten und grundsätzliche Unterschiede zwischen dialektischen und rhetorischen topoi werden am Schluss der Abhandlung zusammengestellt: Ähnlich an beiden topoi-Modellen ist der engere oder weitere Bezug der topoi zum jeweiligen Gegenstand: rhetorische topoi der adtributa sind eng mit dem Sachverhalt, der zur Verhandlung steht, verknüpft, während andere geradezu von außen hinzugeholt werden, wie diejenigen, die den Folgen des Tatbestandes gewidmet sind. Immer gibt es auch welche, die dazwischen liegen. Ebenso würden auch Dialektiker zwischen topoi unterscheiden, die dem Gegenstande inhärieren und solchen, die von außen hinzugebracht werden. Unterschiede zeigten sich in der Möglichkeit zur Verallgemeinerung; der Dialektiker habe es stets mit allgemeinen Begriffen zu tun, der Orator gehe von den konkreten Umständen (circumstantiae) aus und bedürfe der allgemeinen Kategorien nur für zusätzliche Beweise. Der Dialektiker dagegen begebe sich niemals in die konkreten Umstände. Generische Aussagen, die der Argumentation einen hohen Wert vermitteln können, beträfen in der Dialektik stets das natürliche Genus, während es in der Rhetorik immer nur um solche Genera gehen könne, die den Sachverhalt ausmachen, also konkrete Entitäten, insofern sie generische Aspekte aufweisen: „Wie der Dialektiker aus dem Genus, das heißt aus der Natur des Genus selbst, seine Topoi wählt, tut dies der Orator aus der Sache, die das Genus ist. Der Dialektiker [gewinnt Argumente] aus der Ähnlichkeit, der Orator aus einer ähnlichen Sache, das heißt aus der Sache, die die Ähnlichkeit aufweist.“ (ed. Migne 1216 C)
9. Literatur (in Auswahl) Alexander-Rhetorik siehe Chiron (2002) und Aristoteles (1959). Aristoteles (1959): Rhetorik an Alexander. Hrsg. u. aus dem Griech. übers. v. Paul Gohlke. Paderborn (Aristoteles: Die Lehrschriften, 3: Rhetorik und Poetik). Aristoteles: Rhetorik (griech.) siehe Kassel (1976). Aristoteles: Rhetorik (dt.) siehe Rapp (2002). Aristoteles: Sophistici elenchi siehe Ross (1958). Aristoteles (1968): Sophistische Widerlegungen (Organon VI). Übers. und mit Anm. versehen v. Eugen Rolfes. Erg., 2. Aufl. Nachdruck der Ausg. Hamburg 1922. Hamburg. Aristoteles (1997): Topics. Books I and II. Transl. with a commentary by Robin Smith. Oxford.
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
Aristoteles: Topik siehe Wagner/Rapp (2004). Auctor ad Herennium [Cicero] (1998): Rhetorica ad Herennium. Lat./Dt. Hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein. 2. Aufl. München u. a. Bayer, Karl (1993): M. Tullius Cicero. Topica. München. Boethius, Manlius Severinus (1847): De differentiis topicis libri quattuor. In: Jacques Paul Migne (Hrsg.): Patrologiae latinae. Bd. 64. Turnhout, Sp. 1174⫺1212. Boethius, Manlius Severinus (1978): De topicis differentiis. Transl., with notes and essays on the text by Eleonore Stump. Ithaca et al. Bornecque, Henri (Hrsg.) (1960): Cice´ron. Divisions de l’art oratoire. Topiques. Paris. Brunschwig, Jacques (1967): Aristote. Topiques. Paris. Chiron, Pierre (Hrsg.) (2002): Rhe´torique a` Alexandre. Pseudo-Aristote. Paris. Cicero (1990): Brutus. Hrsg. u. übers. von Bernhard Kytzler. München. Cicero (1998): De inventione/Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorum/Über die beste Gattung von Rednern. Lat./Dt. Hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein. Düsseldorf. Cicero (1997): De oratore/Über den Redner. Lat./Dt. Hrsg. u. übers. von Harald Merklin. 3., bibliograph. erg. Aufl. Stuttgart. Cicero (2003): Topica. Edited with a translation, introduction, and commentary by Tobias Reinhardt. Oxford. Cicero (1993): Topica. Die Kunst, richtig zu argumentieren. Hrsg., übers. und erläutert von Karl Bayer. München. Fortenbaugh, William W. (1989): Cicero’s Knowledge of Rhetorical Treatises of Aristotle and Theophrastus. In: Fortenbaugh/Steinmetz (1989), 39⫺60. Fortenbaugh, William W./Peter Steinmetz (eds.) (1989): Cicero’s Knowledge of the Peripatos. New Brunswick/New York/London. Fuhrmann, Manfred (1960): Das systematische Lehrbuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften in der Antike. Göttingen. Fuhrmann, Manfred (2000): Die zivilrechtlichen Beispiele in Ciceros Topik. In: Schirren/Ueding (2000), 51⫺66. Halm, Karl (Hrsg.) (1863): Rhetores Latini Minores. Ex codicibus maximam partem primum adhibitis. Leipzig. Heitsch, Ernst (1997): Platon, Phaidros: Übersetzung u. Kommentar. 2., erw. Aufl. Göttingen (Platon. Werke, Übersetzung und Kommentar, 3,4). Huby, Pamela M. (1989): Cicero’s Topics and its Peripatetic Sources. In: Fortenbaugh/Steinmetz (1989), 61⫺76. Isokrates (1928⫺1945): Isocrates in three volumes. With an Engl. transl. by George Norlin. London. Isokrates (1993): Sämtliche Werke. Übers. von Christine Ley-Hutton. Eingeleitet und erl. von Kai Brodersen. 2 Bde. Stuttgart (Bibliothek der griechischen Literatur, 36). Kassel, Rudolf (Hrsg.) (1976): Aristotelis Ars Rhetorica. Berlin. Kennedy, George A. (1963): The Art of Persuasion in Greece. Princeton, NJ. Marius Victorinus: Explanationes in Ciceronis rhetoricam siehe Halm (1863), 153⫺304. Marius Victorinus (2006): Explanationes in Ciceronis rhetoricam. Hrsg. v. A. Ippolito. Turnhout (Corpvs Christianorvm, Series Latina, 132). Martianus Capella: De rhetorica siehe Halm (1863), 449⫺492. Martianus Capella (1983): De Rhetorica. In: Martianus Capella: De Nuptiis Philologiae et Mercuri. Hrsg. v. James Willis. Leipzig, 147⫺201 (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanum Teubneriana). Martianus Capella (2005): Die Hochzeit der Philologia mit Merkur ⫺ De nuptiis Philologiae et Mercurii. Übers., mit einer Einl., Inhaltsübers. u. Anm. vers. v. Hans G. Zekl. Würzburg. de Pater, Wim A. (1965): Les Topiques d’Aristote et la dialectique platonicienne. Fribourg. de Pater, Wim A.(1968): La fonction du lieu et de l’instrument dans les Topiques. In: Gwilym E. L. Owen (Hrsg.): Aristote on Dialectic. The Topics. Oxford, 164⫺188. Platon: Phaidros siehe Heitsch (1997).
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik
1459
Primavesi, Oliver (1996): Die Aristotelische Topik. Ein Interpretationsmodell und seine Erprobung am Beispiel von Topik B. München. Quintilian (2006): Ausbildung des Redners. Institutio oratoria. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. 2 Bde. Unveränd. Nachdruck der 3. Aufl. Darmstadt (Texte zur Forschung, 2 u. 3). Rapp, Christof (2000): Topos und Syllogismos in Aristoteles’ Topik. In: Schirren/Ueding (2000), 15⫺35. Rapp, Christof (Hrsg.) (2002): Aristoteles. Rhetorik. 2 Bde. Berlin (Werke in deutscher Übersetzung, 4). Rapp, Christof (2003): Dialektik und Rhetorik. Über dialektische und topische Elemente in Aristoteles’ Rhetorik. In: Me´thexis 16, 65⫺81. Reinhardt, Tobias (2006): Cicero’s Topica. Oxford. Ross, W. D. (ed.) (1958): Aristoteles, Topica et Sophistici elenchi. Oxford. Schirren, Thomas/Gert Ueding (Hrsg.) (2000): Topik und Rhetorik. Tübingen (Rhetorik-Forschungen, 13). Sprute, Jürgen (1982): Die Enthymemtheorie der aristotelischen Rhetorik. Göttingen. Sprute, Jürgen (2000): Rhetorik und Topik bei Isokrates. In: Schirren/Ueding (2000), 3⫺13. Victorinus siehe Marius Victorinus. Wagner, Tim/Rapp, Christof (Hrsg.) (2004): Aristoteles: Topik. Übersetzung und Kommentar. Stuttgart. Wallies, Maximilian (1878): De fontibus Topicorum Ciceronis. Diss. Halle.
Thomas Schirren, Salzburg (Österreich)
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik 1. 2. 3. 4.
Systematisches Historische Stationen Figurentraktate Literatur (in Auswahl)
Abstract Since the first still available rhetorical reflections, rhetorical figures have been categorized into figures of speech and figures of thought. They have since become an elementary part of the inventory of rhetoric. Used to optimize linguistic form, the doctrine of rhetorical figures belongs within the stages of speech production to the elocutio. Already during Hellenism there must have been attempts to gather these devices in form of lemmata, i. e. in form of lists, and to structure them in a hands-on practical guideline. Such work can already be evidenced in form of “schematographs” in the 1st century BC. Both denomination and content of these devices have always been problematic as has been the question of what a linguistic expression virtually turns into a rhetorical figure. However, since antiquity, the theory has prevailed that a figure of speech is marked as a deviation from an “ordinary” expression that is determined by genuinely rhetorical intentions.
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik
1459
Primavesi, Oliver (1996): Die Aristotelische Topik. Ein Interpretationsmodell und seine Erprobung am Beispiel von Topik B. München. Quintilian (2006): Ausbildung des Redners. Institutio oratoria. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. 2 Bde. Unveränd. Nachdruck der 3. Aufl. Darmstadt (Texte zur Forschung, 2 u. 3). Rapp, Christof (2000): Topos und Syllogismos in Aristoteles’ Topik. In: Schirren/Ueding (2000), 15⫺35. Rapp, Christof (Hrsg.) (2002): Aristoteles. Rhetorik. 2 Bde. Berlin (Werke in deutscher Übersetzung, 4). Rapp, Christof (2003): Dialektik und Rhetorik. Über dialektische und topische Elemente in Aristoteles’ Rhetorik. In: Me´thexis 16, 65⫺81. Reinhardt, Tobias (2006): Cicero’s Topica. Oxford. Ross, W. D. (ed.) (1958): Aristoteles, Topica et Sophistici elenchi. Oxford. Schirren, Thomas/Gert Ueding (Hrsg.) (2000): Topik und Rhetorik. Tübingen (Rhetorik-Forschungen, 13). Sprute, Jürgen (1982): Die Enthymemtheorie der aristotelischen Rhetorik. Göttingen. Sprute, Jürgen (2000): Rhetorik und Topik bei Isokrates. In: Schirren/Ueding (2000), 3⫺13. Victorinus siehe Marius Victorinus. Wagner, Tim/Rapp, Christof (Hrsg.) (2004): Aristoteles: Topik. Übersetzung und Kommentar. Stuttgart. Wallies, Maximilian (1878): De fontibus Topicorum Ciceronis. Diss. Halle.
Thomas Schirren, Salzburg (Österreich)
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik 1. 2. 3. 4.
Systematisches Historische Stationen Figurentraktate Literatur (in Auswahl)
Abstract Since the first still available rhetorical reflections, rhetorical figures have been categorized into figures of speech and figures of thought. They have since become an elementary part of the inventory of rhetoric. Used to optimize linguistic form, the doctrine of rhetorical figures belongs within the stages of speech production to the elocutio. Already during Hellenism there must have been attempts to gather these devices in form of lemmata, i. e. in form of lists, and to structure them in a hands-on practical guideline. Such work can already be evidenced in form of “schematographs” in the 1st century BC. Both denomination and content of these devices have always been problematic as has been the question of what a linguistic expression virtually turns into a rhetorical figure. However, since antiquity, the theory has prevailed that a figure of speech is marked as a deviation from an “ordinary” expression that is determined by genuinely rhetorical intentions.
1460
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
1. Systematisches Die sogenannten rhetorischen Figuren stellen in allgemeinster Form gesprochen eine spezifische Sprachgestaltung dar, die man als solche ,sprachliche Figuration‘ nennen könnte. Damit wäre ein allgemeiner Begriff gegeben, der jegliche wiedererkennbare Form eines sprachlichen Ausdrucks fasst. In der antiken Rhetorik hat man versucht, diese Figurationen ihrerseits in drei Gruppen zu differenzieren: die Tropen auf der einen Seite, sodann Wort- und Gedankenfiguren auf der anderen. Die für Figuren im engeren Sinn stehenden Begriffe figurae verborum und figurae sententiarum kann man in Hinblick auf die jeweils angesprochenen sprachlichen Generierungsebenen auch als „Ausdrucks- und Inhaltsfiguren“ (Knape 1996, 292) bezeichnen. Figurationen stellen einen Bereich der technischen, d. h. auf definitorischen Anweisungen beruhenden elocutio dar, den man ornatus nennt.
Da die elocutio gemäß ihren ,Vorzügen‘ (vgl. Artikel 85 in diesem Band unter 3) für einen sowohl deutlichen als auch interessanten, d. h. von der einfachsten Form abweichenden sprachlichen Ausdruck sorgen soll, beschäftigt sie sich traditionell mit denjenigen sprachlichen Figurationen, die dieses erreichen können. Während die Tropen als Substitution eines gebräuchlichen Ausdrucks durch einen nicht so gebräuchlichen seit Aristoteles untersucht und systematisiert werden (vgl. Artikel 89 in diesem Band), hatte man immer schon Schwierigkeiten, alle anderen sprachlichen Phänomene, die dem ornatus zuzurechnen sind, zu systematisieren. Fraglich war vielfach auch, wo die Grenze zwischen einer schmückenden Funktion des besonderen sprachlichen Ausdrucks und einer sprachlichen Devianz, die als Solözismus eigentlich grammatisch zu fassen wäre, zu ziehen ist. Die vielleicht wichtigsten Reflexionen darüber stellt Quintilian in seiner Institutio oratoria (9,1) an. Er stellt zunächst fest, dass der Zweck der sprachlichen Oberflächengestaltung darin liegt, ästhetisches Gefallen (gratia) und rhetorische Wirkung (vis) zu entfalten (Inst. or. 9,1,2). Mit diesen beiden Zwecken soll die Plausibilität (credibilia) erhöht, aber auch die Möglichkeit eröffnet werden, den Rezipienten für sich einzunehmen, ohne dass dieser die Beeinflussung überhaupt merkt (in animos iudicum inrepere; Inst. or. 9,1,19). Diese Strategie wird mit dem Fechten verglichen: Man könne offene Angriffe leichter parieren als verdeckte. Eine Kunstlehre verstehe sich auf genau solche Kniffe verdeckter Agitation (astus); wie beim Fechtkampf nicht der Einsatz des bloßen körperlichen Gewichtes entscheide, sondern durch Täuschung und überraschende Angriffe dem Gegner empfindliche Schläge beigebracht werden können, so müsse der Orator die Oberfläche seiner Rede optimieren, um den Zuhörer zu manipulieren. In Analogie
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik
1461
zur actio sieht der Theoretiker den durch ornatus bearbeiteten Text als Gesicht (vultus) des Textes, der wie das Gesicht des Redners die größte Einwirkung erreichen kann. Insbesondere um sich die Zuhörer geneigt zu machen, Eintönigkeit der Rede zu vermeiden oder heikle Themen angemessen anzusprechen (Inst. or. 9,1,20⫺21). Es ist nun dieses Streben nach einer gewinnenden und eingängigen Oberfläche, also das rhetorische Bemühen um die elocutio, das insbesondere durch die Figuren bestimmt wird, welches die rhetorische Kunstlehre insgesamt und zumal ihre Praktiker, also die Oratores, seit je in Verruf bringt. Sei es, dass die optimierte Oberfläche als Versuch der unlauteren Manipulation angesehen wird, sei es, dass man die Anzahl der Figuren als überbordenden Ballast einer auf Taxonomien erpichten Kunstlehre abtut. Quintilian versucht Figuren und Tropen darin zu unterscheiden, dass letztere sich allgemein als Wechsel definieren lassen, Figuren aber bestimmte Formationen sind, die sich als solche immer wieder identifizieren lassen. Der Begriff der figura bringt Quintilian auf den Vergleich mit dem menschlichen Körper: Wie auch immer dieser sich verhalte, immer bilde er darin eine bestimmte Haltung (habitus) aus. Jede Haltung stelle also eine figura dar. Daher gibt es nach Quintilian eigentlich unzählige figurae des Körpers. Für die Kunst aber hat sich ein Formelschatz herausgebildet, der nur bestimmte figurae aufgenommen hat. Das Auswahlkriterium liegt in der Anschaulichkeit einer Haltung und ihrer Bedeutsamkeit (semantische Valenz). Diese Unterscheidung wird als ein geplantes Abweichen von der gewöhnlichen und unauffälligen Form beschrieben (aliqua a vulgari et semplici specie cum ratione mutatio; Inst. or. 9,1,11). Damit ist ein Kriterium genannt, das die sprachliche Figuration als solche erkennbar macht und vom normalen Sprechen und einem fehlerhaften Sprachgebrauch (Solözismus) unterscheidet. Die Konzeption operiert also mit der Vorstellung einer Nullstufe, von der sich die rhetorische Figur als bewusst hergestellte positiv bewertete Devianz unterscheiden lässt. Das Problem der Bestimmbarkeit der Figuren scheint in der damaligen Diskussion der Theoretiker eng mit den Affekten verbunden worden zu sein. Quintilian berichtet, es habe Theoretiker gegeben, die jeden (sprachlich artikulierten) Affekt als Figur ansahen. Dem hält Quintilian entgegen, dass zwar in jeder affektischen Äußerung Figuren vorkommen könnten, aber diese deshalb nicht mit den Figuren identisch seien. Aus heutiger Perspektive ergibt sich indessen die interessante Verbindung der Figurenlehre zur Sprechakttheorie. Die von Quintilian kritisierten Theoretiker sahen offenbar in bestimmten affektischen sprachlichen Äußerungen Figurationen, die denen der rhetorischen Figuren entsprechen. Tatsächlich funktioniert die zwischenmenschliche sprachliche Kommunikation zumal durch erkennbare, soziohistorisch determinierte Äußerungsmuster, die eine ähnliche Funktion wie die Figuren erfüllen. Die antike Kunst ist von dem Streben gekennzeichnet, solche ,Pathos-Formeln‘ einzusetzen. Diese werden in der Kunsttheorie als σχη´ ματα/schemata bezeichnet, und so heißen auch die rhetorischen Figuren. Man kann also einen engen semiotischen Zusammenhang zwischen rhetorischer Figur, affektischer Äußerung und bildlicher Darstellung solcher Affekte erkennen. Dennoch betont Quintilian zu Recht, dass die rhetorischen Figuren nicht einfach mit bestimmten Sprechakten identifiziert werden können. Dafür beruft er sich auf Cicero, der einen Mittelweg zu finden versucht habe: Weder sei jede sprachliche Äußerung schon eine Figur noch jede Figuration, die sich von der normalen Sprache abhebe. Entscheidend sei vielmehr, dass sie auffallen (vgl. lumen, clarissimum; Inst. or. 9,1,25) und den Rezipienten zu bewegen vermögen. Mit letzterem ist das rhetorische Spezifikum der rhetorischen Figur genannt: es muss, wie Quintilian zuvor betont, eine strategische Wirkung erzielt werden, die den Rezipienten im parteiischen Interesse vereinnahmt.
1462
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
Für die Einteilung von Figuren und Tropen galt lange Zeit die These von Karl Barwick (1957; vgl. Artikel 89 in diesem Band unter 1.), dass die stoische Sprachschöpfungstheorie die Tropen eingeteilt habe, während die Figuren auf die quadripertita ratio (Entstehung der Figur nach adiectio, detractio, immutatio, transmutatio) zurückgingen. Dieses Einteilungsschema ist offensichtlich aus der Grammatik auf die Rhetorik übertragen worden, und so erklärt sich auch die Verwandtschaft von Solözismus und rhetorischer Figur als Devianzen normalen Sprechens. Gegen diese einleuchtende, wenn auch nur schwer belegbare Theorie, weil uns die Theorietraktate der Stoa nicht erhalten sind, hat Dirk M. Schenkeveld (1991) eine Skizze versucht, in der er insbesondere darauf aufmerksam macht, dass noch in den Homerscholien der Alexandriner (z. B. Aristarch von Samothrake 3.⫺2. Jh. v. Chr.) kein genereller Begriff für Figur oder Tropus nachweisbar ist. Die augenscheinlichen Überschneidungen von Tropus und Figur rühren nach Schenkeveld nun daher, dass im 2. oder 1. Jh. v. Chr. figurale Einteilungen der Grammatiker und solche der Rhetoriker in ein rhetorisches System zusammengeführt worden sind.
2. Historische Stationen 2.1. Vorstuen einer Figurenlehre der sophistischen Rhetorik Die Rhetorik der Sophisten hatte, nach unserer Überlieferung zu schließen, noch keine Sammlung von rhetorischen Figuren versucht. Dennoch ist der von Späteren vielfach getadelte reichliche Gebrauch von Figuren in der Prosa geradezu ein Spezifikum der sophistischen Prosa. Gorgias definiert die Dichtung als Rede mit Versmaß (bei DK: B11,9); das könnte man so verstehen, dass das strenge Versmaß das einzige sei, wodurch sich die Dichtung von der Prosa unterscheide. Genau diesen Vorwurf machte ihm Aristoteles (vgl. Artikel 85 in diesem Band unter 2.), der ihm vorhält, dass seine sprachlichen Mittel vielfach das Angemessene prosaischer Diktion vernachlässigten. In der Stilkritik hat man sogar „Gorgianische Figuren“ (τα` Γοργι´εια/ta Gorgieia) benannt (Dionysios von Halikarnassos, Demosthenes § 25,4), worunter vor allem die Antithese und Gleichklangfiguren wie Parisose und Parhomoiose gerechnet wurden (Buchheim 1996). Tatsächlich finden sich in den Reden des Gorgias diese Figuren gehäuft. Gorgias selbst benennt eine solche Arbeit an der sprachlichen Gestaltung auch als κο´ σμο/kosmos, was in die spätere virtus-elocutionis-Lehre einging. Seine sprachtheoretischen Reflexionen finden sich im Kontext einer Musterrede und geben über die frühgriechische Sprachauffassung Aufschluss. Die Rede vermag als „großer Bewirker“ (με´ γα δυνα´ στη/megas dynastes B11,8) heftige affektische Reaktionen hervorrufen, wie sie z. B. für das Theater typisch sind, nämlich Schrecken und Jammer (φο´ βο/phobos, eλεο/eleos). Das rührt daher, dass die Rede als ein Teilchenstrom vorgestellt wird, der eigentlich keine semantische Funktion übernimmt, sondern als chemisch-physikalische Einwirkung auf den Rezipienten erfahren wird (vgl. Artikel 1 in Band I, unter 1.1. Vorsokratische Philosophie und rhetorische Theorie). Die Arbeit an der Oberflächenstruktur der Sprache, wie sie die „Gorgianischen Figuren“ aufweisen, soll eine bessere „Eingängigkeit“ erreichen. Um dieses zu illustrieren, bringt Gorgias die Einwirkungen von Drogen in Analogie zur sprachlichen Einwirkung: „Wie nämlich von den Heilmitteln jedes andere Säfte aus dem Körper
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik
1463
austreibt und Krankheit oder Leben beendet, so betrüben einige Reden, andere erfreuen, andere scheuchen auf, andere verleihen den Zuhörern Mut.“ (DK: Gorgias B11,14). Isokrates verwendet in der Antidosis § 183 den Begriff der iœδε´ α/idea, der wohl Figuren bezeichnet. Denn mit diesen ,Ideen‘ vergleicht er die σχη´ ματα/schemata (Kampfhaltungen) der Ringkämpfer: Im Rhetorikunterricht wurden also vorrangig Figuren gelehrt, wie auch den Athleten stereotype ,Griffe‘ und Bewegungsabläufe vermittelt wurden. Dem entspricht der Befund in der sogenannten Alexanderrhetorik. In den Abschnitten 22 bis 28 werden stilistische Mittel aufgezählt, die bei späteren Autoren zur Figurenlehre geschlagen werden, nämlich „doppelter Ausdruck“, Antithese, Parisose und Parhomoiose (§ 24, § 26); dazwischen schieben sich Ausführungen über die Synthesis der Wörter. Daraus wird deutlich, dass die Figuren noch nicht als eigenständiger Bereich rhetorischer Lehre erkannt und erschlossen sind. Außerdem aber nennt dieses Werk auch die Ironie und das Enthymem ein schema (1432b26; 1434a19). Es wird damit also allgemein eine Ausdrucks- oder Argumentationsform bezeichnet, auf die man bei der Textkomposition zurückgreifen kann. Es erfüllt so die Funktion einer metasprachlichen Universalie, wie etwa ,Form‘, ,Art‘ usw.
2.2. Die rhetorischen Figuren in der antiken Kunstlehre 2.2.1. Auctor ad Herennium Die klassische Figurenlehre ist integraler Bestandteil jeder rhetorischen Kunstlehre geworden. Unser frühester Beleg, die Rhetorica ad Herennium, widmet das gesamte 4. Buch der elocutio, insbesondere aber der Figurenlehre (Rhet. Her. 4,17⫺69). Angesichts der Zurückhaltung gegenüber theoretischen Fragen, die diese Lehrschrift auszeichnet (vgl. 1,1), ist auffällig, dass der Auctor sich ausführlich über die Frage auslässt, ob man die Figuren mit selbst erfundenen Beispielen illustrieren soll oder mit solchen aus der dichterischen und oratorischen Praxis bzw. Literatur anderer Autoren. An einer Stelle zieht er den expliziten Vergleich mit der bildenden Kunst (4,9): „Chares lernte die statuarische Kunst nicht auf die Weise, daß Lysipp einen Kopf des Myron zeigte, die Arme des Praxiteles, die Brust des Polyklet, sondern alles sah er, wie es der Meister gerade schuf; die Werke der anderen Künstler konnte er sogar nach eigenem Ermessen prüfend betrachten.“ Die Formensprache lernte also der Lehrling in der Werkstatt seines Meisters, in der Bildhauerei genauso wie in der Rhetorenschule. Die theoretische Anweisung des Meisters, wie die einzelne Figur gestaltet ist, bedarf einer Illustration. Daher finden wir in der Behandlung der ca. 60 Figuren (exornationes) nach einer kurzen Beschreibung immer mehrere, zum Teil längere Beispiele aus rhetorischem Kontext, die vorführen, wie die Figur angewendet werden sollte. Die Argumentation des Auctors, warum er alles mit eigenen fingierten Beispielen illustrieren möchte, geht dahin, dass so auch bewiesen werde, dass ein Orator diese Figuren beherrschen könne und sie nicht von anderswoher zusammenleihen müsse (4,9). Die Lehre von der elocutio baut der Auctor so auf, dass zunächst die sogenannte Dreistillehre vorgestellt wird (4,11⫺16; vgl. Artikel 86 in diesem Band unter 4.), woran er die virtutes elocutionis anschließt (4,17⫺18). Die dignitas (Würdigkeit) der Rede wird durch den Einsatz von Figuren abwechslungsreich (varietas). Diese erfüllt so das ornatus-
1464
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
Gebot. Die Figuren werden also als Mittel gesehen, einer sprachlichen Äußerung eine ästhetische Auszeichnung zu geben. Weitere rhetoriktheoretische Überlegungen unterbleiben jedoch. Zunächst unterscheidet der Anonymus die Gedankenfiguren von den Wortfiguren (exornationes sententiarum/verborum) dadurch, dass die Wortfigur den Schmuck durch die verwendeten Wörter selbst anbringt (insignita perpolitione ipsius sermonis), während die Gedankenfigur solche Gegenstände beinhaltet, die einen gewissen Wert haben (habet dignitatem in ipsis rebus, non in verbis, 4,18). Dann folgen der Reihe nach die Wortfiguren (4,19⫺41) und 10 Tropen (4,42 und 4,47⫺69). Im einzelnen sind dies folgende Figuren:
Tab. 88.1: Wortfiguren der Rhetorica ad Herennium Bezeichnung
dt. Übersetzung
1
repetitio
Wiederholung
2
conversio
Umkehrung
3
complexio
Umfassung
4
traductio
Wiederholung
5
contentio
Antithese/ Gegensatz
6
exclamatio
Ausruf
7
interrogatio
rhetorische Frage
8
ratiocinatio
Überlegung
9
sententia
Sinnspruch
10
contrarium
Gegensatz
11
membrum
Glied der Rede
12
articulus
kleines Satzglied
13
continuatio
Fortführung
Bezeichnung 17
adnominatio
Unterform: productione/ brevitate eiusdem litterae (Dehnung/ Kürzung von Lauten) Unterform: demendis/ addendis litteris (Hinzufügung/ Wegnahme von Buchstaben) Unterform: transferendis litteris (Umstellung von Buchstaben)
Unterform: in sententia (im Sinnspruch)
Unterform: commutandis litteris (Veränderung von Buchstaben)
Unterform: in conclusione (in der Schlussfolgerung) compar
Silbengleichheit (πα´ ρισον/parison)
15
similiter cadens
Gleiche Endung der casus
16
similiter desinens
Gleiche nicht-nominale Endungen
Anklang Unterform: adtenuatione aut complexione eiusdem litterae (Abschwächung, Verschmelzung von Lauten)
Unterform: in contrario (im Gegensatz)
14
dt. Übersetzung
Ähnliche Wörter 18
subiectio
Einwand
19
gradatio
Steigerung
20
definitio
Bestimmung
21
transitio
Übergang
22
correctio
Berichtigung
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik Bezeichnung
dt. Übersetzung
23
occultatio
Übergehung
24
disiunctio
Absonderung
25
coniunctio
Verbindung
26
adiunctio
Anschluss
27
conduplicatio
Wiederholung
28
interpretatio
Erklärung
29
commutatio
Umstellung
30
permissio
Anheimstellung
1465 Bezeichnung
dt. Übersetzung
31
dubitatio
Zweifel
32
expeditio
Aussonderung
33
dissolutum
unverbundene Reihung/Asyndeton
34
praecisio
Abbruch eines Gedankens/ Aposiopese
35
conclusio
Schlussfolgerung
Folgende Gedankenfiguren nennt der Auctor: Tab. 88.2: Gedankenfiguren der Rhetorica ad Herennium Bezeichnung
dt. Übersetzung
Bezeichnung
dt. Übersetzung
1
distributio
Aufteilung
11
exemplum
Beispiel
2
licentia
Freimütigkeit
12
imago
Bild
3
deminutio (litotes) Abschwächung
13
effictio
Porträt
4
descriptio
Schilderung
14
notatio
Charakterbild
5
divisio
Zerteilung
15
sermocinatio
fiktiver Dialog
6
frequentatio
Zusammenstellung
16
conformatio
7
expolitio
Ausmalung (4 Arten)
Verkörperung/ Personifikation
17
significatio
8
commoratio
Verweilen
nachdrücklicher Hinweis
9
contentio
Antithese/ Gegensatz
18
brevitas
Kürze
19
demonstratio
10
similitudo
Vergleich
deutliche Schilderung
2.2.2. Cicero Kunstlehren des traditionellen Zuschnittes verschmähte der avancierte Rhetoriker Cicero. Das Jugendwerk De inventione behandelt die elocutio nicht. In der Schrift De oratore wird zwar die Figurenlehre nicht ausgespart, aber in einer Form behandelt, die neuere Interpreten daran denken lässt, der Autor meine diese Darstellung nicht ganz ernst (Wisse/Winterbottom/Fantham 2008, 302⫺305). Allzu viele Figuren ohne Erklärung werden in wenigen Paragraphen aneinandergereiht, so dass der Eindruck entstehen muss, Cicero betrachte diese Lehre als eher lästige Pflicht. Er vermeidet sogar viele eingeführte Fachtermini und spricht von den Figuren nur als lumina, was eigentlich Licht- und Glanzpunkte bedeutet. Systematisch jedoch folgt er der traditionellen Linie und bringt seine Figuren nach der Dreistillehre, die sich auf Wortwahl, Wortfügung und Rhythmus bezieht. Unzählig seien die Figuren, die ein Orator einsetzen könne; Wortfiguren ließen
1466
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
sich darin von den Gedankenfiguren unterscheiden, dass die Wortfigur aufgehoben wird, wenn man die Wörter austauscht; die Sinnfigur kann auch mit anderen Wörtern formuliert werden (Cic. De or. 3,200). All das setzt Crassus bei seinen Zuhörern als bekannt voraus. Die Figuren gehören in den fortlaufenden Text (in perpetua oratione), darin unterscheiden sie sich nach Cicero wohl von den Tropen, die in 3,155⫺170 kurz genannt werden. Es scheint Cicero mit der Aufzählung auch nicht allzu genau zu nehmen: „Dies sind ungefähr die sprachlichen Mittel und dergleichen können sogar noch mehr sein, die die Rede mit Gedankenfiguren und Wortfigurationen erhellen“ (De or. 3,208). Was sich aber in jedem Handbuch leicht nachlesen lässt, das erweist sich hier als besonders schwierig in der richtigen Anwendung. Denn dazu bedarf es einer besonderen Wahrnehmung des Angemessenen und Passenden (decens; De or. 3,210). Im einzelnen werden folgende Gedankenfiguren aufgelistet: Tabelle 88.3: Gedankenfiguren bei Cicero, De oratore 3,202⫺205 Figur
dt. Übers.
1
commoratio Verweilen
2
explanatio
Figur
dt. Übers.
gr. Terminus
12
reditus ad propositum
Rückkehr zum Thema
eœπα´ νοδο epanodos
13
iteratio
Wiederholung eines Gedankens
eœπανα´ ληψι epanalepsis
14
conclusio
logischer Schluss
συμπε´ ρασμα symperasma
15
supralatio, traiectio
Übertreibung
y«περβολη´ hyperbole
16
rogatio
Frage
eœρω´ τησι erotesis
17
percontatio
untersuchende Frage (Ausfragen)
y«ποφορα´ hypophora
18
expositio
fiktive Frage (Rhet. Her. 4,33 subiectio)
19
dissimulatio Ironie, Verstellung
εiœρωνει´α eironeia
gr. Terminus eœπιμονη´ epimone
Ausführung/ expolitio (Rhet. Her. 4,42,54⫺ 4,44,57)
3
subiectio
anschauliche y«ποτυ´ πωσι Beschreihyotyposis bung
4
percursio
Durchlauf
eœπιτροχασμο´ epitrochasmos
5
significatio
Andeutung
eμφασι emphasis
6
brevitas
Kürze
βραχυ´ τη brachytes
7
extenuatio
Abschwächung
eœξουδενισμο´ , μει´ωσι exudenismos, meiosis
8
inlusio
Spott
χλευασμο´ chleuasmos
20
dubitatio
Zweifel
aœπορι´α aporia
9
digressio
Abweichen
παρε´ κβασι parekbasis
21
distributio
Aufteilung
διαι´ρεσι diahairesis
10
propositio
Vorstellung
προε´ κθεσι proekthesis
22
correctio
Selbstverbesserung
11
seiunctio
Zwischenergebnis
(προ-/ eœπανο´ ρθωσι pro-/epanorthosis)
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik Figur
dt. Übers.
gr. Terminus
1467 Figur
dt. Übers.
gr. Terminus
36
contentio
Gegensatz
aœντι´θεσι antithesis
Verschweigen
παρασιω´ πησι parasiopesis
23
praemonitio Absicherung προ´ ληψι prolepsis
24
traiectio
Übertragung μετα´ στασι metastasis
37
reticentia
25
communicatio
fiktives gemeinsames Beraten
aœνακοι´νωσι anakoinosis
38
commenda- Erschrecken tio
κατα´ πληξι kataplexis
26
imitatio morum
fiktive Gespräche mit Personen
hœθοποιιÏα ethopoiia
39
vox libera
Freimütigkeit
παρρησι´α parrhesia
27
personarum Rhet. Her. ficta induc- 4,66 contio formatio: Einführung fingierter Personen
προσωποποιιÏα prosopopoiia
40
iracundia
Verärgerung aœγανα´κτησι aganaktesis
41
obiurgatio
Beschwörung
42
promissio
Versprechen
28
descriptio
Beschreibung der Folgen
aœπογραφη´ , y«πογραφη´ apographe, hypographe
43
deprecatio
Abbitte
προπαραι´τησι proparaitesis
29
erroris inductio
Einführung eines Irrtums
aœποστροφη´ apostrophe
44
obsecratio
dringende Bitte
δε´ ησι deesis
45
declinatio
ad hilaritatem impulsio
Erheiterung
χαριεντισμο´ charientismos
abschweifende Bemerkung
παρατροπη´ paratrope
46
digressio
Abweichung vom Thema
31
anteoccupatio
Vorwegπρο´ ληψι nahme eines prolepsis Einwandes
47
purgatio
Selbstentschuldigung
32
similitudo
Ähnlichkeit
παραβολη´ parabole
48
conciliatio
33
exemplum
Beispiel
παρα´ δειγμα paradeigma
Verbindlichkeit
34
digestio
Aufteilung
μερισμο´ merismos
49
laesio
Reizen des Gegners
35
interpellatio Einwand
50
optatio
Wunsch
εyœχη´ euche
51
exsecratio
Fluch
aœρα´ ara
30
παρενο´ χλησι parenochlesis
eœπιθερα´ πευσι epitherapeusis
Folgende Wortfiguren nennt Cicero. Sie seien sowohl als Angriffswaffen geeignet wie auch um der Rede ästhetischen Reiz zu verleihen. Die Figuren werden höchst knapp angegeben, bei einigen ist bis heute unklar, was sie genau bezeichnen sollen.
1468
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
Tab. 88.4: Wortfiguren bei Cicero, De oratore 3,206⫺208 Figur
dt. Übers.
gr. Terminus
16
contraria
Gegensatz
aœντι´θετον antitheton
17
dissolutum
unverbundene Reihung/ Asyndeton
aœσυ´ νδετον asyndeton
18
declinatio
begründete παρα´ λειψι Abweichung paraleipsis (Cic. or. 135)
19
reprehensio
Selbstverbesserung
μετα´ νοια metanoia
20
exclamatio
Ausruf
eœκφω´ νησι ekphonesis
21
imminutio (⫽ Rhet. Her. 4,38, 50, deminutio)
Abschwächung
λιτο´ τη litotes
22
quod in multis casis ponitur
Polyptoton
πολυ´ πτωτον polyptoton
23
quod de sin- ? gulis rebus propositis
24
zusätzliche αiœτιολογι´α Begründung aitiologia
o«μοιοτε´ λευτον homoioteleuton
ad propositum subiecta ratio
25
in distributis supposita ratio
gleiche Endung der casus
o«μοιο´ πτωτον homoioptoton
einzelne Begründung für einzelne Punkte
προσαπο´ δοσι prosapodosis
26
permissio
Anheimstellung
eœπιτροπη´ epitrope
quae paribus paria referunter
Silbengleichheit
πα´ ρισον parison
27
dubitatio
Zweifel
aœπορι´α aporia
28
13
gradatio
Steigerung
κλι˜μαξ klimax
improvisum Unerwarquiddam tetes
παρα´ δοξον paradoxon
29
14
conversio Umstellung (⫽ Rhet. Her. 4,28,39 commutatio)
aœντιμεταβολη´ , aœντιθε´ σι antimetabole, antithesis
dinumeratio gliedernde Aufzählung
aœπαρι´θμησι aparithmesis
30
alia correctio
concinna Hyperbaton transgressio
y«πε´ ρβατον hyperbaton
μετα´ νοια, eœπιτι´μησι metanoia, epitimesis
Figur
dt. Übers.
gr. Terminus
1
geminatio
Verdoppelung
aœναδι´πλωσι anadiplosis
2
immutatum verbum atque deflexum
Anklang, Ähnlichkeit der lautlichen Gestalt
παρονομασι´α paronomasia
3
repetitio
Wiederholung
eœπαναφορα´ epanaphora
4
in extremum conversio
Umkehrung
aœντιστροφη´ antistrophe
5
complexio
Umfassung
συμπλοκη´ symploke
6
concursio
7
adiunctio
Anschluss
8
progressio, incrementum
fortschreitende Steigerung
9
distinctio (⫽ Rhet. Her. 4,14,20 traductio)
semantisch differierende Wiederholung
διαφορα´ , aœντανα´ κλασι diaphora, antanaklasis
quae similiter desinunt
gleiche nichtnominale Endungen
quae cadunt similiter
12
10
11
15
eœπεζευγμε´ νον epezeugmenon
korrigierende Ersetzung eines gebrauchten Wortes
?
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik Figur
dt. Übers.
gr. Terminus
31
dissipatio
Aufteilung („hier ⫺ dort“)
32
continuatum
fortführende μεταβολη´ Kurzmetabole antworten
interruptum eine Form des abrupten Abbrechens in der Rede
aœποσιω´ πησι aposiopesis
34
imago
εiœκω´ ν eikon
35
sibi respon- Antwort auf aœπο´ φασι sio sich selbst apophasis
36
immutatio
33
Bild
Metonymie im weiteren Sinne
μετονυμι´α metonymia
1469 Figur
dt. Übers.
gr. Terminus
37
diiunctio
Absonderung
διε´ ζευγμε´ νον diezeugmenon
38
ordo
effektreiche Anordnung der Worte
τα´ ξι taxis
39
relatio
?
aœνα´ κλασι, eœπα´ νοδο anaklasis, epanodos
40
digressio
Digression (Abschweifung)
μετα´ βασι metabasis
41
circumscriptio
Umschreibung
περι´φρασι periphrasis
2.2.3. Quintilian Wie die obigen systematischen Bemerkungen bereits deutlich werden ließen, stellt Quintilian die wichtigsten Überlegungen zur Systematizität von Tropen und Figuren an. Gleichsam um den Stand der rhetorischen Forschungen bis zur Institutio oratoria in ihrer theoretisch-systematischen Defizienz zu dokumentieren, zitiert er gerade jene Abschnitte aus Ciceros De oratore, in denen Cicero sich über die Fülle der Figuren als festem Bestand von rhetorischen Handbüchern lustig zu machen scheint (Quint. Inst. or. 9,1,26⫺ 36). In 9,2 und 9,3 folgt seine eigene Darstellung der Gedanken- und Wortfiguren. Freilich sieht er sich genötigt, in 9,2,100⫺107 36 fragliche Figuren von anderen Theoretikern (Celsus und Rutilius Lupus) aufzuführen, gegen die genau jene grundsätzlichen Einwände mangelnder Rhetorizität sprechen, die oben erörtert worden sind. Quintilian gibt für die Gedankenfiguren keine allgemeinen Generierungsregeln an, sondern beschränkt sich bei der Frage des Kriteriums auf die Devianz vom einfachen Sprechen (ab illo simplici modo recedere; Inst. or. 9,2,1); die übrigen lumina (signifikanten Ausdrücke) jedoch müssen dann als Bestandteile der virtutes dicendi angesehen werden, ohne die überhaupt keine Kommunikation möglich wäre. Tab. 88.5: Gedankenfiguren bei Quintilian Figur 1
interrogare
Frage [respondere]
2
Figur
Unterformen Übersetzung
praesumptio
praedictio
Vorankündigung
emendatio
Verbesserung
praeparatio
Vorbereitung
Antwort Vorwegnahme
praemunitio
Unterformen Übersetzung
Vorkehrung gegen Einwand
3
dubitatio
Zweifeln
1470
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik Figur 4
Unterformen Übersetzung
communicatio
Gesprächsfiktion: Mitteilung an oder Rat von Zuhörern sustentatio
5
Unterformen Übersetzung
subiectio sub oculos
y«ποτυ´ πωσι hypotyposis
Verdeutlichung, Anschaulichkeit
μετα´ στασι metastasis
Blick in die Zukunft
InSpannungHalten
παρα´ δοξον paradoxon
Unerwartetes
permissio
Anheimstellen
exclamatio
8
Figur
τοπογραφι´α Beschreitopographia bung des Ortes 9
εiœρωνει´α eironia
Ausruf licentia
Freimütigkeit παρρησι´α/ Redefreiheit/freie Äußerung
libertas 6
προσωποποιιÏα prosopopoiia δια´ λογο dialogos
dissimulatio
Ironie
aœντι´φρασι antiphrasis
entgegengesetzte Benennung
confessio
Geständnis
concessio
Einräumen
consensio
Übereinstimmung
fiktive Äußerungen einer Figur
10
aœποσιω´ πησι aposiopesis
reticentia
,deutliches‘ Verschweigen
fiktives Gespräch
11
hœθοποιι´α ethopoiia
μι´μησι mimesis
Darstellung fremder Charaktere
12
eμφασι emphasis
13
comparatio
sermocinatio fiktives Gespräch παρìδι´α parodia 7
aœποστροφη´ apostrophe
Parodie Abwendung vom primären Rezipienten
Emphase: verdeckter Hinweis, Andeutung παραβολη´ parabole
Vergleich
Tab. 88.6: Fragliche Gedankenfiguren von Celsus et alii (bei Quintilian Inst. or. 9,2,100⫺107) Figur
gr.
dt. Übers.
1
consummatio
διαλλαγη´ diallage
Vereinigung
2
consequens
eœπακολου´ θησι epakoluthesis
Folgerichtigkeit
3
collectio
συλλογισμο´ Schlusssyllogismos folgerung
Figur
gr.
dt. Übers.
4
minae
κατα´ πληξι kataplexis
Drohen
5
exhortatio
παραινετικο´ν Mahnen parainetikon
6
excludere
Ausschließen
7
adseverare
Versichern
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik Figur
gr.
dt. Übers.
24
aœνα´ μνησι anamnesis
Erinnerung
25
aœνθυποφορα´ anthypophora
Gegeneinwurf
Verstärkung/ Verschlimmerung
26
aœντι´ρρησι antirrhesis
Gegenrede
27
παραυ´ ξησι parauxesis
Anwachsen
28
προε´ κθεσι proekthesis
Darlegung des Geschehens
29
eœναντιο´ τη enantiotes
Gegensatz
30
μετα´ ληψι metalepsis
Verschiebung
9
excitare iudicem
Aufstacheln
proverbiis uti
Verwendung von Sprichwörtern δει´νωσι deinosis
dt. Übers. Notwendigkeit/Zwangsläufigkeit
Herabziehen
intendere crimen
gr.
aœναγκαι˜ον anankainon
detrectare
11
Figur 23
8
10
1471
12
adulari
Schmeicheln
13
ignoscere
Verzeihen
14
fastidire
Verschmähen
15
admonere
Ermahnen
16
satisfacere
Genugtuung geben
31
commentum eœνθυ´ μημα enthymema
Enthymem/ Erdenken
17
precari
Bitten
32
ratio
eœπιχει´ρημα epicheirema
Begründung
18
corripere
Ausschelten
33
sententia
19
partitio
Gliedern
Sentenz/ Spruch
20
propositio
Angabe des Themas
34
διασκευη´ diaskeue
Zurichtung
21
divisio
Einteilung der Punkte
35
aœπαγο´ ρευσι apagorensis
Verbot
22
cognatio rerum duarum
Verwandtschaft zweier Dinge
36
παραδιη´ γησι paradiegesis
Nebenerzählung
Die Wortfiguren stellen insofern ein systematisches Problem dar, als sie als Abweichung von der Sprachnorm schwer von grammatischen Phänomenen zu unterscheiden sind. Eine grobe Möglichkeit der Unterscheidung bietet die Einteilung nach einer Erneuerung des Ausdrucks (rationem loquendi novare 9,3,2) einerseits und Wortstellungsabweichung (collocatio verborum 9,3,2) andererseits. Obwohl beide Formen der Figuren als rhetorische Phänomene zu betrachten sind, spielt hier auch die Grammatik eine Rolle, die ja auch bei den Tropen systembildend ist (vgl. Artikel 89 in diesem Band). Denn solche Spracherneuerungen wären Fehler, unterstreicht Quintilian, wenn sie nicht bewusst eingesetzt würden. Dass sie nicht so empfunden werden, liegt an der auctoritas des Sprechers, der sie benutzt, ihrem Alter oder dem Sprachgebrauch. Gerade deshalb aber dürfen sie nicht zu häufig eingesetzt werden, sonst kommen sie um ihre Wirkung des Exzep-
1472
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
tionellen. Die eigentlichen Wortfiguren führt Quintilian dann in 9,3,28⫺102 auf. Als Ordnungsprinzip dieser 34 Figuren wendet er die Änderungskategorien adiectio, detractio an; für eine weitere Gruppe erkennt er die similitudo (Ähnlichkeit) als Generierungsprinzip, die er weiter unterteilt. Tab. 88.7: Wortfiguren bei Quintilian Merkmal/Nr.
Figur
Figur gr.
erzeugt durch adiectio
Merkmal/Nr.
Figur
Figur gr.
14
Steigerung (gradatio)
κλι˜μαξ klimax
eœπεζευγμε´ νον epizeugmenon
1
Anapher
aœναφορα´ anaphora
erzeugt durch detractio
2
Epipher
eœπιφορα´ epiphora
15
Zeugma
3
Einfügung (interpositio)
παρε´ νθεσι parenthesis
16
Einverleibung συνοικει´ωσι synoikeiosis
4
Hyperbaton (transgressio)
y«πε´ ρβατον hyperbaton
17
gegeneinander Absetzen
5
Metabase
μετα´ βασι metabasis
similitudo
6
„Rückgang“ (regressio): Aufnahme mit Veränderung der Wörter
eœπα´ νοδο epanodos
Ähnlichkeit im Klangbild bzw. gleiche oder entgegengesetzte Worte 18
Paronomasie παρονομασι´α (adnominatio) paronomasia
19
Umschlag, Überführung des Verständnisses (traductio)
aœνα´ κλασι anaklasis
παραδιαστολη´ paradiastole
7
gedrängte πλοκη´ Wiederholung ploke (frequentior repetitio)
8
Aufspaltung (disiunctio)
συνωνυμι´α, πλεονασμο´ synonymia, pleonasmos
Prinzip der Ähnlichkeit (vierfach)
Verbindung von Worten gleicher und unterschiedlicher Bedeutung
διαλλαγη´ diallage
20 Wortebene
Paronomasie/ ähnlicher Wortklang
παρονομασι´α paronomasia
21 Silbenebene
Silbengleichheit
πα´ ρισον parison
10
Asyndeton (dissolutio)
aœσυ´ νδετον asyndeton
11
gedrängter Ausdruck
βραχυλογι´α brachylogia
12
vielfache Verknüpfung
πολυσυ´ νδετον polysyndeton
13
Aufhäufung (acervatio)
9
22 Endungen gleiche nichtnominale Endungen
o«μοιοτε´ λευτον homoiteleuton
23 Kolon
τρι´κωλα trikolon
dreigliedrige Kola
24 Endungen gleiche Endung der casus
o«μοιο´ πτωτον homoioptoton
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik
1473
Merkmal/Nr.
Figur
Figur gr.
Merkmal/Nr.
Figur
Figur gr.
25 Kolon
gleiche Kola
iœσο´ κωλον isokolon
29
Durchmusterung
διε´ ξοδο diexodos
26
contrapositum
aœντι´θετον antitheton
30
Abbiegen vom Weg der Rede
aφοδο aphodos
31
ordo
τα´ ξι taxis
32
Verwandlung
aœλλοι´ωσι alloiosis
33
Ersetzung
y«παλλαγη´ hypallage
34
zugefügte Begründung
αiœτιολογι´α aitiologia
Zweifelhafte Figuren 27
28
Wiederholung aœντιμεταβολη´ flektierter antimetabole Formen desselben Wortes Gegeneinwand
aœνθυποφορα´ anthyphora
3. Figurentraktate Außer diesen Figurenlisten im Rahmen vollständiger Artes sind aber wie bei den Tropen auch Traktate überliefert, in denen nur Figuren aufgelistet und kurz besprochen werden, wobei neben den Definitionen auch zur Illustration Beispiele aus rhetorischen Texten zitiert werden. Diese ,Schematographen‘ gehen im Griechischen vor allem auf Alexander, Sohn des Numenius (daher Numeniu genannt), zurück, der unter Hadrian lebte und einen Traktat in zwei Büchern schrieb, der sich erhalten hat (Ausgabe bei Spengel 1856, 7⫺40). Alexander schickt seiner Figurenliste eine theoretische Reflexion über die Frage der Abgrenzbarkeit der rhetorischen Figur von anderen sprachlichen Phänomenen voraus. Diese erinnert teilweise an die Überlegungen von Quintilian, typisch griechisch erscheint jedoch eine ,psychologische‘ Betrachtung der Figur, nämlich als Ausdruck von psychischen Prozessen. Dergleichen klingt zwar bei Quintilian in der Frage an, ob jede affektive Äußerung als Figur anzusehen ist. Aber sie wird nicht psychologisch behandelt. Anders Alexander: Das schema (σχη˜ μα) wird als eine Veränderung (eœξα´ λλαξι/exallaxis) des Textes zum Besseren hin definiert, die sich auf der Textoberfläche oder auf der Inhaltsebene vollziehen kann, ohne dass ein Tropus ins Spiel kommt (ed. Spengel 1856, 11,2⫺3). Nun betont Alexander, dass jeder Text aus einer Prägung der Seele heraus entsteht. Da die Seele aber immerfort in Bewegung ist, bildet sie laufend Schemata aus, die sie als Text kommuniziert. Ist dann nicht alles Schema/Figur? Zunächst wendet Alexander ein, dass es Unterschiede in der Qualität der Figuren gibt; ein professioneller Redner beherrscht sie besser als der Laie. Doch das wäre nur ein Unterschied des Grades. Wichtiger scheint, dass die Seele in ihren Schemata teils natürlich, teils nicht natürlich agiert. Der Begriff der Natürlichkeit, der hier eingeführt wird (κατα` φυ´ σιν/kata physin) ist wohl letzten Endes als Gegensatz zum Technischen (κατα` τε´ χνην/kata technen) zu sehen. Der Gegensatz wird eine folgenreiche Diskussion über die Natürlichkeit bzw. Künstlichkeit der Rhetorik nach sich ziehen, die bis heute nicht abgerissen ist und der Disziplin immer wieder Akzeptanzprobleme bereitet hat. Hier jedoch, bei Alexander, impliziert er das strategische Denken des Orators, der nicht natürlich auf Einwirkungen reagiert (z. B. durch affektive Reaktion), sondern der nach Formeln sucht, um einen
1474
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
bestimmten Effekt hervorzurufen. Seine Seele produziert solche Formeln als Strategeme. Alexander bringt dies auf den Begriff des Fingierens (πλα´ ττειν/plattein): die rhetorischen Figuren sind fingiert, insofern sie einen bestimmten Zustand nachahmen bzw. darstellen (μι´μησι/mimesis). Mit anderen Worten: die rhetorische Textproduktion verläuft nach der Meinung dieses Schematographen nicht als unmittelbare Äußerung einer irgendwie affizierten (διατυ´ πωσι/diatyposis, Einprägung; 11,23) Seele, sondern die Seele selbst stellt technisch geformte Schemata her, die sie im Text zum Einsatz bringt. Ein Beispiel des Alexander möge das illustrieren: Jede Seele kommt immer wieder in Konflikte und äußert sich dann im Dilemma: „Soll ich dies oder jenes tun?“ Die Figur „Die wie soll ich sagen: Feigheit oder Unkenntnis oder beides zusammen der Griechen …“ ahmt diesen Konflikt nach, ohne dass dieser tatsächlich in der Seele stattfindet. Dennoch verleiht das jedermann einsichtige, fingierte Dilemma der Aussage eine besondere Wirkung. Eine besondere Bedeutung für diese Schematographen scheint Caecilius von Kale Akte (Sizilien) gehabt zu haben, der einen umfangreichen Figurentraktat geschrieben hat und von den späteren benutzt worden ist (Quint. Inst. or 9,3,89; Reste von περι` σχημα´ των bei Ofenloch 1907, 32⫺62). Tab. 88.8: Alexander Numeniu, Gedankenfiguren gr. Begriff
dt. Übers.
lat. Begriff
1
προδιο´ ρθωσι prodihorthosis
vorausgeschickte Verbesserung
praecedens correctio (Aquila 1)
2
eœπιδιο´ ρθωσι epidihorthosis
nachgelieferte Verbesserung
superioris rei correctio (Schem. dian. 3)
aœμφιδιο´ ρθωσι amphidihorthosis
Verbesserung
correctio (Schem dian. 4)
4
προκατα´ ληψι prokatalepsis
Antizipation anticipatio (Ps. Rufin. dian. 2)
5
y«πεξαι´ρεσι hypexairesis
6
αiœτιολογι´α aitiologia
3
7
⫺ Begründung aetiologia (Isid. 2,21,39; Rutil. 2,19; Quint. 9,3,93)
συναθροισ- Häufung μο´ auf Abstand synathroismos
distributio; vgl. διαι´ρεσι/ dihairesis (Ps. Rufin. lex. 23, rerum distributio)
gr. Begriff
dt. Übers.
lat. Begriff
8
eœπιμονη´ epimone
Verweilen, Ausformulierung
commoratio (Cic. De or. 3,202)
9
λεπτολογι´α Aufteilung leptologia
(Aquila 2)
10
προσωποποιιÏα prosopopoiı¨a
fictio personae (Quint. 9,2,31)
11
eœπανα´ ληψι Wiederepanalepsis aufnahme
repetitio (Aquila 31), vgl. geminatio (Quint. 9,3,29)
12
eœπαναφορα´ Wiederepanaphora aufnahme
relatum (Aquila 34), vgl. repetitio (Rhet. Her. 4,13,19)
13
hœθοποιιÏα ethopoı¨ia
sermocinatio (Rhet. Her. 4,52,65), imitatio morum (Quint. 9,2,58), moralis conflictio (Aquila 4)
Prosopopoiie
Ethopoiie
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik gr. Begriff
dt. Übers.
lat. Begriff
14
aœποσιω´ πησι aposiopesis
Verschweigen
reticentia (Quint. 9,2,54)
15
eœπιτροχασμο´ epitrochasmos
Durchlauf
percursio (Aquila 6)
εiœρωνει´α eironeia
Ironie
16
17 18
illusio (Quint. 8,6,54; vgl. Quint. 9,2,46), simulatio (Aquila 7)
παρα´ λειψι Übergehen paralepsis
praeteritio (Aquila 8)
aœποστροφη´ Abwendung apostrophe (vom eigentlichen Adressaten)
aversus a iudice sermo (Quint. 9,2,38; vgl. 4,1,69) aversio (Aquila 9)
1475 gr. Begriff
dt. Übers.
lat. Begriff
19
διαπο´ ρησι Zweifel diaporesis
dubitatio (Quint. 9,2,19), addubitatio (Aquila 10)
20
eœρω´ τημα erotema
Befragung
interrogatio (Schem. dian. 39)
21
πυ´ σμα pysma
Erkundigung
quaesitum (Aquila 12)
22
διατυ´ πωσι diatyposis
Verdeutlichung
evidentia (Quint. 8,3,61; 9,2,40, vgl. eœνα´ ργεια/ enargeia)
23
aœντεισαγωγη´ anteisagoge
Antithese
⫺
24
διασυρμο´ diasyrmos
glaubwürdiger Spott
⫺
25
μετα´ στασι Abwendung metastasis der Anklage
remotio criminis (Quint. 7,4,14)
gr. Begriff
lat. Begriff
Tab. 88.9: Alexander Numeniu, Wortfiguren gr. Begriff 1
2
dt. Übers.
aœναδι´πλω- Wiederσι, holung, παλιλλογι´α, Verdopplung eœπανα´ ληψι anadiplosis, palillogia, epanalepsis
eœπαναφορα´ Wiederaufepanaphora nahme (eines Wortes)
lat. Begriff aœναδι´πλωσι/ anadiplosis ⫽ reduplicatio (Aquila 32); παλιλλογι´α/ palillogia ⫽ iteratio (Aquila 29); eœπανα´ληψι/ epanalepsis ⫽ repetitio (Aquila 31) relatum (Aquila 34); iteratio (Ps. Rufin. lex. 6); vgl. repetitio (Rhet. Her. 4,13,19)
dt. Übers.
3
aœντιστροφη´ Epipher antistrophe
conversum (Aquila 35)
4
συμπλοκη´ , συ´ νθεσι symploke, synthesis
Umfassung
complexio (Rhet. Her. 4,14,20); conexum (Aquila 36)
5
συνωνυμι´α synonymia
gemeinsame communio Bezeichnung nominis (Aquila 38; vgl. Isid. 2,21,6; Quint. 9,3,45)
6
eœπα´ νοδο epanodos
reversio, regresssio (Schem. dian. 44)
1476
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik gr. Begriff
dt. Übers.
lat. Begriff
7
κλι˜μαξ klimax
Steigerung
gradatio (Quint. 9,3,54; Rhet. Her. 4,25,34); ascensus (Aquila 40)
8
προσδιασα´ φησι prosdiasaphesis
zusätzliche Verdeutlichung
⫺
9
περι´φρασι Umschreiperiphrasis bung
circumlocutio (Quint. 8,6,59⫺ 60); circumloquium
10
πλεονασμο´ Pleonasmus, adiectio pleonasmos Hinzu(Quint. fügung 8,3,55)
11
aœσυ´ νδετον asyndeton
12
eλλειψι elleipsis
dissolutum (Rhet. Her. 4,30,41) Auslassen
13
aœλλοι´ωσι alloiosis
14
πολυ´ πτωτον Polyptoton polyptoton
Änderung
ellipsis (Quint. 9,3,58); eclipsis (Isid. 1,34,10); detractio (Aquila 46) mutatio (Quint. 9,3,92) polyptoton (vgl. Aquila 37; Carm. 106; Mart. Cap. 41,535; Quint. 9,3,36)
15
μεταβολη´ metabole
Umstellung von Kola
⫺
16
ζευ˜ γμα zeugma
Zeugma (Verbindung)
nexum (Carm. 166; vgl. eœπεζευγμε´ νον, Quint. 9,3,62)
gr. Begriff
dt. Übers.
lat. Begriff
17
o«μοιοτε´ λευτον homoioteleuton
gleiche Endungen
homoeoteleuton (vgl. Quint. 9,3,77; Rutil. 2,14; Rhet. Her. 4,20,28; Carm. 100)
18
o«μοιο´ πτω- gleiche τον Casus homoioptoton
simile casibus (Aquila 25; vgl. Quint. 9,3,78)
19
παρονομασι´α paronomasia
Anklang
annominatio (Quint. 9,3,66)
20
aœντι´θεσι antithesis
Gegensatz
contrapositum/contentio (Quint. 9,3,81)
21
aœντιμετα´ θεσι antimetathesis
Umstellung
commutatio (Rhet. Her. 4,28,39)
22
aœντεναντι´ωσι antenantiosis
Entgegensetzung
exadversio (Carm. 163)
23
y«πε´ ρβατο´ ν hyperbaton
Hyperbaton
transgressio (Quint. 8,6,62)
24
παρεμβολη´ parembole
Einschub
vgl. παρε´ νθεσι/ parenthesis, interpositio (Quint. 9,3,23)
25
πα´ ρισον parison
gleiche Anzahl der Silben
prope aequatum (Aquila 23⫺24)
26
προσυναπα´ ντησι prosynapantesis
27
eœπιτι´μησι epitimesis
praeoccursio (Carm. 154) Verbesserung
correctio (Carm. 151)
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik
1477
Der Sophist Phoibammon aus dem 5.⫺6. Jh. n. Chr. ist der einzige uns überlieferte Rhetor, der die Änderungskategorien (Knape 1992, 554; Ax 2000) konsequent auf alle Figuren anwendet; des weiteren unterscheidet er unter den Gedankenfiguren zwischen Figuren, die sich auf die Person beziehen (του˜ προσω´ που/tu prosopu), von solchen, die sich auf die Rede selbst beziehen. Apostrophe, Frage und Erkundigung gehören zu den personalen Figuren, die übrigen 15 Gedankenfiguren sind sogenannte Textfiguren. Phoibammon gibt bemerkenswerterweise immer die Anzahl der von ihm anerkannten Figuren an: er zählt 18 Gedankenfiguren und 26 Wortfiguren. Bei den Wortfiguren fasst er unter der Änderungskategorie der detractio (eœνδει´α/endeia 45,30 ff.) drei Figuren, unter adiectio (πλεονασμο´ /pleonasmos 46,11 ff.) elf Figuren, unter der transmutatio (μετα´ θεσι/metathesis 48,5 ff.) vier Figuren und unter immutatio (eœναλλαγη´ /enallage 49,2 ff.) acht Figuren. Tab. 88.10: Phoibammon, Wortfiguren
I 1
gr. Begriff
dt. Übers.
lat. Begriff
eνδεια endeia
Mangel
detractio
aœσυ´ νδετον asyndeton
unverbundissolutio dene Glieder (Quint. 9,3,50)
2
aœπο` κοινου˜ apo koinu
doppelter Bezug
⫺
3
eλλειψι elleipsis
Auslassung
ellipsis (Quint. 9,3,58); eclipsis (Isid. 1,34,10); detractio (Aquila 46)
II 4
5
6
πλεονασμο´ Hinzupleonasmos fügung
adiectio
ταυτολογι´α tautologia
Wiederholung
iteratio (Quint. 8,3,50)
aœναδι´πλωσι anadiplosis
Verdoppelung
reduplicatio (Aquila 32; vgl. Quint. 9,3,44)
eœπαναφορα´ Wiederepanaphora aufnahme desselben Wortes
relatum (Aquila 34); iteratio (Ps. Rufin. lex. 6); relation (Mart. Cap. 41); vgl. repetitio (Rhet. Her. 4, 13,19)
gr. Begriff
dt. Übers.
lat. Begriff
7
eœπανα´ δοσι differenzierepanadosis ter Bezug auf ein Wortpaar
⫺
8
eœπανα´ ληψι Wiederaufepanalepsis nahme
repetitio (Aquila 31); vgl. geminatio (Quint. 9,3,29)
9
περι´φρασι Umschreiperiphrasis bung
circumlocutio (Quint. 8,6,59⫺ 60); circumloquium (Isid. 1,37,15)
10
eœπι´φρασι epiphrasis
⫺
11
παρονομασι´α paronomasia
12
eœπεξη´ γησι Erklärung epexegesis
⫺
13
eœπιμονη´ epimone
Verweilen
commoratio (Cic., repetitio crebra sententiae, Schem. dian. 7)
14
eœπι´τασι epitasis
Unterform ⫺ der epimone
Anklang
annominatio (Quint. 9,3,66)
1478
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik gr. Begriff
dt. Übers.
lat. Begriff
gr. Begriff
transmutatio
heteroptoton
III
μετα´ θεσι metathesis
15
y«περβατο´ ν hyperbaton
Hyperbaton
(verbi) transgressio (Quint. 8,6,62; Rhet. Her 4,32,44)
16
aœναστροφη´ anastrophe
Umkehrung
reversio (Quint. 8,6,65)
17
προ´ ληψι prolepsis
Vorwegnahme
anticipatio (Carm. 124)
18
προεπι´ζευ- vorherige ξι Verknüpproepizeuxis fung
⫺
IV
eœναλλαγη´ enallage
immutatio
19
e«τερογενε´ andere heterogenes Gattung
⫺
20
e«τερα´ ριθμον heterarithmon
anderer Numerus
⫺
21
e«τερο´ πτωτον
anderer Fall
⫺
dt. Übers.
lat. Begriff
22
e«τεροσχημα´ τιστον heteroschematiston
Konstruktionswechsel
⫺
23
e«τερο´ χρονον heterochronon
Zeitwechsel
⫺
24
e«τεροπρο´ σωπον heteroprosopon
Wechsel der Person
⫺
25
aœποστροφη´ Abwendung apostrophe
26
aœντιστροφη´ Wechsel von ⫺ antistrophe Prädikat und Partizip
aversus a iudice sermo (Quint. 9,2,38; vgl. 4,1,69); aversio (Aquila 9)
Tab. 88.11: Phoibammon, Gedankenfiguren gr. Begriff
dt. Übers.
eνδεια endeia
I
detractio
aœποσιω´ πησι aposiopesis
Verschweigen
2
eœπιτροχασμο´ epitrochasmos
Durchlauf
II
πλεονασμο´ pleonasmos
1
lat. Begriff
reticentia Quint. 9,2,54; Aquila 5)
dt. Übers.
lat. Begriff
5
προκατα´ ληψι prokatalepsis
Vorwegnahme
anticipatio (Ps. Rufin. dian. 2)
6
παρα´ λειψι Auslassen paraleipsis
praeteritio (Aquila 8; Schem. dian. 29; Mart. Cap. 38,523)
7
διατυ´ πωσι diatyposis
genaue Beschreibung
evidentia (Quint. 8,3,61; 9,2,40; vgl. eœνα´ ργεια/ enargeia)
8
eœπιμονη´ epimone
Verweilen
repetitio crebra sententiae (Schem. dian. 7)
percursio (Aquila 6 p. 24,16) adiectio
3
προδιο´ ρθω- vorwegpraecedens σι nehmende correctio prodiortho- Verbesserung (Aquila 1) sis
4
eœπιδιο´ ρθωσι epidiorthosis
nachträgliche Verbesserung
gr. Begriff
superioris rei correctio (Schem. dian. 3)
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik gr. Begriff III 9
10
dt. Übers.
lat. Begriff
μετα´ θεσι metathesis
transmutatio
προσωποιιÏα prosopopoiie
⫺
hœθοποιιÏα ethopoiia
sermocinatio (Rhet. Her. 4,52,65); imitatio morum (Quint. 9,2,58)
11
μικτο´ ν mikton
Unterform der Ethopoiie
⫺
12
eœρω´ τησι erotesis
Frage
interrogatio
13
πευ˜ σι peusis
Erkundigung
⫺
14
aœποποι´ησι apopoiesis
⫺
IV
eœναλλαγη´ enallage
immutatio
1479 gr. Begriff
dt. Übers.
lat. Begriff
15
εiœρωνει´α eironeia
Ironie
illusio (Quint. 8,6,54 ; vgl. Quint. 9,2,46); simulatio (Aquila 7)
16
διαπο´ ρησι Zweifel diaporesis
dubitatio (Quint. 9,2,19); addubitatio (Aquila 10, Rufin. 9; Schem. dian. 32; Mart. Cap. 38,523)
17
διασυρμο´ diasyrmos
⫺
18
aœποστροφη´ Abwendung apostrophe
ironischer Spott
aversus a iudice sermo (Quint. 9,2,38; vgl. 4,1,69); aversio (Aquila 9)
Tiberius (ed. Spengel 1856, 59⫺82) schickt seiner Auflistung eine knappe Standarddefinition voraus, dass die Figur eine Abweichung vom natürlichen Ausdruck darstellt, und zwar um Schmuck anzubringen oder einen bestimmten Nutzen sicherzustellen. Dann listet er folgende Figuren auf, die er vor allem aus Demosthenes illustriert. Man vermutet, dass er diese Exempla aus der Sammlung des Caecilius übernommen hat (vgl. Spengel 1856, VII). Tab. 88.12: Tiberius, Gedankenfiguren
1
gr. Begriff
dt. Übers.
lat. Begriff
εiœρωνει´α eironeia
Ironie
illusio (Quint. 8,6,54; vgl. Quint. 9,2,46); simulatio (Aquila 7)
2
eœπιτι´μησι epitimesis
3
παρα´ λειψι Auslassung paraleipsis
Verbesserung
gr. Begriff
lat. Begriff
διαπο´ ρησι Zweifel diaporesis
dubitatio (Quint. 9,2,19); addubitatio (Aquila 10)
5
aœποστροφη´ Abwendung apostrophe
aversus a iudice sermo (Quint. 9,2,38; vgl. 4,1,69); aversio (Aquila 9)
6
προδιο´ ρθω- vorausgepraecedens σι schickte Ver- correctio prodiortho- besserung (Aquila 1) sis
correctio (Carm. 151) praeteritio (Aquila 8; Schem. dian. 29; Mart. Cap. 38,523)
dt. Übers.
4
1480
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik gr. Begriff
dt. Übers.
lat. Begriff
7
eœπιδιο´ ρθωσι epidiorthosis
nachgereichte Verbesserung
superioris rei correctio (Schem. dian. 3)
8
aœποσιω´ πησι aposiopesis
Verschweigen
reticentia (Quint. 9,2,54; Aquila 5)
hœθοποιιÏα ethopoiı¨a
Ethopoie
sermocinatio (Rhet. Her. 4,52,65); imitatio morum (Quint. 9,2,58); moralis confictio (Aquila 4)
9
gr. Begriff
dt. Übers.
lat. Begriff
13
aœντικει´μενον antikeimenon
Antithese
Vgl. aœντι´θετον/ antitheton ⫽ comparatio (Quint. 9,2,100)
14
παρα` wider προσδοκι´αν Erwarten para prosdokian
⫺
15
αyœτοσχε´ διον autoschedion
⫺
16
aœντι´θετον antitheton
17
διαλεκτικο´ν Fragedialektikon AntwortStruktur
18
το´ που eœμβολη` eœξ oœνο´ ματο topu embole ex onomatos
Entwicklung ⫺ der Thematik aus einem Wort
Antithese
10
προσω´ που y«ποβολη´ prosοpu hypοbole
11
πυσματικο´ ν Erkundipysmatikon gung
~ quaesitum (Aquila 12)
19
καθο´ λου katholu
Bezug auf das Allgemeine
12
eμφασι emphasis
signum
20
oÕρκο horkos
Schwur
Unterform der Ethopoiie
Andeutung/ Hinweis
comparatio (Quint. 9,2,100) ⫺
Die lateinischen Schematographen verfassten ähnliche Listen; die Abhängigkeit von den griechischen Rhetoren zeigt sich zumal daran, dass der griechische Begriff angegeben wird, der dann übersetzt wird, wobei diese Übersetzung sich oft von der Terminologie der frühen römischen Rhetoriktheorie löst (Herennius-Rhetorik, Cicero). Die Einteilung in Wort- und Gedankenfiguren wird beibehalten. Julius Rufinianus (in ed. Halm 1863, 38⫺47) konstatiert eine Abhängigkeit des Aquila von griechischen Schematographen (2.⫺3. Jh., Text bei Halm 1863, 22⫺37) und setzt das Werk fort (3.⫺4. Jh.). Tatsächlich hatte Aquila das vollständige Werk des Alexander Numeniu, das nicht erhalten ist, übersetzt. Diese Übersetzung scheint aber nur Teil einer aufgrund von Zeitmangel unvollendet gebliebenen Gesamtrhetorik zu sein (Halm 1863, 38). Die Beispiele zur Illustration entnimmt er den Reden Ciceros und lateinischen Übersetzungen des Demosthenes. Das Schema der Darstellung ist streng lemmatisch: griechischer Terminus, lateinische Übersetzung, Kurzbeschreibung, Beispiel. Andere Referenzen sind höchst spärlich: Einmal zitiert er Aristoteles für die Unterscheidung in den mündlichen und den schriftlichen Stil (Arist. Rhet. 3,12), selten wird die HerenniusRhetorik zitiert. Am Ende des Traktes empfiehlt Aquila die Lektüre des Cicero und Demosthenes und warnt vor zu großem Eifer im Anwenden von Figuren (§ 48 nimietas).
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik
1481
Tab. 88.13: Aquila, Gedankenfiguren gr. Terminus
lat. Übers. v. Aquila
gr. Terminus
lat. Übers. v. Aquila
1
προδιο´ ρθωσι prodiorthosis
praecedens correctio
9
aœποστροφη´ apostrophe
aversio
2
λεπτολογι´α leptologia
10
διαπο´ ρησι diaporesis
addubitatio
3
προσωποποιι´α prosopopoiia
personae confictio
11
eœρω´ τημα erotema
interrogatum
4
hœθοποιι´α ethopoiia
moralis confictio
12
πυ´ σμα pysma
quaesitum
5
aœποσιω´ πησι aposiopesis
reticentia
13
διατυ´ πωσι diatyposis
descriptio/ deformatio
6
eœπιτροχασμο´ epitrochasmos
percursio
14
aœντεισαγωγη´ anteisagoge
compensatio
7
εiœρωνει´α eironeia
simulatio
15
διασυρμο´ diasyrmos
elevatio/irrisio
8
παρα´ λειψι paralepsis
praeteritio
16
μετα´ στασι metastasis
transmotio
gr. Terminus
lat. Übers. v. Aquila
Tab. 88.14: Aquila, Wortfiguren gr. Terminus
lat. Übers. v. Aquila
1
aœντι´θετον antitheton
compositum ex contrariis
13
aœντιστροφη´ antistrophe
conversum
2
iœσο´ κωλον isokolon
exaequatum membris
14
συμπλοκη´ symploke
conexum
3
πα´ ρισον parison
prope aequatum
15
πολυ´ πτωτον polyptoton
ex pluribus casibus
4
o«μοιο´ πτωτον homoioptoton
simile casibus
16
συνωνυμι´α synonymia
communio nominis
5
o«μοιοτε´ λευτον homoioteleuton
simile determinatione
17
ταυτολογι´α tautologia
6
παρονομασι´α paronomasia
levis immutatio
18
κλι˜μαξ klimax
ascensus
7
πλοκη´ ploke
copulatio
19
solutum
8
παλιλογι´α palilogia
aœσυ´ νδετον asyndeton
iteratio
20
9
eœπανα´ ληψι epanalepsis
repetitio
διεζευγμε´ νον diezeugmenon
21
disiunctum y«πεζευγμε´ νον hypezeugmenon
iniunctum
10
aœναδι´πλωσι anadiplosis
reduplicatio
22
11
προσαπο´ δοσι prosapodosis
redditio
23
πλεονασμο´ pleonasmos
plus necessarium
12
eœπαναφορα´ epanaphora
relatus
24
eλλειψι ellipsis
detractio
1482
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
Das Carmen de Figuris eines unbekannten Autors (ed. Halm 1863, 63⫺70) stammt wohl aus dem 4.⫺5. Jh. und präsentiert in 186 Versen 61 Wortfiguren in Hexametern. Dieses Versmaß ist das klassische Versmaß des Lehrgedichtes (z. B. Hesiod Werke und Tage, Vergil Georgica) und dient hier dazu, für den Schüler den Stoff leichter memorierbar zu machen. Die streng stereotype Form gibt zunächst den griechischen Terminus, dann die lateinische Übersetzung und auf den folgenden zweieinhalb Versen eine Kurzdefinition mit Beispiel. Als Quelle diente neben Alexander Numeniu auch Rutilius Lupus, ein Schematograph des 1. vorchristlichen bis 1. nachchristlichen Jhs. (Text bei Halm 1863, 3⫺ 21). In vier Büchern hatte dieser das Figurenhandbuch des Gorgias (aus Athen, Lehrer des Sohnes von Cicero) bearbeitet. Er wurde von Quintilian für seinen ausufernden Figurenbegriff getadelt. Überliefert sind nur die Wortfiguren, unter denen sich allerdings auch Gedankenfiguren befinden, während die beiden Bücher über die Gedankenfiguren verloren sind (Quint. Inst. or. 9,2,102).
Tab. 88.15: Carmen de figuris gr. Terminus
lat. Übers. im Carmen de figuris
1
κο´ μμα komma
incisum (Quint. 9,4,22)
2
κv˜ λον kolon
3
gr. Terminus
lat. Übers. im Carmen de figuris
15
βραχυλογι´α brachylogia
brevitas
membrum (Quint. 9,4,22)
16
διαφορα´ diaphora
distinctio
περι´οδο periodos
circuitus
17
πολυσυ´ νδετον polysyndeton
multiiugum
4
aœνα´ κλασι anaklasis
reflexio
18
διαλελυμε´ νον dialegmenon
abiunctum
5
aœντιμεταβολη´ antimetabole
permutatio
19
διηρημε´ νον dieremenon
disparsum
6
aœλλοι´ωσι alloiosis
differitas
20
διε´ ξοδο diexodos
percursio
7
aœντι´θετον antitheton
oppositum
21
eœπιπλοκη´ epiploke
conexio
8
αiœτιολογι´α aitiologia
redditio causae
22
eœπανα´ ληψι epanalepsis
resumptio
9
aœνθυποφορα´ antypophora
rellatio
23
eœπιτροπη´ epitrope
concessio
10
aœπο´ κρισι apokrisis
responsio
24
eœπιφωνου´ μενον epiphonumenon
intersertio
11
eœπαναφορα´ epanaphora
repititio
25
eœπι´ζευξι epizeuxis
geminatio
12
eœπιφορα´ epiphora
desitio
26
eœπεκφω´ νησι epekphonesis
exclamatio
13
κοινο´ τη koinotes
communio
27
iœσο´ κωλον isokolon
parimembre
14
aœναδι´πλωσι anadiplosis
replicatio
28
μερισμο´ merismos
distribuela
88. Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik
1483 gr. Terminus
lat. Übers. im Carmen de figuris
46
συναθροισμο´ synathroismos
conductio conque gregatio
variatio
47
συνοικει´ωσι synoikeiosis
conciliatio
μετα´ κλισι metaklisis
declinatio
48
τρι´κωλον trikolon
teriuga
32
o«ρισμο´ horismos
definitio
49
χαρακτηρισμο´ charakterismos
depictio
33
o«μοιοτε´ λευτον homoioteleuton
confine
50
eœπιτι´μησι epitimesis
correctio
34
o«μοιο´ πτωτον homoioptoton
aequeclinatum
51
προυπα´ ντησι prupantesis
praeoccursio
35
πολυ´ πτωτον polyptoton
multiclinatum
52
aœναστροφη´ anastrophe
reversio
36
παρονομασι´α paronomasia
supparile
53
y«περβατο´ ν hyperbaton
transcensus
37
προσαπο´ δοσι prosapodosis
subnexio
54
exadversio
38
παραδιαστολη´ paradistole
subdistinctio
aœντεναντι´ωσι antenantiosis
55
nexum
39
παρε´ νθεσι parenthesis
interiectio
ζευ˜ γμα zeugma
56
παρομολογι´α paronologia
suffessio
μεταβολη´ metabole
variatio
40
57
41
anticipatio
aœλλοι´ωσι/ y«παλλαγη´ alloiosis/hypallage
mutatio
προ´ ληψι prolepsis
42
παρο´ μοιον paromoion
adsimile
58
eλλειψι elleipsis
defectio
43
παρρησι´α parrhesia
inreticentia
59
πλεονασμο´ pleonasmos
exsuperatio
44
προ´ τασι protasis
propositum
60
περι´φρασι periphrasis
circumlocutio
45
πα´ ντα προ` παντα cuncta ad cuncta panta pros panta
61
προσδιασα´ φησι prosdiasaphesis
adsignificatio
gr. Terminus
lat. Übers. im Carmen de figuris
29
μετα´ βασι metabasis
remeatio
30
μετα´ φρασι metaphrasis
31
4. Literatur (in Auswahl) Alexander Numeniu: Peri schematon siehe Spengel (1856), 7⫺40. Alexanderrhetorik siehe Anaximenes (1966) und Chiron (2002). Anaximenes (1966): Ars rhetorica: quae vulgo fertur Aristotelis ad Alexandrum. Griech.⫺lat. Hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Leipzig (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana); dt.: Aristoteles (1959): Rhetorik an Alexander. Hrsg. u. aus dem Griech. übers. v. Paul Gohlke. Paderborn (Aristoteles: Die Lehrschriften, 3: Rhetorik und Poetik).
1484
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
Aquila ⫽ Aquilae romani de figuris et elocutionis liber siehe Halm (1863), 22⫺37; siehe auch Elice (2007). Ax, Wolfram (2000): Quadripertita ratio. Bemerkungen zur Geschichte eines aktuellen Kategoriensystems (adiectio ⫺ detractio ⫺ transmutatio ⫺ immutatio). In: Wolfram Ax: Lexis und Logos. Studien zur antiken Grammatik und Rhetorik. Hrsg. von Farouk Grewing. Stuttgart, 190⫺208. Barwick, Karl (1957): Probleme der stoischen Sprachlehre und Rhetorik. Leipzig. (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaft zu Leipzig, phil.-hist. Kl., 49,3). Bonanno, Emilia (1986): Sul de figuris sententiarum et elocutionis liber di Aquila Romano. In: Sileno 12, 73⫺86. Brooks, Edward (ed.) (1970): Rutilius Lupus. De figuris sententiarum et elocutionis. Leiden. Buchheim, Thomas (1996): Gorgianische Figuren. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 3, 1025⫺1030. Carm. ⫽ Carmen de figuris vel schematibus siehe Halm (1863), 63⫺70; siehe auch D’Angelo (2001). Chiron, Pierre (ed.) (2002): Rhe´torique a` Alexandre/Pseudo-Aristote. Texte e´tabli et trad. Paris. Cic. De or. ⫽ Cicero (2007): De oratore/Über den Redner. Lat./dt. Hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein. Düsseldorf, siehe auch Wisse/Winterbottom/Fantham (2008). Cic. or. ⫽ Cicero (1988): Orator. Lat./dt. Hrsg. und übers. v. Bernhard Kytzler. 3., durchges. Aufl. München/Zürich. D’Angelo, Rosa Maria (Hrsg.) (2001): Carmen de figuris vel schematibus. Introduzione, testo criticoe commento. Hildesheim/New York/Zürich. Dick, Adolfus (Hrsg.) (1987): Martianus Capella: De nuptiis Philologiae et Mercurii. 3. Aufl. Stuttgart. Dionysios von Halikarnass siehe Usher (1974). DK ⫽ Diels, Hermann/Walther Kranz (Hrsg.) (1960/61): Die Fragmente der Vorsokratiker. Griech./ dt. 3 Bde. Berlin. Elice, Martina (Hrsg.) (2007): Romani Aquilae De Figuris. Introduzione, testo critico, traduzione e commento. Hildesheim/Zürich/New York. Fehling, Detlev (1958): Rezension zu Barwick 1957. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 212, 161⫺173. Grebe, Sabine (2000): Change and Continuity in Rhetorical Writings: Aquila Romanus’ and Martianus Capella’s Treatises on the Figurae Sententiarum et Elocutionis. In: Acta Classica 43, 45⫺69. Halm, Karl (1863): Rhetores Latini Minores. Leipzig. Nachdruck Frankfurt a. M. 1964. Isid. ⫽ Isidori libellus de arte rhetorica siehe Halm (1863), 505⫺522. Isokrates (1929): Antidosis. In: Isocrates in three volumes. With an Engl. transl. by George Norlin. Vol. 2. London, 179⫺365. Isokrates (1997): Antidosis oder Über den Vermögenstausch. In: Isokrates. Sämtliche Werke. Bd. 2. Übers. von Christine Ley-Hutton, eingeleitet und erläutert von Kai Brodersen. Stuttgart, 117⫺178. Knape, Joachim (1992): Änderungskategorien. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1, 549⫺ 566. Knape, Joachim (1994): Elocutio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2, 1022⫺1083. Knape, Joachim (1996): Figurenlehre. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 3, 289⫺342. Mart. Cap. ⫽ Martiani Capellae liber de arte rhetorica siehe Halm (1863), 449⫺492; siehe auch Dick (1987) und Zekl (2005). Martin, Josef (1948): Zu den Rhetores latini minores. In: Würzburger Jahrbücher 3, 316⫺320. Ofenloch, Ernst (Hrsg.) (1907): Caecilii Calactini Fragmenta. Leipzig (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Phoibammon: Scholia peri schematon rhetorikon siehe Spengel (1856), 41⫺56. Quint. ⫽ Quintilian (2006): Ausbildung des Redners. Institutio oratoria. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. 2 Bde. Unveränd. Nachdruck der 3. Aufl. Darmstadt (Texte zur Forschung, 2 u. 3). Rapp, Christof (Hrsg.) (2002): Aristoteles: Rhetorik. Berlin (Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, 4).
89. Tropen im Rahmen der klassischen Rhetorik
1485
Rhet. Her. ⫽ Rhetorica ad Herennium. Lat./dt. Hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein. Düsseldorf/ Zürich 1994. Ps. Rufin. dian. ⫽ Rufiniani de schematis dianoeas siehe Halm (1863), 59⫺62. Ps. Rufin. lex. ⫽ Rufiniani de schematis lexeos siehe Halm (1863), 48⫺58. Rutil. ⫽ P. Rutilii Lupi schemata lexeos siehe Halm (1863), 1⫺21, siehe auch Brooks (1970). Schem. dian. ⫽ Incerti auctoris schemata dianoeas siehe Halm (1863), 71⫺77. Schenkeveld, Dirk M. (1991): Figures and Tropes. A Border-Case between Grammar and Rhetoric. In: Gert Ueding (Hrsg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“. Tübingen, 149⫺157 (Rhetorik-Forschungen, 1). Schindel, Ulrich (2001): Die Rezeption der hellenestischen Theorie der rhetorischen Figuren bei den Römern. Göttingen. Spengel, Leonhard (Hrsg.) (1856): Rhetores Graeci. Bd. 3. Leipzig. Nachdruck Frankfurt a. M. 1966. Squillante, Marisa (1990): Un inventario di figure retoriche della tarda latinita`. In: Vichiana 3,1, 255⫺261. Usher, Stephen (ed.) (1974): Dionysius of Halicarnassus. Critical Essays. Ed. and transl. Vol. 1. Cambridge, MA/London. Wisse, Jakob/Michael Winterbottom/Elaine Fantham (eds.) (2008): M. T. Cicero. De oratore libri III. A Commentary on Book III, 96⫺230. Vol. 5. Heidelberg. Zekl, Hans G. (Hrsg.): (2005): Martianus Capella. Die Hochzeit der Philologia mit Merkur. De nuptiis Philologiae et Mercurii. Übers., mit einer Einl., Inhaltsübers. u. Anm. vers. Würzburg.
Thomas Schirren, Salzburg (Österreich)
89. Tropen im Rahmen der klassischen Rhetorik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Systematisches Aristoteles Die ,Tryphones‘ de tropis (περι` τρο´ πων/peri tropon) und andere Grammatiker Der Auctor ad Herennium Cicero: De oratore Quintilian Tropen bei den Stilkritikern Literatur (in Auswahl)
Abstract A trope is a rhetorical figure which uses an uncommon or figurative notion instead of the common literal form of a word. Major definitions on tropes have been made by Aristotle in his treatment on metaphors. However, the most decisive compilation of tropes originated from Stoic linguistic theory. The tropographs compiled lists of tropes and these then entered rhetorical theory.
89. Tropen im Rahmen der klassischen Rhetorik
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Rhet. Her. ⫽ Rhetorica ad Herennium. Lat./dt. Hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein. Düsseldorf/ Zürich 1994. Ps. Rufin. dian. ⫽ Rufiniani de schematis dianoeas siehe Halm (1863), 59⫺62. Ps. Rufin. lex. ⫽ Rufiniani de schematis lexeos siehe Halm (1863), 48⫺58. Rutil. ⫽ P. Rutilii Lupi schemata lexeos siehe Halm (1863), 1⫺21, siehe auch Brooks (1970). Schem. dian. ⫽ Incerti auctoris schemata dianoeas siehe Halm (1863), 71⫺77. Schenkeveld, Dirk M. (1991): Figures and Tropes. A Border-Case between Grammar and Rhetoric. In: Gert Ueding (Hrsg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“. Tübingen, 149⫺157 (Rhetorik-Forschungen, 1). Schindel, Ulrich (2001): Die Rezeption der hellenestischen Theorie der rhetorischen Figuren bei den Römern. Göttingen. Spengel, Leonhard (Hrsg.) (1856): Rhetores Graeci. Bd. 3. Leipzig. Nachdruck Frankfurt a. M. 1966. Squillante, Marisa (1990): Un inventario di figure retoriche della tarda latinita`. In: Vichiana 3,1, 255⫺261. Usher, Stephen (ed.) (1974): Dionysius of Halicarnassus. Critical Essays. Ed. and transl. Vol. 1. Cambridge, MA/London. Wisse, Jakob/Michael Winterbottom/Elaine Fantham (eds.) (2008): M. T. Cicero. De oratore libri III. A Commentary on Book III, 96⫺230. Vol. 5. Heidelberg. Zekl, Hans G. (Hrsg.): (2005): Martianus Capella. Die Hochzeit der Philologia mit Merkur. De nuptiis Philologiae et Mercurii. Übers., mit einer Einl., Inhaltsübers. u. Anm. vers. Würzburg.
Thomas Schirren, Salzburg (Österreich)
89. Tropen im Rahmen der klassischen Rhetorik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Systematisches Aristoteles Die ,Tryphones‘ de tropis (περι` τρο´ πων/peri tropon) und andere Grammatiker Der Auctor ad Herennium Cicero: De oratore Quintilian Tropen bei den Stilkritikern Literatur (in Auswahl)
Abstract A trope is a rhetorical figure which uses an uncommon or figurative notion instead of the common literal form of a word. Major definitions on tropes have been made by Aristotle in his treatment on metaphors. However, the most decisive compilation of tropes originated from Stoic linguistic theory. The tropographs compiled lists of tropes and these then entered rhetorical theory.
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
1. Systematisches Der Gebrauch von Tropen gehört systematisch gesehen in die elocutio, λε´ ξι/lexis. Gemäß den von Theophrast konzipierten, auf dessen Lehrer Aristoteles aufbauenden, vier virtutes elocutionis (Vorzüge der sprachlichen Formulierung, s. Art. 85 in diesem Band) fallen sie in das Gebiet des sprachlichen Schmuckes (ornatus, κο´ σμο/kosmos). Für Aristoteles, der für solche Stilmittel keinen allgemeinen Begriff (wie figura, schema, tropus) zu kennen oder zu benötigen scheint, ergibt sich die Frage nach dem sprachlichen Schmuck aus seiner Definition der Vorzüglichkeit der sprachlichen Form: Sie soll deutlich sein, ohne dabei banal zu wirken. Indem der Orator der Banalität zu entgehen strebt, muss er jedoch meist Einbußen an Deutlichkeit in Kauf nehmen. Deutlichkeit allein jedoch kann die Rezipienten dadurch verfehlen, dass sie wegen der einfachen sprachlichen Form kein Interesse für die Inhalte aufbringen (Arist. Rhet. 3,2). Daher läuft die Behandlung der sprachlichen Form für den Stagiriten auf den Tropus der Metapher hinaus, der allgemein betrachtet darin besteht, an die Stelle eines gebräuchlichen und oftmals eigentlichen (κυ´ ριον oνομα/kyrion onoma) Ausdrucks einen anderen zu setzen, der verfremdend wirkt und besonderes Interesse wecken kann. Aus den Trümmern der hellenistischen Rhetorik ragt für die Frage nach dem Tropus eine kurze Abhandlung des Grammatikers Tryphon (2. Hälfte des 1. Jhs. v. Chr) heraus, der zwei Listen mit 14 und 27 Tropen aufführt, die er in poetische und phrastische Tropen unterteilt (ed. Spengel 1856, 191⫺206). Es ist diese grammatische Beschäftigung, die wir auch für den Ursprung der Tropenlehre annehmen müssen. Alle Indizien verweisen uns auf die Stoa als den eigentlichen Schöpfer der Tropenlehre, allerdings nicht im Kontext der Rhetorik, sondern der Sprachlehre. Eine besondere Bedeutung wird in diesem Zusammenhang der Plutarch zugeschriebenen Abhandlung über das Leben Homers zugewiesen (ed. Kindstrand 1990, 7⫺117). In den Abschnitten 16⫺26 werden acht bzw. neun typische Tropen genannt: Onomatopöie, Katachresis, Metapher, Metalepsis, Synekdoche, Metonymie, Antonomasie, Antiphrasis, und die eher selten hierzu gezählte Emphasis. Karl Barwick (1957, 88⫺97) stellt nun die ansprechende Vermutung an, dass diese Tropen mit den Begriffen similitudo, vicinitas, contrarium gebildet worden sind. Mit denselben arbeite nämlich auch die stoische Theorie der Sprachschöpfung, die aus den ersten Lauten (πρv˜ ται φωναι´ / protai phonai) die ersten Wörter bilden (meist durch Onomatopoiie) und später durch Übertragungsvorgänge weitere Bezeichnungen entstehen ließ. Diese Übertragungen wurden aber durch drei Vorgänge vollzogen, nämlich durch Ähnlichkeit (similitudo), Verwandtschaft (vicinitas) und Gegenteil (contrarium). So bilden sich Metapher und Metalepsis durch Ähnlichkeit (similitudo), Synekdoche und Metonymie durch Verwandtschaft bzw. sachliche Nähe (vicinitas), Antiphrasis durch das Gegenteil. Onomatopoiie erklärt sich nun als Relikt aus der Sprachschöpfungslehre, ebenso die Katachresis, die ja eigentlich kein Tropus ist, da nicht übertragen wird, sondern ein bekannter Ausdruck auf einen neuen, vorher unbezeichneten Bereich oder Gegenstand angewendet wird. Auffällig an dieser stoischen Tropus-Lehre ist zudem die strikte Reduktion auf Ein-Wort-Tropen, also die Abweisung von Ironie und Allegorie. Für die Generierungsvorgänge könnte man auf Aristoteles verweisen, der in seiner Metapherntheorie die Herstellung von Metaphern als kategoriale Übertragungsvorgänge beschreibt. Es ist für die antike Rhetorik bezeichnend, dass die Fülle der ornatus-Phänomene auf eine Matrix zurückgeführt wird, die diese Fülle fasslich machen soll. Die in der Grammatik geprägte quadripertita ratio (Änderungskategorien s. Knape 1992 und Ax 2000, vgl. Quint. Inst. or. 1,5,38) ist eine weitere Methode, sprachliche Figurationen im allgemeinsten Sinne in ein System zu bringen.
89. Tropen im Rahmen der klassischen Rhetorik
1487
2. Aristoteles Die Metapher steht deshalb im Zentrum der aristotelischen Beschäftigung mit der Lexis, weil darin alle Vorzüge der Lexis zum Tragen kommen können (Arist. Rhet. 3,2; 1404b32 ff.). Wegen der durch diese bewirkten Verfremdung erregt sie das Interesse der Rezipienten (h«δυ´ /hedy, angenehm), zugleich aber vermag sie etwas zu verdeutlichen (το` σαφε´ /to saphes), weil sie Seinsbereiche in eine bisher unbeachtete Relation bringt (vgl. Arist. Poet. 21,6 ff.; 1457b6 ff.). Freilich spielt es eine erhebliche Rolle, welche Bereiche durch die Metapher einander angenähert werden. Bei der Auswahl geeigneter Metaphern verweist Aristoteles daher auf individuelle Vorzüge der Künstler (Rhet. 1410b7⫺8; Schirren 2008). Vor allem aber ist es wichtig, sich klar zu machen, dass der Begriff der Metapher von Aristoteles als Relation (eœπιφορα´ /epiphora, Beziehung) aufgefasst wird („Die Metapher ist eine Übertragung (eœπιφορα´ /epiphora) eines sachfremden (aœλλο´ τριο/allotrios) Wortes: Entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung oder von der Art auf die Art oder gemäß Analogie“, Arist. Poet. 1457b6⫺9), denn μεταφορα´ / metaphora bedeutet eigentlich ,Übertragung‘ und war offenbar bereits vor Aristoteles als rhetorischer Terminus geläufig (Isokrates Or. 9,9). In Poetik 21 stellt Aristoteles vier mögliche Übertragungsvorgänge zur Bildung von Metaphern vor: Von der Gattung auf die Art, von der Art auf die Gattung, von Art zu Art oder gemäß Analogie. Das Schiff steht ist ein Bezug von der Gattung auf die Art, denn der spezielle Ausdruck ,Ankern‘ ist durch den generischen des Stillstehens ersetzt. Eine umgekehrte Übertragung von der Art auf die Gattung liegt im Ausdruck Odysseus hat zehntausend große Taten vollbracht vor, denn der spezielle Ausdruck ,zehntausend‘ wird im Sinne des generischen ,viele‘ gebraucht. Sagt man aber mit dem Eisen die Seele schöpfend dann wird ein spezieller Ausdruck statt eines anderen verwendet, nämlich ,Eisen‘ statt ,Schwert‘. Die wichtigste Übertragungsform ist aber in den Augen des Stagiriten die der Analogie: 2 verhält sich zu 1 wie 4 zu 3: Die Phiale verhält sich zu Dionysos wie der Schild zu Ares; also könnte man sagen, dass die Phiale der Schild des Dionysos ist. Diese Analogiebildung kann auch zur Herstellung von Rätseln dienen. Rätsel bestehen darin, so Aristoteles, Vorhandenes so auszudrücken, dass man das Gesagte zunächst rational nicht sinnvoll verknüpfen könne (Arist. Poet. 22; 1658a26 ff.): „Einen Mann sah ich, der mit Feuer Eisen an den Mann klebte.“ In der Rhetorik 3,2; 1405b1⫺2 ist dieses Rätsel zugleich Beispiel einer Katachrese, da es für das Ansetzen eines Schröpfkopfes (σικυ´ η/sikye, eigentlich ,Flaschenkürbis‘) keinen speziellen Ausdruck gibt, wegen der Ähnlichkeit der Tätigkeit aber ,(an)kleben‘ (κολλα´ ω/kollao) verwendet wird. Die vier Formen zur Übertragung von Metaphern dienen, wie erwähnt, später dazu, einzelne Tropen zu differenzieren, die Aristoteles noch mit dem Begriff der metaphora zusammenfasste. Von Gattung zu Art grundsätzlich als Synekdoche (vgl. Quint. Inst. or. 8,6,19⫺20); auch das von Aristoteles genannte Beispiel der Übertragung von Art auf Art wäre als Synekdoche zu bezeichnen (Tryphon 196,5). Die Übertragung von Gegenständen auf die für diesen Seinsbereich zuständige Gottheit ist für späteren Rhetoren die Metonymie (Tryphon 195, 22). Wie auch sonst ist Aristoteles bemüht, die Theorie der Lexis auf einige wenige Begriffe und theoretische Konzepte zu reduzieren. Das rührt zumal daher, dass Aristoteles das System der Rhetorik in den Kontext anderer Fachdisziplinen rücken will. Begriffliche Vereinfachungen dieser Art erlauben es, wissenschaftstheoretische Verbindung zwischen den einzelnen Disziplinen herzustellen. Die Form des systematischen Lehrbuches ist gerade auch solchen Bedürfnissen geschuldet (Fuhrmann 1960).
1488
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
Es ist aber die Bildung gemäß Analogie, die die Hauptfunktion der Metapher trifft. Denn hierbei werden durch Verwendung der Semantik eines Lexemes Ähnlichkeiten zwischen zwei Bereichen konstatiert. Bei der Dekodierung einer gelungen Metapher findet daher ein Lerneffekt statt, an dessen Ende sich der Rezipient eingestehen muss, dass ihm dieser durch die Metapher hergestellte Zusammenhang bisher noch nicht so klar geworden ist: „Wie wahr“, sagt sich die Seele, „ich aber war im Irrtum“ (Arist. Rhet. 3,11, 1412a20⫺21). Das Auffinden solcher gelungener Metaphern ist daher einem eigenen Kapitel gewidmet (Rhet. 3,10), in welchem die geistreiche Formulierung erörtert wird. Ausgangspunkt dieser methodischen Reflexion über die aœστει˜α/asteia (urbanitas, Esprit) ist die anthropologische Behauptung, dass der Mensch gerne lerne (vgl. auch Arist. Poet. 4; 1448b6 ff.); daher sind uns solche Ausdrücke angenehm, bei denen wir etwas lernen können. Während fremdsprachliche Ausdrücke uns unverständlich bleiben, findet bei den gewohnten Ausdrücken kein Lernen mehr statt, weil wir sie bereits kennen. Nur die Metapher vermag uns etwas lernen zu lassen, wenn sie etwa das Alter eine Stoppel (καλα´ μη/kalame; 1410b14) nennt. Denn in der Übertragung vom Zustand eines Getreidehalms nach der Ernte auf das vorgerückte Alter eines Menschen, wird gemäß der Gattung ein semantisches Moment (nicht mehr fruchttragend) von einer Art auf eine andere übertragen. In der Poetik 21 wird indessen der Ausdruck ,Lebensabend‘ als Analogiebildung bezeichnet; tatsächlich überschneiden sich hier beide Einteilungsschemata, die von modernen Forschern auch als zu starr angesehen werden (Übersicht zur Problematik bei Rapp 2002, Bd. 2, 921⫺930). Denn natürlich kann man viele Analogiebildungen auch als Verschiebung erklären, denn die Analogie funktioniert auf der Grundlage eines Dritten, das hier als Gattung fungieren kann (vgl. Rapp 2002, Bd. 2, 890⫺891). Für die Figur des Bildes dagegen gilt das Angenehme des Lernvorganges nicht in gleichem Maße: das rührt daher, dass durch das Vergleichswort „gleichsam“ (hoion) das Unmittelbare des Substitutionsvorganges aufgegeben wird. Diese Begründung gibt uns auch einen Hinweis darauf, wie man die Metapherntheorie von Aristoteles zu verstehen hat. Wenn man darin einen einfachen Prädikationsvorgang erkennen will, dann gerät aus dem Blick, dass Aristoteles eigentlich in der Metapher eine Identitätsaussage erkennt: X ist Y. Wenn diese Identifizierung zulässig sein soll, dann darf nicht einfach das eine durch das andere ersetzt werden (Substitution), sondern es muss in der Substitution der Vorgang der Übertragung (eœπιφορα´ /epiphora) erkennbar bleiben. Das tertium comparationis tritt erst dann als eigentliche intendierte Aussage hervor, wenn beide Gegenstände, comparatum und comparandum, im Vergleich zusammengespannt werden, ohne dass dabei das eine zu Gunsten des anderen verschwindet. Die Aussage: Achill ist ein Löwe wird erst dann als Metapher verstanden, wenn der Rezipient nicht etwa meint, dass es um einen Löwen namens Achill geht, sondern wenn der Mensch Achill mit bestimmten Eigenschaften eines Löwen verknüpft wird. Besondere Wirkung entfaltet nach Aristoteles die Metapher, wenn sie zugleich ein anderes Charakteristikum der asteia aufweist, nämlich etwas vor Augen stellen zu können (προ` oœμμα´ των ποιει˜ν/pro ommaton poiein, ante oculos ponere, Arist. Rhet. 3,11; 1411b23). Dies gelingt dann am besten, wenn die Dinge, von denen die Rede ist, als wirkliche, bzw. tätige (eœνεργου˜ ντα/energunta) bezeichnet werden. Mit Formulierungen wie ,es flog der Pfeil‘, ,begierig, herbeizufliegen‘ (Hom. Ilias, 13,587 u. 4,126), gelinge es Homer, das Unbelebte belebt zu machen (τα` aψυχα eμψυχα ποιει˜ν/ta apsycha empsycha poiein Arist. Rhet. 1411b32), indem der abgeschossene Pfeil mit einem fliegenden Wesen identifiziert wird bzw. mit einer Intention (die eigentlich dem Schützen zukommt) verse-
89. Tropen im Rahmen der klassischen Rhetorik
1489
hen wird. Auch und gerade für solche Metaphernbildung muss aber gelten, dass die hier zusammengebrachten Gegenstandsbereiche einerseits nicht zu weit voneinander entfernt sind (das würde das tertium comparationis verdunkeln), andererseits aber auch nicht zu offensichtlich sind, sonst könne der Rezipient keine Lernerfahrung machen. Gute Metaphern bilden zu können verlange vielmehr eine philosophische Begabung, das Ähnliche auch in weit voneinander Entferntem betrachten zu können (Arist. Rhet. 3,11; 1412a9⫺ 12). Daher empfiehlt Aristoteles hierfür die gemäß Analogie verfahrende Metaphernbildung. Ebenso fallen auch hyperbolische Ausdrücke unter die ,energischen‘ Metaphern, da eine Substitution durch ein Gegenstand vorgenommen wird, der eine bestimmte zu vergleichende Qualität in besonders hohem Maße aufweist (Arist. Rhet. 3,11; 1413a19⫺ 23). Auch Sprichwörter subsumiert Aristoteles unter die Metaphora, weil eine konkrete Situation mit einer sprichwörtlichen verglichen bzw. sogar substituiert wird.
3. Die ,Tryphones de tropis (peri+ tro*pwn/peri tropon) und andere Grammatiker In der kurzen Abhandlung aus dem Hellenismus wird die erste Definition des Tropus gegeben: τρο´ πο δε eœστι` λο´ γο κατα` παρατροπη` ν του˜ κυρι´ου λεγο´ μενο κατα´ τινα δη´ λωσιν κοσμιωτε´ ραν h κατα` το` aœναγκαι˜ον / „Der Tropus ist eine Rede, die gemäß einer Abwandlung des üblichen (eigentlichen?) Wortgebrauches mit einer geschmückteren Verdeutlichung als es notwendig wäre, formuliert wird“ (Tryphon 191,12⫺14). Angekündigt werden zunächst 14 poetische Tropen; das gemeinsame charakteristische Merkmal soll dabei sein, dass diese Tropen den gewohnten Sprachgebrauch abändern, was für die dichterische Sprache typisch ist (vgl. Art. 85 unter 2. Aristoteles und Art. 86 in diesem Band); der eingangs angekündigte Tropus des Pleroma fehlt allerdings in der Darstellung: Tab. 89.1: Tryphon i: poetische Tropen Bezeichnung
Bezeichnung
Beschreibung
6
Metonymie
Verwendung eines Homonyms, das in einer Sachbeziehung zum substituierten Wort steht (Gott Hephaistos statt Feuer: „vom Homonymen aus das Synonyme bedeuten“, 195)
7
Synekdoche
Ersatz auf der Teil-Ganzes-Ebene
8
Onomatopoiie
Wortbildung nach (sieben) Gesichtspunkten
9
Periphrasis
Umschreibung (Kraft des Poseidon statt Poseidon)
Beschreibung
1
Metapher
Übertragung
2
Katachrese
notwendige Übertragung
3
Allegorie
Differenz zwischen Ausdruck und Inhalt, verbunden durch Ähnlichkeit
4
Ainigma
Rätsel
5
Metalepse
Verwendung eines Synomyms in einem ungewöhnlichen Kontext („mit einem Synonym das Homonyme bedeuten“, 195)
1490
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik Bezeichnung
Beschreibung
10
Anastrophe
veränderte Wortstellung
11
Hyperbaton
Sperrung auf Wort (Tmesis) und Satzebene.
12
Pleonasmus
nicht notwendige Zusätze
Bezeichnung
Beschreibung
13
Elleipsis
Weglassung eines Elementes
14
[Pleroma]
Es folgen 27 „phrastische“ Tropen (Tryphon 198 ff.). Es ist nicht leicht zu sagen, warum alle diese Figurationen als Tropen behandelt werden; so bei der Proanaphonesis und der Parekbasis. Auch wird nicht erklärt, warum diese Tropen phrastisch heißen. Möglicherweise, weil sie eine verdeutlichende Funktion in der Prosa haben können. Dennoch werden überwiegend Beispiele aus der Dichtung gegeben. Tab. 89.2: Tryphon i: phrastische Tropen Bezeichnung
Beschreibung
1
Hyperbole
Über- oder Untertreibung
2
Emphase
verdeckte Bezeichnung
3
Energeia
Vor Augen stellen
4
Parasiopese
statt einer vollständigen Bezeichnung von zwei Dingen wird auf eines verzichtet, weil sich diese gemäß Analogie ergibt
5
6
7
Homoiosis
Eikon
Paradeigma
etwas wird mit etwas anderem verglichen, nämlich in drei Formen: Eikon, Paradeigma, Parabole expliziter Vergleich, der sich auf das Ganze oder einzelne Eigenschaften beziehen kann Vergleich mit etwas, das tatsächlich passiert ist, mit der Intention, zu- oder abzuraten
Bezeichnung
Beschreibung
8
Parabole
anschaulicher (,energischer‘) Vergleich mit etwas, das für möglich gehalten wird
9
Charakterismos
körperliche Eigenschaften werden deutlich benannt (⫽ Eikonismos)
10
Eikasmos
lächerliches Gleichnis, das die Phantasie der Rezipienten anspricht (vgl. Eikon)
11
Syntomia
Ausdruck, der alles Notwendige beinhaltet
12
Brachytes
kurzer Ausdruck, der mehr zu denken als zu hören gibt (z. B. delphische Orakel)
13
Syllepsis
stellt zwei zusammengehörige Dinge dar
14
Epanalepsis
zwei- oder mehrmalige Wiederholung eines Elementes
89. Tropen im Rahmen der klassischen Rhetorik Bezeichnung
Beschreibung
15
Proanaphonesis
sagt Dinge voraus, die noch stattfinden werden
16
Parekbasis
geschichtlicher od. genealogischer Exkurs
17
Amphibolie
zwei- od. mehrdeutiger Ausdruck oder Satz
18
Antiphrasis
drückt (mit Ironie) das Gegenteil vom Behaupteten aus (z. B. Euphemismos)
19
Metatyposis
Verwechslung der Buchstaben
20
Antonomasia
drückt das (semantisch) Entscheidende durch Synonyme aus
1491 Bezeichnung
Beschreibung
21
Eironia
weist mittels einer Fiktion auf dem Gegenteil des Behaupteten
22
Sarkasmos
ein Lächeln, das die Zähne zeigt
23
Mykterismos
drückt mehrere Witze zugleich aus
24
Charientismos
entspannender Witz für Redner und Rezipient
25
Epikertomesis
Spott-Allegorie
26
Asteismos
Selbstironie
27
Paroimia
Spruch, in dem ein Element vom Anfang am Ende wieder aufgenommen wird
Eine ähnliche Liste verarbeitet ein anderer Tropograph, der in der Überlieferung einem Gregorius von Korinth zugeschrieben wird, doch aufgrund zahlreicher Parallelen wohl ein weiterer Zeuge einer verlorengegangenen Schrift des Tryphon ist, von der der oben behandelte auch nur ein Zeuge ist. West (1965) unterscheidet sie daher als Tryphon i und Tryphon ii. West (1965) zählt diese beiden Diktionaire mit anderen (Anonymus in Spengel 1856, Bd. 3, 207⫺214; Anonymus in Spengel 1856, Bd. 3, 227⫺229; Cocondrius in Spengel 1856, Bd. 3, 230⫺243; Ps.-Choeroboscus in Spengel 1856, Bd. 3, 244⫺256; Ps.-Plutarch in Kindstrand 1990, § 15⫺27) zu einer Gruppe solcher Wörterbücher, die nicht rhetorischen Interessen entsprangen, sondern grammatischen, wie oben in den systematischen Vorüberlegungen deutlich wurde. Die Wissensvermittlung antiker Technai stellt typischer Weise derartige Listen zusammen, die eine sehr weit zurückreichende Tradition bis zum epischen Katalog haben, wie er z. B. im berühmten Schiffskatalog der Ilias (Hom. Il. 2,484⫺877) aufgeführt ist (s. Reitz 1999).
4. Der Auctor ad Herennium Es sind aber gerade solche Listen von rhetorischen Figurationen, die Eingang in die traditionellen Lehrbücher finden. In der Herennius-Rhetorik sind zehn Tropen deutlich unterschieden von den Wortfiguren in 4,42 aufgeführt. Ihre Eigentümlichkeit wird darin gesehen, dass anstelle eines gebräuchlichen Ausdrucks (ab usitata verborum potestate) ein anderer verwendet wird, der einen gewissen ästhetischen Reiz mit sich bringt.
1492
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik Lateinisch
Griechisch
Lateinisch
Griechisch
1
nominatio
onomatopoiia
6
superlatio
hyperbole
2
pronominatio
3
denominatio
antonomasia
7
intellectio
synekdoche
metonymia
8
abusio
katachresis
4
circumitio
periphrasis
9
translatio
metaphora
5
transgressio
hyperbaton
10
permutatio
allegoria
5. Cicero: De oratore In der knappen Darstellung der Tropen in De Oratore 3,155⫺170 listet Cicero nur vier Tropen auf, dabei widmet er wie Aristoteles der Metapher den größten Raum. Die anderen drei werden sehr knapp abgehandelt und Cicero vermeidet es deutlich, diese Darstellung als Liste zu formulieren, wie er auch mit Fachbegriffen zurückhaltend umgeht, was gerade für diese Schrift bezeichnend ist. Ausgangspunkt ist ihm die Frage nach dem ornatus (Schmuck): Dieser kann bei einzelnen Wörtern in drei Formen vorgenommen werden: durch ungebräuchliche, etwa veraltete Ausdrücke, durch Neologismen und durch Metaphern. Die Metaphern seien zunächst aus Not entstanden, später habe man aus der Not eine Tugend gemacht und habe an den Übertragungen besondere Freude gehabt. Die translatio ist dabei eigentlich eine mutuatio (Entlehnung). Denn es werden, wie schon Aristoteles erkannte, zwei Dinge zusammengebracht, und die Metapher funktioniert eigentlich nur, wenn die Entlehnung als Entlehnung erkennbar bleibt (Cic. De or. 3,155⫺156). Während es für Aristoteles das Erkennen ist, was den angenehmen Reiz der Metapher ausmacht, lässt Cicero Crassus den Grund dieses angenehmen Reizes darin angeben, dass der Geist in eine Digression geführt wird, von der er wieder zum Thema zurückkehrt. Außerdem würden dem Rezipienten die Gegenstände sinnlicher präsentiert, insbesondere der visuelle Sinn werde von gelungenen Metaphern angesprochen (Cic. De or. 3,159⫺163). Im Grunde passen diese Begründungen nicht zueinander: denn die Eigentümlichkeit des Geistes, sich vom unmittelbar Vorliegenden zu lösen, wird nicht mit der Forderung nach Anschaulichkeit verbunden. Bemerkenswert ist auch, dass Cicero die aristotelische Begründung der Beliebtheit der Metapher nicht anführt, aber durchaus die Kognitionsvorgänge im Blick hat. Sowohl die Regel, dass man durch relativierende Zusätze (ut ita dicam) allzu gewagte Metaphern abmildern könne, findet sich schon bei Aristoteles (Rhet. 1408b2⫺9), wie auch diejenige, die Metaphern nicht von zu weit herzuholen. Von den weiteren Tropen verdient noch die abusio hervorgehoben zu werden, die hier nicht der Katachrese entspricht, sondern eine schwache Metapher aus einem sachnahen Bereich bezeichnet („grandem orationem pro longa“ (statt von einer großen Rede von einer langen zu sprechen), Cic. De or. 3,169).
89. Tropen im Rahmen der klassischen Rhetorik Lateinisch
Griechisch
1
translatio (155⫺166)
metaphora
2
traductio/ immutatio (167)
metonymia
3
intellegitur synecdoche pars ex toto (168)
Beschreibung 4
1493 Lateinisch
Griechisch
Beschreibung
abusio (169)
katachresis
,schwache‘ Metapher, aus sachnahem Bereich gebildet
6. Quintilian Quintilian widmet sich den Tropen im Rahmen seiner elocutio-Darstellung in Inst. or. 8,6. Der lateinische Namen sei motus (Bewegung, Veränderung) und werde auch von den Grammatikern untersucht. Quintilian nennt den Tropus eine mutatio (Quint. Inst. or. 8,6,2) und spielt mit diesem Begriff auf die sogenannten Änderungskategorien an, die er als grammatische Kategorien in 1,5,38 eingeführt hatte (Knape 1992; Ax 2000). Dort benannte er vier Formen: adiectio (Zugabe), detractio (Wegnahme), transmutatio (Platztausch), immutatio (Austausch). In der Darstellung der 13 Tropen kann nur das Hyperbaton als transmutatio erklärt werden, alle übrigen lassen sich durch immutatio beschreiben. Das könnte erklären, warum Quintilian zusammenfassend den Tropus als mutatio definiert. Im einzelnen werden folgende Tropen vorgestellt: Textstelle 8,6,1
Tropus
Textstelle
Tropus
Tropus-Definition
8,6,37⫺39
7
Metalepsis
8,6,4⫺18
1
Metapher
8,6,40⫺43
8
Epitheton
8,6,19⫺22
2
Synekdoche
8,6,44⫺53
9
Allegoria
8,6,23⫺28
3
Metonymia
8,6,54⫺59
10
Ironie
8,6,29⫺30
4
Antonomasia
8,6,59⫺61
11
Periphrasis
8,6,31⫺33
5
Onomatopoiia
8,6,62⫺67
12
Hyperbaton
8,6,34⫺36
6
Katachrese
8,6,67⫺76
13
Hyperbole
Am ausführlichsten wird die Metapher behandelt, denn sie sei der gebräuchlichste Tropus. Auch in die Sprache der Ungebildeten finde sie Eingang. Im einzelnen unterscheidet er drei Motive, eine Metapher zu bilden: 1) necessitas (Notwendigkeit), wenn es kein Wort in eigentlicher Bedeutung gibt (Beispiel: gemma in vitibus (Auge bei Weinreben), Quint. Inst or. 8,6,6), also eigentlich eine Katachrese vorliegt; 2) um etwas zu verdeutlichen (significantius; Beispiel: incensum ira (von Zorn entflammt), Quint. Inst or. 8,6,7); 3) um Wortschmuck anzubringen (ad ornatum; Beispiel: eloquentiae fulmen (Blitz der Beredsamkeit), Quint. Inst or. 8,6,7). Die Metapher wird, anders als Aristoteles dies auffasst, als verkürzter Vergleich definiert.
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
„Ingesamt ist die Metapher aber ein kürzerer Vergleich und sie unterscheidet sich dadurch von diesem, dass jener mit der Sache verglichen wird, die wir ausdrücken wollen, diese für die Sache selbst gesagt wird.“ (Quint. Inst. or. 8,6,8⫺9) Wie Aristoteles unterscheidet Quintilian vier Formen der Übertragung, allerdings nicht gemäß Gattung und Art, sondern nach belebten und unbelebten Gegenständen, die auch von Aristoteles genannt werden (Rhet. 1411b32⫺1412a7). Auch Übertragungen von Teil und Ganzem werden genannt, die eigentlich in den Bereich der Synekdoche fallen. Möglicherweise sieht Quintilian hier fließende Übergänge. Als Verfehlungen sieht Quintilian einen zu häufigen Gebrauch der Metapher an, da dieser die Rede verdunkele und somit den virtutes elocutionis (s. Art. 85 in diesem Band) widerspreche. Auch müssen anstößige Wörter bzw. Gegenstände dem Orator bei der Bildung von Metaphern obsolet bleiben (Quint. Inst. or. 8,6,14⫺15). Grundsätzlich muss sich der Orator hüten, die Lizenzen der dichterischen Sprache auf die Prosa auszuweiten, wie dies schon Aristoteles gefordert hat. Auch Metaphern aus einem zu abgelegenen Gegenstandsbereich sind fehlerhaft (Quint. Inst. or. 8,6,16). Quintilian sieht die Metapher nicht wie Aristoteles als Erkenntnis vermittelnden Tropus, sondern als Mittel zur Affekterregung. Zur stilistischen Variation dient ihm die Synekdoche (pars pro toto) und auch die Metonymie (auch y«παλλαγη´ /hypallage, Vertauschung), bei der die Dinge mit ihrem Paten oder Erfinder vertauscht werden (typischerweise Gott für Gegenstandsbereich: Vulcanus für Feuer). Ein möglicher Grund für solche Variation ist der Gebrauch von Klauseln (Quint. Inst. or. 8,6,20). Auch verdeckte Anzeigen werden Synekdoche genannt ([…] cum id in contextu sermonis, quod tacetur, accipimus […] / „Wenn wir das, was verschwiegen wird, im Kontext der Rede verstehen“ (Quint. Inst. or. 8,6,21)). Mit Antonomasia wird die Vertauschung eines Epitheton mit dem zugehörigen Nomen bezeichnet; dieses ist für die dichterische Sprache des Epos typisch (Pelide für Achilleus), aber auch in der Prosa möglich, wenn man etwa Scipio als Zerstörer Karthagos anspricht (Quint. Inst. or. 8,6,29⫺30). Ein merkwürdiger Tropus ist die Metalepsis (trans-sumptio), bei der über ein Mittelbegriff zwei sonst nicht zusammengehörige Wörter verknüpft werden. So könne man den Kentauern Chiron hÕσσων/hesson (schwächlicher, schlechter) nennen, weil der Name auch als Komparativ χει´ρων/cheiron gedeutet werden kann, zu welchem es das Synonym hÕσσων/hesson, (weniger, schlechter) gibt (Quint. Inst. or. 8,6,37⫺39). Die Ironie kann nur erkannt werden, wenn durch zusätzliche Zeichen (pronuntiatio, persona, rei natura/Aussprache, den Sprecher selbst, den Gegenstand) dies vermittelt wird (Quint. Inst. or. 8,6,54⫺59). Das Hyperbaton gehört deswegen unter die Tropen, weil die Vertauschung des Wortes aus phonetischen oder stilistischen Gründen vorgenommen wird; der Sprecher weicht also von der üblichen Wortfolge ab, um einen bestimmten Effekt zu erzielen. Beschränkt sich die Vertauschung der Reihenfolge auf nur zwei Wörter, so spricht man von einer anastrophe reversio, wie in mecum statt cum me. Dies ist eigentlich eine grammtatische Kategorie (Quint. Inst. or. 8,6,62⫺67). Die Hyperbel wird als „gewagterer“ Schmuck (audacior ornatus, Quint. Inst. or. 8,6,67) klassifiziert, der nur dann akzeptabel ist, wenn die Übertreibung decens (geziemend) ist. Diese Definition wirkt zunächst widersprüchlich: kann eine Übertreibung passend sein? Der Theoretiker versucht dies zu erklären: zwar muss jede Hyperbel als solche unglaubwürdig sein (ultra fidem 8,6,73), aber das heißt dennoch nicht, dass sie maßlos
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1495
sein darf (ultra modum, Quint. Inst. or. 8,6,74); Maßlosigkeit wäre vielmehr eine schwere stilistische Verfehlung, die mit dem Begriff der cacozelia (Quint. Inst. or. 8,6,74) bezeichnet wird. Damit ist ein „falscher Eifer“ bei der Nachahmung gemeint, den auch Ps.Longin 3,4 tadelt (s. Art. 86 in diesem Band unter 3.2. u. 10.). Quintilian bringt den richtigen Gebrauch der Metapher auf die paradoxe Regel: Man müsse sich klar machen, dass die Hyperbel lüge, ohne täuschen zu wollen. Die Gefahr liegt dabei auf dem schmalen Grat zwischen urbanem Witz und Lächerlichkeit (Quint. Inst. or. 8,6,67⫺76).
7. Tropen bei den Stilkritikern Neben der Behandlung von Tropen im Rahmen der rhetorischen Kunstlehren und bei den rhetorisch-grammatischen Tropographen wird der richtige Gebrauch der Tropen auch in der Literarkritik behandelt.
7.1. Demetrius: De elocutione Zwar kennt Demetrius offenbar den Terminus Tropus noch nicht (über § 120 herrscht Uneinigkeit), doch rechnet er die Metapher zu denjenigen Mitteln, die den großartigen Charakter (s. Art. 86 in diesem Band unter 3.1.) ausmachen (§ 78⫺80). Das Gleichnis erscheint durch das Vergleichswort als abgemilderte Metapher; wie auch in der Schrift Über das Erhabene gilt Platon als riskantes Vorbild für einen extensiven Metapherngebrauch, während Xenophon auf der sicheren Straße des Gleichnisses zu wandeln scheint. Wie Aristoteles empfiehlt Demetrius „energische“, d. h. beseelende Metaphern (Unbelebtes belebt machen). Entsprechend dieser Wirkung der Metapher wird sie in den anderen Charakteren nur selten und zurückhaltender eingesetzt (§§ 36 und 128 für den eleganten Stil, χαρακτη` ρ γλαφυρο´ /charakter glaphyros). Entsprechend den Kategorien der Stilistik wird auch die Wortstellung betrachtet. Auch hierbei zeichnet sich der großartige Stil durch die größten Abweichungen vom normalen Kommunikationsstil aus. Dies wird in der Tropik als Hyperbaton bezeichnet.
7.2. Ps.-Longin In Kapitel 8 seiner Schrift Über das Erhabene nennt der Autor fünf Quellen des Erhabenen. Nach Gedanken und Pathos bilden Figuren und Tropen die dritte und vierte Quelle; Synthesis bildet die fünfte Quelle. Nach einer Überlieferungslücke setzt der Autor in Kapitel 31 mit der Wirkung von in der Umgangssprache üblichen Ausdrücken (iœδιωτισμο´ /idiotismos) wieder ein: offenbar ist das schon ein Thema der Tropik des Erhabenen; das Paradox ist, dass der Ausdruck der gewöhnlichen Sprache eine besondere Anschaulichkeit gewinnen kann, da er wegen seiner Geläufigkeit auch als vertraut und damit überzeugend empfunden werden kann. Das Beispiel aus Herodot 6,75 zeigt, dass die Selbsttötung des Königs Kleomenes („Verwurstung seines Körpers“, καταχορδευ´ ων e«αυτο´ ν/katachordeuon eauton) einerseits anschaulich, aber andererseits auch auffällig ist, weil ein zwar vertrauter, aber in diesem Zusammenhang nicht erwarteter Ausdruck ge-
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
braucht wird. Seneca rhetor warnt vor dem idiotismus, da es nur selten gelinge, diesen im Sinne eines stilistischen Vorzuges zu gebrauchen, denn es bedürfe eines besonderen rhetorischen Temperamentes und einer besonderen Gelegenheit, wenn die bewusste Übertretung bei der Wortwahl nicht misslingen soll (Seneca rhetor, Controversiae 7, Praef. 57). Der folgende Abschnitt ist der Metapher gewidmet (§ 32). Der Autor beschäftigt sich mit der Frage, ob eine Häufung von Metaphern stilistisch problematisch ist, wie manche behaupten, insbesondere Caecilius von Kale Akte, mit dem er sich in seiner Schrift auseinandersetzt. Gegen einen starren Schematismus, der nur zwei bis drei Metaphern erlauben möchte, macht der Autor geltend, dass es im Wesen des Pathos liege, sich einen eigenen unregulierten Ausdruck zu verschaffen, der dann auch mehrere Metaphern hintereinander schaltet. Dies könne man allenfalls mit den von Aristoteles und Theophrast empfohlenen Abmilderungen durch metasprachliche Kommentare zu regulieren suchen (um es so zu sagen, gleichsam). Nur das echte Pathos des Redenden kann die Wahl der tropischen Ausdrucksweise bestimmen, das aus seinem Schwung heraus alles mitreißt, was sich ihm bietet. Das entspricht der hervorgehobenen Bedeutung des Pathos als Quelle des Erhabenen. Als Beispiel bringt Ps.-Longin aber nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, eine affektische Rede, sondern die metaphorisierte Beschreibung des menschlichen Körpers in Platons Timaios (Kap. 32,5). Auch damit will er offenbar in einem Schulstreit Stellung nehmen: sein Programm scheint zu sein, dass es die erhabene Natur des Künstlers selbst ist, die die Wahl der Mittel festlegt und sich keine extrinsischen Maßstäbe erkennen lassen. Dieser Abschnitt über die Tropen wird denn auch mit dem Exkurs über das Verhältnis von Regel und Genie fortgesetzt (Kap. 33⫺36). Vor dem Hintergrund der rhetorischen Tropenlehre wird erkennbar, dass selbst ein technisch vielfach als einfache Liste dargestelltes Thema wie die Tropen offenbar keineswegs einfache Fragen aufwirft, die mitten in das Erhabenheitskonzept führen. Das rührt daher, dass der Tropus als Ausdruck des Affektes angesehen wird. Und unter diesen sind es zumal die Metaphern, die das Erhabene hervorbringen (y«ψηλοποιο´ ν/hypselopoion). Nun haben es aber Tropen an sich, schwer eingrenzbar zu sein: wer sie benutzt, tendiert dazu, das Maß zu verlieren (προαγωγο` ν aœει` προ` το` aμετρον/proagogon aei pros to ametron, 32,7). Deshalb hat man Platon auch für seinen Metapherngebrauch getadelt, da er dabei unversehens in allegorische Prahlerei gerate (aœλληγορικο` στο´ μφο/allegorikos stomphos). Für Ps.-Longin ist dies aber ein Anlass, sich grundsätzlich über das Thema Regel und Genie auszulassen.
7.3. Dionysios von Halikarnassos Zwar äußert sich Dionysios nirgends monographisch zur Tropik, aber die Tropen spielen eine wichtige Rolle bei der Beurteilung des Stiles (e«ρμηνει´α/hermeneia) der von ihm untersuchten und behandelten Autoren. So lobt er in seiner Schrift über Lysias § 3 dessen Stil dafür, dass es dem Rhetor gelinge, selbst bedeutende Gegenstände in einem einfachen Stil, der zumal auf die tropische Ausdrucksweise verzichtet (τροπικη` φρα´ σι/tropike phasis); in seiner Ablehnung des poetischen Schmuckes (ποιητικη` κατασκευη´ /poietike kataskeue) folgt er dem Grundriss der aristotelischen Überlegungen zur Prosa; an anderer Stelle zitiert er die aristotelische Definition der Metapher (Über Demosthenes § 5). Er tadelt nämlich den Stil Platons dafür, dass dieser sich bisweilen eines überbordenden Gebrauchs von Metaphern bedient. Indem Platon dabei das von Aristoteles benannte Analogieprinzip missachtet, gerät er in die Nähe des sophistischen Sprachstils eines Gor-
89. Tropen im Rahmen der klassischen Rhetorik
1497
gias. Gorgianische Züge findet der Literarkritiker auch bei dem Historiographen Thukydides (Über Thukydides § 24). Bei ihm bildet sich ein Sprachstil aus, der sich von der normalen Kommunikationssprache (wie sie Lysias mustergültig verkörpere) durch metaphorische Tropik bewusst entfernen will.
8. Literatur (in Auswahl) Aristoteles (2005): Poetik. Griech./dt. Übers. u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Bibliograph. erg. Ausg. Stuttgart. Aristoteles: Rhetorik (dt.) siehe Rapp (2002). Auctor ad Herennium [Cicero] (1998): Rhetorica ad Herennium. Lat./Dt. Hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein. 2. Aufl. München u. a. Ax, Wolfram (2000): Quadripertita ratio. Bemerkungen zur Geschichte eines aktuellen Kategoriensystems (adiectio ⫺ detractio ⫺ transmutatio ⫺ immutatio). In: Wolfram Ax: Lexis und Logos. Studien zur antiken Grammatik und Rhetorik. Hg. von Farouk Grewing. Stuttgart, 190⫺208. Barwick, Karl (1957): Probleme der stoischen Sprachlehre und Rhetorik. Leipzig. (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaft zu Leipzig, phil.-hist. Kl., 49,3). Bremer, Dieter (1980): Aristoteles, Empedokles und die Erkenntnisleistung der Metapher. In: Poetica 12, 350⫺376. Chiron, Pierre (ed.) (1993): De´me´trios: Du Style. Texte e´tabli et trad. par Pierre Chiron. Paris. Cicero (1997): De oratore ⫽ Über den Redner. Lat./dt. Hrsg. u. übers. von Harald Merklin. 3., bibliograph. erg. Aufl. Stuttgart. Cousin, Jean (1975⫺1980): Quintilien, Institution oratoire I⫺XII. Paris. Demetrius siehe Roberts (1902), Orth (1923), Chiron (1993). Dionysios von Halikarnass siehe Usher (1974). Eggs, Ekkehard (2000): Metapher. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 5, 1099⫺1183. Fuhrmann, Manfred (1960): Das systematische Lehrbuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften in der Antike. Göttingen. Herodot (1963): Historien. Hrsg. v. Josef Feix. 2. Bd. München. Kindstrand, Jan F. (Hrsg.) (1990): [Plutarchi] De Homero. Leipzig, 7⫺117. Knape, Joachim (1992): Änderungskategorien. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1, 549⫺ 566. Laks, Andre´ (1994): Substitution et Connaissance: Une Interpre´tation unitaire (ou presque) de la The´orie Aristote´licienne de la Me´taphore. In: David J. Furley/Alexander Nehamas (eds.): Aristotle’s Rhetoric. Philosophical Essays. Princeton, 283⫺305. Ps.-Longinus (1988): Peri hypsous/Vom Erhabenen. Griechisch⫺deutsch. Übers. u. hrsg. von Otto Schönberger. Stuttgart. Orth, Emil (1923): Demetrios. Vom Stil. 1. vollst. dt. Übers. von Emil Orth. Saarbrücken. Ps.-Plutarch siehe Kindstrand (1990). Quintilian (2006): Ausbildung des Redners. Institutio oratoria. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. 2 Bde. Unveränd. Nachdruck der 3. Aufl. Darmstadt (Texte zur Forschung, 2 u. 3). Rapp, Christof (Hrsg.) (2002): Aristoteles. Rhetorik. 2 Bde. Berlin (Werke in deutscher Übersetzung, 4). Reitz, Christiane (1999): Katalog. In: Der Neue Pauly 6, 334⫺336. Rhetorica ad Herennium siehe Auctor ad Herennium. Ricoeur, Paul (1975): La Me´taphore vive. Paris. Roberts, W. Rhys (1902): Demetrius. On Style. Ed. and Transl. by W. Rhys Roberts. London (Reprint 1969. Hildesheim). Schirren, Thomas (2008): Techne liebt Tyche und Tyche Techne. Aspekte poetischer Kreativität im Denken des Aristoteles. In: Alexander Arweiler/Melanie Möller (Hg.): Vom Selbst-Verständnis. Notions of the Self in Antiquity and Beyond. Berlin/New York.
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
Seneca rhetor (1974): Controversiae. Ed. and transl. by Michael Winterbottom. 2. Bd. Cambridge, Mass./London. Spengel, Leonhard (Hrsg.) (1856): Rhetores Graeci. Bd. 3. Leipzig. Tryphon siehe Spengel (1856), 191⫺206. Usher, Stephen (1974): Dionysius of Halicarnassus. Critical Essays. Ed. and transl. by Stephen Usher. 1. Vol. Cambridge, Mass./London. West, Martin (1965): Tryphon De Tropis. In: The Classical Quarterly N.S. 15, 230⫺248.
Thomas Schirren, Salzburg (Österreich)
90. Satzlehre im Rahmen der klassischen Rhetorik 1. 2. 3. 4. 5.
Sprachimmanente Voraussetzungen Systematik ⫺ Behandlungsgegenstand ⫺ Prinzipien Die Satzlehre in ihrer historischen Entwicklung Moderne Analyse der Satzkomposition Literatur (in Auswahl)
Abstract The Greek and Latin languages are characterized, on the one hand, by rhythm based on pitch and, on the other, by a great flexibility in word order since both rely on morphology to express syntactical relations. Within the framework of these specific linguistic conditions, the rhetorical theory of sentence composition sets as its goal the melodious and rhythmical structuring of the period. Compositio as part of elocutio is for this reason treated under the quality of style (ornatus) and concerns itself with the smaller and larger components of the sentence, from the disposition of single words to kommata to kola. According to this doctrine, the arrangement of these elements should adequately reflect the thought expressed. At the same time, the structure should be audible in the rhythmical, yet never poetical, patterning of the elements, especially at the end of the kola (clausulae). The theory, whose sudden beginnings are to be found in Aristotle’s Rhetoric, attains its highest degree of elaboration in Cicero’s Orator and then receives its final systematic shape in Quintilian’s Institutio oratoria. On the basis of a systematic and historical summary, a look at the modern analysis of classical texts will also cast light on the rhetorical practice of sentence composition.
1. Sprachimmanente Voraussetzungen Die antike griechische wie die lateinische Sprache weisen zwei Grundphänomene auf, die den modernen europäischen Kultursprachen nicht im selben Maße bzw. gar nicht eigen sind. Zum einen ist ganz abgesehen von der größeren Differenzierung der gramma-
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
Seneca rhetor (1974): Controversiae. Ed. and transl. by Michael Winterbottom. 2. Bd. Cambridge, Mass./London. Spengel, Leonhard (Hrsg.) (1856): Rhetores Graeci. Bd. 3. Leipzig. Tryphon siehe Spengel (1856), 191⫺206. Usher, Stephen (1974): Dionysius of Halicarnassus. Critical Essays. Ed. and transl. by Stephen Usher. 1. Vol. Cambridge, Mass./London. West, Martin (1965): Tryphon De Tropis. In: The Classical Quarterly N.S. 15, 230⫺248.
Thomas Schirren, Salzburg (Österreich)
90. Satzlehre im Rahmen der klassischen Rhetorik 1. 2. 3. 4. 5.
Sprachimmanente Voraussetzungen Systematik ⫺ Behandlungsgegenstand ⫺ Prinzipien Die Satzlehre in ihrer historischen Entwicklung Moderne Analyse der Satzkomposition Literatur (in Auswahl)
Abstract The Greek and Latin languages are characterized, on the one hand, by rhythm based on pitch and, on the other, by a great flexibility in word order since both rely on morphology to express syntactical relations. Within the framework of these specific linguistic conditions, the rhetorical theory of sentence composition sets as its goal the melodious and rhythmical structuring of the period. Compositio as part of elocutio is for this reason treated under the quality of style (ornatus) and concerns itself with the smaller and larger components of the sentence, from the disposition of single words to kommata to kola. According to this doctrine, the arrangement of these elements should adequately reflect the thought expressed. At the same time, the structure should be audible in the rhythmical, yet never poetical, patterning of the elements, especially at the end of the kola (clausulae). The theory, whose sudden beginnings are to be found in Aristotle’s Rhetoric, attains its highest degree of elaboration in Cicero’s Orator and then receives its final systematic shape in Quintilian’s Institutio oratoria. On the basis of a systematic and historical summary, a look at the modern analysis of classical texts will also cast light on the rhetorical practice of sentence composition.
1. Sprachimmanente Voraussetzungen Die antike griechische wie die lateinische Sprache weisen zwei Grundphänomene auf, die den modernen europäischen Kultursprachen nicht im selben Maße bzw. gar nicht eigen sind. Zum einen ist ganz abgesehen von der größeren Differenzierung der gramma-
90. Satzlehre im Rahmen der klassischen Rhetorik
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tischen Kategorien (Kasus, Diathese, Modus) allein ihre Morphologie so signifikant, dass syntaktische Bezüge meist nicht zusätzlich durch die geregelte Abfolge der Satzkonstituenten generiert werden müssen. Zum anderen ist die Aussprache in höchstem Grade musikalisch: Sie ist geprägt von der Unterscheidung zwischen langen und kurzen Silben im Verhältnis 2 :1 (ç ⫽ ) und ⫺ besonders im Griechischen ⫺ zwischen verschiedenen Tonhöhen der Silben; die musikalische Akzentuierung ergibt sich, anders als etwa der expiratorische Akzent der germanischen Sprachen, aus der Dauer der Silben, so dass sich beim Vortrag ein rhythmisch intoniertes Klangbild ergibt (Norden 1915, Bd. I, 55⫺57). Beide Eigenschaften boten die Grundlage für eine ungeheure Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten, durch die eine Aussage im Rahmen der logischen Sprachrichtigkeit klanglich gestaltet werden konnte. Das eindeutige syntaktische Verweissystem eröffnete den Raum für eine relativ freie Wortstellung, durch die ein mehr oder weniger hervortretender musikalischer Sprachklang bewirkt wurde. Dadurch geprägt und aufgrund kultureller Gegebenheiten ist die poetische, dann die prosaische Sprachkunst der Antike auf akustische Wahrnehmung angelegt. Diese akroamatische Natur bestimmt die mit Homer im 8. Jh. v. Chr. einsetzende antike Literatur bis in die Spätantike. Von grundlegender Bedeutung war sie für die Entwicklung und damit das Verständnis der Rhetorik als praxisbezogene Disziplin und analytische Theorie. Eines ihrer wichtigsten stilistischen Prinzipien war der Wohlklang (Euphonie), und zwar jedweden sprachlichen Ausdrucks. Denn auch alle literarischen Werke wurden durch die in der Antike generell laute Lektüre klanglich wahrgenommen. In besonderer Weise hat die beschriebene stilistische Variabilität antiker Sprachen Auswirkungen auf die in rednerischer Theorie thematisierte und der Literatur praktizierte Satzkomposition (lat. compositio, gr. συ´ νθεσι/sy´nthesis; zur Terminologie Pohl 1968, 6⫺11) gehabt, die hier auf die Prosa bezogen in dreierlei Hinsicht ⫺ systematisch, historisch und analytisch ⫺ zur Behandlung steht. Die Frage nach der Satzlehre schließt übergeordnete sprachhistorische Konstanten ein. Es existieren allgemeingültige natürliche Gesetze, welche die sprachliche Generierung einer Satzaussage unbewusst, unabhängig von stilistischen Erwägungen, bestimmen. So steht etwa fest, dass im Ur-Indogermanischen, und damit ferner im Griechischen und Lateinischen, unbetonte ein- und zweisilbige Wörter wie Pronomen, Partikeln und die Kopula in der Regel enklitisch an die zweite Stelle eines Satzes treten (,Wackernagels Gesetz‘; Wackernagel 1892). Ebenso besteht aufgrund eines intuitiven rhythmischen Gefühls vor allem in gehobener Sprache die natürliche Tendenz, syntaktisch gleichwertige Satzglieder der Reihe nach quantitativ anwachsen zu lassen (,Behaghels Gesetz der wachsenden Glieder‘; Behaghel 1932, 139), woraus freilich rhetorische Einzelvorschriften in Hinblick auf die meist damit inhaltlich einhergehende qualitative Steigerung (Klimax, gradatio) entwickelt werden können (vgl. Dem. 50⫺52).
2. Systematik Behandlungsgegenstand Prinzipien Insofern für ein syntaktisches Gefüge die ästhetische Ausarbeitung auf der Grundlage der grammatisch-logischen Korrektheit im Zentrum steht, betrifft dies den Bereich der Satzlehre, die dem rhetorischen Arbeitsstadium des Ausdrucks (elocutio) zugehört und die sich, in ihrer Ausrichtung auf die Strukturierung einer Aussage, in besonderer Weise auf den Vortrag (actio) auswirkt.
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
Die Theorie der Strukturierung von Sätzen nimmt zum einen größere, bis hin zu Nebensätze umfassende (κv˜ λα/ko´la, membra, Glieder) und kleinere aus mindestens zwei Wörtern bestehende Bestandteile (κο´ μματα/ko´mmata, incisa, Abgehauenes) des Satzganzen in den Blick (Lausberg 1960, §§ 912⫺947), zum anderen innerhalb dieser Komponenten die Abfolge bzw. Fügungen der Wörter hinsichtlich der klanglich-rhythmischen Qualität (Lausberg 1960, §§ 948⫺1054). Das Ziel der satzkompositorischen Bemühungen besteht in der Konzinnität (Cic. Or. 80 f.), d. h. darin, die Konvenienz (aptum) zwischen dem durch Schmuck (ornatus) aufbereiteten Ausdruck (verba) und den Gedanken (res) zu erreichen. Hierbei kommt neben der rhetorischen Figurenlehre dem sich durch jede sprachliche Äußerung unwillkürlich einstellenden musikalischen Rhythmus (numerus), der Abfolge langer und kurzer Silben, größte Bedeutung zu. Während innerhalb der Kompositionslehre auf die Figurenlehre als selbständigen Themenbereich der elocutio nur rekurriert wird, steht der Rhythmus als ornatives Kernelement im Zentrum der Betrachtung. Von großem Gewicht ist die Rhythmisierung, die das Ende der Satzkomponenten bzw. der Periode anzeigt (Klauselrhythmus). Der Einsatz des Sprachrhythmus birgt über seine generelle psychologische Wirkung hinaus auch eine strukturierende Kraft in sich, durch welche die Grenzen eines Kolons oder einer Periode akustisch markiert werden können. Als Ersatz für die in der Antike seit dem Hellenismus nur sporadisch und danach nicht generell angewandten Satzzeichen kann vor allem die rhythmische Schlussklausel durch ihren kadenzierenden Charakter dort eine Atempause evozieren, wo ein Sinneinschnitt vorliegt (vgl. Arist. 1409a 19⫺21). Insgesamt gelten nach den Theoretikern für die Rhythmisierung der Prosarede zwei Grundprinzipien: Das erste besteht darin, dass sich im Normalfall kein poetischer Rhythmus ergeben darf, was wiederum durch den zweiten Grundsatz erreicht wird, wonach die aufeinanderfolgenden Metren variieren müssen (Cic. Or. 213). Nach dem Rhetoriklehrer Quintilian (1. Jh. n. Chr.), dessen Systematik hierzu kanonisch ist, kann die compositio in Anlehnung an Cicero als das rhetorische Pendant zum poetischen Versbau, der versificatio, betrachtet werden (Quint. 116; Cic. Or. 222). Hier mag die antike Auffassung im Hintergrund stehen, wonach die Kunstprosa eine Weiterentwicklung der Dichtkunst darstellt (vgl. Kassel 1981, 11⫺19). Demgemäß begegnet in den antiken Rhetoriken immer wieder eine Methode, die die Poetik als Vergleichsfolie für die Prinzipien des prosaischen Satzbaus heranzieht. Beispielsweise wird in Analogie zur vierversigen Strophe die aus vier Gliedern bestehende Periode als Ideal gefordert, das Kolon als Entsprechung des Verses und das Komma als durch Zäsuren abgetrenntes Versstück begriffen. Bei den meisten Rednern und bei vielen Autoren hat das Streben nach Wohlklang dazu geführt, in der Wortfügung das Aufeindertreffen von End- und Anfangsvokalen (Hiat ⫽ Klaffen), wie es in der Dichtung generell unmöglich ist und durch Vokalausfall (Elision, Aphärese) oder -verschleifung (Synalöphe, Krasis) umgangen wird, zu meiden. Zur Frage der Hiatmeidung haben die Theoretiker regelmäßig Position bezogen. Insbesondere erfolgt die Analyse des Rhythmus durch die in der Poetik gebräuchlichen Regeln der Prosodie (⫽ „das, was als Gesang hinzukommt“), wobei die Abfolge langer (⫺) und kurzer ([) Silben durch den entsprechenden Versfuß (pes) bezeichnet wird. Von 14 bei Cicero und Quintilian (88 ff.) genannten Versfüßen seien hier die gebräuchlichsten mit den jeweiligen (im folgenden verwendeten) Abkürzungen genannt:
90. Satzlehre im Rahmen der klassischen Rhetorik Choreus (Trochäischer Fuß) Creticus Paion a minore Paion a maiore Spondeus Iambus Dactylus Baccheus
Cho Cr Pmi Pma Sp Ia Da Ba
⫺ ⫺
(⫺ ⫺ [ ⫺
[
[
⫺
1501 [
Dichoreus)
[
[ [
⫺[[[ ⫺⫺ [ ⫺ ⫺[[ [ ⫺ ⫺
Nach der Zusammensetzung dieser metrischen Elemente wird der Rhythmus (numerus) der Prosarede, oft auch nur der Klausel (clausula) bestimmt. Zur Analyse des Klauselrhythmus werden die zwei oder drei letzten Versfüße betrachtet (Cic. Or. 216, 224; Quint. 95). Eine kurze Silbe vor einer Sprechpause, vor syntaktischen Einschnitten also, wirkt wie an Versenden lang, so dass der häufige kretische Schlussfuß (⫺ [ ⫺) auch dadurch zustande kommt (Cic. Or. 217). Die Meinungen gingen darin auseinander, ob ein Fuß mehr als drei Silben umfassen darf, was sich auf die Terminologie auswirkt (Dochmius ⫽ IaCr bzw. BaIa; vgl. Cic. Or. 218; Quint. 97). Einige moderne Analytiker der Kunstprosa unterscheiden zwischen den Termini Rhythmus/rhythmisch und Metrum/metrisch, indem sie unter ersteren einen Oberbegriff des zweiten verstehen, ähnlich dem Verhältnis Rhythmus ⫺ Takt in der Musik (Primmer 1968, 12 f.). Insgesamt wird in der antiken Theorie der Rhythmisierung nach Gattungen differenziert und zudem den verschiedenen Autoren ein individueller Stil zugestanden. Die Historiographie betreffend erfährt beispielsweise der „ruhig fließende“ Rhythmus Herodots genauso wie der „aufgeregtere“ des Thukydides eine Würdigung, wohingegen in Reden immer wieder zur Ruhe kommende Gliederungsrhythmen anzustreben seien (Cic. Or. 39; Quint. 18). Wie jeder rhetorische Kunstgriff ist auch die klanglich-rhythmische Gestaltung von dem persönlichen Empfinden des Sprechers/Autors abhängig, der eine subjektive Wirkungsabsicht verfolgt und nicht zuletzt durch die Mode der jeweiligen Zeit beeinflusst ist. Diesem variablen Moment wird systematisch dadurch Rechnung getragen, dass die compositio spätestens seit Cicero mit den drei kanonischen Stilarten ⫺ dem erhabenen (grande), mittleren (medium) und feinen (tenue) Stil ⫺ in Zusammenhang gebracht wird und sie diesbezüglich je spezifischen Regeln genügen muss. Dementsprechend wird auch ihr Verhältnis zu den drei Redegattungen ⫺ der Prunkrede, der Gerichtsrede und der beratenden Rede ⫺ gesondert in den Blick genommen und je nach Gelegenheit und Gegenstand nach dem richtigen ,Ton‘ gesucht (Quint. 130). Was die Satzarten im Zusammenhang angeht, lassen sich insgesamt drei Redestile gemäß der Sprechsituation unterscheiden: Die schlichteste Form ist die meist dialogische Alltagssprache, in welcher oft nur einzelne syntaktische Elemente locker und willkürlich aneinandergefügt werden (oratio soluta Cic. Or. 183 f.; διαλελυμε´ νη λε´ ξι/dialelyme´ne¯ le´xis nach Dem. 193); sie gehört nur insofern zur Rhetorik, als ihre Imitation in bestimmten Bereichen zum Tragen kommt (z. B. im Briefstil). Die fortlaufende parataktische Reihung von syntaktisch vollständigen Sätzen entsprechend dem gradlinigen Fortschreiten des Gedankens, „gereihte Ausdrucksweise“ (εiœρομε´ νη λε´ ξι/eirome´ne¯ le´xis), gilt nach Aristoteles als archaische Darstellungsform, wie sie etwa in der Geschichtsschreibung Herodots zu erkennen ist.
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
Das eigentliche Ideal rhetorischer Formulierungskunst besteht in einem Satzbau, bei dem mehrere Gedanken so aufeinander bezogen sind, dass anfangs eine Spannung entsteht, die am Ende ihre Auflösung erfährt. In Hinblick auf diese Rückkehr zum Ausgangspunkt spricht man von Periode, „Umlauf“ (circuitus, ambitus) und gebundener bzw. „in sich umbiegender“ Sprache (oratio vincta; κατεστραμμε´ νη/katestramme´ne¯). Hier gilt das poetische Ordnungsprinzip der organischen Einheit, das als erster Platon (Phaidr. 264 A4⫺E2; Gorg. 505C10⫺D3) formuliert hat und das von da an kanonisch wurde (Cic. De or. 3,179; Ps.-Long. 40). Die innere Logik des auzudrückenden Gedankens (δια´ νοια/dia´noia, sententia) muss vollständig mit der Form der Periode koinzidieren. Die einzelnen Gedankenelemente treten formal in den Kola hervor, die entsprechend ihrer intellektuellen Übersichtlichkeit in einer Atemlänge referierbar sein sollen. Der Umfang kann von zwei Wörten bis hin zu größeren Nebensätzen variieren, weshalb irgendwann vor Cicero von hellenistischen Gelehrten für kleinste Elemente die Kategorie des Kommas eingeführt wurde (Cic. Or. 211 u. ä.), welches Quintilian „nicht wie andere als Teile eines Kolons“, sondern gemäß Cicero (223 f.) als „abgeschlossenen Gedanken ohne vollständige Klausel“ (Quint. 122) versteht. Das Kernphänomen der gegenseitigen Beziehung der Satzkomponenten (Kola, Kommata) aufeinander ist die Antithese, die durch Klangfiguren verstärkt werden kann. Über die Anzahl der Kola, die in der Periode enthalten sein dürfen, gehen die Meinungen der Rhetoren auseinander: Häufig wird die Zweizahl als Mindestumfang angegeben und die Vierzahl als Optimum, das nicht überschritten werden soll. Schon Aristoteles spricht über die eingliedrige Periode, wohingegen Quintilian, der literarischen Praxis ganz angemessen, die Überschreitung der Vierzahl akzeptiert. Beim Monokolon kann der Spannungsbogen durch die gesperrte Stellung unmittelbar aufeinander bezogener Satzteile entstehen (Hyperbaton). Im Detail wird freilich die stilistische Gestaltung der Wortabfolge in der nicht zum Kernbereich der compositio gehörenden Lehre über die Figuren erörtert. Diese kommen auf der Basis der syntaktischen und idiomatischen Sprachkorrektheit durch die grundsätzlichen rhetorischen Änderungskategorien der transmutatio (Veränderung, μετασκευη´ /metaskeue´; z. B. Inversion, Hyperbaton, Tmesis), adiectio (Hinzufügung, προ´σθεσι/ pro´sthesis; z. B. Pleonasmus, Tautologie) und detractio (Minderung, aœφαι´ρεσι/aphaı´resis; z. B. Ellipse), spezieller auch durch die immutatio (Vertauschung, aœλλοι´ωσι/alloı´o¯sis; z. B. Enallage) zustande (Dion. 6; Quint. 1,5,38; Fortun. 3,11).
3. Die Satzlehre in ihrer historischen Entwicklung 3.1. Überblick Die genauen Anfänge der rhetorischen Kompositionslehre liegen im Dunkeln. Das erste und zugleich wichtigste Zeugnis ist Aristoteles’ Grundlegung zur Satzkomposition in seiner Rhetorik (vgl. unten Abschnitt 3.2). Auf ihrer Basis wurden in der nachfolgenden rhetorischen Tradition die Regeln zur compositio mit Blick auf die großen Stilvorbilder interpretiert und vertieft, wobei der Ansatz zur Lehre des Klauselrhythmus differenzierteste Ausgestaltung erfuhr.
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Bei Aristoteles lassen sich Anzeichen für vorausgehende Lehrbücher finden. Wenn er (Arist. 1408b 32⫺1409a 1) drei rhythmische Grundtypen mit ihren je charakteristischen Stimmungen nennt ⫺ den erhabenen heroischen Rhythmus (Da, Anapäst, Spondeus ⫽ Metren 1:1), den gemeinen Iambus und den vulgären Trochäus (⫽ 1: 2/2 :1), die allesamt wegen ihrer ,metrischen‘ Rhythmen in die Poesie gehörten ⫺ so geht dies in den Grundzügen auf den Musiklehrer Damon zurück (5. Jh. v. Chr.). Die von diesem erörterten Wirkmechanismen einzelner Rhythmen hatte schon Platon im Staat (400B1⫺C6; vgl. 397B) für seine Auswahl ethisch vertretbarer Dichtung zugrunde gelegt. Aristoteles definiert an der genannten Stelle den Paion mit seinem Verhältnis 1:1 ½ als optimale Mischform für die Prosarede. Unbewusst hätten diesen Rhythmus, wie er sagt, schon die Gefolgsleute des aus Chalkedon am Bosporus stammenden Thrasymachos benutzt. Diese Namenserwähnung legt nahe, dass in dem vor allem aus Platons Staat bekannten Rhetor aus der 2. Hälfte des 5. Jhs., den das späte byzantinische Lexikon Suda (s. v.) als Erfinder der Kola anführt, bereits Aristoteles den ersten Theoretiker des Periodenbaus sah. Cicero nennt ihn später den Erfinder des Prosarhythmus (Cic. Or. 175). Einen weiteren Hinweis auf die Vorgeschichte der Satzlehre bietet Aristoteles bei der Besprechung der Figuren, welche den antithetischen Aufbau der Periode unterstützen können (Arist. 1410a 24⫺1410b 2). Er nennt die Parisosis, die er unter Einschluss des Isokolons als Gleichheit der Silbenzahl und der Satzteilabfolge entsprechender Kola versteht, und die Paromoiosis, bei der zwei parallele Kola entweder am Anfang durch ähnliche Wörter oder am Ende durch Endsilbengleichheit (Homoioptoton, Homoioteleuton), Kasusvariation desselben Wortes (Polyptoton) oder Wortwiederholung (Epipher) markiert werden. Aristoteles nimmt hier deutlich Bezug auf die Kompositionskunst des Sophisten Gorgias, der im Jahre 427 v. Chr. aus Sizilien nach Athen kommend zum ersten Mal die verführerische Wirkung der Rhetorik mittels dieser Klangmittel nutzte und lehrte. Wenn auch der reine gorgianische Stil schon durch Platons Kritik als zu artifiziell galt, wurden Gorgias’ rhetorische Ideale dennoch durch die Schule des Redelehrers Isokrates, auf den Aristoteles direkt rekurrieren dürfte, maßvoll tradiert. Die besagten gorgianischen Figuren bilden den Ursprung der europäischen Reimkunst, die dann in der Antike keine nennenswerte Weiterentwicklung mehr erfahren hat. Erst im 9. Jh. gelangt der Endreim, vielleicht unter dem Einfluss der hebräischen Dichtung, über die lateinische Hymnik in die Poesie der europäischen Sprachen (Norden 1915, Bd. I, 810⫺908). Der Zeitgenosse Platons, Isokrates, ist von richtungsweisender Bedeutung für die Stilistik des Satzes. Wenn auch von ihm keine technischen Detailanweisungen überliefert sind, so hat er doch der Nachwelt durch seine praktische Rednertätigkeit im Zusammenhang mit der von ihm begründeten ersten Rednerschule entscheidende Impulse gegeben. Fortan galt seine Wortkunst, die sich durch wohlgeordnete Perioden und ausgeklügelte Wortfügungen auszeichnet und die er selbst als „wohlrhythmisiert und musikalisch“ (Cic. Or. 13,6) auffasste, als Musterstück des „mittleren“ ausgewogenen Stils. Der Aristotelesschüler und -nachfolger Theophrast (ca. 371⫺287 v. Chr.) hat wie viele Themenbereiche so auch die Rhetorik seines Lehrers systematisch verfeinert. Seine Ausführungen Über den Stil sind zwar nur noch in wenigen Fragmenten greifbar, sie haben aber sicherlich die gesamte nachfolgende Tradition bis hin zu Cicero fundamental geprägt (vgl. Cic. Or. 79). Theophrast hatte nämlich die Lehre der vier sog. Stilqualitäten (hellenismus ⫺ Sprachrichtigkeit, perspicuitas ⫺ Klarheit, aptum ⫺ Angemessenheit, or-
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natus ⫺ Redeschmuck) und wohl auch der drei Stilarten entworfen. Indem er die Wortfügung und somit den Periodenbau neben der Wortwahl und der Figurenlehre als Unterkapitel des ornatus anlegte, hat er auf alle folgenden Systematiken gewirkt. Höchstwahrscheinlich gehen auf ihn viele der seit Cicero anzutreffenden Überlegungen zu Stilhöhe und einem adäquaten stilistischen Satzbau zurück. Gegen die ästhetisch-rhetorische Sprachbetrachtung der Peripatetiker erhob im 3. Jh. v. Chr. die Stoa durch Chrysipp heftigen Widerspruch. Hier vertrat man eine sprachwissenschaftliche Theorie, nach welcher der Sprachgebrauch den auf stillschweigender Übereinkunft beruhenden Gesetzen folgt; die natürlich-richtige Komposition eines Satzes entschied sich allein an der logischen Gedankenabfolge, zudem wurde das Postulat der Kürze erhoben (Dion. 4 f.). Durch die verstärkte Aneignung der attischen Leitkultur im Hellenismus entwickelten sich besonders in Kleinasien manierierte Stilimitationen im Bereich der praktischen Rhetorik. Ohne Rücksicht auf das aptum, wie Cicero meinte, werde eine möglichst pathetisch-wirkungsvolle Satzgestaltung angestrebt, die in den schlimmsten Fällen durch versähnliche Satzgebilde, Rythmus provozierende Füllwörter, Wortumstellungen und monotone Schlussklauseln wie Gesang daherkomme (Cic. Or. 27; 57; 226; 230). Eine Bewegung strenger Literaturrichter ächtete die verschiedenen Entwicklungen, die sie als eine dem attizistischen Ideal widerstrebende einheitliche ,asianische‘ Gegenbewegung überzeichnete und als deren Archegeten sie Hegesias aus Magnesia (3. Jh. v. Chr) ausmachte (Wilamowitz 1900). Sogar Cicero, der nach dem Urteil Quintilians die compositio in seinem eigenen Lebenswerk am sorgfältigsten ausgearbeitet hatte (Quint. 1), wurde zur Last gelegt, der aus Asien eingedrungenen verweichlichten Stilart anzuhängen. Der Redner bekennt zwar, in seiner Jugendzeit hellenistischen Übertreibungen verfallen gewesen zu sein, doch später habe er durch die Ausbildung auf Rhodos seinen Stil gemäßigt (Cic. Brut. 316). Cicero, der überhaupt erst die ein Jahrhundert zuvor in Rom eingeführte griechische Rhetorik durch Schrift und Wort fest inkulturiert hat, verteidigt sich im Jahre 46 v. Chr. mit dem Orator. Seine Erwiderung verdeutlicht, dass selbstverständlich jeder Rhetor eine persönliche attizistische Spielart für sich beanspruchte (vgl. Cic. Brut. 51); für sich selbst nennt er Demosthenes als Vorbild. Das apologetische Anliegen ist verbunden mit der Behandlung der Satzkomposition in all ihren Aspekten. Und so ist das Werk, wenn es auch systematische und terminologische Schärfe vermissen lässt, die bedeutendste Darlegung zu diesem Thema (vgl. 3.3). Gänzlich unberührt von diesen Strömungen ist noch die in Ciceros Zeit zu datierende anonyme Rhetorik an Herennius; sie sieht die Hauptaufgabe der compositio, die als eigenständige Redetugend eine gleichmäßige Ausfeilung gewährleisten soll, allein in der Vermeidung des Hiats und aller Arten von lautlichen Wiederholungen (Rhet. ad Her. 4,18). In den Kreis der attizistischen Literaturwächter gehört der griechische Rhetor und Geschichtschreiber Dionysios aus Halikarnass, der von 30 bis 8 v. Chr. in Rom lehrte. Neben anderen rhetorisch-literaturkritischen Werken, in welchen er wie Cicero ein an Demosthenes orientiertes Stilideal verfocht, widmete er den Wortfügungen eine eigene Schrift (De compositione verborum). Im Zentrum dieses Werkes, in dem Beispielpassagen aus griechischer Poesie und Prosa hinsichtlich der Satzkomposition kritisch geprüft werden, steht nach Betrachtungen über Wesen und Wirkung der Synthesis (Kap. 1⫺5), ihrer Aufgaben (6⫺9) sowie ihrer Ziele und Mittel (10⫺20) eine auf die ältere hellenistische Musiktheorie zurückgehende Darstellung dreier Grundtypen der Wortfügung (21⫺24; vgl. Pohl 1968). Letztere, neben Figuren und Wortwahl ein Teil der elocutio, beschreibt
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Dionysios als „Harmonie“ (a«ρμονι´α), da ihre Qualität auf Klang und Rhythmus beruhe. So wird denn der stoischen Hypothese einer natürlich-logischen Wortfolge scharf widersprochen (Dion. 5). Als Repräsentant der rauhen Fügung (αyœστηρα` a«ρμονι´α/auste¯ra´ harmonı´a; 21 f.), mit ihren Hiaten, der gesperrten Wortstellung, der Meidung symmetrisch gebauter Perioden und metrisch regulierter Schlüsse, wird für die Prosa (als Pendant zu Pindar für die Dichtung) der Historiker Thukydides genannt. Die Charakteristika der „glatten, feinen“ (γλαφυρα´ /glaphyra´; 23) Harmonie sind Wohlklang durch Hiatmeidung, gorgianische Figuren, abgerundete Perioden; ihr Vertreter ist Isokrates. Zwischen diesen beiden Fügungstypen gibt es den „wohlgemischten“ (εyκρατο/eu´kratos; 24), der die positiven Qualitäten der anderen beiden je verschieden in sich vereinigt; ihn beherrschten Herodot, Demosthenes und Platon. Die zwar unter dem Namen des Theophrastschülers Demetrios von Phaleron überlieferte, aber wohl um die Zeitenwende verfasste Schrift De elocutione scheint im Hinblick auf die von Seiten des Attizismus pauschal kritisierte Redeart ein differenzierteres Konzept zugrunde zu legen. Mit ihrer Behandlung des „Erschütterung“ (δεινο´ τη/deino´te¯s) hervorrufenden Stils, der den drei kanonischen Stilarten an die Seite gestellt wird, ist sie ähnlich der anonymen Schrift Vom Erhabenen (Ps.-Longinus: De sublimitate) ein Werk sui generis, das zwischen rhetorischer Lehrschrift und Literaturkritik steht. In der Theorie des Ps.-Demetrios bildet gerade die Satzkomposition Grundlage und Instrument, um die beim Hörer beabsichtigte Wirkung zu erzielen (Dem. 1⫺35). So seien „kurze Satzglieder um der Furchtbarkeit willen von Nutzen“. Die Verwendung von poetischen Metren und die Abfolge langer Silben gelten als Verstoß gegen das aptum (117). Von einer übertriebenen rednerischen Praxis, bei der die Überstilisierung des Wortlautes nicht mehr im rechten Verhältnis zur Aussage stand, zeugt die Kritik der Abhandlung Vom Erhabenen. Ps.-Longinus warnt vor dichtgedrängten kurzsilbigen Wortfolgen und „weichlichen und eiligen Rhythmen“, die zu verspielt und unpathetisch klängen, so dass sie „wie Arien“ den Hörer vom Inhalt ablenkten und ihn dazu animierten, im Empfinden des Rhythmus nur noch „die zu erwartende Schlußkadenz mitzuklopfen“ (Ps.-Long. 41). Diese Bemerkung weist voraus auf die hoch musikalischen Satzkompositionen der zweiten Sophistik und Spätantike (2.⫺5. Jh. n. Chr.), als professionelle Rhetoren und mancher christliche Prediger geradezu als ,Konzertredner‘ auftraten. Schließlich ist es der Rhetoriklehrer Quintilian, der im 1. Jh. n. Chr. mit seiner Institutio oratoria, wie sonst auch hier die gesamte Lehr-Tradition über die Satzkomposition systematisch bündelt und damit die weitere Geschichte der Rhetorik bis in die moderne Theoriebildung beeinflusst und inspiriert (vgl. unten Abschnitt 3.4). Geradezu singulär ist im zweiten Jh. n. Chr. das Bemühen des griechischen Grammatiklehrers Apollonios Dyskolos, der sich in dem Werk De constructione als Vetreter der rationalen Syntaxlehre zeigt. Auf ihn stützt sich Priscian, der in seiner Satzlehre die natürlich-logische Ordnung zum Prinzip macht und damit die moderne Syntax-Grammatik begründet hat (Scaglione 1981, 92 f.). Aus der Fülle der rhetorischen Handbücher bietet die lateinische Ars rhetorica des Systematikers Fortunatianus (4./5. Jh. n. Chr.) einige Detailangaben zur Satzkomposition, die hier structura genannt ist. Einer der letzten großen Redelehrer Athens, der sich den einzelnen Bereichen der compositio am Beispiel der großen alten Stilvorbilder in Anlehnung an Dionysios widmete, war der nur fragmentarisch überlieferte Lachares; er schrieb zwar über den quantitierenden Prosarhythmus, lässt aber selbst schon durch Druckakzent bestimmte Klauseln erkennen (Graeven 1895).
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3.2. Aristoteles, Rhetorik 3,8-9 Aristoteles befasst sich in der Rhetorik innerhalb des zweiten Hauptteils über die elocutio (λε´ ξι/le´xis) unter dem Thema „Gestalt des Ausdrucks“ (σχη˜ μα τη˜ λε´ ξεω/sche´ma te¯s le´xeo¯s) als erster analytisch mit der Frage nach der besten Struktur eines Satzes. In Hinblick auf sein Hauptkriterium, die psychologische Wirkung der jeweiligen Ausdrucksform auf den Hörer, zentriert er die Betrachtung zunächst auf den Rhythmus (vgl. Schmid 1959, 112⫺130), dessen objektive Messgröße die einzelnen Metren sind. Gleich zu Anfang spricht er eines der fernerhin gültigen Grundprinzipien aus: „Die Ausdrucksweise darf weder gänzlich metrisch [sc. wie die Dichtung] noch unrhythmisch [sc. ohne feingliedrigen Redefluss] sein“. Denn im ersten Falle bleibe durch Künstelei die Glaubwürdigkeit auf der Strecke, und man werde als Hörer abgelenkt, im zweiten sei wegen der fehlenden Abmessungen die Rede unerquicklich und nicht erfassbar. Die Anwendung des schon von Thrasymachos bevorzugten Paions, den er im Vergleich mit den von Damon und Platon behandelten drei Hauptrhythmen als bestes Prosametrum erweist, wird dahingehend präzisiert, dass Pma am Anfang und Pmi am Ende eines Satzes zu bevorzugen sei (vgl. Cic. Or. 218). Die bei Aristoteles angedeutete Unterscheidung der Eigenschaften des Sprachrhythmus, einerseits als Ausdruck eines bestimmten Sprachniveaus, andererseits als Markierung der Sinneinschnitte, liegt der Betrachtung und Kritik der nachfolgenden antiken Theoretiker zugrunde. Erst im Anschluss an die Forderung nach strukturierender qua rhythmischer Aussagegestaltung behandelt Aristoteles die allgemeinere Frage nach den Satztypen (Arist. 9). Er unterscheidet für die literarische Prosa zwei mögliche Grundarten: die durch Konjunktionen „aneinanderreihende“ (εiœρομε´ νη/eirome´ne¯) Ausdrucksweise, die im Stil dem Kultgesang des Dionysos (Dithyrambus) verwandt als archaisch verworfen wird und die „in sich umbiegende“ (κατεστραμμε´ νη/ketestramme´ne¯) Ausdrucksweise, die strukturell dem lyrischen Modell von Strophe und Antistrophe entspricht. Die hier neu entwickelte Terminologie beruht auf der Vorstellung einer Laufstrecke, die der Sprecher als Akteur vor dem Hörer als Betrachter innerhalb eines Satzes zurücklegt und die als „Umlauf“ (περι´οδο/perı´hodos ⫽ Periode) immer wieder an ihren Ausgangspunkt zurückbiegt (vgl. Schmid 1959, 117⫺126); Ps.-Demetrios führt später dieses Bild im Detail aus (Dem. 11). Während die parataktische Rede immer weiter davonläuft, zur Unzufriedenheit des Hörers in ihr selbst kein Ende abzusehen ist und sie sich ermüdend verliert, „hat die Periode in sich Anfang und Ende und eine gut überschaubare Größe“, so Aristoteles’ Definition. Wenn er betont, sie sei gut zu behalten, weil sie Maß und Ziel in sich trage, wobei wieder die Metren ins Spiel kommen, steht die aus der Epik ererbte Maxime im Hintergrund, nach welcher eine professionelle Ausdrucksweise mit Rücksicht auf Memorierbarkeit verfasst sein muss. Aus der metaphorischen Ebene ergeben sich die weiteren Präzisierungen zur Theorie über die Muster-Periode, die aus zwei Schenkeln oder Gliedern (κv˜ λα/ko˘ la) ⫺ „Hinund Rückbahn“ ⫺ bestehen und darin von mittlerer Länge sein soll, damit der Hörer weder durch vorzeitige Abkürzung ins Straucheln gerät noch aufgrund unerwarteter Weiterführung, wie bei der aneinanderreihenden Ausdrucksweise, zurückbleibt. Nach Aristoteles kann nun die zweigliedrige Ausdrucksform „dihäretisch“ sein, indem ein Inhalt in komplementäre Bestandteile zergliedert wird, oder sie ist „antithetisch“, wenn zwei konträre Begriffe gegenübergestellt sind. Die Antithese sei als gefälligste Rede-
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weise anzuraten, weil Gegensätze ⫺ zumal in paralleler Setzung ⫺ am leichtesten zu erfassen seien und eine dem Syllogismus ähnliche logische Struktur entstünde, insofern als auch der widerlegende Schluss aus Gegensätzen resultiere. Am Ende seiner Satzlehre, welche in der Forderung nach antithetischer Ausdrucksweise das antike Prinzip der polaren Denkfigur zur Geltung bringt, nennt Aristoteles formale Klang-Stilmittel (gorgianische Figuren, s. o.), welche die logisch-oppositive Zweigliedrigkeit unterstreichen.
3.3. Cicero, Orator Cicero antwortet im Orator auf die enge Sicht der zeitgenössischen Jungattiker mit einem Gegenentwurf des perfekten Redners, der mit dem richtigen Gespür für das aptum wie das große Vorbild Demosthenes alle drei Stilarten beherrschen muss (69⫺112). Jede von ihnen verlangt, wie hier zum ersten Mal ausgesprochen wird, eine eigene Satzgestaltung. So seien etwa im feinen Stil Rhythmus und Hiatmeidung freier handhabbar, und ganz unauffällig solle Sorgfalt auf kurze Perioden verwandt werden, solange alle Grundanforderungen, wie Sprachrichtigkeit, Klarheit und Schicklichkeit, erfüllt sind (75⫺79). Das Prinzip der Situationsangemessenheit bildet den Hintergrund für die Lehre der Satzkomposition (collocatio); allein sie könne die geordnete und klanglich gefällige Verbindung aller anderen Stilmittel gewährleisten und mache somit den perfekten Redner erst aus. Fast die gesamte zweite Hälfte des Orator ist von diesem Hauptthema eingenommen, welches nach Erläuterungen zum geforderten Wohlklang der Einzelwörter (149⫺164) und zur von selbst sich einstellenden Symmetrie paralleler Kola durch gorgianische Figuren (164⫺167) am Höhepunkt die Theorie der Rhythmisierung umfasst (168⫺236; vgl. Schmid 1959, 30⫺72). Schon im Dialog Über den Redner (3,173⫺199) hatte Cicero ein „Breviarium der rhythmischen Kunst“ (Schmid 1959, 111; vgl. 82⫺109) vorgelegt, in welchem das Kunstprinzip der Rhythmisierung aus der allgemeinen Ordnung der Natur hergeleitet wird. Im Orator bietet er nun gemäß eigener Aussage (174; 227) die ausführlichste Theorie darüber: Nach einer Vorrede über das naturgegebene Beurteilungsvermögen (sensus) hinsichtlich des Rhythmus und über den Grundsatz der Übereinstimmung des Gedankens mit der rhythmischen Gestaltung wird ihr Ursprung (origo; 174⫺176) bei den traditionellen Begründern, ganz besonders in den ausgefeilten Prosarhythmen des Isokrates gesehen. Als ihre Ursache (causa; 177 f.) bringt Cicero wieder naturgegebene Faktoren ins Spiel, wie die akustische Ausrichtung auf und das Bedürfnis nach gliederndem Maß. Ein Abschnitt zum Wesen des Prosarhythmus (natura; 179⫺203) behandelt einen umfänglichen Fragenkatalog, innerhalb dessen die Darlegung des Aristoteles ⫺ unter Einschluss uns nicht mehr erhaltener rhetorischer Schriften des Peripatos ⫺ ausgelegt und bisweilen richtiggestellt wird. Die grundsätzlichen Erwägungen über das Vorhandensein und die Umsetzung des Rhythmus in Prosarede sind auf den gesamten Satz bezogen. Wie bei Aristoteles gilt definitiv die Mittelstellung der Kunstprosa zwischen gänzlich ungebundener Alltagssprache und poetischem Versmaß, welches aus Unachtsamkeit fehlerhaft in jede Rede eindringen kann; doch Cicero macht sich zudem für das Prinzip der variatio stark, die er in der Anweisung seines Vorgängers, den Paion zu benutzen, nicht verwirklicht sieht (vgl. 214 f.). Daraus ergibt sich die Forderung nach
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einem ausgewogenen Mischungsverhältnis der in den verschiedenen Redegattungen naturgemäß vorhandenen Metren, von denen der Iambus (d. h. allgemein 2 :1-Rhythmen, auch Tr) die niedere (humile) Umgangssprache dominiere, der Paion eher in den höheren Genera verwendet werde und der Daktylus (d. h. auch An, Sp) überall anzutreffen sei. Folgerichtig widerspricht er der verbreiteten Ansicht, nur der Schlussrhythmus verdiene Beachtung, und legt dar, wie in der kunstvollen Periode ein durchgängiger Rhythmus, im wörtlichen Sinne eines dynamischen Fließens, durch ebenso bewusstes wie unauffälliges Maß auf das Ende als wichtigste Klangmarkierung hinzielen muss. Mit einer Reihe damals kontrovers behandelter Fragen zu Umfang und Gliederung eines Satzes, die dann aber nicht abgearbeitet werden, wird das letzte Kapitel über die praktische Anwendung (usus; 204⫺236) eröffnet. Der Autor hat vor allem die forensische Rede im Blick. Zwar sei die oratio vincta (Periode) für die Geschichtsschreibung und die auf Unterhaltung (delectare) zielende epideiktische Rede nach Art des Isokrates das allein passende Instrument, bei den Gerichts- und den beratenden Volksreden hingegen dürfe man sie nur an bestimmten Stellen (etwa beim Lob oder zur amplificatio) einsetzen, weil sonst das künstliche Gepräge durchschaut würde und dadurch Mitempfinden wie Vertrauen verloren gingen. In Einzelheiten wird erklärt, wo welche Art der rhythmisierten Rede angewandt werden soll; Cicero empfiehlt als Klausel insbesondere den Dichoreus (ChCh), der in Asien allerdings zu ausschweifend Anwendung finde. Als weitere abschließende Metren nennt er Cr statt des von Aristoteles und seinen Nachfolgern angeratenen Pmi, bei Kommata den behäbigen Sp, in Verbindung mit vorausgehendem Ia, Tr oder Da generell die Schlussfüße Ch bzw. Sp. Der Dochmius (IaCr) dürfe wegen seiner Auffälligkeit nicht häufiger gesucht werden. Über allem steht aber die Forderung, dass sich die oratio numerosa, die nie den Verdacht einer regelhaften Rhythmisierung erwecken darf, aufgrund der gekonnten Komposition der Worte zwanglos von selbst einstellt. Am Schluss tritt das apologetische Anliegen der Schrift klar hervor: Cicero verteidigt die in der forensischen Gattung übliche Redeweise durch Monokola und „dolchartige“ Kommata, die durch eingeflochtene Perioden immer wieder ins Maß gebracht werde, gegenüber der asiatischen Praxis, bei der ausschließlich kleinteilige Sätze mit monotonen Rhythmen wie kleine Verse aneindergereiht würden. Auf der anderen Seite führt er seinen attizistischen Gegnern vor, wie eine ungebundene Aussage durch gekonnte Wortstellung in eine den Gedankengang abzeichnende Periode überführt werden kann, bei der ein zwangloser Rhythmus seine Wirkung auf den Hörer entfaltet.
3.4. Quintilian, Institutio oratoria 9,4 Infolge der von Aristoteles begonnenen Systematisierung wird die compositio fest im Lehrgebäude der Rhetorik integriert, so dass sie schließlich bei Quintilian innerhalb der „Ausformulierung“ (elocutio) der Stilqualität des Schmucks (ornatus) zugeordnet ist. Die Satzlehre bildet hier einen eigenständigen Bereich neben der Figurenlehre und umfasst die Reihenfolge der Wörter (ordo), die Wortverbindung (iunctura) und den Rhythmus (numerus). Die rhetorische Satzkomposition kommt nach den drei Änderungskategorien adiectio, detractio und mutatio zustande; ihr Ziel besteht darin, den Satz in seiner Qualität ehrwürdig (honesta), seiner Wirkung angenehm (iucunda) und seiner Ausführung abwechslungsreich (varia) zu gestalten (146).
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Nach anfänglichen Erwägungen zur Bedeutung der compositio und zur gebundenen Rede als ihr Behandlungsgegenstand (series conexa gegenüber soluta) wird das Thema nach den drei Gliederungspunkten behandelt: Die Wortanordnung (ordo; 23⫺32) darf nie auf Kosten der Klarheit (perspicuitas) erfolgen; in ihr soll sich möglichst eine Steigerung des Gedankens oder des Ausdrucks abzeichnen, wobei konzediert wird, dass unveränderliche natürliche Reihenfolgen der Wörter in idiomatischen Ausdrücken existieren (Mann und Frau, Tag und Nacht). Das stoische Verständnis einer natürlichen und damit die Disziplin der Rhetorik nicht tangierenden Regelung der Wortfügung wird freilich rundweg abgelehnt. Wichtigstes Kriterium für jede Wortfolge, besonders die Setzung des Verbs, in dem die Kraft der Rede liegt, ist der jeweils entstehende Rhythmus. Unter dem Aspekt der Verbindung (iunctura; 32⫺44) gibt Quintilian lautliche Regeln, so etwa, dass eine Schlusssilbe und die folgende Anfangssilbe kein unanständiges Wort ergeben oder auch nur gleich sein dürfen. Der Hiat soll nach der Art des Demosthenes und des Cicero nur insofern gemieden werden, als sich keine übertriebene Ängstlichkeit wie bei Isokrates und Theopomp erkennen lässt. Bisweilen können sogar Vokalzusammenstöße den Ausdruck stilistisch verstärken (Cic. Or. 77) und andererseits Konsonantenfolgen den Redefluss behindern. Das Aneinanderfügen einsilbiger bzw. kurzer oder aber ganz langer Wörter ist zu meiden, ebenso mehrere Wörter mit gleichem Rhythmus und gleicher Endsilbe. Kurzum, in allem soll der Grundatz der varietas herrschen. In den Darlegungen zum Prosarhythmus (numerus; 45⫺120) stehen Erwägungen zur Terminologie an erster Stelle. Um nicht in den Verdacht zu geraten, poetische Satzrhythmen zu favorisieren, wenn generell von numeri gesprochen wird, führt der Rhetoriker in Anlehnung an Cicero (Cic. Or. 190) die Bezeichnung „rednerischer Rhythmus“ (oratorius numerus) in einem spezifischen Sinne für die Klausel ein; die diesbezüglichen Regeln gewinnt Quintilian aus einer aufwendigen Analyse der ciceronianischen Reden. Im Hinblick auf ihre die Satzkomponenten distinguierende Funktion wird den rhythmischen Kadenzen, in welchen wie in der Dichtung lange Wörter zu unterlassen seien, größte Beachtung geschenkt. Doch dürfen sich Prosarhythmus und Versrhythmus (z. B. Klausel und Hexameterkadenz; 102) keineswegs entsprechen, passend hingegen seien Versanfänge als Klausel und Versenden als Satzanfang. In der Satzmitte dürfe keinesfalls eine Häufung von Kürzen einen hüpfenden Missklang erzeugen. Das Kapitel wird beschlossen mit subtilen Überlegungen zu den Anwendungsbereichen der Periode (122⫺30), die an Cicero orientiert sind, und zu Eigenarten und Wirkmechanismen der Rhythmen (131⫺146). Am Ende steht das Fazit, dass die Rede, wie sehr sie auch gebunden (vincta) ist, ungebunden (soluta) scheinen soll, „damit es so aussieht, als habe sich der Rhythmus von selbst eingestellt“ (147).
4. Moderne Analyse der Satzkomposition 4.1. Satzteilabolge Schon in der Antike meinte Chrysipp, einen natürlichen Satzbau des Griechischen in der folgenden Weise wiederzuerkennen: Subjekt (S)/Objekt (O), Prädikat (P), Adverb, ⫺ wobei Substantive vor Adjektiven stehen (Dion. 5). Dionysios widerlegt diese Ansicht, und nach ihm entkräftet Quintilian für das Lateinische ausdrücklich die Festellung „ge-
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wisser Leute“, dass die Abfolge der Satzteile bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliege, rät aber im Normalfall zur chronologischen Reihung der Aussagen und zur Endstellung des Verbes (Quint. 25 f.), in dem die „Kraft der Sprache“ (sermonis vis) liege. Die moderne Analyse konnte zur Abfolge der einzelnen Satzteile nur schwerlich allgemeine Regeln formulieren, da sich Unterschiede je nach Stilart und Epoche ergeben. Aufgrund satzrhythmischer und satzmelodischer Faktoren bilden die Schriftsteller, sei es bewusst oder unbewusst individuelle Gewohnheiten aus (Frisk 1932, 178). Es lässt sich nachweisen, dass Schriften kommunikativen Charakters (wie Reden, Platon-Dialoge) in Hauptsätzen zur Abfolge S O P tendieren, hingegen die Historiker seit Herodot und im hellenistischen Griechisch zwischen den Wortstellungen S P O und S O P variieren. Gegenüber dem klassischen Griechisch ist im späteren, zur regelhafteren Wortstellung strebenden Gemeingriechischen, der Koine˘ , die häufige Voranstellung des Prädikates in temporalen und relativen Nebensätzen bei nichtpronominalem Subjekt auffällig. Was allerdings als habituell statistisch erkennbar wird, kann jederzeit aus logischen bzw. stilistischen Gründen durchbrochen werden (Frisk 1932, 14⫺34). Dies gilt etwa auch für die Stellung der attributiven Adjektive, von denen die primär das Bezugswort aus einer Allgemeinheit distinguierenden, determinativen (wie irdisch, hölzern) in der älteren griechischen Prosa wie im Lateinischen normalerweise nachstehen und nur zur logischen oder affektiven Betonung vor ihr Bezugswort treten, was wiederum für die qualifikativ bzw. quantitativ wertenden Attribute (wie gut, groß) die unpointierte Stellung ist. Wo die Verbindung des vorangestellten Attributs durch Zwischenstellung anderer Wörter unterbrochen ist (Hyperbaton), lässt sich wegen der entstehenden Spannung eine hervorhebende Wirkung erkennen (Marouzeau 1922, 218 f.; Bergson 1960, 101⫺108). Für das Lateinische ist ein allgemeines Grundprinzip der syntaktischen Wortstellung ersichtlich, welches auf der psychologischen Tatsache beruht, dass Anfang oder Ende eines Satzes bzw. Nebensatzes am intensivsten wahrgenommen werden; dort stehen dann auch die betonten Satzkomponenten (Hale/Buck 1903, 334⫺340). Demgemäß ist die normale, freilich rhetorisch jederzeit modifizierbare Reihenfolge: S und seine Bestimmungen, entlegenere Bestimmungen, indirektes und direktes O, Adv, P. Diese seit der Antike in der Rhetorik betriebene stilistische Analyse der Syntax wird ergänzt durch die von Eduard Fraenkel (1964) für sämtliche antike Texte geforderte Kolometrie, bei welcher für die Erfassung der stilistischen Eigenart eines Autors die TextStrukturierung nach Kola (in einigen Texteditionen auch optisch im Schriftbild) herausgestellt wird. Entgegen der antiken Theorie können hier die Anfangsworte eines Satzes als außerhalb des ersten Kolons stehende ,Auftakte‘ begriffen werden.
4.2. Moderne Analyse des Prosarhythmus Albert W. de Groot (1921) hat die Entwicklung des griechischen Prosarhythmus in drei Stufen beschrieben: In der ersten Phase wirkt noch der Einfluss der Epik auf die historischen und philosophischen Texte, was sich z. B. an den Daktylen und den Hexameterschlüssen bei Herodot zeigt (Norden 1915, Bd. I, 45). Ein zweiter Entwicklungsschritt ist durch „dithyrambische Prosametrik“ (ChoIa, ChIa, Cr, DaAn) bestimmt. In der dritten und letzten Phase, die, angefangen bei Gorgias, die attische Rhetorik repräsentiert, erfolgte die Konzentration auf die Schlussmetrik. Auf zwei markante Stilisten, Platon für die Kunstprosa, Demosthenes für die politische Rede, sei kurz eingegangen.
90. Satzlehre im Rahmen der klassischen Rhetorik Platons Dialoge, allen voran der Phaidros, zeugen durch ihren charakteristischen Stilmix und die Imitation der kritisierten Sophisten von ausgereiftem Gespür für rhythmische Periodisierung innerhalb der jeweiligen Sprachniveaus (Thesleff 1967, 63⫺94). Die oft zum Poetischen neigende Gestaltung brachte dem Autor bei einigen antiken Kritikern den Vorwurf ein, der Stil sei dithyrambisch, ausgelassen und unbeherrscht (Norden 1915, Bd. I, 104⫺113). In Platons Gesamtwerk zeichnet sich aber ein Übergang von der zweiten in die dritte Phase ab: Während er in den früheren Werken den Hiat nicht unbedingt mied, ist in den spät verfassten Gesetzen neben der strikten Meidung des Hiats eine eigene Prosametrik entwickelt. Hier treten die in der mittleren Schaffensphase vorhandenen Formen der Poesie (ChIa, Cr, DaAn sowie Hexameterschluss) zurück, und wie kein anderer antiker Autor zeigt Platon eine Vorliebe für die Klausel Pmi, was alles aufs Engste mit Aristoteles’ Anweisungen in der Rhetorik kongruiert (de Groot 1921, 45⫺62). Die bevorzugte Klausel des Demosthenes ist ChCh (vgl. Quint. 97); häufig geht auch ein Choriambus einem Creticus voran (ChIaCr). Im Satzrhythmus selbst finden sich choriambische Rhythmen neben daktylischen, sowie die Häufung von Cr. Drei Kürzen (Tribrachys) und mehr werden, wo immer möglich, gemieden (sog. ,Blass’sches Gesetz‘; Blass 1893, 105), ebenso die als umgangssprachlich empfundene Häufung von Kürzen neben Längen (Ia, Sp). Den Hiat meidet Demosthenes nicht in derselben Strenge wie Isokrates; öfter als bei diesem ist das Zusammentreffen von Vokalen durch Ausstoßen des ersten Vokals (Elision; vgl. Cic. Or. 152), Verschmelzung (Krasis) oder konsonantische Lesung des Iota bei Diphthongen aufgehoben, z. B. kaj statt kai (Blass 1893, 103 f.). Dabei fällt auf, dass offenbar in weniger genau redigierten Reden mehr Hiate stehengeblieben sind als in den überarbeiteten Texten. Die Ausprägungen der griechischen rhythmisierten Prosa haben auf die römische Literatur eingewirkt. Nach einer ersten Epoche, in der die Rede wie bei Cato (3./2. Jh. v. Chr.) durch kunstvolle Antithesen und Wortstellungen eine gefühlsmäßige Rhythmisierung erfährt (Gell. X 3), setzt mit C. Gracchus (2. Jh. v. Chr.) die Zeit der ausgewogenen Satz-Komposition im Sinne einer bewusst geregelten Anwendung der Prosametren ein (Gell. XI 13). Seit Q. Metellus sind fast alle überlieferten Texte nach den Regeln der griechischen Schlussmetrik durchgestaltet. Neben individuellen Vorlieben herrschen die gängigen Schlussklauseln vor: ChCh, CrCr, PmaCh, CrCh(Ch), ChChIa. In Opposition zu den wirkungsvollen Stilisten, zu denen allen voran Cicero und Cäsar gehören, gibt sich eine kleinere archaisierende Strömung als geradezu ametrisch zu erkennen (vgl. Tacitus dial. 23). Die beiden Pole stehen aber nicht in Analogie zur Konstruktion einer asianischen bzw. attischen Richtung, welch letztere gegenüber der ersteren jede Prosametrik abgelehnt hätte (de Groot 1921, 97 gegen Nordens Konzept). Die Analyse der Texte Ciceros lässt erkennen, dass er tatsächlich auf die Kritik der Attizisten reagiert hat, welche die rhythmische Variatio forderten. Während in den Jahren 57/56 v. Chr. die Formen (Cr)CrCho 42 % seiner Klauseln ausmachen, ergibt eine Stichprobe für die 40er Jahre nur noch 28,3 %. Passend zu den autobiographischen Angaben ist überhaupt eine Entwicklung vom jugendlichen Dilettantismus hin zur Abgeklärtheit im Alter erkennbar (Norden 1915, Bd. I, 226⫺233). Primmer (1968, 106⫺9) unterscheidet in seiner Analyse zwischen schlussstarken und schlussschwachen Klauseln, indem er deren Stellung an syntaktisch schwächeren oder stärkeren Einschnitten vergleicht („Stufenvergeich“): Wenn man die Häufigkeiten bestimmter Klauseln innerhalb der drei verschiedenen Unterteilungen Komma, Kolon, Pe-
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riode untersucht, stellt sich z. B. heraus, dass das Metrum der Form esse videatur (PmaCh) im Vergleich zu anderen Formen signifikant häufig, nämlich zu fast 50 % seines Auftretens, am Periodenende zum Einsatz kommt. Wie die zahlreichen meist statistischen Einzeluntersuchungen zeigen, hatten die überlieferten Autoren entsprechend ihren Stilvorbildern bestimmte Vorlieben für Satzkomposition und Rhythmen (de Groot 1921, 73⫺92). Wilhelm Meyer (1893, 241⫺258) meinte in der lateinischen Prosa ab dem 2. Jh. n. Chr. eine allgemeingültige Grundregel für Klauseln erkennen zu können, wonach diese auf zwei oft aufgelösten und manchmal auch zum Baccheus verschobenen Kretikern beruhten. Wie in der späteren Systematik des fragmentarisch überlieferten Caesius Bassus erkennbar, tritt in der Rhetorik nach Quintilian allmählich immer mehr die Beachtung der Silbenquantitäten hinter derjenigen von Akzentuierung und Silbenanzahl bzw. Wortgrenzen zurück, wenn sich auch große Stilistiker wie der Kirchenvater Augustinus in genauer Kenntnis der rhetorischen Satzlehre (De doctr. christ. 4,13; 4,40; 4,41) noch dem quantitierenden Rhythmus verpflichtet zeigen (Zwierlein 2002). Aus den gängigen quantitierenden Klauseln der ciceronianischen Prosa gehen schließlich die schon im 2. Jh. bei Plinius d. Jüngeren und Apuleius erkennbaren und im 12 Jh. kanonisierten cursus hervor, welche sich in drei Grundtypen je nach den Betonungen (X) der beiden Schlusswörter eines Kolons unter Beachtung der Silbenanzahl des letzten Wortes unterscheiden lassen: c. velox … Xxx |xxXx am häufigsten, außerdem c. planus … Xx |xXx und c. tardus … Xx |xXxx. Bei den lateinischen Panegyrikern und den christlichen Schriftstellern ab dem 4. Jh. n. Chr. erkennt man außerdem die mit der modernen Bezeichnung cursus trispondaicus oder dispondaicus benannte Klausel, mit drei Senkungen zwischen den betonten Silben: … Xx |xxXx (Oberhelman 1988). Entsprechend diesen rhythmischen Schlüssen und vielleicht davon beeinflusst tritt in griechischer Kunstprosa seit Synesios von Kyrene kurz vor 400 n. Chr. eine ähnliche Gesetzmäßigkeit zutage (,Meyersches Gesetz‘), nach welcher in Perioden bei den „Silben, die einer Sinnespause unmittelbar vorangehen“ nur noch der Wortakzent beachtet wird und „vor der letzten Hebung mindestens 2 Senkungen stehen“, wobei bisweilen der Akzent vorangehender „Hilfswörter“ wie Artikel, Pronomina, Präpositionen u. ä. unberücksichtigt bleibt (Meyer 1891, 206; vgl. Hörander 1981, 26⫺37). Im 4. Jh. zeigen sich Stilistiker wie Kaiser Julian und Libanios noch völlig unbeeindruckt von der Entwicklung, bei der die musikalische Akzentuierung zugunsten der exspiratorischen Betonung verlorengeht. Doch seit dem 5. Jh. wandten alle bedeutenden Schriftsteller bis weit in die byzantinische Zeit hinein die auf dem Druckakzent beruhenden Klauseln an (Hörander 1981, 54⫺61).
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Gregor Staab, Köln (Deutschland)
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91. Textaubau und Redeteilschemata (partes orationis) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Redeteile als Makroschema des Textes Die älteste Einteilung der rhetorischen techne gemäß den Teilen der Rede Aristoteles und die Alexander-Rhetorik Auctor ad Herennium Cicero Quintilian Anonymus Seguerianus Literatur (in Auswahl)
Abstract From the very beginning, the structuring process of speech has been at the center of the theoretical interest of rhetoric. For this reason, even the presentation of this doctrine has initially been focused on along those schemata. However, starting with Aristotle’s work, the functionality of the individual parts of speech has undergone radical criticism in order to not lose track of the persuasion goal through the manifold differentiation of the techne. In subsequent rhetorical works, this view still remains dominant, however, authors also strive for the proper arrangement of both stylistic and content elements of the individual parts.
1. Redeteile als Makroschema des Textes Oratorisches Handeln wird in der Antike immer wieder mit militärischem verglichen; dies ist umso näher liegend, als der Begriff der ,Ordnung‘, sowohl im Griechischen (τα´ ξι/taxis) als auch im Lateinischen (ordo) ebenfalls in der militärischen Fachsprache verwendet wird. Das hat die Theoretiker dazu inspiriert, die Parallele weiter auszuführen: Der Redner erscheint so als Feldherr, der seine Argumente wie Truppenverbände geordnet und nach einer strategischen Planung ins Treffen führt (Cicero, Brut. 139; Quint., Inst. or. 12,1,35; 2,17,34; 7,10,13). Da die klassischen Rhetoriktheoretiker rhetorisches Handeln vor allem im Meinungsstreit bzw. Interessenkonflikt lokalisierten (s. a. Art. 32 Band I), konnte diese Metapher für die Ausarbeitung einer Makrostruktur des Textes leitend sein. Ähnlich wie in der Feldherrenkunst hat der rhetorische Stratege sich vor vorschnellen, gar affektgesteuerten Handlungen vorzusehen. Er muss im ,Vorfeld‘ planen, was ihn wohl erwarten wird, aber flexibel genug bleiben, um etwaige Kontingenzen und Veränderungen der Situation ausgleichen zu können. Darin erfüllt sich das rhetorische Situativitätsgebot. Betrachtet man rhetorisches Handeln von diesem Standpunkt aus, dann wird nachvollziehbar, warum die ersten Handbuchtypen nicht den Produktionsstadien der Rede folgen (s. Art. 34 Band I), sondern eine Art Kommentar zu den Redeteilen bilden. Ist doch in der Ordnung der Teile bereits ein Moment systematischer Beherrschung zu konstatieren, also genau das, was Aristoteles in Rhetorik 1,1 feststellt, dass sich nämlich rhetorischer Erfolg auf einer systematischen Betrachtung dessen
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gründe, was je erfolgreich ist. Aristoteles (und vor ihm bereits Platon) konnten aber gerade diesem Handbuchtyp nichts Positives abgewinnen. Beide kritisieren, dass die scholastisch anmutenden Differenzierungen von Redeteilen das rhetorische proprium aus den Augen verlieren. Die Redeteile selbst bieten unterschiedliche Textformen. Legt man einmal das klassische Schema der Gerichtsrede zugrunde, so finden sich vier stark differenzierte Teile: Einleitung (προοι´μιον/prooimion, exordium), Sachbericht (διη´ γησι/dihegesis, narratio), Beweis (πι´στι/pistis, probatio), Schluss (eœπι´λογο/epilogos, peroratio). Beginn und Schluss einer Rede gelten als affektisch zu gestaltende Textsegmente, indem sie durch delectare/erfreuen im exordium, und durch movere/bewegen in der peroratio bestimmt sind. Freilich bauen beide Affekte aufeinander auf: Nur wer bereits einen emotionalen Kontakt zum Publikum hergestellt hat, kann dieses auch affektisch bewegen (⫽ affizieren).
2. Die älteste Einteilung der rhetorischen techne gemäß den Teilen der Rede Überblickt man die Zeugnisse zu den angeblichen Anfängen der Rhetorik in Sizilien (s. Art. 1 Band I), so lassen sich einige so deuten, als ob bereits der legendäre Korax aus Sizilien das vierteilige Redeteilschema, bestehend aus Proöm, Erzählung, Beweis und Schluss der Rede, in seiner techne niedergelegt hätte (Art. Script. B II 8). Auch Platon geht im Phaidros 266d⫺e (⫽ Art. Script. B XII 5) ausführlich auf die Redeteile ein, schreibt diese aber mit weiteren Einteilungen dem Theodoros aus Byzanz und seiner Schule zu, wobei er gerade die Unterdifferenzierung ⫺ Tekmerien und wahrscheinliche Schlüsse beim Beweis (πι´στωσι/pistosis), wohin als Unterpunkte Zusätzlicher Beweis (eœπιπι´στωσι/epipistosis), Widerlegung (eλεγχο/elenchos) und Zusätzliche Widerlegung (eœπεξε´ λεγχο/epexelenchos) gehören ⫺ als Geprunke der techne (κομψα` τη˜ τε´ χνη/ kompsa tes technes) bezeichnet, und damit eine ironische Distanz zum Ausdruck bringt. Der neuplatonische Kommentator Hermias erklärt den Zusätzlichen Beweis als einen zweiten, zusätzlichen zum Hauptbeweis. Ein Scholion zur aristotelischen Rhetorik definiert die zusätzliche Widerlegung als eine nicht zum Sachgegenstand und zur eigentlichen Widerlegung passende Widerlegung (Art. Script. B XII 5); inwieweit dies zutreffende Bemerkungen sind, muss freilich mangels anderer Belege offenbleiben. Auch der Parier Euenus wird hier genannt, weil er das Stilmittel der verdeckten Anspielung (y«ποδη´ λωσι/hypodelosis) erfunden habe. Man wird diese Zusammenstellung in der ältesten Rhetorikgeschichte (vgl. Heitsch 1993, 152) als ironisch kodierte Kritik an einer sich damals offenbar en vogue befindlichen Neigung zur übertrieben vorgenommenen Einteilung der Rede auffassen dürfen. Hinter der ironischen Kritik steht die Überzeugung Platons, dass die Rede als ein Organismus anzusehen sei: „Jede Rede müsse wie ein lebender Organismus aufgebaut sein (vÕσπερ ζì˜ ον/hosper zoon), der einen Körper hat, so dass er weder ohne Kopf noch ohne Füße sei, sondern Mitte und Enden habe, die einander und dem Ganzen in der Gestaltung entsprächen“ (Platon, Phaidr. 264c).
Platon scheint also nicht die Notwendigkeit einer Strukturierung als solche zu bestreiten, sondern lediglich deren überdifferenzierte Nomenklatur, durch welche das funktionale
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Moment (Rede als Organismus) aus dem Blick geraten könne. Ähnlich kritisiert Aristoteles in seiner Darstellung der Taxis (Rhet. 3,13), dass die Redeteilschemata der Rhetoriktheoretiker zum einen nicht in alle Redegenera passten, insbesondere Theodoros von Byzanz führe zu viele Unterteilungen auf, und ein Lekymnios aus Chios (um 420 v. Chr.) erfinde zudem noch lächerlich wirkende Begriffe, um diese Redeteile zu bezeichnen: Vordem-Winde-Fahren, Abirren, Zweige. Dem hält Aristoteles entgegen, man müsse zunächst auf die spezifischen Unterschiede Acht haben (εiÓδο´ τι λε´ γοντα και` διαφορα` ν oνομα τι´θεσθαι/eidos ti legonta kai diaphoran onoma tithesthai; Rhet. 1414b15⫺16), ehe man daran gehen könne, diese begrifflich zu fassen. Zu diesem Befund fügt sich ein anderer: In der Alexander-Rhetorik (s. die Bemerkungen zu Anaximenes von Lampsakos in Art. 1 in Band I) findet sich die Lehre von den Redeteilen und der richtigen Andordnung (τα´ ξι/taxis) im letzten Teil des Werkes, das man mit guten Gründen von den beiden vorangegangenen trennt, da sich hier eben jener ältere Handbuchtypus erhalten hat, der nach dem Redeteilschema aufgebaut ist. In der Alexander-Rhetorik jedoch werden die Redeteile nach den Redeanlässen (genera causarum, hier als sieben εiδη/eide (Formen) bezeichnet, vgl. 1421b7⫺10 und die Überlegungen zu Anaximenes von Lampsakos in Art. 86 dieses Bandes) differenziert und mit einer entsprechenden Topik versehen (Barwick 1922; 1966). Man kann aus diesen Belegen schließen, dass man in der sophistischen Tradition die Systematik der techne an ihrem Produkt, der Rede, ausgerichtet hat. Dies führt in der Alexander-Rhetorik zu einer gewissen Unübersichtlichkeit, da sie die Formen der Rede nicht einzeln behandelt, sondern am Leitfaden der Redeteile vorgeht. Dass die Organisation des Fachwissens und die Strukturierung von ihrem Produkt getrennt zu halten sind, erkennen offenbar erst Platon und Aristoteles. Gleichwohl handelt auch Aristoteles die Taxis jeweils nach den drei genera causarum ab.
3. Aristoteles und die Alexander-Rhetorik Die Lehre von der τα´ ξι/taxis untersucht Aristoteles in Rhetorik 3,13⫺19. Das dritte Buch schließt sich am engsten an die sophistische Tradition an. Dennoch ist seine ordnende Hand im Umgang mit den Theoremen allenthalben zu bemerken. So auch im Umgang mit der taxis. Zunächst geht Aristoteles von einer minimalen Anforderung aus: Einerseits müsse man eine These formulieren und vorstellen (προ´ θεσι/prothesis), in einem weiteren Schritt diese dann beweisen. Mit einer solch schlichten Zweiteilung ist fundamentalrhetorisch auch schon der Kern oratorischen Handelns aufgewiesen: Der Redner muss ein Bestimmtes angeben, und dieses Bestimmte gegen etwaige Einwände beweisen, um es als dasjenige zu etablieren, das anzustreben oder zu meiden etc. ist. Im Rahmen solcher Funktionalität ist dann auch eine Erweiterung möglich, die ein vierteiliges Schema vorsieht: Der Eingang der Rede kann extra gestaltet werden, und die Rede kann nach dem Beweisteil noch einmal in den wichtigsten Punkten gebündelt werden (Schluss). Mit dem Hinzusetzen von Anfangsteil und Schlussteil scheint eine primär ästhetische Forderung erfüllt zu sein, die einen organischen Aufbau erst durch Anfang, Mittelteil und Ende erkennen lässt. Diese Tektonik ist aber weniger durch einen (werktheoretisch betrachtet) ausgewogenen Aufbau zu begründen, dessen Bewertungsmaßstäbe ohnehin nur höchst
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arbiträr sein können. Vielmehr ist die Dreiteilung dem rhetorischen Setting geschuldet, in welchem der Orator zu agieren hat. Anfang und Schluss liefern daher keine zusätzlichen Sachargumente im Sinne der aristotelischen pistis-Trias (logos, ethos, pathos), sondern sind auf die affektiv gestaltete Einbeziehung des Auditoriums abgestellt. Diese Funktionen werden von Aristoteles beim Proömium und dem Epilogos hervorgehoben: Das Proömium bezeichnet er daher als eine Wegbereitung für den Zuhörer (o«δοποι´ησι/ hodopoiesis; 1414b21), da es ihn als Kopfstück und Anfang in das Thema hineinführen soll. Dies kann je nach Redeanlass sehr unterschiedlich geschehen. In der Epideiktik ist ein nur loser, eher assoziativer Verbund von Proömium und Hauptteil vorzuziehen, um den Rezipienten nicht zu langweilen; in der Gerichtsrede dagegen sollte der Rezipient über den Zweck der Rede und deren Inhalt informiert werden, so wie dies in der Dichtung der dramatische Prolog (z. B. bei Euripides) und das epische Proömium leisten (z. B. in der Ilias, Odyssee). Dieser ,hinführende‘ Beginn eines Kommunikationsprozesses kann natürlich auch unterbleiben, wenn die Kommunikation auch ohne diese Maßnahme gewährleistet ist. Sollte das aber nicht der Fall sein, vor allem, wenn sich abzeichnet, dass sie nicht in der dem Parteiinteresse dienlichen Form ablaufen könnte, dann muss der Redner vorbereitende Maßnahmen treffen. Das können Maßnahmen der Unterhaltung sein, um Aufmerksamkeit zu erregen, wenn ein Publikum ermüdet oder anderweitig abgelenkt ist; kritischer und hinderlicher für den Persuasionsprozess wären allerdings Voreingenommenheiten des Publikums. In solchen Fällen hätte es wenig Sinn, sich einfach darüber hinwegzusetzen. Vielmehr müssten solche Voreingenommenheiten als „Verleumdungen“ abqualifiziert werden. Auch wenn der Inhalt dessen, was kommuniziert werden soll, für den Rezipienten belastend oder betrüblich ist, empfehle es sich, diese Inhalte nicht sogleich anzusprechen. Als Beispiel dafür dient Aristoteles der Botenbericht im Drama. Alle diese Mittel dienen letztlich der Geneigtmachung des Rezipienten. Solche Geneigtheit wird ⫺ außer im Fall der Widerlegung von „Verleumdungen“ ⫺ durch Affekte erreicht. Also dadurch, dass die Zuhörer affektisch einbezogen bzw. angesprochen werden. Diese Hilfsfunktion exordialer Maßnahmen fasst Aristoteles daher auch mit dem Begriff der iœατρευ´ ματα/iatreumata (Heilmittel; 1415a25), womit er zu erkennen gibt, dass es sich hierbei um Maßnahmen handelt, mit denen eine eher negativ bestimmte Situation verbessert werden soll. In der Alexander-Rhetorik findet sich dieser ganze Zusammenhang in eine bündige Formulierung gefasst: „Das Proömium ist, allgemein gesprochen, die Vorbereitung der Zuhörer und eine Verdeutlichung der Sachlage in den Hauptpunkten für solche, die es nicht wissen, damit diese wissen, worüber die Rede handelt, und sie der Anlage folgen können. Ferner bittet man damit auch um Aufmerksamkeit und bemüht sich darum, dass die Zuhörer einem wohlgesonnen sind, so weit es sprachlich möglich ist“ (Rhet. Alex. 1436a33⫺37).
Der zweite, von Aristoteles als fakultativ betrachtete Redeteil ist der Schluss (Rhet. 3,19). Es werden vier Funktionen genannt: a) Der Redner stellt den Rezipienten positiv auf sich ein; b) der Redner steigert die Bedeutung des Bewiesenen oder setzt herab, was er widerlegt hat; c) er wirkt auf die Affekte der Rezipienten ein; d) er fasst zusammen, was vorgetragen wurde. Von einem rein sachlichen Punkt aus betrachtet kann dieser Redeteil als entbehrlich erscheinen, denn was hier rhetorisch geschieht, ist nichts anderes als eine Verstärkung von bereits Gesagtem. Diese bedient sich jedoch nicht der Mittel des ratio-
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nalen Argumentes (Enthymem, Paradeigma), sondern des ethos und des pathos: Der Redner empfiehlt sich wie im Eingang als wohlwollend und kompetent gerade in dem zur Verhandlung stehenden Sachverhalt oder auch schlechthin. Oder er spricht das pathos der Zuhörer an, indem er sich der Steigerung bedient, d. h. die Bedeutung des Bewiesenen vergrößert. Das hat selbst schon eine emotionale Wirkung, kann aber noch gezielt durch diejenigen Affekte verstärkt werden, von denen Aristoteles in Rhetorik 2,1⫺11 ausführlich gehandelt hat, und von denen er sagt, dass sie die größte Bedeutung auf das Urteil der Rezipienten ausüben. Es geht also in diesem abschließenden Teil der Rede um eine letzte gezielte Einflussnahme mit eben jenen Mitteln, über die sich Aristoteles in Rhetorik 1,1 gerade kritisch geäußert hat. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum er eine so restriktive Tektonik der Rede vorschlägt ⫺ aber auch, warum er nicht bei diesem rhetorikkritischen Standpunkt stehen bleibt, sondern ethos und pathos zum Zuge kommen lässt. Die Erinnerung hat demgegenüber auch eine strukturierende Funktion, wenn der Redner sich am Ende auf das Beweisziel beziehen und resümieren kann, dass dies nunmehr erreicht ist. Trotz oder wegen der Ähnlichkeiten von Epilogos und Proömium und der Verzichtbarkeit beider besteht Aristoteles auf einer funktionalen Unterscheidung von Einleitung und Schluss: Im Schluss der Rede gehe es nicht um eine (abschließende) Vorstellung des Themas ⫺ das ist Aufgabe des Proömius ⫺ sondern um ein Resümieren dessen, was bis dahin bewiesen ist. In der Alexander-Rhetorik wird der Epilogos zwar knapp behandelt, doch finden sich auch dort dieselben Funktionen: Er könne in allen Formen der Rede verwendet werden, insbesondere aber in der Gerichtsrede (εiÓδο/eidos, Form der Anklage und der Verteidigung): es gehe dabei nicht nur um eine Gedächtnisstütze (wie insbesondere bei Lob- und Tadelreden), sondern auch darum, sich der Sympathie des Publikums zu versichern und den Kontrahenten in ein schlechtes Licht zu rücken. Dabei könnten auch (ironische? vgl. App. Crit. von Chiron) Fragen nützlich sein. Die Parallelität der beiden Theorieschriften dürfte weniger überraschen, wenn man das dritte Buch der aristotelischen Rhetorik an den Anfang seiner Beschäftigung mit Rhetorik rückt und darin einen größeren sophistischen Einfluss erkennt (Schirren 2009). Doch bleibt dessen ungeachtet merkwürdig, dass Aristoteles die Klarheit seines zweibzw. viergliedrigen Schemas trübt, indem er sich über genau jene Teile ausführlich äußert, die gar nicht in sein knappes Schema passen; es sind dies die Verleumdung (διαβολη´ /diabole), die Erzählung (διη´ γησι/dihegesis) und die Befragung (eœρω´ τησι/erotesis). Zwar lassen sich Verleumdung und Befragung unschwer als Unterpunkte von Proömium und Beweis zuordnen, doch hat Aristoteles mit der Aufstellung des Beweiszieles (προ´ θεσι/prothesis) diffusere Momente der traditionellen Erzählung auf den rhetorisch allein relevanten Punkt gebracht: Die Erzählung habe nur die Funktion, die Voraussetzung dafür zu schaffen, das zu Beweisende einzusehen. Ist dieses schon hinlänglich deutlich, könne aber auch darauf verzichtet werden. Die Verleumdung wird mit einer Reihe von topoi/loci behandelt, wie man vorhandene Voreinstellungen erschüttern oder gar abbauen kann. Die eœρω´ τησι/erotesis (Frage, Befragung) ist ein Relikt aus einer älteren Prozessordnung. In der römischen Iudizialrhetorik findet sich der Begriff der altercatio, der ähnliches beschreibt (Cizek 1992; Veit 1996). Wegen ihres dialektischen Einschlages mochte Aristoteles sich für die Befragung interessiert haben; die Aufstellung eines eigenen Redeteiles scheint indessen nicht notwendig. Die Erzählung hat, wie erwähnt, eine expositorische Funktion, und der kunstgemäße Anteil an der Erzählung bestehe darin, „zu zeigen, dass etwas der Fall ist, wenn es un-
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glaubwürdig ist, oder dass es von einer bestimmten Art ist oder von einer bestimmten Größe oder auch alles das“ (Rhet. 3,16; 1416b20⫺22). Aristoteles antizipiert damit bereits zentrale Erschließungsfragen der Statuslehre (s. Art. 33 Band I). Was zu zeigen ist, ist hier unterschieden von dem, was zu beweisen ist. Zunächst müsse im Sinne der Exposition aufgewiesen, und in einem weiteren Schritt das Behauptete dann bewiesen werden. Oft könne daher der Aufweis sehr knapp ausfallen, immer dann nämlich, wenn den Rezipienten bereits hinlänglich klar ist, was Gegenstand der Rede ist. So können bei einer Lobrede auf Achilleus dessen Taten sehr knapp in Erinnerung gerufen werden, da sie hinlänglich bekannt sind. Aus dieser Funktion der Exposition relevanter Fakten erklärt sich auch, dass Aristoteles narrative Sequenzen nicht grundsätzlich vorsieht, sondern nur dann, wenn sie expositorisch erforderlich sind. Dieses Regulativ verbindet Aristoteles mit dem der Angemessenheit als einer rhetorischen Universalie: „Denn auch hier (in der Erzählung) ist das Gute nicht das Schnelle oder Kurze (eine landläufige Regel der Erzählung), sondern das Maßvolle (το` μετρι´ω/to metrios). Dies aber besteht darin, nur das zu sagen, was die Sache klar machen wird oder was die Annahme bewirken wird, etwas sei geschehen, oder ein Unrecht sei begangen oder ein Schaden zugefügt worden“ (Rhet. 1416b34⫺37; Übers. Rapp 2002).
Die Erzählung ist wegen ihres auf den Sachbeweis vorbereitenden Charakters nicht nur unter logos-Gesichtspunkten zu sehen, sondern auch unter Aspekten der beiden anderen pisteis: die Rede soll das ethos des Redners anzeigen und auch auf affektische Mittel nicht verzichten. Ethisiert, also sprecher-charakteristisch werde die Rede dadurch, dass sie auch solche Elemente umfasst, die Entscheidungen (προαι´ρεσι/prohairesis) des Sprechers verdeutlichen. Nur in den Entscheidungen nämlich können Handlungen nach dem aristotelischen Modell qualifiziert werden. Die Verwendung der Erzählung ist nicht auf die Stelle zwischen Eingang und Beweis beschränkt, sondern sie kann ubiquitär in der ganzen Rede eingesetzt werden; dennoch gibt Aristoteles zu bedenken, dass in der politischen Rede (anders als in der Gerichtsrede) der Bedarf an solchen Erzählungen geringer sei, da man über Zukünftiges zu entscheiden habe. Allenfalls um vergleichbare Beispiele anführen zu können, werde man hier auf eine Erzählung verfallen. Anders behandelt die Alexander-Rhetorik die narratio. Sie wird für Anklage/Verteidigung (also Gerichtsrede) gar nicht erörtert, sondern gerade für die Formen des Zu- und Abratens, indem die dihegesis mit dem Fall einer Gesandtschaft illustriert wird. Es muss hier darum gehen, dass kurz, klar und überzeugend erzählt wird. Je nach Umfang und Bekanntheitsgrad kann dieser Teil mehr oder weniger selbständig behandelt werden. Den Redeteil der pistis (Beweis) verhandelt Aristoteles in Rhetorik 3,17. Von diesem Teil verlangt er, dass er nachweis- und beweisführend (aœποδεικτικαι´ /apodeiktikai) sein müsse. Die Beweisgegenstände antizipieren in ihrer dreifachen Unterscheidung die spätere Statuslehre (s. Art. 33 Band I): Faktum, Qualität und Quantität (für die Epideiktik). Desweiteren wird nach den drei Redegattungen differenziert. Knappe Anweisungen zum Enthymem und zum Einsatz von pathos und ethos schließen sich an: Offenbar lässt Aristoteles im Beweisteil alle drei Überzeugungsmittel zu, er warnt aber vor einer Mischung: Sachbeweise dürfen ebensowenig mit ethos wie mit pathos vermischt werden, da sie sonst ihre Wirkung verlieren. Im Vergleich zu den Ausführungen im ersten Buch wirken die Bemerkungen in Rhetorik 3,17 als sehr viel mehr an der Praxis orientiert. Der Autor
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scheint hier bei der Redeteillehre unversehens in die erwähnte Form der zeitgenössischen technai zu fallen (s. o. die Einteilung der rhetorischen techne gemäß den Teilen der Rede). Wendet man sich nun wieder zum Ausgangspunkt der Aristotelischen Lehre von der taxis, so stellt man allerdings fest, dass die prothesis nicht weiter erörtert wird. Der Begriff wird in gleicher Verwendung für die Aufstellung der Behauptung in der Alexander-Rhetorik gebraucht. Im Anschluss an die oben zitierte Definition des Proömium heißt es noch erläuternd: „Die Sache den Zuhörern vorzustellen (προεκτιθε´ ναι/proektithenai) und sie deutlich zu machen, das geschieht so: ,Ich habe mich erhoben, um den Rat zu geben, dass wir die Syrakuser durch Krieg verteidigen müssen‘“ (Rhet. Alex. 1436b1⫺4, weitere Belege: 1437b35; 1440b7).
Der Redner formuliert so sein „Zertum“ (Knape 2000, 76), das er im nächsten Schritt zu beweisen hat. Obwohl also der Begriff hier in einer zeitgenössischen Rhetorik verwendet wird und Aristoteles in Rhetorik 3,13 bzw. 1414 b8 davon zu sprechen scheint, dass die viergliedrige taxis verbreitet ist, sollte man die prothesis deshalb noch nicht für einen damals gängigen Redeteil halten. Dagegen spricht auch Quintilian, der behauptet, dass Aristoteles nicht das Proömium mit der narratio verknüpfe, sondern mit der propositio (Inst. or. 3,9,5). Quintilian fasst diese Stelle demnach so auf, dass die propositio (also die prothesis) das genus sei, die narratio die species. Denn man könne von Fall zu Fall entscheiden, ob eine narratio erforderlich sei, eine propositio aber sei (aus fundamentalrhetorischer Sicht) immer anzugeben und passe auch an allen Orten. Die aristotelische Einteilung ist also systematischer Natur, weniger begrifflicher. Die einzelnen Teile müssen die entsprechenden Funktionen der Systembegriffe erfüllen; dies können sie jedoch in unterschiedlichen Formen tun. So erklärt sich auch, warum Aristoteles keine Notwendigkeit sah, die prothesis, die er ja als notwendigen Bestandteil jeder Rede definierte, näher zu beschreiben, obwohl er im folgenden andere nicht notwendige Bestandteile der Rede durchaus erörtert. Prothesis ist also offenbar ein generischer Begriff, der nur die Funktion angibt, die in diesem Teil erfüllt werden muss. In diesem Sinne unübertreffbar knapp, aber treffend ist eine Nachricht über Theodektes, der auch immer wieder in Zusammenhang mit der Alexander-Rhetorik und dem dritten Buch der aristotelischen Rhetorik gebracht wird: Aufgabe des Redners sei es, so Theodektes, mit seiner Einleitung das Wohlwollen zu erlangen, mit seiner Erzählung Glaubwürdigkeit, mit den Beweisen Überzeugung und mit dem Schluss der Rede Einprägung ins Gedächtnis zu bewirken (Rhetores Graeci VII, 33).
4. Auctor ad Herennium In der hellenistisch beeinflussten Herennius-Rhetorik (s. Art. 1 und 2 Band I) werden die partes orationis als Teile der inventio vorgestellt. Der Anonymus kennt sechs Teile der Gerichtsrede: exordium, narratio, divisio, confirmatio, confutatio, conclusio (Rhet. Her. 1,4). Diese Einteilung entspricht weitgehend dem, was wir aus den sophistischen Fragmenten eruieren konnten (s. o. zu Theodoros aus Byzanz und seiner Schule). Bei der Behandlung des exordium führt der Autor einen Gedanken weiter, der auch bei Aristoteles und in der Alexander-Rhetorik Gegenstand war: der sorgsame Umgang mit Vorurtei-
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len der Rezipienten. Daher gliedert sich nun die Einführung in das principium, in welchem die Aufmerksamkeit erregt und ein geschickter Einstieg in ein möglicherweise problematisches Thema gesucht werden soll, und der insinuatio, die dasselbe leisten soll, aber nicht offen aussprechen darf, sondern verdeckt vorgehen soll. Die narratio wird sehr ausführlich dargestellt (1,12⫺16); dabei werden drei Aspekte unterschieden: Einbindung in das parteiische Interesse, Anlässe der narratio und die narratio als Übungsform. Letzteres ist ein breit gefächertes System der Narrativik, unterteilt nach Kommunikationsbedingungen (in negotiis: fabula, historia, argumentum) und Affekten (in personis), das insbesondere für die Entwicklung des antiken Romans von Interesse ist. Die virtutes der narratio/dihegesis sind die bekannten des Anaximenes, nämlich Kürze, Klarheit, Wahrscheinlichkeit; die aristotelische Kritik an diesen virtutes bleibt also unberücksichtigt. Die divisio (1,17) entspricht der prothesis in der Alexander-Rhetorik, wird allerdings noch untergliedert, nämlich in eine Klarstellung dessen, was zur Verhandlung steht (quid nobis cum adverariis), und die distributio. Letztere gliedert sich ihrerseits in eine Aufzählung zu behandelnder Punkte und eine expositio, in der erläutert wird, worüber man sprechen will. Man könnte sich vorstellen, dass alle diese Einteilungen als ein zu durchlaufender Kursus funktionieren: Zunächst wird angegeben, was überhaupt Gegenstand der Auseinandersetzung ist, dann folgt eine Aufzählung der (möglichst nicht mehr als drei) Punkte, über die man der Reihe nach sprechen will, dann werden die einzelnen Punkte kurz umrissen. Der Zweck dieser dispositiven Maßnahmen darf darin gesehen werden, dass die mündlich vorzutragenden Texte die Auffassungsleistung der Rezipienten nicht überfordern sollten. Aber auch für die Sprecher selbst sind Ordnungsraster für die memoria sinnvoll. Confirmatio und confutatio (1,18⫺2,46) werden zwar begrifflich geschieden, doch nicht getrennt behandelt, vielmehr entwickelt die confirmatio das gesamte Statussystem (s. Art. 33 Band I), das auch für die confutatio gelten soll. Die conclusio handelt der Autor knapp ab (2,47⫺50): Sie besteht aus drei Komponenten: enumeratio (Aufzählung), amplificatio (Erweiterung), conmiseratio (Rührung). Die amplificatio wird in zehn loci communes dargestellt, und auch die conmiseratio bedient sich solcher loci. Damit sind die ersten beiden Bücher eigentlich der Redeteile der Gerichtsrede gewidmet. In 3,1⫺15 werden Spezifikationen für das deliberative und das laudative genus gegeben, ehe in 3,16 noch einmal die dispositio vorgenommen wird, nun jedoch als Arbeitsschritt des Redners (vgl. Art. 34 Band I). Hier wiederholt der Autor zunächst die partes orationis und nennt eine dispositio nach diesem Schema kunstgerecht (ex institutione artis); ähnlich wie die ganze Rede kann aber auch die argumentatio gegliedert werden (expositio, ratio, confirmationis ratio, exornatio, conclusio). Die Strukturähnlichkeiten verweisen auf die Kommunikationsbedingungen der mündlichen Rede, die ihrem Wesen nach argumentativ ist und deshalb deutlich und übersichtlich zu sein hat. Diese Vollform ex arte wird nun um eine Schwundstufe erweitert, die von jenem Moment reguliert wird, das Aristoteles gefordert hat, nämlich Angemessenheit: Ist der Sachgegenstand hinlänglich klar oder sind die Zuhörer erschöpft, kann der Redner auf eine narratio verzichten. Ist aber der Gegenstand mit Vorurteilen belastet, dann sollte man mit der Erzählung anfangen und erst danach das eigentliche exordium einflechten. Hier entscheide das iudicium des Orators. Die Redeteile der anderen beiden Gattungen werden knapper abgehandelt und variieren dieses Schema (deliberativum 3,2⫺9; demonstrativum 3,10⫺15).
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5. Cicero Die Darstellung der Redeteile in Ciceros Jugendschrift De inventione (Aufzählung in 1,19; die einzelnen partes in 1,20⫺108) entspricht aufgrund der ähnlichen Quellenlage weitgehend derjenigen des Auctor ad Herennium. Im Orator 122 bringt Cicero die Funktionen der einzelnen Redeteile übersichtlich zusammen: „Jetzt muss sich nämlich anschließen, was ja in den Bereich der Kunst gehört, der Beginn der Rede, worin der Zuhörer entweder uns geneigt gemacht wird, oder aufgerichtet wird, um sich für die Belehrung vorzubereiten. So dann den Sachgegenstand kurz, wahrscheinlich und offen vorstellen, damit man erkennen kann, worum es gehen wird. Seine eigenen Punkte beweisen, die gegnerischen widerlegen. Dieses darf nicht in konfuser Weise geschehen, sondern die einzelnen Argumentationsschritte müssen so abgeschlossen werden, dass sich daraus das ergibt, was jenen Punkten folgt, die gewählt werden, um die Sache zu beweisen. Nach all diesen Punkten beschließt der Schluss die Rede (peroratio) entweder aufstachelnd oder beschwichtigend“.
In den Partiones oratoriae 1,3 nähert sich der Theoretiker jedoch wieder dem aristotelischen Minimalprogramm an, das von den zwei von der Sache her notwendigen und zwei rezipientenorientierten Teilen ausgeht: „Wieviele Teile der Rede gibt es? ⫺ Vier. ⫺ Von diesen dienen zwei der Darlegung des Sachverhaltes, Erzählung und Beweis; zur affektischen Einwirkung zwei weitere, nämlich Anfang und Schluss“.
Allerdings scheint Cicero die Notwendigkeit der narratio nicht in Frage stellen zu wollen.
6. Quintilian Quintilian reflektiert die Redeteilschematik im 3. Buch seiner Institutio oratoria, wo er ja überhaupt Grundbestimmungen zur Rhetorik festlegt. In 3,9 widmet er sich dem genus iudiciale, das durch zwei officia ausgezeichnet ist, nämlich Angriff und Verteidigung (intentio, depulsio). Diese Vollzugsformen teilt er nun in fünf partes orationis: prooemium, narratio, probatio, refutatio, peroratio (3,9,1). Damit gliedert er die Redeteilschematik in die inventio der drei Redegenera ein, wie es auch die Herennius-Rhetorik und Ciceros De inventione macht (Adamietz 1966, 20; 199⫺203). Die Annahme von weiteren Teilen wie partitio, propositio, excessus kritisiert der römische Rhetor mit systematischen Argumenten. So gehöre eine partitio in den Bereich der dispositio als eines Redestadiums, das wie die inventio in allen Teilen der Rede Verwendung finden könne und nicht nur in einem einzelnen. Wollte man für die propositio einen eigenen Redeteil einrichten, dann müsste man dies auch für den Abschluss der Argumentation tun (concludere). Ein excessus gehöre entweder in die causa, dann werde er aber nicht als Teil angesehen, oder er liege außerhalb des Falles, und dann erübrige er sich ohnehin. Ob nun diese Argumente im einzelnen zwingend sind oder nicht: Der Theoretiker hat jedenfalls erkannt, dass die Redeteilschematik nur dann sinnvoll ist, wenn die einzelnen Kompartimente in der An-
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zahl überschaubar und vor allem in ihrer Funktion notwendig sind. Es kann also nicht darum gehen, nur mögliche Varianten als Schema zu etablieren. Die einzelnen Redeteile werden in den folgenden Büchern (4,1 (prohoemium), 4,2 (narratio), 4,3⫺5 (confirmatio mit propositio und partitio), 5 (probatio), 6,1⫺3 (peroratio)) sehr ausführlich auf der Grundlage der oben beschriebenen Voraussetzungen behandelt und können hier auch aus Raumgründen unerwähnt bleiben.
7. Anonymus Seguerianus Der aus der Zeit der zweiten Sophistik (wahrscheinlich Ende 2. oder Anfang 3. Jh.) stammende anonym überlieferte Traktat Über die Teile der politischen Rede untergliedert sich in folgende vier Redeteile: prooemium, dihegesis, pisteis und epilogos. Für das Prooemium bietet der Rhetor eine neue Definition: Das Pooemium sei eine Rede, die in bewegender bzw. beruhigender Form auf die Leidenschaften der Zuhörer einwirke. Es sei aber unmöglich, den Zuhörer für die Rede vorzubereiten, ohne ihn zu bewegen oder zu beruhigen. Das pathos selbst wird als eine momentane Einstellung (κατα´ στασι/katastasis) der Seele bezeichnet, die sich in einer heftigen Regung befindet, wie z. B. Mitleid, Zorn, Angst, Hass, Begierde. Der Unterschied zum ethos besteht dem Autor zufolge darin, dass dieses schwerer zu bewegen sei, es sei nämlich eine Einstellung der Seele, die sich gewissermaßen verhärtet habe und deshalb schwerer zu verändern sei, wie z. B. die Einstellung der Väter zu ihren Söhnen. Die topoi, aus denen das geeignete Prooemium gewonnen werden könne, werden auf vier Bereiche verteilt: Aus der Person des Sprechers, aus der Person des Prozessgegners, aus der Person des Richters und aus den Dingen selbst. In § 9 wird die Lehrmeinung des Harpokrateon referiert, der feststellt, dass der Zielpunkt des Prooemiums darin bestehe, den Zuhörer in eine bestimmte Verfassung zu versetzen und ihn so für die Aufnahme geneigt zu machen, seine Aufmerksamkeit zu erregen und sein Wohlwollen zu erwerben. Für die leichtere Aufnahme des Gesprochenen würden drei Mittel sorgen: 1. die προε´ κτεσι/proektesis (Vorstellung), 2. die aœνα´ μνησι/ anamnesis (Erinnerung) und 3. die μερισμο´ /merismos (Einteilung). Damit ist nach Ansicht des Autors eine Vorabkommunikation einer der wichtigsten Punkte, eine rekapitulierende Überleitung eines Teiles zu einem nächsten und die in Umrissen vollzogene Darstellung der gesamten zu verhandelnden Sachlage in der Rede bezeichnet. Im Folgenden werden dann noch die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen erörtert; Aufmerksamkeit könne z. B. dadurch erreicht werden, dass man sich als glaubwürdig präsentiert, wie es etwa der homerische Nestor vermochte. Auch anderen etwas vorzuwerfen könne Aufmerksamkeit oder sogar Befürchtung erregen. Diese Aspekte der affektischen Beeinflussung erinnern nicht von ungefähr an die aristotelischen Regeln zur Erzeugung des geeigneten Sprecherethos (Arist. Rhet. 1,9 zum epideiktischen genus: εyνοια/euneua (Wohlwollen), eœπιστη´ μη/episteme (Sachwissen), aœρετη´ /arete (Tugend)). Die oben erwähnte strukturelle Parallelität von Prooemium und Epilogos wird in § 19⫺20 thematisiert. Die beiden unterscheiden sich durch eine höhere affektische Ausgestaltung im Epilogos, die sich vor allem in der lexis, die stärker figural ausgebildet ist, nachweisen lässt. Außerdem könne man vieles, was im Prooemium bereits gesagt wurde, nicht noch einmal im epilogos bringen. Schließlich macht der Anonymus sich in § 21⫺29 Gedanken über die Möglichkeit, das Prooemium überhaupt wegzulassen. In § 30⫺36 wird
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dann die Position des Alexanders, Sohn des Numenios, ausführlich besprochen, der denjenigen, die unbedingt am Prooemium festhalten wollen, entgegenhält, dass die Rhetorik keine episteme, sondern eine stochastisch verfahrende techne sei. Daraus ergebe sich die Kompetenz des Redners, der von Fall zu Fall zu entscheiden habe, welche Stücke der ars/techne (Kunstlehre) jeweils zu verwenden sind und welche nicht. Allgemeine Grundsätze über die Gestaltung der Redeteile können daher keine festen Regeln für den Einzelfall sicherstellen. Beim Anonymus Seguerianus wird ein Konflikt im Umgang mit Regeln deutlich, der sich in der Antike zwischen zwei Lagern abspielte, nämlich zwischen den Apollodoreern, die an einer Fixierung des Regelapparates festhalten wollten, und den Theodoreern, die keine festen Regeln für die Rhetorik etablieren wollten (vgl. Abschnitt 3.4. in Art. 1 Band I). Der anonyme Autor schlägt sich hier auf die Seite der Theodoreer, indem er die Okkasionalität und Kontingenz rhetorischen Handelns betont, welches ein starres Schema der Redeteile als nicht sinnvoll erscheinen lässt. Der Epilogos (§ 198⫺ 253) wird in zwei Formen gegliedert, den Sachbereich (πρακτικο´ ν/praktikon) und den affektischen (παθητικο´ ν/pathetikon). Der Sachbereich wird durch eine Kurzrekapitulation der wichtigsten Punkte bestimmt (aœνακεφαλαι´ωσι/anakephaleiosis); der pathetische besteht darin, Affekte der Zuhörer zu erregen und dadurch die Aussage zu verstärken (r«ωννυ´ ειν/ronnyein). Diese Teile seien verzichtbar, wenn die Rede nicht lang ist. Die offenbar aristotelisch beeinflusste ethos-pathos-Konzeption könnte man zudem durch ein Zitat aus den so genannten Theodekteia, eine verlorene Schrift, die man dem Aristoteles, aber auch dessen Schüler Theodektes zugeschrieben hatte, ergänzen (vgl. Schirren 2009). Dort heißt es: „Der Epilogos soll in der Hauptsache die Zuhörer geneigt machen, wir könnten sie aber auf dreifache Weise geneigt machen, in dem wir sie in gewisse emotionale Zustände versetzen, die für jeden einzelnen ausschlaggebend sind. Die drei Formen bestehen zum ersten im Erzeugen von geeigneten Affekten, zweitens im Loben oder Tadeln und drittens darin, dasjenige, was zuvor gesagt wurde, kurz in Erinnerung zu rufen. Solche Gegenstände aber, die man gut im Gedächtnis behalten kann oder die aufgrund ihres Umfanges oder weil sie grundsätzlich keine Möglichkeit pathetischer Einwirkung bieten, soll man auch nicht in einem Epilogos entsprechend aufbereiten“ (§ 208).
Es zeichnet diesen Traktat als letztlich in der Tradition der frühen sophistischen Handbücher stehend aus, dass im Zuge der Darstellung der einzelnen Redeteile immer auch schon andere Aspekte der Rhetorik mitbearbeitet werden. So findet sich hier etwa im Abschnitt über den Epilogos als Anakephalaiosis (Wiederholung der wichtigsten Punkte) ein Hinweis auf die dort zu benutzende sprachliche Form. Die lexis habe für diesen Redeteil exakt zu sein (aœκριβη´ /akrebes), indem man z. B. Wörter in ihrer eigentlichen Bedeutung verwendet, andererseits dürfe hier aber auch auf Figuren (σχη´ ματα/schemata) zurückgegriffen werden, wie bspw. auf die Gedankenfigur der Ironie. Der Traktat untersucht die Affekte auch definitorisch; er gibt dazu die Definition des Alexander, Sohn des Numenios, der sagt, das pathos sei ein Impuls, welcher dazu diene, die Vernunft abzuwenden (§ 222). Diese Definition steht letztlich in der Tradition der aristotelischen Affekte, wie in Rhetorik 2,1⫺11 ausgeführt wird; dort heißt es, die Affekte seien etwas, was uns in Hinsicht auf unsere Entscheidungen beeinflusse. Diese Definition ist insoweit typisch für den Anonymus Seguerianus, als das aristotelische Fundament, auf dem diese Rhetorik ruht, allenthalben sichtbar bleibt, aber eigentlich nicht reflektiert wird. In § 240⫺243 wird eine Kurzbeschreibung der in den einzelnen Teilen zu verwendenden
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lexis/phrasis gegeben, auch dies zeugt vom sophistischen Aufbau dieses Traktates (s. Abschnitt 3.3.2 in Art. 1 Band I). In § 40⫺142 wird die Erzählung verhandelt (διη´ γησι/dihegesis), in § 46 nennt der Autor einige damals gängige Definitionen, wie etwa die des Neokles, die Erzählung sei eine in der Gerichtsrede verwendete Darstellung der Dinge, die für die zugrundeliegenden Sachfragen von Belang sind. Damit ist definitorisch festgelegt, dass sich die Erzählung nur auf Vergangenes beziehen kann, und zwar vergangenes Handeln, während die Darstellung von Gegenwart und Zukunft nicht als Erzählung, sondern als eine Anzeige (eνδειξι/endeixis) oder als eine Voraussage des Kommenden (προ´ ρρησι/prorresis) definiert sind. Zenon (von Athen, Mitte 2. Jh.) fügt hinzu, dass diese eκθεσι/ektesis/Darstellung sich jeweils auf die Figur des Redners beziehen müsse (§ 48). Es werden auch hier die unterschiedlichen Lager der Theodoreer und Apollodoreer benannt. Die Theodoreer definieren die Erzählung als eine nackte Wiedergabe einer in sich geschlossenen Handlung im Bereich des Vergangenen. Von dieser Definition scheint Alexander jedoch nichts zu halten. Er hält sie zwar für genau, aber nicht für rhetorisch genug. Man müsse den rhetorischen Sachverhalt stärker herausarbeiten. Die Apollodoreer definieren die Erzählung als Darstellung der Umstände (περι´στασι/peristasis). Doch Alexander scheint auch dieses nicht akzeptieren zu können, denn die Umstände bezögen sich regelmäßig auf mehrere Personen, Handlungen, Affekte usw., während die Erzählung sich immer nur auf ein Einzelnes zu beschränken habe. Daher schlägt Alexander die Definition vor: Die Erzählung sei eine Darstellung und eine dem Hörer dargereichte Rede über denjenigen Sachverhalt, mit dem wir es als Redner zu tun haben. In § 53⫺62 werden die verschiedenen Formen der Erzählung, unterschieden nach ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit (Kommunikationsaspekt), aufgelistet; diese Darstellung entspricht weitgehend dem, was in den römischen Rhetoriken bei dem Auctor ad Herennium (Rhet. Her. 1,12⫺16) und in Ciceros De inventione (1,27⫺30) zu finden ist. Die Formen lauten hier: wahr, erfunden, für die Richter gesprochen und Erzählung als Selbstzweck. Diese letzteren, also narrationes um ihrer selbst willen, können biographischer oder historischer Natur sein, sie können mythisch sein oder auch den Umschlag von Glück in Unglück oder auch umgekehrt bezeichnen (περιπετικαι´ /peripetikai). Bei den Erzählungen, die für die Richter bestimmt sind, wird eine reiche Differenzierung vorgenommen, die zeigt, wie die Erzählung im parteiischen Interesse zu verwenden ist; erinnert man sich an die von Aristoteles und Platon kritisierte überfeine Untergliederung der Erzählung, so scheinen in § 57⫺62 diese Unterformen der Erzählung in ihrer rhetorischen Bedeutung differenziert zu werden. Man hätte also Anhaltspunkte für die Frage, welche Aspekte ein Theodoros von Byzanz im 5. Jh. v. Chr. für seine Differenzierung der Erzählung eigentlich vorgesehen hatte. Im folgenden werden dann die virtutes (Vorzüge) der Erzählung durchgenommen: es sind dies die bereits erwähnten der Kürze, der Deutlichkeit und der Glaubwürdigkeit. Schließlich wird in § 113 die Frage aufgeworfen, ob die dihegesis ein notwendiger Bestandteil der Rede ist. Die Apollodoreer votieren in ihrer Regeltreue für die Unverzichtbarkeit, während unser Autor gerade zeigen möchte, dass die Rhetorik sich nicht auf ein solches Regelsystem festlegen lässt. In diese Richtung gehen auch Zitate von Alexander und Neokles (§ 116⫺123). Alexander empfiehlt zwar eine sprachliche Form der Erzählung, die heftiger (θρασυ´ τερον/thrasyteron) und pathetischer ist als das Proömium, doch auch hier müsse ein Mittleres zwischen Information und pathetischer Einwirkung auf den Zuhörer gefunden werden (§ 136). Wichtig sei, dass das Parteiinteresse auf eine vorteilhafte Sprachform
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achte. Die Beweise (πι´στει/pisteis; § 143⫺197) haben nach Alexander den Zweck, die Zustimmung (συγκατα´ θεσι/synkatathesis) des Rezipienten zu erzwingen. Im Unterschied zur aœπο´ δειξι/apodeixis müsse die rhetorische pistis nicht immer wahr sein. Im weiteren unterscheidet der Autor die technischen von den untechnischen Beweisen und weitere Beweistypen (Tekmerion, Semeion, Paradeigma, Enthymem, Apodeixis, Topos, usw.) und schließt daran die Widerlegungen an (λυ´ σει/lyseis), die einfach statt der Etablierung eines Sachverhaltes dessen Annullierung mit denselben Beweismitteln anstreben. Bei der Anordnung solle man die besseren Argumente an den Schluss stellen, die schlechteren an den Anfang. Die sprachliche Form solle prägnant sein und mit kurzen Kola arbeiten. Der Schluss der Rede (§ 198⫺239) verfolge zwei Absichten: Zusammenfassung und Einwirkung auf das pathos der Zuhörer, um sie im parteiischen Interesse zu lenken (§ 203). Doch müsse auch hier auf die sachlichen Gegebenheiten geachtet werden: Handelt es sich um eine kurze Rede, dann erübrige sich eine Zusammenfassung; bietet die Sache von selbst keine emotionalen Momente, sollte man auch keine am Ende der Rede herausarbeiten wollen. Desweiteren werden Formen des Schlusses unterschieden, und zwar nach dem Gegenstand, dem Status, nach der Argumentation und nach dem Topos (§ 214⫺220). Der Epilogos ist nicht ein Hinzugesetztes zur gesamten Rede, wie einige meinten, sondern, so der Autor, er sei der letzte Teil nach den anderen, komme also zu diesen hinzu (eœπι´ /epi/hinzu).
8. Literatur (in Auswahl) Adamietz, Joachim (1966): Institutionis oratoriae liber III. Dt. Übers. v. Paul Gohlke. München. Alexander-Rhetorik siehe Chiron (2002). Anonymus Seguerianus siehe Dilts/Kennedy (1997) und Patillon (2005). Aristoteles: Rhetorik siehe Rapp (2002) und Cope (1877). Barwick, Karl (1922): Die Gliederung der rhetorischen TEXNH und die horazische Epistula ad Pisones. In: Hermes 57, 1⫺62. Barwick, Karl (1966): Die Rhetorik ad Alexandrum und Anaximenes, Alkidamas, Isokrates, Aristoteles und die Theodekteia. In: Philologus 110, 212⫺245. Calboli Montefusco, Lucia (1988): Exordium narratio epilogus: Studi sulla teoria retorica greca e romana delle parti del discorso. Bologna. Chiron, Pierre (2002): Rhe´torique a` Alexandre. Pseudo-Aristote. Paris. Cicero (1990): Brutus. Hrsg. u. übers. von Bernhard Kytzler. München. Cicero (1998): De inventione/Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorum/Über die beste Gattung von Rednern. Lat./Dt. Hrsg. u. übers. v. Theodor Nüßlein. Düsseldorf/Zürich (Sammlung Tusculum). Cicero (1994): Partitiones oratoriae. Lat./Dt. Hrsg. und übers. v. Karl und Gertrud Bayer. Zürich. Cizek, Alexandru N. (1992): Altercatio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1, 428⫺432. Cope, Edward M. (1877): The Rhetoric of Aristotle, with a Commentary. Rev. and ed. by J. E. Sandys. 3 vls. Cambridge. Dilts, Mervin R./George A. Kennedy (1997): Two Greek Rhetorical Treatises from the Roman Empire. Introduction, Text, and Translation of the Arts of Rhetoric attributed to Anonymous Seguerianus and to Apsines of Gadara. New York. Heitsch, Ernst (1993): Platon, Phaidros. Übers. u. Komm. Göttingen (Platon Werke, 3,4). Knape, Joachim (2000): Was ist Rhetorik? Stuttgart. Knape, Joachim/Thomas Schirren (Hrsg.) (2005): Aristotelische Rhetoriktradition. Stuttgart.
1528
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
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Thomas Schirren, Salzburg (Österreich)
IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik 92. Mikro- und makrostilistische Einheiten im Überblick 1. 2. 3. 4. 5.
Aspekte stilkonstituierender Ganzes-Teil-Beziehungen Trennlinien zwischen Mikro- und Makrostilistik Typen und Verfahren der stilistischen Fokussierung Paarige Einheiten Literatur (in Auswahl)
Abstract The theoretical position that style must be considered as a complex and holistic structure has resulted in the distinction between micro- and macrostylistics. This article examines where the dividing line between these two areas is and considers the stylistic elements as well as their complex components from a theoretical and analytical perspective. Moreover, the articles aims at presenting some classical pairs of terms used to reflect the thought pattern of both a whole and its parts.
1.
Aspekte stilkonstituierender Ganzes-Teil-Beziehungen
1.1. Einzelormen: Stilelemente Der Unterscheidung zwischen mikro- und makrostilistischen Einheiten liegt das einfache Denkmuster vom Ganzen und seinen Teilen zugrunde. ,Stil‘ ist als ein komplexes Ganzes zu begreifen, d. h. als ein Gefüge aus Elementen, Komponenten, Varianten, einzelnen Merkmalen oder einzelnen Mitteln. Über deren Status herrscht im Wesentlichen Einigkeit. Um sich einen Überblick über den Grundbestand an mikrostilistischen Einheiten zu verschaffen, braucht man sich nur die Inhaltsverzeichnisse einschlägiger Literatur anzusehen. Im Zentrum stehen grammatische und lexikalische Einheiten, genauer: deren stilistische Potenzen. Behandelt werden die „Stilwerte der Wortarten, der Wortstellung und des Satzes“ (so bereits im Titel bei Schneider 1959), die „Möglichkeiten der Umformung oder des Wechsels grammatischer Kategorien als Stilmittel“ (Sowinski 1973) oder die „lexikalischen Dimensionen stilistischer Differenzierung“ (Fleischer/Michel/Starke 1996). Darüber hinaus geht es um „phonostilistische Fragen“ (Riesel/Schendels 1975), um „figurative und nichtfigurative Stilelemente“ (Michel 2001a) sowie ⫺ i. d. R. eine Randposition einnehmend ⫺ um die gestalterischen Potenzen von Interpunktion und Typographie (Sowinski 1999). Unterschiede zwischen den einzelnen Darstellungen, die historisch und/oder theoretisch bedingt sein können, betreffen die Systematisierung der Stilmittel (Näheres in 2), die Ausdifferenzierung der einzelnen Stilmittelbereiche (Gram-
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
matik, Lexik, Typographie usw.) und die Beschreibung bzw. Bewertung der stilistischen Möglichkeiten. Die typographischen Mittel etwa sind mittlerweile als wichtige Gestaltungsressourcen anerkannt. Während Meyer (1913, 92) lediglich Sperr- und Fettdruck als Texthervorhebungsmittel registriert, im Fettdruck noch den „unerfreulichen Komparativ“ des Sperrdrucks sieht und vor dem übermäßigen Gebrauch dieser Hilfsmittel warnt, verweist Stöckl (2004) auf eine Bandbreite typographischer Mittel, die auch den Bereich des Mikrostilistischen transzendieren (man denke an Begriffe wie Hauptschrift, Druckbild oder Layout), und begründet, warum die Typographie bei der Beschreibung von Textstilen nicht übersehen werden darf. So wichtig es ist, sämtliche in Betracht kommenden Mikroeinheiten zu erfassen, letztlich müssen diese zu größeren Einheiten und schließlich zu einem Ganzen verknüpft werden. Dies leitet sich von Erkenntnissen über den Stil her, die zur Bildung von Begriffen wie Ganzheitlichkeit, Einheitlichkeit und Mehrstufigkeit geführt haben. An jeden dieser Begriffe lassen sich, wie zu zeigen ist, spezielle Makroeinheiten anschließen.
1.2. Ganzheitlichkeit: Stilgestalten Die Erkenntnis, dass der Stil ein ganzheitliches (holistisches) Phänomen ist, die unter dem Einfluss von Hermeneutik, Kunstgeschichte und Gestaltpsychologie gereift ist, hat in methodologischer Hinsicht Konsequenzen. Sie zieht nach sich, dass die Prozesse der Stilherstellung, -wahrnehmung und -interpretation nur dann als adäquat beschrieben gelten, wenn stilistische Einzelheiten in einen Gestaltungszusammenhang (von unterschiedlicher Extension) gebracht werden, d. h. wenn an die Stelle der Aufzählung elementarer Einheiten die Beschreibung von Stilgestalten tritt. Der Gestaltbegriff, der damit aufgerufen ist, hat in der Stilistik eine beachtliche Forschungsgeschichte (vgl. Abraham 1996, 127 ff.). Warum er für die Stilistik so wichtig ist, lässt sich kommunikationstheoretisch begründen, indem man Hinweisen auf zwei grundlegend verschiedene, aber aufeinander beziehbare Funktionsweisen von Kommunikation nachgeht: Kommunikation vollzieht sich zum einen über das Verstehen, zum anderen über das verstehende Anschauen von Zeichen (vgl. Trabant 1996, 135 ff.). Mit Letzterem ist bei weitem mehr gemeint als das Festhalten optischer Eindrücke, nämlich das Wahrnehmen von gestalteten Strukturen aller Art, von Ausdrucksweisen, Macharten usw., in diesem Zusammenhang das Erkennen von Stilprinzipien (vgl. 1.3), das Entdecken von gestalterischen Ideen und nicht zuletzt das Erleben von künstlerisch Gestaltetem. „Texte kann man lesen. Ihren ,Stil‘ kann man nicht lesen; man muß ihn wahrnehmen.“ Was Abraham (1996, 284) hier festhält, trifft in dieser Gegenüberstellung den Kern, erfasst jedoch nicht die Differenz zwischen Wahrnehmen im Allgemeinen und verstehendem Anschauen im Besonderen, die darin besteht, dass Letzteres ein Wahrnehmen von ästhetischen Zeichen ist.
1.3. Einheitlichkeit: Stilprinzipien Gestaltungszusammenhänge aus phonologischen, lexikalischen, typographischen usw. Gestaltungsmitteln werden als solche erkennbar gemacht, wenn sich Zeichenproduzenten vom Stilprinzip der Einheitlichkeit leiten lassen und so einem althergebrachten „Erfor-
92. Mikro- und makrostilistische Einheiten im Überblick
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dernis der Textgestaltung“ (Sowinski 1973, 40) entsprechen. Bei Adelung (1788, 482 ff.) ist Einheit, die Einheitlichkeit der Teile eines Ganzen, als eine von zwölf allgemeinen Eigenschaften eines guten Stils aufgeführt und bekommt so quasi den Status einer Gestaltqualität, die eines Zeichenrezipienten bedarf, um gewürdigt zu werden. In modernen Stilkonzepten, so in der pragmatischen Stilistik, wird Einheitlichkeit zu einem Strukturprinzip erklärt, das über einen formalen Aspekt (die Bevorzugung bestimmter Gestaltungsmittel) und einen funktionalen Aspekt (das Anzeigen der Permanenz eines bestimmten Stils und damit des Weiterbestehens einer bestimmten sprachlichen Handlung) verfügt (vgl. Sandig 1986, 114 ff.). Fasst man Gestalten hingegen selbst als eine sprachliche Handlung auf, kann gerade im Herstellen von Einheitlichkeit der spezifische Zweck dieser Handlung gesehen werden: „Gestalten ist auf Einheitlichkeit gerichtetes subsidiäres sprachliches Handeln.“ (Fix 1996, 318) Ganz offensichtlich ist unter Einheitlichkeit aber nicht nur die Gleichheit von Elementen zu verstehen, sondern auch das Zusammenpassen verschiedenartiger Elemente. Beide Erscheinungsformen von Einheitlichkeit treten in Stilkennzeichnungen zutage. Die Gleichheit von Elementen findet in Kennzeichnungsbegriffen wie adjektivischer Stil oder Periodenstil ihren Niederschlag; dem Zusammenpassen von Elementen tragen alle die Kennzeichnungsbegriffe Rechnung, die den Gestaltungszusammenhang von Stilmitteln aus verschiedenen Stilmittelbereichen erfassen, z. B. wissenschaftlicher Stil oder Erzählstil. Der herausragende Stellenwert, den das Einheitlichkeitsprinzip in der Theorie genießt, erklärt sich daraus, dass es ⫺ wie kein anderes ⫺ Stilbildung als einen wesentlichen Aspekt der Textbildung zu erklären vermag. Einheitlichkeit begleitet sowohl die Realisierung anderer Stilprinzipien (z. B. Angemessenheit, Eindeutigkeit, Eingängigkeit) als auch die Herstellung spezieller Stilstrukturen (z. B. Rhythmus, Layout, Symbolstrukturen). Selbst der Stilbruch, also die Brüchigkeit des Stils, kann das Textganze als gewollte Gestaltqualität auszeichnen und somit als etwas einheitlich uneinheitlich Gemachtes in Erscheinung treten. Bei der Realisierung von Ironiekonzepten etwa können textliche Widersprüche, z. B. ein extremer Wechsel des Stils, als Ironiesignale fungieren (vgl. Plett 2001, 122). Einheitlichkeit und Brüchigkeit des Stils bilden also im Kontext des Gestaltens kein echtes begriffliches Gegensatzpaar.
1.4. Mehrstuigkeit: Stilmuster Die Erkenntnis, dass verschiedenartige Elemente zusammengehören bzw. zusammenpassen, hat zur Bildung des Begriffs der strukturellen Mehrstufigkeit (vgl. Sandig 1986, 128 ff.) geführt. Der Begriff umschließt system- wie pragmalinguistische, sprachliche wie nichtsprachliche Beschreibungsebenen und bezieht sich sowohl auf Stilmuster, definiert als „Zusammenhang von Ausdrucksmöglichkeiten und Funktion“ (ebd., 150), als auch auf die Realisierung eines Musters in konkreten Texten. In Anlehnung an strukturalistisches Denken in der Sprachwissenschaft lässt sich die strukturelle Mehrstufigkeit von Stilmustern zum einen in ihrer Syntagmatik erfassen, als Kombinierbarkeit von Stilmitteln unterschiedlicher Beschreibungsebenen zu einem Ganzen, zum anderen in ihrer Paradigmatik, als Ersetzbarkeit (Austauschbarkeit) eines Stilmittels durch ein qualitativ anderes (dann aber evtl. mit jeweils anderer stilistischer Funktion). Am Beispiel der kommunikativen Handlung GRÜSSEN stellt sich die mehrstufige paradigmatische Struktur von Stilmustern wie folgt dar: Man kann eine Person grüßen, indem man ihr zuwinkt oder vor ihr den Hut zieht oder eine Grußformel (grüß Gott!, hallo!, guten Morgen!)
1532
IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
verwendet (ebd., 128). Die Stilmittel des Grüßens stehen auch in einer syntagmatischen Relation, insofern als mehrere Mittel miteinander kombinierbar sind, z. B. jdm. zuwinken und eine Grußformel verwenden. Am Beispiel der Stilschichten, die untereinander eine paradigmatische Ordnung aufweisen, lässt sich die mehrstufige Syntagmatik von Stilmustern verdeutlichen. So sind der vorangestellte Genitiv (morphosyntaktisches Teilsystem) im Verbund mit lexikalischen Einheiten wie Antlitz, schreiten oder erhalten Kennzeichen eines gehobenen Stils, während zur Stilschicht ,umgangssprachlich‘ morphosyntaktische Konstruktionen mit von statt Genitiv sowie lexikalische Einheiten wie laufen oder kriegen gehören (ebd., 151). Die strukturelle Mehrstufigkeit der Realisierung eines Musters in konkreten Texten beruht auf stilistischen Entscheidungen des Textproduzenten; er muss sich nicht nur für ein bestimmtes Stilmuster entscheiden, sondern auch dafür, welche der im Muster angelegten Auswahl- und Kombinationsmöglichkeiten genutzt werden sollen. Der Musterbegriff hat in der Stilistik Tradition. Er spielt bereits bei den als Tropen und Figuren zusammengefassten rhetorischen Stilkategorien der elocutio eine Rolle. Auch hier sind Paradigmatik und Syntagmatik sowie gegebenenfalls Mehrstufigkeit festzustellen. Die Paradigmatik tritt in der Systematik zutage (Ersetzungs-, Wiederholungs-, Aufzählungsfiguren usw.), die Syntagmatik in den Strukturbesonderheiten der jeweiligen Konstruktion, die Mehrstufigkeit in der Erscheinung, dass verschiedene Beschreibungsebenen zu berücksichtigen sind. Figuren des Entgegensetzens z. B. gibt es zumindest im lexikalisch-semantischen (Antithese, Oxymoron) und syntaktischen Bereich (Chiasmus, Antimetabole). Diese einfachen rhetorischen Muster können in die Mehrstufigkeit komplexer stiltypologischer Muster (z. B. gattungstypische Stile, künstlerische Stilrichtungen, Zeitstile) eingehen.
2. Trennlinien zwischen Mikro- und Makrostilistik Das einfache Denkmuster vom Ganzen und seinen Teilen, von dem eingangs (1.1) die Rede war, erweist sich für die Erfassung und Abgrenzung stilistischer Mikro- und Makroeinheiten als so einfach nicht. Wie soll man diejenigen Teile eines Ganzen behandeln, die ihrerseits Komplexität aufweisen? Wie soll man stilanalytisch mit solchen Einheiten umgehen, die sich satzübergreifend entfalten, aber nur für einen Teil des Textes stilprägend sind? Und wie ordnen sich textwertige Einzelsätze zu, z. B. Sprichwörter? Es ist sicher richtig, wenn eine scharfe Abgrenzung der Begriffe in Abrede gestellt wird (vgl. Riesel/Schendels 1975, 13). Dessen ungeachtet bleibt die Frage berechtigt, anhand welcher Kriterien eine gewisse Grenzziehung dennoch möglich ist. Im Folgenden werden drei Abgrenzungsvorschläge vorgestellt.
2.1. Laut-, wort- und satzstilistische Einheiten vs. textstilistische Einheiten Der erste der hier vorzustellenden Abgrenzungsvorschläge steht mit der Entdeckung des Textes als Gegenstand linguistischer Forschung im Zusammenhang. „Während die Mikrostilistik die stilistischen Erscheinungen im Bereich der sprachlichen Grundeinheiten Laut, Wort und Satz untersucht“, heißt es bei Scharnhorst (1970, 36), „untersucht die
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Makrostilistik die stilistischen Erscheinungen im Bereich der sprachlichen Großeinheiten, die über einen Satz und eine Satzfolge hinausgehen, das heißt im Bereich von Texten.“ Die Mikrostilistik wird auf die Einheiten und Bereiche der Systemlinguistik projiziert, die Makrostilistik in einen Zusammenhang mit der Texttheorie gebracht (ebd.). Die Grenze genau zwischen Sprachsystem und Text verlaufen zu lassen ist allerdings mit dem Problem behaftet, dass es auch im Text stilistische Mikroeinheiten gibt: Ausdrucksvarianten des Systems, die zu Stilelementen im Text geworden sind. Was im Bezugsrahmen ,Text‘ tatsächlich als stilistische Makroeinheit anzusehen ist, wird von der sowjetischen Funktionalstilistik verdeutlicht, die den Ansatz aufgreift und theoretisch vertieft. Unter dem Einfluss von literarischer Stilistik und herkömmlicher Aufsatzlehre kommen nun textspezifische Makroeinheiten in das Blickfeld: die Textkomposition (Näheres in 4.3), die Darstellungsarten und Erzählperspektiven, die Arten der Rededarstellung (darunter das Sprachporträt) sowie die Funktionalstile als Kernstück der Theorie (vgl. Riesel/Schendels 1975, 264 ff.). Der Grundsatz, dass sich alle Funktionalstile durch eine jeweils charakteristische Kombination von Stilzügen (Näheres in 4.2) und diese wiederum durch eine jeweils charakteristische Kombination sprachstilistischer Mikroeinheiten auszeichnen (vgl. Riesel/Schendels 1975, 24), erwies sich allerdings auf den Funktionalstil der Belletristik bezogen als wenig plausibel; der Nachweis der allumfassenden Gültigkeit dieses Grundsatzes musste zwangsläufig fehlschlagen. Es hätte nahe gelegen, die Spezifik dieses Funktionalstils anhand von poetisch-ästhetischen Gestaltungsmitteln aufzuzeigen, wie sie für die literarischen Großgattungen Lyrik, Epik und Dramatik zur Verfügung stehen.
2.2. Sprachstilistische vs. sprachstilübergreiende Einheiten In linguostilistischen Konzepten, die auf das Sprachsystem als Stilmittelreservoir fixiert sind, haben rhetorische und literarische Stilmittel streng genommen keinen Platz, da sie anderen Zeichenordnungen (Codes) angehören. Ein zweiter Vorschlag zur Abgrenzung zwischen Mikro- und Makrostilistik setzt genau hier an. Als mikrostilistisch gelten die sprachlichen, d. h. sprachsystembezogenen Stilmittel, als makrostilistisch (missverständlich auch als außersprachlich bezeichnet) u. a. die rhetorischen Kombinationsfiguren der Wiederholung, Gegenüberstellung und Häufung sowie einige literarische Stilmittel wie Komposition und Erzählperspektive (vgl. Spiewok o. J., 51; 53). Anderenorts (Spiewok 1984, 88) wird das Stilmittelreservoir mehrfach dimensioniert und in folgende Schichten aufgegliedert: (1) Sprachstilistika, (2) Kombinationsfiguren, (3) Stilmittel des Anderssagens, (4) Stilmittel des poetischen Mikrokosmos (Figurenstruktur, Erzählperspektive u. a.), (5) Stilmittel des Textaufbaus. Eine detaillierte Beschreibung gerade der sprachstilübergreifenden Stilmittel findet sich bei Asmuth/Berg-Ehlers (1976, 67 ff.). Hinter dieser Ungleichbehandlung steht die Auffassung, dass der rein linguistische Zugriff zu einer Froschperspektive verleitet, die die Mikrostruktur von (literarischen) Texten wichtiger erscheinen lässt als deren Makrostruktur. Besonderes Interesse verdienen die aufgeführten „rezeptionserleichternden Darstellungsprinzipien“ (ebd., 103 ff.), d. h. Stilprinzipien, die der Überwindung gegenstandsbedingter Rezeptionsschwierigkeiten (Fremdheit, Abstraktheit, Kompliziertheit des Gegenstands) dienen. Das Prinzip der Aktualisierung, besonders wesentlich für den Textanfang, wirkt der Fremdheit des Gegenstands entgegen, indem aktuelle, dem Rezipienten bekannte, ihn interessierende Gegebenheiten angespro-
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
chen werden. Das Prinzip der Vermenschlichung besteht in der Verlebendigung von Naturerscheinungen, der Vermenschlichung von Tieren, der Personifikation von Abstrakta. Dynamisierung ist ein Gegenprinzip bei Zustandsbeschreibungen. An die Stelle von Zustandsverben, von denen es nur wenige gibt (z. B. sein, haben, liegen, hängen, sich befinden), treten Verben, die geeignet sind, Bewegungsvorstellungen hervorzurufen. Die „Werkstatt für stilkundliche Wortschatzarbeit“ (Riesel 1964, 40 ff.) liefert hierzu wesentlich mehr und überdies bessere Beispiele (auch literarische Textbeispiele). Einbezogen sind nicht nur einfache Verben mit starkem Bewegungsgehalt (blitzen, flimmern, pendeln), sondern auch lautmalende Interjektionen (ritsch-ratsch), Wortverbindungen mit Richtungsadverbien (emporschießen, bergauf und bergab steigen) u. a. m. Das Gestalten eines Textes nach dem Prinzip der Versinnlichung (vgl. weiter Asmuth/Berg-Ehlers 1976) heißt, die Rezeption einer abstrakten Gegenstandsdarstellung mittels konkretisierender Beispiele oder illustrierender Vergleiche und Metaphern zu erleichtern. Mit Vergegenwärtigung schließlich ist gemeint, dass abwesende Gegenstände oder vergangene Sachverhalte so dargestellt (geschildert) werden, dass der Rezipient eine plastische Vorstellung von ihnen bekommt.
2.3. Satzimmanente vs. satzübergreiende Einheiten Bei der Gegenüberstellung von Einheiten mit Hilfe der gegensätzlichen Wortbildungselemente mikro- und makro- liegt es regelrecht auf der Hand, das alles entscheidende Abgrenzungskriterium in der Quantität, d. h. in der Größe einer Einheit oder im Umfang ihres sprachlichen Kontextes zu suchen. Sowinski (1984, 24) schlägt vor, alle satzimmanten Einheiten als mikrostilistisch, alle satzübergreifenden Einheiten als makrostilistisch zu klassifizieren. Diese auf den ersten Blick plausible Handreichung bleibt in einer wichtigen Frage hinter den beiden anderen Vorschlägen zurück ⫺ in der Frage nämlich nach dem Verhältnis von Makroeinheit(en) und Text. Denn der Bezugsrahmen ,Text‘ ist für die Makrostilistik insofern unverzichtbar, als er kommunikative Gesichtspunkte auf den Plan ruft, die bei der Herstellung und Interpretation von Gestaltungszusammenhängen zu berücksichtigen sind. Die Makroeinheit Funktionalstil (vgl. 2.1) beispielsweise ist mit der Bestimmung als satzübergreifend gerade nicht in ihrem kommunikativen Wesen, ihrem Bezogensein auf gesellschaftliche Kommunikationsbereiche erfassbar. Gleiches trifft auf die rezeptionserleichternden Darstellungsprinzipien (vgl. 2.2) zu, deren kommunikatives Wesen sich innerhalb des Bezugsrahmens ,Textart‘ erschließt. In wiedergebenden Texten ⫺ so Asmuth/Berg-Ehlers (1976, 75 ff.) ⫺ muss ein nicht wahrnehmbarer Kommunikationsgegenstand dem Rezipienten sprachlich-kommunikativ nahe gebracht werden. Gedankliche Texte (ebd., 91 ff.) hingegen werden von der Darstellung geistiger Zusammenhänge bestimmt, was u. a. ein gewisses Maß an Abstraktion unumgänglich und Versinnlichung als Gegenprinzip wünschenswert macht. Makroeinheiten sind ihrem Wesen nach auf kommunikative Aspekte pragmatischer oder ästhetischer Art, auf Erfordernisse bzw. Spielräume der Gestaltung bezogen: die Befolgung von Stilnormen für die einzelnen Kommunikationsbereiche, die Überwindung gegenstandsbedingter Rezeptionsschwierigkeiten, die Abwandlung konventionell geltender Stilmuster usw. Aus Übersichtsskizzen zu den Kategorien der Makrostilistik (vgl. Sowinski 1983; 1999) geht hervor, wie heterogen die in Frage kommenden Aspekte der Textkommunikation sind. Die unter dem Begriff Kommunikationsweisen zusammengefassten Sprech- und Schreibstile
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sind bezogen auf die Art des Kommunikationskanals (mündlich vs. schriftlich) in Verbindung mit Situationsaspekten (spontan vs. vorbereitet; privat vs. öffentlich); die Arten der Rede- und Gedankendarstellung (erlebte Rede, innerer Monolog, Redebericht u. a.) stehen in Beziehung zu Personen- bzw. Figurenkonstellationen; für die literarischen Gattungen Parodie und Travestie sind die jeweiligen Textvorlagen (Urtexte) konstitutiv. Durch die Beachtung der kommunikativen Dimension, die übrigens auch bei mikrostilistischen Einheiten in Gestalt typischer Verwendungskontexte mit reflektiert werden kann, wird das Kriterium der Quantität nicht außer Kraft gesetzt. Aber es wird der Blick dafür geschärft, dass damit allein noch kein geeigneter Beschreibungsrahmen für makrostilistische Einheiten entsteht. Stilfiguren, die mitunter ebenfalls als makrostilistisch eingestuft (vgl. 2.2), von Sowinski (1984, 23) aber generell als Mikrostilistika gesehen werden, obwohl sich eine Vielzahl von ihnen satzübergreifend entfaltet, erlangen somit erst dann makrostilistische Wertigkeit, wenn sie als rhetorische Mittel zum Gestaltungsinstrumentarium von Textsorten, Redegattungen, stiltypologischen Mustern (vgl. 1.4) gehören, wenn sie Positionen in textuellen Makrostrukturen besetzen oder wenn im Figurenreichtum eines Textes eine Gestaltqualität erkennbar ist. Man wird bei den Makroeinheiten unterscheiden müssen, ob es sich um genuin stilistische (Stilprinzipien, Stilmuster, Textkomposition) oder stilintegrierende Texteinheiten (Textsorten, Textarten, Redegattungen) handelt, um Einheiten der Sachprosa (z. B. Darstellungsarten) oder der Belletristik (z. B. Erzählperspektiven), um Einheiten stilistischer Codes (Stilmuster) oder um Einheiten von Textexemplaren (Musterrealisierungen).
3. Typen und Verahren der stilistischen Fokussierung 3.1. Fokussierung und Gestaltung Wenn man die Prozesse der Stilherstellung, -wahrnehmung und -interpretation mit jener Funktionsweise von Kommunikation zusammenbringt, die sich über das verstehende Anschauen von Zeichen vollzieht (vgl. 1.2), muss erklärt werden, wie dies bewirkt und bewerkstelligt wird. In der Stilistik gibt es mehrere Ansätze, stilistisch Relevantes am Kriterium der Auffälligkeit festzumachen. Man spricht von der Ausdrucksverstärkung (Expressivität) einzelner Elemente oder des Stilganzen (vgl. Fleischer/Michel/Starke 1996, 59 ff.), von auffallenden Identitäten (Kongruenzen) und auffallenden Oppositionen (Kontrasten) im Text, die ein Textproduzent erzeugt und ein Textrezipient rekonstituiert (vgl. Spillner 1974, 67 ff.), von Stufen der Auffälligkeit und einem stilistischen Informationsprofil, bei dem bestimmte Elemente im Horizontbereich (unauffällig) bleiben oder in den Fokusbereich treten, d. h. auffällig werden (vgl. Michel 2001b, 53 ff.). Die einem textgrammatischen Modell entlehnte Unterscheidung von Horizont und Fokus lässt sich im Grunde auf das Verhältnis von foregrounding und backgrounding zurückführen ⫺ auf zwei komplementäre stilbildende Prinzipien, anhand deren Vertreter der Prager Schule des Strukturalismus die Spezifik der Dichtersprache (poetic language) im Vergleich mit der Gebrauchssprache (ordinary language) herausarbeiteten (vgl. Wales 1990, 46; 181 ff.). Die beiden Prinzipien zu befolgen heißt, bestimmte Einheiten des Textes mit Hilfe diverser Gestaltungsverfahren in den Vordergrund (der Aufmerksamkeit) treten zu lassen, sie vom „Rest“ des Textes abzusetzen und damit stilistische Kern- und Randberei-
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
che abzustecken. Der Begriff der stilistischen Fokussierung schließt hier unmittelbar an, denn er wird definiert als „ein durch spezifische Verwendungsweisen bewirktes, kommunikativ motiviertes, die Rezeption konditionierendes Hervorheben sprachlicher Elemente im Vergleich zu paradigmatisch oder syntagmatisch anderen Ausdrucksmitteln innerhalb des Relationsgefüges eines Textes“ (Michel 2001b, 54 f.). Der Begriff ermöglicht die Abstufung der Relevanz von Elementen für das Ganze, und er hat den Vorzug, von vornherein und prinzipiell alle Stilbereiche (den künstlerischen wie die nichtkünstlerischen) gleichberechtigt zu erfassen. Man kann sich deshalb seiner bedienen, um den stilistischen Grundbegriff Gestaltung zu konkretisieren. Folgt man Püschel (1995, 307), der Gestaltung (Gestalten) als „das allgemeinste oder zentrale Stilmuster“ betrachtet, dann ist dieses Muster nun genauer beschreibbar als Verknüpfung dreier Teilkomponenten: Verknüpft sind (1) die Komponente ,Fokussierung‘, zu verstehen als Strukturprinzip mit der Funktion der Hervorhebung von Einheiten eines Textes, (2) die Komponente ,Verfahren/ Techniken der Fokussierung‘ und (3) die Komponente ,Mittel der Fokussierung‘. Gestaltung hat dann drei Teilaspekte: einen funktionalen (Hervorhebung), einen operationalen (Verfahren/Techniken) und einen instrumentalen (Mittel). ,Fokussierung‘ kann aber auch insgesamt als der instrumentale Aspekt von ,Gestaltung‘ gedacht werden: Gestaltung mittels Fokussierung. Ebenso ist zwischen ,Fokussierung‘ und ,Fokussierungsverfahren‘ eine Zweck-Mittel-Relation herstellbar: Fokussierung mittels Fokussierungsverfahren. Einen operationalen Aspekt bei der begrifflichen Festlegung von ,Gestaltung‘ eigens auszuweisen erscheint dennoch sinnvoll; nur so ist es möglich, auf die gestaltgebenden Aktivitäten von Textproduzenten Bezug zu nehmen. Mitunter wird für wichtig gehalten, zwischen Stilmustern einerseits und Techniken des Gestaltens andererseits zu differenzieren (vgl. Sandig 1986, 150). Der Unterschied wird darin gesehen, dass Gestaltungstechniken Verfahren zur Herstellung von Stilstrukturen sind, während bei Stilmustern eine konventionelle Verknüpfung von Stilstrukturen mit Stilfunktionen (Funktionstypen) vorliegt. Doch auch den Gestaltungstechniken liegt zweifellos ein Muster zugrunde. ,Stilmuster‘ kann einen weiten oder engen Begriffsumfang haben. Einen weiten, wenn darunter komplexe Gestaltungs- bzw. Fokussierungsmuster verstanden werden; einen engen, wenn sich der Begriff nur auf Verfahrensmuster bezieht. Der folgende Überblick über grundlegende Typen und Verfahren der stilistischen Fokussierung wird zeigen, dass die Erscheinungsformen der Fokussierung sowohl mikroals auch makrostilistische Relevanz haben können.
3.2. Isomorphie: Spielarten des Wiederholens Das Fokussierungsprinzip Isomorphie wird an der Gleichheit oder Gleichartigkeit von Elementen sichtbar. Es darf nicht mit dem Einheitlichkeitsprinzip (vgl. 1.3) verwechselt werden, das sich auf Gestaltungszusammenhänge aller Art erstreckt, prägend ist auch für makrostilistische Kontrast- und Deviationsstrukturen (vgl. 3.3; 3.4) sowie andersartige, selbst unscheinbare Stilformen. Isomorphie wird im Wesentlichen durch das Fokussierungsverfahren Wiederholen realisiert. Die markantesten Formen sind die Wiederholungsfiguren: Anapher, Anadiplose, Epipher, Epizeuxis, Symploke u. a. Diese unterscheiden sich danach, wo (Position), wie oft (Frequenz), in welchem Grade (Identität, partielle Gleichheit, Ähnlichkeit), in welchem Umfang (Extension) und wozu (Funktion) wiederholt wird (vgl. Plett 2001, 41). Anapher und Epipher können sich makrostilistisch entfal-
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ten (Extension) und fungieren dann als (zusätzliches) Signal der Textgliederung (Funktion), da die gleichgeformten Wiederholungsglieder (Identität) am Anfang bzw. Ende mehrerer aufeinander folgender Abschnitte, Zwischenüberschriften u. dgl. platziert sind (Position). Auch die Wiederholungsfigur Kyklos hat beide Extensionen. Mikrostilistisch stehen die Wiederholungsglieder am Anfang und am Ende eines Satzes oder Verses, makrostilistisch am Anfang und am Ende eines Textes, wodurch jeweils ein Rahmen gebildet wird. Bei der Wiederholungsfigur Parallelismus lassen sich gleich vier Spielarten unterscheiden (vgl. Riesel/Schendels 1975, 147; 195 ff.; 245; 269): (1) der phonologische Parallelismus (z. B. Alliteration, Assonanz und weitere Reimformen), (2) der grammatische Parallelismus (die Wiederkehr der gleichen Wortform oder Satzstruktur), (3) der thematische Parallelismus (die Wiederkehr thematisch zusammenhängender Elemente an der gleichen syntaktischen Stelle), (4) der architektonische Parallelismus (die Wiederkehr der gleichen Satzstruktur im äußeren Textaufbau, z. B. bei der Einleitung von Abschnitten, Kapiteln, Strophen usw.). Weitere Spielarten des Wiederholens sind phraseologisch gebundene Verdoppelungen (z. B. Zwillingsformeln) und Formen des Doppeltsagens (Emphase, Pleonasmus, Tautologie), die Verwendung der Wortspieltechnik (Paronomasie, Polyptoton, figura etymologica), auch unter Ausnutzung von Homonymie und Polysemie, sowie der Ausbau wörtlicher Wiederholungen zu Leitmotiven (vgl. Riesel/Schendels 1975, 268) und Leitsymbolen (vgl. Kerkhoff 1962, 53). Ein genuin makrostilistisches Verfahren der Isomorphie wie auch aller anderen Fokussierungsarten ist mit Sandig (1978, 32) als Fortführen zu bezeichnen: der wiederkehrende Einsatz von Stilverfahren und Stilmitteln über die gesamte Zeichenkette eines Textes hinweg. Fortgeführtes Wiederholen verweist auf Stilfunktionen wie ,Intensivierung‘, ,Rhythmisierung‘ und ,Rezeptionserleichterung‘. Plett (2001, 53) spricht davon, dass das Erkennen von Gleichartigem Vergnügen bereiten, eine ästhetische Funktion haben kann, er zieht aber auch in Erwägung, dass Wiederholungen ermüden oder aber der „planvollen (Hervorh. M. H.) Einschläferung des Rezipienten“ dienen können, doch Letzteres lässt sich wohl kaum als eine kommunikative bzw. stilistische Funktion begreifen. Anhand der genannten Funktionsaspekte wird man aber darauf aufmerksam, dass die Mehrstufigkeit von Stilen und Stilmustern (vgl. 1.4) offensichtlich nicht nur in struktureller, sondern auch in funktionaler Hinsicht besteht. Isomorphie verbindet sich als Strukturprinzip zum einen mit speziellen textimmanenten Funktionen (z. B. mit der Textgliederungsfunktion), zum anderen mit weitergehenden kommunikationsbezogenen Funktionen (z. B. Erhöhung von Klarheit und Übersichtlichkeit).
3.3. Kontrast: Spielarten des Entgegensetzens Die Wahrnehmung und Beschreibung von Stilstrukturen kann sich vorrangig an textinternen Kontrasten orientieren. Dann wird die Umkehr der morphologischen oder syntaktischen Konstruktion (Chiasmus), die Gegenüberstellung von Äußerungen u. a. mittels antonymischer Wortzeichen (Antithese), die stufig gegliederte oder semantisch irreguläre Aufzählung von Einzelheiten (Klimax, Zeugma), die Selbstkorrektur des Sprechers (Correctio) oder eine andere Spielart des Entgegensetzens stilistisch bedeutsam. Auch der mehr oder weniger auffällige Wechsel der syntaktischen Konstruktion gehört hierher. So kann beispielsweise eine Folge von Hypotaxen mit einem kurzen, einfach gebauten Hauptsatz kontrastieren (vgl. Spillner 1974, 51). Die Kontrastelemente können zugleich
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Wiederholungsglieder repräsentieren, wie bei der Antimetabole, so dass zwei Arten der stilistischen Fokussierung aufeinander treffen. Eine makrostilistische Dimension des Entgegensetzens entsteht, wenn die Kontrastelemente Positionen in der Makrostruktur des Textes besetzen, zu registrieren bei den architektonischen Formen von Antithese und Klimax in der wissenschaftlichen Prosa, in Volksmärchen und Sagen (vgl. Riesel/Schendels 1975, 268 f.) sowie bei der Alternation von Frage und Antwort in längeren Erörterungen, Predigten und poetischen Texten, wo Fragen als Denkanstöße gestellt, neue Abschnitte mit Fragen eingeleitet oder auch Dialoge (Streitgespräche) fingiert werden (vgl. Schneider 1959, 420 ff.). Fortgeführtes Entgegensetzen bringt einen kontrastreichen Stil hervor. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein oder mehrere kontrastbildende Verfahren Anwendung finden. Nach Riffaterre (1973), der das Kontrastprinzip stiltheoretisch verabsolutiert, setzen Stilkontraste allerdings einen Makrokontext voraus, der aus einer Folge unmarkierter (vorhersagbarer, unauffälliger) Elemente besteht. Stil, zu verstehen als Kontrastsignal bzw. emphatischer Reiz auf den Rezipienten, hat Riffaterre zufolge die Funktion, die Trägheit des Rezipienten zu überwinden, seiner potentiellen Unaufmerksamkeit zu begegnen (ebd., 33). Damit ist ein wesentlicher, aber eben nur ein einziger Funktionsaspekt von Stil erfasst. Kontrastbildungen fungieren außerdem als Träger ästhetischer Sinngehalte. Antithetische Konstruktionen z. B. können Indikatoren einer satirischen Schreibweise sein (vgl. Agricola 1970, 1108), die kontrastierende Verwendung von Stilschichten gilt u. a. als ein Indikator der romantischen Ironie (ebd., 1057) und der unvermittelte Wechsel von einer Varietät in eine andere als ein Mittel der Personenund Milieucharakterisierung (vgl. Michel 2001b, 63 f.). Die kontrastbildenden Elemente können allen Stilmittelbereichen entstammen. Im Bereich der Typographie zeichnet sich kontrastreicher Stil durch die Kombination von mehreren Schriftgrößen, -arten und -farben aus, durch Kontraste zwischen ein-, zwei- und dreidimensionalen Schriften oder anderes (vgl. 4.3).
3.4. Deviation: Spielarten des Abweichens Der Fokussierungstyp Deviation beschäftigt die Stilistik in besonderem Maße. Zum einen, weil die Frage, wovon abgewichen wird, viel Diskussionsstoff in sich birgt, zum anderen, weil das Reservoir an Formen und das Potential an Funktionen des Abweichens unerschöpflich bzw. unbegrenzbar zu sein scheinen (vgl. Püschel 1985; Dittgen 1989; Poethe 2001). Als ein Hauptmerkmal dieses Typs gilt die Fokussierung sprachlicher Einheiten “vor dem textexternen Wissenshintergrund relativ allgemein geltender Regeln, Normen und Konventionen der Satz- und Textgestaltung“ (Michel 2001b, 60; Hervorh. M. H.). Isomorphie und Kontrast werden im Unterschied dazu als textinterne (kontextbedingte) Fokussierungen betrachtet. Die Unterscheidung lässt sich allerdings so nicht aufrechterhalten, denn es gibt abweichende, d. h. irreguläre Formen des Wiederholens (Emphase, Pleonasmus, Tautologie) und des Entgegensetzens (Oxymoron, Synästhesie, Zeugma), und es besteht die Möglichkeit, die Norm in den Text selbst zu verlagern, so dass Norm und Abweichung zwei Pole einer textinternen Kontrastbildung verkörpern (vgl. „Kontext als Norm“ bei Riffaterre 1973, 51 ff.). Richtig ist, dass grammatisch-semantische und kommunikative Normen als wesentliche textexterne Bezugsgrößen für das Hervorbringen und Erkennen von Abweichungen fungieren (vgl. Michel 2001b, 55). Zu ergänzen wäre, dass ein Großteil der Abweichungen eine andersartige Bezugsgröße
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hat: den stilistischen Standard. Er wird in den einzelnen Formenparadigmen repräsentiert von den Normal- bzw. Standardformen der Gestaltung (in gewissem Sinne vergleichbar mit den Standardausführungen von Gebrauchsgütern). Normen sind demgegenüber als Anweisungen zur Befolgung von Regeln für sprachliche Richtigkeit (z. B. Wortstellungsregeln) und kommunikative Angemessenheit (z. B. Wortverwendungsregeln) aufzufassen, Abweichungen von der Norm demzufolge als die entsprechenden Regelverstöße. Im Bezugsrahmen ,Norm‘ stehen sich also regelkonforme (reguläre) und regelwidrige (irreguläre) Formen gegenüber, im Bezugsrahmen ,Standard‘ Normal- und Spezialformen. Zwischen grammatisch-semantischen und kommunikativen Normen gibt es einen Zusammenhang u. a. dergestalt, dass Stilnormen (als Teilmenge kommunikativer Normen) Toleranz gegenüber irregulären grammatisch-semantischen Formen vorsehen können, und der Zusammenhang zwischen Norm und Standard besteht u. a. darin, dass Stilnormen die Präferenz von Normal- anstelle von Spezialformen (und umgekehrt) vorschreiben können. Auf der Grundlage der vorgenommenen Differenzierungen gelangt man zu vier Subtypen der stilistischen Deviation: (1) Deviation1: Abweichen von grammatisch-semantischen Normalformen Figurative Spezialformen dieses Subtyps sind Asyndeton und Polysyndeton (Normalform: Monosyndeton), Ellipse, Litotes, Prolepse und Epiphrase. Weitere Spezialformen begegnen syntaktisch als Ausdrucksstellung und Ausrahmung von Satzgliedern, phraseologisch als Abwandlungen von Phraseolexemen und festgeprägten Sätzen, wortbildungsmorphologisch als regelkonforme Neuprägung von Wörtern. Bei Letzterem werden u. a. Rededarstellungskomposita (vgl. Hoffmann 2002, 220 f.) auffällig, d. h. Konstruktionen, bei denen ⫺ wie u. a. in Werbetexten zu beobachten ⫺ Kompositionsglieder in der Form der direkten Rede erscheinen (z. B. „Mami, was soll ich bloß anziehen?“-Anrufe). (2) Deviation2: Abweichen von grammatisch-semantischen Normen Zu diesem Subtyp gehören neben den bereits erwähnten (Oxymoron, Pleonasmus, Synästhesie, Tautologie und Zeugma) weitere figurative Formen: Anakoluth, Aposiopese, Hypallage, Hendiadyoin, Hysteron proteron u. a. Die Anwendung der „stilistischen Methoden“ (Faulseit/Kühn 1972, 227 ff.) des Verbildlichens, Metonymisierens und Hyperbolisierens bringt ebenfalls irreguläre Formen hervor. Beispiele für die makrostilistische Ausprägung von Deviation2 sind Texte mit einer Häufung von syntaktischen Anomalien, irregulären Wortschöpfungen, paradoxen Vergleichen oder Texte mit durchgängig praktizierter Klein- bzw. Großschreibung der Wörter. (3) Deviation3: Abweichen von kommunikativen Normalformen Geläufige figurative Formen dieses Deviationstyps sind Ironie und Interrogatio (rhetorische Frage). Darüber hinaus werden zahlreiche kommunikative Spezialformen auf der Basis von Intertextualität gebildet. Bei den literarischen Gattungen Parodie, Travestie und Kontrafaktur sind die jeweiligen Textvorlagen (Urtexte) als kommunikative Normalformen anzusehen. Der spielerische Umgang mit Textmustern bringt Textmustermontagen, Textmustermischungen und Textmusterbrechungen (vgl. Fix 1997) hervor, die in bestimmten kommunikativ-funktionalen Kontexten (Belletristik, satirischer Journalismus, Werbung) nicht als Regelverstöße gelten können. Wird die Gestaltungsidee der Textmustermischung innovativ umgesetzt, entstehen originelle Grenzgängertexte (vgl. Fix 2006). Gemeint sind z. B. Exemplare von Sachtexten, deren Produzent ad hoc die Grenze zum literarischen Text überschreitet, oder literarische Textexemplare, in denen ad hoc die Grenze zum Sachtext überschritten wird. Auf diese Weise entsteht eine „Span-
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nung zwischen der Abweichung im realen Text und dem eigentlich Typischen dieses Textes, vor dessen Hintergrund sich die Abweichung vollzieht“ (ebd., 181). Kommunikative Spezialformen gehen nicht zuletzt aus der Wahl des stilistischen Sub- bzw. Superstandards anstelle der Stilschicht ,normalsprachlich‘ hervor. Stilistische gesenkte (z. B. salopp-umgangssprachliche) und gehobene Sprachformen können jedoch zu Abweichungen des Typs Deviation4 werden, wenn stilnormativ die Verwendung der Normalsprache vorgeschrieben ist. (4) Deviation4: Abweichen von kommunikativen Normen Die Entscheidung darüber, ob eine Stilform als kommunikativ irregulär, d. h. unangemessen zu gelten hat, ist nur mit Bezug auf den kommunikativen Kontext möglich (zu einzelnen Dimensionen von ,Angemessenheit‘ vgl. Plett 2001, 28 f.). So sind stilistische Anachronismen einerseits irreguläre (hier: zeitwidrige) kommunikative Zeichen, andererseits gehört es gerade zu den Spielräumen der satirischen Textgestaltung, auch von solchen Stilmitteln Gebrauch zu machen. Typische Fälle von Deviation4 sind zweifellos die Wahl eines unangemessenen Stilregisters (,unhöflich‘ statt ,höflich‘, ,informell‘ statt ,formell‘ usw.) oder die regelwidrige Verwendung von Varietäten wie Dialekt statt Hochsprache, Jargon statt Gemeinsprache bzw. Hochsprache statt Dialekt usw. Während die textuellen Formen des Abweichens unter Deviation3 vorwiegend der Originalisierung dienen, verbinden sich die Abweichungen dieses Subtyps eher mit stilpragmatischen Funktionen (z. B. mit der Funktion der Beziehungsgestaltung).
4. Paarige Einheiten Im Mittelpunkt dieses Abschnitts stehen klassische Begriffspaare, in denen sich das Denkmuster vom Ganzen und seinen Teilen (vgl. 1.1) konkretisiert. Mit Verweis auf ausgewählte Analysebeispiele wird dargestellt, wie (mikro- und) makrostilistische Einheiten aufeinander beziehbar sind. Dabei sollen auch Unterschiede bei der Begriffsbestimmung reflektiert und Zusammenhänge mit verwandten Begriffen hergestellt werden.
4.1. Figuration und Koniguration Das der literarischen Stilistik entstammende und der Kennzeichnung werkgebundener Eigenheiten dienende Begriffspaar ist in besonderem Maße geeignet, Resultate des verstehenden Anschauens von Zeichen, des Wahrnehmens von Stilgestalten als ästhetischen Zeichen (vgl. 1.2) festzuhalten. Figurationen werden von Kerkhoff (1962, 48) als Gestalteinheiten der poetisch-ästhetischen Formung von Texten bestimmt, als einfache Strukturen niederer Ordnung, die zu Gliedern in Strukturen höherer Ordnung, Konfiguration genannt, werden können. Am Beispiel von Goethes Ballade „Der Sänger“ wird auf folgende Figurationen aufmerksam gemacht (ebd., 68 ff.): (1) die Doppelung als eine Form der Wiederholung (z. B. Stern bei Stern), (2) die Spaltung als Auflösung eines Ganzen in zwei verschiedene oder gegensätzliche Glieder (z. B. ,Hofgesellschaft‘ in edle Herrn und schöne Damen), (3) die Spiegelung einer Erscheinung in ihrem Gegenstück (z. B. chiastisch in Doch darf ich bitten, bitt’ ich eins), (4) die Figuration des Pulsschlags als Zusam-
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menspiel von Bewegung und Gegenbewegung (z. B. schallen ⫺ widerhallen). Das allen Figurationen Gemeinsame bildet die Basis für das Erkennen der Grundkonfiguration des Gedichts; allen Gestalteinheiten liegt eine Zweiheit zugrunde. Die genannten Figurationen lassen sich mühelos zu bestimmten Prinzipien der stilistischen Fokussierung in Beziehung setzen. In der Doppelung ist unschwer das Isomorphieprinzip (vgl. 3.2) erkennbar, in den anderen Figurationen das Kontrastprinzip (vgl. 3.3). In neueren Stilkonzepten (vgl. u. a. Michel 2001b) verliert der Begriff Figuration seine werkgebundene Prägung; ,Figuration‘ wird zum Oberbegriff für Stilfiguren, Stilzüge (vgl. 4.2), Figurengedichte, für Stilstrukturen mit und ohne besondere Fokussierung (vgl. Michel 2001b, 68; 86; 128) und verweist allgemein auf den ästhetischen Charakter von Stilgestalten.
4.2. Stilelement und Stilzug Mit ,Stilzug‘ kommen verschiedenartige Merkmale der Verbindung von Stilelementen eines Textes in den Blick. Während Stilgestalten (vgl. 1.2) bzw. Figurationen (vgl. 4.1) auch aus einer mikrostilistischen Struktur zwischen elementaren Einheiten bestehen können, sind Stilzüge per se Makroeinheiten. Die Verschiedenartigkeit der Merkmale, die einen Text durchziehen können, erklärt sich aus der Zugehörigkeit der Elemente zu verschiedenen Stilmittelbereichen (vgl. 1.1) oder ihrer Bindung an verschiedene Stilmuster (vgl. 1.4). Der Begriff (nicht die Bezeichnung) Stilzug ist eng mit der Geschichte der Stilistik verknüpft (vgl. Hoffmann 1987a); er wird nicht nur auf stilistische Textmerkmale bezogen, sondern auch im Sinne von textgestalterischen Vorgaben (Normen, Prinzipien) und Wirkungen (Eindrücken) verwendet. Begriffsgeschichtlich ragen die von Schneider (1931) aufgestellten sprachästhetischen Ordnungsbegriffe (Ausdruckswerte) heraus. Sein Konzept hat vom Ansatz her noch heute Bestand und Orientierungswert, da die Kategorien der Deutung von Stilformen in poetischen Texten ein kommunikativ angelegtes System bilden. Aus heutiger Sicht stellen sich die Ausdruckswerte als Bedeutungen ästhetischer Textzeichen dar. Dem Gedicht „Sprache“ von Johannes Bobrowski z. B. lassen sich anhand der Rekurrenz bzw. des Zusammenwirkens von Stilelementen u. a. folgende ästhetische Bedeutungen interpretativ zuschreiben (vgl. Hoffmann 2001, 270 ff.): (1) Spannungsreichtum, erzeugt durch semantisch inkompatible (z. B. Baum ⫺ größer als die Nacht) und widersprüchliche Verszeilen (z. B. mit dem Atem der Talseen ⫺ abgehetzt); (2) Musikalität, wahrnehmbar an der Alternation kreszenter und dekreszenter Verszeilenlängen; (3) Rauheit, festzumachen am freien Rhythmus, an der Dominanz einsilbiger Wörter sowie an der Auslassung sämtlicher Verben und konjunktionaler Verknüpfungsmittel; (4) Sinnlichkeit, gebunden an den hochfrequenten Gebrauch von Konkreta unter den Substantiven (z. B. Baum, Talseen, Steine, Fuß, Adern), die einheitliche Verwendung des definiten Artikels und eine Vielzahl sprachlicher Bilder; (5) Dunkelheit, bewirkt durch dunkle Symbolik, nicht eingrenzbare syntaktische Einheiten (fehlende Interpunktionszeichen) sowie polyvalente Beziehungen zwischen den Verszeilen und Strophen. Ein allgemeingültiges und allumfassendes Stilzugsystem gibt es nicht (vgl. Geier/Yos 2001), da Besonderheiten zwischen künstlerischen und nichtkünstlerischen Texten beachtet sein wollen und letztlich jede Art von Stilistik ihre eigenen Kategorien hervorbringen kann. So sind Schneiders Ausdruckswerte nicht ohne weiteres auf Gebrauchstexte übertragbar, und mit den funktional bedingten Stilzügen der Funktionalstilistik (vgl. Riesel/ Schendels 1975, 24), im Stil der Wissenschaft etwa Abstraktheit, Systematik, Sachbetont-
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heit, Genauigkeit, auch Anschaulichkeit, sind Kennzeichnungsbegriffe gewonnen, die für andere Richtungen (Sozio-, Register-, Gesprächs-, literarische Stilistik) nicht gleichermaßen relevant sind. Kommunikativ-pragmatisch orientierte Stilistiken stehen vor dem Problem, Stilzüge sowohl in ihrer textuellen Merkmalhaftigkeit als auch in ihrem Situationsbezug zu erfassen. In diesem Kontext steht die Differenzierung zwischen Stilzügen und Stilzugprämissen bei Hoffmann (1987b), die der funktionalen Mehrstufigkeit von Stilen und Stilmustern (vgl. 3.2) Rechnung trägt. Stilzugprämissen werden bestimmt als Merkmale der Organisation von Stilmitteln im Text, die die Basis für Stilzüge als Einheiten der Situationsgestaltung bilden. Mit Hilfe dieses Begriffspaars wird erklärbar, warum sich formal identische Textgestaltungsmerkmale verschiedenen Stilzügen zuordnen. Das Merkmal fachsprachlich beispielsweise erlangt im Stil der Wissenschaft den Status einer Prämisse für den Stilzug Genauigkeit, im Stil der kommerziellen Werbung für den Stilzug Wissenschaftlichkeit, im Stil der Belletristik möglicherweise für den Stilzug Ironie.
4.3. Komponente und Komposition Der Begriff Komposition erfasst das Textganze als einen Gestaltungsrahmen, der Textbausteine aller Art in sich aufnehmen kann. Im Unterschied zu den Stilzügen (vgl. 4.2), die i. d. R. linear organisiert sind, zeichnen sich textkompositorische Strukturen vorrangig durch Mehrdimensionalität aus, d. h. durch stilistisch relevante horizontale Beziehungen (der Sequenzierung oder Verknüpfung) und vertikale Beziehungen (der Über- und Unterordnung) zwischen Textteilen, Textebenen und Textelementen. Nach Riesel (1974, 36; 178) sind für Kompositionen drei Grundkomponenten maßgebend: (1) der innere (thematisch-gedankliche) Aufbau, (2) der äußere (architektonisch-formale) Aufbau, (3) die Darbietungsform (Gestaltungsweise) als Bindeglied zwischen (1) und (2). Orientiert man sich an diesem Konzept, können Beziehungen zwischen Ereignis- und Darstellungsfolge (vgl. Asmuth/Berg-Ehlers 1976, 114 ff.), Ähnlichkeitsstrukturen zwischen Thema und Stil (vgl. Sandig 1986, 105 ff.; 208 ff.) oder Relationen zwischen Aufbau/Kapitelgliederung einerseits und Erzählhaltung/Erzählweisen andererseits, die Sowinski (1984, 26 ff.) am Beispiel von Thomas Manns Erzählung „Luischen“ herstellt, als kompositorische Strukturen aufgefasst werden. Speziell bei narrativen Strukturen ist auf Kompositionsfugen (Michel 1980, 431) zu achten, d. h. auf kompositorische Zäsuren in Gestalt von Grenzmarkierungen zwischen Handlungssträngen, Zeitebenen, Erzählweisen usw. Neue Perspektiven bei der Kreierung, Betrachtung und Analyse von Kompositionen eröffnen sich mit der Ausdehnung des Blickfelds auf semiotisch komplex strukturierte kommunikative Gebilde: Text-Bild-Kombinationen oder Kombinationen von Text, Bild und Musik. Plakate liefern gute Beispiele dafür, wie Kompositionen aus Komponenten visueller Gestaltungsebenen (Schrift, Typographie, Abbildungen) entstehen. Kunz (1998, 98 ff.) demonstriert am Beispiel eines Werbeplakats für eine Fotoausstellung, wie sich ein Gefüge aus mikro- und makroästhetischen Kontrasten bildet, deren Einheiten auf und zwischen mehreren visuellen Ebenen liegen. Makroästhetische Komponenten sind Kontraste wie ,diagonale Anordnung des Titels vs. gegendiagonale Anordnung der Bilder’ oder ,großflächiges Bild eines berühmten Mannes vs. kleinflächiges Bild einer anonymen Frau‘. Aufmerksamkeit in mikroästhetischer Hinsicht verlangt die Schreibweise des Titels „strange VICISSITUDES“ in Relation zur Semantik seiner beiden Wörter. Die Mik-
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rokontraste ,klein vs. groß‘ und ,fein vs. fett‘ konstituieren eine Ähnlichkeitsstruktur zwischen Thema und Stil, die sich in den Makrokontrasten fortsetzt. Zu klären bleibt, in welchem Verhältnis die Begriffe Komposition und Design zueinander stehen. Wie es scheint, verfügen nicht nur Gebrauchsgüter, sondern auch Gebrauchstexte (in Kombination mit Abbildungen usw.) über ein Design im Sinne von ,Zugehörigkeit zu einer ästhetischen Richtung‘. So ist das besagte Plakat seinerzeit (1978) als ein markantes Beispiel für das New-Wave-Design gewürdigt worden (vgl. Kunz 1998, 98). Offenbar werden mit ,Design‘ vorzugsweise visuelle Kompositionen bewertet und differenziert, und zwar im Hinblick darauf, ob und wie Form und Funktion ästhetisch unverwechselbar aufeinander bezogen sind (zur Reflexion über den Begriff Design vgl. Antos 2001; Rothkegel 2001; Baecker 2005, 254 ff.).
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Michael Hoffmann, Potsdam (Deutschland)
93. Stilistische Phänomene der Schreibung und Lautung 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Objektbereich der Stilanalyse Stilphänomene der Lautung: Phonostilistik Lautliche Phänomene in literarischen Texten: Phonostilistik und Phonästhetik Stilphänomene der Schreibung: Graphostilistik Phonostilistik und Graphostilistik: Leistung, Grenzen, Desiderata Literatur (in Auswahl)
Abstract In contrast to traditional stylistics that is mostly based on lexical and syntactic items, this article examines the stylistic role of phonetic (pronunciation) and graphematic elements (spelling and typography) in communication. Sounds contribute to the meaning and style of texts through their phonetic “ornatus”, in onomatopoetics, through sound expressivity and sound symbolism. Spelling and typing may be relevant for the analysis of connotation, syntactic focus, communicative expressivity and visualization of lexically expressed semantic content. The relevance of both written and spoken linguistic signs for stylistics and their limits for stylistic text analysis, in particular when applied to literary texts, are discussed. Moreover, this article proposes methods for stylistic text analysis in both microstylistics and macrostylistics.
1. Objektbereich der Stilanalyse Traditionelle Stilanalysen bewegen sich überwiegend in den sprachlichen Objektbereichen von lexikalischer Semantik und Syntax. Lexeme lassen sich stilistisch gut beschreiben, wenn sie z. B. bestimmten Stilebenen angehören, Wertungen ausdrücken, einem geschlossenen Wortfeld angehören, mit dem Kontext semantisch kontrastieren, sich als diachronische, diatopische, diastratische oder diaphasische Varietäten charakterisieren lassen, sich durch eine spezifische Wahl des Autors erklären lassen usw.
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Stöckl, Hartmut (2004): Typographie: Gewand und Körper des Textes ⫺ Linguistische Überlegungen zu typographischer Gestaltung. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 41, 5⫺48. Trabant, Jürgen (1996): Elemente der Semiotik. Tübingen/Basel. Wales, Katie (1990): A dictionary of stylistics. London/New York.
Michael Hoffmann, Potsdam (Deutschland)
93. Stilistische Phänomene der Schreibung und Lautung 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Objektbereich der Stilanalyse Stilphänomene der Lautung: Phonostilistik Lautliche Phänomene in literarischen Texten: Phonostilistik und Phonästhetik Stilphänomene der Schreibung: Graphostilistik Phonostilistik und Graphostilistik: Leistung, Grenzen, Desiderata Literatur (in Auswahl)
Abstract In contrast to traditional stylistics that is mostly based on lexical and syntactic items, this article examines the stylistic role of phonetic (pronunciation) and graphematic elements (spelling and typography) in communication. Sounds contribute to the meaning and style of texts through their phonetic “ornatus”, in onomatopoetics, through sound expressivity and sound symbolism. Spelling and typing may be relevant for the analysis of connotation, syntactic focus, communicative expressivity and visualization of lexically expressed semantic content. The relevance of both written and spoken linguistic signs for stylistics and their limits for stylistic text analysis, in particular when applied to literary texts, are discussed. Moreover, this article proposes methods for stylistic text analysis in both microstylistics and macrostylistics.
1. Objektbereich der Stilanalyse Traditionelle Stilanalysen bewegen sich überwiegend in den sprachlichen Objektbereichen von lexikalischer Semantik und Syntax. Lexeme lassen sich stilistisch gut beschreiben, wenn sie z. B. bestimmten Stilebenen angehören, Wertungen ausdrücken, einem geschlossenen Wortfeld angehören, mit dem Kontext semantisch kontrastieren, sich als diachronische, diatopische, diastratische oder diaphasische Varietäten charakterisieren lassen, sich durch eine spezifische Wahl des Autors erklären lassen usw.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik In der rhetorischen Tradition lassen sich die Tropen und ein Teil der Figuren dem Bereich der lexikalischen Semantik zurechnen (z. B. Metaphern, Metonymien), ein anderer Teil dem Bereich der Wortspiele (z. B. Oxymoron). Syntaktisch beschreibbar sind zahlreiche Stilfiguren, von der Aufzählung über die Anapher bis zum Parallelismus. Einige der Stilfiguren werden auch durch eine Kombination von semantischen und syntaktischen Merkmalen konstituiert, z. B. ⫺ Antithese: Kombination von zwei semantischen Oppositionen von Lexemen gleicher Wortklasse mit syntaktischem Parallelismus ⫺ Chiasmus: Kombination von zwei semantischen Oppositionen von Lexemen gleicher Wortklasse mit syntaktischer Kreuzstellung ⫺ Antimetabole: Zwei lexikalische Wiederholungen bei syntaktischer Kreuzstellung. Diese Befunde beziehen sich überwiegend auf die Mikrostilistik. Dezidiert makrostilistische Analysen sind bislang trotz der textlinguistischen Wende in der Stilforschung erst zurückhaltend durchgeführt worden (z. B. zur Metaphernfiliation, zur Responsion in der Lyrik, zu semantischen Isotopien, zur Textmorphologie). Dies mag daran liegen, dass Resultate der Makrostilistik nur schwer übersichtlich darstellbar sind. Außerdem müssen in diesem Bereich noch geeignete Analysemethoden zu Autor, Text und Rezipienten entwickelt werden. Aber auch dann gilt, dass die sprachlichen Ebenen von Lexik und Syntax im Vordergrund stehen. Nur in Bezug auf Einzelphänomene ist in der linguistischen Stilforschung und in der literarischen Textinterpretation diskutiert worden, inwieweit Schreibung und Lautung von Sprache zur Gesamtbedeutung eines Textes beitragen oder eigene, genuine Verfahren für Stilwirkungen bereitstellen können. Mit anderen Worten: Können graphische und lautliche Elemente die Information der lexikalischen Semantik verstärken, möglicherweise ein Bedeutungs-Supplement hinzufügen oder sogar stilistisch relevante Textelemente autonom generieren? Vorab lässt sich feststellen, dass die lautlichen und graphischen Ressourcen der Sprache von den Autoren in Fachsprachen, alltagssprachlicher Kommunikation und auch in literarischen Texten nur sehr begrenzt genutzt werden. Immerhin werden sie in einem Teil der Literatur, z. B. in der Lyrik, in Werbeanzeigen, in Reden, in politischen Traktaten und in Textsorten wie Sprichwörtern, Psalmen, Merkversen durchaus genutzt. In der linguistischen und literaturwissenschaftlichen Textanalyse sind die Gebiete der Graphostilistik und der Phonostilistik stark vernachlässigt. Eine Aufarbeitung dieses Gebietes setzt voraus, den Objektbereich einer Textstilistik in Richtung einer Stilsemiotik zu erweitern (vgl. Spillner 1995). Es geht dabei um jene Fälle, in denen graphische oder phonische Elemente der Sprache über ihre rein bedeutungsunterscheidende bzw. bedeutungstransportierende Funktion hinaus selbst an der Bedeutungskonstitution des Textganzen beteiligt sind. Anders gesagt: Laut- oder Schriftzeichen können nicht nur die in den lexikalischen Einheiten und syntaktischen Relationen kodierten Bedeutungselemente im Kommunikationsprozess übermitteln, sondern unter bestimmten Bedingungen selbst am Aufbau des Textsinns mitwirken. Die Bedingungen, unter denen dies geschehen kann, sind schon in der theoretischen Linguistik nicht hinreichend berücksichtigt und geklärt. Erst recht kann es daher nicht verwundern, dass solche Erscheinungen im komplexen und umstrittenen Bereich von Stiltheorie und Stilanalyse nicht abschließend geklärt sind. Hier muss nämlich angenommen werden, dass die betreffenden Laut- oder Schriftzeichen über ihre bedeutungskonstituierende Funktion hinaus obendrein stilistische Wirkung haben können.
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Es ist also grundsätzlich anzunehmen, dass graphische und phonische Ausdrucksmittel eine eigene textsemantische Leistung vollbringen können. Sofern diese durch Leserreaktionen stilistisch relevant werden kann, sollen sie graphostilistisch bzw. phonostilistisch genannt werden. Graphostilistisch bedeutsam können Konnotationen durch typographische Mittel sein, ferner der graphisch vermittelte Ausdruck von Expressivität, Hervorhebung etc., die visualisierte Abbildung von lexikalischen Textelementen und die eigenständige Sinnkonstitution durch graphische und drucktechnische Verfahren bis hin zu spezifischen Wort-Bild-Kunstwerken. Phonostilistisch bedeutsam können intratextuelle Beziehungen jenseits von syntaktischen und semantischen Relationen sein, die phonetische Abbildung lexikalischer Inhalte, die lautsymbolische Sinnkonstitution, ferner die Wiedergabe regionaler, individueller, soziolektaler, nationalsprachlicher Sprechermerkmale. Riesel (1978, 116) zählt „graphische Äquivalente für lautliche Merkmale mündlicher Rede, die aus unterschiedlichen außerlinguistischen Gründen von der überkommenen Orthoepie abweichen“, zu den graphostilistischen Mitteln des Wortkunstwerkes. Hierbei ist zu bedenken, dass es sich lediglich um die graphische Wiedergabe genuin phonostilistischer Ausdrucksmittel handelt, um schriftlich kodierte Elemente der gesprochenen Sprache. Da die Stilanalyse sowohl gesprochene als auch geschriebene Texte untersucht, sollte die Analyse von Aussprachemerkmalen (auch wenn sie in geschriebenen Texten graphisch abgebildet werden) einheitlich dem phonostilistischen Bereich zugeordnet werden. Eine saubere Trennung zwischen Phänomenen der Lautung und der Schreibung lässt sich nur dann realisieren, wenn man die Gegensatzpaare „gesprochene ⫺ geschriebene Sprache“ einerseits und „phonischer ⫺ graphischer Code“ andererseits unterscheidet. Varianten der Aussprache, also Merkmale der gesprochenen Sprache, können nicht nur im phonischen Code übermittelt werden, sondern zum Teil auch im graphischen Code abgebildet werden. Durch die Natur des graphischen Zeichensystems und der phonographemischen Zuordnungsregeln sind die Abbildungsmöglichkeiten begrenzt, aber durchaus vorhanden. Bei einigen Autoren sind auch ohne solche typographischen Mittel Aussprachemerkmale im graphischen Code abgebildet worden (vgl. zu Queneau die Analyse von Baligand 1972). Umgekehrt scheinen sich graphostilistische Ausdrucksmittel (Drucktypen, typographische Anordnung, Satzzeichen) nicht im phonischen Code abbilden zu lassen.
2. Stilphänomene der Lautung: Phonostilistik 2.1. Phonostilistik als Komponente des Sprachsystems In der Phonologie ist wiederholt versucht worden, eine Phonostilistik dem Bereich des Sprachsystems zuzuschlagen, wobei man annimmt, dass Stilwirkungen bereits der Ebene der langue einer Einzelsprache zu eigen sind. Eine sehr differenzierte Fassung dieser Annahme findet sich bereits bei Trubetzkoy, der ⫺ in Anlehnung an Bühlers drei Sprachfunktionen ⫺ vorschlägt, „daß man die Untersuchung der lautlichen Kundgabe- und Appellmittel einem besonderen Wissenschaftszweige, nämlich der Lautstilistik zuweist, die einerseits in eine Kundgabestilistik und eine Appellstilistik, andererseits in eine phonetische und eine phonologische Stilistik
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik eingeteilt werden könnte. […] Der Name ,Phonologie‘ darf nach wie vor auf die Untersuchung der darstellungsrelevanten lautlichen Seite des Sprachgebildes beschränkt bleiben, während die Untersuchung der kundgaberelevanten und der appellrelevanten Elemente der lautlichen Seite des Sprachgebildes von der „phonologischen Stilistik“ besorgt wird, die ihrerseits nur ein Teil der ,Lautstilistik‘ ist.“ (Trubetzkoy 1958, 28 f.)
Sehr viel vereinfachter schreiben viele Autoren die Phonostilistik dem System einer Einzelsprache bzw. grundsätzlich ihren Phonemen zu (z. B. Bergsveinsson 1940; Householder 1946; Weidner 1950; Leo´n 1969; 1971; Van den Berghe 1976; Fo´nagy 1977; Jakobson/ Waugh 1979). Zu diesen Konzeptionen gehören auch die Versuche, ein Phonaesthem auf der Systemebene der Sprache zu konstruieren (vgl. Householder 1946; Anderson 1972; Bergen 2004). Wenn man jedoch davon ausgeht, dass Stil sich in Texten, also auf der parole-Ebene manifestiert, ergeben sich erhebliche theoretische Probleme mit einer systemorientierten Phonostilistik. Dass eine solche Konzeption tatsächlich für die Stilistik inadäquat ist, zeigt sich deutlich, wenn Barysˇnikova (1973, 305) die „stylistique phone´tique (phonostylistique)“ dem „ensemble du syste`me stylistique de la langue“ zuordnet. Für eine theoretische Fundierung der Stilforschung kommt eine langue-orientierte Phonostilistik also nicht in Frage. Für die Methodik der Stilanalyse ist sie allerdings insofern von Belang, als sie auf Lautebene die Ausdrucksmöglichkeiten des Sprachsystems beschreiben könnte, die einem Autor bei seiner stilistischen Wahl zur Verfügung stehen.
2.2. Phonostilistische Analyse von Aussprachevarianten In der Phonetik wird von manchen Autoren die Möglichkeit von Aussprachevarianten als Phonostilistik bezeichnet. So definiert Fo´nagy (1977, 16) diese Auffassung wie folgt: „En ve´rite´, la phonostylistique e´tudie des phe´nome`nes sonores particuliers, des variantes associe´es soit a` la parole de certains groupes sociaux majeurs (classes sociales, sexes, groupes d’aˆges) ou mineurs (groupes professionnels, groupuscules), soit a` certaines situations. Ajoutons qu’elle peut s’inte´resser meˆme a` des phe´nome`nes phone´tiques individuels, expressifs. […] Elle e´tudie surtout des phe´nome`nes […] en fonction de leur ,valeur stylistique‘ c’est-a`dire en de´terminant le message supple´mentaire qu’ils ajoutent au message verbal proprement dit.“
Dies mag dann gerechtfertigt sein, wenn solche Varianten etwa einen bestimmten regionalen Dialekt oder eine soziale Schicht oder ⫺ in historisierenden literarischen Texten ⫺ eine historische Epoche charakterisieren. Allgemein gilt jedoch, dass Varietät ein grundsätzliches Merkmal menschlicher Sprache ist. Als phonostilistisch werden im Folgenden daher nur lautliche Merkmale bezeichnet, die wegen ihrer stilistischen Wirkung ausgewählt wurden und/oder spezifische Stileffekte verursachen. Dies kann für die literarische Stilanalyse relevant werden, wenn es um die Untersuchung gesprochen vorgetragener Lyrik geht. Aber auch für andere Textsorten muss die literarische Stilanalyse mitunter auf eine phonostilistische Analyse von Aussprachevarianten rekurrieren. Dies ist dann der Fall, wenn in Textsorten mit wörtlicher Rede (Drama, Hörspiel, Roman etc.) Personen im Hinblick auf ihre Aussprachemerkmale gekennzeichnet werden. In der Komödie dienen dialektale oder soziolektale Artikulations-
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varianten oft dazu, die Sprecher der Lächerlichkeit preiszugeben (z. B. bei Molie`re, Goldoni). Im Roman bewirken regionale Sprechermerkmale Authentizität und Lokalkolorit (Balzac, Zola, Grass), im naturalistischen Drama dienen Aussprachevarianten der Personen ihrer Zuordnung zu einem sozialen Milieu (z. B. bei Gerhart Hauptmann) usw. Methodisch wird die Stilanalyse in diesen Fällen die Aussprachevariante mit der kodifizierten Hochlautung vergleichen, die sprachliche Art des Kontrastes ermitteln (regional, sozial etc.) und Stileffekte durch empirische Ermittlung der Leser/Hörer-Reaktion feststellen. Obwohl die Stilanalyse methodisch vergleichsweise einfach ist, liegen ⫺ abgesehen von Arbeiten zu Übersetzungsaspekten ⫺ nur vereinzelt phonostilistische Untersuchungen zu Aussprachevarianten in literarischen Texten vor (vgl. u. a. Gnutzmann 1983; Gagliardi 1989).
2.3. Grundsätze der phonostilistischen Textanalyse Wenn lautliche Beziehungen hergestellt werden, wenn lautsymbolische, lautexpressive, lautimitative Funktionen festgestellt werden, geht es grundsätzlich immer um Phänomene der gesprochenen Sprache. In der Praxis der literarischen Stilanalyse beziehen sich phonostilistische Deutungen jedoch fast ausschließlich auf Texte, die im graphischen Code vorliegen. Dieses Paradox lässt sich nur dann auflösen, wenn man annimmt, dass Lautassoziationen auch in graphischer Abbildung der Laute existieren, dass der Leser im literarischen Rezeptionsvorgang eine graphophonemische Umsetzung vornimmt und den Lautklang der einzelnen Laute innerlich aktualisiert. Dass die literaturwissenschaftliche Lautanalyse in diesem Punkt auf ungeprüften Annahmen beruht, hat bereits Hymes (1960, 130) kritisch angemerkt: „Another limitation which, as far as I know, all stylistic approaches share is the making of untested assumptions about the psychology of poet or audience. […] we do not in fact know that the use of a sound in one part of a poem has any effect on a reader in a subsequent part; […]. Rather, we analyze the poem, construct an interpretation, and postulate (or instruct) the reader’s response.“
Für eine auf empirische Leserbefragung verzichtende, hermeneutisch-zirkuläre Stildeutung ist dieses Urteil gewiss zutreffend. Die Analyse von Phänomenen der Lautung setzt also voraus, dass die untersuchten Texte entweder gesprochen werden oder ⫺ wenn sie wie die meisten literarischen Texte geschrieben tradiert werden ⫺ vorgelesen, rezitiert oder zumindest vom Leser mental lautlich realisiert werden. Diese Bedingung ist unabdingbare Voraussetzung für eine phonostilistische Analyse. Streng genommen sollten sich phonostilistische Aussagen nur auf Textsegmente in lautschriftlicher Transkription beziehen. In literaturwissenschaftlichen Interpretationen sind Verwechslungen von Phonie und Graphie leider nicht selten: Cours (1916, 656) bemerkt zu dem berühmten Gedicht ,Les sanglots longs‘ von Verlaine: „Et, tout de suite, nous nous apercevons que le poe`te a multiplie´ les A et les O.“
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Wenn man nachzählt, stellt man fest dass der Laut [a] im ganzen Text nur in zwei Zeilen vorkommt. Zu den Versen von More´as „Reˆver encor de douceur, / De douceur et de guirlandes. / L’hiver fauche sur les landes.“ stellt er lautdeutend fest: „Mais au dernier vers les A et les E du mot ,landes‘ et ,guirlandes‘ rappellent invinciblement le mauve un peu rouge des bruye`res.“ (Cours 1916, 659)
Abgesehen von der kurzschlüssigen Gleichsetzung von Lauten mit den Farbtönen des Heidekrautes (das im Gedicht gar nicht erwähnt wird) fällt auf, dass sich die Deutung auf Buchstaben stützt und nicht auf Laute. Die Tatsache, dass hier beispielhaft eine ältere Arbeit zitiert wurde, sollte nicht zu der Annahme verleiten, dass in neueren Lyrikinterpretationen solche Irrtümer nicht mehr vorkommen. In der Klanganalyse eines Gedichtes von Storm werden z. B. „das lange und das kurze e in Beere und Segen“ entdeckt (Ritter 1953/54, 25). Aus den vorigen Bemerkungen geht bereits hervor, dass Aussagen über die Dominanz bestimmter Laute unbedingt statistisch abgesichert sein sollten. Darüber hinaus müsste bei solchen Analysen überlegt werden, ob Laute nicht im Hinblick auf ihre Position in Satz und Text, auf Wortarten (z. B. sinntragende Lexeme), auf Stellung im Vers (z. B. Reim, Satzanfang) etc. gewichtet und gewertet werden müssten. Ferner sollte bei einer phonostilistischen Analyse bedacht werden, dass Stilwirkungen von Lauten von ihrer Kombination im Text, also von einer phonetischen Syntax abhängen können.
3. Lautliche Phänomene in literarischen Texten: Phonostilistik und Phonästhetik Für Stileffekte intentional eingesetzt werden Lautphänomene vorwiegend in literarischen Texten ⫺ hier verstanden im weiteren Sinne (unter Einschluss z. B. von Werbetexten, Sprichwörtern, politischen Reden). Ihre Funktion wird in der Literaturwissenschaft auch als Phonästhetik bezeichnet, z. B.: „J. R. Firth uses ,phonaesthetic‘ to label the connotations of sounds proper to a given language. But I am using ,literary phonaesthetics‘ to imply every kind of serious study of the effects and functions of sound in literature.“ (Masson 1954, 61)
Beide Termini (Phonostilistik und Phonästhetik) sind nicht scharf von einander abgegrenzt.
3.1. Lautschmuck Unter der Voraussetzung, dass eine literarische Textanalyse sich wirklich auf die Phonie bezieht, können Lautgefüge im Hinblick auf Stilwirkungen abgefragt werden. So kann eine phonästhetische Textdeutung die lautliche Seite eines literarischen Textes als schöpferische Klanggestaltung mit autonomen Lautwirkungen analysieren, ohne dem phoni-
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schen Gesamteindruck oder einzelnen Lauten einen semantischen Wert zuzuschreiben. Eine solche Analyse beruht auf der Auffassung, dass ein literarischer, vor allem ein lyrischer Text gegenüber Äußerungen der Alltagssprache zusätzliche „poetische“ Elemente enthält, die auf den Leser einen ästhetischen Reiz ausüben. Besonders deutlich wird dies an der sogenannten „dunklen Lyrik“, deren semantischer Informationsgehalt oft sehr reduziert oder für den Leser nicht entschlüsselbar ist, die diesen „Nachteil“ aber durch besondere Reize der formalen Gestalt kompensiert. Solche Reize eines Gedichtes können im lexikalischen Bereich liegen (z. B. Metaphern), im syntaktischen Bereich (Parallelismen, Symmetrie usw.), im graphischen Bereich (typographische Anordnung). Besonders im phonischen Bereich lassen sich der Lyrik Differenzqualitäten gegenüber der Alltagsprosa zuschreiben: Metrum, Rhythmus, Reim, Assonanz, Alliteration usw. Tatsächlich bezieht sich eine ganze Reihe von phonostilistisch-phonästhetischen Untersuchungen auf solche zusätzlichen Klangelemente in der Lyrik: z. B. Chausserie-Lapre´e (1978) und Shapiro (1998) auf den Reim als zusätzlichen Schmuck, Schutter (1977) auf Alliterationen, Nist (1961/62) auf Lautwiederholungen. Gemeinsam ist diesen Einzeluntersuchungen, dass die phonästhetischen Klangelemente als zusätzlicher Schmuck im Sinne der ornatus-Lehre der klassischen Rhetorik aufgefasst werden. Einen Überblick über literaturwissenschaftliche Verfahren der Klangdeutung in Gedichten liefert Boets (1958, 744⫺754). Wie vage die theoretische Fundierung dabei oft bleibt, lässt sich leicht belegen, z. B.: „In this respect, poetry uses combinations of sounds which, taken together, are frequently a powerful factor in producing the effect of a certain whole.“ (Thompson 1969/70, 39)
Dass phonästhetische Zusammenhänge und harmonische Korrespondenzen in Gedichten bestehen können, lässt sich kaum bestreiten. Allerdings wird man sich bei der Analyse vor der Suche nach verborgenen anagrammatischen Strukturen ebenso hüten wie vor dem Aufweisen komplizierter wahrnehmungspsychisch kaum realisierbarer Zusammenhänge.
3.2. Phonetisch-semantische Relationen: Beziehung zwischen Laut und Sinn In der Linguistik gilt unbestritten, dass Phoneme die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Zeichen einer Sprache sind, ohne selbst Bedeutung zu haben, und dass erst recht Phone als Realisierung von Phonemen ohne Bedeutung sind. Streng genommen wird aber gerade dies in einem zentralen Bereich der phonostilistischen Analyse stillschweigend angenommen. Man postuliert in der ⫺ vorwiegend älteren ⫺ literaturwissenschaftlichen Textanalyse, aber auch in der psychologischen Theorie, einen Beitrag der phonischen Gestalt zum Sinngehalt des Textes. Im allgemeinen ohne empirische Absicherung geht man dabei von einer „harmony of sound and sense“ aus (Montgomery 1978, 209), von „natural relationship of sound and content“ (Fo´nagy 1961, 213), von „intrinsic correspondance between sounds and meaning“ (Taylor 1963, 200), schreibt man den Lauten die Fähigkeit für „symbolische Sprachmalerei“ zu (Thieme 1972, 66), stellt man fest, „that sounds of some words fit the meanings particularly well“ (Wertheimer 1958, 412) und unternimmt man „das Suchen nach einer etwai-
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
gen unmittelbaren Beziehung zwischen Wortschall und Wortbedeutung über die bloße Zeichennatur hinaus“ (Schneider 1938, 140). Einteilung und Unterscheidung der einzelnen Arten von Laut-Sinn-Beziehungen werden von den verschiedenen phonostilistischen Theoretikern sehr unterschiedlich vorgenommen; nicht einmal über die Existenz der einzelnen Beziehungsarten besteht Konsens (vgl. den Überblick bei Flakowski-Jankovic´ 1993). In der neueren Linguistik besteht mindestens seit de Saussure der Grundsatz einer prinzipiellen Arbitrarität des sprachlichen Zeichens. Nach dieser Auffassung besteht keine motivierte Beziehung zwischen lautlicher Gestalt und Bedeutung eines Wortes/ Lexems; aus der sprachlichen Form lässt sich kein Aufschluss über Eigenschaften des Denotates gewinnen. Lautmalende Wörter ⫺ wie Kuckuck, le cricri, knirschen, ronronner ⫺ werden als spezielle Sonderfälle, als Randerscheinungen aufgefasst. Daneben existiert in der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie seit dem Kratylos-Dialog von Platon die gegenteilige Konzeption, nach der solche motivierten Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung zentrales Fundament der Sprachschöpfung sind: Beziehungen, die lediglich durch die sprachgeschichtliche Lautentwicklung verdunkelt werden können.
3.2.1. Lautimitation Onomatopoesie Die einfachste Art von Lautbedeutsamkeit, auf die auch in Sprachursprungshypothesen immer wieder zurückgegriffen wird, besteht in der Annahme, dass in der Lexik einer Sprache charakteristische Lautäußerungen des zu bezeichnenden Denotates imitiert werden: Typische Geräusche von Tieren, Geräten, Tätigkeiten geben Anlass zu einer entsprechenden Schallwortbezeichnung. Als Beleg lassen sich aus vermutlich allen Einzelsprachen lautmalende, onomatopoetische Lexeme anführen: dt.: Zilpzalp, Wauwau, Pingpong, tirilieren, miauen, Gong, rattern, klirren, Blitz, päng usw. Interlinguale Differenzen (z. B. das Krähen des Hahnes: dt. Kikeriki, frz. cocorico, engl. cock-a-doodle-doo) sind keine Widerlegung der Lautimitations-Hypothese, sondern lassen sich durch einzelsprachlich unterschiedliche Interpretation der Realität erklären. Wichtiger als die mögliche Rolle der Onomatopoesie beim Sprachursprung ist in diesem Zusammenhang ihre mögliche phonostilistische Funktion im literarischen Text. Es kann kein Zweifel bestehen, dass onomatopoetisch motivierte Sprachzeichen vom Autor stilistisch ausgewählt werden können, um die semantische Information auf der Lautseite sekundär zu unterstützen, d. h. um einen „second message phonostylistique“ zu bewirken (Baligand 1972, 17). Man kann sich die Wirkung einer solchen stilistischen Wahl leicht veranschaulichen, indem man lautmalende Textelemente mit onomatopoetisch unmarkierten Paraphrasen mit annähernd gleichem Informationsgehalt konfrontiert, z. B.: Die Heuschrecke produziert Laute ⫺ Die Grille zirpt. Kayser (1932, 7) nennt lautimitierende Lexeme die „sinnvollen lautmalenden Wörter […], weil sie neben der Aufgabe des Abmalens auch die des Bedeutens erfüllen“. Diese Formulierung ist problematisch; man sollte besser feststellen, dass die lexikalische Bedeutung dieser seltenen Lexeme lautlich-assoziativ unterstützt wird. Tatsächlich lassen sich in der Poesie durch Auswahl und Anhäufung lautmalender Lexeme Stileffekte erzielen, bei denen semantische Elemente sehr eindringlich phonostilistisch abgebildet werden:
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So rennet nun alles in vollem Galopp Und kürt sich im Saale sein Plätzchen Zum Drehen und Walzen und lustigem Hopp Erkieset sich jeder ein Schätzchen. Da pfeift es und geigt es und klinget und klirrt, Da ringelt’s und schleift es und rauschet und schwirrt; […]. (Goethe, Hochzeitslied)
Die Tanzbewegungen werden nicht nur mit lexikalischen Mitteln geschildert, sondern zudem phonisch-lautmalend abgebildet. Eine phonostilistische Analyse wird nicht nur auf Auswahl und Frequenz onomatopoetischer Lexeme verweisen, sondern den Textzusammenhang dieser lautimitativen Mittel mit Metrum, Rhythmus, Reim, Assonanzen, Alliterationen, Silbenzahl der Wörter etc. herausarbeiten. Bereits Bühler (1933) hat zurecht betont, dass die Möglichkeiten der Auswahl und Anordnung lautmalender Stilmittel begrenzt sind: zunächst einmal durch die syntaktischen Regeln, die wie ein „,verrou syntaxique‘ place´ sur la porte de l’onomatopoe´e“ wirken (Bühler 1933, 107); dann aber auch durch die vonseiten des Sprachsystems nur begrenzt zugelassenen Möglichkeiten zur Bildung lautmalender Neologismen und schließlich durch die wegen der erforderlichen phonologischen Unterscheidbarkeit der Lexeme keineswegs beliebigen Möglichkeiten zur Lautimitation. Die phonostilistische Analyse der Onomatopoesie kann lautmalende Elemente leicht im Text lokalisieren. Vor einer stilistischen Wertung ist es jedoch methodisch erforderlich, die Auswahlmöglichkeiten des Autors zu ermitteln und miteinander zu vergleichen.
3.2.2. Lautexpressivität Im Gegensatz zu ihrer lautimitierenden onomatopoetischen Funktion kann den Lauten auch eine „valeur expressive“ zugeschrieben werden (Marouzeau 1965, 33); der Interpret nimmt dann eine „evocative power of the sounds of words“ an (Masson 1953/54, 220). Einzelne Laute wären demnach in der Lage, ganz bestimmte Gemütsverfassungen und Tätigkeiten auszudrücken, ihre Verteilung in der poetischen Sprache wäre „ne´cessaire et re´gi par les lois de l’expressivite´“ (Rosetti 1966, 70). Grammont nimmt sogar an, dass ein lautexpressiver Wert bereits den Phonemen (d. h. der Ebene der langue) vorab jeder Textrealisierung zukommt: „en analisant dans tous ses de´tails la nature d’un fone`me donne´, on peut de´terminer d’avance et a priori toutes les valeurs qu’il pourra posse´der au point de vue expressif.“ (Grammont 1901, 156)
Vorausgesetzt, diese Annahme wäre richtig und die expressiven Lautwerte wären ermittelt, reduzierte sich die Methode der Stilanalyse auf das Auffinden der häufigsten Laute im Text und die Zuordnung der vorab bekannten Lautexpressivität.
3.3. Lautsymbolik Es gibt bei der Behandlung von stilistischen Phänomenen der Lautung gute Gründe dafür, Lautbedeutsamkeit und Lautsymbolik zu unterscheiden.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik Bereits Debrunner (1926) verweist darauf, dass Onomatopoesie nichts mit der Lautsymbolik zu tun hat und dass andererseits „Laute, die zu symbolischer Verwendung neigen, weder in jedem Wort symbolischen Wert haben noch überall, wo sie symbolisch sind, denselben Symbolwert haben“ (ebd., 336). Ferner lässt sich Lautsymbolik auf die Beziehung zwischen Phonie und allgemeinen Kategorien anderer Sinneswahrnehmungen zurückführen, im Prinzip also auf die Erscheinung der Synästhesie: „On peut ainsi rattacher le symbolisme phone´tique au phe´nome`ne plus ge´ne´ral de la synesthe´sie, ou ressemblance psychologique entre stimuli appartenant a` des modalite´s sensorielles diffe´rentes.“ (Pe´terfalvi 1966, 634; vgl. auch Pe´terfalvi 1970)
Lautsymbolik trägt zum Sinn eines Textes bei, ohne dass eine Relation zwischen Laut und festgelegter Bedeutung besteht. Sie liegt dann vor, wenn eine Textaussage lautlich durch Synästhesie (im weitesten Sinn) gestützt wird. Tatsächlich beruht die herkömmliche schulische Interpretationspraxis auf dieser Annahme, wenn sie etwa helles Glänzen durch eine Häufung von [e] ausgedrückt sieht, rote Farbtöne durch [o], Dunkelheit, Furcht durch [u], das Wehen des Windes durch [v] oder [l], Schärfe, klirrende Geräusche, kleine Gegenstände durch [i] usw. Vor allem war es das Phänomen der „audition colore´e“, des Farbenhörens, das bereits früh lautstilistisch aufgegriffen wurde. Die individuelle Zuordnung von Lauten zu Farbvorstellungen wurde bereits im 18. Jahrhundert (u. a. von Goethe) beschrieben; 1812 taucht der erste Fall in der medizinischen Literatur auf (vgl. Marinesco 1912, 385 f.); Clavie`re (1898) führt zur „audition colore´e“ bereits eine Bibliographie von 131 psychologischen und medizinischen Arbeiten an. Frühzeitig wurde das Phänomen auch von Dichtern aufgegriffen und für die Dichtungstheorie ebenso herangezogen wie für die Poetik der Lyrik und die Stilananalyse. Nachdem bereits August Wilhelm Schlegel eine poetologische Theorie des Farbenhörens entwickelt hatte, wurden diese Ideen von zahlreichen Dichtern vertreten ⫺ u. a. von Victor Hugo, Rimbaud, Baudelaire, Rilke, Weinheber, Ernst Jünger (vgl. die Übersicht und phonostilistische Kritik bei Spillner 1984, 86 ff.). Tatsächlich sind nach Auswertung der Einzelzeugnisse die Laut-Farben-Zuordnungen weitgehend individuell und korrelieren tendenziell mit psychopathologischen Befunden (vgl. u. a. Kloos 1931; Kneip/Jewanski 2002). Dennoch hat es immer wieder Versuche gegeben, Lautsymbolik synästhetisch theoretisch zu fundieren (u. a. Chastaing 1960; Weiss 1963; Cruz Burdiel 1978; Hinton/Nichols/Ohala 1994), im Sprachsystem selbst nachzuweisen (Ertel/Dorst 1965; Ivanova 2006, physiologisch (Posner/Schmauks 2002), musikwissenschaftlich (Jewanski 2002) oder ästhetischspekulativ (Volke 2005) zu legitimieren, ohne theoretischen Hintergrund in der literarischen Textanalyse anzuwenden (u. a. Montgomery 1978; Priestly 1994) oder durch Selbstzeugnis zu rechtfertigen (Edmondson 2002).
3.4. Methodische Vorgaben ür die Phonostilistik Es hat sich gezeigt, dass phonostilistische Elemente sehr wohl Verstehenshinweise für den Textrezipienten leisten können. Bei einer Stilanalyse solcher lautlichen Phänomene sind jedoch strenge methodische Vorgaben zu befolgen: ⫺ die Analyse muss streng auf Lautebene geschehen, ⫺ eine Stilwirkung bei geschriebenen Texten setzt lautes Lesen oder mindestens eine Artikulation ,mit innerer Stimme‘ voraus,
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⫺ bei der Textproduktion sind aufgrund lexikalischer Wahl und grammatischer Zwänge die lautlichen Wahlmöglichkeiten begrenzt, ⫺ bei Stilinterpretationen sind Lautfrequenz und sinntragende Lexeme zu berücksichtigen, ⫺ die Phonostilistik der Lautimitation ist auf die Fälle onomatopoetischer Lexeme beschränkt, ⫺ die Phonostilistik der Lautexpressivität lässt sich psycholinguistisch nur für wenige Kategorien wie ,klein-groß‘, ,hell-dunkel‘, ,spitz-rund‘ verifizieren, ⫺ phonostilistische Mittel wie Rhythmus, Reim, Assonanz, Alliteration sind textuell polyvalent, ⫺ die Stilanalyse lautlicher Phänomene sollte möglichst nicht punktuell, sondern makrostilistisch angelegt werden.
4. Stilphänomene der Schreibung: Graphostilistik Wie oben bereits skizziert, können schriftliche Textelemente dann graphostilistische Wirkung haben, wenn sie erstens vom Leser als solche erkannt und im Rezeptionsprozess stilistisch konstituiert werden und wenn sie zweitens im Kommunikationsprozess sinnbildend wirken bzw. dem Leser über die lexikalische und syntaktische Bedeutung hinaus einen Verstehenshinweis anbieten (vgl. Spillner 1995, 76). Mindestens potenziell ist davon auszugehen, „daß Schrift ⫺ wie alle Zeichensysteme ⫺ grundsätzlich bifunktional ist: einerseits vermittelt sie Bedeutung durch den Sprachbezug und andererseits durch ihre äußere Form.“ (Rohrauer 1992, 45)
4.1. Konnotationen von Schrittypen Die Graphetik und anwendungsorientiert die Typographie versuchen, Schrifttypen mit Hilfe von formalen Kategorien wie Schriftgrad, Strichstärke, Serifen, Fettdruck, Sperrung, Kursivität, Schriftduktus taxonomisch zu differenzieren und ggf. neue Schrifttypen zu entwickeln (siehe u. a. Althaus 1973; Pfeiffer-Rupp 1984; Rohrauer 1992). Gerstner (1972, 75) taxiert die Anzahl existierender Schrifttypen bereits auf 5000 bis 6000. Sowohl die individuelle Handschrift als auch die Verwendung ausgewählter Schrifttypen beim Druck oder zum Beispiel beim Versand von E-Mails können Konnotationen und Stilwirkungen auslösen. Die psychologische Graphologie versucht, Beziehungen zur Persönlichkeit des Schreibers und mögliche Eindrücke auf den Leser herauszuarbeiten. Die Wahl des Schrifttyps beim Druck kann über die lexikalische Information hinaus bestimmte Einstellungen des Texturhebers vermitteln und gezielt stilistische Assoziationen beim Leser hervorrufen. Zeitungen vermitteln auf diesem Wege häufig ein Verstehenssupplement bei ihren intendierten Lesern. Hier lassen sich den unterschiedlichen Schrifttypen unterschiedliche Konnotationen und Hinweise auf die politische Richtung des Mediums zuordnen, z. B. konservativ, sachlich, liberal-weltoffen. Es ist kein Zufall, dass Zeitungen von Zeit zu Zeit die Drucktype des Zeitungskopfes wechseln, um eine neue Denkrichtung anzukündigen oder um eine neue Leserklientel anzusprechen.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Abb. 93.1: Gedruckte Namen von Zeitungen (Jegensdorf 1980, 77)
In Einzelfällen wird dieses graphostilistische Verfahren auch von Schriftstellen gewählt (z. B. von Stefan George) oder von künstlerisch-literarischen Richtungen (z. B. Jugendstil, Bauhaus, Neugotik). Ein probates stilistisches Mittel in literarischen Texten wäre es, unterschiedliche Personen/Erzähler, Perspektivenwechsel, unterschiedliche Zeitebenen (Retrospektive, Vorausschau), Wechsel von Bericht und Kommentar, möglicherweise auch Ironie durch je unterschiedliche Schrifttypen anzudeuten bzw. zu markieren. Es scheint aber (ausgenommen vielleicht Arno Holz) noch kaum ein Schriftsteller auf die Idee gekommen zu sein, solche graphostilistischen Mittel (abgesehen vom Kursivdruck) systematisch zu verwenden.
4.2. Stilwirkung durch graphische Mittel 4.2.1. Graphostilistische Hervorhebung Prinzipiell können alle graphischen Elemente im Text eingesetzt werden, um stilistische Wirkungen zu erzeugen. Elise Riesel hat dies für das Deutsche an sehr kleinen sprachlichen Zeichen nachgewiesen, indem sie die „stilistischen Funktionen der Satzzeichen im usuellen Sprachgebrauch“, aber auch an „Überspitzungen“, d. h. Normabweichungen, an literarischen Beispielen gezeigt hat (Riesel 1978, 119; 121). Heute ist an die Stilwirkung graphischer Zeichen in neuen Medien zu denken (Chat, E-mail, SMS). Mit graphischen und typographischen Mitteln können jedoch auch weitergehende stilistisch-kommunikative Leistungen erbracht werden. Typisch dafür ist die textuelle Hervorhebung, die allerdings je nach Sprache unterschiedlich geschehen kann. Sie geschieht lexikalisch z. B. durch wertende Adjektive oder Adverbien: die äußerst wichtige Komponentenanalyse), syntaktisch z. B. im Deutschen durch Ausklammerung oder Besetzung des Vorfeldes oder mit Hilfe von Wortbildung (z. B. ein superschnelles Auto). Im gesprochenen Deutschen hebt man durch Betonung hervor. In der Schriftsprache geschieht dies typographisch durch kursiven, fetten, gesperrten Druck der Schriftzeichen, durch Unterstreichung usw. Diese typographischen Möglichkeiten werden bevorzugt in Fachtexten realisiert. In religiösen Texten gibt es in verschiedenen Kulturen die Konvention, Hervorhebung und Ehrung Gottes graphostilistisch durch Majuskeln aller auf ihn bezogenen Wortformen auszudrücken, z. B.: Und so sandte GOTT uns SEINEN Sohn.
93. Stilistische Phänomene der Schreibung und Lautung
1557
4.2.2. Typographische Expressivität Die aus der Phonostilistik geläufigen Möglichkeiten stilistischer Expressivität sind bis zu einem gewissen Grad auch schriftsprachlich realisierbar. Es kommt nicht von ungefähr, dass dies häufig in einem Genre geschieht, bei dem es um gesprochene Sprache in verschriftlichter Form geht, in Comics. Hier werden emotionale Affekte stilistisch expressiv durch graphetische Abänderung schriftlich realisiert, z. B.:
Abb. 93.2: Sprecheremotionalität im Schriftbild von Comics (Goscinny/Uderzo: Le Ciel lui tombe sur la teˆte. Paris 2005, 41)
Durch wie mit leichten Fieberkurven markierte Schriftzeichen werden Erregung, Angst des Sprechers signalisiert und dadurch ein paralinguistisches Merkmal der gesprochenen Sprache ins Schriftsprachliche transportiert. Ganz ähnlich kann auch die Kategorie Unverständlichkeit/Fremdsprachengebrauch graphostilistisch wiedergegeben werden. Dadurch wird eine semantisch-kommunikative Information übermittelt, die man lexikalisch etwa als ,dieser Sprecher spricht eine allen Zuhörern unverständliche Sprache’ ausdrücken müsste: Diese beiden Beispiele stehen exemplarisch für ein sehr breites Repertoire graphostilistischer Mittel in Comics (vgl. dazu u. a. Kowalski 1975, 144⫺148).
Abb. 93.3: Mündliche Unverständlichkeit charakterisiert durch Schriftbild (Goscinny/Uderzo: Le Ciel lui tombe sur la teˆte. Paris 2005, 26)
4.2.3. Typographische Visualisierung von lexikalischen Textelementen Graphostilistische Wirkung lässt sich auch dadurch erzielen, dass die durch ein Lexem ausgedrückte semantische Information zusätzlich mit typographischen Mitteln ikonisch
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
ausgedrückt wird. Um Aufmerksamkeit beim Leser zu erzeugen, wird ein solches, semiotisch doppelt kodiertes Verfahren der Redundanz gern in Werbetexten verwendet, z. B.:
Abb. 93.4: Semiotische Redundanz (Jegensdorf 1980, 74)
Selbstverständlich gibt es nur eine begrenzte Anzahl von Lexemen oder Redewendungen, deren Bedeutung sich approximativ mit typographischen Mitteln ausdrücken lässt.
4.2.4. Graphostilistische Sinnkonstitution am Beispiel von Bildgedichten Beim graphostilistischen Beispiel zum Lexem nervös ist davon auszugehen, dass zunächst die lexikalisch-syntaktische Aussage formuliert wurde und dass sie sekundär durch typographische Elaboration ein stilistisches Verstehenssupplement erhielt. Durch graphische oder typographische Mittel kann jedoch auch parallel zur lexikalisch-thematischen Textaussage Sinn konstituiert werden. In literarischen Texten gibt es dafür die Tradition des Bildgedichtes (auch Figurengedicht genannt). Hier wird die lexi-
Abb. 93.5.
93. Stilistische Phänomene der Schreibung und Lautung
1559
Abb. 93.5 und 93.6: Abbildung der Denotate durch Typographie (Rabelais und Morgenstern)
kalisch formulierte Thematik bzw. Textbedeutung unabhängig bzw. zusätzlich graphostilistisch konstituiert. Durch räumliche Textgliederung oder durch drucktechnische Umriss-Gliederung werden die thematisierten Lexeme visuell dargestellt. Das berühmteste ⫺ und vermutlich älteste ⫺ Beispiel ist das Gedicht auf die ,Göttliche Flasche‘ von Rabelais; Riesel (1978, 139) führt aber auch ein vergleichbares Gedicht von Morgenstern an. Wenn hier jeweils das stichwortartige Lexem durch die typographisch-räumliche Textanordnung umrisshaft visualisiert wird, können solche Bildgedichte sogar prozesshafte Abläufe abbilden, z. B.:
Abb. 93.7: Dynamik durch Typographie (Gomringer 1972, 61)
Da der in üblicher Typographie angeordnete Text nur ein einziges (allerdings wiederholtes) Lexem enthalten würde, liefert der graphostilistische Text einen deutlichen Zugewinn an Textsinn. Dieser ließe sich etwa paraphrasieren als: ,Der Wind ist in dynamischer Bewegung, und zwar in unterschiedliche Richtungen.‘ In der graphostilistischen Anordnung von Gomringer wird also zusätzlicher Textsinn konstituiert.
5. Phonostilistik und Graphostilistik: Leistung, Grenzen, Desiderata Phänomene der Schreibung und der Lautung können Texte nachhaltig stilistisch markieren. Sie sind daher bei der Stilanalyse unbedingt zu berücksichtigen ⫺ allerdings unterschiedlich nach Textsorten und literarischen Genres. Phänomene der Lautung sind im Bereich der literarische Texte in der Lyrik relevant, darüber hinaus in Reden, Werbetexten, Sprichwörtern, religiösen Texten usw. Zur Phonostilistik gibt es eine reiche Forschungsliteratur; sie wird extensiv angewandt in der Stilanalyse literarischer Texte. Die Möglichkeiten zur Sinn- bzw. Stilkonstitution durch Lautung sind begrenzt. Viele Interpretationen sind spekulativ und methodisch nicht im-
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
mer gesichert. Eine Stilanalyse muss methodisch wohl fundiert und interpretativ zurückhaltend geschehen. Die Anzahl an Publikationen zur Graphostilistik ist vergleichsweise gering (vgl. u. a. Bennett et al. 1977). Stilistische Phänomene der Schreibung werden in Comics, in der elektronischen Kommunikation und in Werbetexten genutzt, in einigen Bereichen ⫺ etwa der graphischen Hervorhebung ⫺ intensiv in Fachtexten verwendet. Abgesehen von Bildgedichten werden die graphostilistischen Möglichkeiten in literarischen Texten verblüffend wenig ausgeschöpft. Hier bestehen noch weite Entfaltungsmöglichkeiten für dichterischen Ausdruck. Phonostilistische und graphostilistische Textuntersuchungen bewegen sich weitgehend im punktuellen Bereich mikrostilistischer Analysen. Desiderat ist die Ausweitung auf textbezogene makrostilistische Analysen.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
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Bernd Spillner, Duisburg (Deutschland)
94. Stilistische Phänomene der Wortbildung
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94. Stilistische Phänomene der Wortbildung 1. 2. 3. 4. 5.
Wortbildung und Stil Linguistische Grundlagen Stilmittel und Stilwirkung Ausblick Literatur (in Auswahl)
Abstract Word-formation has a particularly rich contribution to make to style because of its various dynamics: productivity, relationship within paradigms and patterns, coinage for momentary textual needs, proliferation and lexicalization. Whereas composition and derivation are of polyvalent use (stylistic effects depending largely on the context), some other types, like blends or inflectives, attract more immediate attention. The main stylistic features are: highly connoting elements, neology and formal innovation, rule violation, iconicity and metaphor, change in the status of morphosyntactic motivation. On the text level, formally and/or semantically interrelated complex words serve as a means of cohesion, even of narrative organization; they become part of rhetoric structures, they establish genres and evoke intertextuality. Morphological evolution adapts easily to new settings, imprinting itself on modern language and life style.
1. Wortbildung und Stil Die stilistische Relevanz einer mikrostrukturellen Einheit, wie sie das Wort darstellt, scheint auf den ersten Blick gering. Die Stilistik bezieht sich „nicht primär auf das System der Phoneme, Grapheme, Lexeme und morphosyntaktischen Einheiten“ (Michel 2001, 425), sondern sieht Texte in Kommunikationssituationen als ihren Gegenstand an. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, wie stark Wortbildungsprozesse darin involviert sind ⫺ hier ein Auszug aus einem Nachrichtenmagazin: „Und was da saß und trank und redete, war in den sechziger und siebziger Jahren, von denen ich spreche, eine merkwürdige Mischung aus melancholischen Seelenbankrotteuren, Avant-Gardeoffizieren der Choleriker-Regimenter, zugereisten Genie-Aspiranten, Selbstmördern in residence, Hörlustigen und dazwischen, vereinzelt oder an wunderbaren Abenden in Klumpen beeinander, der Doderer, der Qualtinger, die Hilde Spiel, der Kurti Moldowan, der Konrad Bayer und der HC, der Arnulf Rainer […] und zusätzlich fast alle wesentlichen Damen und Herren meiner Generation, die dann das vor der Tür lauernde Österreich gedanken- und tatenmäßig aufzumischen versuchten.“ (Heller 2005, 122)
Schon diese wenigen Zeilen veranschaulichen zudem die Komplexität und die Vielfalt der morphologischen Prozesse. Die Wörter siebziger oder melancholisch repräsentieren die Kategorie der transparent strukturierten Bildungen der Alltagssprache. Zu gedankenund tatenmäßig assoziiert man vielleicht, dass Adjektive auf -mäßig stilistisch kontrovers
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
beurteilt werden (Fleischer/Michel/Starke 1993, 137). Ungewohnt erscheint aufmischen. Ein Modewort, dessen wir bald überdrüssig sein werden? Dann die Hörlustigen, zu deren Identifizierung die gar nicht präsenten Schaulustigen benötigt werden, und Kurt, der selbst nach Jahrzehnten sein -i noch nicht losgeworden ist. Wer ist außerdem mit dem Kürzel HC gemeint? Das erschließt nur das (Kultur-)Wissen: der Autor H[ans] C[arl] Artmann. Das Wort Seelenbankrotteure spannt einen bizarren metaphorischen Bogen zwischen Psyche und Finanz; bei den Avant-Gardeoffizieren der Choleriker-Regimenter wird kontextuell ein sprachliches Bild entfaltet, damit die Wortmischung von Avantgarde ⫹ Gardeoffizier (bei gleichzeitigem Aufbrechen der Wortstruktur von Avantgarde) mit Regimenter eine thematische Stützung bekommt. So „praktisch“ dieser Text für die Illustration von Wortbildungsvarianten und so originell er auch ist, die Häufung von Wortbildungsprodukten (WBP), ihr Aufbau und ihre verqueren Bezüge zueinander werden ⫺ ebenso wie andere Stilmittel ⫺ nicht einhellige Zustimmung finden. Selbst im Lichte seiner Textsorte Nachruf (auf die Inhaberin des legendären Wiener Cafe´ Hawelka) wirkt er manieriert. Das zeigt, wie differenziert die Argumentation zu Texteigenschaften auch die Wortbildung einbeziehen muss. Dazu bedarf es zuallererst des Verständnisses einiger Grundcharakteristika.
2. Linguistische Grundlagen 2.1. Wortbildungsarten Wortbildung ist ein „Bedarfssystem“ (Erben 2000, 152) zur Kreation neuer Wörter auf der Grundlage vorhandener Elemente. Die Wortbildungsmechanismen dienen aber auch dazu, den Wortschatz strukturiert verfügbar zu halten ⫺ vgl. „Wortgebildetheit“ (Fleischer/Barz 1995, 10, mit Bezug auf Dokulil). Die Verfahren der Wortbildung lassen sich primär in kombinierende und nicht-kombinierende unterscheiden (schematische Darstellungen: Barz/Schröder 2001, 197; Erben 2000, 59). Innerhalb der Kombination, mit welcher der Großteil des Wortbildungsgeschehens bestritten wird, koexistieren Komposition (Zusammensetzung) und Derivation (Ableitung, Affigierung). Die Komposita basieren ⫺ mit Ausnahme von nicht wortfähigen Konfixen (therm-/-therm, Schwieger-) ⫺ auf mindestens zwei potentiell freien (in sich ggf. wiederum komplexen) Konstituenten (Bank/ feiertag, Besucher-Andrang). Zur Herkunft aller Beispielwörter im Detail vgl. Handler o. J.; bei poetischen Prägungen wird der/die Autor/in genannt. Die Derivate bestehen aus einer wortfähigen Konstituente (⫽ Derivationsbasis) und einem Affix, je nach Position realisiert als Präfix (an/zahlen), Suffix (Bind/ung) oder ⫺ seltener, wenn beide kombiniert vorkommen ⫺ Zirkumfix (un/ausweich/lich). Die nicht-kombinierenden Verfahren gliedern sich in Konversion (Wortartwechsel) und Reduktion (Kürzung). Konversion kann ohne jede Änderung des Wortkörpers stattfinden, nur muss dann eine syntaktische oder/ und orthographische Kennzeichnung erfolgen, z. B. miteinander > das Miteinander. Ebenfalls hier eingeordnet wird u. a. die Univerbierung (⫽ WBP aus Phrasen) unter Wechsel der Wortart (Zwischen-den-Zeilen-Bösesein). Bei der Reduktion kommt das WBP durch Weglassen zustande; das reicht von einzelnen Lauten bzw. Buchstaben (A[us]zubi[ldender]) bis zu bedeutungstragenden Einheiten (Ober[kellner]) ⫺ so entsteht u. a. das klassische, aus Initialen geformte Akronym (TÜV). Der Oberbegriff heißt Kurz-
94. Stilistische Phänomene der Wortbildung
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wort; nach Ort und Art der Aussparung bzw. der lautlichen Umsetzung können Feindifferenzierungen erfolgen (Kobler-Trill 1994, 62 ff.). Komplexere Varianten verknüpfen mehrere Wortbildungsarten; in Alibi-Ich-AGlerin stecken Kürzung, Komposition und Derivation. Obwohl die einzelnen Paradigmen viel genauer im Detail als Bezugssystem für die stilistische Rezeption bedeutsam sind, muss hierzu auf weiterführende Literatur zur Wortbildung verwiesen werden (Donalies 2005; Eichinger 2000; Erben 2000; Fleischer/Barz 1995; Motsch 2004; didaktisch: Barz u. a. 2002; Bibliographie: Barz/Schröder 2000). In der Folge werden Detailbezüge von Fall zu Fall expliziert.
2.2. Produktivität und systemische Beziehungen Komplexe Wörter entstehen im Allgemeinen auf der Grundlage produktiver Wortbildungsregeln. Zu den produktiven Suffixen gehören -er, -ung, -heit, -keit, -ig, -isch, -lich, sie finden sich in neuen Wörtern wie Bemautung oder pixelig. Produktive Muster sind dennoch nicht auf beliebige Grundelemente (in diesem Sinn Basen) anwendbar. Wissenschaftliches Ziel ist es, die Domänen von Regeln durch Eruierung von Beschränkungen möglichst generalisierend und trotzdem präzise zu umgrenzen, um in der Trichotomie „potential vs. possible vs. established word“ (Rainer 2005, 335) die Kategorie der (theoretisch) überhaupt möglichen Wörter im Voraus zu bestimmen. WBP, die Produktivitätsgrenzen ausloten (und ggf. überschreiten), verschaffen sich damit stilistische Auffälligkeit (vgl. 3.1.4). Wortbildungsaktivität kann auch von Wortbildungsnestern aus betrachtet werden; das sind WBP verschiedenen Typs mit identischem Kernmorphem (Fleischer/ Barz 1995, 60; 71 ff.). Die morphologische Einfachheit, die Polysemie, die Eignung für bildliche Konzeptualisierungen und das aktualitätsbezogene Image von z. B. Netz fördern den Ausbau: vernetzen, inner-netzlich, netzspezifisch, Datennetz, Kultur-Netz, MediNetz, Netzalarm, Netz-Jünger, Netzzeitung, Supernetz, Umnetzung, Urnetz, sogar Textsortennetz. Ein anderer ⫺ der onomasiologische ⫺ Ansatz fragt nach den verschiedenen Mitteln innerhalb einer Benennungskategorie. So kann die Diminution bei Substantiven mit -chen/-lein, aber auch mit Mini-, Mikro- etc. stilistisch unterschiedlich realisiert sein.
2.3. Motivation und Bedeutung Die Kommunikation mittels komplexer Wörter ist möglich, weil auf der Grundlage der Bestandteile, der Kombinationsregularitäten, der Systembezüge, des Kontexts und des Weltwissens eine Bedeutung (oder zumindest Deutung) zugeordnet werden kann ⫺ selbst wenn das Wort noch nie angetroffen wurde. Diese Leistung komplexer Wörter basiert auf ihrer morphologischen Motiviertheit (morphosyntaktischer Aufbau: Haus ⫹ Tür > Haustür). So können Rezipienten WBP wie nanofein, Bezahl-Uni oder Dekommerzialisierung interpretieren. Die Entscheidung über eine konkrete Bedeutung ist für isolierte Wörter ⫺ insbesondere Komposita ⫺ jedoch problematisch. Ein bekanntes Beispiel aus einer linguistischen Polemik ist Fischfrau (am Markt? Sternbild? Nixe? etc.) (Heringer 1984, 2). Für die Komposition wird daher nur ein ganz allgemeines Bedeutungsgrundschema angesetzt, das besagt: Die Konstituenten haben etwas miteinander zu tun (Booij 2005, 207 ff.).
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik Erst mit Weltwissen und „post festum“ erlauben die systemischen Zusammenhänge Gruppierungen, z. B. in große Klassen wie Kopulativ- (lustig-spacig ⫽ beides zugleich) und Determinativkomposita (Hörbuch ⫽ bestimmte Art von Buch), aber auch bis hin zu ganz spezifischen Typen. Gleiche semantische Beziehungen (z. B. „Material“ bei Glasgefäß, Porzellangefäß, Plastikgefäß) werden so zu engeren Wortbildungsbedeutungen zusammengefasst, solche WBP gehören gemeinsam zu einer Wortbildungsreihe (vgl. Barz u. a. 2002, 183). Deren Identifizierung gilt für Wortbildungsforschende angesichts der unbegrenzten Möglichkeiten als die „Hölle der Semantik“ (Ortner 1997, 40). Vielfach ist die Kenntnis ganz konkreter Referenz nötig. Erst dann wird z. B. Elchtest (und sekundäre Nutzungen wie Computer-Elchtest oder Beziehungs-Elchtest) verstanden.
2.4. Wortstatus Die Entstehung neuer Wörter hat vielfältige Gründe. Es sind neue Gegenstände zu benennen (Geldkarte, Kompakthandy), neue Techniken (Suchmaschine, Funketikett), Sachverhalte (Zeitkonto, interneterfahren), sogar Dinge, die es gar nicht gibt (Partikelschwert). Auch der Wandel der Gesellschaft (Armutsfalle, multiweltanschaulich) und des Lebensstils (Alles-inklusive-Reise, Chatbeziehung) ist ⫺ neben anderen Nominationsmöglichkeiten ⫺ von Wortneubildungen begleitet. Oftmals stehen neue WBP mit der Sprache selbst und ihrer Verwendung im Zusammenhang: eine Vorstellung mit Univerbierung „auf den Punkt bringen“ (Neun-bis-fünf-Job), einen abwertend empfundenen Ausdruck ersetzen (Altersheim > Seniorenheim), einen prägnanten Begriff kreieren (Teuro ⫺ „Wort des Jahres 2002“), mit einem Wortspiel Aufmerksamkeit erzeugen („nicht nur aus Angst vor der Offenlegung von Nebentätigkeiten, sondern auch von bezahlten Nebenuntätigkeiten“), die Konstruktion variieren („kurzer Bericht“ > Kurzbericht), Bewertungen formulieren (Vorstadtelvis), Gruppenzugehörigkeit deklarieren (hammerkrass) u. a. m. (Barz/ Schröder 2001, 181 ff.; Bauer 2000, 832 f.; v. Polenz 1980, 177 f.). In Bezug auf ,Zeit und Raum‘ existieren große Unterschiede. Viele WBP bleiben innerhalb eines konkreten, ggf. einmaligen Verwendungszusammenhangs; sie sind Ad-hoc-Bildungen ⫺ auch bezeichnet als Okkasionalismen, Textwörter; letzteres deshalb, weil ihre Kreation bzw. Funktion textorientiert ist. Dies zeigt das Beispiel: „[Es] verschicken die Schulen dieses Jahr erstmalig ,Fettbriefe‘. Darin bekommen die Eltern den aktuellen Body Mass Index (BMI) ihres Kindes eröffnet.“ (Zeitungsartikel); vgl. 3.2.1. Ad-hoc-Bildungen stehen oft zusätzlich im Dienst von Originalität, Humor, Polemik und anderen Funktionen (Hohenhaus 1996, 255 ff.). Wenn sich für ein komplexes Wort ein umfassender, dauernder Gebrauch etabliert, erweitert es den Wortschatz der Sprachgemeinschaft, es wird begrifflich stabil und damit zum Lexem (Fleischer/Barz 1995, 23 f.). Solange einem solchen Wort die Markierung „neu“ anhaftet, gilt es als Neologismus (z. B. kultig; vgl. Herberg/Kinne/Steffens 2004, 196; Lemnitzer o. J.). Komplexe Wörter können im Gebrauch idiosynkratische Bedeutungszüge annehmen, welche die Morphosyntax graduell entmotivieren und/oder das WBP für bestimmte Referenzbezüge monopolisieren. Sonnenbrand oder Abkürzung sind daher teillexikalisiert. Ohne synchrone Transparenz gelten WBP (sofern als solche erkennbar) als demotiviert oder lexikalisiert. Etymologisch lässt sich eine frühere Motivierung diachron freilegen; vgl. Gefährte (⫽ „der die Fahrt mit jemand gemeinsam macht“).
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Stileffekte werden mit dem Neuheitswert angestrebt (vgl. 3.1.3), aber auch mit dem Aufbrechen etablierter Motivationsbezüge oder Lexikalisierungen (vgl. 3.1.6). Aus dem Gebrauch verschwundene WBP können stilistisch markiert als Archaismen eingesetzt werden (hochmögend, Tollhaus).
3.
Stilmittel und Stilwirkung
3.1. Wortbezogene Betrachtung 3.1.1. Wortbildungsverahren Eine stilistische Entscheidung besteht schon darin, ein WBP einzusetzen, wo auch eine andere Formulierungsmöglichkeit bestünde. Ältere Stillehren führen das z. T. recht plastisch vor: Statt des Syntagmas „Schelme mit fetten Bäuchen und krummen Beinen“ sei die kompositionelle „Ballung“ Fettbauch-Krummbein-Schelme kraftvoller, denn „ein Schlag mit der geballten Faust ist wirksamer als mit der gespreizten Hand“ (Schneider 1963, 11). Die heutige Stilistik geht zu Pauschalaussagen bezüglich ganzer Verfahren auf Distanz, weil Übergeneralisierung droht. Didaktische Charakterisierungen wie „Der Zusammenhang der Dinge: Determinativkomposita“ (Eichinger 2000, 115) bleiben vorsichtig vage. Einige Wortbildungsverfahren sind allerdings potentiell merkmalhafter. Die Reduplikation hat in der Grundbedeutung mit Intensivierung, Wiederholung und Pluralität zu tun (Booij 2005, 210 f.), oft mit deutlicher Wertungskomponente (Tamtam ⫺ abwertend für lautes Gehaben). Die Wortmischung (auch: Kontamination u. a.; engl. blending) erhält ihren Sonderstatus aufgrund einer teleskopierenden Verschmelzung meist konnotativ entlegener Bestandteile (Mülliardär, Klickeratur). Kurzwörter können zusätzlich zur Ausdrucksökonomie eine Latenz zu Umgangssprachlichkeit aufweisen: vgl. Prof [essor/in], O[rangen]-Saft (weitere Funktionalitäten vgl. Kobler-Trill 1994, 187 ff.). Die Inflektive (bibber, schwitz) und Inflektivkonstruktionen (sentimentalwerd, megazurueckknuddel) realisieren ⫺ v. a. in neuen Medien ⫺ bevorzugt affektive Kommunikationsintentionen (Schlobinski 2001, 214).
3.1.2. Konnotierende Bildungen Viele Stilwirkungen basieren darauf, dass das Wortbildungssystem konnotativ akzentuierte Muster bereit hält; vgl. den Begriff Stilfärbungen (Sowinski 2002, 364). Fleischer/ Michel/Starke (1993, 82 ff.; 132 ff.) gliedern solche Bildungen in ein System von DiaKategorien (diaevaluativ, diastratisch, etc.). Für (Ab-)Wertungen stehen zur Verfügung: Präfigierungen mit Un- (Unmensch), die „Einrahmung“ mit dem Zirkumfixpaar Ge- und -e (Geschmatze), Suffixe wie -elei/-erei (Sauferei), Personenbezeichnungen mit -ling (Ehrgeizling) und -ler (Giftler), Verben auf -eln (andächteln). Wertungsfunktion entwickeln zudem moderne, „herausgelöste“ Elemente wie -gate (Camillagate) oder Mc- (McJob, die McGesellschaft). Aufwertende, meliorative Bildungen erscheinen etwa als Komposita-Reihe mit Traum- (Traumjob), Pracht- (Prachtkleid) u. a. m. Mitunter kann die Bewertung ⫺ als Verstärkung des Grundworts ⫺ in beide Richtungen (positiv oder negativ)
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
gehen: Heidenkrach vs. Heidenrespekt. Aufgrund der semantischen Relation der Bestandteile zueinander unterscheiden sich auch: neutrales Häuschen vs. ironisch-untertreibendes Penthäuschen. Hypokorismen, also Koseformen, nutzen die Polysemie von Diminutiva (Steffl < Stefan, Lieschen, aber auch Weinchen) oder sind oft mit Kürzung und -i realisiert (Trabi); diese i-Derivation etabliert sich überhaupt als zielorientiertes Muster mit einem informellen Unterton (Ossi, Wessi, Ösi), auch pejorativ (Doofi, Klicki-Bunti-Welt); vgl. Köpcke (2002, 293 ff.). In einem zweiten großen Bereich bringen Wortbildungsstrukturen Konnotationen ihrer Provenienz ein: Fremdes Sprachmaterial importiert Kolorit und Image. Es entstehen sog. hybride WBP mit variablen Effekten, z. B. Gameschmiede (Modernität), VaudevilleGeschrei (originelle Charakterisierung), Fußball-Fiesta (Stimmung). Innersprachlich können Charakteristika einer bestimmten Varietät benutzt bzw. imitiert werden, deren Wortbildung sich durch spezifische Muster, Konfigurationen und Frequenzen auszeichnet. Solche Varietäten sind nach Löffler (2005, 19) Soziolekte, Dialekte, Funktiolekte, Mediolekte, Idiolekte, Situolekte/Stile/Textsorten, Alterssprachen und Genderlekte (zu textsortenspezifischer Wortbildung vgl. den kompakten Forschungsüberblick in Barz/Schröder 2001, 179 ff.). Dabei geht es neben der Herkunft oft eher um die Nutzung einer varietätentypischen Funktionalität: mit -itis wird nicht so sehr ,medizinische Fachsprache‘, sondern ,Krankheit‘ konnotiert, z. B. in Telefonitis oder EUAgrarsubventionitis. Auf der diachronen Achse kommen Zeitstile ins Spiel; sie beruhen u. a. darauf, dass sich innerhalb des Sprachwandels auch die Wortbildungsusancen verändern. Damit werden Texte unterschiedlicher Epochen als solche erkennbar.
3.1.3. Der Reiz des Neuen Die Neuheit als Faszinosum macht auch in der Wortbildung keine Ausnahme. Eines dieser Innovationsfelder ⫺ eine nicht bewusste Renaissance früherer Sprachstadien (Kauffer 2005, 29 ff.) ⫺ ist z. B. die graphematische Umsetzung der Komposita, wenn sich Getrenntschreibung (Steinofen Bäckerei, Unterstützungs Abteilung) bzw. Binnengroßschreibung (InterCity, KurzFilmTage) ausbreiten (Dürscheid 2000, 236 ff.). Gewöhnung lässt freilich ein Abklingen des Neuheitseffekts erwarten. Überhaupt ist zwischen der Neuheit an sich und ihrer Wahrnehmung zu unterscheiden. Viele Ad-hoc-Bildungen erfüllen unauffällig momentane Bezeichnungsbedürfnisse oder Verweisfunktionen (vgl. 3.2.1), andere wieder fallen als neu auf. Wesentlich für den Neuheitseindruck ist das Kriterium der Singularität. Selbstdeutige Komposita, die sich gut in eine Reihe einpassen, wirken weniger neu als singuläre, nicht selbstdeutige (Barz 1998, 27). Manche Neuwörter machen mit Anführungszeichen auf sich aufmerksam („Verfichtung“ im Schwarzwald), oder ihre Genese wird kontextuell „zelebriert“: „die Ministerialbürokratie gilt als gemächliche Aktenumwälzanlage“. Hermetisch angelegte Wörter wie Klagegestein (Lasker-Schüler) sichern sich ⫺ für die Alltagssprache untauglich ⫺ konservierte Neuheit in der Rezeption von Dichtung.
3.1.4. Abweichungen und ihre Graduierung Komplexe Wörter, die den Rahmen des Wortbildungssystems sprengen, ziehen damit Aufmerksamkeit auf sich und ihre Strukturierung. Sie sind (potentiell) „gewagt“, „ex-
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pressiv“ und Ergebnis expliziten (Ver-)Formwillens, z. B. in Literatur, Werbung (Janich 2001, 102 ff.); vgl. die folgende Auswahl (bes. aus Dressler 1981 u. Fleischer 1969): Ausbau bzw. Überstrapazierung von Wortbildungsmodellen: „entknüllte und glättete […] den Zettel“ (Frisch), „meine mit dir pfeilende Hand“ (Celan); Verwendung unproduktiv gewordener Wortbildungsregeln: Erzflitter (Celan), „Tod und Abertod, Schlaf und Aberschlaf, in Städten und Aberstädten“ (Broch); Veränderung der Präfix-Festigkeit: „Niederströmt die Masse“ (Becher); Verletzung von Beschränkungen für Affigierung und Komposition: Ichheiten (Th. Mann), Fremdlingin (Trakl), Überbergundtaler (Arp), unkaputtbar (Werbung Cola-Flasche), „Dennfarbe, Denngeschmack, Denngefühl“ (Heißenbüttel); schließlich ⫺ in einem Nachbarbereich der Wortbildung ⫺ systemwidrige Anwendung von Flexionsmorphologie: „der Regen ist noch regener“ (Ringelnatz), „achst, du liebsest“ (Morgenstern). Es liegt nahe, diese und andere Varianten nach Gewagtheit und Originalität genauer abzustufen. Eine nach Parole ⫺ Norm ⫺ Langue aufsteigende Abweichungsgraduierung (Dressler 1981, 427 ff.) ist hilfreich als linguistische Grundorientierung, kann jedoch ⫺ z. B. durch den Erwartungskontext ⫺ konterkariert werden.
3.1.5. Exkurs: Ikonizität und Metaphorik Zur morphosyntaktischen können andere Motivierungen hinzutreten. Das Ansprechen der „Anklangsnerven“ (Rühmkorf) über Reimphänomene und lautliche, die ikonische Primärmotivation noch kulminierende Zusatzmotivierung ist bei Tratschtrash, GossipPosse zu orten. Weiterführungen ins Konzeptuelle stehen ebenfalls offen, z. B. Intensität, Durativität in Schmiegeschwatzeschwelgehochgenuß (Gumppenberg). Auch mit der semantischen Motivation existieren Wechselbezüge, denn komplexe Wörter werden u. a. als Sprachbilder konzipiert (Mäusekino ⫽ Minibildschirm) oder führen die Metapher gleich innerhalb der Wortbildungsstruktur aus (Bierspoiler ⫽ Bierbauch). Die Bandbreite reicht von der Routinemetaphorik für die Konzeptualisierung alltäglicher Erfahrung wie (innere) Umkehr über die Verwendung lebendiger Metaphern (Preiskampf, Kompetenzloch), die Kreation frischer Metaphern (Daten-Toaster ⫽ DVDBrenner) bis zur kühnen Metapher: „der Tisch, aus Stundenholz“ (Celan). Wirkungszuschreibungen wie „Bildkraft“, „Lebendigkeit“ o. ä. sind in Kooperation mit der Metaphernforschung aufzuarbeiten. Zur Orientierung vgl. Fix (2002, 9 ff.); die dort mit Berufung auf Seidler getroffene Feststellung, dass zuviel Anschauliches störend wirken kann, erweist sich am eingangs angeführten Beispieltext.
3.1.6. Motivationsveränderung Auf der Basis bereits vorhandenen Wortmaterials operiert das Aufbrechen mehr oder weniger fortgeschrittener Demotivierung, oft als Remotivation oder ⫺ besser ⫺ Ummotivierung bezeichnet. Am einfachsten funktioniert sie mit Trennstrich (durch die liberalere Bindestrich-Komposition der neuen Rechtschreibung verfälscht sich diese Methode allerdings): bahn-körper (Mayröcker); meist in Interaktion mit dem Kontext, auch dem semiotischen: Exo-Tisch (Abbildung im Designmöbel-Katalog). Bloße „physische“ Trennung erschafft Ano Nym (Kunstfigur aus Werbung), ggf. operieren ⫺ hier raffiniert til-
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gend ⫺ andere Zeichen: WO?NEN (Titel Artikel Wohnthematik). Zu komplexeren Varianten vgl. Dressler (1981, 425 ff.), darunter mit überlangem Klammereinschub: „der Benda’ (1775⫺1832;, leicht zu merken)schen Übersetzung“ (A. Schmidt). Solche Umbildungen sind häufig zugleich ein „Wort(bildungs)spiel“ (Poethe 2002, 23; der Terminus ist selbst eines; vgl. Handler 1994). Noch stärker im Mittelpunkt stehen können Wort und Witz (u. a. mit politischen Bezügen) etwa in der Neuauffüllung von Kurzformen („MWSt ⫺ Millionen Wähler stöhnen“) bzw. in der Erfindung neuer Motivationsbedeutungen zu bestehenden Wörtern („Die edelste Nation unter allen Nationen ist die Resignation“ (Nestroy)). In bewusst homonym konzipierten Kurzwörtern wird die morphosyntaktische Reduktion durch einen Begriff mit intendierter Aussage kompensiert: verbal (⫽ Verband für angewandte Linguistik).
3.2. Textbezogene Betrachtung 3.2.1. Allgemeine Textunktionen WBP tragen ⫺ als zwei Seiten einer Medaille ⫺ einerseits zum Textaufbau bei (textkonstitutive Funktion), andererseits sind sie an der Abgrenzung von Textsorten beteiligt (textdistinktive Funktion). Zu den elementaren Textfunktionen von WBP zählt die Verflechtung, wobei Konnexions- und Referenzanweisungen interagieren (Peschel 2002, 73); zu Verflechtungsarten vgl. Wildgen (1982, 239 ff.); zur Konstitution von Isotopiesträngen vgl. Schröder (1983, 108 ff.). Hierbei sind zwei Pole zu unterscheiden: Zum einen können wiederholt ausdrucksseitig identische Elemente auftreten, auch als Simplizia oder mit verschiedenem Status innerhalb von WBP; vgl. die Verflechtungen in einem TechnikArtikel zwischen Mini-Mikro, miniaturisieren, Winz-Mikrophon, winzig, Mikrochip-Schaltkreis (Barz u. a. 2002, 62 f.; 140), die sich gezielt als Leitmotiv ausgestalten lassen (z. B. Wolf-Okkurrenzen in Hesses „Der Steppenwolf “). Zum anderen kann über Referenzidentität ein Zusammenhang zwischen morphologisch ggf. ganz verschiedenen WBP bestehen; mit „Sonnenofen in der Provence“ (Titel) > Fusionsreaktor > Wundermaschine wird innerhalb weniger Zeilen zuerst Spannung aufgebaut (Spiel mit „unsicheren Referenzpotentialen“; Fandrych 1993, 255), dann Referenz hergestellt und schließlich ⫺ hyperbolisch-ironisch ⫺ gewertet. WBP stiften in modernen, modularen Mediennutzungen Bezüge zwischen Elementen von Textkomplexen: Titel, Vorspann, ein meist dominierender Haupttext, Info-Blöcke, Kommentar etc. bis hin zu Bildunterschriften (Schröder 2000, 389 ff.). Ganz aufgelöst wird das Wort Sonnenofen erst durch den Bildtext „Reaktorkammer […] Heißer als im Innern der Sonne“. Es entsteht daraus auch eine flächige Narrativik. Im linearen Erzählen können WBP Schlüsselrollen in einer durchkomponierten Textprogression einnehmen. Kauffer (2005, 89 ff.) zeigt, wie ein ganzer DürrenmattKrimi auf das Wort Igelriese konvergiert; er liefert zudem eine Methodik, diese „re´seaux de composition“ (241 ff.) genauer darzustellen.
3.2.2. Strukturelle Stilisierungen Einem prononcierteren Stilwillen zuzuschreiben sind rhetorische Strukturen. Dazu gehören etwa Wiederholungen ähnlich aufgebauter WBP: „die dienstbaren Geister im Hotel,
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die Wasserskibootkapitäne, Schnorchelinstruktoren und Strandtuchverwalter“, die in diesem Fall eine einheitliche ⫺ ironische ⫺ Lesart nahelegen (Peschel 2002, 133). Formal strenger ist die strukturbildende Wiederholung eines Ableitungsverhältnisses, hier der Nomina agentis auf -er: „Es steigt der Steiger / bis er nicht mehr steigt / es schweigt der Schweiger / bis er nicht mehr schweigt […] es dichtet der Dichter / bis er nicht mehr dichtet“ (Bernhard). Die Bündelung zu Textkomplexen kann ebenfalls extrem stilisiert ausgeführt werden: Im Textkasten einer Zeitung werden z. B. drei thematisch verschiedene (!) Kurzmeldungen mit verwandten komplexen Wörtern übertitelt und „zusammengehalten“: Sensibel (Schuldeingeständnis), Sensor (Bieretikett zeigt Trinktemperatur), Sensation (Dinosaurierfund) (Kleine Zeitung). Eine Klimax bildet „ALLESKLEBER / IMMERKLEBER / SUPERKLEBER““ (Werbung), chiastisch angelegt ist „Weltbilder ⫺ Bilderwelten“ (Titel Ringvorlesung); zu weiteren Formen und zur Rolle der rhetorischen Änderungskategorien vgl. Poethe (2002, 24 ff.). Über die Frequenz werden wortartbezogene Stile wie Nominalstil, Verbalstil definiert (vgl. Fleischer/Michel/Starke 1993, 196 ff.); die Wortbildung trägt dazu mit ihren Konversionsmitteln bei.
3.2.3. Paradigmenbezüge und Intertextualität Intertextualität lässt sich bereits auf Wortebene postulieren, wenn unikale Bezüge zwischen WBP etabliert werden, die formal zwar Analogie oder Paradigmenausbau darstellen, funktional jedoch die Verbindung zu einem ganz konkreten Wort in den Mittelpunkt stellen, z. B. Ich-und-meine-Mutter-AG (< Ich-AG), Wahlbekanntschaften (< Goethes Wahlverwandtschaften); mit einer ganzen Serie an weiteren Wortspielen auf einem Gutscheinheft im Führerschein-Design: „Sparschein / saving licence […] sparta fil knetko / bon de fresalo / essenzeddel“ (angelehnt an die mehrsprachigen Dokumentbezeichnungen „Führerschein / driving licence / etc.“) Folgende Anspielungen betreffen bereits größere Strukturen (Syntagmen, Sätze) wobei die Variation ebenfalls in der Morphostruktur eines WBP stattfindet: „Wem die Sperrstunde (< Stunde) schlägt.“, „Die quotierte (< flambierte) Frau.“ Anspielungen „sind Aufmerksamkeitsverstärker, […] relativieren das normative Fundament des Handelns [und bringen] Bewegung in das Sprachgeschehen.“ (Wilss 1989, 71). Eine Sondervariante ist die Parodie, bei der es darum geht, formale Ähnlichkeit aufzubauen und mit einer anderen Proposition zu kombinieren. Die Bezugnahme auf das Original kann dabei WBP mitbetreffen oder überhaupt darauf basieren (wenn es sich durch markante morphologische Konfigurationen auszeichnet), so in folgendem Beispiel: „Nach ununterbrochener jahrzehntelanger Willensanstrengung, ja Willensüberanstrengung, die mein Gedächtnis naturgemäß auf das Ekelhafteste und Widerwärtigste strapaziert hatte, […]“ (Bieler 1990, 77, als Parodie des Stils von Thomas Bernhard)
Ganze Stilmuster (als formale Gebrauchsbedingungen von Textmustern; vgl. Fix 1999, 17) sind auch bei der Textmustermischung angesprochen, die mittlerweile Teil unserer Kommunikationskultur ist: „Vor langer, langer Zeit begaben sich drei Wanderer auf die Suche nach dem Haus der himmlischen Köstlichkeiten […] Beherzt traten sie ein, stimmten voller Inbrunst Lobgesänge an […] ehe sie sich das festliche Truthahn Deluxe Menü bestellten.“ (Weihnachts-Werbung Schnellrestaurant)
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Textsortentypische Lexik, darunter auch WBP (z. B. beherzt, Lobgesänge), steuert hier ⫺ mit anderen Anhaltspunkten ⫺ die Textsortenidentifikation in Richtung biblisch-märchenhafte Erzählung.
4. Ausblick Wie ist es nun, ein Jahrhundert nach ihrem expliziten Beginn (Spitzer 1910), um die Wortbildungsstilistik bestellt? Es liegen umfangreiche Gesamtdarstellungen zur Wortbildung vor, die Stileigenschaften integrieren, es besteht reges Forschungsinteresse an Wortbildung im Text, und virulente Einzelphänomene (Inflektive, i-Derivation, Verschriftung etc.) werden rasch und umfassend auch funktional analysiert (vgl. aktuelle Literatur in 5). Für Typen von Kommunikationskontexten, die zudem mit Textsorten in Verbindung gebracht werden können, eruiert die Forschung den Konnex zwischen vorherrschenden Stilzügen und den eingesetzten Wortbildungsmitteln genauer ⫺ in literarischen Texten (Handler 1993), Jugendsprache (Elsen 2003), Fachtexten, Produktbezeichnung, Journalismus, Werbung u. a. (vgl. „Praxisfelder“: Barz/Schröder/Fix 2000). Nicht zuletzt steht zur sprachkritischen Beurteilung von WBP ein differenzierter Argumentationskatalog bereit (Donalies 2003). Für die Lebendigkeit des Objektbereichs selbst ist symptomatisch: In der Verschränkung mit Grafikdesign haben WBP Anteil an semiotisch komplexeren Botschaften (z. B. in einem Zeitungstitel Rückblick ⫺ Ausblick ist ersteres gespiegelt von rechts nach links geschrieben). Höchst präsent sind sie zudem in neuen Medien, z. B. mit Phrasen-Kürzeln (HDL ⫽ Hab dich lieb); jede Web- oder Mail-Adresse ist ein Produkt spezieller Morphosyntax, worin außerdem spezifische Qualitäten gefragt sind, vgl. www.gastrojobs.at (Transparenz), www.lebenshilfe.de (Lexikalisierung), www.kochen-und-geniessen.de (Phrasen-Durchkopplung). Sekundärnutzungen lassen ebenfalls nicht auf sich warten: Tast@tur, Wert.Brief, www.preise.ade. Auf Computerbildschirmen wird die Statik der Textrepräsentation aufgehoben ⫺ auch Wortbildung findet sich als Animation realisiert; Komposita werden mitunter durch separate Verlinkung neu aufgeschlüsselt (z. B. Regen/ schauer ⫺ führt auf einer Wetter-Website zu zwei Definitionen). Der Wert von Wortbildungkreationen wird nicht nur im klassischen Markenbereich (GORE-TEX “), sondern auch für Ideen und Prozeduren (Softstorno“ für ein jederzeit kündbares Abo von Der Standard) erkannt und geschützt. Über gegenwärtige Tendenzen hinaus ist stets mit Überraschungen zu rechnen: Wortbildung wird unseren Sprach- und Lebensstil weiter an- bis aufregend mitgestalten.
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und Wortschätzen. 1. Halbbd. Berlin/New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 21.1), 363⫺370. Spitzer, Leo (1910): Die Wortbildung als stilistisches Mittel. Exemplifiziert an Rabelais. Nebst einem Anhang über die Wortbildung bei Balzac in seinen „Contes Drolatiques“. Halle a. S. (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie XXIX). Wildgen, Wolfgang (1982): Makroprozesse bei der Verwendung nominaler Ad-hoc-Komposita im Deutschen. In: Deutsche Sprache. Zeitschrift für Theorie, Praxis, Dokumentation 10, 237⫺257. Wilss, Wolfram (1989): Anspielungen. Zur Manifestation von Kreativität und Routine in der Sprachverwendung. Tübingen.
Peter Handler, Wien (Österreich)
95. Stilistische Phänomene der Lexik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Neologismen und Archaismen Lehnwort und Fremdwort Denotation und Konnotation Pragmatische Merkmale von Lexemen Phraseologismen Synonymie und Antonymie Schlussbemerkung Literatur (in Auswahl)
Abstract This contribution describes lexical phenomena which are relevant for text generation from a stylistic point of view. The selection of specific lexical units basically determines the stylistic quality of a text. Microstylistic elements are exemplified that convey a potential stylistic value on the lexical level and contribute as linguistic means to the perception of style as a whole throughout the entire text: neologisms, archaisms, loan words and foreign words, vulgarisms, dialect words, phraseological units, synonyms and antonyms. Moreover, denotation and connotation issues and their relation to the stylistic quality of lexemes are discussed. Partly, some of these phenomena have already been covered in the volume HSK “Lexicology” (2002 f.), however, from a different linguistic perspective.
1.
Neologismen und Archaismen
1.1. Neologismen Neologismen und Archaismen sind das Ergebnis von Neologie und Archaisierung, die neben Entlehnung und Bedeutungsveränderung eine entscheidende Rolle im Rahmen der Wortschatzentwicklung spielen. Der sprachwissenschaftliche Terminus Neologismus, der
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und Wortschätzen. 1. Halbbd. Berlin/New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 21.1), 363⫺370. Spitzer, Leo (1910): Die Wortbildung als stilistisches Mittel. Exemplifiziert an Rabelais. Nebst einem Anhang über die Wortbildung bei Balzac in seinen „Contes Drolatiques“. Halle a. S. (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie XXIX). Wildgen, Wolfgang (1982): Makroprozesse bei der Verwendung nominaler Ad-hoc-Komposita im Deutschen. In: Deutsche Sprache. Zeitschrift für Theorie, Praxis, Dokumentation 10, 237⫺257. Wilss, Wolfram (1989): Anspielungen. Zur Manifestation von Kreativität und Routine in der Sprachverwendung. Tübingen.
Peter Handler, Wien (Österreich)
95. Stilistische Phänomene der Lexik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Neologismen und Archaismen Lehnwort und Fremdwort Denotation und Konnotation Pragmatische Merkmale von Lexemen Phraseologismen Synonymie und Antonymie Schlussbemerkung Literatur (in Auswahl)
Abstract This contribution describes lexical phenomena which are relevant for text generation from a stylistic point of view. The selection of specific lexical units basically determines the stylistic quality of a text. Microstylistic elements are exemplified that convey a potential stylistic value on the lexical level and contribute as linguistic means to the perception of style as a whole throughout the entire text: neologisms, archaisms, loan words and foreign words, vulgarisms, dialect words, phraseological units, synonyms and antonyms. Moreover, denotation and connotation issues and their relation to the stylistic quality of lexemes are discussed. Partly, some of these phenomena have already been covered in the volume HSK “Lexicology” (2002 f.), however, from a different linguistic perspective.
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Neologismen und Archaismen
1.1. Neologismen Neologismen und Archaismen sind das Ergebnis von Neologie und Archaisierung, die neben Entlehnung und Bedeutungsveränderung eine entscheidende Rolle im Rahmen der Wortschatzentwicklung spielen. Der sprachwissenschaftliche Terminus Neologismus, der
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sich in den Disziplinen Lexikologie und Lexikographie um die Mitte des 20. Jahrhunderts etabliert hat, ist nicht streng definiert und weist eine auffällige Vagheit und Uneinheitlichkeit auf (Herberg/Kinne/Steffens 2004, XI). Allgemein ist darunter „eine lexikalische Einheit bzw. eine Bedeutung“ zu verstehen, „die in einem bestimmten Abschnitt der Sprachentwicklung in einer Kommunikationsgemeinschaft aufkommt, sich ausbreitet, als sprachliche Norm allgemein akzeptiert und in diesem Entwicklungsabschnitt von der Mehrheit der Sprachbenutzer über eine gewisse Zeit hin als neu empfunden wird.“ (Ebd., XII). Neologismen befriedigen den Bedarf an Neubenennungen für Gegenstände und Sachverhalte in einer Kommunikationsgemeinschaft, wobei man zwei Neologismentypen unterscheidet: (1) Neulexeme: Einwortlexeme (z. B. Datenautobahn, Elchtest, Jahrhundertflut, Ozonloch) und Wortgruppenlexeme (z. B. Runder Tisch, die Mauer in den Köpfen, die Chemie stimmt (nicht)), die in ihrer Einheit aus Form und Bedeutung im deutschen Wortschatz bis zu einem mehr oder weniger genau bestimmten Zeitpunkt nicht vorhanden waren (zu Wortgruppenlexemen s. 5). (2) Neubedeutung (Neusemem, Neosemantismus): neue Bedeutung, die zu einem im Deutschen etablierten mono- oder polysemen Lexem zu dessen vorhandener Bedeutung bzw. zu dessen vorhandenen Bedeutungen als neues Semem hinzukommt (z. B. Maus, Peanuts, Schüssel) (vgl. Herberg/Kinne/Steffens 2004, XI; Herberg/Kinne 1998, 1 f.). Von den Neologismen sind die Okkasionalismen oder Ad-hoc-Bildungen (Gelegenheitsbildungen) zu unterscheiden, die aus der Situation heraus oft nur vorübergehend verwendet werden und dann in der Presse häufig in Anführungszeichen und zum Teil mit Erklärungen erscheinen, da ihre Bedeutung nicht vorausgesetzt wird. Auch ein zeitgeschichtlicher Neologismus ist wie jeder Neologismus „in seiner Ur- bzw. Entstehungsphase zunächst ein Okkasionalismus“ (Kinne 1996, 346) und durchläuft folgende Phasen (vgl. ebd.): Entstehung (eine neue lexikalische Einheit oder neue Bedeutung kommt aufgrund kommunikativer Bedürfnisse auf und breitet sich aus, z. B. die Neubedeutung von Wende für die Änderungen in den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems, besonders in der DDR 1989, oder das Neulexem Kollateralschaden), Usualisierung (Übernahme in den allgemeinsprachlichen Wortschatz der Standardsprache), Akzeptierung (das Wort oder die Bedeutung wird als sprachliche Norm allgemein akzeptiert) und Lexikalisierung (lexikographische Speicherung als Bestandteil des allgemeinen Wortschatzes). In den Medien werden Neologismen im Zusammenhang mit bestimmten gesellschaftspolitischen Ereignissen verwendet: Während des Kosovokrieges wurde 1999 das Lexem Kollateralschaden häufig als euphemistischer Ausdruck (4.2) gebraucht für „bei einer militärischen Aktion entstehender [schwererer] Schaden, der nicht beabsichtigt ist u. nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ziel der Aktion steht, aber dennoch in Kauf genommen wird“ (Duden-UW): „Seit zwei Monaten zerfetzen Nato-Bomben und -raketen auch Frauen und Kinder in Jugoslawien, die mit Kosovo absolut nichts zu tun haben. In der Nato-Sprache heißt das ,Kollateralschäden‘, die irrtümlich entstehen.“ (Frankfurter Rundschau 28. 5. 1999, 32) „Ungenaue Begriffe wie ,humanitäre Katastrophe‘ oder ,Kollateralschaden‘, die mehr vernebeln als erhellen, wurden gedankenlos übernommen.“ (Berliner Zeitung 22. 6. 1999, 16)
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Das Wort wird in übertragener Bedeutung auch außerhalb des militärischen Bereichs verwendet: „Den militärischen Kollateralschäden, die der fehlgesteuerte Nato-Einsatz mit sich gebracht hat, ging der geistige Kollateralschaden voraus, den die Debatte um die Intervention angerichtet hat.“ (Die Zeit 6. 4. 2000, 41). „Als Kollateralschaden ist allerdings nicht nur die Glaubwürdigkeit von Grass beschädigt worden, sondern auch die des Journalismus.“ (Berliner Zeitung 22. 8. 2006, 26)
Ein Neologismus ist auch Babyklappe als Bezeichnung für eine Einrichtung zur anonymen Abgabe unerwünschter Neugeborener: „Die Caritas hat im St. Joseph Krankenhaus in Tempelhof […] eine so genannte Babyklappe eingerichtet, eine von insgesamt dreien in Berlin. Frauen, die sich außerstande sehen, ihr Neugeborenes zu behalten, können es in eine an den Außenwänden der Krankenhäuser angebrachte Klappe legen. Die Mütter bleiben anonym, es drohen ihnen keine strafrechtlichen Konsequenzen.“ (Berliner Zeitung 12. 4. 2002, 19)
Als synonyme Euphemismen werden für Babyklappe an verschiedenen Krankenhäusern auch Babyfenster, Babykorb, Babywiege, Lebenspforte, Babytür oder die Kollokation Moses Baby Fenster verwendet. Viele der Augenblicksbildungen, die eine gewisse Zeit lang in aller Munde sind, verschwinden wieder aus dem allgemeinen Sprachgebrauch und werden auch nicht in Wörterbüchern kodifiziert wie z. B. die im Zusammenhang mit der Kritik an den Anglizismen verwendeten negativ konnotierten Benennungen Denglisch, Denglish, Germeng, Neuanglodeutsch. Die Wortbildung des Deutschen bietet reichlich Möglichkeiten zur Bildung derartiger Okkasionalismen (vgl. Handler zu stilistischen Phänomenen der Wortbildung in diesem Handbuch), z. B. von Personennamen von Politikern abgeleitete Verben: genschern, kinkeln, fischern, mompern, schrödern, gaucken, riestern: „Im übrigen haben die Mitglieder des Präsidiums in der Gauck-Behörde ihre Stasi-Akten eingesehen, also sich ,gaucken‘ lassen, wie sie sagen.“ (Die Zeit 29. 9. 1995, 3) „Richtig riestern [Überschrift] Es ist erheblich einfacher und bequemer geworden, mit Hilfe des Staats fürs Alter vorzusorgen. […] Wer darf riestern?“ (Berliner Zeitung 9./10. 9. 2006, 14)
1.2. Archaismen Der Gegenpol zur Neologie ist Archaisierung als eine Art sprachlichen Wandels durch den Prozess des „Veraltens“ und schließlich „Aussterbens“ von lexikalischen Einheiten (z. B. Kanapee für „Sofa“, Oheim für „Onkel“), von bestimmten Bedeutungen lexikalischer Einheiten (Frauenzimmer ⫺ ursprünglich im 15. Jh. „Gemach für die Herrin“, seit dem 17. Jh. individualisierend für „Frau“ als Einzelwesen, im 19. Jh. negativ konnotiert für „als liederlich, leichtfertig o. ä. angesehene weibliche Person“ gebraucht) oder auch von bestimmten grammatischen Formen (Dativ-e im Singular maskuliner und neutraler Substantive auf dem Hofe, mit dem Kinde, der Gebrauch des Genitivobjekts er erinnerte
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
sich meiner statt des heute gebräuchlichen Präpositionalobjekts an mich). Lexeme oder bestimmte Bedeutungen treten vom Zentrum an die Peripherie gegenwärtigen Sprachgebrauchs. Als Ergebnis dieses Prozesses entsteht ein Archaismus. Mit diesem Terminus werden unterschiedliche sprachliche Erscheinungen angesprochen, die in Bezug auf den gegenwärtigen Sprachzustand Wörter, Wortformen, syntaktische Erscheinungen und auch Schreibungen erfassen, die für einen bestimmten Zeitraum als veraltend gelten und schließlich als veraltet beurteilt werden. Bezogen auf die Ebene der lexikalischen Organisation von Sprachen können nach Cherubim (1995, 31 f.) folgende Typen sprachlichen Veraltens unterschieden werden: (1) Lexeme können weitgehend oder vollständig aus dem Wortschatz ausscheiden und sind dann „untergegangene Wörter“ (vgl. Reichmann 1990; Osman 2007), z. B. Hälberling „Bastard“, erkennen „beischlafen“, vogtbar „mündig“. (2) Lexeme können vom allgemeinen Zentrum auf spezielle periphere Bereiche des Wortschatzes reduziert werden, wobei diese Reduktion zunächst rein quantitativ ist, weil die Denotate und damit die Bezeichnungskontexte außer Mode kommen, z. B. Binokel, Lorgnette, Zwicker; einen Diener/Knicks machen. (3) Reduktion kann auch qualitativ verstanden werden als Begrenzung auf bestimmte „sprachsytematische Zonen“, wozu die Relikte in der Wortbildung (Amboss zu ahd. bo¯zen „schlagen“), in Eigennamen (Wiegand zu ahd. wı¯gan „kämpfen“) und in Phraseologismen (Kerbholz „Holzstab, auf dem Schulden, Warenlieferungen u. ä. durch Kerben markiert wurden“ in der Wendung etwas auf dem Kerbholz haben „etw. Unrechtes, eine Straftat begangen haben“) gehören. (4) Reduktion als eine qualitative Begrenzung auf bestimmte Teilbereiche oder Varietäten der Sprache, z. B. Mündel als juristischer Begriff für „Person, die unter Vormundschaft steht“, der Betreff in der älteren Verwaltungssprache. Im weiteren Sinne schließt der Terminus Archaismus auch die Historismen ein, Bezeichnungen für historische Gegenstände und Sachverhalte wie Ablassbrief, Doge, Galeere, Hellebarde, Landauer, Trümmerfrau. Hierzu sind auch Lexeme zu zählen, die in der DDR insbesondere als Bezeichnungen für staatstypische Realien gebräuchlich waren wie Abschnittsbevollmächtigter, Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, Kaderleiter, Reisekader, Volksarmee. Der Gebrauch veralteter oder als veraltet geltender Wörter und Wendungen dient zur Erzeugung bestimmter stilistischer Effekte ganz unterschiedlicher Art. Archaismen werden als rhetorische Stilmittel in Texten und Textsorten genutzt. Nach traditionellem Stilverständnis haben Neologismen „kaum poetische Aura. Anders die Archaismen. Ihnen gilt das Interesse des Dichters, der den Untergang eines Teils seines Sprachschatzes mit Bedauern beobachtet oder die Expressivität des nicht mehr Banalen zu nutzen gedenkt.“ (Hausmann 1989, 25). Man findet sie in der Literatur z. B. zur Schaffung eines Zeitkolorits: „Der Kellner des Gasthofes ,Zum Elephanten‘ in Weimar, Mager, ein gebildeter Mann, hatte an einem fast noch sommerlichen Tage ziemlich tief im September des Jahres 1816 ein bewegendes, freudig verwirrendes Erlebnis. […] Mit der ordinären Post von Gotha trafen an diesem Tage, morgens kurz nach acht Uhr, drei Frauenzimmer vor dem renommierten Hause am Markte ein […]. Ihr Verhältnis untereinander war leicht zu beurteilen: es waren Mutter, Tochter und Zofe. Mager, der, zu Willkommsbücklingen bereit, im Eingangsbogen stand, hatte zugesehen, wie der Hausknecht den beiden ersteren von den Trittbrettern auf das Pflas-
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ter half, während die Kammerkatze, Clärchen gerufen, sich von dem Schwager verabschiedete, bei dem sie gesessen hatte […].“ (Thomas Mann, Lotte in Weimar, 9).
Auch in den gegenwärtigen Medien erfüllen sie diese Funktion: „Den [,Grünen Diamanten‘] trug Sachsens Sonnenkönig August der Starke weiland bei hohen Anlässen“. (Berliner Zeitung 9./10. 9. 2006, 40)
Distanzierend oder ironisierend/scherzhaft bzw. altertümelnd werden sie verwendet, z. B. Beinkleid, Konterfei, alldieweil, hochgelahrte Festversammlung, des Diskutierens war zu viel, eine artige Empfehlung an den Herrn Gemahl. Archaismen können in der Gegenwartssprache aktualisiert werden: Zu den Schlüsselwörtern der Wendezeit (Herberg/Steffens/Tellenbach 1997) gehörte z. B. die viel gebrauchte Metapher Wendehals für eine Person, die aus Opportunismus (plötzlich) das politische Lager wechselt und sich den neuen Verhältnissen sehr schnell anpasst. Dieser Gebrauch ist bereits im „Deutschen Wörterbuch“ von Jacob und Wilhelm Grimm mit einem Beleg aus dem Jahre 1605 ausgewiesen und findet sich in der Neubearbeitung des „Deutschen Wörterbuches“ (2002) von Hermann Paul mit dem Hinweis „schon 1575 übertr. für den ,wetterwendischen Menschen‘“: „Wie manch anderer ,Wendehals‘ in der DDR hat auch Karl-Eduard von Schnitzler versucht, sich dem Neuen anzupassen. So tönte er, nichts dürfe jetzt die Politik der Wende behindern“. (Frankfurter Allgemeine Zeitung 1. 11. 1989, 3).
Droschke, ein Wort russischen Ursprungs, das Anfang der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts im Deutschen von Berlin aus für „Taxi“ verbreitet worden ist, wurde wieder belebt, als die Angestellten der öffentlichen Verkehrsmittel 1996 in Berlin streikten: „Wer morgens über die Zentrale nicht sofort eine Droschke bekommt, sollte zum nächsten Halteplatz gehen und dort anrufen“. (Berliner Zeitung, 21. 5. 1996, 2)
Ein Mittel zur Erfassung von Archaismen kann das Wörterbuch sein. Zur Kennzeichnung von Archaismen in gegenwartssprachlichen Wörterbüchern dienen die sprachbezogenen Grundmarkierungen „veraltend“ (z. B. Kanapee „Sofa“) und „veraltet“ (z. B. Eidam „Schwiegersohn“, Oheim „Onkel“, Muhme „Tante“), um den Prozess des Veraltens und Aussterbens lexikalischer Einheiten anzudeuten, wobei die Grenzziehung zwischen beiden Markierungsprädikaten (meist) auf dem Sprachgefühl bzw. der Kompetenz der Lexikographen beruht und die Zuordnung auch ein Generationsproblem ist (Ludwig 1997, 69 ff.; 2004, 173 ff.). Neben diesen Markierungen erscheint „historisch“ als sachbezogene Angabe in den Wörterbüchern zur Kennzeichnung von Historismen (Hellebarde, Leibeigenschaft). Die Untersuchung des Schwundes von Wörtern, Wendungen und bestimmten Bedeutungen gehört gegenüber den Forschungen zur Neologie zu den weniger untersuchten Aspekten der Wortschatzentwicklung. Die Untersuchung der Archaisierung ist ein weit schwierigeres Problem. Wann ein Neologismus (vgl. Kollateralschaden, Babyklappe, Elchtest) aufkommt, erstmals verwendet worden ist, ist häufig genau, zumindest leichter zu bestimmen als die Qualifizierung eines Wortes oder einer bestimmten Bedeutung als Archaismus. Aber über individuelle und soziale Unterschiede hinweg gibt es bei der Beurteilung eines Lexems (Semems) als Archaismus „so etwas wie ein kollektives
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Wissen um die zeitliche Gültigkeit der Gebrauchsregeln von Wörtern, Wortbedeutungen, Worteigenschaften“ (Reichmann 1990, 1153; vgl. Art. 110 in diesem Handbuch). Wörterbücher mit irreführenden Titeln wie „Lexikon der bedrohten Wörter“ (Mrozek 2005; 2006) oder zusammengefasst in einem Band „Rotbuch Deutsch. Die Liste der gefährdeten Wörter“ und „Schwarzbuch Deutsch. Die Liste der untergegangenen Wörter“ (Thiele 2006), die mehr Unterhaltungswert haben als wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, enthalten eine äußerst subjektive Auswahl und Zuordnung von Lexemen zu den Kategorien „bedroht“, „gefährdet“ oder „untergegangen“ und ersetzen keinesfalls ein deutsches Archaismenwörterbuch, das nach wie vor ein Desiderat der germanistischen Lexikographie bleibt (vgl. Ludwig 1997, 75 ff.; 2004, 182 ff.).
2. Lehnwort und Fremdwort Lehnwort dient im weiteren Sinne als Oberbegriff für Fremdwort und Lehnwort. Im engeren Sinne werden darunter Entlehnungen verstanden, die sich in Lautung (Aussprache und Betonung), Schreibung und Flexion vollständig der entlehnenden Sprache angeglichen haben und bei synchroner Betrachtung oft nicht von heimischen Lexemen zu unterscheiden sind (z. B. Fenster < lat. fenestra, Streik < engl. strike, Gurke < poln. ogorek). Im Unterschied dazu ist das Fremdwort eine Entlehnung aus einer fremden Sprache, die im Unterschied zum Lehnwort in Lautung, Schreibung und Flexion (noch) nicht in das Sprachsystem der Nehmersprache integriert ist (z. B. Fan, Chaussee, Palais, Trottoire) und als nicht assimiliertes Lehnwort gilt, wobei die Grenze zwischen beiden Entlehnungsstufen fließend ist. Von der lexikalischen Entlehnung (Fremdwort und Lehnwort) wird die Lehnprägung als Oberbegriff für alle Formen semantischer Entlehnung mit den Subklassen Lehnbedeutung und Lehnbildung unterschieden, wobei Lehnbildung wiederum in Lehnübersetzung, Lehnübertragung und Lehnschöpfung differenziert wird. Mit Lehnbedeutung ist die Übernahme der Bedeutung eines fremdsprachlichen Lexems gemeint (z. B. dt. Held „literarische Hauptfigur“ unter Einfluss < engl. hero). Mit Lehnübersetzung ist die Glied-für-Glied-Übersetzung eines fremdsprachlichen Lexems in die eigene Sprache gemeint (z. B. dt. Halbwelt < franz. demi-monde), mit Lehnübertragung die nur annähernde, freiere Übersetzung eines fremdsprachlichen Lexems in die eigene Sprache (z. B. dt. Wolkenkratzer < engl. skyscraper) und mit Lehnschöpfung die relativ freie semantische Nachbildung eines fremdsprachlichen Lexems in der eigenen Sprache (z. B. dt. Umwelt < franz. milieu). Es gibt verschiedene Versuche zur Klassifizierung der Entlehnung nach dem Grad ihrer Assimilation in die indigene Sprache, eine einheitliche Terminologie hat sich bisher nicht etabliert hat (Bußmann 2002, 193; Glück 2005, 172). Die stilistische Beurteilung von Fremdwörtern ist sehr unterschiedlich und reicht von puristischen Bestrebungen, insbesondere durch die Sprachgesellschaften im 17. Jh. und die spätereren auf „Reinheit“ der deutschen Sprache bedachten Sprachkritiker wie Campe, bis zu „Prestige-Zuschreibungen“ (Bußmann 2002, 227) und erreichte in den letzten zehn Jahren einen erneuten Höhepunkt mit der Kritik an der Verwendung von Anglizismen (vgl. z. B. Krämer 2000; Bartzsch/Pogarell/Schröder 2007). In zahlreichen Publikationen wird die „Anglisierung“ diskutiert, der nach dem Einfluss des Lateinischen und des Französischen „dritte große Entlehnungsvorgang in der deutschen Sprach-
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geschichte, in der Auswirkung bisher der weitaus schwächste“. Allerdings sei „inzwischen ziemlich gewiß“, dass dieser Einfluss „sehr zunehmen wird“ (Pörksen 2005, 13). Es werden Für und Wider dieses Vorganges diskutiert, insbesondere auch im Zusammenhang mit dem Problem, das Deutsche als Wissenschaftssprache zu erhalten (vgl. Hoberg 2002; Pörksen 2005). Der Dichter Durs Grünbein (2005, 95) meint lapidar zu dieser Problematik: „Leider sind, bei vorurteilsloser Schreibpraxis, gewisse Kollateralschäden im ,Interferenzbereich zwischen Deutsch und Englisch‘ nicht ganz auszuschließen.“ Möglicherweise könnte es zu derartigen „Kollateralschäden“ kommen, wenn der Leser in einer Tageszeitung zum Thema „Sex sells Dinkelbrot“ u. a. im Abschnitt „Bio and the City“ den Kommentar zu einem Werbeplakat findet, auf dem eine junge Frau ein hautenges weißes TShirt mit der Überschrift „Alles Bio, alles echt“ über den Brüsten trägt: „Das wirkt jung, urban und hip, und Sex sells sogar Dinkelbrot, haben sich die Marketingexperten offenbar gedacht.“ (Berliner Zeitung 25. 1. 2005, 17). Oder: „Im Grunde genommen war ,Die Lettin und ihr Lover‘ aber gar kein richtiger Krimi, sondern wurde immer mehr ein Roadmovie gen Lettland […].“ (Berliner Zeitung 18. 9. 2006, 34) Bei der stilistischen Beurteilung des Gebrauchs von Fremdwörtern und damit auch der Anglizismen sollte die Grundregel nicht sein, grundsätzlich so viele Fremdwörter wie nur möglich zu vermeiden und durch heimische Wörter zu ersetzen. Die adäquate LexikAuswahl ist stets dem funktionalen Charakter des jeweiligen Textes verpflichtet und unterliegt keinen festen Regeln. Als allgemeine Hinweise zur Verwendung von Fremdwörtern werden in den Stilistiken u. a. angeführt (vgl. Fleischer/Michel/Starke 1993, 87 ff.): (1) Fremdwörter und heimische Äquivalente dienen nebeneinander der Ausdrucksvariation. (2) Sogenannte umfassende Fremdwörter mit großer Bedeutungsextension (z. B. interessant, problematisch) können die aktuelle, genauere Bedeutung im Text in der Schwebe lassen. (3) Fremdwörtern kann im Vergleich zu den entsprechenden heimischen Wörtern eine diasystematische Markierung (s. 4) anhaften, z. B. eine diastratische Markierung (s. 4.1) wie „gehoben“ bei kredenzen statt anbieten („als Leckerbissen wird noch ein Kässpatzenessen kredenzt“ (Augsburger Allgemeine 29./30. 4. 1978, XXIX)) oder eine diaevaluative (s. 4.2) z. B. „abwertend“ bei Aggression statt Angriff, Gazette statt Zeitung, Elaborat statt Machwerk, Visage statt Gesicht. (4) Fremdwörter sind auch Fachwörter und dienen dazu, den Gegenstand oder Sachverhalt entsprechend fachspezifisch zu benennen. So sind die Lexeme des Computerwesens zum größten Teil Fremdwörter. Dass sie auch in die Belletristik Eingang gefunden haben, zeigt folgender Textauszug: „Bereits als die Dinger [Computer mit Internet-Anschluss] auf den Markt kamen, habe ich mir einen Mac mit Modem angeschafft. Mein Beruf verlangt diesen Abruf weltweit vagabundierender Informationen. Lernte leidlich, mit meinem Computer umzugehen. Bald waren mir Wörter wie Browser und Hyperlink nicht mehr böhmisch. Holte Infos für den Gebrauch oder zum Wegschmeißen per Mausklick rein, begann aus Laune oder Langeweile von einem Chatroom zum anderen zu hüpfen und auf die blödeste Junk-Mail zu reagieren, war auch kurz auf zwei, drei Pornosites und stieß nach ziellosem Surfen schließlich auf Homepages, in denen sogenannte Vorgestrige, aber auch frischgebackene Jungnazis ihren Stumpfsinn auf Haßseiten abließen.“ (Günter Grass: Im Krebsgang, 8).
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3. Denotation und Konnotation Für die Stilistik und Rhetorik spielt die Polarität von Denotation vs. Konnotation insofern eine besondere Rolle, als bei der Textgestaltung die mit Konnotationen „behaftete“ Lexik zu beachten ist. In der Polarität Denotation vs. Konnotation wird Denotation verstanden als die „kontext- und situationsunabhängige, konstante begriffliche Grundbedeutung eines sprachlichen Ausdrucks“ (Bußmann 2002, 152) bzw. „die Gesamtheit der kontextunabhängigen, objektbezogenen, distinktiven semantischen Merkmale“ (Glück 2005, 130), wofür häufig „denotative Bedeutung“ verwendet wird. Der Denotation bzw. denotativen Bedeutung wird die Konnotation gegenübergestellt ⫺ ein in der Fachliteratur ebenfalls nicht einheitlich gebrauchter Terminus ⫺ und in diesem Gegensatz verstanden als: „Individuelle (emotionale) stilistische, regionale u. a. Bedeutungskomponenten eines sprachlichen Ausdrucks, die seine Grundbedeutung überlagern und die ⫺ im Unterschied zur konstanten begrifflichen Bedeutung ⫺ sich meist genereller, kontextunabhängiger Beschreibung entziehen“ und auch als „konnotative Bedeutung“ bezeichnet wird (Bußmann 2002, 368; zum Begriff der Konnotation vgl. Rössler 1979; Dieckmann 1981, 78 ff.; Ludwig 1991, 5 ff.; Schippan 1992, 133 ff.). Konnotationen sind Mitinformationen ganz unterschiedlicher Art, die beim Gebrauch bestimmter Lexeme vermittelt werden können. Bereits Erdmann (1900) unterscheidet „am Worte dreierlei“: „den begrifflichen Inhalt von größerer oder geringerer Bestimmtheit“, den „Nebensinn“ und den „Gefühlswert (oder Stimmungsgehalt)“ (107 ff.), wobei er unter Nebensinn „alle Begleit- und Nebenvorstellungen“ versteht, „die ein Wort gewohnheitsmäßig und unwillkürlich in uns auslöst“ (z. B. Krieger „Schlacht“ und „Kampf“, Lenz „die anschaulichen, reizvollen Seiten dieser Jahreszeit mit ihrem Blütenduft und Sonnenschein“), und unter Gefühlswert „Begleitgefühle“ ⫺ emotive und evaluative Werte, die bei Gebrauch des Wortes (z. B. Vaterland oder Kuss) vermittelt werden. „Es liegt eben im Wesen des Begriffes ,Mord‘, Gefühle des Entsetzens und der Empörung wachzurufen“ (ebd., 109 f.). Die Diskussion, ob Konnotationen als Seme (semantische Merkmale) einer lexikalischen Bedeutung aufzufassen sind, ist kontrovers geführt worden. Wenn man davon ausgeht, dass lexikalische Bedeutungen mentale Repräsentationen (Wissensrepräsentationen) von mehrheitlich akzeptiertem Denotatswissen sind, die durch semantische Merkmale konstituiert werden, die stereotypische Eigenschaften von Gegenständen oder Erscheinungen der Wirklichkeit widerspiegeln, wird man konnotative Qualitäten von Lexemen wie „Nebensinn“, „Gefühlswert“ bzw. emotive und evaluative Werte nicht zur Bedeutung von Lexemen zählen (vgl. Ludwig 1991, 27). Als Konnotationen werden auch stilistische oder pragmatische Merkmale aufgefasst, die die Wortwahl steuern können. Für die von Lexemen vermittelten Informationen über emotionale Einstellungen und die Informationen über den präferenten bzw. restriktiven kommunikativen Gebrauch, die sich nicht auf sterotypische Eigenschaften eines Denotats selbst beziehen, ist vorgeschlagen worden, den gobalen Arbeitsterminus nicht-denotative Informationen zu verwenden (Ludwig 1991, 46 ff.). Innerhalb des Bereichs nichtdenotativer Informationen werden zwei Gruppen unterschieden: (1) Informationen, die emotionale Einstellungen des Sprechers zum benannten Gegenstand oder Sachverhalt anzeigen, z. B. Köter für „Hund“ (dauend kläfft dieser Köter!), Gaul für „Pferd“ (der Gaul will nicht ziehen); (2) Informationen über Gebrauchspräferenzen und -restriktionen (stilistische, zeitliche, regionale, fachspezifische, gruppenspezifische Markierungen).
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Nicht-denotative Informationen sind als Bewusstseinsinhalte (neben der jeweiligen Struktur von Bedeutungen) gespeicherte Kenntnisse (Regeln) über spezifische Gebrauchweisen des betreffenden Lexems.
4. Pragmatische Merkmale von Lexemen Pragmatische Merkmale von Lexemen, die sich auf den Gebrauch von Wörtern und Wendungen beziehen, werden in den Wörterbüchern mit Hilfe pragmatischer Angaben oder pragmatischer Markierungen angezeigt, in der Metalexikographie auch als diasystematische Angaben bezeichnet, wozu stilistische/diastratische, diaevaluative, diachronische, diatopische und diatechnische gezählt werden (vgl. Hausmann 1989; Wiegand 1981; Ludwig 1991). Sie sollen als Hinweise für den Gebrauch einer lexikalischen Einheit oder einer bestimmten Bedeutung eines Lexems dienen und spielen deshalb bei der Textproduktion eine besondere Rolle. In der Lexikologie werden diese Merkmale häufig den Konnotationen bzw. der konnotativen Bedeutung zugeordnet (vgl. z. B. Schippan 1992, 155 ff.).
4.1. Stilistische/diastratische Angaben Diese Angaben, die dem Lexem im Kontext einen bestimmten Stilwert zuschreiben, reichen von gehoben über umgangssprachlich bis vulgär und werden in den Wörterbüchern gewöhnlich Stilebenen zugeordnet. Die systematische „stilistische Charakterisierung des deutschen Wortschatzes“ durch die Zuordnung zu den Kategorien Stilschichten/Stilebenen und Stilfärbungen beginnt mit dem WDG (1961, Vorwort, 011) und findet sich mehr oder weniger modifiziert in Duden-GWB, HDG und Duden-UW. Jedoch ist die lexikographische Methode, die in einem Wörterbuch verzeichneten lexikalischen Einheiten „relativ zu zwei Bezugsebenen bewertend zu kennzeichnen“ (Wiegand 1981, 148) nicht neu, sondern hat eine lange Tradition. Adelung z. B. konzipiert in der Vorrede seines „Grammatisch-kritischen Wörterbuches“ (1774⫺1786) ein fünfschichtiges System von Schreib- und Sprecharten, nach dem er die „Würde der Wörter“ kennzeichnet und sie danach „fünf Classen“ zuordnet, die mit den „Stilschichten“ bzw. „Stilebenen“ der Gegenwartslexikographie vergleichbar sind: „die höhere oder erhabene Schreibart“, die „edle“ Schreibart, „die Sprechart des gemeinen Lebens und vertraulichen Umganges“, die „niedrige“ Sprechart und „die ganz pöbelhafte“ Sprechart (Adelung I, 1774, XIV). Ein ähnliches Schema benutzt Campe in seinem „Wörterbuch Der deutschen Sprache“ (1807⫺1811) und bewertet die Wörter nach den „innern Grade ihres Adels oder ihrer Gemeinheit“ (Campe I, 1807, XIII). Er ist bemüht, „die Würdigung der Wörter“ u. a. nach „ihrer größern oder geringern Würde oder ihrer Brauchbarkeit für die höhere oder niedrigere […] Schreibart“ zu kennzeichnen (ebd., V). Hierbei bedeuten „gemein“ (Adelung) und „Gemeinheit“ (Campe) „allgemein“ bzw. „Allgemeinheit“ (zu den Markierungen bei Adelung und Campe vgl. Wiegand 1981; Ludwig 1991 und 1995). In der Gegenwartslexikographie wird Stilebene definiert als „eine innerhalb eines Kommunikationsbereichs wegen ihrer Eignung bevorzugte Möglichkeit der Sprachverwendung“ (HDG, XXII). Mit Hilfe dieser Markierung wird versucht, den Benutzer des
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
entsprechend markierten Lexems Hinweise für dessen Gebrauch zu geben. Neben der sog. normalsprachlichen bzw. neutralen Stilschicht/Stilebene, die als Basis für die „stilistische Charakterisierung“ der Lexik dient und der Lexeme zugeordnet werden, die ohne Einschränkung verwendet werden können, werden nach der stilschichtenspezifischen/stilebenenspezifischen Differenzierung die folgenden „Kernschichten“ unterschieden (vgl. Art. 108 in diesem Handbuch): (1) Als gehoben sind Lexeme markiert, die gegenüber dem entsprechenden neutralen Synonym als von den Kommunizierenden bewusst gewählt gelten und die bei feierlichen Anlässen und gelegentlich in der Literatur verwendet werden. Im sprachlichen Alltag gebraucht, wirken sie mitunter übertrieben oder feierlich, z. B. Antlitz für „Gesicht“, Eloge für „Lobrede“, Gatte für „Ehemann“, sich befleißigen für „sich eifrig bemühen“, weilen für „sich aufhalten“, währen für „dauern“. Wörter und Phraseologismen für „sterben“ wie hinscheiden, sein Leben vollenden, von der Bühne des Lebens abtreten sind Euphemismen (s. 4.2). Einen ähnlichen Stellenwert haben aus heutiger Sicht veraltete Wörter, die meist nur noch in literarischen Texten vorkommen und in den Wörterbüchern als dichterisch gekennzeichnet sind, z. B. Aar für „Adler“, Leu für „Löwe“, Odem für „Atem“, Fittich für „Flügel“. (2) Als umgangssprachlich werden Lexeme gekennzeichnet, die vorwiegend in alltäglichen und zwanglosen, insbesondere familiär-vertraulichen Situationen gebraucht werden, die keine oder keine überwiegend institutionalisierte Komponente aufweisen. Sie werden heute auch vielfach in (nichtöffentlichen) geschriebenen Texten gebraucht und dringen immer mehr in die „neutrale Ebene“ ein, z. B.: Weichei für „Schwächling“, flitzen für „ schnell laufen; schnell fahren“, kriegen für „bekommen“, gewieft für „schlau, gewitzt“, Ziegenpeter für „Mumps“. (3) Als salopp gelten Lexeme, die im Wesentlichen der mündlichen Kommunikation vorbehalten sind, bei deren Verwendung jedoch der Grad der Nichtöffentlichkeit und Nichtinstitutionalisierung, d. h. der Bekanntheits- und Vertraulichkeitsgrad der Kommunizierenden eine größere Rolle spielt als bei den als „umgangssprachlich“ gekennzeichneten Lexemen, mit denen eine betont nachlässige und zum Teil emotionale Haltung des Sprechers zum Ausdruck gebracht werden soll, z. B. Armleuchter für „Dummkopf“, Glotze für „Fernsehgerät“, Kohle für „Geld“, Visage für „Gesicht“, bekloppt sein für „nicht (ganz) bei Verstand sein“, abkratzen für „sterben“. (4) Eine weitere Schicht, die in der Graduierungsskala „unter neutral“ ausgegliedert wird, ist derb oder vulgär. Diese Markierungen erhalten Lexeme, die insbesondere in Gesprächen verwendet werden, um sich grob oder/und drastisch auszudrücken, und die verletzend wirken können. Hierzu sind vor allem auch Lexeme zu zählen, die als Schimpfwörter gebraucht werden, und Lexeme, die als anstößig empfunden und auf den Sexual- und Fäkalbereich bezogen werden und einem gewissen Tabu unterliegen. Mit diesen Markierungen wird der Benutzer darauf hingewiesen, dass der Gebrauch eines solchen Lexems nicht nur in öffentlichen Gesprächssituationen u. U. Sanktionen auslösen kann, z. B. Arsch, leck mich am Arsch, Scheiße, in der Scheiße sitzen; Fotze, Schwanz, ficken, vögeln. Diese Lexeme werden auch als Vulgarismen bezeichnet. Nach Adelung gehören diese Wörter zur „ganz pöbelhaften“ Sprechart, die „tief unter dem Horizonte des Sprachforschers“ ist und man sie daher im Wörterbuch „nicht suchen darf, außer wenn einige besondere Umstände eine Aufnahme nöthig machten“ (Adelung I, 1774, XIV). Gegen diese Auffassung wendet sich Jacob Grimm im Abschnitt „Anstöszige wörter“ seiner Vorrede zum „Deutschen Wörterbuch“
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(I, 1854, Spalte XXXII ff.). Er plädiert für die Aufnahme auch des derben Wortguts bis hin zum obszönen Wortschatz als Teil der Volkssprache: „Das wörterbuch ist kein sittenbuch, sondern ein wissenschaftliches, allen zwecken gerechtes unternehmen. selbst in der bibel gebricht es nicht an wörtern, die bei der feinen gesellschaft verpönt sind.“ (ebd., XXXIV; zu den Markierungen bei Grimm vgl. Wiegand 1981; Ludwig 2005).
4.2. Diaevaluative Angaben Diese Angaben werden in den Wörterbüchern Stilfärbungen (WDG) genannt bzw. der Kategorie Gebrauchangaben (Duden-GWB, Duden-UW) zugeordnet, die zu den Stilschichten treten können. Die Stilfärbung wird verstanden als „eine innerhalb eines Kommunikationsbereichs in Verbindung mit der Stilebene wegen ihrer Eignung bevorzugte Möglichkeit spezieller Sprachverwendung. Stilfärbungen drücken spezielle Nuancen aus, mit ihnen werden zusätzliche Gebrauchshinweise gegeben.“ (HDG, XXIII). Gebrauchsangaben sagen „etwas über die Haltung des Sprechers oder die Nuancierung einer Äußerung“ aus (Duden-GWB, 35), können „Informationen zum Gebrauch bzw. zur Sprecherintention“ geben (Duden-UW, 19). Diaevaluative Markieren sind insbesondere: (1) Markierungen, die Hinweise darauf geben, dass durch den Gebrauch lexikalischer Einheiten in bestimmten Zusammenhängen insofern die Sprecherintention angedeutet wird, als damit eine gewisse Scherzhaftigkeit oder Distanzierung zum Ausdruck gebracht werden kann: scherzhaft (Promenadenmischung „keiner Rasse zuzuordnender Hund“, meine bessere Hälfte „meine Frau“); ironisch (da bist du aber an den Richtigen „genau an den Falschen“ gekommen); spöttisch (Hinterwäldler „weltfremder, rückständiger Mensch“, neunmalklug „sich für sehr viel klüger als andere haltend“). (2) Markierungen, die darauf hinweisen sollen, dass durch die Verwendung eines entsprechenden Lexems emotional-wertende Einstellungen zu den bezeichneten Denotaten ausgedrückt werden können. Hierzu dienen vor allem die Angaben abwertend/ pejorativ (Köter für „Hund“, Tippse für „Schreibkraft, Sekretärin“, quasseln für „unaufhörlich und schnell reden“) und Schimpfwort (dieses Arschloch!, du Rindvieh!, das verdammte Aas „Auto“ springt wieder nicht an). Eine Differenzierung nach der emotionalen Wertung erfolgt auch durch den Hinweis emotional, wenn die positive oder negative Einstellung des Sprechers in der Bedeutungserläuterung selbst ausgedrückt ist (eine Unmenge „sehr viel“ Geld, mir ist das scheißegal „völlig gleichgültig“), durch emotional positiv (Heim „jmds. Wohnung als Stätte, wo er sich geborgen fühlt, sich wohl fühlt“) oder emotional negativ (Pfaffe „Geistlicher“), wenn der positive bzw. negative Aspekt nicht in der Bedeutungserläuterung zum Ausdruck gebracht werden kann. Lexeme, die evaluative und emotionale Werte ausdrücken, werden häufig mit speziellen Affixen oder Halbaffixen gebildet, z. B. Unmenge, Unsumme, uralt, urgemütlich, Erzfeind, Erzgauner, Geklopfe, Gepfeife, Dichterling, Schreiberling, Affenhitze, affengeil, Bombengehalt, Bombenerfolg, Mordsarbeit, Mordshunger, saufrech, sauteuer. (3) Zur Markierung von Lexemen, die zur euphemistischen Umschreibung eines Gegenstandes oder Sachverhaltes dienen, wird in den Wörterbüchern meist der Marker
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik verhüllend gebraucht, z. B. entschlafen für „sterben“, sie ist vollschlank „füllig, rundlich“, in anderen Umständen („schwanger“) sein, das stille/gewisse Örtchen „die Toilette“. Typische Euphemismen findet man häufig als verhüllenden Benennungen sozial negativer Ereignisse und Verhältnisse (vgl. Schlosser 2000). So traten z. B. abwickeln und Abwicklung für „liquidieren“ (eine Firma, ein Unternehmen abwickeln) bzw. „Liquidation“ seit der Wende, etwa seit 1990 in das öffentliche Bewusstsein. Diese Bedeutung tritt bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf. Aufgrund ihres Doppelsinns wurde sie für die Auflösung von Betrieben und Institutionen in der DDR euphemistisch gebraucht (vgl. Dückert 2000): „[…] für Universitäten und Hochschulen der ehemaligen DDR sind […] wichtige Entscheidungen zu treffen. Denn am 2. Januar läuft die Frist aus, zu der sie gemäß Einigungsvertrag insgesamt oder in Teilen (Instituten, Fachbereichen etc.) noch ,abgewickelt‘, das heißt aufgelöst werden können.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung 21. 12. 1990, 33) „Von 1959 bis zur Abwicklung 1990 stand er tagsüber in der Montagehalle und am Fließband eines VEB in Berlin Weißensee.“ (konkret 1997, 40)
Während der „Abwicklung“ ihrer bisherigen Arbeitsplätze gerieten viele Arbeitnehmer in die Warteschleife, wie der „Wartestand“ der Arbeitnehmer auf einen Arbeitsplatz genannt wurde ⫺ ursprünglich ein im Flugwesen und Fernsprechwesen gebrauchter Terminus: „Im Jenoptik-Konzern arbeiteten etwa 4000 Beschäftigte […] In der Warteschleife befänden sich nach ehemals 3500 noch 800 Mitarbeiter, von denen noch 250 einen Arbeitsvertrag bekommen könnten.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung 8. 10. 1993, 24)
(4) Auf einer anderen Ebene liegen Lexemen zugeordnete Markierungen, die den Wörterbuchbenutzer darauf hinweisen sollen, ein entsprechend gekennzeichnetes Lexem nach Möglichkeit nicht zu verwenden. Meist werden hierfür die Marker papierdeutsch (WDG) oder Amtsdeutsch/Amtssprache (Duden-GWB; Duden-UW) verwendet, z. B. der Antrag wurde abschlägig beschieden für „wurde abgelehnt“, etw. in Abrechnung bringen für „etw. abziehen“, Bedürfnisanstalt für „öffentliche Toilette“. Die Kennzeichnung papierdeutsch „soll als Warnung dienen“, da die so markierten Lexeme, vor allem in amtlichen Schreiben gebraucht, „ausgesprochen gebläht wirken und als unschön empfunden werden.“ (WDG, Vorwort, 013).
4.3. Diatopische Angaben Diatopisch markierte Lexeme oder Regionalismen (vgl. Art. 109 in diesem Handbuch) werden vor allem in einem regional begrenzten Gebiet gebraucht. Zu den Regionalismen gehören auch Dialektismen als die im eigentlichen Sinne mundartlichen (dialektalen) Lexeme, die auch in der modernen Lyrik begegnen, um ein Lokalkolorit zu zeichnen, wie der folgende Ausschnitt aus Wulf Kirstens Gedicht „werktätig“ (2004, 94) zeigt: „[…] das getreide hinter dem mäher abraffen, den halben abend aufs feld hinausschaffen, korn aufschütten, ein Pferd beschlagen,
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den segen der kultur im korbe tragen, die haferkluppen forscheln und flegeln, einen steinblock aufbänken und schlegeln, ein heufuder bäumen, das vieh beschicken, einen brüchigen topf mit draht einstricken, […]“
Der Dichter verwendet hier Dialektismen, die aus dem Obersächsischen, insbesondere dem Meißnischen, stammen: halber abend „Zwischenmahlzeit am Nachmittag, Vesper“, Haferkluppe „Hafergarbe“, forscheln „beim ersten Rundgang des Flegeldreschens die Ähren der noch nicht aufgebundenen Garben leicht überdreschen“, flegeln „mit dem Flegel dreschen“, beschicken „das Vieh, insbesondere Kühe und Schweine, am Abend versorgen“. Genutzt werden diatopisch markierte lexikalische Einheiten für literarische Sprachporträts, z. B. in Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ (1986, 331), in dem der Autor neben lexikalischen vor allem auch typisch berlinische grammatische und phonetische Mittel nutzt: „Herbert in Filzpantinen denkt auf seiner Stube, und es regnet, es drippelt und drippelt, man kann gar nicht runtergehen, die Zigarren sind alle, kein Zigarrenfritze im Haus, aus welchem Grunde regnet es nur im August, der ganze Monat schwimmt einem weg, der pladdert weg wie nischt […]“
Die Lexeme Pantinen für „Pantoffeln“, drippeln für „leicht regnen“, pladdern für „stark regnen“ wird im Norddeutschen gebraucht.
4.4. Diatechnische Angaben Hierunter fallen insbesondere fachsprachliche Markierungen, die Hinweise auf die Verwendung einer lexikalischen Einheit mit einer zwar fachspezifischen Bedeutung geben, die jedoch auch außerhalb des Fachgebietes bekannt und verstanden wird, z. B. Flanke (Sport), Ozonschicht (Meteorologie), Thorax (Anatomie), Syntax (Sprachwissenschaft). Neben der fachsprachlichen Markierung weisen Lexeme auch gruppen- oder sondersprachliche Markierungen auf wie z. B. ablandig (Seemannssprache), Fähe (Jägersprache), heavy, uncool, Grufti (Jugendsprache) Dass diatechnisch markierte Lexeme in Tageszeitungen gebraucht werden, zeigt folgender Textauszug, der eine Anzahl Lexeme enthält, die sich auf moderne Musikrichtungen beziehen und insbesondere von Jugendlichen gebraucht und verstanden werden (vgl. Art. 111 in diesem Handbuch): „Zurückhaltend blieb vor allem anfangs auch die Stimmung: eine Breakdance-Performance wurde hastig abgewickelt und die Rapper ,Primitiv‘ rappten mit Texten wider Faschismus und für HipHop vergeblich gegen die eisige Atmosphäre an. Da mußte ihr Versuch, einen Freestyle-Jam mit den Publikum durchzuziehen, einfach mager ausfallen.“ (die tageszeitung 4. 7. 1994, 23)
Der Bereich der pragmatischen Markierungen/pragmatischen Angaben ist heterogen, in der Metalexikographie (Wörterbuchforschung) werden sie als diasystemische Angaben
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bezeichnet. Hausmann (1989, 649 ff.) ordnet beispielsweise die Differenzierung nach sozialen Schichten und Gruppen den diastratischen Markierungen zu. Zu den diachronischen Markierungen sei auf 1.2 verwiesen.
5. Phraseologismen Phraseologismen (auch Phraseolexeme, Phraseme, idiomatische Wendungen, feste Wortverbindungen oder Idiome genannt), die sich im Allgemeinen dadurch auszeichnen, dass ihre Gesamtbedeutung nicht aus der Bedeutung der Einzelelemente abgeleitet und ihre Einzelemente nicht ohne Weiteres ausgetauscht werden können, besitzen im Vergleich zu freien Wortverbindungen einen semantisch-pragmatischen Mehrwert (z. B. Morgenluft wittern für „die Möglichkeit sehen, einen Vorteil zu erlangen“, jmdm. fällt ein Stein vom Herzen „jmd. ist erleichtert“) und sind meist konnotativ markiert, von gehoben bis vulgär (vgl. 4.1 und 4.2; zu Phraseologismen und deren Typologisierung s. z. B. Burger 2007; Elspaß 1994; Fleischer 1997; Hemmi 1994; HSK Phraseologie 2007). Als gehoben markiert sind z. B. in Morpheus’ Armen ruhen/liegen „ruhig, gut schlafen“; etw. in jmds. Hand/Hände legen „jmdn. mit etw. betrauen“. Häufig sind die als gehoben markierten Phraseologismen Euphemismen und haben die Tendenz zum Veralten: jmdn. zur letzten Ruhe betten „jmdn. beerdigen“; das Zeitliche segnen, seine letzte Reise antreten „sterben“. Da Phraseologismen der expressiven Ausdrucksweise dienen, weisen sie zum großen Teil eine Markierung von ,umgangssprachlich‘, ,salopp‘ bis ,derb‘/,vulgär‘ auf; ,umgangssprachlich‘ z. B. mit einem blauen Auge davonkommen „glimpflich davonkommen“, die Ohren steif halten „nicht den Mut verlieren“; ,salopp‘: ins Gras beißen „sterben“, einen Affen sitzen haben „betrunken sein“, jmdn. aufs Kreuz legen „jmdn. hereinlegen“; ,derb‘/,vulgär‘: den Arsch zukneifen „sterben“, in der Scheiße sitzen/stecken „in größten Schwierigkeiten sein“. Ein ursprünglich konstitutives Basiselement eines Phraseologismus wird aufgrund veränderter gesellschafspolitischer Gegebenheiten ersetzt. So wird das ursprünglich allgemein bekannte Phrasem jede Mark/jeden Pfennig (zweimal/ dreimal) umdrehen „sehr sparsam sein“ seit Einführung des Euro auch in der Modifikation jeden Euro zweimal umdrehen gebraucht. Um einen stilistischen Effekt zu erzielen, begegnet man in der Presse häufig Modifikationen geläufiger Phraseologismen. Das Phrasem bei jmdm. ins Fettnäpfchen treten für „durch eine unbedachte, unkluge Äußerung jmds. Unwillen erregen“ wird z. B. insofern modifiziert, als die besondere Art des „Fettnäpfchens“ benannt wird: „Unterhaltungswert bekamen die Osterholz-Scharmbecker Stagges-Legende schon dadurch, daß sie mit schlafwanderlerischer Sicherheit in jedes Klischee-Fettnäpfchen trat“ (die tageszeitung 4. 7. 1994, 23) „Solche Bonmots lassen den Geist der 70er manchmal wirklich durchscheinen, ohne in das blöde Retro-Fettnäpfchen zu tappen“. (die Tageszeitung 28. 11. 1998, 25)
In anderen Fällen werden konstitutive Elemente, die in einem Phraseologismus im Singular stehen (den Bock zum Gärtner machen „jmdn. im guten Glauben eine Aufgabe übertragen, für die er völlig ungeeignet ist“), in der Pluralform verwendet:
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„Das neue Naturschutzgesetz würde viele Böcke zu Gärtnern machen.“ (Frankfurter Rundschau 1. 7. 1997, 6)
6. Synonymie und Antonymie 6.1. Synonymie Synonymie und Antonymie gehören zu den paradigmatischen Relationen im Lexikon. Synonymie wird im Allgemeinen verstanden als semantische Relation der Bedeutungsgleichheit bzw. Bedeutungsähnlichkeit von zwei oder mehreren Lexemen. Der Terminus wird in Lexikologie, Grammatik oder Stilistik in Abhängigkeit von unterschiedlichen Semantiktheorien verschieden definiert (Bußmann 2002, 673 f.; Schippan 1992, 206 ff.). Auf der lexikalische Ebene wird traditionell vor allem in der Lexikologie zwischen totaler (absoluter, reiner, strikter) und partieller Synonymie (Bedeutungsähnlichkeit) unterschieden. Totale Synonymie setzt voraus, dass Synonyme, also die Lexeme, die Benennungen des gleichen Denotats sind und in ihren denotativen und konnotativen Bedeutungselementen vollkommen übereinstimmen, in allen Kontexten substituierbar wären. Dies trifft in den wenigsten Fällen zu, da in der kontextuellen Umgebung semantische und/oder konnotative Differenzierungen existieren. Wohl am ehesten synonym sind einheimisches Wort und Fremdwort, die sich jeweils auf das gleiche Denotat beziehen, z. B. Anschrift ⫺ Adresse, Beifall ⫺ Applaus, Aufzug ⫺ Lift. Das letzte Beispiel macht deutlich, dass Synonymie bei polysemen Lexemen nur eine Bedeutungsvariante (ein Semem) betrifft. Aufzug bedeutet (1) „Aufmarschieren, Anrücken“ (der Aufzug der Wache), (2) „das Herankommen“ (der Aufzug größerer Wolkenfelder), (3) „mechanische Vorrichtung zum Auf- bzw. Abwärtstransportieren von Personen oder Lasten“ (den Aufzug benutzen), (4) „Aufmachung, Art der Kleidung“ (ein unmöglicher Aufzug), (5) „größerer Abschnitt einer Theateraufführung“ (das Drama hat fünf Aufzüge), (6) „Übung beim Geräteturnen“ (einen Aufzug am Reck turnen). Nur Bedeutung (3) von Aufzug ist mit Lift synonym. Partielle Synonymie bezieht sich auf Lexeme, die aufgrund ihrer denotativen und/oder konnotativen Bedeutung nur in einigen Kontexten ausgetauscht werden können, z. B. einen Brief erhalten/bekommen/empfangen vs. einen Schnupfen bekommen, aber nicht: einen Schnupfen erhalten/empfangen; die Einwohner/Bewohner/Ansässigen eines Ortes vs. die Bewohner eines Hauses, jedoch nicht: die Einwohner/Ansässigen eines Hauses. Bedeutungsähnlichkeit liegt auch vor, wenn sich Lexeme auf das gleiche Denotat beziehen, sich aber in peripheren Bedeutungselementen (Semen) unterscheiden und damit denotative Nuancen ausdrücken, z. B. Heirat, Hochzeit, Eheschließung, Trauung, Vermählung. Das zuletzt angeführte Beispiel zeigt, dass synonyme Lexeme konnotativ differenziert sind, sie haben die gleiche denotative Bedeutung, weisen aber unterschiedliche konnotative Markierungen auf und sind deshalb nicht in allen Kontexten austauschbar. Die konnotativen Markierungen können sich z. B. beziehen auf diastratische Angaben (Gesicht vs. „gehoben“ Angesicht, Antlitz, „salopp“ Visage, „derb“/„vulgär“ Fresse, Schnauze; Ehemann vs. „gehoben“ Gatte, Gemahl, „salopp“ der Alte, der Olle; vgl. 4.1), diaevaluative Angaben (Ehemann vs. „scherzhaft“ bessere Hälfte, Herr und Gebieter, Göttergatte; sterben vs. „verhüllend“/„euphemistisch“ entschlafen, heimgehen, abberufen werden, seine letzte Reise antreten; vgl. 4.2), diatopische Angaben (Scheuerlappen vs. „norddeutsch“
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Feudel, „ostmitteldeutsch“; (belegte) Brotscheibe vs. „norddeutsch“/„berlinisch“ Stulle, „ostmitteldeutsch“ Bemme; vgl. 4.3), diatechnische Angaben (Blinddarmentzündung, Leberentzündung vs. „Medizin“ Appendizitis bzw. Hepatitis; bedeutungsgleich, sinnverwandt vs. „Sprachwissenschaft“ synonym; vgl. 4.4). Das folgende Textbeispiel zeigt, dass Lexeme nur in einem Kontext den gleichen Denotatsbezug aufweisen und dabei besondere Aspekte hervorheben: „Es wuchsen dort Leberblümchen und Buschwindrosen und im April sogar einige Märzveilchen. […] Stanislaus gierte nach dem Duft der Märzveilchen. Vor Zeiten beim kindlichen Umherschlendern nannte er sie ,blaue Duftblumen‘, und sie hießen so, bis er sie der Mutter zeigte, und von diesem Augenblick an hießen sie Veilchen.“ (Strittmatter: Der Wundertäter, Bd. II, 290)
Um das stilistische Variationsangebot der Synonyme zu nutzen, um den „treffenden Ausdruck“ in einem bestimmten Kontext zu finden, greift man auf Synonymenwörterbücher zurück, von denen vor allem die distinktiven Synonymenwörterbücher von Nutzen sind, da sie die Synonyme bedeutungsdifferenzierend (z. B. Görner/Kempcke 2005; DudenSynonymwörterbuch 2006) anführen, im Unterschied zu den kumulativen, die die Synonyme systematisch, aber kommentarlos auflisten (z. B. Bulitta/Bulitta 2007).
6.2. Antonymie Antonymie als paradigmatische Beziehung im Lexikon ist Oberbegriff für Relationen der Gegensätzlichkeit (Polarität) von Lexemen. Dabei steht ein Gegenwort/Oppositionswort ⫺ das Antonym ⫺ einem anderen gegenüber, z. B. alt ⫺ jung; tot ⫺ lebendig; mieten ⫺ vermieten. Wie bei den Synonymen gilt auch bei den Antonymen: Die Gegensätzlichkeit besteht immer nur zwischen den Bedeutungsvarianten (Sememen) eines polysemen Lexems, sodass ein polysemes Wort mehrere Antonyme haben kann. Zu alt ist das Gegenwort in bestimmten Kontexten jung (junger Mann), neu (neues Haus) oder frisch ( frisches Brot). In der Linguistik ist man bemüht, die Paare von Antonymen (Gegenwörtern) in Gruppen einzuteilen, „die sich im Grad der Exaktheit der Gegensatzrelation unterscheiden, d. h. nach der Strenge der Polarität, der wechselseitigen Bedingtheit und Ausschließlichkeit, der gegenseitigen Erschließbarkeit usw.“ (Agricola/Agricola 1992, 17). Die klassifikatorische Zuordnung ist oft ambivalent. Gegenwärtig werden vor allem in Anschluss an Lyons (1977), der in der binären Opposition eines der wichtigsten Gliederungsprinzipien der Semantik sieht, meist die folgenden Gegenwortpaare unterschieden (vgl. Agricola/Agricola 1992, 16 ff.; Schippan 1992, 214 ff.; Müller 2000, XIII ff.): (1) Antonymie (im eigentlichen Sinne)/Kontrarität: Wird auf graduierbare polare Lexeme bezogen, bei denen zwischen den zwei gegensätzlichen Polen Übergänge existieren. Die Negation des einen Ausdrucks bedingt nicht notwendigerweise Affirmation des Gegenteils: Wer nicht groß ist, muss nicht unbedingt klein sein. Konträre Adjektive sind graduierbar (vgl. sehr/ziemlich laut) und komparierbar (vgl. lauter/am lautesten). (2) Komplementarität/Kontradiktion: Die polaren Lexeme stehen in der Relation des ausschließenden Entweder-Oder zueinander. Die Behauptung des einen impliziert die Verneinung des anderen. Es gib keine Zwischenstufen: entweder verheiratet oder unverheiratet/ledig; entweder Ebbe oder Flut.
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(3) Konversivität: Ein Geschehen, ein Sachverhalt wird von zwei unterschiedlichen Perspektiven/Standpunkten aus gesehen und benannt. Die polaren Lexeme benennen den gleichen Sachverhalt oder die an diesem Sachverhalt beteiligten Aktanten: kaufen ⫺ verkaufen, Käufer ⫺ Verkäufer. Antonymien (Gegensätze) werden stilistisch in unterschiedlicher Weise genutzt, z. B. wortspielerisch: immer mehr Alte, immer weniger Junge; Autofahrer ohne Führerschein, aber mit Promille, schwarze Schafe in weißen Kitteln (Müller 2000, X f.); in der Werbesprache: heiß geliebt und kalt getrunken; als Antithese (pointierte Gegenüberstellung gegensätzlicher Inhalte): Freund und Feind, alt und jung; in der Dichtung: „[…] Was nützt die Freiheit Wenn die Freien unter den Unfreien leben müssen? Was nützt die Vernunft Wenn die Unvernunft allein das Essen verschafft, das jeder benötigt? […]“ (Brecht: Gedichte, Bd. V, 59)
7. Schlussbemerkung Anhand von lexikalischen Einheiten ⫺ Wörtern und Phraseologismen ⫺ konnte gezeigt werden, dass diese sprachlichen Mittel mit ihren stilistischen Qualitäten für die Textgestaltung relevant sind: der Gebrauch von Neologismen und Archaismen, von Fremdwörtern, Phraseologismen, von unterschiedlich pragmatisch markierten Lexemen, von Synonymen und Antonymen. Die Lexik gehört zu der Komponente des Sprachsystems, bei der die Veränderungen in der Gegenwart am deutlichsten zu beobachten sind.
8. Literatur (in Auswahl) 8.1. Sekundärliteratur Adelung, Johann Christoph (1774⫺1786): Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches Der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. 5. Bde. Leipzig. Agricola, Christiane/Erhard Agricola (1992): Wörter und Gegenwörter. Wörterbuch der sprachlichen Gegensätze. 2., durchges. Aufl. Mannheim u. a. Bartzsch, Rudolf/Reiner Pogarell/Markus Schröder (Hrsg.) (2007): Wörterbuch überflüssiger Anglizismen. 7., erheblich erw. Aufl. Paderborn (1. Aufl. 1999). Bulitta, Erich/Hildegard Bulitta (2007): Wörterbuch der Synonyme und Antonyme. 4. Aufl. Frankfurt/M. Burger, Harald (2007): Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. 3., neu bearb. Aufl. Berlin. Bußmann, Hadumod (Hrsg.) (2002): Lexikon der Sprachwissenschaft. 3., aktualisierte und erw. Aufl. Stuttgart. Campe, Joachim Heinrich (1807⫺1811): Wörterbuch der Deutschen Sprache. 5. Bde. Braunschweig.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
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8.2. Literarische Quellen Brecht, Bertolt: Gedichte. Bd. V. 1934⫺1941. Berlin/Weimar 1964. Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. 4. Aufl. Berlin 1986. Grass, Günter: Im Krebsgang. Göttingen 2002. Kirsten, Wulf: Erdlebenbilder. Gedichte aus fünfzig Jahren 1954⫺2004. Zürich 2004. Mann, Thomas: Lotte in Weimar. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Band VII. Berlin/Weimar 1965. Strittmatter, Erwin: Der Wundertäter. Bd. II. Berlin 1973.
Klaus-Dieter Ludwig, Berlin (Deutschland)
96. Stilistische Phänomene der Syntax 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Stilbewertungen und ihre Voraussetzungen Grammatische Kategorien als stilistische Bewertungsraster Stilistische Bewertungskategorien Syntaktische Phänomene unter Stilgesichtspunkten Stilistische Aspekte des Satzbaus in der Dichtung Literatur (in Auswahl)
Abstract In contrast to grammatical descriptions, which are always related to formal categories, stylistic assessment is evaluative and has to be justified in any individual case. As in every linguistic field seen under the auspices of stylistics, syntactic phenomena can only be judged as appropriate when they are selected from a set of varieties. Selection is either collective or individual and refers to a hierarchy of strata, in the first place to patterns of textualization. Usually, four such patterns are listed in recent publications: narration, description, argumentation and command, each of them marked by different linguistic devices. Another important feature is the normative aspect of language, mostly referred to as functional stylistics. Different linguistic means are required in scientific communication, in the language of administration, in the media and in colloquial language as well as in poetry. The following syntactic phenomena have the potential of alternations to achieve a special stylistic effect: sentence types, sentence length ⫺ which may vary considerably in different text types ⫺, word order, passive voice, and ellipsis. Sentence types usually depend on text classes, but the author may for instance use a question instead of a declarative sentence to adapt his statement to a specific situation. Extremely long sentences prevail in juridical and administrative texts. Passive voice occurs more often in scientific texts, whereas it is rare in poetry. The ellipsis, in former times often considered as bad style, is now seen as a
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8.2. Literarische Quellen Brecht, Bertolt: Gedichte. Bd. V. 1934⫺1941. Berlin/Weimar 1964. Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. 4. Aufl. Berlin 1986. Grass, Günter: Im Krebsgang. Göttingen 2002. Kirsten, Wulf: Erdlebenbilder. Gedichte aus fünfzig Jahren 1954⫺2004. Zürich 2004. Mann, Thomas: Lotte in Weimar. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Band VII. Berlin/Weimar 1965. Strittmatter, Erwin: Der Wundertäter. Bd. II. Berlin 1973.
Klaus-Dieter Ludwig, Berlin (Deutschland)
96. Stilistische Phänomene der Syntax 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Stilbewertungen und ihre Voraussetzungen Grammatische Kategorien als stilistische Bewertungsraster Stilistische Bewertungskategorien Syntaktische Phänomene unter Stilgesichtspunkten Stilistische Aspekte des Satzbaus in der Dichtung Literatur (in Auswahl)
Abstract In contrast to grammatical descriptions, which are always related to formal categories, stylistic assessment is evaluative and has to be justified in any individual case. As in every linguistic field seen under the auspices of stylistics, syntactic phenomena can only be judged as appropriate when they are selected from a set of varieties. Selection is either collective or individual and refers to a hierarchy of strata, in the first place to patterns of textualization. Usually, four such patterns are listed in recent publications: narration, description, argumentation and command, each of them marked by different linguistic devices. Another important feature is the normative aspect of language, mostly referred to as functional stylistics. Different linguistic means are required in scientific communication, in the language of administration, in the media and in colloquial language as well as in poetry. The following syntactic phenomena have the potential of alternations to achieve a special stylistic effect: sentence types, sentence length ⫺ which may vary considerably in different text types ⫺, word order, passive voice, and ellipsis. Sentence types usually depend on text classes, but the author may for instance use a question instead of a declarative sentence to adapt his statement to a specific situation. Extremely long sentences prevail in juridical and administrative texts. Passive voice occurs more often in scientific texts, whereas it is rare in poetry. The ellipsis, in former times often considered as bad style, is now seen as a
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characteristic feature of colloquial discourse. Finally, a special chapter of this article deals with prominent syntactic features of poetry, for instance the alternations of very short and extremely long sentences, the use of figurative style and the individual blend of forms.
1. Stilbewertungen und ihre Voraussetzungen Bei allen sprachlichen Elementen ist unter stilistischen Gesichtspunkten in Rechnung zu stellen, dass sich ihr Vorkommen und ihre Funktion nicht mit Blick auf das sprachliche System schlechthin beurteilen lassen, sondern dass ihre Verwendung soziale und individuelle Vorgaben zu berücksichtigen hat. Die stilistische Perspektive auf sprachliche Phänomene ist eine grundsätzlich andere als die grammatische. Während sich diese darauf konzentrieren kann, den Lautbestand, den Wortschatz und die Syntax einer Sprache deskriptiv zu erfassen und systematisch und typologisch zu erklären, ist die Stilistik darauf aus, die Angemessenheit der Verwendung sprachlicher Formen zu beurteilen. Während die Grammatik die sprachlichen Formen für die Analyse isolieren und über paradigmatische und syntagmatische Zugriffe ordnen kann, ist die Stilistik darauf aus, das Gelungensein einzelner sprachlicher Texte im Nachhinein zu bewerten oder das Gelingen sprachlicher Äußerungen generell zu ermöglichen. Stilistische Analysen und stilistische Ratschläge beziehen sich immer auf komplexe sprachliche Formen, zumeist auf Texte. Diese müssen darüber hinaus in ihrem Äußerungsumfeld beachtet und bewertet werden. So ist von vornherein die stilistische Aussage mit wesentlich mehr Bezugsgrößen belastet als die „rein“ grammatische, auch wenn diese sich auf grammatiktheoretische Hintergründe beziehen, die nicht nur unterschiedlich sein können, sondern auch kontrovers beurteilt werden mögen. Gerade in Bezug auf eine bestimmte grammatiktheoretische Konzeption ist die grammatische Aussage zunächst abgesichert, während eine stilistische Aussage immer den jeweiligen Analysezweck im Auge behalten muss. Diese Unwägbarkeiten gelten für syntaktische Phänomene in besonderem Maße. Die Betrachtung syntaktischer Phänomene kann nicht direkt in die Stilistik erweitert werden, die Stilistik ist keine lineare Fortsetzung grammatischer Konzeptionen, sondern eröffnet völlig andere Bewertungsraster. Gleichwohl ist in der stilistischen Tradition immer wieder versucht worden, den grammatischen Phänomenen per se ein stilistisches Potential zuzuschreiben. So wurde etwa den Funktionsverbfügungen eine Affinität zur Schriftsprache und hier wiederum zu bestimmten Funktionalstilen zugeschrieben (vgl. kritisch dazu Sowinski 1988, 167). Wenn dies aus den eben genannten Gründen auch nicht generell gültig ist, so ist dennoch ein Quäntchen Wahrheit damit verbunden: Die grammatischen Phänomene sind mit den funktionalen Ausdrucksformen nicht gleichmäßig auf alle Vorkommensbereiche verteilt, sondern es liegen durchaus Bevorzugungen oder Abneigungen von bestimmten Formen in den verschiedenen Registern vor. Dies wird bei den Sprechern und Sprecherinnen einer Sprache intuitiv gefühlt und steuert den Einsatz bestimmter Formen zur Erreichung bestimmter kommunikativer Zwecke. Aufgabe der stilistischen Analyse ist es u. a., solche Intuitionen auf eine feste Grundlage zu stellen und nicht der willkürlichen Handhabung zu überlassen. Denn stilistische Verdikte werden allzu bereitwillig ausgesprochen, die Alltagsmeinung über die Angemessenheit oder das bloße Vorhandensein von bestimmten Formen schlägt sich z. B. in Äußerungen wie Wer brauchen ohne zu gebraucht braucht brauchen gar nicht zu gebrauchen! nieder. Aber nicht nur
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in der Alltagsmeinung über sprachliche Formen lassen sich solche vorschnellen Schlüsse beobachten. Auch die unzähligen Sprachglossen in Zeitungen, Bücher wie „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ mit apodiktisch geäußerten Ansichten über „falsche Fallbildung“ bei diesen Jahres (Sick 2005, 92) oder „falsche Zeitbildungen“ beim „Ultra-Perfekt“ hat gesagt gehabt (Sick 2005, 181) und ganze Bibliotheken herkömmlicher Stilistik, im Deutschen vor allem die von Engel (1914) bis hin zu Reiners (1976), sind dadurch gekennzeichnet, dass stilistische Bewertungen global und nicht sektoral vorgenommen werden, dass eben davon ausgegangen wird, dass eine absolute stilistische Bewertung möglich sei. Ein Großteil dieser unangemessenen Bewertungen ist dadurch begründet, dass über die Nichtbeachtung der Vorkommensbereiche hinaus die Höherbewertung aller schriftsprachlichen Register gegenüber mündlichen Kommunikationsformen durchschlägt. Erst seit der angemessenen Berücksichtigung gesprochener Sprache in grammatischen Beschreibungen kann hier auch die stilistische Bewertung unvoreingenommen sein. Sie stellt die Stilistik auch der syntaktischen Phänomene auf eine neue Grundlage. Gesprochensprachliche Phänomene werden nicht mehr als „stilistisch schlechter“ angesehen, sondern ihre Angemessenheit wird beurteilt in Bezug auf ihren Vorkommensbereich, die gesprochene Sprache. Gleichzeitig ist unter stiltheoretischer Perspektive auf diese Weise einem grundlegenden Gesichtspunkt Genüge getan. Es ist die Berücksichtigung des Phänomens der Wahl. Es müssen „Varianten auf der Formulierungsebene“ (Heinemann 2001, 427) bestehen, bevor eine stilistische Entscheidung überhaupt erst getroffen werden kann. Aber erst mit der Berücksichtigung der Tatsache, dass „Wahl“ nicht ausschließlich die individuelle Entscheidung, sondern auch die historisch zu verstehende kollektive Vor-Wahl, die Festlegung bestimmter Systemmöglichkeiten für bestimmte kommunikative Zwecke in bestimmten Situationen meint, kann die stilistische Bewertung abgesichert vorgenommen werden. Auf jeden Fall aber kann von Stil erst dann gesprochen werden, wenn eine Wahlmöglichkeit, gleich welcher Art, überhaupt besteht. Erst wenn eine Ausdrucksabsicht auch anders hätte bewältigt werden können als sie vorliegt, kann das Kriterium des Stils an sie herangetragen werden. Dass Ausdrucksvariation theoretisch zwar so gut wie immer möglich ist, ist offensichtlich. Aber auch die Wahl ist keine beliebige, willkürliche Auswahl aus dem Gesamt aller Möglichkeiten, die das sprachliche System zur Verfügung stellt, sondern sie hat eine dem jeweiligen kommunikativen Zweck angemessene zu sein. Denn ein weiterer Bereich der Stilistik darf nicht aus dem Blick geraten, eine Sichtweise, die in der stilistischen Tradition, die sich auf die Rhetorik berufen darf, immer beachtet worden ist: das Gelingen der sprachlichen Formulierungsabsicht. Während eine grammatische Bewertung nach den Kriterien richtig oder falsch dichotomisch vorgenommen werden kann, ist eine stilistische skalar vorzunehmen. Eine Nachricht, ein Text, kann mehr oder weniger gut gelungen sein, oder sein Misslingen kann mehr oder weniger zutage liegen. Der evaluativen Komponente kann in der Stilistik nicht ausgewichen werden. Sie erschwert zwar die Begründung für die Bewertung, aber sie verhindert auch absolute Aussagen, indem sie von vornherein offen ist für mögliche andere Sichtweisen. Davon ist nicht betroffen, dass sowohl Stiltheoretiker als auch die Sprachgemeinschaft selbst davon ausgehen, dass es so etwas gibt wie immergültige Bewertungskategorien, nach denen man sich zu richten habe. Als solche werden vor allem ausgegeben: Angemessenheit, Klarheit und Verständlichkeit, Anschaulichkeit und Variation (vgl. Riesel/Schendels 1975, 25). Welchen Stellenwert diese Kategorien haben und unter welcher Maßgabe sie kontrolliert werden, wird im nächsten Abschnitt behandelt.
96. Stilistische Phänomene der Syntax
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2. Grammatische Kategorien als stilistische Bewertungsraster 2.1. Voraussetzungen Auch bei grammatischen, insbesondere bei syntaktischen Phänomenen muss demnach bei einer stilistischen Bewertung davon ausgegangen werden, dass überhaupt die Möglichkeit zur Wahl vorliegt. Es müssen „konkurrierende syntaktische Konstruktionen“ (Starke 1969/1970, Fleischer/Michel/Starke 1993, 192) vorliegen und die Auswahl einer Konstruktion gegen eine andere muss begründbar sein. Um sprachliche Phänomene, die einer stilistischen Bewertung unterworfen werden, adäquat zu behandeln und nicht mit globalen Charakterisierungen zu überdecken, ist es angebracht, sie nach einem Raster vorzunehmen, mit dem universale, sprachspezifische, funktionale und individuelle Kriterien angemessen erfasst werden können. Solche Kriterien gelten für alle sprachlichen Phänomene und können hier nicht in den Einzelheiten ausgebreitet werden (vgl. Eroms 1983 und 1986). Die Schichtungen eines adäquaten stiltheoretischen Zugangs zu syntaktischen Phänomenen sollen deshalb hier nur in aller Kürze skizziert werden. Für syntaktische Phänomene gelten solche Beschreibungsrestriktionen im besonderen Maße. Der Grund dafür ist darin zu suchen, dass einmal die Syntax in den letzten Jahrzehnten sich zu einer linguistischen Kernkategorie entwickelt hat, von der aus andere sprachliche Bereiche nicht nur angegangen werden können, sondern sogar ihren Platz zugewiesen erhalten. Zwar ist die Syntax auch unter stilistischer Perspektive eine Schaltstelle für den Bau von Texten, aber sie ist keineswegs autonom, und syntaktische Phänomene gehorchen genauso den Bedingungen für die Vertextung und für den kommunikativen Mehrwert wie die Lexik. Andererseits sind die syntaktischen Kategorien in ihrer Vorkommensbeschränkung schlechter festzumachen als der Wortschatz. Dieser bekommt vielfach schon in den Wörterbüchern eine stilistische Grundbewertung, wie „gehoben“, „umgangssprachlich“ oder „veraltet“, womit eine Bereichseinschränkung seines Gebrauchs angegeben wird. Dagegen können syntaktische Kategorien, auf den ersten Blick jedenfalls, grundsätzlich in so gut wie allen sprachlichen Bereichen vorkommen.
2.2. Vertextungsstrategien Als oberstes Raster für die stilistische Bewertung lässt sich von den sogenannten Vertextungsstrategien (Eroms 1983) ausgehen. Sie werden auch als Darstellungsarten (Heinemann in Fleischer/Michel 1975, 268 ff.), Grundformen thematischer Entfaltung (Brinker 1985), Texttypen (Werlich 1979) oder Handlungsmuster (Sandig 1986, 211) bezeichnet und sind universale Kategorien, mit denen sich das Vorkommen und die Einsatzmöglichkeiten sprachlicher Formen erfassen lassen. Systematisch gesehen sind diese Strategien Restriktionen des Systems und betreffen alle Register. Diese Kategorien in einer Stilistik anzuführen und sie von anderen Kategorien zu trennen, ist deswegen wichtig, weil in der älteren normativen Stilistik häufig alle Vorkommensbereiche über einen Leisten geschlagen worden sind. So sind die Stilverdikte, die sich etwa bei Reiners (1976, 139⫺151) gegen den Nominalstil finden, damit zu erklären, dass er Texte, in denen beschrieben oder argumentiert wird, an Erzähltexten misst, die gänzlich andere sprachliche Mittel erfordern. Man unterscheidet vier oder fünf Vertextungsstrategien.
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Mit dem Erzählen wird beabsichtigt, Vergangenes in die sprachliche Gegenwart zu holen. Die Zuhörer/Zuhörerinnen oder die Leser/Leserinnen sollen ⫺ aus der Sicht der Sprechenden ⫺ vergangenes Geschehen erfahren. Das Erzählen ist chronologisch orientiert und stilistisch gesehen am wenigsten eingeschränkt. Die Textsorten, in denen es dominiert, reichen von mündlichen Ereignisberichten über Märchen und Zeitungsmeldungen bis zu Romanen und historischen Abhandlungen. Hier lassen sich vor allem die Verben mit ihren Satzbauplänen ziemlich unrestringiert verwenden. Dies steht im Gegensatz zum Beschreiben, mit dem den Rezipienten eine räumliche Orientierung gegeben wird. Hier sind im Wesentlichen nur räumliche Prädikate zu erwarten, wie sich befinden, sich erstrecken, benachbart sein, angrenzen usw. Um die damit zwangsläufig verbundene Monotonie kompensieren zu können, treten hier stilistische Maßnahmen ⫺ wie die Verwendung von Metaphern, Bildern und Vergleichen ⫺ in großem Umfang ein. Das Beschreiben wird oft in eine andere Vertextungsstrategie eingelagert, vor allem in das Argumentieren. Diese Strategie findet sich in allen Textsorten, in denen eine Meinung diskursiv begründet, eine These vertreten oder jemand überzeugt werden soll. Textsorten, in denen dies der Fall ist, sind u. a. Leitartikel, Kommentare, Gerichtsreden, aber auch Texte der Werbung. Prototypisch wäre für diesen letzteren Bereich allerdings eine weitere Vertextungsstrategie, nämlich das Anweisen, denn Ziel der Werbung ist es, die Rezipienten zum Kauf eines Produktes zu veranlassen. Eine weitere Strategie wird u. a. von Fritz (2005, 1158) angesetzt, das Erklären. Hier dominieren konditionale Verknüpfungen neben anderen kausalen Ausdrucksformen. Welche syntaktischen Phänomene, außer den hier knapp benannten, bei denen unterschiedlichen Vertextungsstrategien eine Rolle spielen, wird in Abschnitt 4. gezeigt, wenn die syntaktischen Erscheinungen im Einzelnen unter stilistischen Aspekten geprüft werden. Wichtig erscheint es, dass sich die Stilanalyse bewusst ist, nur Vergleichbares miteinander in Beziehung zu setzen, also z. B. einen Beschreibungstext nicht mit den Maßstäben zu messen, die an einen Erzähltext anzulegen wären.
2.3. Funktionale Stilistik Ein weiteres Raster, das für die Stilanalyse anzusetzen ist, ist der pragmatische Vorkommensbereich der Texte. Eine Zeitlang dominierte in der Stilanalyse der Zugriff der sogenannten Funktionalstilistik, die für die Bewertung sprachlicher Einheiten die gesellschaftlich relevanten Bereiche der Alltagskommunikation, der Direktive, der Wissenschaft, der Medien und der Belletristik ansetzte (vgl. Fleischer/Michel 1975; Riesel/ Schendels 1975; Porsch 1981; Halliday 1985). Ohne die mit diesen etwas globalen Bereichen verbundenen Verallgemeinerungen lassen sich stilrelevante Aussagen auch im Zugriff auf die Textsorten erzielen, vor allem, wenn sie, wie bei Fix (2001, 499), im Zusammenhang mit anderen stilistischen Musterkategorien gesehen werden. In den Textsorten bündeln sich einerseits universale Ausdrucksmöglichkeiten, andererseits konventionelle Anforderungen, die die Funktion der verwendeten sprachlichen Mittel zur Erreichung bestimmter kommunikativer Zwecke zusammenfassen. Ein Leitartikel wäre demnach ein vornehmlich argumentativ vorgehender medialer Text, bei dem die sprachlichen Mittel der Verknüpfung und der logischen Stringenz zu erwarten wären. Er eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit, individuelle sprachliche Mittel einzusetzen, denn im Gegensatz etwa zu Behördeninformationen wird dies bei namentlich gekennzeichneten Meinungsartikeln in
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mehr oder weniger hohem Maße erwartet. Ein Werbetext, dessen Endzweck heute fast ausnahmslos indirekt angezielt wird, lässt deshalb noch mehr Stilistika erwarten. Hier wechseln auch die stilistischen Moden äußerst rasch. Dies gilt aber auch für viele andere Textsorten, vor allem für solche, die sich erst in der jüngsten Zeit herausgebildet haben, wie die SMS oder die Chatkommunikation. Verglichen mit ähnlichen herkömmlichen Kommunikationsformen fällt bei den SMS auf, dass ihre sprachlichen Einheiten alle durch einen durchgehenden Stilzug gekennzeichnet sind, die Verkürzung. So sind hier als syntaktisch zu verbuchende Phänomene extrem kurze Sätze, verbale Reduktionsformen und Kontaktpartikeln zu verzeichnen. Mit ihnen wird ein Trend verstärkt, der bereits bei den herkömmlichen Formen registriert worden ist: Die durchschnittliche Satzlänge, d. h. vor allem die Anzahl der Wörter pro Satz, nimmt seit längerer Zeit ab. So haben Auszählungen für die Literatur Folgendes ermittelt: Im 17. Jh. umfasste ein Satz durchschnittlich 36,3 Wörter; im 18. Jh. 26,2; im 19. Jh. 1. Hälfte 30,3 Wörter, 2. Hälfte 23,4; im 20. Jh. 19,3 Wörter. Ähnliche Zahlen gelten für die Wissenschaftssprache, die didaktische Literatur und die Publizistik (Sommerfeldt 1988, 216; Braun 1987, 37 ff.).
3. Stilistische Bewertungskategorien Stilanalysen wird häufig vorgehalten, dass sie subjektiv seien und die verwendeten Kriterien nicht offenlegten. Wie in Abschnitt 1. dargestellt, sind bei stilistischen Bewertungen kontroverse Beurteilungen niemals auszuschließen. Allerdings lassen sich durchaus Bewertungsinstanzen angeben, wenn man davon ausgeht, dass es gleichsam stilistische Normalfälle gibt, auf deren Hintergrund Abweichungen zumindest benannt und damit auch gewertet werden können, indem nach der Ratio einer solchen Abweichung gesucht wird. Mit einer solchen Auffassung lässt sich die Erwartbarkeit von Ausdrücken in konkreten Textsorten, also in Parole-Vorkommen, tokens, auf dem Hintergrund von types erfassen. Zwar wären hier statistische Untersuchungen über die Vorkommenswahrscheinlichkeit im Idealfall eine unbestreitbare Absicherung, doch sind die zu berücksichtigenden Parameter derart vielfältig, dass sich die Stilistik seit je mit Näherungslösungen begnügt. Und dies mit gutem Grund, ist doch die Stilanalyse ein Bewertungsvorgang, der sich auf die Kompetenz der Analysierenden stützt, die das zu Erwartende in Rechnung stellen. Stilistisch primär relevant, d. h. auffällig und der Bewertung unterworfen sind dann nicht die sprachlichen Elemente, die in einem Text zu erwarten sind, sondern solche, die aus anderen funktionalen Stilen eingesetzt werden, z. B. umgangssprachliche Ausdrücke in mediale Texte oder argumentative Passagen in Erzähltexte. Solche Brüche zum Erwarteten geben immer dann, wenn sie positiv zu bewerten sind, Stileffekte ab. Im Falle des totalen Misslingens lässt sich von Stilblüten sprechen. Stileffekte lassen sich nicht nur durch Verschränkung funktionaler Stile oder Mischung von Vertextungsstrategien erzielen, sondern auch traditionell durch den Einsatz von Stilfiguren, die Verwendung von Sprichwörtern, Zitaten, Anspielungen und anderen Mitteln. Weiter sind alle „uneigentlichen“ Verwendungen hierher zu rechnen, Metaphern, Vergleiche und Bilder. Da dies vor allem den Wortschatz betrifft, wird im Folgenden nur dann darauf aufmerksam gemacht, wenn Mehrwortbereiche davon betroffen sind.
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4. Syntaktische Phänomene unter Stilgesichtspunkten 4.1. Die Satzarten Als oberste syntaktische Kategorie sind nicht die Sätze schlechthin, sondern die Satzarten zu betrachten. In der Forschung hat sich ein Konsens ergeben, fünf Haupt-Satzarten anzusetzen, die allerdings noch erheblich differenziert werden können: Aussagesatz, Fragesatz, Aufforderungssatz, Wunschsatz und Ausrufesatz. Stilistisches Potential ist in dem Sinne mit ihnen verbunden, als die Wahl eines bestimmten Satzmodus großenteils konventionell durch die Vertextungsmodi und die Textsorten vorgegeben ist. Dabei dominieren die Aussagesätze. Bei ihnen gilt die Zweitstellung des Verbs als unmarkiert. Eine emphatische, d. h. markierte Variante des Aussagesatzes ist die Erststellung des Finitums (vgl. Erben 1980, 119 f.; 270): Dazu mußt du wissen, daß sie steinreich gewesen sind. Beide über achtzig und steinreich. Ist ja schon der Vergolder selber steinreich, bestimmt der reichste Mann in Zell. (Wolf Haas: Auferstehung der Toten, 13). Fragesätze sind in dialogischen Textsorten häufig, Aufforderungssätze in Anweisungstexten. Wunschsätze vom Typ Wenn das Wetter doch endlich besser würde! können in einer Vielzahl von Textsorten vorkommen, sind aber fast immer einzelne Einsprengsel. Ausrufesätze können ebenfalls in einer großen Anzahl von Textsorten begegnen und weisen meist starke emotionale Komponenten auf. So etwa in dem erwartungsgemäß durch eine ununterbrochene Verkettung von Aussagesätzen gekennzeichneten großen Erzähltext „Der grüne Heinrich“ von Gottfried Keller: Glaube! O wie unsäglich blöde klingt mich dies Wort an! (Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, 238). Auch eingelagerte Aufforderungssätze verlebendigen den Erzähltext, auch wenn sie in referierten dialogischen Passagen stehen: Besinnt Euch, Frau Lee! von der Pike auf dienen, das macht den Mann! (ebd., 167). Ähnliches leisten Fragesätze. Mit Fragesätzen wendet sich der Sprecher oder Schreiber an sein Publikum, ebenfalls ein Mittel der Verlebendigung. Fragesätze kommen aus diesem Grunde in Erzähltexten vor: Etwas erzählen? Aber ich weiß nichts. Gut, also werde ich etwas erzählen. ⫺ Der Gepäckwagen war zertrümmert. Wie war das mit dem Gepäckwagen? Er war zertrümmert. (Thomas Mann: Das Eisenbahnunglück). Aus ähnlichen Gründen werden Fragesätze aber auch in vielen anderen Textsorten verwendet, etwa in der populärwissenschaftlichen Prosa: Hat sich die Gentechnik trotz all dieser Nachteile weltweit durchgesetzt? Keineswegs, hochgerechnet auf alle landwirtschaftlichen Nutzflächen der Welt nimmt der Genanbau mit 1,8 Prozent erst einen verschwindend geringen Anteil ein. (Natur⫹Umwelt 2/2006, 10 f.). In beiden Fällen geben sich die Autoren selbst die Antwort, was den rhetorischen Charakter des Einsatzes von Fragesätzen zeigt. Die rhetorische Frage wird seit alters als Stilfigur gewertet: Was ist unter den Geheimnissen der Göttlichen Gaben / welche das Menschliche Gemüth besitzet / wol herrlicher als die innerste Erkentniß der Sprachen? (Justus-Georg Schottelius: Lobrede von der Uhralten Hauptsprache der Teutschen). Bisweilen finden sich ganze Frageketten, die dann zusätzlich die Stilfigur des Parallelismus aufweisen oder wie im folgenden Beispiel noch eine absurde Klimax: Die Blätterbläser gehen wieder durch die Straßen. […] Warum machen die das? Warum lassen sie ihre Motoren rhythmisch aufkreischen, ins Standgas zurückfallen und erneut hochorgeln, statt mit gleichmäßigem Gas ihre Blätterhaufen zusammenzupusten? Ist es Trotz, weil andere Männer ihre Motoren nicht selber tragen müssen? Oder ist
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es eher ein heimliches Betteln um Aufmerksamkeit, ja, ein Schrei nach Liebe? (Süddeutsche Zeitung, 4./5. November 2006, V2/1). In der Werbung dagegen simuliert die dort häufig eingesetzte Frage einen Dialog mit dem umworbenen Konsumenten. Entweder „fragt“ der Werbende und der Konsument gibt die Antwort: Falten? Nicht auf meinen Lippen. (Flyer Labello) oder umgekehrt der Konsument stellt eine ⫺ stilistisch überformte ⫺ Frage: Sofas, in denen man die Seele baumeln lassen kann? Schränke und Regale mit viel Platz für schöne Momente? Tische, an denen die Zeit wie im Flug vergeht? Solche Möbel gibt es tatsächlich ⫺ von CASAMAXX, der neuen Wohn-Marke bei Quelle. (Werbeanzeige Quelle)
4.2. Die Satzbaupläne Wie die meisten syntaktischen Parameter sind die Satzbaupläne selbst zunächst grammatisch zu beurteilen; ihre Erfassung und Ableitung gehört in die Syntax. Ihre Distribution ist durch die Vertextungsstrategien und durch die Textsortenzugehörigkeit bedingt. Die Vertextungsstrategien regeln in erster Linie den Einsatz bestimmter Verben. So werden beim Erzählen so gut wie unrestringiert Handlungs-, Vorgangs- und Zustandsverben mit ihren Satzbauplänen eingesetzt, während beim Beschreiben nur wenige Prädikatstypen vorkommen, die allerdings durch stilistische Maßnahmen kompensiert werden können, etwa durch metaphorische Ausdrucksweisen. Unter stilistischer Perspektive sind in Bezug auf die Satzbaupläne zwei Bereiche besonders wichtig. Der erste Bereich ist das Vorkommen von Reduktionsformen, also die Nichtausnutzung der Maximalzahl möglicher Aktanten. Hier ergibt sich auch eine Nähe zur Ellipsenbildung (vgl. 4.6). In allen normalsprachlichen Bereichen ist die Reduktion von Aktanten stilneutral, wenn sie zwei hier anzusetzenden regulären Bedingungen gehorcht: der generischen Aussage (er raucht ⫽ er ist Raucher) oder der Nichtsetzung von Aktanten, weil sie aus dem Kontext oder der Situation eindeutig zu erschließen sind (Wir haben verstanden. ⫺ Sie liest gerade.). In poetischer Sprache kommt die Reduktion vor allem in Verbindung mit weiteren Stilfiguren vor (im folgenden Beispiel dem Parallelismus und der rhythmisch verstärkten Steigerung): Man repräsentiert, man tritt auf, man zeigt sich der jauchzenden Menge. (Thomas Mann: Das Eisenbahnunglück). Der zweite Bereich betrifft die Verwendung nicht mehr aktueller oder noch nicht in das System integrierter Satzbaupläne. In beiden Fällen ergeben sich Stileffekte. So hebt die Verwendung archaischer Formen das Stilniveau von Texten, birgt aber auch die Gefahr, dass die Ausdrucksweise als veraltet empfunden wird, falls dies nicht beabsichtigt ist, um bestimmte Signale zu geben. Für das erste sind vor allem Genitivkonstruktionen zu nennen, die alltagssprachlich durch Präpositionalfügungen ersetzt werden: sich einer Sache erinnern versus sich an eine Sache erinnern, jemanden des Diebstahls anklagen versus jemanden wegen Diebstahls anklagen. In der Literatur kann der archaisch wirkende Genitiv subtile Ironiesignale abgeben: Ich kann mich dann der Vorstellung nicht entschlagen, als führe er [⫽ der Nachtzug] einzig heute und meinetwegen und dieser unvernünftige Irrtum hat natürlich eine stille, tiefe Erregung zur Folge. (Thomas Mann: Das Eisenbahnunglück). Während der Wortschatz einer Sprache durch Neubildungen, Bedeutungserweiterungen und Entlehnungen in ständiger Bewegung ist, geht die Veränderung syntaktischer Programme viel langsamer vor sich, zeigt dagegen aber auffälliger regionale Unterschiede, die gerne auf eine angesetzte gesamtdeutsche Norm bezogen und dann teilweise vehement bekämpft werden. Am Beispiel der Satzbau-
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pläne von erinnern lässt sich der Wandel in der Beckmesserei, aber auch die Konstanz der Verdikte aufzeigen: Generell waren die Stilverdikte gegen vermeintliche sprachliche Neuerungen und regionale Besonderheiten, auch syntaktischer Art, im vergangenen Jahrhundert stärker. So heißt es bei Wustmann (1904, 411) zunächst über die Bildung des Perfekts: „Unerträglich in gutem Schriftdeutsch ist das süddeutsche gestanden sein und gesessen sein: die Personen, mit denen er in näherm Verkehr gestanden war ⫺ es lebten noch Männer, die in der Paulskirche gesessen waren.“ Sodann fährt der Autor fort: „Ganz unerträglich ferner die österreichischen Verbindungen: an etwas vergessen, auf etwas vergessen und auf etwas erinnern (auf die Einzelheiten des Stückes konnte ich nicht mehr erinnern u. ähnl.).“ Eine, was das Vorkommen betrifft, realistischere Einschätzung, allerdings doch mit stilistischer Wertung, findet sich 100 Jahre später bei Sick (2005, 159), der seine Beobachtungen folgendermaßen zusammenfasst: „Erinnern Sie sich, woran Sie wollen (aber bitte richtig): Standardsprachlich: Ich erinnere mich noch sehr gut an meine Tante. […] gehobenes Deutsch: Dankbar erinnerte er sich der schönsten Momente seines Lebens. […] Umgangssprachlich, besonders norddeutsch, in letzter Zeit englisch geprägtes Neudeutsch: ich erinnere ihn gut. Das erinnert sie kaum noch. Erinnerst du letzte Weihnachten?“ Die von Wustmann als „unerträglich“ bezeichnete Perfektbildung bei Situativa wird auch bei Sick getadelt: „[Der Hund] der ist doch hinten bei den Kindern gesessen gewesen. […] Mit ,sein‘ werden eigentlich nur Verben der Bewegung konjugiert, und abgesehen von ein paar Beamten würde niemand ,sitzen‘ als Bewegung einstufen, daher müsste es richtig heißen: Der Hund hat hinten gesessen.“ (Sick 2005, 181). In einer Anmerkung heißt es immerhin: „In Süddeutschland, Österreich und der Schweiz ist es allerdings üblich, ,stehen‘, ,sitzen‘ und ,liegen‘ mit ,sein‘ zu konjugieren.“ Anhand des Beispielsatzes wird auch das in der Tempusliteratur als vollkommen reguläre Form akzeptierte „Ultra-Perfekt“ (vgl. Hennig 2000) ist gesessen gewesen (vgl. 1) als „falsche Zeitbildung“ kritisiert. Insgesamt zeigt sich bei Sick besonders deutlich, dass der Bezug auf eine unreflektiert vorausgesetzte verbindliche Norm einen erheblichen Störfaktor bei der stilistischen Beurteilung von syntaktischen Konstruktionen darstellt. In literarischer Sprache kann die Variabilität von Satzbauplänen genutzt werden, um paradoxe Korrespondenzen zu erzielen: Alles dreht sich. Und alles dreht sich um ihn. (Markus Werner: Am Hang, 5).
4.3. Die Satzlänge Als besonders wichtiger syntaktischer Parameter unter Stilgesichtspunkten wird die Satzlänge im Deutschen betrachtet. Auf die seit langem zu bemerkende Tendenz der stetigen Verkürzung der Durchschnittslänge deutscher Sätze ist in Abschnitt 2.3 schon hingewiesen worden. Aber bei der stilistischen Bewertung ist in Rechnung zu stellen, dass die Anforderungen der Textsorten gänzlich unterschiedlich zu beurteilen sind. Der stilistisch viel gescholtene überlange Satz des Deutschen begegnet vornehmlich in Textsorten, bei denen es darauf ankommt, in einem Satz komplexe, auf einander bezogene Sachverhalte so zum Ausdruck zu bringen, dass eine eindeutige, vor allem rechtliche Auslegung möglich ist. So ist die Vorkommensdomäne des langen und verschachtelten Satzes die juristische Fachsprache, was aber zunehmend von den Fachleuten selbst kritisch gesehen wird.
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So heißt es in den von einem juristischen Lehrstuhl der Universität Potsdam auf ihrer Homepage abgedruckten „Stilregeln für Juristen“: „Nicht: Die Tatsache, daß der Beklagte nicht zu erkennen gab, daß die Brosche, welche er in der Hand hielt, nur billiger Modeschmuck war, kann hier nicht relevant sein. Sondern: Der Beklagte hat nicht erkennen lassen, daß die Brosche in seiner Hand nur Modeschmuck war. Dies ist jedoch unerheblich.“ (www.uni-potsdam.de/u/ls_rechtsgeschichte/lehre/stilregeln.php nach dem Stand vom 9. Nov. 2006). Der verschachtelte Satz hat eine lange Tradition. Solche Sätze sind schon für das Mittelhochdeutsche zu belegen. Spätestens im Barock hat diese Art der Formulierung auch auf andere Bereiche übergegriffen und lange die Formulierungstradition des Deutschen generell bestimmt, bis seit der Aufklärung das Ideal des kurzen Satzes unter dem Einfluss der Auffassung von einer natürlichen Ausdrucksweise Platz gegriffen hat. Derowegen so antworte ich D. Feselio rundt / vnd sage ja: alle natürliche der fünff Planeten / zum theil auch der fu˚rnembsten vnbeweglichen Sternen Eygenschafften / durch welche sie bey vns auff Erden etwas wircken / die können durch menschlichen verstandt / wiewol nicht vollkommen / doch gleich so wol ergrieffen / auch in ein gewisse scientiam vnd Wissenschafft eyngeschlossen / vnd bey den Prognosticationibus ku˚ nfftiger Dinge nu˚tzlich betrachtet werden / so wol vnd so vollkommen dieses in der Medicina mit den viel vnd mancherley Kräuttern geschehen kann. (Johannes Kepler: Warnung an etliche Theologos …, 1610). Und die Sprache des Herrn Wieland? ⫺ Er verlernt seine Sprache in der Schweiz. Nicht bloß das Genie derselben und den ihr eigentümlichen Schwung; er muß sogar eine beträchtliche Anzahl von Worten vergessen haben. (Gotthold Ephraim Lessing: Aus den Briefen, die neueste Litteratur betreffend, Beginn des vierzehnten Briefes). Während Kepler die Kontroverse mit dem Kollegen in einen Satz zusammenballt, bei dem er dann eine pronominale Wiederaufnahme benötigt, um den Satz durchsichtiger zu machen, verteilt Lessing das zu Sagende auf mehrere Sätze und bindet den Leser durch eine Frage ein. Gegenwärtig lässt sich in der Pressesprache ein Auseinanderdriften der favorisierten Satzlängen beobachten. Während etwa die Bildzeitung extreme Kürze bevorzugt, streben die großen Publikumszeitungen, zumindest auf den Meinungsseiten, eine ausgefeilte Periodenbildung an, die dann zu erheblich längeren Sätzen führt. Dabei hat die Kurzform den unschlagbaren Vorteil, dass sie besser zitierbar ist. Die Formulierung des aus drei Wörtern bestehenden Satzes Wir sind Papst in der Bildzeitung ist inzwischen ein geflügeltes Wort geworden, also eine stilistische Schablone. In der Dichtungssprache wird der „lange Satz“ von manchen Autoren eingesetzt, um z. B. Panoramen einer Situation zu entwerfen, wie im Eingangssatz aus Thomas Manns Novelle „Herr und Hund“, die im Untertitel „Ein Idyll“ benannt wird: Wenn die schöne Jahreszeit ihrem Namen Ehre macht und das Tirili der Vögel mich zeitig wecken konnte, weil ich den vorigen Tag zur rechten Stunde beendigte, gehe ich gern schon vor der ersten Mahlzeit und ohne Hut auf eine halbe Stunde ins Freie, in die Allee vorm Hause oder auch in die weiteren Anlagen, um von der jungen Morgenluft einige Züge zu tun und, bevor die Arbeit mich hinnimmt, an den Freuden der reinen Frühe ein wenig teilzuhaben. Der ironische Ton, der unterschwellig in diesem Satz vermittelt wird, wird durch andere Stilmittel verstärkt: das Zeugma vor der ersten Mahlzeit und ohne Hut, die Personifikation bevor die Arbeit mich hinnimmt und die Alliteration Freuden der reinen Frühe. Dieser mehrdimensionale stilistische Kontext zeigt exemplarisch, dass lange Sätze in der Dichtung in besonderem Maße auf ihr stilistisches Potential befragt werden müssen.
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4.4. Die Wortstellung Die Anordnungsregularitäten im deutschen Satz sind zum größten Teil grammatisch bedingt. Syntaktisch gesehen gehorchen sie zunächst den Bedingungen der Satzartentopologie oder den Unterschieden zwischen Haupt- und Nebensatzserialisierung. Zum ersten Bereich gehören z. B. die Spitzenstellung des Verbs bei W-Fragesätzen oder die Besetzung der Stelle vor dem finiten Verb durch ein beliebiges Satzglied. Die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebensatz ist, im Gegensatz zur Auffassung mancher Grammatiker und Stilforscher, ebenfalls fest. Die in letzter Zeit gründlicher untersuchten weil-Sätze mit Verbzweitserialisierung und vergleichbare Konstruktionen mit obwohl ⫺ Weil die machen jetzt bald zu. und Obwohl, das habe ich nicht gesagt. ⫺ sind nicht als Aufweichung der Hauptsatzwortstellung zu sehen, sondern als Eindringen mündlich geprägter Ausdruckssysteme, in denen vor allem die Konjunktion denn kaum vorkommt, in die geschriebene Sprache (vgl. Rath 2001). Solange diese Verwendungen im System nicht voll akzeptiert sind, ist damit eine funktionalstilistische Markierung verbunden, die beabsichtigt sein kann, wenn ungezwungene und/oder vermeintlich regionale Ausdrucksformen signalisiert werden sollen, z. B. „Was soll mit dem Sack sein?“ schreit der Zeugwart. Er hat es nicht sehen können, weil hinten hat der Mensch keine Augen. (Wolf Haas: Der Knochenmann, 39). Die Anordnung der Satzglieder erfolgt einerseits nach typologisch festen syntaktischen Regularitäten und andererseits nach Bedingungen der Thema-Rhema-Gliederung, vor allem nach den Kategorien der Vorerwähntheit, der Neueinführung und der thematischen und rhematischen Gewichtung. Alles dies wird grammatisch geregelt. Stilistisch relevant sind allerdings einige Möglichkeiten, die die deutsche Satzgliedstellung bietet, um Gewichtungen durch Abweichungen von normalen Stellungsregularitäten zu erzielen. Hierher sind vor allem die Ausklammerungen sowie die Links- und die Rechtsversetzungen zu rechnen. Und da hätten sie nicht einmal unrecht so ganz, denn wirklich hatte der Leutnant sich mal was Neues einfallen lassen für seine Kompanie, zur Abwechslung mal ganz was Neues. (Herbert Kolb: Wilzenbach ⫺ wenn der noch dagewesen wäre, 19). In diesem Satz finden sich drei verschiedene Stellungsbesonderheiten: die Ausklammerung der Präpositionalphrase für seine Kompanie, die Linksversetzung von unrecht und die Rechtsversetzung des Gradausdrucks so ganz. Durch diese Kumulation ähnlicher Stilmittel ergibt sich ein auffälliger Stileffekt. Verschiebungen nach rechts finden sich bei diesem Autor gehäuft: Und vielleicht hätte ich geredet mit Wilzenbach dem Korporal, so lange der Wagen nicht da war von der Kolchose. (ebd., 32). Links- und Rechtsversetzung werden kombiniert: Und Wilzenbach, hätten wir den noch gehabt als Korporal in der Gruppe. (ebd., 23). Rechtsversetzungen und Nachträge weisen ähnliche Bedingungen auf: Und da hat man es schon gewußt, den ganzen Mißerfolg. (Wolf Haas: Auferstehung der Toten, 30). Rechtsversetzung mit einer vorläufigen pronominalen Besetzung der verschobenen Stelle zur besonderen Markierung einer Neueinführung ist ein stilistisches Mittel auch in Gebrauchstextsorten: Sie leben zurückgezogen, versteckt, meist schlafen sie tagsüber und jagen nachts. Kaum jemand bekommt sie zu Gesicht. Aber sie sind da. In unseren Wäldern gibt es sie noch: die Wildkatzen. (Natur⫹Umwelt 2/2006, B10). Auch die Besetzung des Vorfeldes ist, vor allem bei Texteröffnungssätzen, stilistisch relevant (vgl. Winter 1961). Falls dort nicht das Subjekt oder die Subjektschablone es steht, resultiert eine besonders deutliche rhematische Beschwerung (vgl. Benesˇ 1971): Seltsame Orte gibt es,
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seltsame Gehirne, seltsame Regionen des Geistes, hoch und ärmlich. (Thomas Mann: Beim Propheten, Texteröffnungssatz). Auch hier wird die stilistische Absicht unterstrichen, und zwar dadurch, dass zusätzlich die Stilfigur der Anapher gewählt wird.
4.5. Die Diathesen Alle grammatischen Konversen, über die das Deutsche verfügt, sind prädestiniert für die stilistische Nutzung, weil sie die Wahl für die eine oder die andere Konstruktionsmöglichkeit zulassen. Aber auch hier hat man sich zu hüten, vorschnell den einzelnen Kategorien einen konstanten stilistischen Wert zuzuweisen. Dies gilt besonders für das Passiv in seinem Verhältnis zum Aktiv. Die Genera des Verbs stellen zunächst grammatische Möglichkeiten des Perspektivenwechsels, verbunden mit einer Möglichkeit zur Reduktion von Aktanten dar. Das letztere Phänomen ist unter der Bezeichnung „Täterverschweigung“ bekannt: Sie hat den Brief schon geöffnet versus Der Brief ist schon geöffnet gewesen worden. Die „aktivische“ Ausdrucksweise ist statistisch gesehen die weitaus häufigere, so dass die passivische als markierte aufgefasst werden kann. Im Korpus von Brinker (1971) ist das werden-Passiv mit 5,1 % aller Finita vertreten, allerdings mit erheblichen Unterschieden, was die Textsorten betrifft. So kommt es in der Dichtung mit 1,5 % vor, in Gebrauchstextsorten mit 10,5 %. Wagner (1972, 17) kommt für die Behördensprache sogar auf eine Zahl von 26 %, wenn alle Passivtypen einbezogen werden. Stilistisch relevant ist vor allem die Tatsache, dass in Erzähltexten, insbesondere in der Literatur, das Passiv weniger verwendet wird (vgl. Sowinski 1988, 196). Es hat seine Domäne in der Sachprosa (vgl. Admoni 1979), wo es vor allem dazu dient, eine für die Vertextung unnötige ständige Wiederholung der Handelnden zu vermeiden: Mittlerweile ist klar geworden, dass die Photoleitung nahe der Absorptionskante extrinsischen Ursprungs ist, d. h. von chemischen Verbindungen verursacht wird. Ein Singulettexziton kann aber intrinsisch in ein Elektron-Loch-Paar zerfallen, sofern ein sehr starkes elektrisches Feld an die Probe angelegt wird. Um dies zu zeigen, nutzt man die […] bekannte Tatsache aus, dass das Absorptionsspektrum eines positiv oder negativ geladenen Moleküls […] stark rotverschoben ist. (Physik Journal 11/2006, 42). Aber auch in solchen reinen Fachtexten wird dem stilistischen Gebot der Variation Genüge getan, hier z. B. durch die man-Konstruktionen. Stroins¸ka (1996) hat für die deutsche Fachsprache der Mathematik im Vergleich mit der französischen festgestellt, dass die Zahl der Passivformen 12,5 % gegenüber 16 % aller Finita ausmacht; bezieht man die „semantischen Passivformen“ mit ein, weisen die deutschen Fachtexte 25 % auf. In Bezug auf die Textsorten wissenschaftlicher Kommunikation aller vergleichbaren Sachtexte ist die Verwendung des Passivs stilistisch neutral, es gibt hier einen Stilwert ab, der sich nur im Vergleich mit anderen Textsorten als auffällig erweist. Kommt das Passiv dagegen in Textsorten vor, wo es weniger erwartet ist, resultiert ein Stileffekt. Dieser ist umso größer, je bewusster und gehäufter das Passiv begegnet. So schieben sich durch die Passivverwendung im folgenden Textstück die berichteten Sachverhalte in den Vordergrund: Bei dem Palaver ging es zunächst um Rückführung eines toten Indianers, der in der Stadt auf der Straße liegend totgefahren worden war. Mit leiser Stimme wurde verhandelt, ob der Sarg von der Regierung bezahlt wird oder nicht. (Walter Kempowski: Letzte Grüße, 156). Durch die Passivkonstruktion können paradoxe Verfremdungen eintreten, wenn die Nennung der Handlungsperson umgangen
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wird: Auf die Frage, ob es nicht gefährlich sei für eine junge Frau, so allein in einer Indianersiedlung zu leben, wurde gesagt: Wieso? (ebd., 154). Dass die Beurteilung von Konversen unter stilkritischem Gesichtspunkt besonders kontrovers ist, hat sich an der Diskussion der be-Verben gezeigt, die z. B. von Weisgerber (1958) als inhuman gebrandmarkt wurden, weil der Mensch in Sätzen wie Der Kaufmann beliefert den Kunden mit Waren statt Der Kaufmann liefert dem Kunden Waren nicht mehr „der persönliche Kunde, sondern die Nummer auf der Lieferliste“ sei (Weisgerber 1958, 68). Dagegen haben Kolb (1960) und Polenz (1968) die rein grammatischen Gesichtspunkte der stilistisch zunächst neutralen Perspektivenumpolung hervorgehoben (vgl. Eroms 1980). In die Kasusunterschiedlichkeiten werden bisweilen grammatisch schwer zu beweisende Differenzierungen hineininterpretiert, indem etwa dativische und akkusativische Bindungen als grundsätzlich unterschiedliche Möglichkeiten ausgegeben werden (vgl. dazu kritisch Starke 1969, 47).
4.6. Ellipsen Bei der Beurteilung elliptischer Ausdrucksweisen ist die Beachtung der medialen Bedingungen und der Textsorten besonders wichtig. In gesprochener Sprache sind Ellipsen stilistisch neutral, sie gehören zum normalen Ausdrucksrepertoire mündlicher Kommunikation. Allerdings ist eine gerechte stilistische Bewertung erst möglich geworden, nachdem die Regularitäten gesprochener Sprache gründlicher erforscht worden waren (vgl. Betten 1976; 1987; Schwitalla 1997). Für die geschriebene Sprache ist abzuwägen, ob es sich auch hier um neutrale Formen handelt, die ohne Stilwerte oder Stileffekte in Texten begegnen, oder ob bewusst stilistisch geformte Rede vorliegt. Dies ist z. B. in den folgenden Verwendungen der Fall. Tränen ⫺ Melancholie? Man kann auf die damaligen Lebens- und Liebesnöte Kellers verweisen. (Nachwort von Arthur Henkel zu Gottfried Keller, Der grüne Heinrich, 572). ⫺ Konnte ja niemand ahnen, diese Dürre. Konnte niemand vorhersehen, dass in Ostafrika die Regenzeit mal eben ausbleiben würde, wenige Monate vor der großen Klimakonferenz in Kenias Hauptstadt Nairobi. Dass im Frühjahr drei Millionen Kenianer hungern würden, Äcker verdorren, das Vieh reihenweise verenden sollte. Konnte auch keiner ahnen, dass 2005 […] eine Millionenstadt wie New Orleans mal eben absaufen würde. (Süddeutsche Zeitung, 4./5. November 2006, 4). Die Zitate stammen aus „gehobenen“ Textsorten, der Leitartikel zur Klimakatastrophe signalisiert mit den wiederholten Ellipsen, die zudem über die Stilfigur der Anapher miteinander verbunden sind, und der Mischung mit umgangssprachlichen Einsprengseln (mal eben, konnte ja niemand ahnen, absaufen) starke Betroffenheit. In der Werbungssprache hat sich eine Form der Ellipsenverwendung etabliert, die auch so gedeutet werden kann, dass „vollständige“ Sätze künstlich zertrennt werden, damit die einzelnen, nun isolierten Teile stärkere Wirkung entfalten: Die große Liebe finden. Mit Sicherheit. (www.sueddeutsche.de/partnersuche). Die Doppeldeutigkeit von mit Sicherheit unterstreicht den intendierten Stileffekt.
5. Stilistische Aspekte des Satzbaus in der Dichtung Für die Stilistik ist die Untersuchung des Satzbaus in dichterischer Sprache besonders relevant. Denn in der Literatur, besonders in dichterischer Prosa, ist es vor allem der
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Satzbau, der im stilistischen Bereich die individuelle Gestaltung von Texten betrifft. Bei der Komplexität der syntaktischen Formen sind ihre komplette Nutzung, die Kombination der Modelle und ihre Erweiterungsmöglichkeiten allerdings kaum auszuloten. Für die ältere dichterische Sprache, auch was den Beitrag der Dichter für die Weiterentwicklung des Deutschen betrifft, ist das Deutsche verhältnismäßig gut untersucht (vgl. vor allem Langen 1957 und Betten 1987). In groben Zügen lässt sich die Entwicklung im Deutschen dahingehend zusammenfassen, dass seit dem Ende des Barock individuelle Formen immer stärker durchdringen. Seit der Zeit der Klassik und Romantik konkurrieren unaufdringlich-gemäßigte und ungebändigt-individuelle Formen mit einander. Während in der deutschen Klassik und den von ihr beeinflussten gebrauchssprachlichen Textsorten, z. B. der Geschichtsschreibung, überschaubare Sätze und Satzperioden vorherrschen, dringen in die romantische Poesie auch mündliche und archaische Sprachformen ein, etwa im Ellipsen- und Partikelgebrauch (vgl. Simmler 1986). Neuere zusammenfassende Arbeiten fehlen bislang. Allerdings sind in jüngster Zeit vermehrt syntaktische Charakteristika von Schriftstellern untersucht worden, sie zeigen ein umfangreiches Spektrum von Stilformen auf. So arbeitet Ruprecht (2001) für Adalbert Stifter heraus, dass der Dichter seinen Satzbau auf grundlegende Funktionen abstellt. Sätze, die Erzähltes zusammenfassen, eine Übersicht über eine Situation geben und ihr „durch ihre sprachliche Abgehobenheit besonderes Gewicht“ verleihen, bezeichnet er als „Panoramasätze“ (Ruprecht 2001, 171). „Sprachlich neigen sie fast alle zur Reihung und bekommen daher von der grammatischen Struktur her, aber auch durch wiederholte Wörter oder Wortgruppen, eine gewisse Getragenheit. Mehrmals wird dasselbe nacheinander getan oder festgestellt. Die Strukturen gehen selten in die Tiefe, sie sind auch selten unterbrochen, oft sind die Satzelemente gleich oder fast gleich lang, was den Effekt der Getragenheit unterstützt.“ (Ruprecht 2001, 172). Für die Prosa von Thomas Bernhard hat Betten (1998) u. a. das Wechselspiel von „zerhackten“ Kurzsätzen und seitenlangen Satzperioden herausgearbeitet. Günter Grass’ Prosa ist syntaktisch durch eine Fülle von Stilfiguren, rhematischer Beschwerung des Satzbeginns und weiteren Wortstellungsvariationen gekennzeichnet (Eroms 1998). Bei Handke sind u. a. die „Überdehnungen der Valenz von Verben und Adjektiven“ untersucht worden (Koller 1998, 91). Die syntaktischen Charakteristika dichterischer Texte sind immer aber auch im Hinblick auf ihre Verschränkung mit anderen stilistischen Mitteln zu beurteilen, etwa der Morphologie. So schreiben etwa Markus Werner und Daniel Kehlmann in ihren Romanen „Am Hang“ bzw. „Die Vermessung der Welt“ seitenweise Passagen im Konjunktiv. Dies ist auch bei Martin Walser der Fall, der den Kurzsatz bevorzugt und Elemente der gesprochenen Sprache, aber auch andere funktionalstilistischen Register heranzieht. Auf die stilistischen Mischungen von Walter Kempowski ist schon hingewiesen worden. Bei ihm und vielen anderen Gegenwartsautoren werden die stilistischen Möglichkeiten des Satzbaus vor allem durch Verquickung der Register vorgenommen.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Justus-Georg Schottelius: Lobrede von der Uhralten Hauptsprache der Teutschen. [1641]. In: Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse. Herausgegeben von Albrecht Schöne. München 1968, 40⫺42. Süddeutsche Zeitung. München. Markus Werner: Am Hang. Frankfurt 2004.
Hans-Werner Eroms, Passau (Deutschland)
97. Stilistische Phänomene au der Ebene des Textes 1. 2. 3. 4. 5.
Reflexionen über Text und Stil Zum Zusammenwirken von Stilelementen unterschiedlicher Ebenen bei der Textkonstitution Gestaltungsmittel auf der Ebene des Textes Von der ars bene dicendi zur Textstilistik Literatur (in Auswahl)
Abstract This article describes different approaches to language style. It emphasizes that style is best to be characterized based upon complete texts in interaction. In this context, style can be considered as the whole formed by cognitive and linguistic processes made by the communication partners in the interactional context. This contribution also illustrates that stylistic elements of different levels can only function in constituent texts. The most important features for producing (and understanding) texts are, on text level and refer to the expression and indication of intentions and attitudes, the development of the text theme and the repetition of numerous patterns.
1. Relexionen über Text und Stil Die Kennzeichnung der Aufgabenstellung dieses Artikels durch die Herausgeber lässt unterschiedliche Interpretationen zu. Es erscheint daher zweckmäßig, den eigentlichen Darlegungen zu stilistischen Phänomenen auf der Textebene einige grundsätzliche Vorbemerkungen zu den hier apostrophierten Grundbegriffen voranzustellen.
1.1. Kernthesen zum Stilverständnis Die Stilistik steht im Schnittpunkt verschiedener Wissenschaften, von denen hier nur die Literaturwissenschaft, die Linguistik (einschließlich der Textlinguistik), die Soziologie und die Psychologie hervorgehoben werden sollen. Daraus ergibt sich, dass im ,Stilisti-
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Justus-Georg Schottelius: Lobrede von der Uhralten Hauptsprache der Teutschen. [1641]. In: Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse. Herausgegeben von Albrecht Schöne. München 1968, 40⫺42. Süddeutsche Zeitung. München. Markus Werner: Am Hang. Frankfurt 2004.
Hans-Werner Eroms, Passau (Deutschland)
97. Stilistische Phänomene au der Ebene des Textes 1. 2. 3. 4. 5.
Reflexionen über Text und Stil Zum Zusammenwirken von Stilelementen unterschiedlicher Ebenen bei der Textkonstitution Gestaltungsmittel auf der Ebene des Textes Von der ars bene dicendi zur Textstilistik Literatur (in Auswahl)
Abstract This article describes different approaches to language style. It emphasizes that style is best to be characterized based upon complete texts in interaction. In this context, style can be considered as the whole formed by cognitive and linguistic processes made by the communication partners in the interactional context. This contribution also illustrates that stylistic elements of different levels can only function in constituent texts. The most important features for producing (and understanding) texts are, on text level and refer to the expression and indication of intentions and attitudes, the development of the text theme and the repetition of numerous patterns.
1. Relexionen über Text und Stil Die Kennzeichnung der Aufgabenstellung dieses Artikels durch die Herausgeber lässt unterschiedliche Interpretationen zu. Es erscheint daher zweckmäßig, den eigentlichen Darlegungen zu stilistischen Phänomenen auf der Textebene einige grundsätzliche Vorbemerkungen zu den hier apostrophierten Grundbegriffen voranzustellen.
1.1. Kernthesen zum Stilverständnis Die Stilistik steht im Schnittpunkt verschiedener Wissenschaften, von denen hier nur die Literaturwissenschaft, die Linguistik (einschließlich der Textlinguistik), die Soziologie und die Psychologie hervorgehoben werden sollen. Daraus ergibt sich, dass im ,Stilisti-
97. Stilistische Phänomene auf der Ebene des Textes schen‘ vieles und vielerlei zusammenläuft, und vielleicht ist es gerade diese Unbestimmtheit und Vagheit, die dem Phänomen ,Stil‘ ⫺ als charakteristische Art des Handelns von Individuen oder der Ergebnisse dieses Handelns ⫺ eine besondere Attraktivität verleiht. Der Begriff wird daher ⫺ in der Regel positiv konnotiert ⫺ in den verschiedensten Lebensbereichen gebraucht: Arbeitsstil, Möbelstil, Haarstil, Stil einer Mode, einer Kunstepoche, eines literarischen Werkes, von sprachlichen Ausdrucksformen … In diesem Rahmen soll das ,Stilistische‘ auf den sogenannten ,Sprachstil‘ (besser: ,Kommunikationsstil‘) eingegrenzt werden, die besondere Art des Schreib- und Sprechhandelns ⫺ unter Einschluss auch nichtsprachlicher Codes. Doch gehen die Meinungen von Linguisten, Literaturwissenschaftlern und Soziologen über die Zugänge zu diesem Phänomen weit auseinander. Mir liegen mehr als 500 unterschiedliche Stildefinitionen vor. Fast alle sind ⫺ aus je spezifischer Sicht ⫺ wohl begründet (geschuldet häufig einem bestimmten dominierenden Wissenschaftsparadigma). Doch dürfte eine bloße Auflistung dieser Begriffsbestimmungen beim Bemühen um eine Erfassung des Wesens des ,Stilistischen‘ nur wenig weiterhelfen. Statt dessen sollen hier die relevanten stilistischen Grundkonzepte (deren jeweilige Begrenztheiten und Defizite in der Regel zum Stimulus wurden für die Herausbildung eines neuen Modells) ⫺ auf Kernthesen reduziert und in annähernd chronologischer Abfolge ⫺ zusammengestellt werden, und zwar so, dass nur das herausgegriffen wird, was für eine umfassendere Art der Kennzeichnung von Stil unter textlinguistischen Aspekten, einer Textstilistik also, geeignet ist. Im Einzelnen: ⫺ Stil ist die individualisierende Form des sprachlichen Ausdrucks, etwas Individuelles (wie der Daumenabdruck eines Menschen). Erinnert sei hier an die berühmte Sentenz Buffons (1954, 502), die auch von Leo Spitzer aufgegriffen wurde: Le style, c’est l’homme meˆme (Spitzer 1928, 5). ⫺ Stil ist situationsbedingte Ausdrucksgestaltung, d. h. grundsätzlich abhängig von extralinguistischen Faktoren, von denen der/die Partner und die Umgebungssituation als Hauptelemente von Interaktionskonstellationen anzusehen sind (Riesel 1963, 12; Riesel/Schendels 1975; Selting 1997, 29). Konzepte dagegen, die das Stilistische auf Äußerungsstrukturen allgemein, das rein „Formulative“ (Michel 2001, 190), und jene Elemente beschränken, die nicht grammatisch determiniert sind, werden in diesem Rahmen nicht berücksichtigt. ⫺ Stil ist eine ästhetische Kategorie, geprägt durch das Anders-Sagen bei der Ausdrucksgestaltung. Auch diese Basisthese der literaturwissenschaftlichen Stilistik ist kompatibel mit einem textstilistischen Stilverständnis, nicht aber die Restringierung von Stil ausschließlich auf belletristische ,Werke‘ („Stil ist alles, was aus einem Sprachwerk ein Sprachkunstwerk macht.“ (Seidler 1978, 28)). ⫺ Allen sprachlichen Ausdrücken in kommunikativer Verwendung kommt Stil zu. Im Gegensatz dazu gingen rhetorische Forschungen vielfach davon aus, dass sich Stil nur in einzelnen Wörtern, Wortgruppen oder Sätzen (vor allem in den ,Stilfiguren‘) zeigt (dazu Junker 1976). ⫺ Einen Spezialfall der voraufgehenden These stellt die Feststellung dar, dass auch den grammatischen Mitteln ein spezieller Ausdruckswert zukommt (vgl. Schneider 1958). Nicht nur einzelne Wortarten und syntaktische Strukturelemente weisen besondere ,Stilwerte‘ auf, sondern auch grammatische Konstruktionen in ihrem Zusammenwirken (grammatische Synonymie, Gradation des Grammatischen).
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
⫺ Stil als Kontrast, als Abweichung von einer Erwartungs-Norm (s. Riffaterre 1973, 53). Elemente, die im Kontext nicht prädiktabel sind (insbesondere Mittel zum Ausdruck von Emphase), fungieren als ,stylistic devices‘, als Mittel der Hervorhebung. ⫺ Stil ist (Aus-)Wahl bestimmter sprachlicher Elemente aus einer Menge synonymer Ausdrucksmöglichkeiten aus dem gesamtgesellschaftlichen Repertoire einer Sprache (s. Halliday 1964, 92; Dolezˇel 1964, 262: Stil sind „die bei konstantem Informationsgehalt veriablen Züge sprachlicher Äußerungen“). Das Stilistische wird aber auch als Variable verstanden im Hinblick auf extralinguistische Faktoren (Coseriu 1973, 38; Wunderli 2005, 72). ⫺ Stil als zweckmäßige und gesellschaftlich konventionalisierte Verwendung sprachlicher Mittel in Abhängigkeit von bestimmten funktionalen Bereichen (Riesel 1975, 5; Fleischer/Michel 1975, 23 ff.). Bei der Kennzeichnung der Determiniertheit des Stils durch bestimmte Anwendungsbereiche werden fünf große ,Funktionalstile‘ voneinander abgehoben (Riesel 1963, 437). Sie können als Kerngebiete der heute in linguistischen Arbeiten stärker differenzierten Kommunikationsbereiche verstanden werden (Heinemann/Heinemann 2002, 86). ⫺ Stil als semantische/pragmatische Zusatzinformation. Autoren dieses Stilkonzepts („Stil als sekundäre Information zur Steuerung der Interpretation des Rezipienten“, Fix 1987, 133); Stil als „konnotative Potenz“, Lerchner 1984, 38) gehen von der Hypothese aus, dass die sprachlichen Primärstrukturen von Texten ⫺ mit Bezug auf deren semiotische Ganzheit ⫺ grundsätzlich durch „parasitäre“ Strukturen ergänzt werden, die dann das eigentlich Stilistische von Äußerungen ausmachen. ⫺ Stil als Handeln, als ,Art der Handlungsdurchführung‘, „als Resultat aus Absicht, Wahl und Wirkung“ (Sandig 1986, 23). In Anlehnung an die Sprechakttheorie wird hier die sprachliche Handlung mit einer spezifischen Illokution, einem Thema und den situativen Voraussetzungen ins Zentrum der Darstellung gerückt, erweist sich Stil „als das Mittel der Situationsanpassung von Handlungen“ (Sandig 1986, 31). Bei der Auswahl von alternativen Möglichkeiten des Stilhandelns durch den Handelnden spielen dann bestimmte Muster eine entscheidende Rolle. Verwiesen sei hier nur auf das Beispiel des GRÜSSENs, das verschiedene Formen des SAGENs mit einschließt, aber auch andere Formen kommunikativen Handelns umfasst (Sandig 1986, 46).
1.2. Textstilistik All diese Kernthesen (nicht unbedingt auch die mit ihnen verknüpften Modelle) sind heute aktuell wie eh und je, aufhebbar in dem schon erwähnten textstilischen Gesamtansatz ⫺ von Spillner (1997, 253) noch als Desiderat bezeichnet, im Grundansatz schon bei Heinemann/Viehweger (1991, 255), detailliert dann bei Sandig (2006). Aus dieser Sicht kann man Stil verkürzt als Texthandeln bezeichnen, als Handeln mit komplexen Texten in bestimmten interaktionalen Gesamtkonstellationen. Denn „Stil ist ohne Textbezug nicht sinnvoll beschreibbar“ (Heinemann/Viehweger 1991, 12; vgl. Michel 1988, 12). Daraus ergeben sich wichtige Konsequenzen: ⫺ Letztlich kann das Stilistische auf keiner Ebene ohne diesen Textbezug zureichend erfasst und gekennzeichnet werden, da alle Struktur- oder Formulierungsvarianten erst vor dem Hintergrund der Einheitlichkeit von konkreten Ganztexten erklärt werden können.
97. Stilistische Phänomene auf der Ebene des Textes
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⫺ Da Texte als Grundeinheiten der sprachlichen Kommunikation und damit als Instrumente kommunikativen Handelns fungieren, sind sie grundsätzlich intentional geprägt. Daher lassen sich auch stilistische Spezifika auf die jeweilige Intention des Textproduzenten im kommunikativen Gesamtbezug zurückführen (auch wenn natürlich der/die Partner an den Entscheidungsprozessen des Texters beteiligt sind). ⫺ Nicht nur sprachliche Signale stehen daher im Zentrum textstilistischer Konzepte, sondern auch die Gesamtheit der Interaktionsbedingungen und vor allem auch kognitive Phänomene (Kenntnisse, Einstellungen, Intentionen und Prozeduren). Aus dieser komplexen Sicht ergeben sich dann auch die stilistischen Mittel bei der Gestaltung konkreter Texte.
1.3. Grundlagen der Textkonstitution Zu fragen ist nun, wie diese grundsätzliche Textbezogenheit von Stilphänomenen zustandekommt. Wenn es zutrifft, dass Stil „immer ein WIE, bezogen auf ein WAS, und interpretierbar im Hinblick auf ein WOZU“ ist (Sandig 1995, 28), dann muss dieses WIE ⫺ der Prozess der Textgestaltung, der „Art und Weise der Konstitution von Texten“ (Hartmann 1971, 22) ⫺ unter Einschluss vor allem auch vorsprachlicher Prozeduren nochmals hinterfragt werden. Ausgangspunkt jeder Textkonstitution ist natürlich das subjektive Wollen, die Intention eines Individuums in einer konkreten interaktiven Konstellation. Aus der Sicht des Texters ist diese Intention eine relativ feste Ausgangsgröße, denn der Textproduzent weiß natürlich, was er mit Hilfe eines oder mehrerer Partner in einer bestimmten Situation erreichen will. Aber im Grunde kann keiner der an einer Interaktion Beteiligten völlig frei entscheiden, wie er sprechen oder schreiben will (nicht einmal bei der Gestaltung eines literarischen Textes). Denn er ist immer eingebunden in ein situatives Umfeld, das er nolensvolens berücksichtigen muss, wenn er sein Ziel erreichen will. Dadurch aber kann die ursprünglich feste Ausgangsgröße modifiziert werden, entsteht für den potentiellen Texter ein zusätzlicher Spielraum von alternativen Varianten für die Durchsetzung seines Wollens. Solche Modifikationen können schon durch eigene aktuelle Stimmungen, Emotionen und Einstellungsveränderungen des Autors beeinflusst sein. Sie können aber auch den Raum betreffen, temporale Umstände der Interaktion oder den Kommunikationsbereich insgesamt. Zum situativen Umfeld der Interaktion aber gehören vor allem auch der/die Partner mit seinen/ihren Kenntnissen und Einstellungen, die ja für den Texter normalerweise annähernd erwartbare Größen darstellen. (In bestimmten Fällen sind auch Bildungsgrad und Interessen des Partners relevant für das WIE der Textgestaltung). Nicht zuletzt aber gehören zu diesem Umfeld auch Teilmengen der ⫺ von den Individuen als Erfahrungswerte aufgenommenen und gespeicherten ⫺ Konventionen, Normen und Muster aller Ebenen des kommunikativen Handelns in einer Einzelsprache (oder einer regionalen oder sozialen Varietät) zu einem bestimmten Zeitpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung. Gerade diese in einer aktuellen Situation aktivierten Teilbereiche des Sach-, Handlungs- und Textwissens beeinflussen wesentlich die Vertextungsentscheidungen des Textautors. Vor diesem komplexen Hintergrund bestimmt der potentielle Texter (nachdem mit der Intention ja normalerweise auch das Text-Thema ,gesetzt‘ ist) die weitere Ausgestal-
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
tung des Kommunikationsakts, den Umfang und die Struktur des Textes (den Grad der Text-Thema-Entfaltung), bestimmte Vertextungsmuster und nicht zuletzt die äußere und interne Textgestaltung, die Externalisierung (Ausformulierung) von mentalen Wissenseinheiten und deren Verknüpfung zu einer komplexen kommunikativen Ganzheit, zum sprachlich realisierten Gesamttext. In diesem Sinne darf dann der konkrete Text als das Ergebnis einer Vielzahl von strategischen Einzelentscheidungen des Textproduzenten verstanden werden (wobei sich die Ganzheitlichkeit und Einheitlichkeit des Textes letztlich vor allem auf die Intention des Textproduzenten zurückführen lässt). Daher muss der Texter bei der Textproduktion insbesondere darauf achten, dass der jeweilige Rezipient die Intention des Textautors direkt (oder zumindest mittelbar) aus der Textgestalt ablesen bzw. erschließen kann. Außerdem sollten die dabei zu aktivierenden lexikalischen und grammatischen Signale in ihrem Zusammenwirken zur Steuerung des Partner-Verhaltens geeignet sein. Und nebenbei kann der Textautor in der Textformulierung (und durch außersprachliche Mittel) seine Einstellung zum jeweiligen Sachverhalt (gegebenenfalls auch zum Partner) anzeigen und damit seinem Anliegen besonderen Nachdruck verleihen oder auf andere Weise die zu erwartende Reaktion des Textrezipienten beeinflussen.
1.4. Anmerkungen zum Stilbegri Das wiederum impliziert, dass jede kommunikative Aufgabe (quaestio) auf ganz unterschiedliche Weise ⫺ auch durch unterschiedliche Texte ⫺ gelöst werden kann, immer unter den Aspekten der Zweckmäßigkeit (Funktionalität), der Verständlichkeit und der Angemessenheit/Adäquatheit, teils wohl auch der Ästhetik. Erst so wird verständlich, dass Texte grundsätzlich Unikate sind, dass kein Text vollständig einem anderen gleicht. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird auch das Auswählen und Setzen von sprachlichen und parasprachlichen Zeichen und deren kohärente Verknüpfung in einer bestimmten Interaktion als ein wesentliches Merkmal dessen angesehen, was wir im Allgemeinen ,Stil‘ nennen. Verkürzt und zugespitzt formuliert: Stil ist Prozess und Ergebnis von kognitiven und sprachlichen Alternativentscheidungen bei der Textkonstitution. Diese Begrifflichkeit könnte allerdings als zu einseitig, zu produzentenorientiert gesehen werden. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Alternativentscheidungen des Texters auch für die Textrezeption relevant sind. Denn der Adressat sieht sich ja mit den Resultaten der kognitiven Operationen des Texters konfrontiert, mit der komplexen Ganzheit des Textes und seiner Teile in ihrer interaktionalen Einbettung. Er muss den Text und dessen Teiltexte verstehen (auch in der face-to-face-Kommunikation), d. h., er muss den Textsinn aus dem Textangebot des Textproduzenten erschließen, und das bedeutet vor allem wieder, aus der Ganzheit des Textes und seiner Teile dessen Intention und evtl. auch dessen Einstellungen zu erfassen, damit er angemessen darauf reagieren kann. Bei Sprechtexten ist der Rezipient ja unmittelbarer Mitgestalter des Gesamttextes, kommen ihm beim Verstehen sekundäre Interpretationshilfen (Mimik, Gestik, Körpersprache) zugute, werden Ostension (das Zeigen auf die Dinge) und Deixis (das Auf-sieVerweisen) zum Grundgestus der oralen Kommunikation. So vollzieht sich das Kommunizieren unmittelbar imteraktionsbezogen und spontan, werden die sprachlichen Mittel in der Form von elementaren Mustern als ,vorgefertigte‘ Produkte mit mannigfaltigen
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Vernetzungen aus dem Gedächtnis aktiviert, fungieren die sprachlichen Mittel nur als Verstehenshilfen für den Rezipienten zur Identifizierung der vom Texter ausgewählten Stilelemente und zu deren Verknüpfung und Bündelung zum ,Textsinn‘, der ⫺ in der Regel ⫺ mit der Intention des Textproduzenten unmittelbar korrespondiert. Auch bei Schrifttexten werden im Grunde vom Adressaten ⫺ abgesehen von den Spezifika der oralen Kommunikation ⫺ dieselben Operationen vollzogen wie in der Sprechkommunikation, kommt es letztlich darauf an, dass der Rezipient über die vom Texter ausgewählten sprachlichen Mittel den Sinn des Textes (und damit mittelbar die Intention des Schreibers) erschließt.
2. Zum Zusammenwirken von Stilelementen unterschiedlicher Ebenen bei der Textkonstitution Nur wenn die Grundsatzthese berücksichtigt wird, dass Stil immer nur vor dem Hintergrund eines Gesamt-Textes erfass- und beschreibbar ist, kann auch versucht werden, einzelne Teilaspekte der Textgestaltung aus der jeweiligen Gesamtkonstellation herauszulösen und sie ⫺ aus theoretischen oder didaktischen Gründen ⫺ isoliert (d. h. losgelöst vom Kontext) zu kennzeichnen, unter der Voraussetzung allerdings, dass auch auf deren Rolle in spezifischen Textganzheiten verwiesen wird. Da diese spezifischen stilistischen Mittel unterhalb der Textebene (spezielle Mittel auf der Ebene der Lautung (Art. 101), der Lexik (Art. 103), der Wortbildung (Art. 102), der Syntax (Art. 104)) schon an anderer Stelle dieses Buches charakterisiert wurden, könnten diese Phänomene eigentlich in diesem Rahmen übergangen werden. Doch bliebe dann das Gesamtphänomen Stil letztlich ein Torso; denn die konkrete stilistische Rolle der Signale unterer Ebenen ergibt sich doch immer erst aus ihrem Zusammenspiel in konkreten Textganzheiten. Daher soll im Folgenden versucht werden, auf dieses Zusammenspiel an wenigen Beispielen hinzuweisen. Dass dabei nur Kurztexte (und aus ihnen nur Auszüge) berücksichtigt werden können, versteht sich wegen des beschränkten Umfangs solcher Darlegungen von selbst. Im Falle eines literarischen Textes verzichte ich ganz auf die Wiedergabe des Textes und verweise nur auf das Original.
2.1. Rechtstexte BGB, Zweites Buch, 5. Titel: Darlehen, § 607: (1) Wer Geld oder andere vertretbare Sachen als Darlehen empfangen hat, ist verpflichtet, dem Darleiher das Empfangene in Sachen von gleicher Art, Güte und Menge zurückzuerstatten.
Im Sinne des Konzepts der ,Abweichung von einer (Erwartungs-)Norm‘ könnten in diesem (Teil-)Text insbesondere einige Lexeme und Wortgruppen als ,Stilistika‘ bezeichnet werden (Darleiher, das Empfangene, vertretbare Sachen), da sie sich als ,stylistic devices‘ deutlich vom Standard-Sprachgebrauch abheben. Eine solche Feststellung aber würde nicht erklären, warum diese lexikalischen und syntaktischen Mittel so (und nicht anders) eingesetzt wurden.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Bei einem textstilistischen Vorgehen aber ist gerade die Einbindung dieser Mittel in komplexe Texte/Teiltexte (in diesem Falle einen Paragraphen eines Gesetzbuchs) von grundlegender Bedeutung. Der Teiltext in seiner Ganzheit (in dem auch alle hier verwendeten sprachlichen Mittel als Stilistika zu werten sind) wurde vom Gesetzgeber als juristische Festlegung (hier die ,Verpflichtung zur Rückerstattung von Sachwerten, die einer Person überlassen wurden‘) verfasst ⫺ ausgedrückt durch ein performatives Verb (verpflichten). Diese Verpflichtung muss im Gesetz eingegrenzt werden durch eine bestimmte Anzahl von Personen, die dieser Verpflichtung unterliegen. Da Gesetzestexte generell kurz gefasst werden müssen und zudem ein Höchstmaß an Allgemeingültigkeit angestrebt wird (damit ein Text auch auf zahlreiche andere ,Fälle‘ anwendbar ist), entscheidet sich der Gesetzgeber in diesem Falle für eine konditionale WENN-DANN-Konstruktion, in der das kurze und verallgemeinernde wer den Vorzug erhält vor alternativen Formulierungen ( jeder, der …; wenn eine Person … empfangen hat). Und von hier aus wird auch die besondere Wortwahl verständlich (,Darleiher‘ statt der umständlichen Formulierung ,Person, die ein Darlehen vergeben hat‘). Diese eigenwilligen Wortprägungen sind ⫺ da sie nach den Regularitäten der deutschen Sprache gebildet sind ⫺ normalerweise auch für Laien verständlich. Insofern erweist sich dieser Textauszug im Hinblick auf Knappheit, Allgemeingültigkeit, Exaktheit und Verständlichkeit als angemessene Form der Gestaltung eines Gesetzestextes.
2.2. Alltagsgespräche (Auszüge) In der Küche: … Meine Brille ist weg. / Wo hast du sie denn zuletzt gehabt? / Weiß ich eben nicht, sonst würde ich ja dort suchen. So weg war sie jedenfalls noch nie … Beim Fernsehen: … Kennst du die? / Ne … / Ich glaube, die hat bei den ,Manns‘ mitgespielt. / Ja? Auf jeden Fall aber war sie schon mal bei irgendeinem ,Tatort‘ dabei … Beim Kaffeetrinken: … O je, der Kaffee ist aber heute von starken Eltern. Damit kannst du ja Tote wieder lebendig machen. / Das wollte ich gar nicht. Ich habe nur zu wenig Wasser nachgeschüttet … / Hammer nun wenigstens Kaffeesahne? …
Auch in diesen Teiltexten gibt es wieder zahlreiche phonetische, lexikalische und grammatische Abweichungen von einer standardsprachlichen Erwartungsnorm (hammer, ne, wegsein, von starken Eltern sein, subjektlose Sätze, Satzabbrüche usw.). Sie entsprechen der lockeren Sprechweise der Alltagskommunikation, in der die Kommunizierenden spontan bestimmte Stereotype, die zum jeweiligen Anliegen und zur Situation passen, aus dem Gedächtnis als „Fertigprodukte“ abrufen. Auch hier wirken alle sprachlichen Mittel unterschiedlicher Ebenen zusammen zur Konstitution der jeweiligen Teiltexte. Das volle Verständnis dieser Teiltexteinheiten ergibt sich nur für die am jeweiligen Akt Beteiligten. Für Außenstehende sind bei einer Interpretation verschriftlichter Alltagstexte situative Hinweise (Beim Fernsehen) sowie Erläuterungen zu deiktischen Verweisen (die …) unerlässlich.
2.3. Literarische Texte Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. Berlin/Weimar 1972. „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen? …“
97. Stilistische Phänomene auf der Ebene des Textes
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Bei literarischen Texten kommt zum ohnehin textbezogenen Zusammenspiel sprachlicher Elemente aller Ebenen noch eine ästhetische Komponente hinzu. Statt einer einfachen Absichtserklärung (,Ich will hier berichten über Joseph und seine Brüder, die schon vor langer Zeit lebten‘) breitet Thomas Mann ein komplexes und vielschichtiges ästhetisches Netz aus, das im Grunde den ganzen Roman umfasst. Ausgehend von einer Metapher (dem Brunnen der Vergangenheit, der unergründlich tief ist) reicht dieses Netz zu Joseph, dessen Vater Jaakob, zu Abraham und Noah, ja bis zu den Anfängen der Menschheit. Um diesen geradezu allumfassenden Ansatz, die ,Tiefe‘ der Vergangenheit zu verdeutlichen, rückt der Autor das Prädikativ tief als eine Art Leitwort an den Anfang des ganzen Romans, abweichend von der Normalstellung dieser Prädikation. Dass sich Thomas Mann dann doch auf jene Zeitebene konzentriert, in der die Josephs-Handlung spielt, dass er sich beim Erzählen immer wieder ,verliert‘, dann aber den Erzählfaden sicher wieder aufnimmt, dass er weitschweifig, ja umständlich formuliert und vieles in überlangen ⫺ und oft auch unübersichtlichen ⫺ Sätzen bündelt, kann hier nicht im Einzelnen verfolgt werden. Wichtig erscheint uns in diesem Zusammenhang nur, dass all die Ereignisse und Details, die der Dichter in diesem Werk liebevoll kennzeichnet, nur wirklich verstehbar sind in ihrem Zusammenhang, in ihrer Kohärenz, die schon durch die erwähnte Ausgangsmetapher begründet wird. Erst „die ganzheitliche Beschreibung von Stilelementen“ (Sandig 1995, 46) und der Bezug auf den Gesamttext in seiner kontextuellen Gebundenheit kann daher auch ⫺ wenigstens in ersten Ansätzen ⫺ ein wichtiger Schritt sein zum umfassenderen Verständnis des Stils und auch des ästhetischen Gehalts dieses Kunstwerks.
3. Gestaltungsmittel au der Ebene des Textes Aus den Überlegungen zu Text und Stil geht schon hervor, wie außerordentlich schwierig ⫺ und problematisch ⫺ es ist, einzelne Aspekte der Textkonstitution aus der Gesamtheit und Komplexität der Phasen des Gesamt-Prozesses herauszulösen und sie ⫺ gleichsam für sich ⫺ zu charakterisieren. Denn die Textkonstitution vollzieht sich eben als einheitlicher Prozess des Zusammenwirkens vorsprachlicher und sprachlicher Aktivitäten in einer konkreten Interaktion von zwei (oder mehreren) Partnern. Dabei spielen gerade die kognitiven Dispositionen und (Vor-)Entscheidungen des Textproduzenten als Leitorientierungen für den gesamten Prozess der Textgestaltung eine dominierende Rolle. Sie sind wesentlich durch die allgemeinen situativen Bedingungen in einer interaktiven Konstellation und die Ziele des Textproduzenten geprägt. Daraus resultiert auch, dass sich im Grunde der gesamte Prozess der Textkonstitution ⫺ auf allen Ebenen ⫺ auf die jeweilige Intention des Textautors zurückführen lässt. Daher nimmt auch das Indizieren der Textintention durch den Texter in unserer Darstellung eine Vorrangstellung ein. Aber das Intentionale allein reicht zur Kennzeichnung des Stils eines Textes nicht aus. Eng verbunden damit sind auch soziale Aspekte, insbesondere das Eingehen des Texters auf den jeweiligen Partner in der aktuellen Kommunikationskonstellation (nach Halliday 1964, 92, macht das den „style“ eines Textes i. e. S. aus). Und dabei spielen natürlich auch die Einstellungen des Textautors eine wichtige Rolle. Hinzu kommen noch alle Aspekte der ,eigentlichen‘ Textherstellung: das Aktivieren von allgemeinen Kommunika-
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tionsmaximen und Mustern (immer unter Einbeziehung von Konventionen und Normen), die Strukturierung, die Ausformulierung und Variierung des Textes bis in die letzten sprachlichen Details. Obwohl all diese kognitiven und sprachlichen Gegebenheiten und Prozesse aufs engste miteinander verknüpft sind und die Textgestaltung praktisch fast simultan abläuft, werden hier einzelne Aspekte ⫺ sofern sie für die Gesamtkonstitution des Textes unverzichtbar sind ⫺ gesondert (in einer Art des Nacheinanders) dargestellt. Dabei werden nicht nur die jeweils aktualisierten Gestaltungsmittel hervorgehoben, sondern auch mögliche Alternativen (unter jeweils veränderten Bedingungen) erörtert.
3.1. Indizierung der Intention des Textproduzenten Jeder Mensch verfolgt mit seinem Handeln bestimmte Ziele, die auf die Veränderung von Zuständen bei Objekten, Ereignissen oder Personen/Personengruppen gerichtet sind. Daher bildet das soziale bzw. interaktive Umfeld den situativen Rahmen für jedes Handeln, den jeder im Blick haben muss, wenn er seine Ziele erreichen will (s. die „Kognizierung von Situation und Partner“, Heinemann/Viehweger 1991, 115 ff.). Da kommunikative Ziele immer über einen Partner verfolgt werden, muss der Handelnde sein Anliegen/ seine Intention in irgendeiner Form (mittels sprachlicher Zeichenketten, gegebenenfalls begleitet von kinetischen Signalen) so in den Text einbringen, dass der Textrezipient versteht (oder zumindest erschließen kann), was der kommunikativ Handelnde in einer bestimmten Interaktion erreichen will. Selbst wenn der Texter (in relativ wenigen Fällen) das Ziel haben sollte, seine eigentliche Absicht nicht zu erkennen zu geben, so verfolgt er doch eine Intention, nämlich den Text vieldeutig oder für den Rezipienten unverständlich zu gestalten. Der Begriff der Intention spielt naturgemäß insbesondere in der psychologischen Fachliteratur eine besondere Rolle (u. a. Rickheit/Strohner 1993, 229 ff.; Schnotz u. a. 1981, 45 („gedankliche Antizipation von Eigenschaften künftiger Zustände“). In der textlinguistischen Diskussion (s. Heinemann/Heinemann 2002, 15 ff.) werden Ziele (für praktische Handlungen) von Intentionen (für kommunikative, partnerbezogene Handlungen) voneinander abgehoben. Dabei sind Intentionen immer an Gesamttexte gebunden, während der Terminus Illokution nur als Teilaspekt der intentionalen Komponente (auf Einzelsätze und satzwertige Äußerungen bezogen ⫺ wie übrigens auch in der Anfangsphase der Sprechakttheorie) verstanden wird. In einer konkreten Interaktion darf die Intention des Textproduzenten als feste Größe gelten, denn der Texter weiß natürlich, was er im Rahmen des Kommunikationsakts erreichen will. Zur Indizierung von fundamentalen Zielen des Texters und auch der aktuellen Intention ergeben sich dennoch zahlreiche Möglichkeiten, in Abhängigkeit von sozialen Anlässen und Bedingungen, aber auch von eigenen Befindlichkeiten. Wie mannigfaltig die Möglichkeiten zur Variierung einer einzigen Grundintention ausfallen können, sei an einem (allerdings für Lehrzwecke konstruierten) Teil-Text demonstriert. In einer Gerichtsverhandlung will der Staatsanwalt den im Rahmen der Vernehmung zur Sache über eine Reihe von nur vermuteten Behauptungen als Mittäter bei einer Straftat überführen. Der Angeklagte wiederum hat die Grundintention, die als Feststellung formulierte Behauptung des Staatsanwalts zurückzuweisen. Diese Intention ent-
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spricht seinem fundamentalen Ziel, seine Interessen zu verteidigen und in der Verhandlung ev. einen Freispruch zu erreichen. Staatsanwalt: Sie waren also gestern zwischen 22 und 23 Uhr bei Ihrer Freundin. Angeklagter: a) Hm … Kopfschütteln b) Nein. Das stimmt nicht. Das trifft nicht zu. c) Ich war gestern nicht bei meiner Freundin. Ich hatte gestern doch gar keine Zeit für einen Besuch meiner Freundin. Das war nicht gestern, sondern vorgestern. Das wollte ich zwar, aber da ist etwas dazwischengekommen. d) Nein und nochmals nein! Das ist eine Unterstellung. Das kann niemand behaupten. Diese Behauptung muss ich entschieden zurückweisen. e) Da irren sie sich! Denkste!
Im Einzelnen handelt es sich bei a) um ein Zurückweisen mit kinetischen Mitteln; Ausdruck von Unsicherheit oder Angst. b) um einfache und allgemeine Zurückweisungen. c) um die Korrektur der Behauptung, verbunden mit einem Eingehen auf den Sachverhalt. d) um die Verstärkung der Zurückweisung, Ausdruck für ein starkes Selbstvertrauen des Betroffenen. e) um ein ausgeprägt selbstbewusstes, teils sogar frech-provozierendes Auftreten. Jede einzelne realisierte Antwort-Reaktion des Angeklagten ist natürlich ein Stilistikum im jeweiligen Text. Aber die hier vorgestellte ⫺ und erweiterbare ⫺ Menge an (Aus-) Wahl-Möglichkeiten bezieht sich auf das umfangreiche gesamtgesellschaftliche Repertoire der deutschen Gegenwartssprache. Das Individuum aber kann in der konkreten Situation nur zwischen wenigen (von ihm gespeicherten und unmittelbar abrufbaren) Varianten entscheiden. In der Regel kommt der Beteiligte gar nicht zur Reflexion; er entscheidet sich für jene Variante, die in seinem Speicher für die konkrete Situation ⫺ aufgrund seiner positiven Erfahrungen in analogen Situationen ⫺ an oberster Stelle steht. Diese Entscheidung korrespondiert normalerweise auch mit konventionellen Interaktionsmustern und Normen. Nur relativ selten greift der Textproduzent zum Ausdruck seiner Intention auf performative Verben/Konstruktionen zurück (bitten, feststellen, zurückweisen, verbieten …). Aufforderungen aller Art können z. B. auch durch grammatische Mittel indiziert werden wie Imperativformen, Modalverben, sein⫹zu⫹Inf-Konstruktionen (vgl. Buscha u. a. 1998, 246). Der Texter muss seine Intention auch nicht vollständig explizit machen. Er kann auch ⫺ wie bei der Textgestaltung allgemein ⫺ Teile des Anzuzeigenden weglassen, wenn er annehmen darf, dass die Rezipienten das Fehlende ohnehin kennen oder sich zumindest erschließen können. Aber auch beim impliziten Ausdruck der Intention muss
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der Textproduzent sicher sein, dass der Adressat sein Anliegen erfassen und entsprechend reagieren kann. (Es wäre gut, wenn du dich mal um X kümmern würdest … / statt direkter Aufforderung /; Vater zum Sohn: Der Rasen müsste endlich mal gemäht werden …).
3.2. Zu Einstellungsbekundungen Aufs engste mit den Intentionen von Textern verknüpft sind deren Einstellungen zu Objekten und Ereignissen allgemein, vor allem aber zu Personen und Werten. Sie sind nicht unmittelbar mess- und beschreibbar, aber sie bilden eine entscheidende Grundlage für das Handeln der Menschen, insbesondere auch für das kommunikative Handeln, da sie stets mit Wertungen verknüpft sind und so unmittelbaren Einfluss auf alle intentionalen und textuellen Entscheidungsprozesse haben. Mit Viehweger (1977, 108) kennzeichnen wir Einstellungen zunächst als „relativ konstante, habituelle Richtungsdispositionen des menschlichen Verhaltens“, ergänzen aber zugleich, dass es sich hier nur um die Bereitschaft zu einem bestimmten Verhalten („readiness to behaviour“, Deprez/Persoons 1987, 125) handelt, dass diese ,attitudes‘ oft durch aktuelle Ereignisse modifiziert oder auch grundlegend verändert werden können („aktuelle Einstellungen“, Clauß u. a. 1978, 122 ff.). In der Spezialliteratur wird zwischen kognitiven und valuativen Einstellungen unterschieden. Beide Teilbereiche dürfen als grundlegend für die Herausbildung von Intentionen angesehen werden. In ihrer Komplexität kommt ihnen als „erworbene Verhaltensmuster“ (Clauß 1978, 123) steuernde Orientierungsfunktion zu ⫺ zur Selbstdarstellung (Image-Dimension), zur Beziehungsgestaltung, zum Ausdruck von Wertungen. Bei der Textproduktion muss der Texter nicht unbedingt auch seine Einstellungen (z. B. zum Textinhalt oder zum Partner) zu erkennen geben (im Gegensatz zu seiner Intention). Er sollte aber bedenken, dass Einstellungsbekundungen nicht nur das ,Klima‘ eines Kommunikationsakts wesentlich beeinflussen, sondern auch dem eigenen Anliegen besonderen Nachdruck verleihen können. Umgekehrt kann aber auch das Nichtausdrücken der Einstellungen vom Partner als Reflex der Texter-Intention interpretiert werden. Als Mittel der Indizierung von Einstellungen werden direkte Ausdrucksweisen (außer bei sehr persönlichen Kontakten) als eher inadäquat angesehen (Ich finde dich einfach gut. ⫺ Die Muslime sind doch alle Terroristen.). Es dominieren auch bei den Einstellungsbekundungen vor allem indirekte und implizite Formen. (Sie sind damit offenbar in diesem Kreise gut angekommen. ⫺ Für Polen habe ich mich schon immer interessiert.).
3.3. Text-Thema und Themen-Entaltung Alle oben genannten Faktoren wirken ein auf die Ausgestaltung des Text-Themas (das ja für den Textproduzenten mit der Intention gleichsam ,mitgesetzt‘ ist). Die Auswahl des Text-Themas bzw. eines Themenkomplexes (,Thema‘ wird hier als Kern, als Grundbzw. Leitgedanke eines Kommunikationsakts gefasst, s. Brinker 1992, 55) ist daher für den Texter in der Regel kein Problem, wohl aber die Frage der Themen-Entfaltung, d. h. die „gedankliche Ausführung des Themas“ (Brinker 1992, 60). Sie wird wesentlich durch kommunikative und situative Faktoren mitbestimmt, u. a. durch den Partner (und seine sozialen und kommunikativen Parameter) sowie den jeweiligen Charakter der Partnerbe-
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ziehung, aber auch durch die aktuelle Einstellungskonstellation zwischen den Partnern. (Es ist schon von Bedeutung, ob ein und dasselbe Thema vor Schülern oder Erwachsenen erörtert wird, in einem Gespräch mit einem oder sehr vielen Partnern, in einer offenen und freundschaftlichen oder vielleicht sogar in einer eher feindseligen Atmosphäre.) Nicht zuletzt aber sind es bestimmte Interaktions- bzw. Textmuster (die ja großenteils auch bestimmte Thementfaltungen implizieren), die der Texter aufgrund seiner kommunikativen Erfahrungen abruft und die ihm praktische Orientierung geben für die Art und Weise der thematischen Ausgestaltung des konkreten Textes. In wenigen Fällen (etwa bei Grußpostkarten oder Einladungen) kann sich der Textproduzent mit der einfachen direkten oder umschreibenden Benennung des Text-Themas ⫺ möglicherweise ergänzt durch erläuternde Details ⫺ zufriedengeben (Herzliche Grüße aus X. ⫺ Zur Feier meines 50. Geburtstages lade ich W. und M. herzlich ein. Zeit: … Ort: …). Die Komprimierung der textuellen Ausgestaltung auf ein Minimum ist bei diesen beiden Textsorten aus pragmatischen Gründen von vornherein gegeben. In den meisten Fällen muss der Kommunizierende ⫺ eben wegen der Besonderheiten von Partner und Situation ⫺ weitaus mehr Teilintentionen und Informationen in einen Text einbringen als bei den oben genannten Textsorten, wenn er kommunikativ erfolgreich sein will. Vielfach ist es notwendig, Begründungen anzuführen (z. B. für eine Bitte, einen Antrag oder eine Entschuldigung); oft sind auch Spezifizierungen von Gegenständen oder Sachverhalten unerlässlich (temporale bzw. lokale Fixierungen, Angaben über die Art der Ausführung einer bestimmten Handlung, die Ursachen einer Naturkatastrophe usw.); bei anderen Anlässen sind wiederum Explikationen gefordert (etwa über das Funktionieren eines Gerätes/einer Maschine, Erklärungen über den Zusammenhang von Ereignissen usw). Diese thematischen ,Zusatzkomponenten‘ sind dann Teilaspekte eines ,werdenden‘ Textes, wobei die Aufgabe des Texters nicht nur darin besteht, die in der konkreten Interaktion jeweils notwendigen bzw. zweckmäßigen Komponenten auszuwählen; ebenso wichtig ist es auch, diese thematischen Teilkomponenten zu ordnen, d. h. sie in eine bestimmte sinnvolle Abfolge und zugleich in kohärente Beziehung zueinander und zum Gesamttext zu bringen (durch propositionale und pragmatische Integration). Dadurch erhält der Text dann eine thematische Grobstruktur ⫺ bestehend aus thematischen Blöcken ⫺, einen Strukturrahmen, der wiederum die Grundlage für die ,eigentliche‘ textuelle Ausgestaltung bildet. Für Bewerbungen sind z. B. folgende thematische Komponenten relevant: Briefkopf ⫺ Zielkomponente (Bewerbung bei …, als …, Motivation) ⫺ Begründungskomponente (derzeit tätig als …, Zeugnisse, Qualifikationen …) ⫺ Schlussformel ⫺ Briefschluss (s. Heinemann/Viehweger 1991, 229 f.). Normalerweise muss der Texter diese Aufgaben selbst übernehmen. Dabei kann er sich aber an ,Vertextungsmustern‘ (z. B. narrativen, deskriptiven, explikativen Mustern) orientieren, die sich in der kommunikativen Praxis als erfolgreich erwiesen haben (vgl. dazu 3.4; Brinker 1992, 63 ff.). Teils werden diese sogar als kommunikative Normen angesehen. Die begründete Abweichung von solchen Normen darf daher auch als spezielles Stilistikum betrachtet werden. Für manche Textsorten vor allem des öffentlichen Verkehrs gibt es heute sogar obligatorische thematische Vorgaben ⫺ teils auch schon mit weiterführenden Hinweisen zur Textgestaltung ⫺, die eine wesentliche Erleichterung für einen Antragsteller darstellen und die er aus dem Internet abrufen kann (z. B. Studienbewerbungen).
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik Der Texter kann die thematische Struktur des Textes (in Schrifttexten) auch formal durch eine Gliederung mit Überschriften und Teilüberschriften besonders markieren. Das erleichtert die Verstehensprozesse der Rezipienten wesentlich.
3.4. Musterabruung und Textkonstitution In diesem ⫺ besonders wichtigen ⫺ Kapitel kommt vieles zum Tragen, was in der traditionellen Stilistik eine besondere Rolle spielte: Konversationsmaximen und Kommunikationsmaximen (-prinzipien), Stilzüge, Vertextungsmuster, Darstellungsarten, Textmuster und Textsorten, Stilmuster, Stiltypen und Stilverfahren, Stilelemente. Zusammenfassend ließen sich diese unterschiedlichen stilistischen Aspekte allgemein unter dem Rahmenthema ,Kognition und Textgestaltung‘ subsumieren. Da das Kognitive aber noch weiter gefasst werden muss, wurde hier der Begriff des kognitiven Musters als Rahmen für den Versuch einer Kennzeichnung all dieser Phänomene gewählt. Kognitive Muster wurden auch von der Hirnforschung registriert, neuronale Netze, die unter bestimmten Bedingungen „Kaskaden von Erregungsmustern“ erkennen lassen (Der Spiegel 07/2007, 149). Aber deren Zuordnung zu den hier apostrophierten praktischen Prozessen des Kommunizierens bleibt doch noch Desiderat weiterer Forschung. Obwohl die Existenz solcher kognitiver Muster aufgrund praktischer Erfahrungen und von Plausibilitätsüberlegungen heute als weitgehend gesichert angesehen werden kann (s. Heinemann/Viehweger 1991, 129 ff.), bleiben diese Muster doch eher hypothetische und vage Größen. Daher werden auch in der Fachliteratur ganz unterschiedliche Phänomene auf unterschiedlichen Ebenen ohne Differenzierung als Muster gekennzeichnet: Handlungs-, Text-, Wissens-, Aufforderungs-, Erzähl-, Satz-, Wortbildungs-, Intonations-, Stilmuster, um nur einige zu nennen (s. Heinemann 1990, 10). Gemeinsam ist diesen Mustern nur, dass sie sich als psychische Konzepte/Schemata erweisen, die als Orientierungsrahmen für Prozesse der Konstitution und des Verstehens sprachlicher Einheiten fungieren. Im Folgenden werden diese unterschiedlichen Phänomene in drei Haupttypen ⫺ in Abhängigkeit von der jeweiligen Basis ⫺ unterteilt: Interaktionsmuster, globale Textmuster/Textsorten, Textteilmuster unterhalb der Textebene. All diese ,integrierenden Gestaltungsprinzipien‘ werden ⫺ das wurde schon erwähnt ⫺ fast gleichzeitig (aber doch wohl in dieser Reihenfolge) aktiviert. 3.4.1. Die Interaktionsmuster werden nicht als Vorgaben i. e. S. verstanden, sie gelten eher als selbstverständliche Voraussetzungen für das Kommunizieren (da sie von allen Kommunikationsteilnehmern mit Beginn eines jeden Kommunikationsprozesses gleichsam automatisch abgerufen werden). Der Textproduzent weiß ohne besondere Reflexionen, mit welchem Partner/welchen Partnern er es zu tun hat (haben will), er identifiziert auch sofort die Spezifika der aktuellen Umgebungssituation in der spezifischen Interaktionskonstellation. Und damit weiß er auch, welcher Kanal für das geplante Kommunikationsereignis in Frage kommt, mit welchen Störungen des Kommunikationsprozesses zu rechnen ist, welche Modalitäten dabei eine Rolle spielen. Aus der Interaktion ergeben sich für ihn aber auch grundlegende Herangehensweisen an den Kommunikationsakt, allgemeinste Interaktionsprinzipien. Schon bei Grice (1968) wurden bekanntlich solche Grundsätze ⫺ bezogen auf die Konversation ⫺ formuliert.
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Sie sind vielfach (auch kritisch) aufgegriffen worden und werden hier zusammenfassend als Konversations- und Kommunikationsmaximen gefasst. Als solche seien hier hervorgehoben: die allgemeine Bereitschaft zur Kooperation mit dem/den Partner(n), die Bereitschaft, auf den Partner einzugehen und ihm ein verständliches Textangebot zu machen, ihm für ihn Neues und Relevantes zu übermitteln … 3.4.2. Auch globale Textmuster können als Reflexe erfolgreichen kommunikativen Handelns im Bewusstsein der Kommunizierenden angesehen werden. Sie sind auf Prozesse der Konstitution und des Verstehens von Texten, von Textganzheiten, gerichtet. Natürlich könnte ein Handelnder unter bestimmten interaktionalen Bedingungen auch selbst ausprobieren, welche sprachlichen (und nichtsprachlichen) Mittel er am effektivsten zur Durchsetzung seiner Ziele einsetzen könnte. Aber das wäre sehr aufwändig, würde sehr viel Zeit erfordern und wohl auch nicht mit Sicherheit zum Erfolg führen. Daher orientieren sich die kommunikativ Handelnden an solchen globalen Textmustern, die z. T. (bei usuellen Textsorten) als ganzheitliche Schemata so gefestigt sind, dass sie nur routinehaft reproduziert und verbalisiert werden müssen. Auf eine Zusammenstellung der Wesensmerkmale und Spezifika der ⫺ mehrdimensional geprägten ⫺ Textmuster sowie auf die Differenzierung von globalen Textmustern und Textsorten muss hier verzichtet werden (dazu Heinemann/Heinemann 2002, 132 ff.). Im Folgenden steht Textmuster für den kognitiven Rahmen textuellen Handelns, Textsorte dann für die Auffüllung eben dieses Rahmens in einer konkreten Interaktionskonstellation. Hervorhebung verdient weiter, dass alle Textexemplare textsortenspezifisch geprägt sind, d. h. normalerweise einer bestimmten Textsorte zuordenbar sind. Verwiesen sei auch darauf, dass den Individuen keineswegs alle Spezifika eines Textmusters bewusst sind; offenbar gilt das nur für bestimmte Kern- bzw. Rahmenmerkmale, die in holistisch kondensierter Form im Langzeitgedächtnis gespeichert sind. Detaillierte Handlungsschemata zur Hervorbringung und zum Verstehen von Textexemplaren einer bestimmten Textsorte folgen dann erst als sekundäre Operationen auf der Basis dieses Kernwissens. Und gerade aus stilistischer Sicht erscheint es schließlich noch wichtig, dass alle Textmuster gleichsam Leerstellen (slots, s. Christmann 2000, 118) aufweisen, die dann von den Textern in unterschiedlicher Weise ⫺ aufgrund ihrer kommunikativen Erfahrungen ⫺ aufgefüllt werden. Als Teilkomponenten der komplexen Textmuster lassen sich folgende Musteraspekte voneinander abheben: ⫺ Situationsmuster als Handlungsrahmen, bezogen auf eine konkrete Interaktion (z. B. bei einem Prüfungsgespräch: Schule als Kommunikationsbereich, Schulgebäude, Prüfungsraum, prüfender Lehrer und zu prüfender Schüler, zeitliche Begrenzung). ⫺ Textstrukturmuster, bezogen auf thematische Blöcke (vgl. 3.3), Muster für die Entfaltung eines Text-Themas. (z. B. beim Prüfungsgespräch: Frage-Antwort-Dialog zu bestimmten Themen, bis die Schüler-Kenntnisse/Fähigkeiten zureichend bewertet werden können). Als spezielle Textstrukturmuster können Vertextungsmuster/Darstellungsmuster für typische kommunikative Darstellungsaufgaben angesehen werden: Erzählen, Berichten, Beschreiben, Argumentieren … (vgl. Heinemann/Heinemann 2002, 187 f.).
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
⫺ Textgestaltungs-/Textverfahrensmuster, zunächst bezogen auf die ,Stilzüge‘ der traditionellen Stilistik. Stilzüge werden als grundlegende Herangehensweisen, als strategische Leitlinien für die Textgestaltung betrachtet (Fleischer/Michel 1975, 62 f.: kurz : breit, konkret : abstrakt, prägnant : polyvalent, eindringlich : distanziert …), wobei jeweils ein Bündel von bestimmten Stilzügen als charakteristisch für eine bestimmte Textsorte angesehen wird (z. B. für Prüfungsgespräche konkret, prägnant, distanziert). Hinzu kommen spezielle stilistische Verfahrensmuster, die vor allem bei der Realisierung sekundärer Intentionen (der Selbstdarstellung, der Beziehungsgestaltung, der Aufwertung des Partners …) helfen können: Variieren, Pointieren, Exemplifizieren, Weglassen, Verstärken, Abweichen von Erwartungsnormen, Veranschaulichen … ⫺ Textsortenspezifische Formulierungsmuster. Nur wenige der sprachlichen Gestaltungsmittel von Texten sind so typisch für eine bestimmte Textsorte, dass sie auch als Komponente eines globalen Textmusters gelten dürfen. Bei einigen Textsorten wie Märchen (Es war einmal …), Gerichtsverhandlungen (Im Namen des Volkes …) oder Briefen (Sehr geehrter Herr …, Mit freundlichen Grüßen …) lassen sich mehrere Beispiele dafür finden. Bei Prüfungsgesprächen könnten bestimmte Frage- und Aufforderungskonstruktionen als Beispiele genannt werden. All diese Teilmuster wurden hier nur aus Gründen der Darstellung gesondert aufgeführt ⫺ in der kommunikativen Praxis wirken sie natürlich komplex zusammen und machen das ganzheitliche Wissen über ein globales Textmuster aus (dazu gehören zahlreiche Merkmale sowohl der Situation, des Handlungsbereichs als auch des Textes selbst). Inhalte und Umfang solcher Muster sind aufgrund der Erfahrungen der Individuen unterschiedlich. Doch sind auch diese individuellen Erfahrungen wesentlich mitgeprägt durch Konventionen und Normen (z. B. die Erwartungen einer Gesellschaft, wie man einen Geschäftsbrief schreibt, wie man sich um eine Arbeitsstelle bewirbt …). Daher beziehen sich diese Darlegungen auch nur auf prototypische (und konventionell geprägte) Mustervorstellungen von durchschnittlichen Erwachsenen. Wenn sich ein kommunikativ Handelnder beispielsweise wegen eines konkreten Grundes veranlasst sieht, einen Antrag an die zuständige Behörde zur Genehmigung des Fällens eines Baums im Garten zu verfassen, dann könnte das aktivierte Textmuster mindestens die folgenden Musterelemente umfassen (wobei die Teilmuster ,Brief‘ und ,Bitten‘ miteinander vernetzt werden): sachorientierte, höfliche und möglichst kurze Darstellung. Briefkopf mit typischer Anordnung (Layout) der Einzelangaben: (Angaben zur eigenen Person, genaue Anschrift der zuständigen Behörde, betrifft: ,Bezug: …) Initialteil und Briefkern: (Ort und Datum, Anliegen/Intention: Antrag auf …, Anrede: Sehr geehrte Damen und Herren. Einleitung (Hiermit stelle ich den Antrag auf …, Anliegen i. e. S., Begründung/ ev. mit Eimstellungskundgabe/ (weil …, und außerdem …). Terminalteil (Schlussformel: In der Hoffnung auf … Mit freundlichen Grüßen, Unterschrift, ev. Anlagen … (vgl. auch Heinemann/Viehweger 1991, 226 f.). Zum Muster gehört auch, dass der Texter den Antragsbrief in einen Briefumschlag steckt, diesen beschriftet und in einen Briefkasten einwirft. Texte entstehen so in Relation zu diesen globalen Textmustern. Zugleich werden für den Handelnden zahlreiche Spielräume zur Variierung des Musterrahmens eröffnet: Änderung der Textstruktur (Begründung vor dem eigentlichen Anliegen), bei der Auffüllung der Leerstellen im Text, bei der Wortwahl … Sandig (1986, 147) spricht daher auch in diesem Zusammenhang von speziellen ,Textmusterstilen‘.
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3.4.3. Die Teilmuster unterhalb der Textebene (Formulierungsmuster und Formulierungsvarianten) waren bereits Gegenstand anderer Teilkapitel dieses Handbuchs. Daher beschränken sich die Darlegungen zu dieser Thematik nur auf wenige allgemeine Verweise. Diese ,Muster unterhalb der Textebene‘ werden hier als ,Formulierungsmuster‘ zusammengefasst (s. Heinemann/Heinemann 2002, 135 f.). (Eine Subsumtion dieser Phänomene unter dem Terminus ,Stilmuster‘ erscheint dagegen weniger adäquat, da dieser Terminus im Sinne der vorliegenden Konzeption weiter gefasst werden müsste.) Hervorhebung verdient, dass sich all diese Muster auf der Formulierungsebene als ,sekundäre Muster‘ erweisen, da sie großenteils aus einem globalen Textmuster abgeleitet sind und zur ,Auffüllung‘ von Teilbereichen des Textmusterrahmens dienen. Sie bewirken u. a. die Einheitlichkeit des Textes (Kohärenz der Textelemente) und die Effizienz der jeweiligen sprachlichen Interaktion. Traditionell werden diese Muster nach den Ebenen des Sprachsystems voneinander abgehoben (Muster der phonetischen, der syntaktischen, der lexikalischen Ebene). Da sie aber in der praktischen Kommunikation grundsätzlich zusammenwirken (s. Abschnitt 2), wird hier eine Differenzierung nach der spezifischen Art der kognitiven Abrufungs-/Identifizierungsprozesse (Stereotype/Routinemuster einerseits und Variierungsmuster/Formulierungsvarianten andererseits) vorgenommen. Zum größten Teil handelt es sich dabei um Formulierungsroutinen (Stereotype), die insbesondere der Textherstellung dienen: Muster der Satzkonstitution (der Satzstrukturierung, des Tempusgebrauchs, der Deixis, der Satzkombination), phonetische und lexikalische Muster (der Intonation, der Hervorhebung, Benennungsmuster, Muster für Fachtermini …). Das alles sind ,Fertigprodukte‘ zum Prädizieren, Referieren und ,Kollokieren‘ (zur Herstellung syntaktischer und semantischer Verbind- und Vereinbarkeiten) (Er … fährt … morgen … nach … X.), wobei alle Ebenen nahezu gleichzeitig an der Konstitution von Wortgruppen, Sätzen und Teiltexten beteiligt sind. Entsprechend der Kapazität des individuellen Gedächtnisses ist die Anzahl solcher Muster-Routinen, die letztlich das schnelle und effektive Kommunizieren erst möglich machen, außerordentlich groß; doch sind die Prozesse der Abrufung dieser Muster im Einzelnen kaum beschreibbar (zu Problemen der formelhaften Sprache s. Coulmas 1979; Heinemann 1984; Stein 1995). Auch die Stilfiguren, die „prototypischsten Stilelemente“ (Sandig 1995, 47), sind natürlich hierher zu stellen. Eine wesentlich kleinere Menge stellen jene Muster dar, die der Textdarstellung, genauer: der Erzeugung spezifischer kommunikativer Effekte, dienen. Diese Variierungsmuster/Formulierungsvarianten erweisen sich als kommunikativ (insbesondere durch Intentionen und Teilintentionen) geprägte Muster: Anredemuster in bestimmten Situationen, Begrüßungsmuster, Einleitungsmuster für das Abfassen eines offiziellen Schreibens, Erwiderungsmuster, Beschwichtigungsmuster, Höflichkeitsmuster, Muster der Imagepflege, des Wiederholens, des BITTENs, des FRAGENs, des WÜNSCHENs … Mit Hilfe dieser Rahmen-Muster können die eher grammatisch geprägten Routine-Muster entsprechend der jeweiligen kommunikativen Situation und im Sinne der Interessen der Handelnden modifiziert werden (vgl. Sandig 2006, 147 ff.). Warum es im Einzelfall zu solchen Variierungsentscheidungen der Texter kommt, ist zwar in der Regel erschließbar, kann aber kaum generalisiert werden. Wenn die Autorin Cecilia Ahern ihrem Buch den Titel „Vermiss mein nicht“ (statt erwartbarem „Vergiss mein nicht“) gibt, dann ist hier neben der allgemeinen Lust an der Variation, am Spielen mit der Sprache, auch das Auslösen von Aufmerksamkeit/Neugier bei potenziellen Lesern im Spiel. Und der Erfolg gibt ihr Recht: Das Buch ist (nicht nur wegen seiner
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
literarischen Qualitäten) zum Bestseller geworden. Bei einem Fußballbericht in der Presse beziehen sich die Variierungen auf die Benennung von Gegenständen (Ball, Fußball, das Leder, das Runde …) und Ereignissen (ein Tor schießen, die Führung erzielen, den Ball im Netz unterbringen, den Angriff erfolgreich abschließen, einen Strafstoß verwandeln …), auch auf die Sequenzierung der Äußerungseinheiten und deren Hervorhebung sowie die sprachliche Ausgestaltung der jeweiligen Prädikationen. Werbetexter präferieren heute vielfach englischsprachige Lexeme und Wendungen (hair-styling, service-point, coffee to go …) in der Erwartung, die entsprechenden Gegenstände/Sachverhalte auf diese Weise aufwerten und damit zur Gewinnmaximierung beitragen zu können. In der Alltagskommunikation wiederum lösen fraglos auch emotiv und situativ bedingte Sekundärziele bestimmte Variierungen aus (Lexeme mit bestimmten Konnotationen, emotionale Appell- und Kundgabemittel, Bildhaftigkeit und Bildlichkeit …).
3.5. Musterabruung und Textrezeption Für die Musterabrufung bei der Textrezeption gilt im Grunde dasselbe wie beim Umgehen mit Mustern bei der Textproduktion; die Unterschiede in der Art der Abrufung und der Abfolge der kognitiven Aktivitäten resultieren aus den jeweiligen Spezifika bei der Herstellung bzw. beim Verstehen und Verarbeiten von Texten. Daher kann sich dieses Teilkapitel auf marginale Anmerkungen zur Textrezeption beschränken. Natürlich stehen auch hier die Interaktionsmuster, die Kognizierung von Situation und Partner in einer bestimmten Interaktionskonstellation, am Anfang der Aktivitäten von Textrezipienten. Von der Identifizierung eben dieser Situationsmuster hängt es vor allem ab, mit welcher Texterwartung, welcher „pragmatischen Voraborientierung“ (Heinemann/Heinemann 2002, 167), der Kommunizierende sich dem künftigen Kommunikationsakt zuwendet. Vorausgesetzt werden muss immer, dass der Handelnde zum Kommunizieren mit eben diesem Partner/diesen Partnern bereit ist und dass seine Intention auf das Verstehen des zu erwartenden Textes gerichtet ist. Handelt es sich bei dem Partner um einen Professor an einem Pult in einem Hörsaal, so wird der potentielle Adressat einen ganz anderen Text erwarten als von einer Mitarbeiterin einer Bank am Serviceschalter. Diese spezifischen ,Situationsmuster‘ (auf der Basis von situativen und kontextuellen Präsignalen) erlauben dem Rezipienten Annahmen und erste Rückschlüsse nicht nur auf den Inhalt des potentiellen Textes (gegebenenfalls auch auf Vertextungsmuster), sondern in ersten Ansätzen auch auf die jeweilige Intention des Textproduzenten. Damit grenzen die ,Situationsmuster‘ die gesamte Rezeptionstätigkeit ein und fokussieren das Textverstehen. Das eigentliche Textverstehen kann nicht auf das bloße und eher passive Übertragen von sprachlichen Teilinformationen in die entsprechenden kognitiven Repräsentationen beschränkt werden, sondern ist immer auch als aktives Konstruieren von Textsinn zu verstehen (Mandl 1981, 4), bei dem der Rezipient über die gegebenen sprachlichen Textdaten hinausgeht und die in der Regel vage Textstruktur durch entsprechende Vorkenntnisse aus seinem Bewusstseinsspeicher „auffüllt“, diese also in das Sinn- und Teilsinnfinden inferiert. Daher enthält das Verstehenskonstrukt immer ein Mehr an Information gegenüber dem Ausgangstext. In diesem Sinne erfolgt also das Verstehen nicht nur textgeleitet, sondern insbesondere auch wissensgeleitet (durch Vor- und Musterwissen), geprägt durch die jeweilige soziale Interaktion.
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Das Verstehen des Textes selbst vollzieht sich sukzessive zunächst als eine ad-hocErfassung, das Aufnehmen und Identifizieren von Wortmustern und deren Einbindung in Satzteilmuster zu chunks (Verstehensblöcken bzw. Teilsinneinheiten), die wiederum mit den folgenden chunks zu Propositionen und immer komplexeren Sinneinheiten zusammengefügt werden, wobei alle Teilinformationen, die aus der Sicht des Rezipienten unwesentlich sind, eliminiert und zugleich auch fortlaufend Vorwissenselemente in den Verstehensprozess involviert werden. Der Rezipient erschließt sich auf diese Weise sukzessive die Textstruktur und damit die Form der Themenentfaltung, versucht zugleich auch auf dieser Grundlage, das entsprechende globale Textmuster aus dem Gedächtnisspeicher abzurufen und mit dem aktuellen Text zu vergleichen (bei inadäquaten Lösungen erfolgt das Abrufen eines ähnlichen Musters, bis Kongruenz hergestellt ist). Aus Interaktionsmuster, Textmuster und Teilmengen der Textdaten kann der Rezipient in der Regel über Vergleichs- und Schlussoperationen auch die (wahrscheinliche) Intention des Textproduzenten erschließen. Erst wenn auch dieser Prozess erfolgreich war, kann vom wirklichen Verstehen des Textes gesprochen werden. Da das Textverstehen dem Rezipienten ⫺ trotz eigener Aktivitäten ⫺ in dieser Weise einfach „passiert“ und großenteils unbewusst abläuft, kann der Adressat die bereits vollzogenen alternativen Entscheidungen des Textproduzenten gar nicht wahrnehmen. Daher fragt er normalerweise auch nicht, ob und wie der Textproduzent anders hätte formulieren können. Anders verhält es sich natürlich, wenn die Textgestaltung insgesamt oder in bestimmten Teilen von Erwartungshaltungen abweicht, wenn z. B. ein Gebrauchstext in literarisch überhöhter Form daherkommt oder wenn einem Textproduzenten grobe Fehler bei der Textkonstitution unterlaufen sind, die das Verstehen erschweren oder zu Missverständnissen führen. Bei literarischen Texten hingegen, wo das Stilistische durch Wohlklang und Wohlgeformtheit einzelner Formulierungen ohnehin in den Fokus des Rezipienten rückt, wird das Anders-Sagen in der Regel wenigstens partiell wahrgenommen. Vergleicht man zusammenfassend die grundlegenden kognitiven Aktivitäten von Textproduzenten und Rezipienten, so darf man festhalten: ⫺ Der Textproduzent will über das Abrufen von Interaktions- und globalen Textmustern (sowie zahlreichen Teilmustern) kognitive Wissensinhalte aus der Perspektive seiner Intention ordnen, sie verbalisieren und einen konkreten Text erzeugen, dessen Teile durch Kohärenzbeziehungen unterschiedlicher Art die Einheitlichkeit (und Verständlichkeit) des Gesamttextes gewährleisten und der ⫺ das sei hier nochmals hervorgehoben ⫺ die Realisieung seiner Intention bewirken soll. ⫺ Die Intention des Textrezipienten ist dagegen ⫺ seine Bereitschaft zum Kommunizieren vorausgesetzt ⫺ auf das Verstehen eines Textes und damit vor allem auf das Erfassen der jeweiligen Intention des Textproduzenten gerichtet. Gelegentlich sind schon durch Interaktionsmuster/Situationsmuster bestimmte Indikatoren gegeben, die auf das Kommunikationsziel des Texters verweisen. In der Regel muss sich der Textrezipient durch das sukzessive Identifizieren von Präsignalen und Textdaten Aufschlüsse verschaffen über kleine und größere Sinneinheiten des Textes. Dabei spielt das Mustererkennen durch Vergleichs- und Schlussprozeduren auf der Grundlage bestimmter Indikatoren eine entscheidende Rolle. So erweisen sich das Erfassen des jeweiligen Interaktionsmusters und das Schließen auf die Intention des Textproduzenten ⫺ über das Aktivieren und Wiedererkennen von Interaktions- und Textmustern ⫺ als die grundlegenden kognitiven Aktivitäten des Textrezipienten.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
4. Von der ars bene dicendi zur Textstilistik Es ist ein langer Weg, den die Forschung zu Problemen des Stils zurückgelegt hat. Lange Zeit war das Phänomen überhaupt nicht beachtet worden; das Reflektieren von kommunikativen Prozessen kam ohne ein Nachdenken über das Zustandekommen von besonderen Wirkungen kommunikativer Aktivitäten aus. Das eher intuitive Erfassen von erfolgreichen Strategien einzelner Sprecher darf wohl als Ausgangspunkt für ein Nachdenken über die Besonderheiten der Wortwahl beim Sprechen ⫺ schon in der antiken Rhetorik ⫺ angesehen werden, hier noch verstanden als besondere subjektive Leistung, als Kunst, eben als ars bene dicendi, als etwas, was einem Äußerungskomplex zu seiner Effektivierung hinzugefügt wurde. Dieses anfangs funktionale, später aber vor allem ästhetische Interesse schlug sich auch im Gegenstand des Untersuchens nieder: Nur literarische Werke konnten lange Zeit nach dem dem Werk Hinzugefügten befragt werden, und auch das Tun des Interpreten galt als besondere ,Kunst‘. Im Laufe der Jahrhunderte verstärkte sich auch das Interesse an den spezifischen sprachlichen Mitteln, die offenbar die Kunst des Anders-Sagens ausmachten. Einzelne Lexeme, Wortgruppenparaphrasen, lautliche, syntaktische und vor allem lexikalische Variierungen galten als geheimnisvolle Stilistika, sofern sie als Auswahl aus einer Menge von Ausdrücken mit demselben oder einem zumindest ähnlichen Referenzbezug bzw. als Mittel der Hervorhebung/des Kontrasts betrachtet werden konnten. Später kam es dann zu einer sukzessiven Ausweitung des Gegenstands des Kommunizierens: Außer literarischen Werken wurden nach und nach auch Teile von journalistischen Äußerungskomplexen, später auch Gebrauchstexte aller Art und sogar Alltagstexte unter dem Aspekt ihres kommunikativen Funktionierens untersucht. Diese fast revolutionär zu nennende Ausweitung des Gegenstands war zudem verbunden mit der Fokussierung auch von nichtsprachlichen Faktoren der Kommunikation, der Umgebungssituation und interaktiver Konstellationen, deren Einfluss auf die konkrete Textgestaltung sich als außerordentlich wichtig erwies. Mit der pragmatischen Wende wurde auch die Sicht auf das Stilistische grundlegend verändert: Jedes Sprechen und Schreiben wurde als spezielle Form kommunikativen Handelns verstanden, mithin auch die spezielle Art der Handlungsdurchführung als Teilakt solchen Texthandelns mit besonderer Betonung illokutiver Potentiale. Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt zur Textstilistik von heute (s. Sandig 2006), die als ,Aufhebung‘ aller voraufgehenden Bemühungen um das ,Stilistische‘ betrachtet wird, die Weitergeltung bisheriger Ansätze mit eingeschlossen (vgl. Abschnitt 1). Texte werden nun nicht nur als Grundeinheiten des Kommunizierens schlechthin, als Instrumente kommunikativen Handelns gesehen, sondern auch als unverzichtbare Basiseinheiten für das Stilistische verstanden. Texte können unter sonst gleichen Interaktionsbedingungen in ganz unterschiedlicher Weise gestaltet werden; entscheidend dafür sind kognitive (und sprachliche) Alternativentscheidungen des Textproduzenten bei der Textkonstitution. Sie bewirken letztlich die besonderen kommunikativen Effekte in Kommunikationsprozessen. Die Darlegungen mussten sich beschränken auf allgemeine Kennzeichnungen des Stilistischen und das Zustandekommen von besonderen stilistischen Effekten. Nicht näher eingegangen werden konnte in diesem Rahmen auf das Analysieren von Texten unter stilistischen Aspekten und vor allem auch auf Fragen der Bewertung von Stilen.
97. Stilistische Phänomene auf der Ebene des Textes
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5. Literatur (in Auswahl) Brinker, Klaus (2005): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Berlin. de Buffon, Georges Louis Leclerc (1954): Discours prononce´ a` l‘Acade´mie Franc¸oise par M. de Buffon, le jour de sa re´ception. In: Jean Pivetau: Œuvres philosophiques de Buffon. Paris, 500⫺504. Buscha, Joachim u. a. (1998): Grammatik in Feldern. Ismaning. Christmann, Ursula (2000): Aspekte der Textverarbeitungsforschung. In: Brinker, Klaus u. a. (Hrsg.): Text- und Gesprächslinguistik. HSK-Band 16.1. Berlin/New York, 113⫺122. Clauß, Günter u. a. (Hrsg.) (1978): Wörterbuch der Psychologie. Leipzig. Coseriu, Eugenio (1973): Probleme der strukturellen Semantik. Tübingen. Coulmas, Florian (1979): Routine im Gespräch. Zur pragmatischen Fundierung der Idiomatik. Wiesbaden. Deprez, Kas/Yves Persoons (1987): Attitude. In: Ammon, Ulrich u. a. (Hrsg.): Soziolinguistik. HSKBand 3.2. Berlin/New York, 125⫺131. Dolezˇel, Lubomir (1964): Vers la stylistique structurale: Travaux linguistiques de Prague 1. Prag. Fix, Ulla (1987): ,Kommunikativ adäquat‘ ⫺ ,stilistisch adäquat‘. Zu Problemen, Kategorien und Kriterien der Redebewertung. Diss. B. Leipzig. Fleischer, Wolfgang/Georg Michel (1975): Stilistik der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig. Grice, H. Paul (1968): Utterer’s meaning, sentence-meaning and word-meaning. In: Foundations of Language 4, 1⫺18. Halliday, Michael (1964): The Linguistic Sciences and Language Teaching. London. Hartmann, Peter (1971): Texte als linguistisches Objekt. In: Beiträge zur Textlinguistik. München, 9⫺29. Heinemann, Margot/Heinemann, Wolfgang (2002): Grundlagen der Textlinguistik. Interaktion ⫺ Text ⫺ Diskurs. Tübingen. Heinemann, Wolfgang (1984): Stereotype Textkonstitutive, Textkommentare, pragmatische Formeln. In: Linguistische Arbeitsberichte 44, 35⫺48. Heinemann, Wolfgang (1991): Textsorten/Textmuster. Ein Problemaufriss. In: Mackeldey, Roger (Hrsg.): Textsorten/Textmuster in der Sprech- und Schriftkommunikation. Leipzig, 8⫺16. Heinemann, Wolfgang/Viehweger, Dieter (1991): Textlinguistik. Eine Einführung. Tübingen. Junker, Helmut (1976): Rhetorik und Textgrammatik. In: Romanistische Forschungen 1976, 378⫺ 382. Lerchner, Gotthard (1984): Konnotative Textpotenz. In: Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache 4, 38⫺48. Mandl, Heinz u. a. (Hrsg.) (1981): Zur Psychologie der Textverarbeitung. Ansätze, Befunde, Probleme. München. Michel, Georg u. a. (Hrsg.) (1988): Sprachliche Kommunikation. Leipzig. Michel, Georg (2001): Stilistische Textanalyse. Eine Einführung. Hrsg. von Karl-Heinz Siehr und Christine Kessler. Frankfurt. Rickheit, Gert/Strohner, Hans (1993): Grundlagen der kognitiven Sprachverarbeitung. Tübingen/ Basel. Riesel, Elise (1963): Stilistik der deutschen Sprache. Moskau. Riesel, Elise/Schendels, Evgenija (1975): Deutsche Stilistik. Moskau. Riffaterre, Michael (1973): Strukturale Stilistik. München. Sandig, Barbara (1986): Stilistik der deutschen Sprache. Berlin/New York. Sandig, Barbara (1995): Tendenzen der linguistischen Stilforschung. In: Stickel, Gerhard (Hrsg.): Stilfragen. Berlin/New York, 27⫺61. Sandig, Barbara (2006): Textstilistik des Deutschen. Berlin/New York. Schneider, Wilhelm (1958): Stilistische deutsche Grammatik. Basel/Freiburg/Wien.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Schnotz, Wolfgang u. a. (1981): Kognitive Prozesse beim Zusammenfassen von Lehrtexten. Forschungsbericht. Tübingen. Seidler, Herbert (1978): Grundfragen einer Wissenschaft von der Sprachkunst. München. Selting, Margret (1997): Interaktionale Stilistik. Methodologische Aspekte der Analyse von Sprechstilen. In: Selting, Margret/Sandig, Barbara (Hrsg.): Sprech- und Gesprächsstile. Berlin/New York, 3⫺43. Spillner, Bernd (1997): Stilvergleich von Mehrfachübersetzungen ins Deutsche. In: Fix, Ulla/Wellmann, Hans (Hrsg.): Stile, Stilprägungen, Stilgeschichte. Heidelberg, 207⫺230. Spitzer, Leo (1928, 1980): Stilstudien. Paris/Darmstadt. Stein, Stephan (1995): Formelhafte Sprache. Untersuchungen zu ihren pragmatischen und kognitiven Funktionen im gegenwärtigen Deutsch. Frankfurt u. a. Viehweger, Dieter (1977): Zur semantischen Struktur des Textes. In: Danesˇ, Frantisˇek/Viehweger, Dieter (Hrsg.): Probleme der Textgrammatik II. Berlin, 103⫺117. Wunderli, Peter (2005): Stilistische Implikationen variationslinguistischer Modelle. In: Jacob, Daniel/Krefeld, Thomas/Oesterreicher, Wulf: Tübingen, 61⫺86.
Wolfgang Heinemann, Leipzig (Deutschland)
98. Stilistische und rhetorische Phänomene au der Ebene des Diskurses 1. 2. 3. 4.
Der Diskurs-Begriff Linguistische Diskursanalysen Stilistische und rhetorische Phänomene im Diskurs Literatur (in Auswahl)
Abstract Rhetoric and stilistic phenomena in discourses have been well-investigated in the last twenty years. In this article at first the concept of discourse, which is used in the relevant linguistics, will be explicated: In different accentuations research refer back to the concept of discourse by Foucault. The linguistic paradigms, which hence are grown-up, are all interested in social interaction: They research the common, social knowledge, which has been linguistical construed long ago and in the present. For this construction there are specific linguistic instruments, whose analysis will be presented in this article in the form of a review of the hitherto research: About the key words, which have been used in thematically defined discourses and with which a specific construction of reality or a specific world-view have been worded; and about the representativeness (imagery, Kollektivsymbole), which is constitutive for specific discourses, not only in single texts. As a third (rhetoric) category the analysis of patterns of arguments or of topoi in discourses will be presented on the basis of examples. Further stylistic categories of analysis, which are used in linguistic discourse analysis, will be finally registered. The stylistic and rhetoric phenomena in discourses, which
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Schnotz, Wolfgang u. a. (1981): Kognitive Prozesse beim Zusammenfassen von Lehrtexten. Forschungsbericht. Tübingen. Seidler, Herbert (1978): Grundfragen einer Wissenschaft von der Sprachkunst. München. Selting, Margret (1997): Interaktionale Stilistik. Methodologische Aspekte der Analyse von Sprechstilen. In: Selting, Margret/Sandig, Barbara (Hrsg.): Sprech- und Gesprächsstile. Berlin/New York, 3⫺43. Spillner, Bernd (1997): Stilvergleich von Mehrfachübersetzungen ins Deutsche. In: Fix, Ulla/Wellmann, Hans (Hrsg.): Stile, Stilprägungen, Stilgeschichte. Heidelberg, 207⫺230. Spitzer, Leo (1928, 1980): Stilstudien. Paris/Darmstadt. Stein, Stephan (1995): Formelhafte Sprache. Untersuchungen zu ihren pragmatischen und kognitiven Funktionen im gegenwärtigen Deutsch. Frankfurt u. a. Viehweger, Dieter (1977): Zur semantischen Struktur des Textes. In: Danesˇ, Frantisˇek/Viehweger, Dieter (Hrsg.): Probleme der Textgrammatik II. Berlin, 103⫺117. Wunderli, Peter (2005): Stilistische Implikationen variationslinguistischer Modelle. In: Jacob, Daniel/Krefeld, Thomas/Oesterreicher, Wulf: Tübingen, 61⫺86.
Wolfgang Heinemann, Leipzig (Deutschland)
98. Stilistische und rhetorische Phänomene au der Ebene des Diskurses 1. 2. 3. 4.
Der Diskurs-Begriff Linguistische Diskursanalysen Stilistische und rhetorische Phänomene im Diskurs Literatur (in Auswahl)
Abstract Rhetoric and stilistic phenomena in discourses have been well-investigated in the last twenty years. In this article at first the concept of discourse, which is used in the relevant linguistics, will be explicated: In different accentuations research refer back to the concept of discourse by Foucault. The linguistic paradigms, which hence are grown-up, are all interested in social interaction: They research the common, social knowledge, which has been linguistical construed long ago and in the present. For this construction there are specific linguistic instruments, whose analysis will be presented in this article in the form of a review of the hitherto research: About the key words, which have been used in thematically defined discourses and with which a specific construction of reality or a specific world-view have been worded; and about the representativeness (imagery, Kollektivsymbole), which is constitutive for specific discourses, not only in single texts. As a third (rhetoric) category the analysis of patterns of arguments or of topoi in discourses will be presented on the basis of examples. Further stylistic categories of analysis, which are used in linguistic discourse analysis, will be finally registered. The stylistic and rhetoric phenomena in discourses, which
98. Stilistische und rhetorische Phänomene auf der Ebene des Diskurses
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are presented here, have in common, that they occur serial and regularly in a wide selection of texts. This seriality and regularity is the basis for discourse analyses, which differ from the linguistic analysis of texts.
1. Der Diskurs-Begri In den letzten zwanzig Jahren sind Diskursanalysen in der Linguistik hoffähig geworden. Dass sie dabei ausdrücklich auf Begrifflichkeiten, Konzepte oder Analysekategorien der Rhetorik oder Stilistik Bezug genommen hätten, lässt sich nur in sehr vermitteltem Sinn behaupten. Denn einerseits beziehen sich Rhetorik und Stilistik auf Texte (bzw. Reden), während Diskurse per definitionem text-übergreifende Gegenstände sind. Eine enge Anlehnung an Rhetorik und Stilistik ist daher nicht naheliegend. Andererseits bestehen Diskurse aus einer Vielzahl von Texten, die wiederum von alters her mit rhetorischen und stilistischen Kategorien beschrieben werden. Insofern liegt es wiederum nahe, dass auch beim Blick über den einzelnen Text hinaus stilistische Phänomene eine Rolle spielen und von Diskursanalysen berücksichtigt werden müssen. Und tatsächlich lassen sich fast alle linguistisch konkret fassbaren Objekte, die von Diskursanalysen untersucht werden, auch als stilistische Phänomene auffassen. Stil wird dabei verstanden als Auswahl von typischen, wiederkehrenden Formen sprachlicher Mittel (vgl. Linke 2003, 42 f.). Einige Diskursanalysen erwähnen auch ausdrücklich die Herkunft ihrer Analysekategorien (z. B. Metaphern oder Topoi) aus der traditionellen Rhetorik. Solche Kategorien werden allerdings in Diskursen mit anderen Erkenntnisinteressen betrachtet und anders interpretiert als in Rhetorik und Stilistik. Vorab soll geklärt werden, auf welches Diskurs-Verständnis sich die folgende Darstellung bezieht. Auch soll ein kurzer Überblick über die verschiedenen diskursanalytischen „Schulen“ gegeben werden. Mit Diskurs wird hier nicht Bezug genommen auf Diskursanalysen als Analysen mündlicher face-to-face-Gespräche. Auch ist hier nicht der Habermas’sche Diskurs-Begriff gemeint, der gerade im deutschsprachigen Raum immer noch eher mit dem Ausdruck Diskurs verknüpft wird als das hier gemeinte Konzept. „Geeigneter als Bezugspunkt für eine diskurshistorische Analyse ist [vielmehr] der sozialphilosophische Diskursbegriff Foucaults.“ (Jung 2000, 21) Nicht nur für diskurshistorische, sondern auch für synchrone Diskursanalysen ist dies bei den diskursanalytischen „Schulen“ Konsens, auch wenn der Bezug auf Foucaults Diskurs-Begriff recht unterschiedlich aussieht (vgl. dazu z. B. Keller u. a. 2001/2003; Wengeler 2003, 76 ff.).
2. Linguistische Diskursanalysen Eine gute Zusammenschau der Aspekte und Vorstellungen, die die linguistische Adaption des Foucaultschen Diskurs-Begriffs auszeichnen, liefern Fraas/Klemm. In ihre Darstellung (Fraas/Klemm 2005, 4 f.) sind sowohl die inzwischen schon traditionell zu nennende Begründung des Diskurs-Begriffs durch Busse/Teubert (1994, beruhend auf Busse 1987) wie auch jüngere, z. T. dem Bemühen um einen erweiterten und angemesseneren Gegenstand der Textlinguistik geschuldete Überlegungen eingeflossen:
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
(1) Diskurse sind Verbünde inhaltlich zusammengehöriger Texte; (2) Diskurse sind Netze von Zeichen, Spuren und Fährten von Wissenssegmenten; (3) Diskurse bilden Bezugsgrößen für Einzeltexte, denn Texte existieren nicht isoliert, sondern stehen im Verbund mit koexistierenden Texten; (4) Diskurse können als „Gespräche“ zwischen Texten aufgefasst werden, sind also durch Dialogizität gekennzeichnet; (5) Diskurse sind eine Form von „interaction in society“, denn „language users actively engage in text and talk not only as speakers, writers, listeners or readers, but also as members of social categories, groups, professions, organizations, communities, societies or cultures“ (van Dijk 1997, 3); (6) Diskurse können als „virtuelle Textkorpora [aufgefasst werden], deren Zusammensetzung durch inhaltliche Kriterien bestimmt wird“ (Busse/Teubert 1994, 14). Insofern linguistische Diskursanalysen also Diskurse auf der Ebene der gesellschaftlichen Interaktion ansiedeln, ist ihnen auch ein Erkenntnisinteresse gemeinsam: Gesellschaftliches, soziales Wissen in Form der (vor)herrschenden sozialen Konstruktionen von Wirklichkeit in der Vergangenheit oder in der Gegenwart zu erforschen: „Historische Diskurssemantik […] entwirft das Szenario des kollektiven Wissens einer gegebenen Diskursgemeinschaft in einer gegebenen Epoche hinsichtlich des zum Untersuchungsgegenstand erwählten thematischen Bereiches“. (Busse 1987, 267) Das kann sie deshalb, weil Diskurse als Formationssysteme von Wissen verstanden werden, in denen auf gesellschaftlicher Ebene ein Thema verhandelt wird. Erfassbar und analysierbar sind solche Wissenssysteme aber nur in Texten. Diese wiederum bestehen aus Einheiten, die mit rhetorischen und stilistischen Kategorien zu beschreiben sind, bei deren Analyse aber nicht ihre Funktion für die Textkohärenz, die „Schönheit“, die funktionale Angemessenheit oder die Überzeugungskraft des Textes interessiert, sondern ihre Rolle für die Konstitution und Verbreitung des in diesen Einheiten „kondensierten“, ausgedrückten, präsupponierten und vermittelten gesellschaftlichen bzw. kollektiven Wissens. Aus dem seriellen, regelhaften Vorkommen solcher Einheiten werden jeweils Rückschlüsse auf das zu einer Zeit in bestimmten Gruppen oder auch gesamtgesellschaftlich (vor)herrschende Wissen gezogen. Oder es werden die in demokratischen Gesellschaften konkurrierenden und umstrittenen sprachlichen Konstruktionen dieses „Wissens“ erkannt und beschrieben. Methodisch lassen sich drei analytische Herangehensweisen unterscheiden: (1) Die gründliche Analyse eines Einzeltextes. Damit dieses Verfahren als diskursanalytisch bezeichnet werden kann, muss der Einzeltext entweder als repräsentativ für einen Diskurs deklariert oder durch explizite Verweise auf andere Texte, die durch analogen oder ähnlichen Aufbau, Thematik, Wortwahl, Argumentation etc. gekennzeichnet sind, als diskurstypisch plausibel gemacht werden. Als exemplarisch für ein solches Vorgehen sei auf die programmatischen Vorschläge und die Analysen von Maas (1984) und Jäger (1993, 2001) verwiesen. In solchen Analysen werden zahlreiche rhetorische und stilistische Phänomene von der Wortwahl über die Bildlichkeit bis zum Satzbau untersucht. Da es sich dabei allerdings nur um Phänomene auf der Ebene des Textes handelt, werden solche Analysen hier nur berücksichtigt, insofern sie den Stellenwert dieser stilistischen Mittel für den Diskurs plausibel machen können. (2) Die beschreibende, oft narrative Analyse eines Diskursverlaufs anhand eines mehr oder weniger großen Textkorpus, bei dem rhetorische und stilistische Phänomene wie Wortwahl, Metaphorik oder Argumentationstopoi im Mittelpunkt stehen, um
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Kontinuitäten und Veränderungen in der Wirklichkeitskonstruktion im Diskurs aufzuzeigen. Exemplarisch können hier einerseits Analysen der Kritischen Diskursanalyse wie Jäger 1994 (zu BILD), Link 1993 (Feindbild Süd) oder van Dijk (2000) genannt werden, andererseits die Analysen aus dem Oldenburger Projekt zu EthikDiskursen, die „Diskursgenesen“ ausdrücklich als Untersuchungsgegenstand wählen (z. B. Sindel 1999; Sturm 2002), und drittens die sich an die Begriffsgeschichte der Historiker anschließenden diskurssemantischen Analysen, die sich auf die Bedeutsamkeit der Bedeutungs- bzw. Gebrauchsveränderungen wichtiger Schlüssel- oder Leitwörter in einem Diskurs konzentrieren (z. B. Stötzel/Wengeler 1995; Böke/ Liedtke/Wengeler 1996). (3) Analysen, die ein großes Textkorpus gezielt hinsichtlich des Vorkommens bestimmter stilistischer Phänomene auswerten, um die Konstitution eines Weltausschnitts durch sprachliche oder bildliche Mittel rein synchron zu erfassen oder durch zeitliche Schnitte bzw. im chronologischen Verlauf Veränderungen im gesellschaftlichen Wissen anhand dieser Phänomene zu beschreiben. Hierzu gehören sowohl die Analysen der Wiener Kritischen Diskursanalyse (vgl. z. B. Matouschek/Wodak 1993; Wodak u. a. 1998; Wodak/van Dijk 2000) als auch die Düsseldorfer Analysen zum Einwanderungsdiskurs (vgl. Jung/Wengeler/Böke 1997; Jung/Niehr/Böke 2000; Niehr 2004; Wengeler 2003). Aber auch Arbeiten wie die von Busch (2004) und Spitzmüller (2005) können hier verortet werden. In grober Vereinfachung lassen sich zwei unterschiedliche linguistische „Schulen“ benennen, die hier ihren Selbstbezeichnungen entsprechend als „Kritische Diskursanalyse“ und als „Historische Diskurssemantik“ unterschieden werden sollen (vgl. dazu auch den Überblick von Bluhm u. a. 2000 und Wengeler 2005). Während bezüglich der hier nun interessierenden stilistischen Phänomene auf der Ebene des Diskurses die beiden genannten Ausrichtungen z. T. gleiche Kategorien benutzen, unterscheiden sie sich vor allem hinsichtlich der Art und Weise, wie sie sich auf Foucault berufen, welche Elemente seines vielschichtigen Diskurs-Begriffs sie wie übernehmen, modifizieren und operationalisieren, sowie hinsichtlich ihres wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Anspruchs. Da beides aber nicht im Mittelpunkt dieses Beitrags steht, soll hier der Hinweis genügen, dass die „Kritische Diskursanalyse“ sich als kritisch vor allem in dem Sinn versteht, dass sie „Diskurstheorie und empirische Diskursanalyse mit praktischem, gesellschaftsveränderndem Handeln“ zu verbinden sucht. Sie will „verdeckte, diskursiv verfestigte Formen der Machtausübung, sprachliche Manipulations- und Ausschließungsstrategien sichtbar machen“ und „explizit Stellung gegenüber den analysierten Praxen beziehen“ (Bluhm u. a. 2000, 4). Demgegenüber versteht sich die „Historische Diskurssemantik“ als eher deskriptive Analysemethode, die nur dadurch, dass sie die sprachlichen Mechanismen und Formen der Weltkonstitution bzw. der (vor-)herrschenden Konstruktion kollektiven Wissens aufzeigt, bewusst macht, dass es auch anders sein könnte, und die es dem Rezipienten überlässt, daraus eigene (kritische) Schlüsse zu ziehen.
3. Stilistische und rhetorische Phänomene im Diskurs 3.1. Wortwahl: Schlüsselwörter, Leitvokabeln Schon in der traditionellen und der von den Historikern mit der Sozialgeschichte verbundenen Begriffsgeschichte stehen ⫺ in der Regel durch bestimmte Eigenschaften ausge-
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zeichnete, zu „Begriffswörtern“ geadelte ⫺ Wörter im Mittelpunkt der Untersuchungen. Anhand der Bedeutungs- bzw. Gebrauchsanalyse für bestimmte Diskussionen oder die gesellschaftliche Selbstverständigung zentraler Wörter sollen Bedeutungsveränderungen und somit ⫺ weil Wörter als „Vehikel von Gedanken“ verstanden werden ⫺ Veränderungen im kollektiven Denken oder gesellschaftlichen Wissen herausgefunden werden. Vor allem Busse (1987) und Reichardt (1982) haben die theoretischen Defizite der Begriffsgeschichte der Historiker gezeigt und die sprachtheoretischen Grundlagen herausgearbeitet, um diskurshistorische Wortgeschichten zu ermöglichen. Diese sollen zum einen neue Quellen erschließen, um über „Höhenkammtexte“ hinaus mit Alltagstexten tatsächlich Spuren gesellschaftlichen Wissens zu erforschen, zum anderen sollen sie im Sinne Wittgensteins und mit zusätzlichen theoretischen Anleihen bei Foucault und Berger/Luckmann alle verstehensrelevanten Aspekte in ihre Bedeutungsgeschichten einbeziehen und damit tiefensemantische Erforschungen kollektiven Wissens, das in bestimmten Sprechergruppen oder gesamtgesellschaftlich „gültig“ ist, ermöglichen. Während es in Rhetorik und Stilistik auf der Rede- und Textebene um das Auffinden und um das Analysieren des „richtigen“, des passendsten, angemessensten Wortes geht, können Wörter als stilistische Phänomene auf der Ebene des Diskurses ⫺ insofern sie als typische und wiederkehrende Auswahl eines sprachlichen Mittels betrachtet werden ⫺ vor allem in ihrer wirklichkeitskonstituierenden Leistung betrachtet werden. Dabei gewährleistet der diskursanalytische Blick, dass den Einzelwörtern diese Leistung nicht allein zugeschrieben wird, sondern dass sie lediglich als Indikatoren für die mit ihrem Gebrauch gegebene relative Stabilität des gesellschaftlichen Wissens dienen, dessen Veränderung aber an der Gebrauchs- und somit Bedeutungsveränderung der gleichen Wörter ebenso abzulesen ist wie an der Konkurrenz und Ablösung durch andere Ausdrücke im ähnlichen Zusammenhang. Insofern wird hier auch das terminologische Instrumentarium der Politolinguistik, die Einzelwörter zu ihrem bevorzugten Gegenstand zählt, genutzt: Schlüsselwort, Schlagwort, Fahnen-, Stigma- und Hochwertwort, Leitvokabel, Bezeichnungs- und Bedeutungskonkurrenz etc. Die stilistische Möglichkeit, ein jeweils als geeignet betrachtetes Wort wählen zu können, beinhaltet auch, dass mit der Wortwahl „Wirklichkeiten“ je verschieden konzeptualisiert und vermittelt werden können. Unterscheiden kann man auf dieser lexikalischen und semantischen Ebene der Diskursanalyse Studien zur Bedeutungsentwicklung wichtiger Lexeme, also diachrone Studien, von eher synchronen Untersuchungen der bevorzugten Wortwahl durch bestimmte Gruppen in einem zeitlich begrenzten Diskurs. Diachrone Studien, auf die ich mich hier konzentriere, sind etwa die umfangreichen Analysen sozialhistorischer Semantik von agiotage bis utopiste in Frankreich (Reichardt/ Schmitt 1985 ff.), die von Rolf Reichardt diskurshistorisch fundiert worden sind (Reichardt 1982; 1998): Die Artikel über femme, banquier ⫺ capitaliste ⫺ financier oder über reform z. B. sind im Lichte aktueller Debatten sehr aufschlussreich. Auch die meisten Düsseldorfer diskurshistorischen Studien sind wortgeschichtlich ausgerichtet. Außer in Monographien zum Rüstungs-, Umwelt-, Terrorismus-, Bildungs-, Wiedervereinigungsund Aidsdiskurs werden in „Kontroverse Begriffe“ (Stötzel/Wengeler u. a. 1995) und in „Politische Leitvobakeln in der Adenauer-Ära“ (Böke/Liedtke/Wengeler 1996) verschiedene Themenfelder (Diskurse) narrativ bezüglich der Veränderungen ihrer zentralen Schlüsselwörter dargestellt. Aus all diesen Arbeiten ist zu lernen, wie durch die Möglichkeit, die dem eigenen „Weltbild“ entsprechenden Wörter zu wählen, und durch die Thematisierung und Ablehnung der Wortwahl des politischen Gegners Positionierungen im
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Diskurs und Wirklichkeitskonstruktionen geschaffen, perpetuiert und aufgegeben wurden, wie diese Wortwahl jeweils umstritten war und welche lexikalischen und semantischen Veränderungen sich ergaben, durch die die Möglichkeiten der Wort-Auswahl, des Sagbaren erweitert, verändert und eingeschränkt wurden. Im wirtschaftspolitischen Themenfeld wird z. B. deutlich, wie mit dem 1948 eingeführten Fahnenwort Soziale Marktwirtschaft in den 1950er und 1970er Jahren parteipolitische Auseinandersetzungen bestritten wurden, bei denen die Wahl und die Ablehnung dieser Wortverbindung eine wichtige Rolle spielen ⫺ wohingegen es heute nicht mehr möglich ist, wirtschaftspolitische Positionen außerhalb des von diesem Schlagwort abgesteckten Rahmens zu beziehen, und dessen Wahl für alle Parteien bis hin zur PDS inzwischen zwingend ist. Ebenso wird gezeigt, wie die SPD in den 50er Jahren nur durch das Abrücken von für sie zuvor zentralen Schlüsselwörtern wie Planwirtschaft oder Lenkungswirtschaft sich noch in der Konkurrenz zur CDU behaupten konnte, wie die Wahl des Namens Bundeswehr statt Wehrmacht 1956 zu heftigen Kontroversen geführt hat, wie die Friedensbewegung der 1980er Jahre das als Legitimationswort eingeführte Nachrüstung umwerten und als Stigmawort etablieren konnte oder wie durch die Einführung des damals neuen Wortes Umwelt(schutz) die aufkommende ökologische Bewegung ihre Anliegen vermittelt hat. In weiteren Themenfeldern wird gezeigt, wie in den 1970er Jahren die Wahl der Bezeichnungen Schwangerschaftsunterbrechung und werdendes Leben durch Thematisierungen und alternative Bezeichnungen eingeschränkt bis unmöglich gemacht wurde, welche Rolle die Wahl und die Bekämpfung der Wortverbindung Multikulturelle Gesellschaft seit den 1980er Jahren für die einwanderungspolitische Debatte gespielt hat, wie umstritten die Wahl des Ausdrucks Wiedervereinigung zeitweise gewesen ist und welche Funktion seit den 1990er Jahren die neue Wortverbindung (Wirtschafts-) Standort Deutschland für die sozial- und wirtschaftspolitische Debatte hat. Einen besonderen Stellenwert hat die Wahl der lexikalischen Mittel in vielen Debatten um die sog. Vergangenheitsbewältigung. Gerade hier werden mit der Wortwahl oft bestimmte Interpretationen der Vergangenheit präsupponiert oder konstituiert, was sich in vielen Streiten um die „richtige“ Wortwahl in vergangenheitspolitischen Auseinandersetzungen manifestiert hat. Es geht dabei um Bezeichnungen wie Machtergreifung, Reichskristallnacht, Invasion (der Alliierten 1944), Tag der Befreiung (oder Niederlage), Stunde Null oder Wiedergutmachung (vgl. Stötzel/Wengeler u. a. 1995; Stötzel 2005; Eitz/Stötzel 2007). Zur vergangenheitspolitischen Thematik gehört auch die Analyse des Schuld-Begriffes in der Nachkriegszeit von Kämper (2005). In lexikographischer Form sind solche Wort-Geschichten in einem semasiologischen und in einem onomasiologischen Wörterbuch zusammengefasst worden. Das „Zeitgeschichtliche Wörterbuch“ (Stötzel/Eitz 2003) liefert in 64 Artikeln von Abtreibung bis Wiedervereinigung entsprechende Informationen über diese lexikalische Ebene verschiedener Diskurse, und das „diskurshistorische Wörterbuch zur Einwanderung seit 1945“ (Jung/Niehr/Böke 2000) zeigt in sieben onomasiologisch ausgerichteten Artikeln zu „Gegenständen“ wie „Flüchtlinge und Asylsuchende“ oder „Integration oder Assimilation“ die vielfältigen lexikalischen Mittel, die in einem Diskurs seit 1945 jeweils genutzt worden sind, um auf den Referenzbereich Migration Bezug zu nehmen, und was damit im Diskurs jeweils vermittelt und für die Sprecher zu sagen ermöglicht wurde. Andere diskurshistorische Studien haben ebenso die Wortebene, die Auswahl der Lexeme in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung gestellt oder mitberücksichtigt. Es sind dies z. B. die „Diskurslexikologie“ von Albert Busch (2004; vgl. auch Busch/Wichter 2000)
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zum Computerwortschatz, die Analyse von „Metasprachdiskursen“ von Spitzmüller (2005), einzelne wortgeschichtliche Untersuchungen im diskurssemantischen Sinn durch Hermanns zu Arbeit (1993), Globalisierung (2003) und Terrorismus (2005) sowie die „korpusbasierte kritische Diskursanalyse“ Wolfgang Teuberts (2003) zu 25 „Schlüsselwörtern“ des britischen euroskeptischen Diskurses. Auch mentalitätsgeschichtliche Studien zum 19. Jahrhundert analysieren den Gebrauch von Lexemen wie Umgang, Konversation und Backfisch in Alltags- und trivialliterarischen Texten, um etwas über die der bürgerlichen Kultur zugrunde liegenden Konzepte herauszufinden (Linke 1996; Stocker 2005). Eher synchron ausgerichtete Untersuchungen der Kritischen Diskursanalyse betrachten neben anderen Kategorien die lexikalische Auswahl von Wörtern z. B. für bestimmte Gruppen, Handlungen oder Vorgänge als einen wichtigen Untersuchungsgegenstand. Er fließt z. B. ein in van Dijks (1988) Analyse von 1700 Überschriften in holländischen Zeitschriften, die „ethnische“ Themen in den Jahren 1985/86 behandeln, oder in seine Untersuchung parlamentarischer Debatten „on Ethnic Issues“ (van Dijk 2000). Die Studien der Jäger/Link’schen Schule sowie diejenigen der Wiener „Diskurshistorischen Analyse“ fokussieren z. T. die „stilistische“ Wahl oder Vermeidung bestimmter Ausdrücke und analysieren dies sozialfunktional bzw. politisch. Beispiele sind Jäger (1996) zu Rassismus im bundesdeutschen Diskurs oder Link (1988) und Gerhard (1992) zu Asylant. In Wodaks Analysen spielt ebenfalls die Wortwahl eine wichtige Rolle (vgl. Wodak u. a. 1998, 79 ff.). „Soziativbildungen“ wie Mitschuld und mitmachen, „euphemistische Etikettierungen“ oder „pejorative Attributionen/Etikettierungen (wie Feind, Titopartisanen)“ werden ausdrücklich als sprachlich-stilistische Mittel auf der konkretesten Ebene betrachtet. Sie stehen im Dienste der Umsetzung abstrakterer „Strategien“ wie z. B. „Vermeidungsstrategie“ (die lexikalisch durch „Ausflucht in referentielle Vagheit“ umgesetzt wird) und der „Argumentationsmuster/Topoi“ (wie „Vergleichstopos/Differenztopos“ oder „Heile-Welt-Topos“). In zahlreichen diskursanalytischen und diskurshistorischen Untersuchungen verschiedener Ausrichtung wird also der Auswahl eines bestimmten Wortschatzes als einem stilistischen Mittel im Diskurs große Aufmerksamkeit geschenkt. Als „Vehikel von Gedanken“, als „Kristallisationskerne“ bzw. „Verdichtungen“ (Linke 2003, 40) von Diskursen, als Indikatoren und Faktoren geschichtlicher Prozesse und als Ausdruck des „Denkens, Fühlens und Wollens“ (Hermanns 1995 u.ö.) gesellschaftlicher Akteure wird die Wortebene, die Lexik als eine Analysekategorie genutzt, mit der etwas über verbreitetes kollektives „Wissen“ oder Denken herauszufinden ist oder mit der in einer Vielzahl von Texten immer gleiche Positionen, Strategien und „Weltansichten“ vermittelt werden. In jüngerer Zeit wird in diesem Zusammenhang zunehmend auch der Frame- bzw. Wissensrahmen-Begriff der kognitiven Semantik genutzt oder seine Einbeziehung theoretisch begründet und programmatisch gefordert. Dieser Begriff verspricht, ein Repräsentationsformat für das gesamte sprachliche und nicht-sprachliche Wissen zu liefern, das bei der Verwendung sprachlicher Ausdrücke aufgerufen, „evoziert“ wird. Wenn sprachliche Bedeutung dabei verstanden wird als ein Netzwerk von Wissenselementen, das im Verstehensprozess aktiviert wird, dann soll mit dem Wissensrahmen-Begriff das gesamte verstehensrelevante Wissen beschrieben werden können, das mit der Verwendung der analysierten Ausdrücke einhergeht. In korpusbasierten diskursanalytischen Anwendungen erfordert und erlaubt der Frame-Begriff die systematische Auswertung einer Vielzahl von Texten daraufhin, wie bestimmte „Begriffe“ oder Konzepte zu einer bestimmten Zeit gefüllt werden ⫺ nach Ausweis der Texte, in denen sie vorkommen, wozu die Auswer-
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tung der Texte unter Anleitung der theoretischen Modellierungen der Frame-Semantik erforderlich ist. Neben theoretischen Begründungen einer framesemantischen Diskursanalyse von Konerding (2005) und Ziem (2005; 2008a) liegen diskursanalytische Anwendungen u. a. auf die Konzepte und/oder „Begriffe“ Identität und Deutsche im Diskurs zur deutschen Einheit (Fraas 1996), Deutsche, Tschechen, Slawen und Österreich in der Paulskirche von 1848 (Holly 2002), auf Kolonialpolitik im politischen Diskurs des Kaiserreiches (Klein 2002) und auf Heuschrecken in der Kapitalismus-Debatte seit dem Sommer 2005 (Ziem 2008b) vor.
3.2. Bildlichkeit: Metaphern, Kollektivsymbole, Bilder Eine ähnliche Bedeutung für Diskursanalysen wie die Wortwahl haben die in der traditionellen Rhetorik unter den Tropen behandelten Möglichkeiten, sich „bildlich“ auszudrücken. Während dabei in vielen Studien, die eher exemplarisch Einzeltexte untersuchen, in Anlehnung an die antike Rhetorik das gesamte Arsenal der Tropen (Metaphern, Metonymien, Synekdochen, Ironie, vgl. z. B. Wodak 1998; van Dijk 2000) berücksichtigt wird, konzentrieren sich andere Untersuchungen auf die Metaphorik. Diese legen dabei zum einen kognitive Metapherntheorien (zumeist von Lakoff/Johnson) zugrunde, z. T. in Verknüpfung mit Harald Weinrichs (1976, 276 ff.) Bildfeldtheorie und zum anderen Max Blacks (1983a, b) Interaktionstheorie der Metapher, die zwischen Fokus und Rahmen einer Metapher unterscheidet. Der Unterschied zu den klassischen Metaphernkonzepten der antiken Rhetorik liegt vor allem darin, dass in den modernen Theorien nicht davon ausgegangen wird, dass das, was unmetaphorisch auch wörtlich und „eigentlich“ gesagt werden könnte, mit Metaphern „uneigentlich“ und „bildlich“, nur zum Ausschmücken des Textes oder der Rede gesagt wird. Demgegenüber „wird der Gebrauch von Metaphern aufgefasst als Aktualisierung sozio-kulturell bedingter und miteinander vernetzter kognitiver Grundstrukturen, die […] sozio-kulturelle Handlungsmuster, ,kulturelle Stereotype‘ […] bzw. kulturelle Modelle bedingen“ (Böke 1996, 439). Konzeptuelle Metaphern stellen „elementare Gerinnungsformen“ kollektiver „Einstellungen und Denkmuster“ (Pielenz 1993, 170) dar und können in diskursanalytischen Untersuchungen daraufhin betrachtet werden, welche „Mentalitäten“ mit ihnen von welchen Gruppen einer Sprachgemeinschaft zum Ausdruck gebracht werden. Zudem haben Metaphern die Eigenschaft, dass sie ⫺ deutlicher als andere lexikalische Mittel ⫺ bestimmte Aspekte des benannten Sach- oder Problemverhalts fokussieren und anderes, evtl. ebenfalls Relevantes ausblenden oder zumindest in den Hintergrund rücken: Eine Eigenschaft, die es nahe legt, ihre Analyse zur Untersuchung der sprachlichen Konzeptualisierung und damit Konstitution der Welt zu nutzen. Durch die Analyse der Herkunftsbereiche metaphorischer Ausdrücke, die in einer Vielzahl von Texten mit unterschiedlichen Metaphernlexemen realisiert werden, kann herausgefunden werden, welche sozialen Gruppen in Diskursen den „Gegenstand“ wie konzeptualisieren: Auf welche Zielbereiche werden Metaphernlexeme aus welchen Herkunftsbereichen bezogen, so dass semantische Elemente des Herkunftsbereichs auf den Zielbereich projiziert werden? Als klassische Beispiele dafür seien Lakoff/Johnsons (1980) „argument is war“ und Pielenz’ (1993) „Liebe als Naturereignis“ erwähnt. Gestützt durch kognitive Metapherntheorien werden Metaphern in diesem Sinne in vielen diskursanalytischen Studien untersucht und deskriptiv präsentiert. Das bedeutet aber
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nicht, dass solche Konzeptualisierungen (wie z. B. die Flut-Metaphorik in der Zuwanderungsdebatte) nicht auch kritisch bewertet werden können, da die Sprechergruppen jeweils auch anders konzeptualisieren könnten und die Wahl der Metaphorik Wirklichkeit in bestimmter Weise konstituiert. Aus den diskurshistorischen Metaphernstudien greife ich exemplarisch die Analysen Bökes zum deutschen Einwanderungsdiskurs und die Untersuchungen Musolffs zum deutschen und britischen Europadiskurs heraus. Böke hat die Metaphorik zum Thema Einwanderung in 400 Beiträgen des SPIEGEL aus dem Zeitraum von 1947 bis 1988 ausgewertet. Als dominierenden Herkunftsbereich hat sie dabei mit Abstand den Bereich ,Wasser‘ ausgemacht, „gefolgt von den Bereichen ,Krieg/Kampf/Militär‘ und ,Waren und Warenhandel‘“. Neben dem Herkunftsbereich ,Wasser‘ (Flut, Schwemme etc.) werden auch die Lexemmetapher Lawine sowie der Bereich ,Feuer‘ zur Konzeptualisierung „eines natürlich-naturereignishaften Geschehens […], das zuweilen bedrohliche Ausmaße annimmt, wenn diesen Naturgewalten kein Einhalt geboten wird“ (Böke 1997, 168), genutzt. Eine Sonderstellung nimmt die WarenMetaphorik ein, die vor allem im Gastarbeiterdiskurs ambivalent benutzt wird, insofern sie „einmal naiv eingesetzt wird ohne ein Bewusstsein dafür, dass hier mit Menschen ,wie mit Waren‘ operiert wird (Migranten als Menschenfracht, die am Bahnhof entleert wird, als türkische Originalimporte u. ä.), ein anderes Mal gerade aber als drastische Verbildlichung eines solchen Umgangs mit den ausländischen Arbeitskräften, der kritisiert wird (Wegwerfware, Sklave und Neger, Kulis der Konjunktur, Leibeigene).“ (Ebd., 188) Als Fazit benennt Böke ein dominierendes Konzept, das aus den Slots ,Ausgangspunkt‘ (z. B. Armenhaus) ⫺ ,Weg‘ (Lawine, Strom, Invasion) ⫺ ,Zugang/Hindernis‘ (Schleuse, Einfallstor; Eindämmung, Riegel vorschieben) ⫺ ,Ziel‘ (gelobtes Land, Insel) besteht und von den Metaphern für die zuwandernden Personen (Entwurzelte, Heer, sozialer Sprengstoff etc.) ergänzt wird. Die Einbindung der Metaphern in typische Argumentationsmuster und damit auch ihre argumentative Kraft, insofern sie implizite Schlussregeln enthalten, wird in den neueren diskursanalytischen Metaphern-Untersuchungen von Musolff betont. Musolff hat in den letzten Jahren in vielen Facetten insbesondere die Metaphorik im deutschen und britischen Europa-Diskurs untersucht (u. a. Musolff 1996; 2003; 2004). Als besonders erfolgreiche cultural representations macht er dabei die Weg- und Transportmetaphorik im deutschen wie im britischen Europa-Diskurs aus und erläutert den Gewinn, den die Sprecher mit dem Gebrauch dieses Herkunftsbereichs im Diskurs haben. In Metaphor and Political Discourse (2004) steht die Metaphorik aus dem Herkunftsbereich „Körper“ („Europe as a Body Politic“) im Mittelpunkt: Organische Metaphern (the heart of europe), der Lebenszyklus Europas ( premature birth) sowie Krankheits- und Gesundheitsmetaphorik (eurosclerosis, the sick man of Europe) werden hinsichtlich ihrer Funktionen im deutschen wie im britischen Europa-Diskurs betrachtet. Zudem wird die zentrale Metapher aus dem Herkunftsbereich „Gebäude/Architektur“, die des europäischen Hauses, die schon zuvor häufiger untersucht worden ist, einer eingehenden diskurshistorischen Analyse im Europa-Diskurs von 1989⫺2001 unterzogen. Die Analyse der Metaphorik bildet auch den Kern der Untersuchung des sprachnationalistischen Diskurses in Deutschland von 1617 bis 1945 von Stukenbrock (2005). Für die verschiedenen Jahrhunderte wird der jeweils vorherrschende Gebrauch bestimmter metaphorischer Herkunftsbereiche funktional mit Hilfe des Topos-Begriffs interpretiert: Rechts-, Kleider-, Knechtschaftsmetpahorik, biologistisch-pathologisierende, sakralisie-
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rende/dämonisierende und militarisierende Metaphorik bilden z. B. im 19. Jahrhundert den Grundbestand von „fremdwortpuristischen Topoi“ (248 ff.), mit denen Sprache als konstituierender Bestandteil der Nation konzeptualisiert wird. Als Ergänzung dazu kann Zieglers (2002) Analyse der Band-Metapher im gleichen Diskurs gelesen werden. Auch in Spitzmüllers Untersuchung des Anglizismendiskurses und in Buschs CompterdiskursUntersuchung bildet die Metaphernanalyse neben der lexematischen Analyse eine zweite Untersuchungsebene. Dabei findet Spitzmüller (2005) im Anglizismendiskurs Flut-, Krankheits- und Gebäudemetaphorik (Verfall) als Ausprägungen einer Bedrohungsmetaphorik, mit der die bevorzugt als Organismus konzeptualisierte Sprache als gefährdet vermittelt wird. Busch unterscheidet acht „tropische Modelle“ (2000, 125) (die Metaphern und Metonymien umfassen), mit denen im Diskurs die Welt der Computer und des Internets konzeptualisiert und versprachlicht wird. Diese Modelle umfassen u. a. „Ein Computer ist ein Mensch“, „Das Internet ist eine Autobahn“ und „Ein Computer-Virus ist ein Krankheitserreger“. Im Kontext der Kritischen Diskursanalyse, in der häufig nicht mit dem Metaphern-, sondern mit dem Kollektivsymbol-Begriff gearbeitet wird, sei zunächst die Berücksichtigung von Metaphern als sprachliche Realisierungsmittel übergeordneter Strategien und Argumentationsmuster in der Wiener Kritischen Diskursanalyse erwähnt. Bei der „Konstruktion“ der nationalen österreichischen Identität (vgl. Wodak 1998, 79 ff.) werden naturalisierende Metaphern (Katastrophe), Schiffs- und Hausmetaphern, Weg- und Kreuzungsmetaphern sowie „Diskontinuität denotierende Metaphern (Stunde Null)“ ebenso als Realisierungsmittel für Strategien wie „Abschieben von Verantwortung“, „Betonung von positiver politischer Kontinuität“, „Verlebendigung“ und „Betonung einer Differenz zwischen einst und jetzt“ genutzt. Auch andere Tropen wie Metonymie und Synekdochen sowie sprachliche Mittel auf verschiedenen grammatischen und lexikalischen Ebenen stehen als stilistische Wahlen im Dienst von Argumentationsmustern und Strategien. Bei van Dijks (2000) methodologischem Überblick über „six categories“, mit denen „Parliamentary Discourses on Ethnic Issues“ in sechs verschiedenen europäischen Staaten verglichen werden, wird auf Metaphern als eine von mehreren „rhetorical devices“ als Untersuchungsgegenstand verwiesen (ebd., 57), und als Beispiele werden Bedrohungsmetaphern wie invasion, flood und plague benannt. Systematisch wird die Perspektive der Metaphern-Analyse von van der Valk (2000) auf französische Parlamentsdebatten angewendet und zu Bökes genannten Untersuchungen in Beziehung gesetzt. Sie eruiert die Metaphernfelder, die in französischen Debatten zu Immigration und Nationalität „most prominent“ seien, und beschreibt die Funktion dieser rhetorisch-stilistischen Wahl bestimmter Herkunftsbereiche: Es sind dies „the metaphor of aggression and war“, „the water metaphor“, „the traffic metaphor“ und „a production metaphor“ (ebd., 234). Wie schon angedeutet nutzen Vertreter der Kritische Diskursanalysen häufiger den von Jürgen Link eingeführten Begriff des Kollektivsymbols, mit dem neben Metaphern auch andere bildliche Phänomene des Diskurses erfasst werden. Denn sein Vorteil sei, dass er Elemente „wie Metaphern, Metonymien, Allegorien, Embleme, aber auch bildliche Analogien“ (Gerhard 1997, 47), die ansonsten zu differenzieren seien, zusammenfasst und als einen die Wirklichkeit konstituierenden Bereich zu interpretieren erlaubt. Diese Zusammenfassung geschieht aufgrund einer „struktural-funktional“ aufgefassten einheitlichen „Grundstruktur von semantischer Abbildung“ (Becker u. a. 1997, 71). Jede Kultur besitze ein „synchrones System von Kollektivsymbolen“, das anhand von Texten und anderen Zeichen rekonstruiert werden kann. Dadurch kann klargemacht werden,
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wie eine Kultur sich die Welt schafft, in der die Menschen sich orientieren und in der sie handeln. Die Analyse der Kollektivsymbole dient der Kritischen Diskursanalyse dazu, Ideologeme, Denkweisen, mit denen herrschende Gruppen ihre Sichtweisen und Machtstellungen aufbauen und verbreiten, zu erkennen und zu dekonstruieren und Gegenstrategien zu entwickeln, mit denen andere Symbole im Diskurs etabliert werden können, um alternative Sichtweisen durchzusetzen. Da aber kein falsches Abbild-Verhältnis der analysierten Symbolik zur Wirklichkeit behauptet wird, kann auch die Analyse der Kollektivsymbolik verstanden werden als eine Analyse der Konstruktion von Wirklichkeit mit wiederkehrenden Mitteln. Als ein Ziel wird etwa genannt, das „interdiskursive Wissen“ (Becker u. a. 1997, 73) zu erforschen, dessen Elemente von den Kollektivsymbolen gebildet werden. Beispiele dafür sind Lüsebrink/Reichardts Darstellung der „sozialgeschichtlichen Funktionen [des] Symbols […] der ,Bastille‘“ (1990, 12), Gerhards Analysen von Antisemitismus und Einwanderungsdiskursen vor und in der Weimarer Republik sowie ihre Analyse des bundesdeutschen Asyldiskurses Anfang der 1990er Jahre (Gerhard 1997; 1992), die grundlegenden Erläuterungen Links zum herrschenden System der Kollektivsymbolik in der Bundesrepublik Deutschland Anfang der 1990er Jahre anhand der Asyldebatte (Link 1992) sowie seine Analyse des neuen „Feindbilds Süd“ (Link 1993). In all diesen Untersuchungen werden auch Karikaturen, Fotos und Grafiken (z. B. das Bild eines vollen Bootes Bundesrepublik Deutschland, eine Grafik mit auf Deutschland weisenden Dreieckspfeilen mit der Überschrift „Breiter Strom vom Balkan“, eine Karikatur Khomeinis mit brennender Fackel vor den Ölfässern des Nahen Ostens) in die Interpretation mit einbezogen. In einer mehr und mehr auch in den Printmedien bilder-orientierten Kultur erscheint dies eine notwendige Erweiterung diskursanalytischer Ansätze zu sein, denn es dürfte unmittelbar einleuchten, dass mediale Wirklichkeitskonstruktionen, dass Diskurse nicht allein sprachlich vollzogen werden, sondern dass Kommunikate im Diskurs zumeist auch über Grafiken und Bilder ⫺ in der Regel in Verbindung mit Texten ⫺ realisiert werden. Neben den Analysen von Kollektivsymbolen in der Kritischen Diskursanalyse ist dies in jüngster Zeit, in der solche semiotischen, die Bild-Text-Verbindung berücksichtigenden Analysen auch in der Medienlinguistik zunehmend in den Mittelpunkt gerückt sind, auch im Rahmen der Ansätze einer historischen Diskurssemantik erkannt worden. Dabei hat Steinseifer begonnen, eine „diskurssemantische Theorie fotografischer Zeichen“ (2005, 275) zu entwerfen und diese am bundesdeutschen Terrorismus-Diskurs seit den 1970er Jahren anzuwenden. Für diese Theorie ist zentral, „dass in wiederholten Verwendungen von Bildern-in-Texten Bedeutungen stabilisiert werden, die dann weitere Verwendungen prägen und bestimmte Deutungen plausibel erscheinen lassen“ (2005, 278). Diese „wiederholten Verwendungen von Bildern-in-Texten“ analysiert Steinseifer exemplarisch an Bildern des entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer zur Zeit seiner Entführung sowie im Rahmen späterer Reflexionen auf den „Deutschen Herbst“ 1977, in denen die Fotos als mit zusätzlichen Bedeutungen aufgeladene Zeichen fungieren. In ähnlicher Weise fokussiert auch Meier die „diskursive Bedeutungskonstitution der BildText-Korrespondenz“ (2005, 137) anhand des medialen Umgangs mit Bildern der Wehrmachtsausstellung.
3.3. Argumentation: Argumente, Topoi, Sprachthematisierungen In vielen diskursanalytischen und diskurshistorischen Studien werden die bisher behandelten stilistischen Phänomene als konkrete sprach-materielle Realisierung von Mustern
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betrachtet, die die Funktion haben, Gedankengänge, inhaltliche Verknüpfungen und Zusammenhänge verständlich, plausibel und überzeugungskräftig zu machen. Als „Orte“, an denen Argumente aufgefunden werden können, die eine Rede überzeugend machen, sind solche Muster schon in der antiken Rhetorik im Rahmen der Argumentationstheorie als Topoi gesammelt und seither in zahlreichen Katalogen zusammengestellt worden. Eine ambitionierte neuere Typologie, an die sich auch viele diskursanalytische Studien anlehnen, hat Kienpointner (1992) vorgelegt. Topoi sind ein weiteres, eher rhetorisches als stilistisches Phänomen auf der Ebene des Diskurses. Denn bei ihnen handelt es sich um Argumentationsmuster, die nicht immer in gleicher Weise sprachlich materialisiert werden müssen, die aber in vielen Texten als nur interpretativ zu erschließende gleiche, auf Plausibilität zielende Herstellung von Sachverhaltszusammenhängen vorkommen. Als Analysekategorie erlauben Topoi es, auch dort wiederkehrende und für bestimmte Diskurse zentrale sprachliche Wirklichkeitskonstruktionen zu erkennen, wo die sprachliche Realisierung unterschiedlich ausfällt. Allerdings gibt es eine enge Verknüpfung mit den zuvor behandelten Phänomenen, weil bestimmte Topoi wenn auch nicht ausschließlich, so doch oft mit bestimmten Lexemen und Metaphern ausgedrückt werden. Die Erweiterung der Begriffsgeschichte zu einer Argumentationsgeschichte, die es erlaubt, die „Begriffe-in-Funktion“ zu betrachten und tiefensemantische Strukturen von „Begriffen“ zu erschließen, haben u. a. schon Busse/Teubert (1994) gefordert. Systematisch umgesetzt worden ist diese Forderung in den Düsseldorfer Untersuchungen zum Einwanderungsdiskurs, in Arbeiten, die sich auf deren Methodologie berufen, sowie in Beiträgen der Kritischen Diskursanalyse. Zum einen können in diesem Rahmen auch Einzelargumente in einem zeitlich begrenzten Diskurs untersucht werden. Dabei muss wie bei den Topos-Definitionen die Vielzahl der konkreten Realisierungen interpretativ auf eine prototypische Argument-Formulierung gebracht werden. Auf diese Weise analysieren z. B. Klein und Niehr umfangreiche Textkorpora. Die Einzelargumente werden dabei stichwortartig in eine ganze Netzwerkstruktur von Argumenten im Diskurs eingeordnet (z. B. in der Argumentation von Bündnis 90/Die Grünen in der Asyldebatte von 1992 die Argumente „Unsere Verantwortung für die Situation in den Fluchtländern“ oder „Rechtsgleichheit bzw. Rechtsanspruch und Rechtssicherheit für Einwanderer“, vgl. Klein 1995, 43), oder Einzelargumente werden definiert, aufgelistet und quantitativ in ihrem Vorkommen untersucht (z. B. „Integrationsfähigkeit überschritten: Eine weitere Integration von Ausländern ist nicht möglich, ohne der Gesellschaft dauernden Schaden zuzufügen bzw. ihre Fähigkeiten überzustrapazieren“, vgl. Niehr 2004, 119). Der ToposBegriff erlaubt demgegenüber einen Zugang sowohl zu kontextabstrakten (z. B. der Kausal-, Autoritäts- oder Vergleichstopos) als auch zu kontextspezifischen Argumentationsmustern. Letztere können zwar auf ein bestimmtes eingegrenztes Thema, innerhalb desselben aber auf unterschiedliche Fragestellungen bezogen werden und sind daher eine geeignete Analysekategorie gerade auch für diachronisch vergleichende Auswertungen größerer Textkorpora. Dass sie als Analysekategorien zur Eruierung gesellschaftlichen „Wissens“ genutzt werden können, lässt sich insbesondere aus den vier Merkmalen ableiten, die Bornscheuer (1976) dem Topos in der Interpretation des Aristotelischen ToposBegriff zuweist: Habitualität, Potentialität, Intentionalität und Symbolizität (vgl. dazu Wengeler 2003, 192 ff.). Die seit der Antike geführte Diskussion, ob Topoi eher formalen Charakter haben oder ob sie eher inhaltlich bestimmt sind, wird in vielen diskurshistorischen Adaptionen des Topos-Begriffs dahingehend entschieden, dass Topos als eine eher inhaltlich be-
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stimmte Kategorie aufgefasst wird ⫺ auch wenn die kontextspezifischen Topoi sich auf formale Schlussmuster zurückführen lassen. Für einen Diskurs müssen dabei jeweils eigene Kataloge der im Textkorpus vorkommenden Topoi erstellt werden, deren Definition von Kienpointners Typologie formaler Topoi abgeleitet werden kann. Kontextspezifische Topoi sind ein Teil des sozialen Wissens öffentlich handelnder Gruppen zu einem Themenbereich in bestimmten Zeitspannen. Die vom Interpreten definierten Topoi kommen so nicht auf der sprachlichen Oberfläche vor, sondern sind Abstraktionen aus Äußerungen bzw. Texten, denen der jeweilige Topos als verstehensrelevanter bzw. -notwendiger Hintergrund zu Grunde liegt oder in denen der Topos auch ausdrücklich, aber nicht mit der je gleichen sprachlichen Oberfläche vorkommt. Solche den „besonderen Topoi“ der Tradition nahe kommenden Argumentationsmuster lassen sich in jedem inhaltlich bestimmten Diskurs auffinden, und ihre Analyse und die Auszählung ihrer Häufigkeit können Aussagen liefern über typische, wichtige oder dominante Denk- und Sichtweisen, Wahrnehmungsmuster und Wirklichkeitskonstruktionen bestimmter Gruppen in einem bestimmten Zeitraum bezogen auf ein bestimmtes Thema. Anhand eines großen Textkorpus kann somit auch das „Argumentations-Rauschen“ in öffentlichen Debatten in eine übersichtliche Ordnung gebracht werden. Entsprechende Anwendungen liegen vor: Untersuchungen zum Einwanderungsdiskurs, zur Rechtschreibreform, zur Sloterdijk-Debatte, zur Bioethik-Debatte, zur Walser/ Bubis-Debatte, zur Anglizismen-Debatte, in der Oldenburger Diskursanalyse zur Kruzifix-Debatte und zur Debatte um den genetischen Fingerabdruck. Als Veranschaulichung muss hier ein Beispiel genügen. In ihrer Analyse des Bioethik-Diskurses im Jahre 2001 anhand von Pressetexten findet Faulstich (2002) heraus, dass der Gefahren- und der Nutzen-Topos bei den Themen „Forschung an embryonalen menschlichen Stammzellen“ und „Präimplantationsdiagnostik“ am häufigsten vorkommen, der eine, um gegen, der andere, um für diese beiden neuen Verfahren zu argumentieren. Interessanter als diese Beobachtung, die für viele politische Diskussionen zutreffen wird ⫺ man argumentiert mit Gefahren (hier z. B. der Gefahr einer drohenden Selektion menschlichen Lebens) und dem möglichen Nutzen (hier dem medizinischen, gesundheitlichen Nutzen für einzelne Individuen) einer Entscheidung gegen und für bestimmte neue Verfahren, Gesetze etc. ⫺ sind die Topoi, die zwar quantitativ seltener, aber für die spezielle Debatte kennzeichnend sind. Es sind dies der Ethik-Topos, die einander gegenüberstehenden Identitäts- und Differenz-Topoi sowie der Geschichts-Topos. Identitäts- und Differenz-Topos sind (analog dem Vergleichs-Topos in Kienpointners Typologie) wie folgt definiert: Wenn X und Y hinsichtlich eines quantitativen/qualitativen Kriteriums Z gleich sind/sich unterscheiden, sollten sie in Bezug auf eine Handlung/eine Entscheidung gleich behandelt/unterschiedlich behandelt oder bewertet werden. Dem Identitäts-Topos zufolge hat „der menschliche Embryo von Anfang an alle Merkmale eines Menschen, d. h. das vollständige genetische Programm“ (Faulstich 2002, 26), und steht daher unter dem Schutz des Grundgesetzes (Gesetzes-Topos), womit Einschränkungen bei Stammzellenforschung und PID begründet werden. PIDBefürworter nutzen demgegenüber den Differenz-Topos, indem sie den Embryo klassifizieren „als menschliches Leben, das noch kein voll ausgebildeter Mensch ist“ (ebd., 29 f.) und somit nicht den vollen Schutz der Menschenwürde genießt. Auch in der Kritischen Diskursanalyse wird der Topos-Begriff verwendet, vor allem in Wodaks (1998) Analyse zur Konstruktion nationaler österreichischer Identität sowie in den von Wodak/van Dijk (2000) herausgegebenen Analysen parlamentarischer Dis-
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kurse „on Ethnic Issues“. Als ein spezielles Argumentationsmuster stehen in vielen diskursanalytischen Arbeiten sprachbezogene Argumente im Mittelpunkt. Weil dabei die hier behandelten stilistischen Phänomene, vor allem die Lexik und Metaphorik, von den Akteuren selbst zu einem Gegenstand des Diskurses gemacht werden und damit ihre Relevanz für den Diskurs unterstellt und indiziert wird, haben sie besondere Beachtung in der Linguistik gefunden. Mit der Thematisierung zeigen die Akteure, dass die wirklichkeitskonstitutive Leistung dieser Phänomene erkannt wird. Daher werden zumeist Veränderungen im Sprachgebrauch und in der Bedeutungsgebung behauptet und/oder eingefordert. In vielen diskurshistorischen Analyseansätzen sind solche sprachthematisierenden Argumente als Anzeiger dafür angesehen worden, welche Lexeme für einen Diskurs überhaupt wichtig und daher in ihrer Funktion untersuchenswert sind. Sowohl Reichardts Projekt der sozialhistorischen Semantik in Frankreich (Reichardt 1982) als auch Stötzels Untersuchungen zur Sprachgeschichte der Bundesrepublik (Stötzel/Wengeler u. a. 1995) haben solche Thematisierungen zum Ausgangspunkt genommen. Als sprachbezogene Topoi sind sie systematisiert (Wengeler 1998) und damit auch als wiederkehrendes stilistisches Mittel im Diskurs erfassbar gemacht worden. Ein weiteres in traditionellen Topos-Katalogen bereits erwähntes Argumentationsmuster, das in diskursanalytischen Studien spezielle Aufmerksamkeit erfährt und z. T. unabhängig von der ToposKategorie betrachtet wird, ist die bei Kienpointner (1992, 246) in illustrative und induktive unterteilte Beispielargumentation. Van Dijk (2000, 66) führt sie als eine spezielle „semantic strategie“ zusammen mit ihrem Gegenpart „generalization“ auf, und Rettig (1997) untersucht die Funktion von Beispielen im Migrationsdiskurs.
3.4. Weitere stilistische Untersuchungskategorien Wortebene, Metaphorik und Argumentationsmuster können als die drei meistuntersuchten rhetorisch-stilistischen Phänomene auf der Ebene des Diskurses angesehen werden (vgl. zur Programmatik der Untersuchung dieser drei Ebenen u. a. Niehr/Böke 2003). Aber auch andere text- und redebezogene rhetorisch-stilistische Kategorien werden auf ganze Textkorpora, auf Diskurse analytisch angewendet. Sie können hier nur noch aufzählend und ohne Literatur-Verweise benannt werden. Als eine Gruppe können über die Wortgrenze hinausgehende stilistische Phänomene zusammengefasst werden, als eine weitere Gruppe eher grammatisch-syntaktische Phänomene. Zum ersten Bereich zähle ich die Berücksichtigung von Kollokationen, die Untersuchung von Phraseologismen bzw. Redewendungen und von typischen Wortverbindungen sowie die Analyse sog. disclaimer (I have nothing against X, but …). Auch die Untersuchung sprachlicher Stereotype nicht im Sinne des semantischen, sondern des soziolinguistischen Stereotypenbegriffs wird für Diskursanalysen genutzt. Zur eher grammatischen Ebene zähle ich einerseits die Analyse der Pronomina, mit deren Hilfe die Konstitution der Eigen- und der Fremdgruppe untersucht werden kann. Dies wird ergänzt bzw. erweitert durch die Betrachtung aller lexikalischen Mittel, mit denen Ingroup und Outgroup „geschaffen“ werden, was wiederum verbunden werden kann mit einer syntaktischen Analyse dessen, welche Gruppen/Handelnden wie als Agens oder Patiens in welcher grammatischen Position auftauchen. Zu den lexikalisch-grammatischen Möglichkeiten der Diskursanalyse zähle ich auch die Untersuchung des Gebrauchs von Eigennamen in generischer Funktion.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Auch damit sind die stilistischen und rhetorischen Phänomene, die auf der Ebene des Diskurses untersucht werden können, noch nicht vollständig benannt. Vor allem Studien, die Einzeltexte als Repräsentanten eines Diskurses fokussieren, nutzen viele weitere linguistische Kategorien wie Formen der Implizitheit, Anspielungen, Präsuppositionen, Textstruktur, intertextuelle Bezüge oder auf lexikalischer Ebene Vagheit, Kontrastierung oder Modalität. Die meisten dieser Kategorien sind aber nur schwer als Analysekategorien auf eine große Textmenge übertragbar, in der die stilistischen Phänomene als seriell und regelhaft beschrieben werden müssten. Denn diese Serialität und Regelhaftigkeit sollte doch weiterhin eine grundlegende Orientierung von Diskursanalysen sein, die sich damit nicht nur ⫺ wie berechtigt im Einzelnen auch immer ⫺ an Foucaultsche Überlegungen und Kategorien anlehnen, sondern sich auch im Spektrum linguistischer Gegenstände von textlinguistischen Untersuchungen und Analysekategorien unterscheiden können. Auf einige solche regelhaft gebrauchten stilistischen und rhetorischen Phänomene hat sich dieser Forschungsüberblick konzentriert, ohne dabei alle einzelnen diskursanalytischen Untersuchungen berücksichtigen zu können, die diese Phänomene erfassen.
4. Literatur (in Auswahl) Becker, Frank/Ute Gerhard/Jürgen Link (1997): Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie. Teil II. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22, 70⫺154. Black, Max (1983a): Die Metapher. In: Anselm Haverkamp (Hrsg.): Theorie der Metapher. Darmstadt, 55⫺79. Black, Max (1983b): Mehr über die Metapher. In: Anselm Haverkamp (Hrsg.): Theorie der Metapher. Darmstadt, 379⫺413. Bluhm, Claudia/Dirk Deissler/Joachim Scharloth/Anja Stukenbrock (2000): Linguistische Diskursanalyse: Überblick, Probleme, Perspektiven. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 86, 3⫺21. Böke, Karin/Frank Liedtke/Martin Wengeler (1996): Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära. Berlin/New York. Böke, Karin (1996): Überlegungen zu einer Metaphernanalyse im Dienste einer „parzellierten“ Sprachgeschichtsschreibung. In: Karin Böke/Matthias Jung/Martin Wengeler (Hrsg.): Öffentlicher Sprachgebrauch. Praktische, theoretische und historische Perspektiven. Georg Stötzel zum 60. Geburtstag gewidmet. Opladen, 431⫺452. Böke, Karin (1997): Die „Invasion“ aus den „Armenhäusern Europas“. Metaphern im Einwanderungsdiskurs. In: Matthias Jung/Martin Wengeler/Karin Böke (Hrsg.): Die Sprache des Migrationsdiskurs. Das Reden über „Ausländer“ in Medien, Politik und Alltag. Opladen, 164⫺193. Bornscheuer, Lothar (1976): Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt am Main. Busch, Albert (2004): Diskurslexikologie und Sprachgeschichte der Computertechnologie. Tübingen. Busch, Albert/Sigurd Wichter (Hrsg.) (2004): Computerdiskurs und Wortschatz. Corpusanalysen und Auswahlbibliographie. Frankfurt am Main. Busse, Dietrich (1987): Historische Semantik. Analyse eines Programms. Stuttgart. Busse, Dietrich/Wolfgang Teubert (1994): Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik. In: Dietrich Busse/Fritz Hermanns/Wolfgang Teubert (Hrsg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Opladen, 10⫺27.
98. Stilistische und rhetorische Phänomene auf der Ebene des Diskurses van Dijk, Teun A. (1988): How „They“ Hit the Headlines. Ethnic Minorities in the Press. In: Geneva Smitherman-Donaldson/Teun A. van Dijk (eds.): Discourse and Discrimination. Detroit, 221⫺ 262. van Dijk, Teun A. (1997): Discourse as Interaction in Society. In: Teun A. van Dijk (ed.): Discourse as Structure and Process. Discourse studies: A multidisciplinarity Introduction. Bd. 2. London, 1⫺37. van Dijk, Teun A. (2000): Parliamentary Debates. In: Ruth Wodak/Teun A. van Dijk (eds.): Racism at the Top. Parliamentary Discourses on Ethnic Issues in Six European States. Klagenfurt, 45⫺78. Eitz, Thorsten/Georg Stötzel (2007): Wörterbuch der „Vergangenheitsbewältigung“. Die NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch. Hildesheim/Zürich/New York. Faulstich, Katja (2002): „Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon“. Diskursanalytische Untersuchung des Begriffs Leben im Umfeld der 2. Berliner Rede des Bundespräsidenten Johannes Rau. In: Kirsten Adamzik (Hrsg.): Texte, Diskurse, Interaktionsrollen. Analysen zur Kommunikation im öffentlichen Raum. Tübingen, 19⫺40. Fraas, Claudia (1996): Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen. Die Konzepte ,Identität‘ und ,Deutsche‘ im Diskurs zur deutschen Einheit. Tübingen. Fraas, Claudia/Michael Klemm (2005): Diskurse ⫺ Medien ⫺ Mediendiskurse. Begriffsklärungen und Ausgangsfragen. In: Claudia Fraas/Michael Klemm (Hrsg.): Mediendiskurse. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Frankfurt am Main, 1⫺8. Gerhard, Ute (1992): Wenn Flüchtlinge und Einwanderer zu ,Asylantenfluten‘ werden ⫺ zum Anteil des Mediendiskurses an rassistischen Pogromen. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 46, 163⫺178. Gerhard, Ute (1997): Flucht und Wanderung in Mediendiskurs und Literatur der Weimarer Republik. In: Matthias Jung/Martin Wengeler/Karin Böke (Hrsg.): Die Sprache des Migrationsdiskurses. Das Reden über „Ausländer“ in Medien, Politik und Alltag. Opladen, 45⫺57. Hermanns, Fritz (1993): Arbeit. Zur historischen Semantik eines kulturellen Schlüsselwortes. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 19, 43⫺62. Hermanns, Fritz (1995): Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Überlegungen zu Sinn und Form und Gegenstand historischer Semantik. In: Andreas Gardt/Klaus J. Mattheier/Oskar Reichmann (Hrsg.): Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien. Tübingen, 69⫺101. Hermanns, Fritz (2003): Die Globalisierung. Versuch der Darstellung des Bedeutungsspektrums der Bezeichnung. In: Martin Wengeler (Hrsg.): Deutsche Sprachgeschichte nach 1945. Diskurs- und kulturgeschichtliche Perspektiven. Hildesheim/New York, 409⫺438. Hermanns, Fritz (2005): „Krieg gegen den Terrorismus“. Über die Bedeutungen des Wortes Terrorismus im Diskurs der Medien und Experten. In: Claudia Fraas/Michael Klemm (Hrsg.): Mediendiskurse. Frankfurt a. M. u. a., 142⫺168. Holly, Werner (2002): ,Tschechen‘ und ,Deutsche‘ in den Böhmen-Debatten der Paulskirche. Ein frame-analytischer Beitrag zur Geschichte der sprachlichen Konstruktion deutsch-tschechischer Beziehungen. In: Dieter Cherubim/Karlheinz Jakob/Angelika Linke (Hrsg.): Neue deutsche Sprachgeschichte. Mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. Berlin/New York, 349⫺378. Jäger, Siegfried (1993): Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. Duisburg. Jäger, Siegfried (1994): Der Groß-Regulator. Analyse der BILD-Berichterstattung über den rassistisch motivierten Terror und die Fahndung nach der RAF im Sommer 1993. Duisburg. Jäger, Siegfried (1996): Wörter im Diskurs: das Beispiel „Rassismus“. In: Karin Böke/Matthias Jung/Martin Wengeler (Hrsg.): Öffentlicher Sprachgebrauch. Praktische, theoretische und historische Perspektiven. Georg Stötzel zum 60. Geburtstag gewidmet. Opladen, 391⫺402. Jäger, Siegfried (2001): Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse. In: Reiner Keller u. a. (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 1: Theorien und Methoden. Opladen, 81⫺112.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Jung, Matthias (2000): Diskurshistorische Analyse als linguistischer Ansatz. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 86, 20⫺38. Jung, Matthias/Martin Wengeler/Karin Böke (Hrsg.) (1997): Die Sprache des Migrationsdiskurses. Das Reden über „Ausländer“ in Medien, Politik und Alltag. Opladen. Jung, Matthias/Thomas Niehr/Karin Böke (2000): Ausländer und Migranten im Spiegel der Presse. Ein diskurshistorisches Wörterbuch zur Einwanderung seit 1945. Wiesbaden. Kämper, Heidrun (2005): Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des sprachlichen Umbruchs nach 1945. Berlin/New York. Keller, Reiner/Andreas Hirseland/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hrsg.) (2001/2003): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. 2 Bde. Opladen. Kienpointner, Manfred (1992): Alltagslogik. Struktur und Funktion von Argumentationsmustern. Stuttgart-Bad Cannstatt. Klein, Josef (1995): Asyl-Diskurs. Konflikte und Blockaden in Politik, Medien und Alltagswelt. In: Ruth Reiher (Hrsg.): Sprache im Konflikt. Zur Rolle der Sprache in sozialen, politischen und militärischen Auseinandersetzungen. Berlin/New York, 15⫺71. Klein, Josef (2000): Komplexe topische Muster: Vom Einzeltopos zur diskurstyp-spezifischen Topos-Konfiguration. In: Thomas Schirren/Gert Ueding (Hrsg.): Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium. Tübingen, 623⫺649. Klein, Josef (2002): Topik und Frametheorie als argumentations- und begriffsgeschichtliche Instrumente, dargestellt am Kolonialdiskurs. In: Dieter Cherubim/Karlheinz Jakob/Angelika Linke (Hrsg.): Neue deutsche Sprachgeschichte. Mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. Berlin/New York, 167⫺181. Konerding, Klaus-Peter (2005): Diskurse, Themen und soziale Topik. In: Claudia Fraas/Michael Klemm (Hrsg.): Mediendiskurse. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Frankfurt am Main, 9⫺38. Lakoff, George/Mark Johnson (1980): Metaphors We Live By. Chicago. Link Jürgen (1988): Medien und „Asylanten“: Zur Geschichte eines Unworts. In: Dietrich Thränhardt/Simone Wolken (Hrsg.): Flucht und Asyl: Informationen, Analysen, Erfahrungen aus der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland. Freiburg, 50⫺61. Link, Jürgen (1992): Die Analyse der symbolischen Komponenten realer Ereignisse. Ein Beitrag der Diskurstheorie zur Analyse neorassistischer Äußerungen. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 46, 37⫺52. Link, Jürgen (1993): „Der irre Saddam setzt seinen Krummdolch an meine Gurgel!“ Fanatiker, Fundamentalisten, Irre und Traffikanten ⫺ Das neue Feindbild Süd. In: Siegfried Jäger: Textund Diskursanalyse. Eine Anleitung zur Analyse politischer Texte. Duisburg, 73⫺95. Linke, Angelika (1996): Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart/Weimar. Linke, Angelika (2003): Begriffsgeschichte ⫺ Diskursgeschichte ⫺ Sprachgebrauchsgeschichte. In: Carsten Dutt (Hrsg.): Herausforderungen der Begriffsgeschichte. Heidelberg, 39⫺49. Lüsebrink, Hans-Jürgen/Rolf Reichardt (1990): Die „Bastille“. Zur Symbolgeschichte von Herrschaft und Freiheit. Frankfurt am Main. Maas, Utz (1984): „Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand“. Sprache im Nationalsozialismus. Opladen. Matouschek, Bernd/Ruth Wodak (1993): Rassistische Diskurse in Österreich seit 1989. In: Siegfried Jäger/Jürgen Link (Hrsg.): Die vierte Gewalt. Rassismus und die Medien. Duisburg, 131⫺189. Meier, Stefan (2005): Zeichenlesen im Netzdiskurs. Überlegungen zu einer semiotischen Diskursanalyse multimedialer Kommunikation. In: Claudia Fraas/Michael Klemm (Hrsg.): Mediendiskurse. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Frankfurt am Main, 123⫺141. Musolff, Andreas (1996): „Dampfer“, „Boote“ und „Fregatten“: Metaphern als Signale im „Geleitzug“ der Europäischen Union. In: Karin Böke/Matthias Jung/Martin Wengeler (Hrsg.): Öffentlicher Sprachgebrauch. Praktische, theoretische und historische Perspektiven. Georg Stötzel zum 60. Geburtstag gewidmet. Opladen, 180⫺189.
98. Stilistische und rhetorische Phänomene auf der Ebene des Diskurses Musolff, Andreas (2003): Metaphernanalyse als Aspekt komparativer Diskursgeschichte. Zum Vergleich bildhaften Sprachgebrauchs in deutschen und britischen Europadiskursen. In: Martin Wengeler (Hrsg.): Deutsche Sprachgeschichte nach 1945. Diskurs- und kulturgeschichtliche Perspektiven (⫽ Germanistische Linguistik 169⫺170). Heidelberg/New York, 272⫺287. Musolff, Andreas (2004): Metaphor and Political Discourse. Analogical Reasoning in Debates about Europe. Hampshire/New York. Niehr, Thomas (2004): Der Streit um Migration in der Bundesrepublik Deutschland, Schweiz und Österreich. Eine vergleichende diskursgeschichtliche Untersuchung. Heidelberg. Niehr, Thomas/Karin Böke (2003): Diskursanalyse unter linguistischer Perspektive ⫺ am Beispiel des Migrationsdiskurses. In: Keller u. a. (2003), 325⫺351. Pielenz, Michael (1993): Argumentation und Metaphern. Tübingen. Reichardt, Rolf (1982): Zur Geschichte politisch-sozialer Begriffe in Frankreich zwischen Absolutismus und Restauration. Vorstellung eines Forschungsvorhabens. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47, 49⫺74. Reichardt, Rolf (Hrsg.) (1998): Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte (⫽ Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 21). Berlin. Reichardt, Rolf/Erich Schmitt (Hrsg.) (1985 ff.): Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680⫺1820. München. Rettig, Heike (1997): „Wenn zum Beispiel ein Ausländer …“. Zur Rolle von Beispielen in kontroversen Diskussionen um die Immigration. In: Jung/Wengeler/Böke (1997), 299⫺314. Sindel, Lars (1999): Das sog. „Kruzifix-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts und seine Rezeption am Beispiel von „Nazi-Vergleichen“. Projekt „Ethik-Diskurse“. Arbeitspapier 7. Oldenburg. Spitzmüller, Jürgen (2005): Metasprachdiskurse. Einstellungen zu Anglizismen und ihre wissenschaftliche Rezeption. Berlin/New York. Steinseifer, Martin (2005): ,Fotos wie Brandwunden‘? ⫺ Überlegungen zur deontischen Bedeutung von Pressefotografien am Beispiel von Hanns Martin Schleyer als Opfer der Rote Armee Fraktion. In: Dietrich Busse/Thomas Niehr/Martin Wengeler (Hrsg.): Brisante Semantik. Neuere Konzepte und Forschungsergebnisse einer kulturwissenschaftlichen Linguistik. Tübingen, 269⫺290. Stocker, Christa (2005): Sprachgeprägte Frauenbilder. Soziale Stereotype im Mädchenbild des 19. Jahrhunderts und ihre diskursive Konstituierung. Tübingen. Stötzel, Georg (2005): Das Projekt eines Wörterbuchs der „Vergangenheitsbewältigung“. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. H. 1, 73⫺82. Stötzel, Georg/Thorsten Eitz (2003): Zeitgeschichtliches Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. 2., erw. und aktual. Aufl. Hildesheim. Stötzel, Georg/Martin Wengeler u. a. (1995): Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin/New York. Stukenbrock, Anja (2005): Sprachnationalismus. Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland (1617⫺1945). Berlin/New York. Sturm, Carsten (2002): Die Debatte um den ,genetischen Fingerabdruck‘. Ein Beispiel für den diskursiven Umgang mit strittigen Fragen in der Medienberichterstattung der Bundesrepubik. Diss. Oldenburg, Univ., http://docserver.bis.uni-oldenburg.de/publikationen/dissertation/2002/ studeb02/studeb02.html Teubert, Wolfgang (2003): Provinz eines föderalen Superstaates ⫺ regiert von einer nicht gewählten Bürokratie? Schlüsselbegriffe des europakritischen Diskurses in Großbritannien. In: Keller u. a. (2003), 353⫺388. van der Valk, Ineke (2000): Parliamentary Discourse on Immigartion and Nationality in France. In: Ruth Wodak/Teun A. van Dijk (eds.): Racism at the Top. Parliamentary Discourses on Ethnic Issues in Six European States. Klagenfurt, 221⫺260. Weinrich, Harald (1976): Sprache in Texten. Stuttgart. Wengeler, Martin (1998): Normreflexion in der Öffentlichkeit. Zur Legitimationsbasis sprachlicher Normierungsversuche. In: Der Deutschunterricht. H. 3, 49⫺56.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Wengeler, Martin (2003): Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960⫺1985). Tübingen 2003. Wengeler, Martin (2005): „Das Szenario des kollektiven Wissens einer Diskursgemeinschaft entwerfen“. Historische Diskurssemantik als „kritische Linguistik“. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. H. 3, 262⫺282. Wodak, Ruth u. a. (1998): Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität. Frankfurt am Main. Wodak, Ruth/Teun A. van Dijk (eds.) (2000): Racism at the Top. Parliamentary Discourses on Ethnic Issues in Six European States. Klagenfurt. Ziegler, Evelyn (2002): Die Band-Metapher im nationalsprachlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts. In: Dieter Cherubim/Karlheinz Jakob/Angelika Linke (Hrsg.): Neue deutsche Sprachgeschichte. Mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. Berlin/New York, 111⫺138. Ziem, Alexander (2005): Begriffe, Topoi, Wissensrahmen. Perspektiven einer semantischen Analyse gesellschaftlichen Wissens. In: Martin Wengeler (Hrsg.): Sprachgeschichte als Zeitgeschichte. Konzepte, Methoden und Forschungsergebnisse der Düsseldorfer Sprachgeschichtsschreibung für die Zeit nach 1945. Hildesheim/New York, 313⫺346. Ziem, Alexander (2008a): Frames und sprachliches Wissen. Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz. Berlin/New York. Ziem, Alexander (2008b): „Heuschrecken“ in Wort und Bild. Zur Karriere einer Metapher. In: Muttersprache 118, 108⫺120.
Martin Wengeler, Düsseldorf (Deutschland)
99. Gesprächstyp und Stil 1. 2. 3. 4. 5.
Situation und sprachlich-stilistische Variation Das Registermodell Von der Textlinguistik zur Kommunikationslinguistik Stilkonzepte Literatur (in Auswahl)
Abstract In (socio)linguistic as well as in anthropological and conversation analytic studies, linguistic heterogeneity and stylistic variation related to situational conditions are main research issues. In these studies, heterogeneity is investigated using concepts like “text type”, “register”, “genre” and “social” or “cultural style”. From a theoretical and methodological perspective, approaches to situation-specific heterogeneity can be differentiated into (a) approaches following the standard research methodology in sociolinguistics, where verbal behavior (the use of specific varieties, specific types of text or verbal activities) is considered as being determined by the situational variables; and (b) approaches using reflexive and dynamic concepts in order to grasp the creation of social meaning through language in the process of interaction.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Wengeler, Martin (2003): Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960⫺1985). Tübingen 2003. Wengeler, Martin (2005): „Das Szenario des kollektiven Wissens einer Diskursgemeinschaft entwerfen“. Historische Diskurssemantik als „kritische Linguistik“. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. H. 3, 262⫺282. Wodak, Ruth u. a. (1998): Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität. Frankfurt am Main. Wodak, Ruth/Teun A. van Dijk (eds.) (2000): Racism at the Top. Parliamentary Discourses on Ethnic Issues in Six European States. Klagenfurt. Ziegler, Evelyn (2002): Die Band-Metapher im nationalsprachlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts. In: Dieter Cherubim/Karlheinz Jakob/Angelika Linke (Hrsg.): Neue deutsche Sprachgeschichte. Mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. Berlin/New York, 111⫺138. Ziem, Alexander (2005): Begriffe, Topoi, Wissensrahmen. Perspektiven einer semantischen Analyse gesellschaftlichen Wissens. In: Martin Wengeler (Hrsg.): Sprachgeschichte als Zeitgeschichte. Konzepte, Methoden und Forschungsergebnisse der Düsseldorfer Sprachgeschichtsschreibung für die Zeit nach 1945. Hildesheim/New York, 313⫺346. Ziem, Alexander (2008a): Frames und sprachliches Wissen. Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz. Berlin/New York. Ziem, Alexander (2008b): „Heuschrecken“ in Wort und Bild. Zur Karriere einer Metapher. In: Muttersprache 118, 108⫺120.
Martin Wengeler, Düsseldorf (Deutschland)
99. Gesprächstyp und Stil 1. 2. 3. 4. 5.
Situation und sprachlich-stilistische Variation Das Registermodell Von der Textlinguistik zur Kommunikationslinguistik Stilkonzepte Literatur (in Auswahl)
Abstract In (socio)linguistic as well as in anthropological and conversation analytic studies, linguistic heterogeneity and stylistic variation related to situational conditions are main research issues. In these studies, heterogeneity is investigated using concepts like “text type”, “register”, “genre” and “social” or “cultural style”. From a theoretical and methodological perspective, approaches to situation-specific heterogeneity can be differentiated into (a) approaches following the standard research methodology in sociolinguistics, where verbal behavior (the use of specific varieties, specific types of text or verbal activities) is considered as being determined by the situational variables; and (b) approaches using reflexive and dynamic concepts in order to grasp the creation of social meaning through language in the process of interaction.
99. Gesprächstyp und Stil
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This article starts from traditional approaches of the relation between situation and stylistic variation using rather static concepts such as “text type” or “register”, and then focuses on approaches using more complex concepts such as “contextualization”, “genre”, and concepts of “social” or “cultural style”.
1. Situation und sprachlich-stilistische Variation Die in situativen Zusammenhängen beobachtbare sprachlich-kommunikative Variabilität ist Untersuchungsgegenstand in verschiedenen linguistischen, soziolinguistischen, anthropologischen und gesprächsanalytischen Untersuchungen. Dabei wird das situationsspezifische Ausdrucksverhalten in unterschiedliche Konzepte gefasst, z. B. als Textsorten, Register, Genres und als kommunikative soziale bzw. ethnisch-kulturelle Stile. Der erste Versuch einer Gesprächstypologisierung war das Freiburger Redekonstellationsmodell (vgl. Steger u. a. 1974), das von der Feststellung ausging, dass die verschiedenen Realisierungen der gesprochenen Sprache in Relation zu den Situationen, in denen sie entstehen, variieren, d. h. die Redekonstellation kovariiert mit dem Text- bzw. Gesprächsexemplar. In der Folge haben Henne/Rehbock (1982) eine am Freiburger Redekonstellationsmodell orientierte Gliederung in Gesprächstypen versucht. In der Textlinguistik, in der der Begriff der Textsorte (vgl. Gülich/Raible 1972; Isenberg 1983) meist zur Erfassung schriftlicher und mündlicher Produktionen verwendet wird, wird „Text“ aus der Perspektive eines umfassenden kommunikations- und handlungstheoretischen Ansatzes betrachtet, wobei jedoch Uneinigkeit darüber besteht, mit welchen Kategorien gearbeitet werden soll und welche Relationen zwischen handlungstheoretischen Einheiten und sprachlichen Merkmalen bestehen (Adamzik 2001). Einige Ansätze verwenden die in der Sprechakttheorie entwickelten Analysekategorien und ignorieren andere Situationskomponenten (zur Kritik Adamzik 2001, 1476 ff.). Für die Erfassung von situationsspezifischer sprachlich-stilistischer Variation gibt es unter theoretisch-methodologischen Aspekten zwei unterschiedliche Ausrichtungen: (a) Es gibt Ansätze, die das Ausdrucksverhalten als abhängige Variable fassen, die von vorgegebenen unabhängigen Merkmalen der Gesprächssituation bzw. der Sprecher bestimmt wird. Eine solche Stilauffassung herrschte im Anschluss an Labovs Arbeiten (1972) zu Stilen der Aufmerksamkeit auf die Sprachproduktion (mit der Unterscheidung zwischen „casual speech style“ und „formal speech style“) lange Zeit in der Soziolinguistik und der Textstilistik vor. Als Einflussfaktoren wurden entweder die soziale Zugehörigkeit der Sprecher (in der korrelativen Soziolinguistik) oder bestimmte Faktoren der Kommunikationssituation (in der Kontextlinguistik und Registerforschung) angenommen wie z. B. Redekonstellation, Intentionen der Beteiligten, ihre Erwartungen, die sie leitenden Normen oder die durch Gattung oder Aktivitätstyp definierte stilistische Ausgestaltung. In solchen Ansätzen werden Stile und Kontexte als relativ statische, miteinander korrelierbare Einheiten verstanden und Stile in Abhängigkeit von stabilen, außersprachlichen Faktoren für ganze Gespräche oder Teile davon beschrieben. Kontextabfolgen werden als relativ diskrete Einheiten modelliert, in denen Stilveränderungen dann als Kontextveränderungen gefasst werden können. Doch diese Stil- und Kontextkonzeptionen erwiesen sich bei der Analyse natürlicher Gespräche oft als ungeeignet, um kurzfristige oder allmähliche Ver-
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
änderungen des Interaktionsgeschehens zu erfassen, die sich ohne Veränderung der außersprachlichen Bedingungen und Voraussetzungen vollziehen. Die Analyse solcher Bedeutungsveränderungen ist mit statischen, Homogenität voraussetzenden Modellen und über eine unidirektionale Analyseperspektive nicht zu leisten. (b) Diese Perspektive auf Stil wurde durch das von Cook-Gumperz/Gumperz (1976) entwickelte Kontextualisierungskonzept aufgebrochen, das von einem reflexiven und dynamischen Bezug zwischen Kontext und Sprachverwendung ausgeht. Dieses Konzept wurde auch in die Stilanalyse übernommen (vgl. Aufsätze in Hinnenkamp/Selting 1989), und Stil nicht nur als kontextbedingt, sondern auch als Kontext generierend gefasst; d. h., Stilveränderungen können selbst Kontextveränderungen hervorbringen. Selting/Hinnenkamp (1989, 3) fassen Stil „als sinnhaft verwendetes und kontextkonstituierendes Konstrukt“, das auf der Prämisse basiert, dass Kontext und Stil in einer „interdependenten, reflexiven Beziehung“ zueinander stehen. Die Herstellung und die Veränderung von Stilen in Interaktionen sind nicht das Produkt der Anpassung der Beteiligten an Vorgaben des sozialen Kontextes, der unabhängig beschrieben wird, sondern „bieten als Mittel und Ressourcen der Herstellung von sozialer und interaktiver Bedeutung methodisch-systematische Einwirk- und Zugriffsmöglichkeiten auf Interaktionskontexte“ (ebd., 4). Stile werden in konkreten Verwendungszusammenhängen als sozial und interaktiv interpretierte Merkmalsbündel gefasst, und Stilanalysen untersuchen, wie (für die Beteiligten bedeutungsvolle) kookkurrierende sprachliche Gestaltungs- und Ausdrucksmittel im Vergleich zu möglichen Alternativen in der sich entwickelnden Interaktion gebraucht werden. D. h. Stilanalyse bedeutet auch immer Stilvergleich. Im Folgenden werde ich zunächst das Registermodell, das den unter (a) skizzierten Ansätzen zuzuordnen ist, vorstellen, da dieses und vergleichbare Modelle in der angloamerikanischen Forschung häufig verwendet werden, und im Anschluss daran die unter (b) skizzierten Ansätze.
2. Das Registermodell Nach Halliday (1978, 110 ff.), dem bekanntesten Vertreter des britischen Kontextualismus, bilden Dialekt und Register zwei Arten von Variation: Dialekt wird definiert als Varietät „according to its user, what one speaks habitually, depending on who you are, where you come from, geographically in the case of regional dialects, or socially in the case of social dialects; dialect variation reflects the social order“. Im Unterschied dazu ist Register definiert als „a variety according to use; a register is what you speak at the time, depending on what you are and the nature of the activity in which the language is functioning“. Typen von Sprechsituationen werden differenziert nach folgenden Aspekten: „What is actually taking place, who is taking part und what part the language is playing. These three variables […] determine a register“ (Halliday 1978, 31). Die amerikanische Soziolinguistik verwendet im Anschluss an Labov (1972) häufig den Terminus style im Sinne des britischen Register-Begriffs (z. B. Haynes 1995). Die Registerforschung (Überblick bei Eggins/Martin 1997) versucht über die Klärung der Begriffe Situation, Funktion und Register Formen von Kommunikation zu klassifizieren.
99. Gesprächstyp und Stil
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Das Register-Konzept knüpft an Malinowskis Konzept des „context of situation“ (1923) an, das er bei der Beschreibung der Interaktionen der Trobriand-Bewohner entwickelte und womit er die räumlich-zeitlich-soziale Umgebung, in der ein Text produziert wird, fasste. Den „context of situation“ verband er dann mit dem übergreifenden Konzept des „context of culture“, der kulturell-gesellschaftlichen Situiertheit jeden verbalen Austausches. Mithilfe beider Konzepte versuchte Malinowski die Bedeutung verbaler und non-verbaler Interaktion zu erfassen. Firth, ein Schüler Malinowskis, erweiterte das „concept of situation“ zur Erfassung von Texten in einer allgemeinen linguistischen Theorie (Firth, 1957); „context of situation“ umfasste die Dimensionen (a) Teilnehmer (Status und Rolle), (b) Handlungen der Teilnehmer (verbal und non-verbal), (c) weitere relevante Situationsfaktoren (umgebende Objekte, Ereignisse, die sich auf die Teilnehmerhandlungen auswirken), (d) Wirkungen der Handlungen und Veränderungen, die durch die Beteiligtenhandlungen hervorgebracht wurden.
Bei der Behandlung der Frage, wieso Kommunikation auch bei äußerlich ungünstigen Bedingungen gelingt, geht Halliday davon aus, dass Sprecher Hypothesen darüber machen, was eine Person als nächstes tun und sagen wird: „we always have a good idea what is coming next, so that we are seldom totally surprised. We may partly be surprised but the surprise will always be within the framework of something that we know is going to happen“ (1989, 85). Dass wir Vorhersagen machen können, liegt im „context of situation“, der nach Halliday drei Dimensionen umfasst (zit. nach Eggins/Martin, 238): (1) „the field, the social action“ (was die Beteiligten tun), (2) „the tenor, the role structure“ (soziale Beziehung zwischen den Beteiligten, Status, Beteiligtenrollen usw.) und (3) „the mode, the symbolic organization“ (Rolle der Sprache, symbolische Organsiation und Funktion des Textes). Varietäten, die in Bezug auf diese drei Situationsdimensionen bestimmt sind, sind Register; sie umfassen semantische, grammatische und phonologische Merkmale, die diese situativen Bedeutungen typischerweise erzeugen. Halliday (ebd.) unterscheidet geschlossene Register (z. B. die stark normierte Sprache zwischen Piloten und Lotsen, Spiel begleitendes Sprechen, die Sprache der Gastronomie usw.) und unterschiedlich offene Register (z. B. Register von Gebrauchsanleitungen, von Gesetzesdokumenten, Register des Verkaufs, Register der Arzt-Patienten-Gespräche, der Lehrer-Schüler-Gespräche). Am offensten sind Alltagsgespräche und spontane Kommunikation, doch sind auch sie immer mit Erwartungen und Vorannahmen über ihren Verlauf verbunden; d. h., in Kenntnis einer Situation können die zu erwartenden sprachlichen Formen und Semantiken mehr oder weniger genau bestimmt werden. Obwohl Dialekt und Register unterschiedlich definiert sind, gibt es einen engen Praxisbezug zwischen ihnen: Unterschiedliche soziale Gruppen, die unterschiedliche Dialekte sprechen, engagieren sich in unterschiedlichen Aktivitäten, und als Konsequenz werden bestimmte Register mit bestimmten Dialekten assoziiert. Außerdem haben verschiedene soziale Gruppen unterschiedliche Bedeutungskonzepte davon, was in bestimmten Situationen adäquat ist; sie haben in Bernsteins Begrifflichkeit (1964, 58) „different coding orientations“. Der Hallidaysche Situationsbegriff kann sowohl als globale, relativ konstant bleibende Situation, die das gesamte Gespräch betrifft (ähnlich dem Freiburger Redekonstellationsmodell), als auch im Sinne einer begrenzten Gesprächsepisode verstanden werden. Im Rahmen dieses Ansatzes gibt es quantitative Untersuchungen (vgl. Biber/Finegan 1994) und Einzelfallanalysen (vgl. Halliday/Hasan 1989; Eggins/Martin 1997). Bibers Weiterentwicklung des Registerkonzepts (1994) schließt an taxonomische Vorstellungen der quantitativen Soziolinguistik an. Er versucht kommunikative Variabilität in Korrela-
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tion mit operationalisierten situativen Parametern zu erfassen, ignoriert jedoch interaktive Aspekte ebenso wie für bestimmte Situationen charakteristische kommunikative Gattungen. Diese beziehen Eggins/Martin (1997) in ihre Register & Genre-Theory mit ein, führen detaillierte Analysen von lexikalischen, grammatischen und semantischen Mustern in Gesprächen durch und stellen Bezüge zwischen Gesprächsstrukturen und sozialen bzw. kulturellen Kontextmerkmalen her. Dabei werden Register, die den situativen Kontext erfassen, und im Anschluss an Bachtin (1986) Gattungen, die den kulturellen Kontext umfassen, als Konzepte verwendet, um die unterschiedliche Ausgestaltung und Bedeutung von Texten/Gesprächen zu erklären. Auch dieser Ansatz, den die Autoren als dialogisch und interaktiv vorstellen (Eggins/Martin 1997, 251), bleibt statisch und geht von der Annahme aus, dass Texte die Realisierung einer überschaubaren Anzahl kontextueller und kultureller Merkmale sind.
3. Von der Textlinguistik zur Kommunikationslinguistik 3.1. Veränderung der wissenschatlichen Perspektive In Deutschland zeichnet sich mit der Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache 1985 und dem Tagungsband „Kommunikationstypologie“ (Kallmeyer 1986) eine Entwicklung der Textlinguistik zur Kommunikationslinguistik ab. Ehlich (1986, 67 ff.), der den damaligen Stand der Typologisierung von Texten als „weitgehend unbefriedigend“ empfand, da nach beliebigen Kriterien vorgenommen, stellt einen umfassenden Katalog von Aufgaben zusammen, die eine Kommunikationstypologie zu erledigen habe: nämlich die Formbestimmtheit des kommunikativen Handelns zu rekonstruieren und dabei die Analysekategorien nicht ,vorzukonstruieren‘, sondern sie aus dem kommunikativen Handeln selbst zu entwickeln, sowie den fundamentalen Unterschieden zwischen schriftlichen Texten und mündlichen Diskursen ebenso wie der Komplexität und der gesellschaftlichen Formbestimmtheit des kommunikativen Handelns gerecht zu werden. Mit der Hinwendung zur Kommunikationslinguistik verlagert sich die wissenschaftliche Perspektive von der Produktorientierung zur Prozessorientierung mit weit reichenden theoretischen und methodologischen Konsequenzen, die sich vor allem in der Abwendung von statischen Konzepten und der Hinwendung zu dynamischen, flexiblen Konzepten zeigen. In den wissenschaftlichen Fokus kommen Verfahren der Organisation von Kommunikationsereignissen, Techniken der Gesprächssteuerung und Verfahren der Bedeutungskonstitution. Gespräche werden als Ergebnis eines Verständigungs- und Aushandlungsprozesses gefasst, der von den Beteiligten gemeinsam geleistet wird. Dabei orientieren sich Gesprächsteilnehmer an bestimmten Mustern oder Schemata, über die sie Konsens herstellen, über die sie verhandeln oder streiten können. Es gibt Gespräche, die in ihrem Verlauf und in der Beteiligungsleistung der Gesprächspartner relativ vorhersehbar sind, und solche, deren Verlauf weitgehend offen und deren Ergebnis für die Beteiligten unvorgesehen und überraschend sind. Dieser hohen Variabilität einerseits und der Musterorientierung der Gesprächsbeteiligten andererseits versuchen neuere Untersuchungen zur Typologisierung von Gesprächen mit dem Konzept des Handlungsschemas (Überblick dazu Spiegel/Spranz-Fogasy 2001) oder mit dem Konzept der kommunikati-
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ven Gattungen (vgl. Luckmann 1986) gerecht zu werden. Im Zusammenhang mit Fragen stilistischer Variation sind vor allem das Konzept der kommunikativen Gattung und das Kontextualisierungskonzept (vgl. Gumperz 1982) interessant.
3.2. Kommunikative Gattungen In seiner für die deutsche Gattungsforschung maßgeblichen Arbeit definiert Luckmann (1986, 202) kommunikative Gattungen als im gesellschaftlichen Wissen fest verankerte, „mehr oder minder wirksame und verbindliche ,Lösungen‘ von spezifisch kommunikativen ,Problemen‘“. Im Unterschied zu dem in der Textlinguistik entwickelten Textsortenbegriff, der als statisches, monologisches Konzept angelegt ist (im Gegensatz zum statischen, monologischen Textsortenbegriff fasst Gülich 1986 ,Text‘ jedoch als komplexe sprachliche Handlung, die durch die interaktive Leistung der Kommunikationspartner zustande kommt und zwar unabhängig davon ob ein Sprecherwechsel stattfindet; vgl. auch die dialogische Ausrichtung des Handlungsmusterkonzepts bei Ehlich 1986), werden Gattungen als interaktiv erzeugte Konstrukte gefasst, wozu auch der von den Interaktanten geleistete Herstellungsprozess und die dabei verwendeten sprachlichen und außersprachlichen Mittel und Verfahren gehören. Neben den als „textextern“ bezeichneten Merkmalen wie Sprecherzahl, Ort, Zeit usw. werden auch die in der ethnomethodologischen Gesprächsanalyse herausgearbeiteten konstitutiven Elemente von Interaktionen wie Sprecherwechsel, recipient design, Präferenzen, Rezipientenreaktionen, gemeinsames Produzieren von Gesprächsphasen usw. einbezogen. Vor allem aber unterscheidet sich das Gattungskonzept von dem der Textsorte in der Bestimmung von Kontext. In Anknüpfung an den Kontextbegriff der interaktionalen Soziolinguistik (im Sinne Gumperz 1992; 1994) liegt dem Gattungskonzept ein interaktiver Kontextbegriff zugrunde: Kontext wird nicht nur als Aggregat materiell gegebener Einheiten verstanden, die losgelöst von der Interaktion bestehen, sondern Kontext wird auch von den Interagierenden aktiv konstituiert. In Bezug auf kommunikative Gattungen bedeutet das, dass sie nicht nur typisch für bestimmte Kontexte sind, sondern durch die interaktive Herstellung bestimmter kommunikativer Gattungen können auch bestimmte Kontexte geschaffen werden. Während in der Textsortenforschung zur Bestimmung von Textsorten nur zwischen textinternen und textexternen Faktoren unterschieden wird (Steger 1983), wird in der Gattungsforschung als weitere Strukturebene die Beziehung zwischen Gattungen und übergreifenden sozialen Strukturen einbezogen. In Anknüpfung an Bachtin (1986) versteht Günthner (1995, 210) Gattungen als „Knotenpunkt der Interaktion, in dem sich sprachliche und thematische Strukturen, stilistische Formen und kommunikative Funktionen mit gesellschaftlichen Ideologien und sozialen Strukturen treffen“. Gattungen werden auf drei verschiedenen Strukturebenen bestimmt (ausführlich dazu Günthner 1995, Knobloch/Günthner 1997): (a) nach der Binnenstruktur, dazu gehören verbale (lexikosemantische, syntaktische, phonologische), stilistisch-rhetorische (Metaphern, hyperbolische Ausdrücke, Wortspiele, Wortverbindungen u. ä.), nonverbale Elemente (Prosodie, Gestik, Mimik), Gliederungsstrukturen und Interaktionsmodalitäten, die für die Gattung konstitutiv sind; (b) nach der situativen Realisierungsebene, dazu gehören alle Elemente, die den interaktiven Kontext der Produktion von Gattungen ausmachen, sowie der unmittelbar situative Kontext bzw. die soziale Veranstaltung, in der die Gattung auftritt; und (c) nach der Außenstruktur der Gattungen, die sich auf den Zusammenhang
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zwischen Gattung und sozialem Milieu bzw. ethnischen und kulturellen Gruppen, Geschlechterkonstellationen oder gesellschaftlichen Institutionen bezieht. Bestimmungsmerkmale aus diesen drei Strukturebenen konstituieren das „Gesamtmuster einer kommunikativen Gattung und legen den Verbindlichkeitscharakter fest“ (Günthner 1995, 207). Nach Luckmann (1986, 203) umfassen Gattungen sowohl Minimalformen (vgl. dazu auch Hymes 1974, 443) wie Sprichwörter, Rätsel, Wortspiele, Reime, Witze, Anekdoten und Vorwürfe als auch rekonstruktive Großformen wie Interviews, Alltagserzählungen und Klatsch. Minimalgattungen können integrierte Bestandteile komplexer Gattungen sein, und Gattungen mit stark verfestigten Mustern (z. B. verbale Duelle) stehen neben Gattungen mit eher variabler Struktur (z. B. Vorwürfe). Bergmann/Luckmann (1995) fassen Gattungen, denen einheitliche funktionale Merkmale zugrunde liegen, als Gattungsfamilien. So fallen unter die Gattungsfamilie „moralische Kommunikation“ z. B. alle Gattungen, in denen moralische Fragen thematisiert und bearbeitet werden, alltägliche Formen wie Klatsch (vgl. Bergmann 1987), institutionalisierte Formen wie Beichte, Minimalformen wie Sprichwörter und Vorwürfe (Günthner 1995) und komplexe Formen wie Klagelieder (Kotthoff 1993b). Bestimmte Gattungen gehören zum kommunikativen Repertoire von sozialen Gruppen, d. h. Gattungen haben eine bestimmte soziale Verteilung. Soziale Milieus oder ethnisch-kulturelle Gruppen zeichnen sich durch typische Veranstaltungen aus, in denen typische kommunikative Gattungen auftreten, andere fehlen. In den Untersuchungen zu städtischen Milieus in Mannheim z. B. (vgl. 4.5) konnte gezeigt werden, dass für die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu die Kompetenz in bestimmten Kommunikationsformen bzw. Gattungen Voraussetzung ist. Während in einer Frauengruppe aus dem Arbeitermilieu das Erzählen von „dreckigen Witzen“ und das genussvolle Mitarbeiten an ihnen zu den Hochformen von Geselligkeit gehört (vgl. Keim 1995), kommen „dreckige Witze“ in der Gruppenöffentlichkeit von Frauen aus dem Bildungsbürgertum nicht vor (vgl. Schwitalla 1995). Dies zeigt, dass die Verwendung spezifischer Gattungen mit zur Konstruktion von Gruppenzugehörigkeit gehört. Auch verschiedene kulturelle und ethnische Milieus (z. B. weiße und schwarze Amerikaner, Erickson/Shultz 1982; deutsche und chinesische Studentinnen, Günthner 1993) zeigen Unterschiede in der Produktion und Rezeption kommunikativer Gattungen, wie Job-Interviews oder Argumentationen (z. B. die Verwendung von Sprichwörtern zur Stützung eines Arguments bei Chinesinnen, Günthner 1993). Die Beherrschung kommunikativer Gattungen ist Teil der „kommunikativen Kompetenz“ (Hymes 1974) und entscheidet häufig über Erfolg oder Misserfolg in institutionellen Kontexten. Das zeigen Untersuchungen aus dem interkulturellen Bereich (z. B. Erickson/Shultz 1982 zum unterschiedlichen Verhalten Schwarzer und Weißer in „gate-keeping“ Situationen; Auer 1994 zum unterschiedlichen Verhalten von „Ossis“ und „Wessis“ in Bewerbungsgesprächen).
3.3. Das Kontextualisierungskonzept Eine Verbindung zwischen konkreten Interaktionen und übergeordneten sozialen Strukturen schafft auch die Kontextualisierungstheorie, wie sie von Cook-Gumperz und Gumperz (1976) eingeführt und in weiteren Arbeiten (Gumperz 1982; 1992) spezifiziert wurde. Im Gegensatz zu unidirektionalen und nicht-reflexiven Kontextkonzepten gehen die Autoren von einem dynamischen, flexiblen und reflexiven Kontextmodell aus. Nach Gumperz bedeutet Kontextualisierung: „speakers’ and listeners’ use of verbal and non-
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verbal signs to relate what is said […] to knowledge acquired through past experience, in order to retrieve the presuppositions they must rely on to maintain conversational involvement and access to what is intended“ (1992, 230). Kontextualisierung umfasst also alle Aktivitäten, mit denen die Gesprächsbeteiligten ihre Äußerungen im Interaktionsprozess interpretierbar machen und mit denen sie den Kontext herstellen, in dem ihre Äußerungen verstanden werden sollen. Kontext ist also das Produkt gemeinsamer Hervorbringung durch die Interaktanten, die sich in jedem Moment der Interaktion signalisieren, was für sie relevant ist. Das können materielle Faktoren der Situation sein, es können aber auch aus der Situation emergierende oder von ihr unabhängige Parameter sein. Reflexive Kontextkonzepte wurden z. B. auch von Goffman (1974) und Garfinkel (1967) vertreten. Doch Gumperz’ Ansatz entwickelte sich zu einer eigenständigen Forschungsrichtung vor allem durch die Fokussierung bestimmter Klassen von Kontextualisierungshinweisen und durch die Konzentration auf natürliche Gespräche. Zu Kontextualisierungshinweisen gehören nonverbale Phänomene (Gestik, Mimik, Raumverhalten), paraverbale und prosodische Phänome (Intonation, Akzentuierung, Lautstärke, Sprechtempo, Verzögerungen, konversationelle Synchronie bzw. Asynchronie, Stimmqualität, emotionaler Ausdruck), die Gesprächs- und Darstellungsstrukturierung (Segmentierung des Sprechens, Differenzierung in Vordergrund- und Hintergrundinformation, in Haupt- und Nebenaktivität), verbale Mittel (Wahl der Sprache bzw. Varietät, Wahl bestimmter lexikalischer Elemente, formelhafter Ausdrücke u. a.). Kontextualisierungsmittel haben keine referentielle Bedeutung, sind keine statischen, an bestimmte Situationen gebundenen Marker, sondern flexible Mittel, die eingesetzt werden, um den Kontext für die Interpretation einer bestimmten Äußerung zu schaffen. In seinem Versuch einer Typologie von Kontextualisierungsmitteln geht Auer (1992, 26) von der Frage aus: „How much context is ,brought along‘, and how much of it is ,brought about‘ in interaction“. Obwohl Kontext emergent ist und in der Situation hervorgebracht wird, gibt es Fälle, in denen Kontext „mitgebracht“ wird („brought along“) und in der Situation nur noch relevant gemacht werden muss, oder in denen Kontext nur durch die Kontextualisierungsarbeit der Beteiligten hervorgebracht wird. Ausgehend von diesen Extrempolen unterscheidet Auer drei Gruppen von Kontextschemata: (a) Schemata, die ausschließlich durch die interne Kontextualisierungsarbeit der Beteiligten hervorgebracht werden; (b) Schemata, die mit dem Beginn einer Interaktion im Rahmen von Institutionen oder Interaktionen mit stabilen sozialen Rollen (z. B. Eltern-Kind-Interaktionen) relevant werden (sie werden mitgebracht, müssen jedoch durch kontinuierliche Kontextualisierungsleistung relevant gehalten oder durch alternative Schemata ersetzt werden); (c) Schemata, die durch die physische Einbettung der Interaktion bestimmt werden, durch Zeit, Raum und sichtbare Merkmale der Beteiligten (Geschlecht, Ethnizität); diese situativen Merkmale können nicht verändert werden, sie können jedoch durch Kontextualisierungsmittel in den Vordergrund gebracht oder durch fehlende Kontextualisierung irrelevant gemacht werden. Nach Auer (1992) haben Kontextualisierungsmittel folgende Eigenschaften: sie werden redundant kodiert, sind nonreferentiell, etablieren Kontraste, können konventionalisiert oder natürlich sein und können hierarchisch geordnete Schemata indizieren (z. B. koinzidiert die Organisation des Turn-Taking mit den sozialen Rollen der Beteiligten). Trotz seiner Komplexität und einiger theoretisch- methodischer Unschärfen wurde das Kontextualisierungskonzept in der interaktionalen (Sozio-)Linguistik und in der Mikroethnographie erfolgreich angewandt, weil es verbale Interaktionen mit Aspekten des para- und nonverbalen Verhaltens und mit übergeordneten sozialen Strukturen in Beziehung zu setzen vermag.
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4. Stilkonzepte 4.1. Situative Variation und Stil In der Textlinguistik wurden in den 70er Jahren textstilistische Fragestellungen diskutiert mit dem Ergebnis einer relativ klaren Aufgabenverteilung auf Textlinguistik und Stilistik. Der Textlinguistik kam die Aufgabe zu, „die Konstitution von Texten und die allgemeinen Prinzipien des Textbaus […] zu erforschen, während die Stilistik untersucht, wie von den Mitteln der Textkonstitution und den Textbauprinzipien Gebrauch gemacht werden kann“ (Püschel 2001, 479). In der sprachpragmatisch-handlungstheoretisch orientierten Textlinguistik bilden Textsorten bzw. -muster den Rahmen für die Untersuchung von Textsortenstilen und ihren kommunikativen Funktionen. Sandig (1986) geht in ihrer Stiltheorie von dem Grundsatz aus, dass jede Äußerung und jeder Text Stil haben. Stil wird definiert als „die sozial relevante Art der Durchführung einer Handlung mittels Text oder interaktiv als Gespräch“ (ebd., 28). Sandig führt eine ganze Reihe von stilrelevanten Aspekten ein, die in späteren Ansätzen ebenfalls eine Rolle spielen: Stile sind eingebunden in historische Zeiten und Moden, geprägt durch Institutionen, Situations- und Handlungstypen, sie sind Ausdrucksmittel für soziale Zugehörigkeit und Mittel zur Gestaltung sozialer Beziehungen. Stile sind äußerst komplexe Phänomene, sind eingebettet in die sie tragenden Handlungen/Texte und entstehen durch das Zusammenwirken von Einheiten, die auf unterschiedlichen sprachlichen, para- und außersprachlichen Ebenen liegen. Stile sind relational, d. h., sie werden mit Bezug auf Kenntnisse, Erfahrungen und Erwartungen hinsichtlich der Interaktionskomponenten interpretiert. Stile sind holistisch, d. h., viele Einzelheiten auf unterschiedlichen Ausdrucksebenen machen ihre Bedeutung aus. Zu bestimmten Textsorten, die als konventionelle Vorgaben für die Lösung gesellschaftlicher Standardprobleme verstanden werden (Sandig 1986; Gülich 1986), gibt es mehr oder weniger feste „Textmusterstile“ (Sandig 1986, 173) wie z. B. bei Todesanzeigen (Gülich 1986); für bestimmte Gesprächsmuster gibt es „Gesprächsmusterstile“, z. B. in der Psychotherapie (Baus/Sandig 1985), der Arzt-Patienten-Kommunikation (SpranzFogasy 2005) oder in Interviews (Uhmann 1989). Der Zusammenhang zwischen Aktivitätstyp bzw. kommunikativer Gattung und stilistischer Ausgestaltung wird vor allem in der interaktionalen Soziolinguistik thematisiert. Dabei werden dynamische, reflexive Stilkonzeptionen entwickelt, in denen Stile einerseits für bestimmte Genres erwartbar sind (Levinson 1979, 368), andererseits aber auch Kontextualisierungsfunktion haben; sie können mehr oder weniger fest mit der Durchführung bestimmter Aktivitäten verbunden sein, sie können aber auch zur Herstellung neuer Deutungsrahmen für Aktivitäten verwendet werden. Stile setzen ein gewisses Maß an Konventionalisierung voraus. In vielen Kulturen gibt es für typisierte Stile auch Bezeichnungen, die meist mit spezifischen Kommunikationstypen verbunden werden ⫺ Selting/Hinnenkamp (1989) sprechen von „Verhörstil“, „Interviewstil“, „Diskussionsstil“, „Plauderstil“ u. a. ⫺ oder die mit bestimmten sozialen oder ethnisch-kulturellen Gruppen/Milieus assoziiert werden, wie „soziale Stile“ (vgl. Dittmar 1989; Kallmeyer 1994; Keim 1995; Schwitalla 1995), „Subkulturstile“ (vgl. Clarke et al. 1979; Willis 1981), „ethnisch-kulturelle Stile“ (vgl. Bierbach/Birken-Silvermann 2002; Keim 2007a; Cindark 2004; Aslan 2004), „geschlechtsspezifische Stile“ (vgl. Tannen 1984; Günthner/Kotthoff 1991; 1992) usw. Außerdem gibt es Bezeichnungen zur Charak-
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terisierung für unterschiedliche Handlungsdurchführungen, z. B. „persönlicher“ vs. „unpersönlicher Stil“, „höflicher“ vs. „unhöflicher“ Stil (vgl. Lüger 2001) oder „emphatischer Stil“ (Selting 1994). Aufgrund von rollen-, status- und beziehungsspezifischen Stilerwartungen können Gesprächsbeteiligte Situationen, Beziehungen und Aktivitäten durch die Wahl unerwarteter Stile neu definieren bzw. Abweichungen von Erwartungen werden in Relation zu Erwartungen erst interpretierbar. Stilanalysen machen die Rekonstruktion von frames notwendig, in denen Stil Relevanz hat, und beziehen damit die lokal handlungsleitenden, sozialen und kulturellen Wissensbestände in die Bedeutungsrekonstruktion mit ein (im Sinne von Gumperz 1982). Die Verbindung aus ethnomethodologischer Gesprächsanalyse mit dem Kontextualisierungkonzept und der interaktionalen Soziolinguistik, wie sie Gumperz (1994) vorführte, bilden in vielen Untersuchungen den Rahmen für die Analyse der lokalen Herstellung und Veränderung von Bedeutung durch Stile in Interaktionen. Der Einfluss der Arbeiten von Gumperz macht sich besonders in den Untersuchungen bemerkbar, die Stilunterschiede, die in Gesprächen offenkundig werden, auf soziale, ethnisch-kulturelle oder Geschlechtsdifferenzen zurückführen. Dabei wird Stil als tief einsozialisiertes, sozial-kulturelles Symbolsystem verstanden, das zum Ausdruck sozialer und ethnisch-kultureller Identität dient. In solchen Situationen gibt es für Sprecher keine Wahlmöglichkeit bei Handlungsweisen, die in kulturellen Traditionen und Überzeugungen gründen, da eine Veränderung der kommunikativen Praxis zu sozialer Auffälligkeit bis hin zum sozialen Ausschluss führen könnte. Sprecher haben gerade dann, wenn sie ihre Zugehörigkeit zu einer sozialen Welt ausdrücken wollen, keine Wahl zwischen Alternativen, sondern verwenden die dafür charakteristischen Stilformen. Das Element der Wahl wird jedoch dann sichtbar, wenn verschiedene Handlungsweisen gegeneinander abgegrenzt und mit unterschiedlicher sozialer Bedeutung verbunden werden.
4.2. Kulturgebundene Gesprächsstile In vielen Untersuchungen zur interkulturellen Kommunikation werden kulturbedingte Stilunterschiede als Störquelle für die Interaktion beschrieben. Unterschiede können auf der Ebene der Regeln des Sprechens liegen (vgl. die Forschung zu „Höflichkeit“, u. a. Blum-Kulka 1987; Lüger 2001), in der Behandlung von Nicht-Übereinstimmung (z. B. Kotthoff 1993a), in bestimmten Diskursmustern (z. B. Günthner 1993) oder im gesamten Gesprächsverhalten (Tannen 1984). Mit dem Konzept des „conversational style“ knüpft Tannen (1984) an Gumperz’ (1982) Beschreibung von kulturgebundenen sprachlichen Verfahren, an Lakoffs Arbeiten zu „stylistic strategies“ (1973) und an Hymes’ (1974) Konzept der „ways of speaking“ an. Tannen versteht unter Stil „a person’s way of talking“ (1984, 8), bezieht Stil zunächst auf den individuellen Sprecher und setzt dann Merkmale, die verschiedene Sprecher gemeinsam haben, in Bezug zu ihrer regionalen, sozialen oder kulturellen Herkunft oder zu ihrem Geschlecht. Gumperz und Tannen (1979) zeigen, dass Stil vor allem über die Verwendung von Verfahren vermittelt wird, die signalisieren, wie eine Äußerung interpretiert werden soll, und dass sich Sprecher unterschiedlicher kultureller Herkunft in Bezug auf konversationelle Basismuster stark unterscheiden. Stilistische Kompetenzen und sozial-kulturelles Wissen über stilistische Bedeutungen werden im Laufe des Sozialisationsprozesses erworben und sind inhärenter Bestandteil des sozialen Prozesses des Spracherwerbs. So zeigte bereits Anderson (1977),
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dass vierjährige Kinder in Rollenspielen verschiedene soziale Rollen mit unterschiedlichen stilistischen Mitteln (syntaktische, lexikalische, intonatorische Mittel, unterschiedliche Formen von Höflichkeit usw.) repräsentieren. Mit Bezug zu Lakoff (1973) gründet Tannen ihren Stilbegriff auf den drei Höflichkeitsstrategien „don’t impose, give options and be friendly“ (Tannen 1984, 11): Die Entscheidung einer Person darüber, welche dieser Strategien in einer gegebenen Situation in welchem Ausmaß verwendet wird, macht ihren Stil aus, wobei die Entscheidung über die situative Angemessenheit ebenso in der sozial-kulturellen Sozialisation wie in vergangenen Interaktionserfahrungen gründet. Auf der Basis der Gespräche bei einer Dinnerparty mit sechs Personen (drei aus New York, zwei aus Süd-Kalifornien und eine aus England) fasst Tannen die besonderen gesprächsstilistischen Merkmale der New Yorker Sprecher als „high-involvement style“, der sich auszeichnet durch Besonderheiten auf der Ebene (a) der Themenbehandlung (persönliche Themen, abrupte Themenwechsel und Insistieren auf einem Thema), (b) der Gesprächsführung (schnelles Sprechen, schnelle Turnwechsel, keine Pausen zwischen Turns, Überlappungen), (c) der narrativen Strategien (Geschichtenerzählen in Runden, Inszenierungen und Dramatisierungen von Höhepunkten), (d) der paralinguistischen Merkmale (markierte Wechsel der Tonhöhe, Stimmänderungen, Akzentuierungen, spannungsaufbauende Pausen innerhalb von Turns), (e) der Verwendung von Humor und Spiel und von „machine-gun questions“. Die Verwendung dieser Mittel machte die Interaktion zwischen den New Yorker Sprechern angenehm und vertraut, rief jedoch bei den übrigen Beteiligten Unbehagen hervor. Einige Untersuchungen weisen auf mögliche Auswege aus der ethnisch-kulturellen „Stilfalle“ hin. So zeigen z. B. Erickson/Shultz (1982), dass in der Kommunikation zwischen Schwarzen und Weißen über die Herstellung von Gemeinsamkeiten jenseits ethnisch-kultureller Eigenschaften ethnische Grenzen überwunden und neue Verständigungsmöglichkeiten erschlossen werden können.
4.3. Geschlechtsspeziische Stile Die Unterscheidung von geschlechtsspezifischen Gesprächsstilen als „male and female conversational styles“ führen Maltz/Borker (1982) auf die unterschiedliche Sozialisation von Jungen und Mädchen in Peergroups zurück. Daran anknüpfend beschreibt Tannen (1990) grundlegende Stilunterschiede in Interaktionen zwischen Frauen und Männern, die aus ihrer Perspektive den in der Forschung zur interkulturellen Kommunikation beschriebenen Unterschieden zwischen Kulturen vergleichbar sind. Männer definieren sich eher in Status- und Leistungshierarchien, Frauen eher in Beziehungsnetzwerken; Frauen sind eher auf Intimität, Männer eher auf Unabhängigkeit hin orientiert. Diese unterschiedlichen Orientierungen führen zu unterschiedlichen Deutungen desselben Geschehens und zu unterschiedlichen Gesprächsstilen (Genderlekten): Der Stil der Frauen ist eher ein „rapport-talk“ (Beziehungsstil), der der Männer ein „report-talk“ (Berichtsstil). Für Frauen stellen Gespräche eine Möglichkeit dar, Beziehungen zu knüpfen und Gemeinschaft herzustellen; konstitutiv für solche Gespräche sind z. B. die Verhandlung und Bewertung intimer Details aus dem eigenen und dem Leben anderer (Klatsch). Für Männer dagegen sind Gespräche in erster Linie Mittel zur Bewahrung von Unabhängigkeit und zur Statusaushandlung; sie stellen ihr Wissen zur Schau und versuchen durch besondere Witzigkeit und Unterhaltsamkeit Aufmerksamkeit zu erhalten und Ansehen zu gewinnen. Aus diesen unterschiedlichen Orientierungen erklärt Tannen die in vielen
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Paarbeziehungen beschriebene Erfahrung von Missverständnissen bis hin zu Kommunikationsblockaden. Günthner/Kotthoff (1991, 1992) präsentieren eine Reihe von Untersuchungen, die die unterschiedlichen Gesprächsstile von weiblichen und männlichen Gesprächsteilnehmern im Klassenverband, in Fernsehdiskussionen und in gemischten Gruppen von Studierenden aufzeigen. Einige Untersuchungen bestätigen die von Lakoff und Tannen den Frauen zugeschriebene Beziehungsarbeit in Gesprächen; bei Männern dagegen wird (gemessen u. a. an der Häufigkeit ihrer Beiträge, der Themeninitiierungen, der Unterbrechungen weiblicher Beiträge, der Verwendung insistierender Züge) ein dominantes Gesprächsverhalten festgestellt. Doch andere Untersuchungen zeigen (vgl. den Forschungsüberblick in Schoenthal 1998b), dass bestimmte Faktoren der Situation und Charaktereigenschaften der SprecherInnen das Gesprächsverhalten stärker beeinflussen als die Geschlechtszugehörigkeit. Untersuchungen aus anderen Kulturen zeigen, dass der Einfluss des Geschlechtsfaktors auf den verwendeten Gesprächsstil nicht generalisiert werden kann, da Frauen auch Gesprächsweisen verwenden, die in Lakoffs bzw. Tannens Kategorien eher „männlich“ sind (z. B. Keenan 1974). Goodwin/Goodwin (1987) warnen davor, den Faktor „Geschlecht“ vom sozialen Kontext zu isolieren, und verdeutlichen an Beispielen, dass Männer und Frauen über ähnliche Diskursstrategien verfügen, sie aber situativ unterschiedlich einsetzen. Auch die Untersuchungen zu unterschiedlichen sozialen Milieus in Mannheim (vgl. 4.5) zeigen ein weites Spektrum für weibliches Gesprächsverhalten, und nur eine der untersuchten Frauengruppen hat den in Lakoffs Kategorien als „weiblich“ beschriebenen Stil ausgeprägt (vgl. Schwitalla zu Gesprächsstilen in diesem Handbuch).
4.4. Kultursoziologische und anthropologische Stiluntersuchungen Während die bisher dargestellten Ansätze Stil vor allem an sprachliche und parasprachliche Merkmale binden, erfassen kultursoziologisch und anthropologisch orientierte Stiluntersuchungen das gesamte Ausdrucksverhalten. Beispielhaft dafür sind die Arbeiten von Willis (1981), Clarke et al. (1979) und Hebdige (1979). Sie beschreiben Gruppen von Jugendlichen und ihre unterschiedlichen Stile, die sie aus ihren ökonomischen, sozialen, kulturellen Voraussetzungen und den daraus entwickelten Selbstbildern der Jugendlichen erklären. Willis (1981) z. B. beschreibt zwei stark kontrastierende Jugendkulturen, die „Motorrad-Jungs“ und die „Hippies“, und stellt auf der Basis seiner ethnographischen Untersuchung die „innere Bedeutung des Stils dieser Kulturen“ dar. Die von den Gruppen ausgewählten materiellen Gegenstände und Ausdrucksmittel zeigen Parallelen zu ihrer Gefühlsstruktur und ihren Interessen und geben Hinweise darauf, wie die Gruppen ihre Positionen innerhalb der Gesellschaftsstruktur verstehen. Beide Gruppen bilden ihren Stil im Rahmen der sozialen Schicht aus, aus der sie kommen: Die „Motorrad-Jungs“ aus der Arbeiterschicht knüpfen an die „rauen Formen“ und Themen der Arbeiterkultur an und bauen sie aus; die „Hippies“ gehören der Mittelschicht an und erweitern die Tradition der „Intelligenz-Boheme“. Die „Motorrad-Jungs“ kreieren z. B. ihr Äußeres in Opposition zu den eher femininen „Mods“; sie tragen Lederjacken, schmierige Jeans, schwere Stiefel, lange fettige Haare, Tätowierung und Ohrring. Die wesentlichen Charakteristika ihrer Welt sind Konkretheit, Unzweideutigkeit, eine unkomplizierte Körperlichkeit und Männlichkeit ohne Angst und Furcht, ein tiefes Vertrauen in die eigene Lebenswelt und in die eigene Kontrolle über die Umwelt. Zentrales Symbol dafür ist die Beherr-
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schung des Motorrads, mit dem die physischen Grenzen bis zum Äußersten ausgereizt werden. Das Motorrad spiegelt und erzeugt zentrale Sinnelemente der Kultur der „Jungs“: Bewegung, Geschwindigkeit, Kraft, Gewalt, Lärm, Wildheit und Kontrolle. Entsprechend dem Selbstbild ist der Stil der „Jungs“ lärmend, rau und extrovertiert, sie prahlen gern, lieben Scheinkämpfe und gehen grob miteinander um (Beschimpfungen, Flüche). Auch ihr musikalischer Geschmack (Rock ’n’ Roll, die Rolling Stones) ist Ausdruck dieses Selbstverständnisses. Ähnlich umfassend und außerdem linguistisch orientiert ist das Stilkonzept von Irvine (2001), das die mit dem Registerkonzept erfassten Dimensionen aufnimmt und außerdem noch alle semiotisch organisierten Ausdrucksmittel, die Personen für eine kohärente Selbstpräsentation verwenden. Irvines Stilkonzept zielt auf die Erfassung von Prozessen der sozialen Distinktion, und ihr Interesse richtet sich auf die Rekonstruktion der in einer bestimmten Kultur (im Vergleich zu anderen Kulturen) verankerten Prinzipien der Stilbildung. Sie unterscheidet drei semiotische Prozesse, die der Stilbildung zugrunde liegen (ebd., 33): die Ikonisierung („a linguistic feature depicts or displays a social group’s inherent nature or essence“), die Rekursivität („meaningful distinctions are reproduced“) und die Reduktion („erasure“, d. h. das Ignorieren interner Variation um ein homogenes Bild nach außen darzustellen). Das Wirken dieser Prinzipien zeigt Irvine am Beispiel zweier kontrastierender Kommunikationsstile bei den Wolof, Dorfbewohnern im Senegal, am Stil der „high-ranking geer“ und der „low-ranking gewel“. Die unterschiedlichen Ausdruckssysteme spiegeln auf allen Ausdrucksebenen die in der Gesellschaft tradierten Vorstellungen über beide Gruppen und die ihnen zugeordneten gesellschaftlichen Aufgaben wider. Die stilistischen Unterschiede sind demnach motiviert durch die in dieser Kultur herrschende Ideologie, die die Verhaltenseigenschaften „laconic and austere“ (das Verhalten der geer) mit den Eigenschaften „impulsive and elaborated“ (dem Verhalten der gewel ) kontrastiert und diese Eigenschaften aus den kulturell definierten Charaktereigenschaften der jeweiligen Sprecher ableitet (ebd, 37 f.). Dadurch, dass Irvine alle Ausdrucksebenen in Interaktionen berücksichtigt, „Stil“ an kulturgebundene Ideologien zu Ausdruckskontrasten rückbindet und den Analysefokus auf die Rekonstruktion von Stilbildungsprinzipen richtet, sind ihre Stilanalysen ⫺ trotz des eher statischen Stilkonzepts ⫺ vielfach rezipiert worden.
4.5. Das Konzept des kommunikativen sozialen Stils Das Konzept des kommunikativen sozialen Stils wurde in dem Projekt „Kommunikation in der Stadt“ (Kallmeyer 1994; Kallmeyer 1995; Keim 1995; Schwitalla 1995) entwickelt, in dem die sozialstilistische Differenzierung zwischen unterschiedlichen sozialen Welten der deutschen Gesellschaft (vom Bildungsbürgertum bis zu den „einfachen Leuten“ aus dem Arbeitermilieu) beschrieben wird. Da es das zur Zeit umfassendste Stilkonzept ist und an die bisher beschriebenen Konzepte (aus der soziologischen, anthropologischethnografischen, der linguistischen und der interaktional-soziolinguistischen Forschung) anknüpft, werde ich es ausführlicher darstellen. Soziale Stile werden in der Auseinandersetzung mit sozialen, ökologischen, kulturellen und ideologischen Voraussetzungen und Bedingungen der umgebenden Lebenswelt herausgebildet und bilden kommunikative „Lösungen“ für anstehende Aufgaben und Probleme im Rahmen sozialer Welten. „Sozialer Stil“ wird als übergeordnetes Konzept gefasst und ist geprägt durch folgende Aspekte:
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(a) Konstitutiv für einen Stil ist, dass Elemente aus allen Ausdrucksebenen (sprachliche, parasprachliche Ausdrucksmittel, Aufmachung, Kleidung, Körperverhalten, geschmackliche Ausrichtung usw.) in homologer Weise und einer zentralen „Logik“ folgend zu einer einheitlichen Gestalt miteinander kombiniert werden. Stil als Hyperzeichen erfordert eine gewisse Kontinuität und eine situationsübergreifende Rekurrenz. Diese stilistischen Aspekte sind in der kultursoziologischen (Clarke et al. 1979; Willis 1981), der anthropologischen (Irvine 2001) und soziologischen (Soeffner 1986) Forschung ebenso beschrieben wie in der interaktionalen Soziolinguistik (Hinnenkamp/Selting 1989; Selting/Sandig 1997; Keim/Schütte 2002). (b) In der soziologischen und anthropologischen Forschung wird vor allem der Aspekt der ästhetischen Performanz (vgl. Soeffner 1986) mit dem Ziel der sozialen Differenzierung (Irvine 2001) herausgearbeitet. Unter ästhetischer Performanz wird eine Vereinheitlichung von Eigenschaften mit dem Ziel einer holistischen Präsentation verstanden, wobei besonders die Merkmale hervorgehoben werden, die stark mit denen eines anderen sozialen Stils kontrastieren. Aus dieser Perspektive ist Stil ein relationales Konzept; er existiert nur für Mitglieder eines Milieus, die ihn in Relation zu dem Stil eines anderen Milieus interpretieren (vgl. auch Hinnenkamp/Selting 1989; Auer 1989). (c) Soziale Stile werden sozialen Gruppen oder Milieus zugeschrieben und haben soziale Bedeutung. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe wird über die Verwendung des Stils dieser Gruppe ausgedrückt und damit gleichzeitig auch die Abgrenzung zu anderen Gruppen. Prozesse der Differenzierung und Abgrenzung über sprachliche und stilistische Mittel werden in allen bisher angeführten Stilkonzepten beschrieben, ebenso wie in der Forschung zu Jugendsprachen, und als ,Kontrasprache‘ (Bausinger 1972), Gegensprache (,anti-language‘, vgl. Halliday 1978) oder ,Jugendsprache‘ (Henne 1986; Androutsopoulos 1998) konzeptionalisiert. Aspekte der sozialen Differenzierung sind auch für die Untersuchungen zentral, in denen Ethnizität als Ergebnis von Abgrenzung verstanden wird (vgl. Barth 1969; Schwitalla/Streek 1989; Czyzewski u. a. 1995), oder für Untersuchungen zur sozialen und ethnischen Kategorisierung (vgl. Sacks 1979; Hausendorf 2000). Aktivitäten der sozialen Differenzierung sind konstitutiv für die Konstruktion einer Gegenkultur durch die Herausbildung eines bestimmten Repertoires an sozialen Symbolen, Werten und Überzeugungen. Bei der Wahl der „richtigen“ Symbole rekurrieren Gruppen oft auf stilistische Ressourcen der sozialen Welten, die in maximalem Kontrast zu denen stehen, von denen sie sich absetzen wollen (Irvine 2001). (d) Stile sind komplexe Interaktions- und Interpretationsressourcen. Durch Stilwechsel können unterschiedliche Kontexte und Interpretationsrahmen (im Sinne Goffmans 1974) hergestellt werden. Damit hat Stil immer auch Kontextualisierungsfunktion (Gumperz 1982) und wird von Beteiligten für die Rekonstruktion von frames im Gegensatz zu anderen frames benutzt. Über die Analyse stilistischer Mittel wird auch die Rekonstruktion von Wissensbeständen, vor allem von kulturellen Wissensbeständen möglich. (e) Stile werden interaktiv hergestellt; Sprecher und Rezipienten nehmen an der Herausbildung von Stilen ebenso wie an ihrer Aufrechterhaltung und Veränderung teil (vgl. auch Selting/Hinnenkamp 1989; Sandig/Selting 1997). Stile sind nicht determiniert; sie werden als sozial und interaktiv bedeutsame Produkte hergestellt und können nach Bedarf auch an situative und interaktionale Erfordernisse angepasst werden.
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Über solche Anpassungen kann ein allmählicher Prozess der Stilveränderung einsetzen. Der interaktive Erfolg oder Misserfolg stilistischer Formen ist für die weitere Stilentwicklung prägend, und erfolgreiche Formen können Kerne für die weitere Stilentwicklung bilden (Keim 2007a). (f) Die Vorstellungen von Stilen sind prototypisch organisiert, d. h. sie werden um Kern- bzw. Leitphänomene herum aufgebaut und haben unscharfe Grenzen. Stil hat unterschiedliche Erscheinungsformen, die sich hinsichtlich der Explizitheit und Salienz unterscheiden. Stil umfasst die alltägliche Normalität von Gruppen, ihr normales alltägliches Auftreten und Handeln, ihren normalen Umgangston. Die alltäglichen Handlungsweisen sind geprägt durch in der Sozialisation erworbene Muster, die für die meisten Gesellschaftsmitglieder fraglos gegeben sind. Den Charakter tiefsitzender Prägungen betonen auch der soziolinguistische Kode-Begriff Bernsteins (1964), der soziologische Habitusbegriff von Bourdieu (1982) und die Arbeiten zu kultur- und geschlechtsgebundenen konversationellen Stilen (vgl. 4.2 und 4.3), die die Disposition des Individuums aufgrund von sozialisatorischen Prägungen hervorheben. Dazu gehören problemlos funktionierende Routinen, die an einer „Interaktionsmodalität der fraglosen Sicherheit“ (vgl. Kallmeyer/Keim 1994, 269 ff.) erkennbar sind. Über solche Routinen nehmen Teilnehmer sich als „Gleichgesinnte“ wahr, und durch den schnellen Austausch von sich ergänzenden Äußerungen, Erzählfolgen oder spielerisch-frotzelnden Interaktionen signalisieren sie sich wechselseitig, dass sie in ihrer eigenen Welt sind. (g) Neben den routinierten Realisierungen stilistischer Formen gibt es auch hervorgehobene, stilisierte Realisierungen (vgl. Hinnenkamp/Selting 1989; Soeffner 1986). Dabei werden bestimmte Stilmerkmale inszeniert und in besonderer Weise überhöht. Das geschieht vor allem bei Abgrenzungshandlungen, bei Stildiskussionen und bei Kritik am Verhalten von Mitgliedern. Es werden dann gerade diejenigen Merkmale aus dem alltäglichen Repertoire hervorgehoben, die in besonderer Weise in Kontrast gesetzt werden können zu Merkmalen anderer Welten, gegen die man sich aktuell abgrenzt. Das heißt: Zur Hervorhebung von Zugehörigkeit bzw. von Nicht-Zugehörigkeit können je nach Anlass, Auslöser und Kontrastkategorie spezifische Merkmale verwendet und andere zurückgedrängt oder ignoriert werden (vgl. auch den von Irvine beschriebenen Stilbildungsprozess „erasure“; vgl. 4.4). Bei der Fremdcharakterisierung wird Abgrenzung sehr oft durch Karikieren ausgedrückt, und die negative Fremdcharakterisierung wird in der Regel mit einer positiven, oft nur ansatzweise ausgedrückten Selbstcharakterisierung kontrastiert. (h) Stile sind auf soziale Leitbilder bezogen. Das ist z. B. in rituellen Rahmen und bei Feiern zu beobachten. Auch bei Normdebatten gibt es explizite Hinweise auf Leitbilder für das eigene Handeln; dabei werden Leitbilder und für sie angemessene Ausdrucksweisen zumindest ansatzweise expliziert und normative stilistische Regeln formuliert. Zwar sind Leitbilder Idealisierungen und nicht einfach mit dem faktischen Verhalten gleichzusetzen, aber sie dienen den Beteiligten dazu, wesentliche Eigenschaften ihres kommunikativen Handelns und ihres Ausdrucksverhaltens auf den Punkt zu bringen. Zur Beschreibung des kommunikativen Stils einer sozialen Welt werden die Ausdrucksweisen auf allen Ausdrucksebenen berücksichtigt: Regeln des Sprechens (Regeln für den Umgang miteinander und mit Außenstehenden); die Verwendung unterschiedlicher Sprachen/Varietäten zur Äußerungsstrukturierung, Interaktionsorganisation und zur Symbo-
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lisierung sozialer Eigenschaften; die Ausprägung eines Systems sozialer Kategorien für die Selbst- und Fremddefinition; die Präferenz bestimmter Gattungen, Durchführungsweisen und Interaktionsmodalitäten; die Bevorzugung einer bestimmten Sprachästhetik (bestimmter Metaphern, Phraseologismen; besondere prosodische Merkmale, Stimmführung, Lautstärke); die Bevorzugung bestimmter Kleidung und Gegenstände zum Ausdruck von Geschmack (Musik, Filme, Zeitschriften, äußere Aufmachung, Schminke, Schmuck, Piercing, Tatoos) und die Ausprägung bestimmter gestischer und proxemischer Besonderheiten (Gestik, Mimik, Raumverhalten). Diese Ebenen des Ausdrucksverhaltens bilden Ressourcen für die Stilbildung. Kernfrage der Entwicklung eines sozialen Stils ist: Was müssen Akteure tun, um ein echter Angehöriger einer sozialen Welt zu sein (vgl. Kallmeyer/Keim 2003). Der kommunikative Stil der in dem Projekt „Kommunikation in der Stadt“ untersuchten sozialen Milieus ist in Bezug auf diese Stildimensionen beschrieben und die jeweiligen Stilbildungsprinzipien sind rekonstruiert worden. Einige Befunde dieser Stiluntersuchungen werde ich am Bespiel der sozialen Welt der „kleinen Leute“ in der Mannheimer Innenstadt kurz skizzieren (vgl. Keim 1995 und Kallmeyer 1995; zu den anderen Gruppen vgl. Schwitalla 1995 und in diesem Handbuch). Der Stil der untersuchten Welt ist geprägt durch (1) die spezifischen sozial-ökologischen Lebensbedingungen (räumliche und materielle Enge, Gefahr der Verarmung und des sozialen Abstiegs durch Sucht), (2) die traditionellen sozial-kulturellen Werte des Arbeitermileus (starkes lokal-soziales Selbstbewusstsein, hoher Stellenwert moralischer Werte wie Offenheit, Aufrichtigkeit, Solidarität mit Menschen in Not, Verurteilung von „mehr scheinen als sein“, von „Ausnutzen der Hilfsbereitschaft anderer“ usw.) und (3) durch eine hierarchische Ordnung der umgebenden Lebenswelten in Bezug zu den AkteurInnen. Charakteristisch sind folgende Stil-Eigenschaften: Bevorzugung von Direktheit bei der Äußerung von Ärger, Missfallen und Freude; ungehemmter Ausdruck positiver und negativer Gefühle; Präferenz für das ungeschminkte Reden, für derbe, drastische Ausdrucksweisen. Die räumlichsoziale Enge und die hohe soziale Kontrolle führen zur Respektierung des Privatbereichs und zur Pflege des „negativen Face“. Das hat zur Entwicklung indirekter Formen der Kritik geführt, wenn es um tiefgreifende Verletzungen sozialer Regeln geht (Ärger wird gezeigt, aber über das Problem nicht gesprochen; die offene Adressierung der Kritisierten wird vermieden, Kritik erfolgt im ,indirekten Tratsch‘, d. h., über eine abwesende Person wird geklatscht, an der dasselbe Fehlverhalten verhandelt wird, das auch das beim Tratsch anwesende Gruppenmitglied zeigt). Für Kritik werden spielerische Formen präferiert; über persönliche Probleme wird nicht geklagt, sondern sie werden in witzigen Formen verhandelt. Für den symbolischen Verweis auf die eigene und auf andere soziale Welten sowie für die Selbst-Positionierung in Relation zu anderen („wir“ in Bezug zu denen „über uns“ und „unter uns“), gibt es ein fein ausdifferenziertes Ausdruckssystem, in dem Formen der Kontrastierungen auf der verbalen Ebene (Standard- vs. Dialekt) und der para- und nonverbalen Ausdrucksebene eine Rolle spielen. Außerdem sind bestimmte Genres (drastische oder obszöne Phantasiespiele, verschieden „harte“ Formen des Frotzelns, Runden obszöner Witze, expandierte Klatschereignisse) von Bedeutung. Dieser Kommunikationsstil ist charakteristisch für Ingroup-Kommunikationen. Da die meisten Gruppenmitglieder an mehreren sozialen Welten teilnehmen (Familie, Peergroup, verschiedene Freizeitwelten, institutionelle Welten u. ä.), verfügen sie auch mehr oder weniger kompetent über weitere soziale Stile. Diese können auch in der IngroupKommunikation zum symbolischen Verweis auf Angehörige anderer Welten und zur Ab-
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grenzung oder zur Karikatur von deren Eigenschaften eine Rolle spielen. Stilwechsel fungieren dann als Kontextualierungsverfahren zum Verweis auf diese Welten und sind mit bestimmten Bewertungen verbunden.
4.6. Hybride Kommunikationsstile in multilingualen MigrantInnengruppen (in Deutschland) Vor allem in urbanen Räumen in Deutschland sind typische Migrantenmilieus entstanden, in denen sich unterschiedliche sozial-kulturelle Orientierungen und in engem Bezug dazu unterschiedliche Sprach- und Kommunikationspraktiken herausgebildet haben, die von der Verstärkung ethnisch-kultureller Ressourcen über die Neuproduktion von Selbstbildern (in Distanz zu Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft) bis zur Hinwendung zur Aufnahmekultur und Distanzierung von der Herkunftskultur reichen. Sprachen und Kommunikationsformen aus unterschiedlichen kulturellen Ressourcen werden gemischt, überhöht oder ignoriert. Hinnenkamp (2005) beschreibt das virtuose Spiel türkischstämmiger Jugendlicher mit Elementen aus Türkisch und Deutsch, das zu einem hybriden Kommunikationsmittel wird. Dirim/Auer (2004) zeigen, wie sich in ethnisch gemischten Migrantenjugendgruppen sprachliche und ethnische Grenzen auflösen und Türkisch als Prestigeform auch von vielen Jugendlichen nicht-türkischer Herkunft gesprochen wird. Bierbach/Birken-Silverman (2002) beschreiben die Patchwork-Identität einer italienischstämmigen Hip-Hop-Gruppe, die sich in ihrem kommunikativen Ausdrucksverhalten zeigt: In der Ingroup-Kommunikation präferieren die Jugendlichen Deutsch mit typisch jugendstilistischen Formen, wie sie auch von Schlobinski u. a. (1993) und Androutsopoulos (1998) aufgeführt werden, während italienische Formen vor allem zum Ausdruck von Distanz und Dissenz und Sizilianisch zur spielerisch-ironischen oder provokativen Stilisierung von Aggressivität oder zur Selbststilisierung als „Macho“ verwendet werden. In dem Projekt zur Herausbildung kommunikativer Stile in verschiedenen türkischstämmigen MigrantInnengruppen in Mannheim beschreiben Keim, Cindark und Aslan drei Gruppen, die trotz ähnlicher Ausgangsbedingungen ganz unterschiedliche soziale Orientierungen und unterschiedliche Kommunikationsstile entwickelt haben. Die von Cindark (2004) beschriebene Gruppe der „Unmündigen“ ⫺ eine politisch engagierte Gruppe von Jungakademikern, die sich für die gesellschaftliche Gleichstellung von Migranten einsetzen ⫺ hat sich von der Herkunftskultur der Eltern (nicht von den Eltern selbst) distanziert, ist ganz auf ein erfolgreiches Leben in Deutschland hin orientiert und kämpft gegen den alltägliche Rassismus der Deutschen und ihrer Institutionen. Diese Ausrichtung prägt den Kommunikationsstil: Deutsch ist Gruppensprache, und die Mitglieder arbeiten an einem elaborierten, offensiven, argumentativ scharfen und ironisch-mokanten Ausdrucksverhalten, mit dem sie in politischen Diskussionen mit Deutschen deren selbstverständliche Gewissheiten und tief sitzende Vorurteile über türkische Migranten aufspießen und diskreditieren (vgl. auch Kallmeyer 2001). Monolinguales Türkisch wird in der Ingroup nicht gepflegt, deutsch-türkische Mischungen werden im privaten Austausch und zur Versicherung einer gemeinsamen sozial-kulturellen Herkunft verwendet. Ein ganz anderes Ausdrucksverhalten hat die von Aslan (2004) untersuchte Gruppe ausgebildet: Die Mitglieder sind ebenfalls Jungakademiker, verstehen sich jedoch als „gebildete, weltläufige Türken“, bemühen sich in der Ingroup-Kommunikation um ein elaboriertes Stan-
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dardtürkisch und vermeiden Deutsch, obwohl sie hohe Deutschkompetenzen haben; sie verstecken ihre „Gastarbeiterherkunft“, distanzieren sich von typischen Migrantenmilieus und bemühen sich im Kontrast zum negativen Bild des „Gastarbeiter-Türken“ ein positives Bild des „kultivierten Türken“ zu vermitteln. Deutsch-türkische Sprachmischungen, die sie als Ausdruck mangelnder Bildung und doppelter Halbsprachigkeit betrachten, werden ⫺ obwohl alle Mitglieder sie im privaten Bereich verwenden ⫺ in der Gruppenöffentlichkeit vermieden. Der Umgangston der Gruppenmitglieder untereinander ist „höflich“ und „vornehm“, derbe Ausdrucksweisen werden, wenn sie „passieren“, sofort korrigiert und entschuldigt. Das Ausdrucksverhalten der von Keim untersuchten Gruppe junger Frauen (Keim 2007a; 2007b; Kallmeyer/Keim 2003) kontrastiert mit dem der beiden anderen Gruppen: In der Ingroup-Kommunikation werden weit ausdifferenzierte deutsch-türkische Mischungen bevorzugt, für die Gruppenmitglieder Symbol für ein neues Selbstbild, das sie in Abgrenzung zu Herkunftstraditionen, aber auch zu Bildern, die ihnen von Deutschen entgegen gebracht werden, entwickelt haben (Keim 2002). Daneben haben die jungen Frauen eine hohe Kompetenz in Deutsch; Türkisch ist dialektal geprägt und Standardtürkisch spielt für sie keine Rolle. In Opposition zu traditionellen weiblichen Rollenbildern, wie sie in der Elterngeneration hochgeschätzt sind, haben die Gruppenmitglieder einen rauen, „maskulinen“ Kommunikationsstil ausgebildet, geprägt durch die Übernahme von Verhaltensweisen, die in der Herkunftsgemeinschaft als typisch „männlich“ gelten (verbale und körperliche Schlagfertigkeit, grobe, derb-drastische Ausdrucksweisen u. ä.), gepaart mit Spontaneität, Widerständigkeit und intellektueller Wachheit zur schlagkräftigen Abwehr von Ausgrenzungs- und Diskriminierungsversuchen von Seiten der Deutschen. In der mehrjährigen Beobachtung konnte zusammen mit der Entwicklung von einer wilden, revoltierenden Peergroup hin zu jungen Erwachsenen, die in der deutschen Gesellschaft beruflich und sozial erfolgreich sein wollen, auch eine allmähliche Veränderung des kommunikativen Ingroup-Stils beobachtet werden (Keim 2007a; 2007b).
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
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100. Varietäten und Stil
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Spiegel, Carmen/Thomas Spranz-Fogasy (2001): Zur Methodologie der Handlungsstrukturanalyse von Gesprächen. In: Zsuszanna Ivanyi/Andras Kertesz (Hrsg.): Gesprächsforschung. Frankfurt/ Berlin, 243⫺258. Spranz-Fogasy, Thomas (2005): Kommunikatives Handeln in ärztlichen Gesprächen. In: Mechthild Neises/Susanne Ditz/Thomas Spranz-Fogasy (Hrsg.): Psychosomatische Gesprächsführung in der Frauenheilkunde. Ein interdisziplinärer Ansatz zur verbalen Intervention. Stuttgart, 17⫺47. Steger, Hugo (1983): Über Textsorten und andere Textklassen. In: Hochschulgermanisten (Hrsg.): Dokumentation des Germanistentages. Berlin, 25⫺67. Steger, Hugo/Helge Deutrich/Gerd Schank/Eva Schütz (1974): Redekonstellation, Redekonstellationstyp, Textexemplar, Textsorte im Rahmen eines Sprachverhaltensmodells. In: Gesprochene Sprache (1974), 39⫺97. Tannen, Deborah (1984): Conversational style: Analyzing talk among friends. Norwood/New Jersey. Tannen, Deborah (1990): You just don’t understand. Women and men in conversation. London. (Deutsch 1991: Du kannst mich einfach nicht verstehen. Hamburg) Uhmann, Susanne (1989): Interviewstil: Konversationelle Eigenschaften eines sozialwissenschaftlichen Erhebungsinstruments. In: Hinnenkamp/Selting (1989), 125⫺166. Willis, Paul (1981): „Profane culture“. Rocker, Hippies: Subversive Stile der Jugendkultur. Frankfurt a. M.
Inken Keim, Mannheim (Deutschland)
100. Varietäten und Stil 1. 2. 3. 4. 5.
Problemfeld ,Variation‘ Varietäten Stile Ausblick Literatur (in Auswahl)
Abstract This article treats the differences between the concepts ‘variety’ and ‘style’. Whereas ‘variety’ derives from Saussurian structuralist linguistics breaking up the notion langue in many small langues defined by morphophonological variables and delimited by parameters like time, space, social group, and situation (among others), ‘style’ is a semiotic concept, taking production and interpretation of utterances into account and linking the communicative behavior to the social identity of individuals and groups. Most of the methodological approaches go back to Jakobson’s principle of syntagmatic and paradigmatic analysis up to our days, giving this procedure only different names like ‘cooccurrence rules’ (Ervin-Tripp, Hymes). Rethinking theory becomes an urgent task today. First steps will have to develop methods for cross-level and cluster construction analysis including social interpretation by the members of a communication community.
100. Varietäten und Stil
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Spiegel, Carmen/Thomas Spranz-Fogasy (2001): Zur Methodologie der Handlungsstrukturanalyse von Gesprächen. In: Zsuszanna Ivanyi/Andras Kertesz (Hrsg.): Gesprächsforschung. Frankfurt/ Berlin, 243⫺258. Spranz-Fogasy, Thomas (2005): Kommunikatives Handeln in ärztlichen Gesprächen. In: Mechthild Neises/Susanne Ditz/Thomas Spranz-Fogasy (Hrsg.): Psychosomatische Gesprächsführung in der Frauenheilkunde. Ein interdisziplinärer Ansatz zur verbalen Intervention. Stuttgart, 17⫺47. Steger, Hugo (1983): Über Textsorten und andere Textklassen. In: Hochschulgermanisten (Hrsg.): Dokumentation des Germanistentages. Berlin, 25⫺67. Steger, Hugo/Helge Deutrich/Gerd Schank/Eva Schütz (1974): Redekonstellation, Redekonstellationstyp, Textexemplar, Textsorte im Rahmen eines Sprachverhaltensmodells. In: Gesprochene Sprache (1974), 39⫺97. Tannen, Deborah (1984): Conversational style: Analyzing talk among friends. Norwood/New Jersey. Tannen, Deborah (1990): You just don’t understand. Women and men in conversation. London. (Deutsch 1991: Du kannst mich einfach nicht verstehen. Hamburg) Uhmann, Susanne (1989): Interviewstil: Konversationelle Eigenschaften eines sozialwissenschaftlichen Erhebungsinstruments. In: Hinnenkamp/Selting (1989), 125⫺166. Willis, Paul (1981): „Profane culture“. Rocker, Hippies: Subversive Stile der Jugendkultur. Frankfurt a. M.
Inken Keim, Mannheim (Deutschland)
100. Varietäten und Stil 1. 2. 3. 4. 5.
Problemfeld ,Variation‘ Varietäten Stile Ausblick Literatur (in Auswahl)
Abstract This article treats the differences between the concepts ‘variety’ and ‘style’. Whereas ‘variety’ derives from Saussurian structuralist linguistics breaking up the notion langue in many small langues defined by morphophonological variables and delimited by parameters like time, space, social group, and situation (among others), ‘style’ is a semiotic concept, taking production and interpretation of utterances into account and linking the communicative behavior to the social identity of individuals and groups. Most of the methodological approaches go back to Jakobson’s principle of syntagmatic and paradigmatic analysis up to our days, giving this procedure only different names like ‘cooccurrence rules’ (Ervin-Tripp, Hymes). Rethinking theory becomes an urgent task today. First steps will have to develop methods for cross-level and cluster construction analysis including social interpretation by the members of a communication community.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
1. Problemeld ,Variation ,Varietäten‘ und ,Stil‘ sind Hyponyme des Hyperonyms ,sprachliche Variation‘. Die meisten Soziolinguisten sind sich darin einig, dass das zwischen ,langue‘ und ,parole‘ anzusetzende weite Feld des (mündlichen) Sprachgebrauchs durch ,Normen‘ (Bartsch 1987; Gloy 2005) auf systemische Varianten (Varietäten) und gestaltspezifische Musterbildungen (Stile) abgebildet werden kann. Varietätenbestimmungen suchen nach den systemischen linguistischen Ausprägungen von Variation vornehmlich auf den grammatischen Ebenen der Beschreibung des sprachlichen Habitus. Die außersprachlichen Bezugsdimensionen, z. B. Zeit, Raum, Situation und Gruppe, sollen als möglichst allgemeingültige, die strukturelle Vielfalt einer Sprachgemeinschaft durchherrschende Parameter angegeben werden, die ihre Regularitäten in Subkodes ordnen. Stilbeschreibungen befassen sich demgegenüber mit der sprachlichen und kommunikativen Gestalt von (ethnographisch dokumentierten) sozialen Lebensstilen in Kommunikationsgemeinschaften unter dem Gesichtspunkt der sozialen Identität ihrer Teilnehmer und der von ihnen in Kommunikationssituationen aktuell wahrgenommenen Bedeutungsunterschiede und -zuschreibungen. Allgemein gilt der Grundsatz: Merkmale von Varietäten können als Eigenschaften von Stilen herangezogen werden, nicht umgekehrt. ,Varietäten‘ (vgl. Nabrings 1981; Dittmar 1997; Eckert 2000; Berruto 2005) beziehen sich auf sprachliche Subsysteme, die interne und externe Ordnungsstrukturen aufweisen. ,Dialekte‘ z. B. werden als vom Standard abweichende kleinräumigere systemische Varianten beschrieben, deren nicht-kodifizierter Formenbestand als Funktion geographischer Räume erklärt wird (vgl. Durrell 2005). ,Varietäten‘ werden mithilfe außersprachlicher Dimensionen in einer ,Varietätenarchitektur‘ geordnet. Demgegenüber sind Stile keiner Architektur verpflichtet ⫺ sie sind vielmehr kopräsente, soziokognitive Lebensstile, die durch soziale Biotope in Kommunikationsgemeinschaften geprägt werden und sich gegenseitig überlappen, ergänzen und ausschließen können. Varietäten sind soziolinguistische Konstrukte, Stile dagegen lebensweltliche Rekonstruktionen von Teilnehmeraktivitäten in der Aura einer gruppenspezifischen Identität. Die Varietätentenkonzeption steht der strukturellen Linguistik nahe, die Stilkonzeption dagegen der (traditionellen) philologischen Textanalyse, der soziolinguistisch orientierten Gesprächsanalyse (Forsthoffer/Dittmar 2002), der interpretativen Soziolinguistik (Auer 1989) und der Ethnographie der Kommunikation (vgl. für eine Diskussion der neueren Literatur Kallmeyer 1994; 1995).
2. Varietäten Dem lateinischen Begriff varietas entlehnt, kommt der Begriff schon im 19. und 20. Jhd. als franz. variete´, ital. varieta` oder engl. variety in der europäischen Variationsforschung vor (Dittmar 2005). In der Sprachsoziologie wird er systematisch seit Fishman (1971) verwendet; Coseriu (1969) hat eine Theorie der Varietäten formuliert, die in Nabrings (1981) ausgearbeitet und in Dittmar (1997) kritisch diskutiert wird. ,Varietätenlinguistik‘ (vgl. 2.3) ist ein strukturalistisch geprägtes europäisches Konzept, das die von de Saus-
100. Varietäten und Stil
1671
sure gelassene Lücke einer näheren Bestimmung der zwischen langue und parole anzusiedelnden Subsysteme füllen soll. Auf allgemeinster Ebene werden Subsysteme l1, l2, l3, ln … ln⫺1 als durch die Normierungsgrößen Zeit, Raum, Situation und Gruppe (um die wichtigsten zu nennen) determiniert betrachtet und als solche in die Konzeption der langue eingebunden. Die Allgemeingültigkeit der langue und die Unterdeterminierung der parole werden durch die Konstruktion stabiler Leitgrößen zur Beschreibung von Sprachgebrauchssystemen unterfüttert. Die Arbeitsdefinition von Berruto formuliert den Begriff in einem Bedingungssatz: „Wenn eine Menge von gewissen kongruierenden Werten bestimmter sprachlicher Variablen (das heißt Realisierungen gewisser Formen, die in der betreffenden Sprache variieren) zusammen mit einer gewissen Menge von Merkmalen auftreten, die Sprecher und/ oder Gebrauchssituationen kennzeichnen, dann können wir von einer sprachlichen Varietät sprechen“ (Berruto 2005, 189). ,Varietäten‘ werden in der modernen soziolinguistischen Forschung in der Regel auf strukturelle Eigenschaften gesprochener Sprache bezogen.
2.1. ,Varietät als Dach- und Arbeitsbegri Der Begriff ,Varietät‘ wird zunächst im Rahmen der von Fishman (1971) in den USA geprägten und weltweit rezipierten neuen Teildisziplin Sprachsoziologie benutzt: „The term ,variety‘ is frequently utilised in sociology of language as a non-judgemental designation. The very fact that in objective, un-emotional, technical term is needed in order to refer to ,a kind of language‘ is in itself an indication that the expression ,a language‘ is often a judgemental one, a term that is indicative of emotion and opinion, as well as a term that elicites emotion and opinion […]. As a result, we will use the term ,variety‘ in order not to become trapped in the very phenomena we seek to investigate, namely, when and by whom is a certain variety considered to be a language and when and by whom it is considered something else.“ (Fishman 1971, 226) ,Varietät‘ wird hier als wertfreier Terminus gebraucht, mit dem bestimmte Arten des Sprechens als Antwort auf die Fragen beschrieben werden sollen: Wer spricht welche Sprache mit wem unter welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen? Anstelle einer Varietätenarchitektur unterscheidet die anglophone Soziolinguistik zwischen ,Standard‘ und ,Non-Standard‘. Dialekt, Soziolekt, Register, Stil (und andere kinds of variety) fallen unter die grobe Kategorie ,Non-Standard‘ im Sinne von: nicht kodifiziert, gesprochen, Gebrauchsweisen von Sprache in der mündlichen Rede. Untersuchungen stehen im jeweiligen Kontext der Fragestellung ⫺ Begriffsverfeinerungen werden von den empirischen Ergebnissen erwartet.
2.2. Einschränkung des Begris au ,soziolinguistische Variablen Im Rahmen der „quantitativen Analyse von Variation“ grenzt Labov (2005, 6 f.) die „freie Variation“ von der „geordneten Heterogenität“ ab. Alternierende morphophonemische Varianten, die die gleiche referentielle Bedeutung tragen, werden im Rahmen großer Korpora von Daten gesprochener Sprache als ,soziolinguistische Variablen‘ be-
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
schrieben, d. h. der Verteilung der Varianten im Korpus wird eine spezifische durch Korrelation mit außersprachlichen Faktoren ermittelte soziale Bedeutung zugewiesen. So kann die Variable [g] in dem Satz Der Spieler tau[g]t nichts als /x/ (ach-Laut, velarer Frikativ) oder /k/ (velarer Verschlusslaut) realisiert werden. Die (quantitativen) Ausprägungen dieser linguistischen Variablen werden dann mit außersprachlichen (natürlichen oder operationalisierten) Variablen wie Alter, Geschlecht, soziale Schicht, Verein (u. a.) korreliert. Die Signifikanz der Korrelationen wird als Erklärung herangezogen. Die Variablen werden auf den unterschiedlichen linguistischen Ebenen ⫺ in der Regel auf der phonetischen, morphophonemischen und morphosyntaktischen ⫺ definiert. Erklärungen werden für jede Variable einzeln vorgenommen. Auf der Basis von zahlreichen soziolinguistischen Untersuchungen im Rahmen des labovianischen Paradigmas hat Chambers (1995) den Versuch einer theoretischen Fundierung vorgelegt. Ein guter Überblick über die derzeitige Forschungslage findet sich in Durrell (2005a). Die soziologischen Faktoren sind Konstrukte. Es handelt sich um makrostrukturelle außersprachliche Größen, die von der Dynamik der Interaktionssituation abgekoppelt sind.
2.3. Varietätenarchitektur Im europäischen Kontext stützt sich die varietätenlinguistische Forschung auf Vorgaben in Coseriu (1974, 14 f.), die von Nabrings (1981) als diachrone, diatopische, diastratische und diaphasische Dimension etabliert und von Dittmar (1997, 178) für die Erstellung einer Varietätentypologie unter dem Gesichtspunkt „Ordnungsdimensionen der sprachlichen Variation“ diskutiert und weiter differenziert werden. Unter Berücksichtigung theoretischer und empirischer Studien unterscheidet Dittmar (1997, 179 f.) die Ordnungsdimensionen: Person, Raum, Gruppe, Kodifizierung, Situation und Kontakt. Die geborenen Merkmale dieser Dimensionen sind: (1) (2) (3) (4) (5) (6)
Person (einmalige individuelle Identität) Raum (lokale Identität) Gruppe (soziale Identität) Gebrauchsfunktion (Kommunikationsmedium, Legitimität) Situation (Kontext-/Musterwissen) Status (politischer, militärischer, wirtschaftlicher oder kultureller).
Als Ausprägungen dieser Dimensionen gelten Idiolekte (Person), Dialekte (Raum), Soziolekte (Gruppe), Register (normative Korrektheit), Situolekte (Kontext-/Musterwissen), Akro-, Meso-, Basilekte (Kontaktsprachen). Die meisten Untersuchungen wurden für Dialekte durchgeführt. Die Varietätenkonzeption ist hier am weitesten systemisch geprägt. Im Paradigma der Stadtsprachenforschung wurde der dialektalen horizontalen die vertikale soziale Dimension hinzugefügt. So geht die Dialektverwendung häufig mit sozialer Bewertung (Gruppenspezifik) einher (vgl. Durrell 2005b). In der Tat gilt das Zusammenspiel von dialektalen und soziolektalen Eigenschaften als das am besten untersuchte. Zahlreiche Untersuchungen zu sozialen Dialekten sind zusammengefasst in Barbour/Stevenson (1990). Im Folgenden werden drei Bereiche genannt, in denen die Varietätenlinguistik beachtliche Ergebnisse erzielt hat: (1) Selten ist für Variation nur eine Dimension verantwortlich; die Dimensionen (Raum, Situation, soziale Gruppe u. a.) überlagern sich. In vielen Arbeiten geht es darum,
100. Varietäten und Stil
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das mehrdimensionale Potenzial dieser Faktoren auf die jeweils die Variation entscheidend determinierenden Faktoren zu reduzieren. Der Einfluss einzelner Dimensionen auf Variablen ist leichter zu bestimmen als auf ganze Varietäten. (2) Die Dimensionen ,Raum‘ und ,Gruppe‘ (Schicht) als geographische oder soziale fallen in der Regel systemischer aus als feingranulierte Unterschiede zwischen Altersgruppen oder situationsbedingten Sprachgebrauchsweisen. Im Falle der ,Situation‘ sind in den letzten Jahren vor allem interaktive Größen exploriert worden, die es schwer machen, systemische Ausprägungen des situativen Sprachgebrauchs zu operationalisieren (vgl. Dittmar 1997, 206⫺233). Die Alters- oder Generationsspezifik wird natürlich durch Schicht, Raum, Ethnizität etc. geprägt. Hier geht die ausgrenzbare „Lebensphase“ (vgl. Eckert 1997) eng mit Lebensstilen einher (vgl. hierzu Art. 83 in diesem Handbuch). (3) Während die konkreten empirischen Varietätenbeschreibungen meist nur ausgewählte morphosyntaktische Variablen untersuchen (vgl. Labov 2005), ist das einzige vorliegende Modell einer in allen Details ausformulierten expliziten Beschreibung auf mehreren Ebenen die Varietätengrammatik von Klein (1974, 2005). In Anwendung dieses Modells hat Senft (1982) eine varietätengrammatische Beschreibung für den Dialektgebrauch der Kaiserslauterer Metallarbeiter vorgelegt. Mit dem größten Erfolg sind jedoch solche probabilistischen Phrasenstrukturgrammatiken für Lernervarietäten im Bereich der Migrationslinguistik aufgestellt worden (vgl. Klein/Dittmar 1979). Eine Darstellung und Bewertung der vorliegenden Beschreibungsmodelle findet sich in Dittmar (1996). Die neuere soziolinguistische Forschung hält die Grenzen zwischen diatopischer, diastratischer und diaphasischer Dimension eher für kontinuierlich denn trennscharf (Dittmar 1997, 244 ff.). „Empirical studies support the view that few, if any, linguistic varieties can be unambiguously marked as regional dialect, sociolect or register, since the boundaries between the dimensions of variation are not clear-cut, and, although some variables may be primarily indicative of a particular dimension, it is quite typical for a single variable to correlate with all three in some measure.“ (Durrell 2005b, 204). Merkmale und deren Extensionen werden als Kontinua eines sich überlappenden mehrdimensionalen Raumes oder als ,cluster of features‘ (Downes 1998) betrachtet. An dieser grundlegenden Problematik ändert auch die Definition des Begriffs Varietät „as a set of linguistic items“ durch Hudson (1996, 22) nichts. Wenn somit eine charakteristische (quantitative) Verteilung typischer lexikalischer und morphosyntaktischer Eigenschaften auf eine diaphasische Dimension (z. B. Jugendsprache) verweisen, so würden wir das mit Hudson eine jugendsprachliche Varietät nennen. Es bleibt zu belegen, dass solche Verteilungen trennscharf ausfallen. Hudson selber stuft eine solche Erwartung als „rather radical“ ein (ebd.). In der Diagnose von Konvergenzen lokaler Dialekte im Zentrum Europas hat Ziegler den ursprünglich von Bellmann geprägten Terminus Substandard als der Beschreibung von Modernisierungsprozessen in der Alltagskommunikation angemessene Varietät so expliziert: „[…] die Variation kann in zwei Richtungen verlaufen: zum einen in Richtung Standardsprache (Entdialektisierung) und zum andern in Richtung einer substandardsprachlichen Varietät (Entstandardisierung). Der Ausgangspunkt der Variation ist also jeweils ein anderer, auch wenn die Produkte, die sich aus dieser Form von Varietätenkontakt ergeben, häufig auf den Mittelbereich im Dialekt-Standard-Kontinuum abzielen“ (Ziegler 1996, 530). Berruto diskutiert vier Spielarten der Definition von ,Substan-
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
dard‘ : „[…] ma proposition sera de ne l’utliser [le terme ,substandard‘] que comme une e´tiquette de default, a` employer dans un sens tre`s ge´ne´rique lorsqu’il n’y a pas de possiblite´, ou d’intention, de classer de fac¸on satisfaisante les phe´nome`nes de variation au moyen de cate´gories plus spe´cifie´es“ (Berruto 2000, 68). Substandardsprachliche Varietätenausprägungen werden derzeit vor allem im deutschen Sprachraum untersucht (vgl. Dittmar 2005, 256⫺257).
2.4. Zusammenassung Die in 2.2 und 2.3 formulierten Analyseprinzipien haben folgende Gemeinsamkeiten: (a) Sie gehen von operationalisierbaren, separaten sprachlichen und außersprachlichen Ordnungsdimensionen aus, die als Variablen definiert, quantifiziert und untereinander zur Ermittlung von Zusammenhangsmaßen korreliert werden. Diese Analysen isolieren zwischen langue und parole außersprachlich determinierte Sprachlagen (Varietäten) unter Vernachlässigung der Dynamik des Kommunikationsprozesses. (b) Untersuchungen zielen darauf ab, Sprachgebrauchssysteme als Variablen- oder Varietätenausprägungen zu isolieren und für Aussagen zur „Varietätenkompetenz“ von Sprechern oder zur „grammatischen Variation“ (z. B. des Deutschen) zu nutzen. Die Variation wird durch außersprachliche makrostrukturelle Konstrukte wie z. B. soziale Schicht, Region, Alter/Generation oder Situation (formell vs. informell) erklärt. In einem solchen groben Raster können charakteristische Varietätenausprägungen nur als prozentuale Abstandsverteilungen zu anderen Varietäten erfasst werden, mit denen sie Durchschnittsmengen gemeinsam teilen. Die qualitative Distinktivität der Varietäten bleibt unterdeterminiert; kausale Faktoren sollen Sprechgemeinschaften habitus-bezogen (durchschnittliche Performanz in durchschnittlichen Alltagssituationen repräsentativ für eine Region) erklären (Ortsdialekt, Stadtsprache, Regionalsprache etc.). (c) Wie Kerswill zu Recht ausführt, sind Varietätenlinguisten „interested in the social distribution of forms“, nicht an den pragmatischen Funktionen des Sprachgebrauchs, an denen sich „cultural distinctiveness of speech functions“ (Kerswill 2005, 27) ablesen lassen. (d) Die (dem Anspruch nach) multifaktoriellen Beschreibungen durch Variablen können sich darüber hinaus auf keine theoretisch fundierten Erklärungsmodelle stützen. Chambers (1995) stellt in diesem Zusammenhang keine Theorie dar, sondern eher eine Rechtfertigung post-factum bereits durchgeführter empirischer Untersuchungen im labovianischen Paradigma, wobei der theoretische Beitrag in der Entdeckung von Clusterbildungen einzelner Variablenausprägungen besteht. Ein grammatik- oder varietätentheoretischer Rahmen fehlt. Saville-Troike versteht nur die Varietäten als sprachliche Existenzformen, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft als solche wahrgenommen werden: „Identification of the varieties which occurs in any community requires observation and description of actional differences in pronunciation, a grammar, lexicon, styles of speaking, and other communicative behaviours which are potentially available for differentiation, but must ultimately depend on the discovery of which differences are recognized by members of the group as they convey meaning of some kind“ (Saville-Troike 1982, 150 f.). Hier finden wir
100. Varietäten und Stil
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bereits ein Element, das sich mit Stil verbindet: nämlich das Kriterium, dass Varietäten vor allem Arten des Sprechens sind, die von Sprechern erkannt und unterschiedlich sozial bewertet werden.
3. Stile ,Soziale Stile‘ als kommunikative Verhaltensweisen zu erfassen, „die das Ergebnis der Auseinandersetzung mit spezifischen Lebensbedingungen sind“ und die die „für das Selbstverständnis der Gemeinschaftsmitglieder ausschlaggebenden Orientierungen“ (Kallmeyer 1994, 30) reflektieren, heißt im Unterschied zur Konzeption von Varietäten: (a) natürliche (typische) Interaktionen zwischen Teilnehmern in einem spezifischen alltäglichen sozialen Kontext zu dokumentieren (Erhebung); (b) die situationsgebundene Interaktionsdynamik der Interaktanten zu berücksichtigen, die die sinnstiftende Interpretation von Äußerungen und die mit ihnen verbundene Herstellung sozialer Bedeutung in Gestalt von Verfahren der Kontextualisierung in die Analyse mit einschließt (Methode); (c) das Zusammenwirken (ausgewählter) sprachlicher Eigenschaften in der kommunikativen Praxis sukzessive hergestellter Formulierungen mithilfe kontextualisierender und hermeneutischer Verfahren als Ausdruck sozialer Identität zu ermitteln. Stilbeschreibungen im Sinne von (a) bis (c) sind weder einer Logik von Ordnungsdimensionen noch einem bestimmtem grammatischen Beschreibungsmodell a priori unterworfen. Das Ausdrucksverhalten, das die Identität einer Gruppe bildet, soll im aktuellen Sprech- und Kommunikationsverhalten ermittelt werden. ,Soziale Bedeutung‘ ist das Resultat wahrnehmbarer und den Teilnehmern in Interaktionen zugeschriebener Identität, die sich aus Modellen kommunikativer Praxis im sozialen Kontext erschließen lässt (vgl. Dittmar 1989; Hanks 1996; Kallmeyer u. a. 1994; Eckert 2000 u. a.). ,Stile‘ gehören zur kommunikativen Kompetenz, „die sie in situationsspezifischer Interaktion zur Anwendung bringen. Zur Illustration sei auf das stilistische Repertoire verwiesen, das etwa einem Sprecher in täglicher Interaktion zur Verfügung steht, um Kommunikationsabsichten und -ziele zu verwirklichen: die Teilnahme an einer Konferenz, Versammlung oder Demonstration, der Unterricht in der Schule […] i. e. die gesamte Bandbreite formell-öffentlicher und informell-privater Situationskontexte“ (Pütz 2005). ,Stile‘ werden als Merkmalprofile unterschiedlicher ,sozialer Welten‘, als sich in Kommunikationsprozessen differenzierende soziolinguistische Gestaltprofile verstanden; sie stellen ,Distinktivität‘ mittels kommunikativer Abgrenzungsverfahren in Kommunikationsgemeinschaften her. Gegenstand der ethnographischen Stilbeschreibung ist daher das „system of distinction, in which a style contrasts with other possible styles, and the social meaning signified by the style contrasts with other social meanings“ (Irvine 2001, 22). So gehört die soziolinguistische Stilforschung zur Pragmatik und Gesprächslinguistik, d. h. sie bezieht semantische und pragmatische Wahlen in die Analyse ein. Im Falle von ,Stil‘ rekonstruieren Soziolinguisten interpretativ Beobachtungen von Gruppenereignissen in Begriffen von ,Teilnehmerkategorien‘ (vgl. Forsthoffer/Dittmar 2002), Eigenschaften von ,Varietäten‘ werden dagegen systemisch aus der Außenperspektive nach Kriterien vorformulierter (theoretischer) Konstrukte beobachtet und beschrieben.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
3.1. Soziale kommunikative Stile (SKS): dierentia speciica Im Spiegel der aktuellen soziolinguistischen Forschung unterscheiden sich SKS theoretisch und methodisch von Varietäten in folgenden Punkten: ⫺ ethnographische (semiotische) Beschreibung des Kommunikationsverhaltens im Interaktionsprozess ⫺ Isolierung distinktiver qualitativer Unterschiede zwischen verschiedenen SKS durch Kontrastierung, Vergleich etc. ⫺ Erfassung sozial verschiedener kommunikativ-pragmatischer Funktionen in Kommunikationsgemeinschaften (und nicht nur sprachlicher Formen in Sprechgemeinschaften) ⫺ Einbezug des Interaktionsgeschehens in die Analyse, d. h. Produktion und Rezeption werden im interpretativen Zusammenspiel gesehen Darüberhinaus gehen gewisse ästhetische Prinzipien mit der Konsistenz von stilkonstituierenden Zeichen (Bekleidung, Körperhaltung, Argot, musikalische Präferenzen u. a.) einher; die Kombination von Merkmalen dieser Modi, sozusagen ihre ,Quervernetzungen‘, konstituieren solche Stile thematisch. Daraus folgt, dass SKS ihre Konsistenzen aus den Clusterbildungen spezifischer Merkmale aus unterschiedlichen sprachlichen (Laute, Prosodie; morphosyntaktische, semantische und pragmatische Muster) und außersprachlichen Zeichenrepertoires beziehen. Die selektive Komposition der Konsistenz ist ein konstitutives Merkmal von Stil; SKS vermitteln auch ideologische Unterschiede zwischen Stilen: Solche wertspezifischen Bedeutungen resultieren aus ihrem Zeichencharakter. Wenn es stimmt, dass ,Arten des Sprechens‘ soziale Aggregate indizieren (Gruppen, Personen, Aktivitätstypen, institutionelle Praktiken etc.), dann werden mit der Performativität von Stilen solche sozialen Bedeutungen sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption (Interpretation) relevant gesetzt. Es gibt stilistische Ressourcen, die das Hervorbringen und Interpretieren solcher Zeichencluster modalisieren. Unter Rückgriff auf das Peircesche Zeichendreieck sind die indexikalischen Zeichenbildungsverfahren ,sprecherunterstützend‘ und die ikonischen ,hörerunterstützend‘ (Auer 1989, 34). Zweifellos dienen die grammatikalisierten Pronomina im Deutschen der Bildung von Textkohärenz („symbolische Zeichenbildungsverfahren“, ebd.). Grammatische Vorschriften regeln den konventionalisierten Umgang mit Proformen in Texten. Dagegen ist die Wahl zwischen der Proform eines eingeführten Agens oder der Wiederholung des Agens ,stilistisch‘: Im ersten Fall entlastet die Proform den Sprecher, dafür ist der Rezipient mehr belastet; im zweiten Fall ist es umgekehrt: Der Rezipient kann leichter dekodieren, der Produzent wird mehr belastet (der Ausdruck ist länger). ,Natürlichkeit‘ stellt in diesem Sinne eine zentrale Ressource für die Ausbildung von Stilen dar (vgl. Auer 1989). Aufgrund seiner semiotischen Überlegungen stellt Auer dem oben explizierten Varietätenbegriff folgenden ,Stilbegriff‘ gegenüber: „,Stil‘ ⫽ Menge interpretierter, kookkurrierender sprachlicher und/oder nichtsprachlicher Merkmale, die (Gruppen/Rollen von) Personen, Textsorten, Medien, etc. zugeschrieben werden“ (1989, 30). Der Ausdruck „interpretierter […] Merkmale“ schließt dabei indexikalische und ikonische Zeichenbildung mit ein. Verschiedene AutorInnen weisen darauf hin, dass die interpretativ-semiotisch fundierte ,Querebenen‘-Beschreibung von SKS sprachliche und nichtsprachliche GESTALT
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und GESTALTUNG umfassen, also die (bewusste) Selektion von Merkmalen in der Rede und deren Dynamik/Prozesshaftigkeit widerspiegeln. Nehmen wir drei Ortschaften im Umkreis von Ingolstadt/Riedenburg an der Altmühl als Beispiel: Pförring, Mindelstetten und Pondorf. Die jeweilige Distanz zwischen ihnen beträgt jeweils zwischen 5 und 8 Kilometern. Bei Fußballspielen an Wochenenden ermuntern die umherstehenden Einwohner „ihre“ Spieler zum erfolgreichen „Schießen“ durch die Imperative für hochdt. schieß!: scheyss [ e=s] Pondorfer schuiss [u=s] Mindelstetter schiass [ ias] Pförringer Für die Varietätenlinguistik ist einschlägig, welche diphthongalen Varianten die drei Ortsdialekte für den gleichen semantischen Referenten (das Verb schießen) ausgebildet haben. Der Diphthong [ia] verweist auf die Pforringer, [u=] auf die Mindelstetter und [e=] auf die Pondorfer lokale Identität. Kenner der Variantenperformanz wissen, dass [=a] die prestigebesetzte Münchner, [e=] die stigmatisierte Pondorfer Variante darstellt (Pondorf war lange Zeit landschaftlich isoliert). Von weiterem Interesse ist, wie sich möglicherweise Frauen und Männer sowie die drei großen Generationen in der jeweiligen Qualität der diphthongalen Varianten unterscheiden (im Rahmen der Ortsgemeinschaften). Was hält das Variantensystem stabil, wie (in Abhängigkeit von welchen Kräften) wird es instabil, um sich erneut zu stabilisieren? Dahinter steht die Vorstellung von Sprachwandel als einem funktionalen Ausgleichssystem. Unter den Jugendlichen, die in den drei Dörfern Fußball spielen, gibt es nun auch solche, die im Gesicht gepiercte Ringe, Frisuren von Rockvorbildern, T-Shirts ihrer Lieblingssportvereine (u. a.) tragen. Sie sprechen die lokalen Diphthonge ortsloyal aus, haben aber u. a. Ausdrücke aus der Münchner Rock- und Rapszene übernommen, ahmen hier und da einen ihrer „Lieblings-DJs“ nach etc. Sie haben ein gruppenspezifisches Ausdruckrepertoire für ihre soziale Identität. Die dieser geschuldeten körperlichen und ,quer‘ zu den Systemebenen liegenden sprachlichen, prosodischen und kommunikativen Merkmale werden von den SKS-Soziolinguisten als identitätsstiftende/-markierende Eigenschaften ihres Stils angesehen. Eine Rock-Gruppe mag sich hier nun mit körperlichen Emblemen und spezifischen kommunikativen Ausdrucksweisen von einer Hip-HopGruppe abgrenzen (vgl. Eckert 2000). Ähnliches wird man bei einer musikinteressierten Frauengruppe im Unterschied zu einer landwirtschaftlich orientierten Männergruppe feststellen. Trotz des gemeinsam geteilten ortsloyal verwendeten Dialekts unterscheiden sie sich ⫺ vor allem in Gruppensituationen ⫺ durch ein identitätsspezifisches Ausdrucksrepertoire, das quer durch die semiotischen Ebenen der kommunikativen Performanz Gruppenstile in Abgrenzung zu anderen Stilen als distinktiv markiert (vgl. für Beispiele Art. 83 in diesem Handbuch). Eine varietätenlinguistische Beschreibung erfasst rasterartig das habitualisierte System des Ortsdialekts in ,Standardsituationen‘. Der SKS-Stil dagegen grenzt innerhalb des lokalen Linguatops die Männer- von der Frauengruppe, die jungen „Sportler“ von den jungen Rockern, die katholische Jugendgruppe von der liberalen Hip-Hop-Gruppe sozial ab. Während die Varietäten die tragenden Pfeiler des babylonischen Wolkenkratzers VIELSPRACHIGKEIT ausmachen, sind die SKS die filigranen Vernetzungen, die das sich verändernde Innenleben des Gebäudes tragen ⫺ das feine distinktive Innengewebe (soziale Feinstrukturen).
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
3.2. Exkurs: SKS-Modelle im Spiegel wissenssoziologischer Historiographie Die Methoden der SKS-Analyse werden in der historiographischen Perspektivierung ihrer Entwicklung deutlich. Der an der Literaturanalyse orientierte Stilbegriff (Spitzer 1928; Kayser 1963) ist die philologische Wurzel, die den Begriffsgebrauch im zwanzigsten Jahrhundert abdeckt (vgl. Artikel 71 in diesem Handbuch). Die Konzeptualisierung eines kommunikationswissenchaftlichen Stilbegriffs beginnt 1960 mit Sebeoks Herausgabe des Sammelbandes „Style in Language“, in dem die weitverbreiteten Ausführungen von Jakobson (1960) zu „Linguistics and Poetics“ zu finden sind. ,Stil‘ wird der anthropologischen Linguistik als strukturell begründetes Konzept empfohlen. Dabei wird poetische Kreativität als ,kommunikative Funktion‘ der paradigmatischen und syntagmatischen Beschreibung zugänglich gemacht. Jakobsons Überlegungen gehen weitgehend als Übernahmen in die Bestimmung von ,Sprechstilen‘ in Hymes (1974) ein. Noch in Irvine (2001) wird mit Entschiedenheit die Meinung vertreten, dass ,Konsistenz‘ und ,soziale Bewertung‘ eng mit ästhetischen Werten von Stilen einhergehen. Methodisch stand der Entwicklung einer Konzeption Sprechstile der als Beitrag zur soziolinguistischen Theoriebildung konzipierte Aufsatz „On sociolinguistic rules: alternation and co-occurrence“ von Ervin-Tripp (1972) Pate. Die auf Jakobson (1960) zurückgehende Unterscheidung zwischen syntagmatischer und paradigmatischer Analyse (Kookkurrenzregeln, KR, Regeln des ,lexikalischen‘ Alternierens) des Sprachgebrauchs ist in viele später entwickelte Stilkonzepte eingegangen. Kookkurrenzregeln tragen dabei die systemische Information über die Stillage. Die paradigmatische Ebene des Sprachgebrauchs impliziert dagegen die (bewusste?) Wahl eines durch die syntagmatische Achse in der Wortartkategorie vorgegebenen sprachlichen Ausdrucks relativ zur aktuellen Äußerungssituation unter dem Gesichtspunkt der sozialen Angemessenheit. Die situationsbedingte syntaktische Planung der Äußerung bestimmt die Alternierungsregeln, die die Auswahl von Ausdrücken auf der paradigmatischen Achse bestimmen. Die stilistischen Merkmale eines spezifischen SKS werden methodisch ähnlich ermittelt wie die poetische Funktion bei Jakobson. Sprachliches Alternieren (z. B. Supermarkt bei West-, Kaufhalle bei Ostdeutschen) markiert somit einen sozialen Stil. Das stilistische Wechseln zwischen unterschiedlichen Ebenen des Sprachgebrauchs trägt nach Ervin-Tripp (1972) ,soziale Bedeutung‘. Bis heute gelten Kookkurrenz- und Alternierungsregeln als Kernkriterien zur Bestimmung von SKS (vgl. Tannen 1984; Auer 1989; Hinnenkamp/Selting 1989; Kallmeyer 1994; 1995), wobei die SKS-Beschreibungen allerdings auch um pragmatische Gesichtspunkte erweitert wurden. Bei Eckert decken Kookkurrenz- und Alternierungsregeln wesentliche Bestimmungsmerkmale der grammatischen Beschreibung ab: „One might venture to say that speakers can mix and match variables in the construction of local meanings just as they might mix and match items of adornment“ (2000, 215). Eine Schlüsselfunktion in der modernen Entwicklung eines soziolinguistischen Stilbegriffs spielt Hymes Aufsatz „Ways of Speaking“ von 1974, in dem er die funktionale Analyse von Jakobson (1960) aufgreift und auch das Konzept der Kookkurrenz- und Alternierungsregeln von Ervin-Tripp (1972) für die Zwecke der Subdisziplin „Ethnographie des Sprechens“ nutzbar macht. Letztere bezieht Hymes auf die stilistische Variation mündlicher Rede und die sie begleitenden nicht-verbalen Parallelinformationen. Das Wissen um
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und die Fähigkeit zu situationsangemessener Kommunikation macht die kommunikative Kompetenz aus. Die Mitglieder einer Sprechgemeinschaft verfügen nach Hymes nicht nur über normorientierte Modi des Sprechens, sondern auch über „norms of interpretation“ (vgl. auch Eckert 2000, 31). Sprachliches und außersprachliches Verhalten sowie die jeweiligen Interpretationen der Gesprächspartner gehen in die situativ bestimmte Selektion kommunikativer Ausdrucksweisen ein. Mit „stilistischen Modi“ bezieht sich Hymes auf prosodische Unterschiede in der Stimmführung oder typische paralinguistische Merkmale; „stilistische Strukturen“ dagegen sieht er an diskursive (pragmatische) Eigenschaften von kommunikativen Gattungen („genres“) gebunden (Hymes 1974, zitiert in Hymes 1979, 178⫺181; vgl. für eine Diskussion des Gattungskonzeptes auch Auer 1999, 187⫺197). Ein weiterer wissenssoziologischer Baustein zum Verständnis der modernen SKS-Begrifflichkeit ist Tannen (1984); sie belegt ⫺ unter Berufung auf die „ways of speaking“ von Hymes (1974) ⫺ den Terminus ,Stil‘ mit sprechspezifischen und pragmatischen Eigenschaften. Mit Ervin-Tripp (1972) versteht sie methodisch unter Stil „the co-occurrent changes at various levels of linguistic structure within one language“ (Tannen 1984, 8). Je nach syntagmatischen oder paradigmatischen Wahlen und der Wahl von Mischformen alterniert der Stil von Sprechern nach sozialen Kontexten. Sprechgemeinschaften benutzen Stile als Wege oder Modi, um etwas zu tun (Handlungsperspektiven). „Conversational style in interaction“ ist dann als „ways of signaling how any utterance is meant“ (1984, 27) zu verstehen. Sie bezieht sich dabei auf John Gumperz’ Theorie der Kontextualisierung (1992), die eine Synthese aus der syntagmatischen (Kookkurrenz) und der paradigmatischen (Alternieren) Perspektive der Auswahlprozeduren darstellt, in der die Formulierung einer Äußerung angemessen kontextualisiert wird. Weil kontextualisieren eine kommunikative Aktivität impliziert, bezieht sich Gumperz auf diese auch mit dem Begriff discourse strategies. „Zu den sprachlichen Mitteln, die nicht einfach nur Reflex bestimmter Kontexte sind, in denen sie verwendet werden, sondern diese aktiv bestimmen oder verändern, gehört jede aktive Auswahl eines Sprechers aus mehreren alternativ verfügbaren grammatischen oder lexikalischen Ausdrucksmitteln ⫺ vom ,Stil‘ bis zur Wahl einer Sprache, eines Dialekts oder eines Registers“ (Auer 1999, 169). Indem Sprecher Kontextualisierungsverfahren anwenden, vollziehen sie „acts of identity“ (Le Page/ Tabouret-Keller 1985) und „[signalisieren] also ihre Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen“ (Auer 1999, 169). Was Gumperz unter Rückgriff auf Jakobson, ErvinTripp und Hymes ,Kontextualisierung‘ nennt, wird von Tannen in einen pragmatisch begründeten Stilbegriff integriert. In ihrer Zusammenfassung finden wir eine Liste ,stilistischer Mermale‘ (Indikatoren) von SKS: ⫺ interaktive Spezifika (Redebeitrags-, Sequenzorganisation), ⫺ semantische Merkmale (Typen von Fragen, Topic- und Themagestaltung), ⫺ prosodische Merkmale (Pausen, Tonhöhenverlauf, Rhythmus). Der von Tannen (1984) eingeführte Begriff ,konversationeller Stil‘ ist für die neuere SKSForschung eine wichtige methodische Ressource. Levinson greift ihr Konzept auf, wenn er ,Stil‘ in den soziolinguistischen Studien zu Stadtsprachen als „more to language variation than just the superficial phonological and morphosyntactic variables“ (Levinson 1988, 161) betrachtet. Levinson wirft in seiner Diskussion von „linguistic alternates“, „co-occurrence constraints“ (ebd., 165) und der These von der semantischen Äquivalenz unterschiedlicher sprachlicher Formen (kritisiert von Lavandera 1978 und Thibault
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1982) die Frage auf, ob referenzsemantisch gleiche oder eher nach Kontext variierende Funktionen untersucht werden sollten. Sein Plädoyer favorisiert den ethnographischen Ansatz, der sich der sozialen Motivation unterschiedlicher kommunikativer Funktionen zuwendet (ebd., 171).
3.3. Zum aktuellen Stand der soziolinguistischen Stilorschung Die vorliegenden aktuellen Konzepte des SKS-Begriffs bauen auf die in 3.2 genannten Arbeiten auf. Wissenssoziologisch drückt der Rückgriff auf den Begriff ,Stil‘ von Gesprächslinguistik/Pragmatik (Beschreibung sprachlichen Handelns ohne expliziten Bezug auf die Sozialstrukturen) auf der einen und Soziolinguistik (Beschreibung grammatischer Regularitäten mit operationalisiertem und korrelativem Bezug auf Sozialstrukturen) auf der anderen Seite aus. In den Begriff ,soziolinguistischer Stil‘ ist der integrierte Bezug sprachlich-grammatischer Mittel (varietätenlinguistisch besetzt) auf gesprächsspezifische Verfahren (Pragmatik, Gesprächsanalyse) eingegangen (ebenso wird die umgekehrte Perspektive in der Stilbeschreibung genutzt). Aus den jeweiligen Insuffizienzen der beiden genannten Forschungsrichtungen ergibt sich die Perspektive, qualitative Sprachgebrauchsbeschreibungen auf die identitätsbildende Vielfalt verbaler Interaktionen in sozialen Kontexten abzubilden. Die sich daraus ergebenden theoretischen und methodischen Ansätze (Bausteine) werden im Folgenden vorgestellt.
3.3.1. Stil im Rahmen kommunikativer Gattungen In dem von Dittmar (1989) entwickelten soziolinguistischen Stilbegriff wird soziales Handeln durch einen ökologischen Filter (Geschlecht, Alter, Situation etc.) verbal so perspektiviert, dass die Gesprächsaktivitäten mit ihren jeweiligen sprachlichen Mitteln im Rahmen thematischer Leitlinien in Form von kommunikativen Gattungen in Erscheinung treten, deren jeweilige Stillage durch Kookkurrenzrestriktionen (vgl. Ervin-Tripp 1972 und Hymes 1974) kontrolliert wird. Die kommunikative Gattung ist die „Mannschaftsbesprechung“ nach einem Fußballspiel zwischen Trainer und Spielern. Syntax, Lexikon, Themaorganisation und diskursive Sprechstrategien werden als durch Kookkurrenzen konstituiert und miteinander vernetzt angesehen. Auf die durch Luckmann und andere geprägte Theorie kommunikativer Gattungen greift Birkners (1999) Arbeit zum kommunikativen Stil in Bewerbungsgesprächen zurück. Die sprechsprachlich-grammatische, lexikalische und pragmatisch-diskursive Mittel beschreibende Stilanalyse wird auf der Grundlage eines Dreiphasenmodells durchgeführt: Sprachexterne, interaktive und sprachinterne Dimensionen des kommunikativen Verhaltens werden explizit aufeinander bezogen. Dieser Ansatz ist vielversprechend.
3.3.2. Ethnographische Ansätze 3.3.2.1. Das bricolage-Prinzip Anhand informeller ethnographischer Beobachtungen haben Schlobinski, Kohl und Ludewigt (1993) eine Art „bricolage“-Stil von Jugendlichengruppen in Osnabrück isoliert:
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öffentlich-mediale Vorbilder wurden in bekannten Teilen ihrer Äußerungen als „Versatzstücke“ und in kontextuell-innovativer Weise in spontaner Rede untereinander verwendet (vgl. dazu ausführlicher Art. 83 dieses Bandes). ,Sprechstil‘ ist nach Schlobinski „[…] eine Konfiguration von strukturellen Eigenschaften und deren Funktionen, basierend auf der Folie von gemeinsam geteilten Normen und Werten und damit assoziierten Erwartungshorizonten, gebrochen durch situative und interaktive Faktoren wie Themenwahl, Adressierung, Episodenbildung etc.“ (Schlobinski 1989, 9). Das „bricolage“-Prinzip hat folgenden Status der Erklärung: „Die Schöpfung kultureller Stile umfasst eine differenzierende Selektion aus der Matrix des Bestehenden. Es kommt nicht zu einer Schaffung von Objekten aus dem Nichts, sondern vielmehr zu einer Transformation und Umgruppierung des Gegebenen in ein Muster, das neue Bedeutung vermittelt, einer Übersetzung des Gegebenen in einen neuen Kontext und seiner Adaptation“ (Clarke 1979, 138). Nach Clarke und der sprachsoziologischen Forschergruppe ,Birmingham‘ ist „der Stil der subkulturellen Gruppen Kriterium für die Gruppenidentität, also ein Lebensstil, der ein Stilensemble aus verschiedenen Stilen ist: Aussehen, Musik, Kleidung, Accessoirs, Graffiti, Sprüche und Satzstrukturen bilden Homologien und formen einen relativ einheitlichen Gruppenstil […] Sprechstile sind also eine Form der Rückübersetzung gesellschaftlicher Unterschiede durch die Herstellung einer symbolischen Ordnung der Abweichungen“ (Schlobinski 1989, 9⫺10). Ähnliche Auffassungen, entschieden in ethnographische Ansätze und Beobachtungen eingebettet, vertritt Eckert (2000). Sie bezieht sich in ihrem variationsstrukturellen Beschreibungsansatz auf das von Ervin-Tripp (1972) herausgearbeitete stilistisch motivierte Alternieren: „Thus people adopt lexical items, expressions, intonation patterns, and pronunciations, at least of particular words, in a quite conscious construction of style whether momentary or as part of a trajectory“ (Eckert 2000, 214). Soziale ,Distinktivität‘ (Bourdieu) wird offenbar bewusst durch stilistische Wahlen mitgeteilt ⫺ als sichtbare Markierung sozialer Identität. Eckerts Stilkonzeption bietet auch eine neue Sicht auf die soziale Bedeutung: „Stylistic production is, in other words, the terrain for the negotiation of social meaning, and identity“ (ebd., 47). Für Eckert ist ,Stil‘ „a process of bricolage ⫺ an appropriation of local and extralocal linguistic resources in the production not just of a pre-existing persona but of new twists on an old persona“ (2000, 214; Hervorhebung ND). Bereits in der Kommunikationsgemeinschaft vorhandenes sprachliches Material wird neu zusammengesetzt, kreativ erweitert, prosodisch markiert (vgl. Schlobinski u. a. 1994). Gruppenstile werden explizit mithilfe linguistischer Variablen beschrieben. Findet sich aber in dieser Methodik, die die quantitative Distribution post factum festhält, das von Eckert beschworene Aushandeln von sozialer Bedeutung und Identität wieder? Belege dieses „bricolage“-Prinzips finden sich in den Variablenausprägungen der untersuchten Gruppen. In Analogie zu Strategien der Anpassung an die Bekleidungsstile anderer Gruppen würden einzelne Angehörige einer bestimmten Gruppe auch Elemente ihrer Sprache (Aspekt des Sprechhabitus, Wörter) an eine andere Gruppe anpassen, wenn diese gerade Prestige hat. Diese Explikationen stellen die variablenspezifischen Outputbeschreibungen in einen erklärungsstarken Rahmen ⫺ eine pragmatische Beschreibung der Aushandlung sozialer Bedeutung bleibt allerdings außen vor. Während die Stilvariation auf morphophonemischer Ebene vorbildlich genau beschrieben wird, wird die dieses Verhalten im Prozess konstituierende Interaktion nicht beschrieben (siehe 3.3.3).
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3.3.2.2. SKS sozialer Welten Viele ethnographische Vorarbeiten integrierend (Ervin-Tripp, Hymes, Gumperz u. a.) verortet Kallmeyer den Gegenstand der „linguistischen Stilistik“ in einer Gemeinschaft von Sprechern, die das „existierende Variationsrepertoire“ (Kallmeyer 1995, 6) ihrer gemeinsamen Sprache dafür nutzen, sozial signifikante sprachliche und kommunikative Konstellationen von distinktiven identitätsstiftenden Stilen herzustellen ⫺ und diese auch durch erkennbare gemeinsame Interpretationsnormen in der Rezeption absichern. Indem Stile in der Regel den Zusammenhang sehr unterschiedlicher Ausdrucksmittel und -bereiche umfassen, sind sie adäquat nur als „holistische Kategorie“ erfassbar (Kallmeyer 1995, 4), „wobei aus der Gesamtwahrnehmung (z. B. in der Art ethnographischer Beobachtungen) Schlüsselphänomene für die systematische Analyse gewonnen werden“ (ebd., 6). Die Ethnographie der SKS erfasst die ,expressive Qualität‘ des Verhaltens auf allen kommunikativen Ebenen verhaltensvergleichend im Sinne der Anthropologie und über die übliche linguistische Funktionalität hinaus. Verhaltensrekurrenzen werden durch stilistische Regeln und explizite Normen (Verinnerlichungen des Habitus) beschrieben. Kallmeyer, Keim und die Mitglieder der Mannheimer Stadtsprachengruppe haben Stimmenimporte, prosodische Markierungen, spezifische Ausdruckswahlen als Alternierungsverfahren zur kontrastiven Markierung fremder gegenüber eigener Identität einschlägig und vielfältig belegt. Distinktive Verstärkungen der eigenen sozialen Identität werden oft auch durch Kookkurrenzregeln signalisiert: Morphophonemische Regeln des lokalen Dialekts gehen mit lexikalischen Wahlen einher. Eine exemplarische Methodologie der SKS-Beschreibung wird in Kallmeyer/Keim/Nikitopoulos (1994) zu Regeln des Sprechens und in Kallmeyer/Keim (1994a; 1994b) zur phonologischen Variation und zum formelhaften Sprechen als Mittel der Symbolisierung sozialer Identität vorgestellt (vgl. auch Dittmar zu Stil und Sozietät in diesem Band).
3.3.3. Gesprächsstile (G-Stile) „It is a commonplace in sociolinguistics that ways of speaking index the social formations (groups, categories, personnae, activity types, institutional practices etc.) of which they are characteristic“ (Irvine 2001, 22). Tannen (1984) geht von Hymes (1974) aus, integriert aber ausdrücklich auf dem Hintergrund geschlechtsspezifischer und interkultureller Studien das Gespräch als konversationsanalytisch relevanten Aktivitätstyp. In dem für die Beschreibung von G-Stilen repräsentativen Sammelband Sprech- und Gesprächsstile (Selting/Sandig 1997) wird G-Stil verstanden als „interaktiv relevante Art und Weise der von den Partnern gemeinsam hergestellten Organisation natürlicher Gespräche in Situationskontexten, einschließlich der verwendeten Sprechstile. Zu den gesprächsstilrelevanten Phänomenen gehören z. B. unterschiedliche Arten der Organisation des Sprecherwechsels, der Durchführung komplexer Handlungsschemata, der Organisation und Handhabung von Gesprächsthemen und Gesprächsmodalitäten“ (Selting/Sandig 1997, 5). G-Stile sind somit entuniversalisierte konversationsanalytische Beschreibungen (weiter differenziert durch Sprechstile) in konkreten sozialen Kontexten. In Dittmar (1989) werden Trainer und jugendlichen Mitgliedern einer Fußballmanschaft z. B. unterschiedliche G-Stile zugewiesen. Differenziert sind G-Stile im soziolinguistischen Bereich der geschlechtsspezifischen Unterschiede untersucht worden (Klann-Delius 2005). Solche
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Untersuchungen stehen erst am Anfang (vgl. auch Art. 83 in diesem Band). G-Stile werden bisher eher für soziale Entitäten als für Aktivitätstypen beschrieben. Eine integrierte Beschreibung diskursiver Strategien unter Spezifizierung der dabei angewandten sprachlichen Mittel ist bisher Soziolinguisten nicht gelungen.
3.3.4. Post-Labovianische Explikationsversuche In der das neuere soziolinguistische Paradigma der Variationsforschung bestimmenden Dissertation von Labov (1972) werden Kontextstile nach dem Grad der Formalität des Sprechens bestimmt. Der Lesestil gilt als „formalster“ (standardnächster), der informelle Konversationsstil mit Vertrauten und Freunden als „informellster“, am wenigsten bewusst kontrollierter Alltagsstil. An der Stilkategorie als soziolinguistische Messdimension der Formalität des Sprechens hält auch Labov (2001) fest, indem eine Verfeinerung des Analyserasters durch einen „decision tree“ vorgenommen wird. Finegan/Biber (2001) zeigen jedoch unter Rückgriff auf Arbeiten aus den 90er Jahren, dass die an den Formalitätsgrad von Sprachgebrauchssituationen gebundene Variation des Sprechens angemessener mit dem Terminus ,Register‘ erfasst wird. Formalitätsgrade des Sprechens werden in ihrem Registerkonzept als „degrees of economy or elaboration“ konzipiert (Finegan/ Biber 2001, 241). „Economy variants contain less phonological content and often have wider semantic scope […] ,Elaboration‘ is the term we use to characterize expressions of greater explicitness […]“ (ebd.). Finegan/Biber finden in einer systematischen Revision quantitativer soziolinguistischer Projekte der letzten dreißig Jahre empirische Evidenz für diese beiden grundlegenden konzeptuellen Dimensionen. Ihrem Ansatz nach müssen mithilfe der genannten Begriffe bildungsgeprägte von szenisch-oral geprägten Registern zur skalaren Differenzierung von Kommunikationssituationen genutzt werden (ebd., 267). Coupland hält dieses zweidimensionale Modell der Erklärung von stilistischer Variation für unterdeterminiert; „to explain stylistic choice only in relation to an elaboration/ simplicity criterion“ sei nur ein „unidimensional motivating principle“ (Coupland 2001, 195). Bell hat Stil konzeptuell als „Zuschnitt auf die Zuhörerschaft“ definiert. Input für sein Modell ist eine sozio-dialektale Varietät („social dialect“) individueller Sprecher, die je nach der Zuhörerschaft und den sich verändernden Bedingungen der Kommunikationssituation variable (expressive) Ausdrucksgestalt erhält: (1) „[…] we have to acknowledge referee design as an ever-present part of individual’s use of language“; (2) „[…] we are designing our talk for our audience. But we are also concurrently designing it in relation to other referee groups, including our own ingroup“ (Bell 2001, 165). Coupland sieht Stil als ein starkes Ausdrucksmittel sozialpsychologisch motivierter Anpassungsleistungen der Sprecher an ihre Adressaten. Es gebe keine Sprecher, die nicht in ihrem Sprechen einen sozialen Dialekt evozieren würden. Soziolektperformanz reflektiere aber immer den „special case of the presentation of self “ (Coupland 2001, 197). So sähen sich die Sprecher mit der Verpflichtung konfrontiert, „to speak in more or less socially identifiable dialect styles“, dabei aber ständig gleichzeitig und unvermeidlich „versions of ourselves“ (ebd., 204) zu projizieren. Sowohl Bell als auch Coupland sind um eine individuen- wie gruppenspezifische Begründung sozialpsychologischer Motivierung stilistischer Variation auf der Grundlage variationistischer Modelle (Labov-Paradigma) bemüht.
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3.3.5. Soziale und kommunikative Stile im Vergleich Kallmeyer weist darauf hin, dass Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen SKS in signifikanter Weise durch vergleichende Untersuchungen „objektiviert“ werden können: „Soziostilistik […] beschreibt vergleichend sozial bedeutsame Unterschiede des Ausdrucksverhaltens von verschiedenen Gruppen oder Kulturen“ (Kallmeyer 1995, 4). Eine auf Morphosyntax und Semantik bezogene vergleichende („kontrastive“) Analyse europäischer Jugendsprachstile (im Deutschen, Französischen, Portugiesischen, Spanischen) hat Zimmermann (2003) für die morphosyntaktische, semantische und pragmatische Ebene der Sprachbeschreibung vorgelegt. Ein solcher Vergleich sprachlicher und kommunikativer Mittel trägt heuristisch dazu bei, (a) Kernmerkmale von peripheren Merkmalen zu unterscheiden, (b) Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen jugendspralichen Kulturen ⫺ besonders relevant bei gleicher Muttersprache, z. B. Spanisch in Spanien und in Mexiko ⫺ herauszuarbeiten und (c) die jeweiligen Anteile „generationaler Identität“ (große Gemeinsamkeiten jugendsprachlicher vs. erwachsener Kulturen) gegenüber „nationalsprachlicher“ Identität zu isolieren und zu erklären. Weitere erste Ansätze zu solchen Vergleichen finden sich in Androutsopoulos/Georgakopoulou (2003) zu jugendsprachlichen sowie in Kotthoff/Wodak (1997) und KlannDelius (2005) zu geschlechtsspezifischen Stilen.
3.3.6. Humboldts Unschäredimension „Die Eigenschaft von Stil, schwer greifbar und in der Abgrenzung unscharf zu sein, ist verschiedentlich durch das Wolkenparadox ausgedrückt worden. Humboldt vergleicht die Totalität bzw. den Charakter einer Sprache mit einer Wolke, die aus der Ferne klare Konturen hat, sich in der Annäherung zur genauen Betrachtung aber im Nebel auflöst“ (Kallmeyer 1995, 10). Daher fordert Dittmar (2002) in einer methodischen Reflexion, „die Produktion und Rezeption von Stil“ als an die „grundlegende Bedingung der sozialen Perzeption und Relevanz“ gebunden zu sehen: „Ein gruppenspezifisches Ausdrucksrepertoire bezeichnen wir dann als ,Stil‘, wenn das Ausdrucksrepertoire einer Gruppe A in der sozialen Perzeption einer Gruppe B als identitätsstiftende Gestalt wahrgenommen wird […]. Die soziale Wahrnehmung des Stils kristallisiert sich an bestimmten sprachlichen Eigenschaften und Mustern und wird durch aktuelle Bedürfnisse sozialer Abgrenzung motiviert […]. Der ,Sphärengeruch‘ des Stils haftet der gesamten Rede an und wirkt illokutiv als ,holistische Gestalt‘.“ (Dittmar 2002, 284 f.). Den stilinduzierenden „Sphärengeruch“ (Metapher in Bühler 1934, 220) beschreiben Pätzold/Pätzold (1995, 76) so: „Das Sprachzeichen engt den Spielraum des Meinens und Verstehens in einer aktuellen Situation dadurch ein, dass es die ,Sphäre‘ aufruft, in der das Sprachzeichen gewöhnlich verwendet wird ⫺ in diese Richtung deutet die Metapher vom ,Sphärengeruch‘.“
4. Ausblick Die Unterschiede zwischen den soziolinguistischen Konzepten Varietät und Stil sind in der Abbildung 100.1 zusammengefasst.
100. Varietäten und Stil
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Varietätenanalyse
Stilanalyse
Gegenstand
große Sprach- und Sprechergemeinschaften (Makrostrukturen): gesellschaftliche Makrostrukturen
Kommunikationsgemeinschaften; soziale Gruppen unterschiedlichster Art (Institutionen, Vereine, Freizeitgruppen etc.); gesellschtl. Mikrostrukturen
Datenerhebung
vorwiegend Interviews, Fragebögen, quantifizierbare Techniken; Sample- und Paneluntersuchungen; labovianische Instrumente
teilnehmende Beobachtung im sozialen Kontext über längere Zeit; Ethnographie; Chicagoer Schule der Soziologie
Theorie
Anschluss an Grammatiktheorien; Postulat der ebenenadäquaten Beschreibung; probabilistische Regelbewertungen; korrelative Varietätengrammatiken für sprachliche und nicht-sprachliche Performanz
Semiotik; kommunikative Kompetenz; soziokulturelle Identität und Distinktivität von Gruppen; anthropologische Theorie sozialer Gruppen und Kommunikationsgemeinschaftten
Methodik
intraebenenspezifische Beschreibung; Operationalisierung von Daten; Variablenbeschreibungen; Prinzip der formalen referentiellen Identität von Varianten; nichtnormative Beschreibung
interebenenspezifische innersprachliche und kommunikative Ausdruckseigenschaften; pluralistische Verfahren der Kookkurrenz- und Alternierungsanalyse; pragmatische Verfahren funktionaler Äquivalenz; explizite Normenbestimmung
Erklärungspotentiale
Dominant linguistische Ansätze: Varietätenlinguistik; quantitative soziolinguistische Variationsforschung; Sprachwandeltheorien
Interdisziplinäre Ansätze: soziale und kognitive Anthropologie; Ethnographie der Kommunikation; Soziostilistik
Abb. 100.1: Unterschiede zwischen den soziolinguistischen Konzepten Varietät und Stil
Die der SKS-Analyse zugrunde zu legenden Daten verlangen das ethnographische Sigel der Natürlichkeit ⫺ d. h. nur authentische ,nicht-artifizielle‘ Sprechereignisse werden berücksichtigt ⫺, der langfristigen teilnehmenden Beobachtung sowie querkultureller gruppenspezifischer Vergleiche. Während die Varietätengrammatiken performanzbezogene Habituskompetenzen abbilden sollen und makrostrukturelle Unterfütterungen einer heterogenen Sprachgemeinschaftskonzeption im Dienste einer Sprachwandeltheorie darstellen, zielen SKS-Beschreibungen auf die mikrostrukturelle Beschreibung kommunikativer Ausdrucksrepertoires soziokultureller Gruppen („sozialer Welten“) und ihrer distinktiven Identität ab. Aus der Gegenüberstellung in Abb. 100.1 gehen Unterschiede in der Forschungsmethodologie hervor. Auf dem Hintergrund dieser Tabelle will ich im Folgenden zu dem Verhältnis von Varietät und Stil einige Reflexionen anstellen. (1) Lässt sich die makrostrukturelle Varietätenlinguistik unter Vernachlässigung der ,Kommunikationssituation‘ und des ,Interaktionsprozesses‘ auf die Koordinaten ,horizontaler‘ (geographischer) und ,vertikaler‘ (sozialer) Raum einschränken? Wäre der
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik systemischen Variationsforschung mehr gedient, wenn die Varietätenpostulate zurückgenommen und stattdessen signifikante Korrelationen linguistischer und nichtlinguistischer Variablen ins Zentrum der Beschreibung sprachlicher Variation gestellt würden?
Eine positive Antwort auf diese beiden Fragen wäre für die Modellierung einer Sprachwandeltheorie attraktiv. Das „Herzensanliegen“ der Soziolinguistik in den 70er Jahren, qualitative Aussagen über das Kommunikationsverhalten von sozialen Gruppen zu machen, wäre damit zugunsten sprachsystemischer Perspektiven aufgegeben. (2) Während die außersprachliche, insbesondere soziale Welt für die linguistische Variationsbeschreibung nur soweit herangezogen wird, wie sie der (makrostrukturellen) Erklärung heterogener langues (l1, l2, l3, … ln⫺1, ln) dient („echter“ Abkömmling der Familie Sprachwissenschaft), wäre die Soziostilistik eher ein „Bastard“ in der Sprachwissenschaft, allerdings eines der Kernbereiche („Herzstück“) der vergleichenden (kognitiven?) Anthropologie. Gruppenwerte und -normen, gruppenspezifische Zeichenkodes mit ihren gegenseitigen Abgrenzungspotentialen, ihren Anpassungsrepertoiren an und ihren Abgrenzungsrepertoiren von Leitbilder(n) haben ihren locus naturalis in der ethnographisch fundierten anthropologischen Theorie soziokultureller Gruppen. Sprachliche Eigenschaften liefern grundlegende Indices für den Typ, den Existenzmodus und die soziale Lebensqualität gesellschaftlicher Gruppen. Soziostilistische Untersuchungen tragen zu unserem Wissen über Verstricktheit, Koexistenz, Konfliktpotential, Distanz sozialer Gruppen unter- und miteinander bei. ,Stile‘ wird man wohl kaum in einer Stilarchitektur auf eine endliche und strukturdimensionierte Anzahl reduzieren können (wie dies in der Varietätenlinguistik angestrebt wird). Es gibt so viele Stile, wie solche in realexistierenden Kommunikationsgemeinschaften von den Mitgliedern solcher Gruppen bewusst wahrgenommen werden. Während die Varietätenlinguistik eine Theorie anstrebt, die im wesentlichen über (systemische) Vorraussagen Input für eine Theorie des Sprachwandels sein soll, wird es keine Theorie von SKS-Stilen geben ⫺ denn das Explicandum von Stilen ist die Qualität, das Wie, das Know-How, das Überleben und das Nebeneinanderbestehen (Koexistenz) von Gruppen und den ihr Verhalten markierenden Stilen. Soziostilistische Studien dienen einer anthropologischen Theorie der Sozialität und ihren sprachlichen Stützpfeilern. Wir gewinnen in solchen Studien Wissen über soziale Qualitäten des gegenseitigen Verstehens, der Identitätsbildung, -herstellung, -aufrechterhaltung und -verlagerung. Was wir über Sprache und die Verwendung ihrer Strukturen erfahren, dient nicht in erster Linie der Sprachtheorie, sondern dem Verständnis gruppenspezifischer sozialer Identitäten. (3) Die soziolinguistische Stilanalyse würde methodisch unter dem Postulat der qualitativen Vergleichbarkeit gewinnen (siehe Ansätze dazu bei Zimmermann 2003). Kriterien für qualitativ vergleichbare Aggregate wie Jugend-, Geschlechts-, Berufs-, Freizeitgruppen (u. a.) wären zu bestimmen (vgl. Art. 83 in diesem Band). Ein größerer Grad an Verallgemeinerung würde gewonnen. Das methodische Dilemma, dass Stileigenschaften quersprachlich auf jeweils unterschiedlichen linguistischen Ebenen im Fließdiskurs der Äußerungen („quer“ zu den linguistischen Ebenen) miteinander vernetzt sind (⫽ soziale Bedeutung als assoziatives Raster ebenenübergreifender konzeptueller Netzwerke), ließe sich durch die Anwendung des konzeptorientierten Ansatzes (Stutterheim/Klein 1987) überwinden. Sprachliche Mittel
100. Varietäten und Stil
1687
für Konzepte kommunikativer Funktionen (Intensivierung, Adressierung, Modalisierung etc.) würden vergleichbar, und mit ihnen auch konzeptspezifische Dimensionen des Wortschatzes („semantische Felder“). Ein sozio-kognitiver Ansatz in der Anthropologie liegt hierzu bereits vor (siehe die homepage des Max Planck Instituts für kognitive Anthropologie, insbesondere die Arbeiten von Stephen Levinson). Der konzeptuelle Ansatz macht einen Vergleich von Mitteln möglich. Gleichzeitig wäre dafür Sorge zu tragen, dass die soziale Bedeutung ,quersprachlicher assoziativ vernetzter‘ Eigenschaften empirisch genauer erfasst würde. Kognitionspsychologisch gewendet: Wie entstehen über phonetische, prosodische, lexikalische, syntaktische Mittel im Verbund ihrer Vernetzung ähnliche sozio-kognitive Raster sozialer Wahrnehmung? Gibt es Schlüsselreize in der Herstellung sozio-kognitiver Bedeutungen? Ethnographisch angelegte Untersuchungen könnten für (1) und (2) eine theoretische und methodische Fundierung der SKS-Analyse ermöglichen. (4) Der Begriff ,Register‘ wird oft koreferentiell mit ,Stil‘ gebraucht. Anders als Stil ist Register durch situationsspezifischen Gebrauch und die funktionalen Dimensionen Ökonomie und Elaboration definiert (vgl. Dittmar 2005b). Es bleibt ein wichtiges soziolinguistisches Desiderat, die differentia specifica von Register im Verhältnis zu Stil explizit zu fassen. (5) Mit welchen diskurslinguistischen Begriffen lassen sich Varietät und Stil vereinbaren? Eine Einbettung von Varietätenanalysen in Gesprächs- oder Diskursbeschreibungen liegen zurzeit nicht vor. Hier scheint es Unvereinbarkeiten zu geben. Eine Öffnung der Variationsforschung findet sich in Dubois/Sankoff (2001). In dieser Untersuchung werden relativ feste kommunikative Muster auf ihre Distribution in Diskursen untersucht. Stil geht einher mit kommunikativen Gattungen (vgl. Günthner/Knoblauch 1995). Die Beschreibung soziolinguistischer Stile im Rahmen kommunikativer Gattungen ist ein Forschungsdesiderat der nächsten Jahre. Meine Reflexionen verlangen eigentlich ein strikt interdisziplinäres Vorgehen. Zurzeit werden jedoch Varietäten mit der Dominanz sprachspezifischer Systematisierung im Kernbereich linguistischer Heterogenität erforscht. Stile scheinen demgegenüber mit der Dominanz ethnographischer Beschreibungen gruppenspezifischer sozialer Identitäten besser im Kernbereich sozio-kognitiver Anthropologie aufgehoben.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
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Norbert Dittmar, Berlin (Deutschland)
101. Historische Textsorten und Stil
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101. Historische Textsorten und Stil 1. 2. 3. 4.
Begriffsbestimmungen Ausgewählte Fallstudien aus unterschiedlichen sprachgeschichtlichen Epochen Resümee Literatur (in Auswahl)
Abstract By “Textsorte” (text type) is understood a class of texts whose characteristic features belong to the communicative function of language/the texts or to the communicative domain and which display invariant or consistent linguistic features. The style of a text is the product of an assortment of linguistic elements. In order to determine and describe historical text types a concept of text type is required that is broad enough to be fundamentally different from the notion of genre as used in literature. On this basis three text types that are typical for the first three periods in the evolution of the German language (Old High German, Middle High German and Early New High German) are described: interlinear version, courtly literature and pamphlets.
1. Begrisbestimmungen Der Begriff ,Textsorte‘ wird hier in der „spezifischen Lesart“ im Sinn von Adamzik (1995) verwendet: eine Klasse „von Texten, die in bezug auf mehrere Merkmale qualifiziert sind“; wichtig ist dabei, „daß es sich bei den Merkmalen, die eine Textsorte im engeren Sinne konstituieren, speziell um solche handelt, die die Funktion, den Kommunikationsbereich (Medien, Verwaltung, Alltag, Politik) sowie […] stereotype Merkmale der sprachlichen Gestaltung betreffen“ (Adamzik 1995, 16). Eine ,historische Textsorte‘ ist eine Textsorte, die es (nur) in einer bestimmte Periode der (deutschen) Sprachgeschichte gegeben hat. Ob es sich dabei tatsächlich um eine Textsorte oder um die Variante einer Textsorte handelt, ist hier nicht von Belang; so gibt es wohl zu allen Zeiten eine Textsorte Bittbrief, deren sprachliche Ausformung aber zu unterschiedlichen Zeiten ganz unterschiedlich ausfallen kann. Stil ist hier zunächst Sprachstil, also „das WIE, die bedeutsame funktions- und situationsbezogene Variation der Verwendung von Sprache und anderen kommunikativ relevanten Zeichentypen“ (Sandig 2006, 1), das Ergebnis einer „weitgehend automatisiert oder bewußt“ (Michel 1983, 451) getroffenen „Wahl zwischen alternativen Möglichkeiten“ (Spillner 1974, 45); denn ein ,Redestil‘ als parole-Phänomen ist „die Gesamtheit der an bestimmte gesellschaftliche Anwendungsnormen gebundenen fakultativen Varianten der Rede innerhalb einer Reihe synonymischer Möglichkeiten zur sprachlichen Darstellung eines Sachverhalts“ (Michel 1968, 34 f.). Stil ist demnach das Ergebnis einer Wahl unter mehreren referenzidentischen sprachlichen Möglichkeiten bzw. „unter vielen gleichberechtigten, sinnvollen und grammatisch zulässigen Möglichkeiten der Sprache“ (Agricola 1970, 1016).
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik Wenn man „stereotype Merkmale der sprachlichen Gestaltung“ (Adamzik 1995, 16) als konstitutives Merkmal einer Textsorte ansieht, dann muss man auch so etwas wie einen Textsortenstil annehmen. Das Vorhandensein „stereotype[r] Merkmale“ ist zunächst ebenfalls das Ergebnis einer Wahl, kann aber zu einem gesellschaftlich konventionalisierten obligatorischen Merkmal einer Textsorte werden bzw. geworden sein. Historische Textsorten sind somit durch historische Stile gekennzeichnet. Es handelt sich dabei nicht so sehr um Epochenstile, wie sie Agricola (1970, 1017) charakterisiert hat: „Jeder Mensch steht unter dem formenden Einfluß seiner gesellschaftlichen Umgebung. Deshalb wird auch die Verschiedensten noch irgend ein Gemeinsames binden, vergleicht man sie mit den Angehörigen anderer Epochen.“ Historische Textsortenstile sind etwas grundsätzlich anderes. Die Beschreibung von (historischen) Textsortenstilen erfordert einen weiten Stilbegriff, der dann vorliegt, wenn „jede Art von Variation als ,stilistische‘ Entscheidung bestimmt wird“ (Michel 2001, 426). Es gilt also, sowohl Mikrostilistisches (Einheiten unterhalb der Satzebene) und Makrostilistisches (Einheiten von der Satz- bis zur Textebene) zu berücksichtigen. Dazu bedarf es zur Beschreibung der Textstruktur eines Mehr-Ebenen-Modells, das auch textkonstitutive Elemente wie Kohäsion und Kohärenz berücksichtigt. Kohäsion bezeichnet dabei die Ausdrucksseite des Textzeichens, die durch Topik- und Konnexrelationen erzeugt wird (Wolf 1981a); demgegenüber bezeichnet Kohärenz die Inhaltsseite des Textzeichens, die durch Isotopien, thematische und semantische Progression zustande kommt (vgl. Greimas 1971, 60 ff.; Danesˇ 1970 und Mann/Thompson 1986; dies alles im Unterschied zu de Beaugrande/Dressler 1981, 50 ff.). Des Weiteren wird hier die Themenentfaltung/Sprechhaltung wirksame, etwa Narration, Deskription, Argumentation oder Instruktion (vgl. Wolf 1981a und Brinker 1997, 63 ff.). Dazu kommen nicht-sprachliche Zeichensysteme, die mit den sprachlichen kooperieren, z. B. Schrift (,Graphostilistik‘), Bilder, Farben, Typographie (Verteilung der optisch wahrnehmbaren Zeichen auf die Fläche, vgl. Willberg/Forssman 1997).
2. Ausgewählte Fallstudien aus unterschiedlichen sprachgeschichtlichen Epochen Man kann die Geschichte des Deutschen auch als eine Geschichte von Textsorten und somit von Textsortenstilen betrachten. Ausgewählt werden Beispiele, die für einzelne Epochen als typisch, wenngleich nicht als einzig typische gelten können.
2.1. Althochdeutsch: Interlinearversionen Das Althochdeutsche ist die Periode der deutschen Sprachgeschichte, in der die (schriftliche) volkssprachliche Textproduktion vor allem der Bewältigung der Latinität diente. Dementsprechend sind ein großer Teil der althochdeutschen Literatur Übersetzungstexte, die in zweisprachigen Handschriften dargeboten wurden. Ein Teil solcher zweisprachigen Texte und Handschriften sind als ,Interlinearversionen‘ überliefert: „Als solche werden in den Handschriften zwischen den Zeilen angeordnete Wort-für-Wort- oder besser Form-für-Form-Übersetzungen bezeichnet“ (Sonderegger 2003, 72). Als prototypi-
101. Historische Textsorten und Stil
1693
Abb. 101.1: Althochdeutsche Benediktinerregel (Cod. Sang. 916 nach Fischer 1966)
sche Realisierung einer Interlinearversion gilt die ,Althochdeutsche Benediktinerregel‘, die im frühen 9. Jahrhundert in St. Gallen entstanden sein dürfte: Vor uns liegt ein Text, der in einer bestimmten Situation bzw. Phase der deutschen Sprachgeschichte geradezu notwendig war. Die kommunikative Funktion des zweispra-
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Abb. 101.2: Herkömmliche Edition einer Interlinearversion (Daab 1959, 14)
chigen Textes (lateinisch-althochdeutsch) wird mit graphostilistischen Mitteln deutlich: Der lateinische Text ist in einer breiten Minuskel geschrieben, „wie sie […] für die alemannischen Klöster Reichenau und St. Gallen kennzeichnend war“ (Masser 1997, 32). Über jeder lateinischen Zeile stehen die althochdeutschen Einträge, deren Schrift „von jener des lateinischen Basistextes nicht grundsätzlich [differiert], auch wenn sie dem zwischenzeiligen Charakter wie der Funktion der Einträge entsprechend viel dünner und gedrängter ist und dadurch optisch anders wirkt“ (Masser 1997, 33). Graphostilistika
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signalisieren also die Funktion der beiden Sprachen in diesem Text: Hauptsache ist der lateinische Text, der volkssprachliche hat die Aufgabe, die Lektüre des lateinischen zu erleichtern: Jede Wortform steht über der entsprechenden Basisform. Es geht nicht darum, wohlgeformte deutsche Sätze zu produzieren, sondern einen wohlgeformten lateinischen Text mit volkssprachlichen Entsprechungsformen zu kommentieren. Auf späteren Seiten der Handschrift werden nicht mehr alle lateinischen Formen kommentiert; dennoch ergibt sich nicht einmal ein Lückentext; häufig genügt auch eine (deutsche) Kasusendung, die die lateinische Kasusendung erkennbar machen kann bzw. soll. Dies ist schon auf der hier wiedergegeben Seite zu sehen: In Zeile 2 des lateinischen Textteils steht der abgekürzt geschriebene Genitiv Plural monachorum, darüber stehen nur die beiden letzten Buchstaben des volkssprachlichen Substantivs [muni]ch ,Mönch‘ mit dem o der entsprechenden Kasusendung: [muni]cho ,der Mönche‘. Letztlich ist der volkssprachliche Textteil keine Übersetzung in dem Sinn, dass ein akzeptabler zielsprachiger Text erzeugt wird, sondern es handelt sich vielmehr um Glossierungen jeder einzelnen Wortform. Bestimmte Textteile wie die textgliedernden Überschriften sind nicht glossiert, wohl aber durch Majuskeln, wenn auch nicht durchgehend, hervorgehoben. Der lateinische Textteil ist zum Vorlesen aufgeschrieben worden (Ordensregeln wurden zur Tischlektüre verwendet); darauf deuten Interpunktionszeichen, die Hinweise auf die Satzintonation geben (vgl. Masser 1997, 33). Der deutsche Textteil ist dafür nicht geeignet. Mit diesen Bemerkungen ist auch schon die sprachliche Form des zweisprachigen Textes charakterisiert: Der lateinische Textteil ist ein wohlgeformter Text, den der Glossator als solchen vorgefunden hat. Die volkssprachlichen Textteile sind gewissermaßen von Form zu Form dazu montiert. Diesem Befund muss auch eine Edition gerecht werden, die ja in erster Linie dazu dient, den Text für moderne Leser lesbar zu machen. Allerdings darf eine solche Edition nicht den Versuch unternehmen, einen kursiven volkssprachlichen Text gleichberechtigt neben einen lateinischen Text zu stellen. Diese Ausgabe behandelt nicht ,übersetzte‘ Partien als Lücken, was sie aber nicht sind; ähnlich sind die durch Kursivdruck kenntlich gemachten Ergänzungen von Abkürzungen im volkssprachlichen Teil. Im lateinischen Teil bleiben solche Konjekturen unmarkiert. Ganz anders verfährt die neuere Ausgabe von Masser (1997), die die speziellen Kennzeichen der Textsorte Interlinearversion auch graphisch wiederzugeben versucht. Sowohl die graphostilistischen als auch die typographischen Elemente sind genau wiedergegeben worden. Der Editor, Achim Masser, ist bestrebt, sowohl die Lektüre für (Sprach-)Historiker zu erleichtern und gleichzeitig wesentliche Elemente der Textstruktur, wie sie sich in der Handschrift präsentiert, zu erhalten. Doch bereits hier beginnt die Problematik: Zeitgenössische Handschriften und Drucke sind etwas grundsätzlich anderes als die moderne Edition. Die zeitgenössischen, in unserem Fall mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Niederschriften oder Drucke sind für ein Publikum gedacht, das diese Texte direkt, d. h. im Wesentlichen ohne größere zeitliche Distanz und in erster Linie aus Interesse am Inhalt rezipieren wollte bzw. sollte. Wir, die Leser des 21. Jahrhunderts, sind ein ganz anderes Publikum mit einer ganz anderen Kommunikationsgeschichte und mit ganz anderen Intentionen: Einerseits leben und lesen wir Jahrhunderte später, zum anderen haben heutige Wissenschaftler ⫺ und um Wissenschaft geht es hier ja in erster Linie ⫺ ganz andere Interessen als die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Leser. Die „originale Kommunikationsrelation“ (Reichmann 1987, 337) zwischen den Texten und ihren Zeitgenossen steht in einem grundsätzlichen Gegensatz zu einer
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Abb. 101.3: Textsortenadäquate Edition einer Interlinearversion (Masser 1997, 97)
„sekundären Kommunikationsrelation“ (ebd.), die die neuzeitlichen Philologen zu diesen Texten haben und die durch die moderne Edition hergestellt resp. ermöglicht wird. Man könnte also in diesem Zusammenhang erwarten, dass eine Edition die ⫺ teilweise konstitutiven ⫺ Stilistica einer (historischen) Textsorte erhalten muss.
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2.2. Mittelhochdeutsch: Höische Dichtung Im hohen Mittelalter, besonders in den Jahren nach 1200 bildet sich eine Literatur heraus, die der literarischen Kommunikation und der Identitätsdefinition innerhalb der kulturellen Gruppe der ,Ritter‘ (vgl. Wolf 1981b, 179) diente. Kulturgeschichtlich ist von Bedeutung, „daß im 12. Jahrhundert die großen weltlichen Fürstenhöfe zu literarischen Zentren wurden und daß dort auf Betreiben der fürstlichen Mäzene eine Literatur entstand, die besonders deutlich in ihrer Orientierung an französischen und provenzalischen Mustern die gesellschaftlichen Interessen und Vorstellungen der höfischen Gesellschaft spiegelte“ (Bumke 1976, 67). Diese Literatur wird ,höfische Literatur‘ genannt, und die Gruppe der ,Ritter‘ konstituiert sich als kulturelle Gruppe durch die Rezeption eben dieser Literatur. Sozialgeschichtlich ist zudem von Bedeutung, dass in dieser Literatur ein deutliches laikales Selbstbewusstsein zum Ausdruck kommt. Zum ersten Mal in der deutschen Literaturgeschichte bekommt ein Laien-Publikum seine Texte von Laien-Autoren geliefert. Der Rückbezug auf das Lateinische ist nicht (mehr) notwendig, die Volkssprache hat endgültig ihren Eigenwert erhalten. In diesem Zusammenhang entwickelt sich ein spezieller Funktionalstil, die ,höfische Dichtersprache‘. Deren Entstehung „erklärt sich aus dem Wunsch der Dichter, ihren Werken eine allgemeine Verbreitung zu sichern. Die Dichtersprache setzt sich mit Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach, dem N[ibelungen-]L[ied-]Dichter, Heinrich von Morungen, Reinmar von Hagenau und Walther von der Vogelweide durch, deren Werke für ihre Zeit wie für die neuzeitlichen Beurteiler seit den Romantikern unbestritten die Gipfelleistungen der deutschen mittelalterlichen Epik und Lyrik darstellen.“ (Paul/Wiehl/Grosse 1998, 13). Es fällt auf, „dass die höfischen mhd. Versdichunggen de späten 12. und des 13. Jh.s überregional ein partiell einheitlicher Wortschatz […] und Gemeinsamkeiten phraseologischer und syntaktischer Art verbinden“ (Paul u. a. 2007, 12). Wir haben also eine Textsorte ,Höfische Literatur‘ vor uns, die sich in zwei unterschiedlichen „Naturformen der Poesie“ (Goethe 2004) präsentiert: Epik und Lyrik. Gemeinsam ist in diesem Fall diesen beiden „Naturformen“, dass sie (a) eine gesellschaftlichen Gruppe der internen literarischen Kommunikation dienen, und dass sie (b) den Funktionalstil der höfischen Dichtersprache geprägt haben. Es handelt sich ⫺ dies sei vorweg festgehalten ⫺ um hochartifizielle Literatur, deren Rezipienten ein hohes Bildungsniveau haben müssen, um über den formalen wie auch den inhaltlichen und intertextuellen Ansprüchen dieser Literatur gerecht zu werden. Festgehalten sind diese Texte in Handschriften, die zu einem großen Teil aus späterer Zeit stammen und häufig überaus kunstvoll gestaltet sind. Ursprünglich waren die Texte zum mündlichen Vortrag gedacht; für uns ist allerdings die schriftliche Typisierung vorrangig. Glücklicherweise hat ein zeitgenössischer Autor, Gottfried von Straßburg, dessen ,Tristan‘-Roman (zit. nach Krohn 1980) kurz nach 1200 entstanden sein dürfte, seine Kollegen charakterisiert und auch bewertet und auf diese Weise wertvolle Hinweise auf die Textsorte und deren Charakteristika gegeben. Er beschreibt gute Dichtung als guotes (4614) Sprechen. guot steht in einem besonderen Kontext: ine wiste wie gevaˆhen an, / daz ich von rıˆcheite / soˆ guotes iht geseite (4612⫺4614). Der Erzähler will von der Schwertleite Tristans berichten, einem großen Fest, und verwendet zu Beginn den Bescheidenheitstopos, dass er das nicht so könne wie Vorgänger und Zeitgenossen. Es ist zu berichten von
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Fülle und Pracht (rıˆcheit), und dies auf angemessene (guote) Weise. Inhalt des Erzählten und sprachlicher Ausdruck müssen einander entsprechen. Daraus ergeben sich folgende Merkmale des Funktionalstils ,Höfische Dichtersprache‘: (1) Bewusste rhetorische Gestaltung: Von seinem Dichterkollegen Hartmann von Aue sagt Gottfried: Hartman der Ouwaere / ahi, wie der diu maere / beid uzen unde innen / mit worten und mit sinnen / durchverwet und durchzieret! (V. 4621 ff.). Uzen unde innen meint den Schmuck der figurae verborum (äußeren Schmuck) und der figurae sententiarum (inneren Schmuck). (2) Gruppengebundener Wortschatz: Eine Reihe von zentralen Wörtern sind „ideologisch“ fixiert. Das Substantiv zuht etwa kann dies demonstrieren. Die Ableitung von ahd. ziohan/mhd. ziehen bedeutet bereits im Althochdeutschen sowohl ,Unterhalt, Nahrung‘ als auch ,Erziehung, Belehrung‘. Der höfische Begriff der zuht bezeichnet ,edle Bildung, Feingefühl, Liebenswürdigkeit‘ und ,feine Lebensart, höfische Manieren‘, sowohl eine innere Haltung als auch ein äußeres Benehmen. In der geistlichen Literatur des 13. Jahrhunderts bedeutet zuht ganz einfach ,Erziehung‘, die höfischen „Zusätze“ spielen hier keine Rolle. (3) Entlehnungen: Die deutsche höfische Dichtung ist ohne die französische nicht denkbar; sie knüpft auch bewusst an das französische Vorbild an. Deshalb werden in reichem Maße französische Lehnwörter als Mittel der höfischen Stilisierung verwendet. Gottfried von Straßburg nimmt sogar ganze französische Partien als ein Mittel der Variation: ,aˆ! spraˆchen s’al gemeine / groˆze unde cleine‘ / ,deˆ duin duˆze aventuˆre / si duˆze creatuˆre: / got gebe süeze aventiure / soˆ süezer creatiure!‘ (3267 ff.), wobei als besonderer Reiz an dieser Stelle dazukommt, dass die Reimwörter in den beiden ,deutschen‘ Versen ebenfalls entlehnt sind. (4) Versuch des dialektalen Ausgleichs: Die höfische Kultur ist ein überregionales Phänomen. Die Autoren streben deshalb auch überregionale Wirkung an. In den Reimen vermeiden sie Formen, die nur regional akzeptabel sind. So gesehen ist die höfische Dichtersprache eine überregionale Sprachform, allerdings nur als Funktiolekt, der „die mehr oder minder mundartferne, überlandschaftliche Sprachform literarischer Texte“ (Klein 1985, 1) ist. Es zeigt sich, dass wir es mit artifiziellen Texten von hohem Anspruch sowohl an die Produzenten als auch an die Rezipienten zu tun haben. Dennoch erweist es sich gerade bei der höfischen Dichtung als nicht praktikabel, die herkömmlichen Gattungsbezeichnungen, wie sie die Literaturgeschichte erarbeitet hat, zu verwenden; Gattungsbezeichnungen wie ,höfischer Roman‘, ,Heldenepos‘, ,Minnelied‘ oder ,Sangspruch‘ basieren auf anderen Kriterien, als sie eingangs für Textsorten formuliert worden sind. Die Feststellung einer literarischen Gattung ⫺ „Gattung“ ist ein primär literaturwissenschaftlicher Begriff ⫺ beruht auf der Beobachtung der literarischen Tradition sowie bestimmter formaler Merkmale. Gattungsbezeichnungen wie ,höfischer Roman‘ oder ,Heldenepos‘ bestimmen „historische Textgruppen“ (Hempfer 1997, 651) und basieren auf unterschiedlichen Kriterien. In der Heldendichtung „erscheinen einzelne, herausgehobene Gestalten mit außerordentlichen körperlichen, aber auch intellektuellen oder moralischen Fähigkeiten“, die in der „als abgeschlossen betrachtete[n] Frühzeit in der Geschichte der Gemeinschaft“, dem „Heldenzeitalter“ (Heinzle 2000, 21) agieren. Das Heldenepos des Mittelalters ist meist in Strophen geschrieben. Demgegenüber kennzeichnet den ,höfischen Roman‘ der Reimpaarvers und ein ausgeprägter „ästheti-
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sche[r] Anspruch: das Ausdenken unvorhersehbarer, bedeutungsvoller Konstellationen un die kunstvolle Entfaltung des Erzählmaterials in komplexer Tektonik“ (Schmid 2000, 69). Das Wechselspiel von formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten spielt in der Gattung eine fundamentale Rolle, dies im Gegensatz zu den sprachwissenschaftlich zu definierenden Textsorten.
2.3. Frühneuhochdeutsch: Flugschriten Der Buchdruck mit beweglichen Lettern, um 1450 vom Mainzer Patrizier Johannes Gutenberg erfunden, ändert die Bedingungen für Produktion und Rezeption sowie für die Distribution von Texten grundsätzlich (vgl. Wolf 2000): (1) Im Gegensatz zur handschriftlichen Vervielfältigung ist es möglich, Texte in zahlreichen und völlig identischen Exemplaren herzustellen. (2) Auf aktuelle Ereignisse kann man schriftlich schnell und auch über ein größeres Areal reagieren. Es kommt geradezu zu schriftlichen Dialogen, Auseinandersetzungen, Argumentationen. Auf diese Weise entsteht eine Öffentlichkeit, in der aktuelle Probleme diskutiert werden. (3) Produktion auf Vorrat: Dadurch, dass in kurzer Zeit viele Exemplare eines Textes hergestellt werden können, werden mehr Bücher produziert, als gebraucht werden. Handschriften waren im Wesentlichen auf Bestellung gefertigt worden, für gedruckte Bücher wird nun der Markt die entscheidende Instanz der Distribution. Das hat zur Folge, dass vor allem solche Bücher produziert werden, von denen man einen guten Absatz erwartet. (4) Wer in einer Schreibstube ein Buch bestellt, ist bekannt. Die Schreiber wissen, für wen sie arbeiten. Wer auf dem Markt ein Buch kauft, ist bei der Produktion des Buches nicht bekannt. Man produziert für Käufer und Rezipienten, die man nicht kennt. Diese Entstehungsbedingungen haben großen Einfluss auf die Texte, auf deren Form und deren Inhalt. Sie bewirken, dass kurze Zeit, nachdem das neue Medium des Buchdrucks sich etabliert hat, neue Textsorten entstehen, die die Möglichkeiten, die das neue Medium bietet, auf verschiedene Weise nutzen. Eine dieser neuen Textsorten, die gerade im frühen 16. Jahrhundert, im Zeitalter der Reformation, der Bauernkriege, sozialer Revolutionen, eine wichtige Rolle im Kosmos der Texte übernehmen, sind die Flugschriften: „Eine Flugschrift ist eine aus mehr als einem Blatt bestehende, selbständige, nicht periodische und nicht gebundene Druckschrift, die sich mit dem Ziel der Agitation (d. h. der Beeinflussung des Handelns) und/oder der Propaganda (d. h. der Beeinflussung der Überzeugung) an die gesamte Öffentlichkeit wendet“. (Köhler 1976, 50) Diese Definition eines Historikers enthält die wesentlichen Textsortenmerkmale (vgl. Schwitalla 1999, 5 ff.): (1) (Buch-)Druck: Flugschriften kann es nur geben, wenn es ein schnelles Verbreitungsmedium gibt. Es sind somit mindestens zwei kommunikative Instanzen, die am Entstehen einer Druckschrift beteiligt sind, Autor und Drucker. Dazu können auch noch die Produzenten von Bildern kommen. Dadurch, dass gedruckte Schriften des Marktes bedürfen, um distribuiert zu werden, entwickeln sich paratextuelle Elemente wie
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(2)
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik Titelblätter, die einen Lese- und Kaufanreiz darstellen sollen. Aus diesen medialen Bedingungen ergibt sich: (All-)Rezipient: Die Rezipienten sind im Einzelnen nicht bekannt. Autoren und Drucker wenden sich aber nicht bloß an eine unbekannte Menge von unbekannten Rezipienten, sondern an alle (möglichen) Rezipienten. Flugschriften werden zudem nicht nur gelesen, sondern auch öffentlich vorgelesen. Damit eine möglichst große Öffentlichkeit erreicht werden kann, sind die Flugschriften in der Regel auf Deutsch gedruckt. Nicht gebunden: Prototypische Flugschriften werden nicht zwischen zwei Buchdeckeln verkauft. Dadurch unterscheiden sie sich von Büchern, mit denen Flugschriften das Merkmal der Selbständigkeit gemeinsam haben. Mehrblättrig: Dadurch unterscheiden sich Flugschriften von Flugblättern. Prototypische Flugschriften sind relativ kurz, doch gibt es auch einige sehr umfangreiche Exemplare. Nicht periodisch: Flugschriften tendieren nicht zu regelmäßigem Erscheinen wie die später aufkommenden Zeitungen und Zeitschriften. Dies gilt auch dann, wenn manche Produzenten mehrere Flugschriften mit ähnlichem Inhalt innerhalb kürzerer Zeit publizierten. Ziel der Agitation und/oder der Propaganda: Flugschriften haben das deutliche Ziel der Beeinflussung. Deshalb gehen sie immer von einem aktuellen Thema aus bzw. von einem Thema, das die Produzenten für aktuell halten. Da auf diese Weise auch unterschiedliche Meinungen oder Einstellungen kundgetan werden können, kommt es zu schriftlichen, öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen Autoren, etwa zwischen Reformatoren und Altgläubigen, Reformatoren untereinander oder Vertretern unterschiedlicher sozialer Richtungen.
Mit diesen Merkmalen sind auch schon eine Reihe sprachlicher Merkmale aufgeführt: (1) Ausrichtung auf einen All-Rezipienten (vgl. Wolf 1996): Im Jahre 1525 lässt Andreas Osiander (1498⫺1552), damals lutherischer Prediger an St. Lorenz in Nürnberg, eine Schrift erscheinen: Allen frummen christen, und götlichs worts liebhabern, wunscht Andreas Osiander prediger bey Sant Laurentzen zu˚ Nürnberg gnad und frid, von Got dem vater, und seinem sun Jesu Christo unnserm herren.
Adressat ist also ein großes, gleichwohl unbestimmtes und unbestimmbares Publikum. Derartiges begegnet in zahlreichen Flugschriften. Die ,12 Artikel der Bauernschaft‘ vom März 1525, die „in ca. 25 verschiedenen Ausgaben“ erschienen und „aufgrund der Tatsache, daß sie die einzigen gedruckten Artikel waren, die Grundlage der Operationen in vielen Aufstandsgebieten“ bildeten (Kaczerowsky 1970, 259), beginnen mit einer Adresse: Dem Christlichen leeser Fryd vnnd Gnad gottes durch Christum.
Hier wird der Quantor alle durch den generischen Singular ersetzt. Der lutherische Prediger zu Heilbronn Johannes Lachmann (um 1490⫺1538) spricht in der 1525 erschienenen Flugschrift (Laube/Seiffert 1975):
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Drey Christlihe erma⫽储nung an die Baüwerschafft 兩 die 储 zwu˚ 兩 ehe sie vor Weynßperg ge⫽储 zogen 兩 von jrem fürnemen ab⫽储zu˚stehen. Die dritt 兩 nach der 储 Grewsenlichen thatte zu˚ 储 Weynßperg verloffen 储 zu˚geschickt von Jo储hann Lachamon 储 Predicanten 储 zu˚ Hayl储pron
sein Publikum direkt an: Gnad und fried von Got dem vatter, unnd unnßerm herren Jhesu Christo wünsch ich, Johann Lachamann [!] burger und prediger zu˚ Heylpron, eüch allen christlichen brüdern mit gehorsamen willigen diensten allzeyt bevor.
Nachweislich sind diese „drei gegen den Neckartal-Odenwälder Haufen gerichteten ,Ermahnungen‘ […] am 5. und am 13. April sowie am 13. Mai 1525“ (Anhang zu Lauber/ Seiffert 1975) entstanden, dass somit Lachmann zu einem ganz ,konkreten‘ Publikum, das vor dem Prediger stand, gesprochen hat; durch die Publikation als gedruckte Flugschrift werden die christlichen brüder der Grußadresse und die Baüwerschafft des Titelblattes (obschon sie durch einen Relativsatz genauer bestimmt wird) zu allumfassenden Gruppen.
Abb. 101.4: Titelblatt von Martin Luthers_Eyn brieff an die Fürsten zu Sachsen (aus Wolf 1990)
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
(2) Rezeptionssituation: „Die Flugschriften der Reformationszeit wurden individuell und still gelesen; sie wurden einem einzelnen oder einer Gruppe laut vorgelesen […] Daß Flugschriften der Reformationszeit vorgelesen wurden, belegen Aufforderungen in den Flugschriften selbst.“ (Schwitalla 1999, 27; von dort auch die folgenden Textbelege). Das in zahlreichen Flugschriften die Formel ,hören und lesen‘ vorkommt, ist nicht nur traditioneller Schmuck, sondern sicherlich Hinweis auf die Rezeptionssituation: Wir […] thund kund aller menglich, so diß unser statut […] läsen oder hören läsen werden. Kanst nit selb Lesen […] so bestell einen armen schuler der lißt dir umb ein stuck brots so vil du ains tags bedarfest.
In vielen Flugschriften der Reformationszeit begegnen zahlreiche direkte und indirekte Hinweise auf die Rezeption durch das Hören (Rössing-Hager 1981), sodass man solche Formeln durchaus als ein textsortenspezifisches Stilmerkmal ansehen kann. (3) Die meisten Flugschriften nutzen die Titelblätter für grundlegende Informationen (vgl. Wolf 1990). Martin Luthers Schrift ,Eyn brieff an die Fürsten zu Sachsen‘ vom Jahre 1524 hat ein Titelblatt, das überdies künstlerisch ausgestaltet ist (Abb. 110.4).
Abb. 101.5: Titelblatt von Thomas Müntzer ,Hochverursachte Schutzrede‘ (aus Wolf 1990)
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Wir erfahren hier die Textgattung (brieff ), die Adressaten (die Fürsten zu Sachsen) und den Gegenstand des ,Briefes‘ (von dem auffrurischen geyst); der Autor scheint anzunehmen, dass der Gegenstand der Schrift bekannt ist, er nennt es nicht mit Namen, sondern charakterisiert es nur und verwendet dabei den bestimmten Artikel. Danach werden Autor, Erscheinungsort und -jahr genannt. Die sprachlichen Teile sind von bildhaften Elementen eingerahmt, die dem Ganzen eine repräsentativen Charakter verleihen. Ganz anders in der Antwort-Schrift Thomas Müntzers, ebenfalls 1524 (Abb. 110.5). Die Textgattung ist die der Schutzrede vnd antwwort wider das Gaistlose Sanfftlebende fleysch zu˚ Wittenberg; im darauffolgenden Relativsatz kommt gleich der Gegenstand der Anklage (das ist letztlich die Schutzrede) zur Sprache. Luthers Wortwahl vom auffrurischen geyst wird antonymisch beantwortet: Dem geyst steht das fleysch gegenüber, gleichzeitig wird noch das privative Adjektiv Gaistlos dagegengesetzt. Ist der Eine ,aufrührerisch‘, dann ist der Andere ,sanftlebend‘. Selbst das Fehlen des Erscheinungsortes auf dem Müntzerschen Titelblatt ist eine Erwiderung auf Luther, denn die Müntzerschen Schriften wurden sehr schnell beschlagnahmt, und der Drucker konnte es sich nicht lange leisten, etwas herauszubringen, was kurz darauf verbrannt wurde. Luthers künstlerischem Schmuck steht im Gegensatz zu der totalen Schmucklosigkeit Müntzers, nur die sprachlichen Teile sind ansatzweise ornamental angeordnet. Während Luther Engel, Blüten, Tiere im Bild erscheinen lässt, bringt Müntzer, nahezu bilderstürmerisch, nur Bibelzitate, deren Allusionsfunktion nur noch durch präzise Kommentare zu erschließen ist. Alles in allem scheinen die Titelblätter zu dialogisieren, sprachliche, ikonische Antonymien werden ganz bewusst eingesetzt.
3. Resümee Es sind immer besondere historische Situationen, die ihre je eigenen Textsorten notwendig machen. Situationsgebundene Kommunikationsziele finden ihre eigenen und angemessenen sprachlichen Formen. Sowohl für die Definition der Textsorten als auch für die Beschreibung von textsortenspezifischen sprachlichen Merkmalen müssen (1) wenige und sehr allgemeine sowie (2) oberflächennahe Kriterien gefunden werden. Anleihen bei der Literaturgeschichte (vgl. Schwarz 2000; Kästner/Schirok 2000) oder bei der Kultursoziologie, die unterschiedliche ,Sinnwelten‘ festgestellt hat (vgl. Kästner/Schütz/Schwitalla 2000), helfen im Zusammenhang mit Stilbeschreibungen und Stiltypisierungen nur wenig weiter. In der jüngeren und jüngsten Neuzeit epochentypische Textsorten zu finden und deren Stilistik zu beschreiben, ist weitaus schwieriger, weil auch die historischen Situationen viel komplexer geworden sind. Aufschlüsse darüber gibt Abschnitt II des vorliegenden Handbuchs ,Praxisgeschichte der Rhetorik und Stilistik‘, in Sonderheit die Artikel 22 bis 25, in denen die rhetorische Praxis von der Barockzeit bis zur Gegenwart beschrieben wird.
4. Literatur (in Auswahl) Adamzik, Kirsten (1995): Textsorten ⫺ Texttypologie. Eine kommentierte Bibliographie. Münster (Studium Sprachwissenschaft 12).
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
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Norbert Richard Wolf, Würzburg (Deutschland)
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102. Fach- und gruppensprachliche Varietäten und Stil 1. 2. 3. 4. 5.
Fach- und Gruppensprachen als Varietäten Fach- und Gruppensprachen und Stil Exemplarische Darstellungen zu Fachtexten, Fachtextsorten und Stil Schlussbemerkungen Literatur (in Auswahl)
Abstract This contribution discusses the relationship between special languages/group languages and style. Based upon a definition of variety and of a functional categorization of special and group languages, the various status descriptions of this broad linguistic variety are discussed. A brief historical overview of the development of special, group and professional languages provides an insight into their linguistic and stylistic potential and prepares for a discussion of models for the classification of languages for specific purposes (LSP). Then, specific textual and linguistic features are analysed that constitute LSP style for selected genres. The contribution also focuses on the relation between the abstract notion of functional styles, genre styles and individual style. Moreover, the concept of technolects and minilects will be examined for their stylistic potential.
1.
Fach- und Gruppensprachen als Varietäten
1.1. Deinition Varietät In der angewandten Sprachwissenschaft verwendet man Begriffe wie ,Varietät‘, ,Lekt‘ (z. B. ,Techno- und Minilekt‘), ,Subsprache‘ oder ,Existenzform‘ zur Bezeichnung einer Submenge der Gesamt- bzw. Nationalsprache. Unter einer Varietät (auch Variante) wird „ein sprachliches System verstanden, das einer bestimmten Einzelsprache untergeordnet und durch Zuordnung bestimmter innersprachlicher Merkmale einerseits und bestimmter außersprachlicher Merkmale andererseits gegenüber weiteren Varietäten abgegrenzt wird“ (Roelcke 1999, 18 f.). Zu den abgrenzenden innersprachlichen Merkmalen gehören z. B. Laut und Schrift, Lexik, Syntax und Text, zu den außersprachlichen Merkmalen werden Region, gesellschaftliche Gruppe bzw. Schicht, Tätigkeitsbereich und geschichtliche Periode gezählt. Fachsprachen haben sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte mit der beruflichen Arbeitsteilung herausgebildet. Sie dienen dem Informationsaustausch im Fach, zur fächerübergreifenden Weitergabe von Wissen und zur fachexternen Kommunikation. Fachund Gruppensprachen lassen sich aufgrund ihrer historischen Einbettung, ihrer Fokussierung auf die verschiedenen Tätigkeits- und Kommunikationsbereiche des Menschen und ihrer gruppensprachlichen Sozialisation als Varietäten erfassen.
102. Fach- und gruppensprachliche Varietäten und Stil
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1.2. Fach- und Gruppensprachen im Varietätenmodell Die im traditionellen soziolinguistischen Varietäten-Modell des Deutschen (vgl. Löffler 2005, 79; vgl. Abb. 102.1) herausgearbeiteten fünf Varietätentypen korrelieren über die soziopragmatischen Kategorien Individuum ⫺ Gruppe ⫺ Gesellschaft sowie Situation, Region und Funktion auch mit den Fach- und Gruppensprachen.
Abb. 102.1: Varietätenmodell des Deutschen (nach Löffler 2005, 79)
Die Binnendifferenzierung der Fachsprachen (z. B. als Werkstatt-, Institutionen- und Theoriesprache) lässt ihre Mehrfachzuordnung als regionale, soziale, funktionale bzw. situative Varietäten zu. Trotz Überschneidung mit anderen „Lekten“ liegen die Fachund Berufssprachen durch ihre dominant funktionale und soziale Fokussierung im Schnittpunkt von Funktiolekt und Soziolekt. Dies hat terminologisch zu divergierenden Auffassungen zum Status der Fach- und Berufssprachen (auch in Relation zu den Wissenschaftssprachen) und letztendlich zu unterschiedlichen Forschungsansätzen geführt.
1.3. Fachsprachen zwischen Funktiolekt und Soziolekt Fachsprachen manifestieren sich in Fachtexten, die sich durch einen spezifischen Fachwortschatz, ausgewählte grammatische, syntaktische und stilistische Sprachmittel auszeichnen und sich übergreifend als (Fach-)Textsorten charakterisieren lassen. Fachsprache dient der Ausführung von fachlich determinierten Sprachhandlungen, woraus sich ihre vordergründige Zuordnung zu den funktionalen Varietäten (Funktiolekte, Funktionalstile, Register) rechtfertigt. Durch die parallele Zugehörigkeit ihrer Nutzer zu sozialen Gruppen mit gleicher Tätigkeitsorientierung rücken die Fachsprachen aber auch in die Nähe der Soziolekte (Hoffmann 2004, 234 f.). Dies geschieht vor allem, wenn (1) die
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Abb. 102.2: Gliederung der Soziolekte (nach Löffler 2005, 115)
Betrachtungsperspektive auf eine bestimmte Tätigkeitsgruppe gerichtet wird (z. B. Jäger, Fischer) und wenn (2) bei der Untersuchung von Interaktionen „außerhalb der Gruppe“, z. B. zwischen Fachexperten und Laien (Arzt-Patient, Verwaltung-Bürger, Automechaniker-Kunde), (un)gewollt Sprachbarrieren entstehen. In dieser soziolektalen Ausrichtung lassen sich Fachsprachen als Gruppen-/Schichtensprachen charakterisieren. Terminologisch gesehen ist es jedoch ratsam, aus Sicht der Fachsprachenforschung von Wissenschafts-, Fach- und Berufssprachen zu sprechen. Unter soziolektalen Aspekten kategorisiert Löffler (2005, 115) Berufs-, Fach- und Wissenschaftssprachen über das konstitutive Merkmal „berufsbedingt“ zu den Gruppensprachen und grenzt diese von den Sondersprachen (nichtberufsbedingte Gruppensprachen) ab (vgl. Abb. 102.2). Gruppensprachen sind durch das jeweilige Berufs- bzw. Tätigkeitsgebiet klar definiert. Im Unterschied dazu betreffen Sondersprachen nicht berufsbedingte soziale Gruppen, deren Soziolekt sich z. B. nach Alter (Gerontolekt) und Geschlecht (Sexolekt/Genderlekt) bestimmt. Unter soziolinguistischen Aspekten ist es daher gerechtfertigt, Fachsprachen als Gruppensprachen zu bezeichnen. Zum Verhältnis von Fachsprachen versus Funktio- und Soziolekt konstatiert Gläser (1979, 17): „Sofern man den Soziolekt auf den berufsspezifischen Sprachgebrauch einer durch die gesellschaftliche Produktion gebildeten Kommunikationsgemeinschaft einschränkt, ist er mit Fachsprache gleichzusetzen. Sofern man ihn auf andere Geltungsbe-
102. Fach- und gruppensprachliche Varietäten und Stil
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reiche wie Altersgruppen und andere langzeitliche Gemeinschaften, die sich einer Sondersprache bedienen, ausweitet, ist er nicht mit Fachsprache identisch.“ Diese Differenzierung verfolgt auch Michael Hoffmann (2007, 6 f.) mit seinem Modell des Varietätenraums: Soziolekte (Gruppensprachen) beziehen sich auf Gruppen; Professiolekte (Fachsprachen) beziehen sich auf Fachgebiete; Funktiolekte beziehen sich auf Kommunikationsbereiche. Subordinierte Varietätenklassen spezifizieren diese „Lekte“, so wird den Professiolekten die Varietätenklasse Fachjargons (umgangssprachlich geprägte Professiolekte) zugeordnet; zu den Soziolekten gehören die Gruppensprachen (mit den Gruppenjargons).
2. Fach- und Gruppensprachen und Stil 2.1. Zur Entwicklung der Fachsprachen Wenn man Fachsprachen als Varietäten auffasst, sind die funktionalen und sozialen Bedingungen und auch die sozialen und historischen Gegebenheiten, die für einen Tätigkeitsbereich relevant sind, zu betrachten. Ein kurzer Überblick zur Entwicklung der deutschen Fachsprachen soll diesen Prozess unterstützen (vgl. Überblicksdarstellungen bei Fluck 1996; von Hahn 1983; Hoffmann 1984; Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand 1998/1999; Roelcke 1999). Roelcke (1999, 159 f.) unterscheidet drei Perioden der Fachsprachenentwicklung: (1) Herausbildung der mittelalterlichen Fachsprachen (8. bis Mitte des 14. Jhd.); (2) Herausbildung der frühneuzeitlichen Fachsprachen (14. bis ausgehendes 17. Jhd.) und (3) Herausbildung der neuzeitlichen/modernen Fachsprachen (ab 18. Jhd. bis heute). Die deutsche Fachsprachengeschichte beginnt parallel zur deutschen Sprachgeschichte im 8. Jahrhundert und ist aufgrund der mangelnden Quellenlage relativ unvollständig. Die mittelalterlichen Fachsprachen sind im Wesentlichen Handwerkersprachen mit meist mundartlicher und sprechsprachlicher Ausprägung. Es fehlen noch nationalsprachliche Wissenschaftssprachen, so dass die Überlieferung von Fachwissen über Generationen durch das „Hören-Sagen“ überwiegt. Das Lateinische dominiert die Anfänge der wissenschaftlichen und institutionellen Kommunikation. Schriftliche (Fach-)Texte des Mittelalters sind der Wissensvermittlung gewidmet und tragen enzyklopädischen Charakter oder sie regeln die soziale und rechtliche Organisation fachlicher Tätigkeiten (z. B. Zunft- und Bauordnungen). Die mittelalterliche Fachliteratur folgt dem Fächerkanon der Artes mit der Gliederung: Artes magicae (Wahrsagungen und Beschwörungen ⫺ Geomantia, Hyromantia, Aeromantia und Pyromantia), sieben Artes mechanicae und die Artes liberales. Die sieben Artes mechanicae gliedern sich in: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)
Lanificium ⫺ Wollverarbeitung und verarbeitendes Handwerk; Armatura ⫺ Waffenherstellung und technisches Handwerk; Navigatio ⫺ Reisen und Handel; Agricultura ⫺ Landwirtschaft und Gartenbau; Venatio ⫺ Jagd und Lebensmittelerzeugung; Medicina ⫺ Heilkunde Theatrica ⫺ Schauspiel und so genannte Hofkünste.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Die Schriften aus den Artes Mechanicae sind teilweise in Deutsch verfasst, z. B. die Färberliteratur aus dem 14. Jahrhundert, die Literatur der Baukunst, die Reise- und Handelsliteratur sowie die Anleitungen für Obst- und Weinbau und für die Jagd. Ursprünge für die Entwicklung vieler heutiger angewandter Wissenschaften können in den Schriften der medizinischen und naturkundlichen Fächer der Artes mechanicae gefunden werden. Die Kommunikationspartner der handwerklichen und der frühen technischen Literatur waren zum einen die Angehörigen eines niederen Standes, die Fachsprache in ihrer mündlichen, mundartlichen und regionalen Prägung verwendeten, häufig in sehr unsystematischer Form; zum anderen Personen des höheren (weltlichen und geistigen) Standes, die durch Nutzung von Fachsprache in Schriftform und mit ausgeformter Stilistik auch ihren sozialen Status anzeigten. Latein war die vorherrschende Sprache der gehobenen Schichten; in den eher mündlich geprägten Handwerkersprachen der unteren Schichten zeigten sich Interferenzen zwischen dem Deutschen und Lateinischen. In der frühen Rechts- und Verwaltungskommunikation tritt aufgrund einer noch nicht vorhandenen Vereinheitlichung eine gewisse Volkstümlichkeit auf (vgl. Roelcke 1999, 162⫺170). Die Herausbildung der frühneuzeitlichen Fachsprachen fällt in die Zeitepochen der Renaissance und des Humanismus. Sie zeigt eine starke Orientierung an der griechischen und römischen Antike, was mit einer Fokussierung auf das Individuum, auf weltliche Werte und mit einem veränderten Interesse an Wissenschaft und Technik (Gründung der ersten Universitäten) sowie dem Aufblühen von Städten und des Handels verbunden ist. Die Erfindung des Buchdrucks schafft die Grundlage für die Verschriftlichung und die bessere überregionale Verbreitung von Fachwissen. Es kommt zur Herausbildung selbstständiger naturwissenschaftlicher Lehrfächer (Chemie, Biologie, Physik), zur weiteren Spezialisierung im Handwerk und zu einer theoretischen Fundierung der Artes mechanicae als frühe Formen der angewandten Wissenschaften. Auch die Handwerkssprachen bestehen differenziert fort. Darüber hinaus gibt es bereits erste Versuche zur Schaffung nationalsprachlicher Institutionen- und Wissenschaftssprachen (vgl. Dürer ⫺ mathematische Fachsprache, Paracelsius ⫺medizinische Fachsprache, Luther ⫺ Bibelübersetzung). Der Kreis der fachsprachlichen Textproduzenten erweitert sich von den Klerikern und Adligen auf eine bürgerliche Gelehrtenschicht (u. a. Kanzleischreiber, Beamte, Juristen, Ärzte). Mit der Erweiterung der fachlichen Kommunikationsbereiche ist auch die Erweiterung des Textsortenspektrums verbunden: Essays, Briefe, Thesen, Lexika, Wörterbücher, Lehrbücher, Kommentare. Der Übergang zum römischen Recht (1518) führt zur Übersetzung zahlreicher Gesetzestexte und Schriften (Urkunden, Erlasse, Verordnungen). Die Entwicklung der frühneuzeitlichen Fachsprachen ist besonders durch den Übergang vom Lateinischen zum Deutschen als Kommunikationsmittel in den Fachsprachen geprägt, durch die Herausbildung von Terminologien und Fachnomenklaturen sowie durch die Schaffung neuer Textsorten (vgl. Roelcke 1999, 170⫺176). Über die Periode der Aufklärung und unter dem gewaltigen Einfluss der industriellen Revolution etablieren sich bis ins 19. Jahrhundert die neuzeitlichen Fachsprachen der Natur- und Geisteswissenschaften, der Technik und angewandten Wissenschaften sowie die Institutionensprachen. Diese Entwicklung ist durch eine starke Binnendifferenzierung der Fächer und Spezialisierung der einzelnen Fachgebiete sowie durch ein explosionsartiges Anwachsen des Fachwissens gekennzeichnet. Die technischen Fortschritte des 19. und 20. Jahrhunderts bringen auch zahlreiche neue Fachbereiche hervor, so dass starke
102. Fach- und gruppensprachliche Varietäten und Stil fachsprachliche Interferenzen entstehen, was sich in der fächerübergreifenden Verwendung von Fachlexik und der wechselseitigen Beeinflussung von Terminologiesystemen zeigt. Es kommt zu einer Überregionalisierung im Sprachgebrauch (mit Tendenzen zur Standardisierung) und zu einer stärkeren Popularisierung von Fachwissen. Das Spektrum der Kommunikationspartner im handwerklichen, technischen und auch wissenschaftlichen Bereich erweitert sich und reicht vom Fachmann über den Spezialisten in einer Nachbardisziplin bis hin zum angehenden Fachmann und zum Laien. Auch in den Geisteswissenschaften kommt es zur weiteren Verselbständigung von Disziplinen (Psychologie) und auch zur Interdisziplinarität, die sich besonders im Verlauf des 20. Jahrhunderts fortsetzt. In diesem Zusammenhang treten auch eine Reihe von textuellen und stilistischen Veränderungen in der Fachkommunikation auf. Waren die wissenschaftlichen Schriften zunächst sehr stark vom individuellen Verfasserstil geprägt (z. B. Fallstudien in der Medizin), tritt durch die Forschergruppe als kollektiver Verfasser ein Trend zur Deagentivierung/Unpersönlichkeit im Fachstil ein. Die Verbesserung der Untersuchungsmethodik und Experimentiertechnik in den Naturwissenschaften erhöht die Aussagekraft von Experimenten, die Fachtexte gewinnen an Sachlichkeit und Objektivität. Die Komplexität der zu beschreibenden Sachverhalte führt zu sachlogischer Anordnung der Kommunikationsinhalte und zur besseren Strukturierung von Fachtexten (z. B. Standards in der Makrostruktur von Fachzeitschriftenartikeln) und zum Einsatz von Gliederungssignalen und metakommunikativen Elementen, die die Textverständlichkeit erhöhen. Die Vielfalt an neuen Termini zwingt zur stringenten Definition, besonders in den Geisteswissenschaften mit ihrer ausgeprägten „Schulenbildung“; in den Naturwissenschaften erhöht sich der Anteil an Formeln und Gleichungen. Der zu einem Thema vorliegende Informationsumfang wächst und auch der Bild- und Graphikanteil in wissenschaftlichen Publikationen nimmt zu. Dadurch erhöht sich der Anteil referierender und vor- und rückverweisender Passagen in den verschiedenen Textsorten der fachinternen Kommunikation. Zwar erhöht sich die Aussagekraft von Untersuchungsergebnissen, aber gleichzeitig setzt auch ein Trend zur Relativierung dieser Ergebnisse ein, was sich sprachlich in einen hohen Anteil von Hecken- und Modalausdrücken widerspiegelt. Nachdem in den frühen Etappen der Fachsprachenentwicklung das Lateinische in den Wissenschaftssprachen dominierend war, kommt diese Rolle nach dem 2. Weltkrieg dem Englischen zu (vgl. Roelcke 1999, 176⫺186). Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesse in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft führen mit dem Übergang ins 21. Jahrhundert dazu, dass Englisch in der Fachkommunikation immer häufiger als die Lingua franca verwendet wird. Sehr nachhaltig ist der Einfluss der englischen Sprache z. B. auf das Deutsche in den Bereichen Terminologie, Vortrags- und Schreibstil, Textmuster- und Textsortengestaltung. Internationale Publikationsorgane und Publikationsdruck fördern diese Tendenz häufig über die Standardisierung von Textsorten nach anglophonem Vorbild (vgl. Skudlik 1990; Ammon 1998b). Die fortschreitende Spezialisierung des Fachwissens, die Verwendung des Englischen und das Eindringen von fachsprachlicher Lexik in die Allgemeinsprache (z. B. durch Popularisierung von Fachwissen) schaffen teilweise auch Kommunikationsbarrieren. Fachtextlinguistische Analysen sind deshalb nicht nur auf die Beschreibung der Fachsprachen und der Fachkommunikation per se, sondern auf das Gesamtgefüge der fachsprachlichen Kommunikation auszurichten, was mit der Orientierung auf die „Fachtexte-in-Funktion“ und durch die Interdisziplinarität der Fachsprachenforschung zunehmend gelingt.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik Roelcke (1999, 15 ff.) spricht in seinem Überblick zum Stand der Fachsprachenforschung von drei Konzeptionen: (1) der systemlinguistischen (ca. 1950⫺1970); (2) der pragmalinguistischen (mit Beginn in den 70er und 80er Jahren) und (3) der kognitionslinguistischen (seit 1990). Die systemlinguistischen Untersuchungen betrachteten Fachsprache als System sprachlicher Zeichen, das in einem fachlich eingrenzten Bereich Verwendung findet; die Analysen waren besonders auf den gemeinsamen Zeichenvorrat von Textproduzent und -rezipient fokussiert (Abgrenzung Fach-und Allgemeinsprache, Terminologie). Die pragmalinguistische Konzeption setzte den Schwerpunkt auf den Fachtext in seinem „kound kontextuellen“ Zusammenhang“ (Roelcke 1999, 16). Im Mittelpunkt standen die fachlichen Kommunikationssituationen in Relation zu ihrer sprachlichen Realisierung durch den Fachtext und seine Merkmale, wodurch die Ermittlung prototypischer Textsorten und deren sprachstilistischer und kulturkontrastiver Beschreibung möglich wurde (vgl. die Leipziger Arbeiten zur kontrastiven Fachtextlinguistik). Die seit ca. 1990 verfolgte kognitionslinguistische Konzeption bezieht darüber hinaus die stärker individuellen Voraussetzungen der Kommunikationspartner (kognitive Strukturen und Prozesse, Interiorisierung und Exteriorisierung von Wissen) in die Analyse der Fachkommunikation ein. In diesem Zusammenhang steht auch die Erweiterung der Definition von Fachkommunikation durch Hoffmann: „Fachkommunikation ist die von außen oder von innen motivierte bzw. stimulierte, auf fachliche Ereignisse oder Ereignisabfolgen gerichtete Exteriorisierung und Interiorisierung von Kenntnissystemen und kognitiven Prozessen, die zur Veränderung der Kenntnissysteme beim einzelnen Fachmann und in ganzen Gemeinschaften von Fachleuten führen.“ (Hoffmann 1993, 614).
2.2. Statusbestimmung von Fach- und Gruppensprachen Hoffmann (2004, 232 ff.) postuliert fünf konzeptuelle Betrachtungsweisen von Fachsprachen, in denen die Rolle des Fachstils unterschiedlich stark gewichtet wird: (1) (2) (3) (4) (5)
Fachsprachen als Varietäten Fachsprachen als Subsprachen Fachsprachen als Gruppensprachen Funktionalstile bzw. Funktionalsprachen Fachsprachen als Technolekte, Register, Wissenschafts-, Technik- bzw. Institutionenund Berufssprachen.
2.2.1. Fachsprachen als Varietäten Möhn/Pelka (1984, 26) vertreten eine varietätenorientierte, funktionale Auffassung von Fachsprache: „Wir verstehen unter Fachsprachen heute die Variante der Gesamtsprache, die der Erkenntnis und begrifflichen Bestimmung fachspezifischer Gegenstände sowie der Verständigung über sie dient und damit den spezifischen kommunikativen Bedürfnissen im Fach allgemein Rechnung trägt. […] Entsprechend der Vielzahl der Fächer, die
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man mehr oder weniger exakt unterscheiden kann, ist die Variante ,Fachsprache‘ in zahlreichen mehr oder weniger exakt abgrenzbaren Erscheinungsformen realisiert, die als Fachsprachen bezeichnet sind.“ Fachsprachen werden folglich als sprachliche Handlungen von Gruppen in ihrem Tätigkeitsumfeld bzw. den Arbeitskontexten von Fächern betrachtet. Im Mittelpunkt steht die fachliche Sprachverwendungssituation, in der auch stilistische und textlinguistische Aspekte von Bedeutung sind (vgl. Adamzik 1998; Ammon 1998a). Zur Charakterisierung dieser Sprachverwendungssituationen nutzte von v. Hahn (1983, 72⫺83) folgende Kriterien: (1) Abstraktionsebene, (2) Kommunikationsdistanz (eng, mittel, weit) zwischen den Kommunikationspartnern, (3) kommunikative Sprachhandlungen (Organisation, Information und Instruktion) sowie (4) Adressatengliederung zur Erarbeitung eines dreidimensionalen Analyserasters, das zur Charakterisierung des fachsprachlichen Kommunikationsgefüges dient. So entsteht sein funktionales Varietätenspektrum von insgesamt 36 Fachsprachentypen als Grundlage für die spezifische Beschreibung von Texten (z. B.: Gebrauchsanweisung ⫺ Nutzung, weit, Instruktion, schriftlich, anonymer Adressat, wenig terminologiehaltig, stark deklariert, redundanzarm, umfangsarm, vorwiegend asyntaktisch).
2.2.2. Fachsprachen als Subsprachen Wenn man, wie Hoffmann (1984, 53; 1998), Fachsprachen als Subsprachen betrachtet, so wird im fachlichen Kommunikationsgefüge ein Teilsystem des gesamten Sprachsystems in einem Text aktualisiert. Hoffmann definiert Fachsprache deshalb als „die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die in einem fachlich begrenzbaren Kommunikationsbereich verwendet werden, um die Verständigung zwischen den in diesem Bereich tätigen Menschen zu gewährleisten“ (Hoffmann 1984, 53). Die Kommunikationsbereiche werden in seinem Forschungsansatz über die horizontale Gliederung (nach der Fachgebietsstruktur) und die vertikale Schichtung (Kommunikationsstruktur eines Faches) charakterisiert, wobei Faktoren wie Art des Gegenstandes, Begriffs- und Bezeichnungssystem des Fachgebietes, Adressatenkreis und Medium der Kommunikation ebenso berücksichtigt werden wie Kommunikationspartner, Abstraktionsstufe (Fachlichkeitsgrad), äußere Sprachform und Milieu (Details in Hoffmann 1984, 70). Roelcke (1999, 40) setzt dieses System überblicksartig in Relation zur dreigliedrigen Klassifikation von Ischreyt (1965) (vgl. Abb. 102.3). Für die Einzeltextanalyse entwickelt Hoffmann das Modell der „kumulativen Textanalyse“, dass die Fachtextmerkmale auf allen Ebenen systematisch erfasst und zu Verallgemeinerungen mit Blick auf ein bestimmtes Fachgebiet (z. B. im Bereich Terminologie) oder auf eine Fachtextsorte führen kann. Im Mittelpunkt steht der Fachwortschatz als das markanteste Merkmal jeder Fachsprache, darüber hinaus werden aber auch die Makro- und die Mikrostrukturen auf Absatz- und Satzebene (z. B. Thema-Rhema-Gliederung) betrachtet. Stilistische Analysen spielen in diesem Modell jedoch nur eine untergeordnete Rolle.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik ISCHREYT (1965)
HOFFMANN (1981)
Sprachliche/ Semiotische Merkmale
Kommunikative Merkmale
Theoriesprache (Wissenschaftssprache)
Sprache der theoretischen Grundlagenwissenschaften
Künstliche Symbole für Elemente und Relationen
Wissenschaftler ⫺ Wissenschaftler
Sprache der experimentellen Wissenschaften
Künstliche Symbole für Elemente; natürliche Sprache für Relationen (Syntax)
Wissenschaftler ⫺ Techniken/ Wissenschaftler ⫺ wiss.-technisches Personal
Sprache der angewandten Wissenschaften und der Technik
Natürliche Sprache mit sehr hohem Anteil an Fachterminologie und einer streng determinierten Syntax
Wissenschaftler/ Techniker ⫺ wiss.technisches Personal der materiellen Produktion
Sprache der materiellen Produktion
Nätürliche Sprache mit hohem Anteil an Fachterminologie und einer relativ ungebundenen Syntax
Wissenschaftliche und technische Leiter der materiellen Produktion ⫺ Meister ⫺ Fachangestellte
Natürliche Sprache mit einigen Fachtermini und ungebundener Syntax
Vertreter der materiellen Produktion ⫺ Vertreter des Handels ⫺ Konsumenten ⫺ Konsumenten
Fachliche Umgangssprache
Werkstattsprache Sprache der Konsumenten (Verteilersprache)
Abb. 102.3: Vertikale Fachsprachengliederungen nach Ischreyt und Hoffmann (nach Roelcke 1999, 40)
2.2.3. Fachsprachen als Gruppensprachen Eine soziolinguistisch ausgerichtete Betrachtungsweise von Fachsprachen entsteht, wenn man Varietät bzw. Subsprache mit sozialen Gruppen/Schichten in Beziehung setzt. Eine (formelle/informelle) Gruppe besteht aus Individuen, die in einem fortlaufenden Kommunikations- und Interaktionsprozess miteinander stehen und ein gemeinsames Ziel/Interesse verfolgen. Formelle Gruppen (z. B. Familie, Schulklasse, Berufsgruppe) verfügen über ein fest gefügtes Normen- und Wertesystem. Informelle Gruppen bilden zwar oft auch ein Normen- und Wertesystem, das Individuum nimmt dieses System jedoch freiwillig an, z. B. eine Parteizugehörigkeit, eine Mitgliedschaft im Skatclub, in der Jugendclique, im Sportverein. Folglich korrelieren die Kommunikationspartner in den Fachsprachen mit bestimmten formellen Gruppen (z. B. bei der Kommunikation unter Ärzten gegenüber der Kommunikation unter Handwerkern). Fachsprachen erhalten so den Status von Gruppensprachen. Im Mittelpunkt dieser Konzeption stehen die soziale Konstellation der Kommunikationspartner, ihr Sozialprestige sowie Sprachbarrieren und ihre Beseitigung (vgl. Untersuchungen zur Arzt-Patient-Kommunikation, Diskurs zwischen Anwalt und Klient). Wichter (1994, 42 f.) definiert Fach und Fachsprache aus stärker soziolinguistischer Sicht: „Das Fach ist personal gesehen die Gruppe der Experten. […] Eine Fachsprache
102. Fach- und gruppensprachliche Varietäten und Stil
1715
ist das sprachliche System der Experten oder kurz das Expertensystem“. Im Fokus dieser Untersuchungsrichtung stehen pragmatische Kommunikationsaspekte.
2.2.4. Fachsprachen als Funktionalstile Die Theorie der Funktionalstile geht auf die Prager linguistische Schule und die Moskauer Schule der Funktionalstilistik zurück (vgl. Fleischer/Michel 1977; Gläser 1979). Stil ist nach Fleischer/Michel (1977, 41) „die auf charakteristische Weise strukturierte Gesamtheit der in einem Text gegebenen sprachlichen Erscheinungen, die als Ausdrucksvarianten innerhalb einer Reihe synonymischer Möglichkeiten von einem Sprecher/ Schreiber zur Realisierung einer kommunikativen Funktion in einem bestimmten Tätigkeitsbereich ausgewählt worden sind.“ Stil und Auswahl sprachlicher Ausdrucksmittel sind durch die Grundfaktoren des Kommunikationsprozesses bestimmt: (1) Voraussetzungen bei den Kommunikationspartnern, (2) Mitteilungsgegenstand und Verständigungsweg (Medium), (3) Verständigungsart und (4) Situation. Stil erstreckt sich auf den einzelnen Text (Individualstil), aber auch auf eine Klasse von Texten mit gleichen Stilmerkmalen (Textsortenstil, Bereichsstil) und auf einen Kommunikationsbereich (Funktionalstil). Die Theorie der Funktionalstile geht davon aus, dass sich Sprache nach dem Umfang und dem Zweck des Sprachgebrauchs in verschiedene Teilsysteme (funktionale Stile) gliedert. Zwischen einer funktionalen Sprache, dem in ihr verwendeten Stil (Funktionalstil) und dem durch ein Fach geprägten Stil bestehen Beziehungen. So unterscheidet Havra´nek (1976) vier funktionale Sprachen/Stile (vgl. Fluck 1996, 13): (1) vorwiegend kommunikativer Stil: im Alltag (Umgangssprache, Sprechsprache); (2) fachlich-praktischer Stil: im öffentlichen Verkehr (Arbeits-, Sachsprache); (3) wissenschaftlich-theoretischer Stil: in den Wissenschaften und (4) ästhetischer Stil: in der Literatur (Sprache der Dichtung). In der Moskauer Schule werden fünf Funktionalstile unterschieden (vgl. Riesel 1970, 74): (1) Stil des Alltagsverkehrs; (2) Stil der schönen Literatur (Belletristik); (3) Stil der Publizistik; (4) Stil des öffentlichen (amtlichen) Verkehrs; (5) Stil der Wissenschaft (Details vgl. Busch-Lauer zu funktionalen Varietäten und Stil in diesem Band). Die Fachsprachenforschung knüpft in ihren Stilbetrachtungen insbesondere an den ,Stil der Wissenschaft‘ (Benesˇ 1969; Drozd/Seibicke 1973) an. Gläser (1979; 1990; 1998) liefert anhand von Untersuchungen zur englischen Sprache den umfassendsten Einblick in den Zusammenhang von Fachsprache und Individual-, Textsorten- und Funktionalstil. Wie jeder Text verfügt auch der Fachtext über obligatorische und fakultative Stilelemente, deren Auswahl und Anordnung durch aussersprachliche Faktoren (z. B. Kommunikationsintention), fachliche sowie textsortenbezogene und individuelle Kriterien determiniert ist. Zu den obligatorischen Elementen gehören nach Gläser (1979, 32) die stilistisch neutralen Termini und Nomenklaturzeichen sowie die stilistisch gefärbten Jargonismen (Professionalismen). Unter den fakultativen Elementen erfasst sie semantische und syntaktische Stilfiguren sowie die Darstellungshaltung des Autors zum Kommunikationsgegenstand, zum Text und zum Textrezipienten über das Kriterium der Metakommunikation.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik Der Fachstil gilt als Abstraktion aus Textsortenstilen und ist die „für die Gestaltung eines Fachtextes charakteristische Auswahl und Anordnung sprachlicher Mittel, die in einem Gesamtzusammenhang von Absicht, Inhalt, Form und Wirkung der Aussage fungieren“ (Gläser 1979, 26). Nach den Kriterien (1) Abstraktionsgrad des Textes; (2) Kommunikationspartner; (3) spezielle Aussage des Fachtextes und (4) sprachliche (textinterne) Gestaltung unterscheidet Gläser (1979, 82) unter Zuordnung typischer Textsorten die folgenden fünf für beliebige Fachgebiete geltenden Fachstile: (1) theoretisch wissenschaftlich-technischer Fachstil (z. B. Monographie, wissenschaftlicher Zeitschriftenartikel, wissenschaftlicher Vortrag); (2) populärwissenschaftlicher Fachstil (z. B. populärwissenschaftlicher Beitrag in einer Tageszeitung, öffentlicher Vortrag); (3) didaktischer Fachstil (z. B. Lehrbuch, Lexikonartikel, Lehrbrief, Vorlesung); (4) direktiver Fachstil (z. B. Gesetzestexte, Verordnungen, Verträge, Gebrauchs- und Bedienungsanweisungen); (5) praktischer Sachstil (z. B.: Kaufgesuche, Stellenanzeigen). „Fassen wir die Termini Funktionalstil ⫺ Fachstil ⫺ Textsortenstil in ihrer Wechselbeziehung zusammen“, schreibt Gläser (1979, 27), „dann kann der Funktionalstil als allgemeine Arbeitshypothese für die in verschiedenen Tätigkeitsbereichen geltenden Stilprinzipien und die gebrauchsfertigen Muster der Sprachverwendung angesehen werden, während der Fachstil als Substil des Funktionalstils innerhalb der einzelnen Fachsprachen, die über die Bereiche Wissenschaft, Technik und öffentlichen Verkehr hinausreichen, verstanden werden soll. Innerhalb des Fachstils gibt es eine Vielfalt von Textsortenstilen, die ihrerseits Aktualisierungen des Fachstils sind.“ Über umfangreiche Fachtextuntersuchungen aus verschiedenen Fachgebieten gelangt Gläser (1990, 50 f.) nicht nur zu einer Typologie schriftlicher Fachtextsorten, sondern auch zu einer prototypischen Beschreibung von Stilqualitäten von Textsorten der fachinternen und fachexternen Kommunikation (vgl. 3). Sowohl die Textsortenklassifikation als auch die detaillierten Fachtextsortenbeschreibungen waren wegweisend für weiterführende textlinguistische, stilistische und pragmatische Untersuchungen.
2.2.5. Fachsprachen als Technolekte, Register, Institutionen- und Berussprachen (a) Technolekte/Minilekte Laure´n/Nordman (1996) nutzen die vorliegenden Charakterisierungen des fachlichen Kommunikationsgefüges für ihre unter „Technolekt“ und „Minilekt“ durchgeführten Fachtextuntersuchungen in sechs schwedischen Technolekten: Jurisprudenz, Zivilrecht, Betriebswirtschaft, Computertechnik sowie Kommunikationstheorie und Linguistik. Technolekt korrespondiert mit dem Begriff Kommunikationsbereich/Fachsprache; Minilekte hingegen sind nach Laure´n/Nordman (1996, 72) „Fachsprachen, die von einer sehr begrenzten Gruppe Spezialisten verwendet werden oder mit einem sehr begrenzten Spezialgebiet verbunden sind“ (z. B. Wetterberichte, Strickanweisungen, Seaspeak ⫺ von Seeleuten verwendete Fachsprache), d. h. in unserem bisherigen Verständnis sind sie eher als Textsorten/Textsortenvarianten aufzufassen. Der Vorteil ihres Analyseverfahrens besteht in der Einbeziehung kognitionslinguistischer Aspekte, die bisher weniger beachtet wurden, z. B.: der Verfasser und sein Blickwinkel auf den Text, den Inhalt und den Leser;
102. Fach- und gruppensprachliche Varietäten und Stil
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semantische Referenzbeziehungen; Textrhythmus und Lesbarkeit; Modalität; Text-BildKommunikation/Metaphorik. (b) Register Neben den skizzierten Statusbestimmungen werden Fachsprachen, besonders in der britischen Linguistik, auch über die soziolinguistische Kategorie des „registers“ (vgl. Hess-Lüttich 1998) beschrieben, d. h. als funktionale Varianten des Sprachgebrauchs in der Fachkommunikation (vgl. ausführlich Gläser 1979, 65 ff.). (c) Institutionen- und Berufssprachen (vgl. Wichter 1994) Im Mittelpunkt von Untersuchungen innerhalb dieser Konzeption stehen asymmetrische Gebrauchssituationen von Sprache, meist im institutionellen oder berufssprachlichen Kontext, in denen durch das fachliche Ungleichgewicht im Wissen der Kommunikationspartner (Experte und Laie), Missverständnisse entstehen bzw. auch Kommunikationsbarrieren. Typische Beispiele sind die Verwaltungssprache (z. B. Behördentexte), die mündliche Kommunikation zwischen Arzt und Patient oder zwischen Anwalt und Klient. Hoffmann (2004, 236) beurteilt diese Konzeption von „Fachsprachen als Institutionenund Berufssprachen“ als zu starke Eingrenzung von Fachsprache und wertet sie als Mischkonzeption von Funktionalstil, Varietät und Gruppensprache.
3. Exemplarische Darstellungen zu Fachtexten, Fachtextsorten und Stil Fachsprache manifestiert sich in Fachtexten, die durch die funktional-stilistische Auswahl von sprachlichen Mitteln aus allen Strukturebenen der Sprache charakterisiert sind. Eine Fachtextsorte als Abstraktion aus Fachtexten mit ähnlichen Merkmalen ist folglich „ein Bildungsmuster für die geistig-sprachliche Verarbeitung eines tätigkeitsspezifischen Sachverhalts, das in Abhängigkeit vom Spezialisierungsgrad von kommunikativen Normen bestimmt ist, die einzelsprachlich unterschiedlich ausgeprägt sein können.“ (Gläser 1990, 29). Über die situative, strukturelle Einbettung des Fachtextes, die Charakterisierung der Darstellungshaltung des Textverfassers und die Stilqualitäten (Stilfiguren, autorenspezifische Stilmerkmale, konnotierte Lexik) gelangt Gläser zu einer umfassenden Beschreibung schriftlicher, monologischer, fachinterner und fachexterner Textsorten (Gläser 1990, 60⫺255). Aus diesem Spektrum werden im Folgenden (1) der Zeitschritenaufsatz in den Varianten wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Aufsatz, (2) die Rezension und (3) das Abstract als typische Vertreter der wissenschaftlichen Fachkommunikation charakterisiert. Umfangreiche Einzeluntersuchungen und Überblicksdarstellungen zu Einzelsprachen, Fachgebieten und zur kontrastiven Fachtextlinguistik werden fortlaufend in der „Kleinen Bibliographie fachsprachlicher Untersuchungen“ erfasst.
3.1. Zeitschritenausatz Wissenschaftliche Zeitschriftenaufsätze (Gläser 1990, 66⫺73; Graefen/Thielmann 2007) dienen der Publikation neuester Forschungsergebnisse und haben sich in einem dynami-
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schen Prozess in einzelnen Disziplinen zu standardisierten Textsorten entwickelt. In den Naturwissenschaften und der Medizin unterscheidet man zwischen der stark genormten Experimentalstudie mit der „IMRAD-Struktur“ (Introduction ⫺ Material and Methods ⫺ Results and Discussion) und dem erörternden Übersichtsartikel sowie Fallstudien. In den Geisteswissenschaften weisen Experimentalstudien ebenfalls die fünfgliedrige Struktur auf; deutlich häufiger sind jedoch erörternde Fachaufsätze mit der dreigliedrigen Problemlösungsstruktur (Problemnennung ⫺ Problemerörterung ⫺ Problemlösung). Wissenschaftliche Zeitschriftenaufsätze richten sich an einen homogenen Kreis von Rezipienten mit gleichen fachlichen Voraussetzungen, daher liegt der Schwerpunkt auf einer stilistisch neutralen, sachbezogenen, unpersönlichen und objektiven Darstellungsweise. Der Stil ist diesen Anforderungen angemessen (hoher Passivanteil/Deagentivierung), keine emotionale Beteiligung des Verfassers; Verwendung von „Bescheidenheitsfloskeln“ (der Autor, der Verfasser); strikte Logik und Genauigkeit in der Anordnung der Themen, ohne Abschweifungen und Redundanz. Tradierte Termini werden nicht definiert, neue Fachwörter durch Arbeitsdefinitionen erklärt bzw. beim Bestehen verschiedener wissenschaftlicher „Schulen“ abgegrenzt. Der Anteil referierender und verweisender Passagen hat durch die Informationsfülle zu einem Fachthema zugenommen, dennoch bestimmen Stringenz in der Argumentation und Rationalität sowie Aussageökonomie die stilistische Gestaltung. In den abschließenden Teiltexten (Diskussion, Problemlösung) sind teilweise Heckenausdrücke und Modalwörter zur Eingrenzung der Aussagekraft zu finden. Dieses Phänomen scheint jedoch für einige naturwissenschaftliche Fächer spezifisch zu sein. Die Anglisierung dieser Textsorte führt zur Übernahme der für englische Fachartikel typischen strukturellen und stilistischen Muster. Im Gegensatz dazu steht der populärwissenschaftliche Zeitschriftenaufsatz. Er richtet sich an interessierte Nichtfachleute, die kein Spezialwissen haben und für die deutlich mehr Erklärungsbedarf bei Bezeichnungen, Sachverhalten und Prozessen besteht. Der populärwissenschaftliche Zeitschriftenaufsatz zeichnet sich durch Bildhaftigkeit, die direkte Verfasser-Leser-Kommunikation (implizites wir, direkte Anrede), Emotionalität, Illustration durch Beispiele und Vergleiche und Abschweifungen in auflockernder Funktion aus. Folgende Stilmittel sind typisch (vgl. Gläser 1979, 104 f.): Rezeptionsanreiz für den Leser durch impliziten Gesprächscharakter des Textes (Aufhänger, rhetorische Frage, Redewiedergabe ohne Belegcharakter); Paraphrasierungen und Illustrationen zur Herstellung von Leseanreiz, Fasslichkeit und Verständlichkeit; direkte Hinwendung zum Leser (Sie, wir); Rückgriff auf die Alltagserfahrung des Lesers durch Vergleiche und Metaphorik; Emotionalität und Dramatik in der Themenentwicklung; Anregung der Phantasie; alltags- und umgangssprachliche Wendungen; Verzicht auf Termini; anschauliche Umschreibung ihrer Bedeutung; zahlreiche nichtverbale Informationsträger zur Illustration.
3.2. Rezension Die Rezension gehört zu den „abgeleiteten/Sekundärtextsorten“ (Gläser 1990, 108⫺113), da sie sich inhaltlich auf einen bereits formulierten Text bezieht und so dessen Informationen durch Referieren und Bewerten interpretiert und beurteilt. Man unterscheidet zwischen der Besprechung eines Einzelwerkes, der Sammelrezension (mehrere Neuer-
102. Fach- und gruppensprachliche Varietäten und Stil
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scheinungen zu einem Thema) und Rezensionsartikeln (eher vergleichbar mit einem erörternden Übersichtsartikel). Rezensionen enthalten wertneutrale Angaben zur Veröffentlichung, die besprochen wird (Anlass, Gegenstand, Inhalt) und bewerten diesen Inhalt nach Neuigkeitswert, Erkenntniszuwachs, Praxisnutzen. Fakultativ ist eine Lese- bzw. Kaufempfehlung. Die Rezension ist unter strukturellen und stilistischen Aspekten nur wenig standardisiert, es ist vielmehr die subjektive Textsortenerfahrung, die der Verfasser einer Rezension nutzen kann, um eine sachbezogene und informative Einschätzung einer Publikation zu geben. Typische Stilmittel der Rezension sind: referierende und polemisierende Lexik; wertende Lexik, die teilweise auch emotional sein kann; klischeehafte Wendungen und Floskeln; Vergleiche und Metaphern zur Umschreibung und Verhüllung von negativen Wertungen; Abstraktionen; höfliche Kritik bzw. derbe Kritik unter Verwendung alltagssprachlicher Wendungen.
3.3. Abstract Abstracts (auch Kurzreferat, Kurzzusammenfassung) (vgl. Gläser 1990, 117⫺130; BuschLauer 2007) gehören in der heutigen Wissenschaftskommunikation unbestritten zu den am häufigsten verwendeten Texten. Darunter versteht man die nicht wertende Angabe des für Informations- und Dokumentationszwecke wesentlichen Inhaltes eines Schriftstückes. Die Rezeption soll dem Leser die Beurteilung der Relevanz des Gesamtdokumentes erleichtern. Nach dem Zeitpunkt der Texterstellung unterscheidet man retrospektive und prospektive Abstracts. Retrospektiv bedeutet, dass das Abstract nach der Produktion des Primärtextes entsteht (z. B. die Zusammenfassung für einen wissenschaftlichen Zeitschriftenaufsatz, die in einem Referateorgan erscheint) und prospektiv zeigt an, dass der Primärtext erst später entsteht (z. B. ein Konferenzabstract, auf den der Vortrag folgt). Nach dem Verfasser wird zwischen Autorenabstract, Fremdabstract und maschinell erstellten Abstract unterschieden. Nach dem inhaltlichen Bezug kann man zwischen indikativen und informativen Abstracts differenzieren. Indikative Abstracts weisen auf die inhaltlichen Schwerpunkte des Dokumentes in ihrer Abfolge hin, informative Abstracts folgen dem Informationsstrang (Kerninformationen) des Originaltextes (z. B. der IMRAD-Struktur). Nach der Form kann man zwischen Textabstracts (Geistesund Naturwissenschaften), Strukturabstracts (Medizin) und Schlagwortabstracts (Naturwissenschaften, Technik) unterscheiden. Typische Stilmerkmale sind die Kürze und Prägnanz (einfacher, teilweise elliptischer Satzbau, keine Redundanz und Metakommunikation; Schlagwortvorgabe beim Strukturabstracts, z. B. in der Medizin (Grundproblematik, Patienten und Methodik, Ergebnisse, Folgerungen); inhaltliche Kondensation (Terminifülle, Nominalstil); sachlogische, wertneutrale Inhaltsangabe (Aufzählungssätze); unpersönliche Ausdrucksweise; Parenthesen zur Sprachökonomie; formelhafte Wendungen für Einleitung und Schluss (Das Ziel des Beitrages …, Die Ergebnisse der Untersuchung weisen auf … hin).
4. Schlussbemerkungen Fachsprachen haben sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte mit der beruflichen Arbeitsteilung herausgebildet und diversifiziert. Sie dienen dem intrafachlichen, inter-
1720
IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
fachlichen und fachexternen Informationsaustausch bzw. der Vermittlung von Wissen. Fachsprachen manifestieren sich in Fachtexten, die sich durch einen bestimmten Fachwortschatz, ausgewählte grammatische, syntaktische und stilistische Sprachmittel auszeichnen und sich übergreifend als (Fach-)Textsorten als prototypische Kommunikationsmuster beschreibbar sind. Als solche sind sie durch spezifische sprachlich-stilistische Merkmale markiert. Das Spezifische der Fachsprachen gegenüber anderen Varietäten besteht im Fachwortgebrauch und in der Terminologie sowie in der charakteristischen Verwendung bestimmmter grammatischer, syntaktischer und stilistisch-rhetorischer Kategorien sowie der Art und Weise, wie Satz- und Textstrukturen konstruiert werden. Man kann zwischen Funktional-, Textsorten- und Individualstil unterscheiden. Standardisierungsprozesse in der Wissenschafts- und Fachkommunikation führen zu sprachökonomischen und stilistisch wenig markierten Fachtexten, besonders in den Naturwissenschaften und der Technik. Fachtexte der Geisteswissenschaften sind stärker individualstilistisch geprägt. Fach-, Berufs- und Wissenschaftssprachen unterliegen aufgrund der Sprachdynamik und durch Veränderungen im Fächerkanon einem steten Wandel, der von Diversifikation, Interdisziplinarität und der Globalisierung gekennzeichnet ist. Damit eng verbunden ist die Veränderung der kommunikativen, situativen und funktionalen Merkmale von Fachtexten und ihrer sprachlich-stilistischen Realisierungsformen.
5. Literatur (in Auswahl) Adamzik, Kirsten (1998): Fachsprachen als Varietäten. In: Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand (1998/1999), 181⫺189. Ammon, Ulrich (1998a): Probleme der Statusbestimmung von Fachsprachen. In: Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand (1998/1999), 219⫺229. Ammon, Ulrich (1998b): Ist Deutsch noch internationale Wissenschaftssprache? Englisch auch für die Lehre an den deutschsprachigen Hochschulen. Berlin/NewYork. Benesˇ, Eduard (1969): Zur Typologie der Stilgattungen der wissenschaftlichen Prosa. In: Deutsch als Fremdsprache 6, 225⫺233. Busch-Lauer, Ines-Andrea (2007): Abstracts. In: Peter Auer/Harald Baßler (Hrsg.): Reden und Schreiben in der Wissenschaft. Frankfurt/New York, 99⫺114. Drozd, Lubomir/Wilfried Seibicke (1973): Deutsche Fach- und Wissenschaftssprache. Wiesbaden. Fleischer, Wolfgang/Georg Michel u. a. (1977): Stilistik der deutschen Gegenwartssprache. 2., unveränd. Aufl. Leipzig. Fluck, Hans-Rüdiger (1996): Fachsprachen. Einführung und Bibliographie. 5. Aufl. Tübingen. Gläser, Rosemarie (1979): Fachstile des Englischen. Leipzig (Linguistische Studien). Gläser, Rosemarie (1990): Fachtextsorten im Englischen. Tübingen (Forum für Fachsprachen-Forschung 13). Gläser, Rosemarie (1998): Fachsprachen und Funktionalstile. In: Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand (1998/1999), 199⫺208. Graefen, Gabriele/Winfried Thielmann (2007): Der Wissenschaftliche Artikel. In: Peter Auer/Harald Baßler (Hrsg.): Reden und Schreiben in der Wissenschaft. Frankfurt/New York, 67⫺97. Hahn, Walther von (1983): Fachkommunikation. Entwicklung ⫺ Linguistische Konzepte ⫺ Betriebliche Beispiele. Berlin/New York. Havra´nek, Bohuslav (1976): Die funktionale Schichtung der Literatursprache (zuerst 1942). In: Scharnhorst/Ising (1976), 150⫺161.
102. Fach- und gruppensprachliche Varietäten und Stil Hess-Lüttich, Ernest B. (1998): Fachsprachen als Register. In: Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand (1998/1999), 208⫺218. Hoffmann, Lothar (1984): Kommunikationsmittel Fachsprache. Eine Einführung. 2., überarb. Aufl. Berlin (Sammlung Akademie-Verlag 44). Hoffmann, Lothar (1993): Fachwissen und Fachkommunikation. Zur Dialektik von Systematik und Linearität in den Fachsprachen. In: Theo Bungarten (Hrsg.): Fachsprachentheorie. Konzeptionen und theoretische Richtungen. Tostedt, Bd. 2, 595⫺617. Hoffmann, Lothar (1998): Fachsprachen als Subsprachen. In: Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand (1998/1999), 189⫺199. Hoffmann, Lothar/Hartwig Kalverkämper/Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.) (1998/1999): Fachsprachen. Languages for Special Purposes. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. An International Handbook of Special-Language and Terminology Research. 2 Bde. Berlin/New York. Hoffmann, Lothar (2004): Fachsprache/Language for Specific Purposes. In: Ulrich Ammon/Norbert Dittmar/Klaus J. Mattheier/Peter Trudgill (eds.): Sociolinguistics. Soziolinguistik. An International Handboork of the Science of Language and Society. Ein internationals Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. 2. vollst. neu bearb. Aufl. Berlin/New York, 232⫺238. Hoffmann, Michael (2007): Funktionale Varietäten des Deutschen ⫺ kurz gefasst. Potsdam. Ischreyt, Heinz (1965): Studien zum Verhältnis von Sprache und Technik. Düsseldorf. Kleine Bibliographie fachsprachlicher Untersuchungen. 28.⫺44. Fortsetzung. Hrsg. v. Ines-Andrea Busch-Lauer. In: Fachsprache 21⫺29. Laure´n, Christer/Marianne Nordman (1996): Wissenschaftliche Technolekte. Frankfurt a. M. u. a. (Nordeuropäische Beiträge aus den Human- und Geselschaftswissenschaften 10). Löffler, Heinrich (1994): Germanistische Soziolinguistik. 2., überarb. Aufl. Berlin (Grundlagen der Germanistik 28). Löffler, Heinrich (2005): Germanistische Soziolinguistik. 3. überarb. Aufl. Berlin (Grundlagen der Germanistik 28). Möhn, Dieter/Roland Pelka (1984): Fachsprachen. Tübingen (Germanistische Arbeitshefte 30). Riesel, Elise (1970): Der Stil der deutschen Alltagsrede. Leipzig. Roelcke, Thorsten (1999): Fachsprachen. Berlin (Grundlagen der Germanistik 37). Scharnhorst, Jürgen/Erika Ising (Hrsg.) (1976): Grundlagen der Sprachkultur. Beiträge der Prager Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege. Berlin (Sprache und Gesellschaft 8/1). Skudlik, Sabine (1990): Sprachen in den Wissenschaften. Deutsch und Englisch in der internationalen Kommunikation. Tübingen (Forum für Fachsprachen-Forschung 10). Wichter, Sigurd (1994): Experten- und Laienwortschätze. Umriß einer Lexikologie der Vertikalität. Tübingen (Germanistische Linguistik 144).
Ines-Andrea Busch-Lauer, Leipzig (Deutschland)
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
103. Funktionale Varietäten und Stil 1. 2. 3. 4.
Sprachfunktionen, Funktionalstile und funktionale Varietäten Funktionale Varietäten und ihre kommunikativen, sprachlichen und stilistischen Merkmale Schlussbemerkungen Literatur (in Auswahl)
Abstract Based upon the functions of linguistic signs and their use in various situations, this contribution describes functional varieties both as proposed by the theory of functional stylistics and by the model of linguistic varieties of the German language. Functional varieties are defined as specific forms of oral and written linguistic expression which are characterized by a specific field of human activity and the respective communicative behaviour of the communication partners. The traditional variety model of the German language covers these functional styles as functional varieties. The theory of functional styles traditionally differentiates five types of styles: (1) everyday language, (2) poetic and literary language, (3) scientific language, (4) administrative language, and the (5) language of journalism. The variety model of Hoffmann (2007, 6) extends the functional varieties by (6) the language of advertisement. The six functional varieties are described with the help of their communicative function and setting, the genre types most frequently used and their style principles and linguistic expression.
1.
Sprachunktionen, Funktionalstile und unktionale Varietäten
1.1. Sprachunktionen Nach dem Organonmodell von Karl Bühler (1982, 28⫺33) unterscheidet man drei Grundfunktionen sprachlicher Zeichen: die Darstellungsfunktion (referentielle, kognitive Funktion), die Ausdrucksfunktion (expressive Funktion) und die Appellfunktion (Auslösefunktion, konative Funktion). Die Ergänzung dieser Funktionen um die phatische, metasprachliche und poetische Funktion durch Jakobson (1972) hat indirekt zu einer stärkeren Reflexion über den Funktionsbegriff in der Sprachwissenschaft und auch in der Stilistik geführt (Fleischer/Michel 1977). Da die Sprachfunktionen in den Kommunikaten, den Texten, nur selten in Reinform auftreten, ergab sich die Notwendigkeit, die unterschiedlichen Kommunikationsbereiche und -situationen durch verfeinerte Methoden zu klassifizieren und zu beschreiben.
1.2. Funktionalstilistik Ausgangspunkt für die tschechischen und sowjetischen Arbeiten zur Funktionalstilistik bildeten Zweck und Wirkung sprachlicher Zeichen in den verschiedenen Tätigkeits- und
103. Funktionale Varietäten und Stil
1723
Kommunikationsbereichen des Menschen. Havra´nek (1976, zit. bei Gläser 1979, 61) unterscheidet vier Funktionen der Schriftsprache (die kommunikative, praktisch-spezielle, theoretisch-spezielle und ästhetische Funktion), die sich in vier Funktionsbereichen niederschlagen: (1) Alltag/Alltagssprache, (2) Geschäfts- und Amtssprache, (3) Wissenschaftssprache und (4) Belletristik. Benesˇ (1969) charakterisierte insbesondere den Funktionalstil der Wissenschaft (Sachstile) und nutzte dazu die vier Kriterien: (1) Kommunikationsbereich (Sachgebiet des Textes); (2) Fachlichkeitsgrad des Textes und Einstellung zwischen Sender und Empfänger (erfassbar über Stilarten wie Forscherstil, belehrender Stil etc.); (3) Medium der Mitteilung (mündliche/schriftliche Äußerung) und (4) Art der Stoffbehandlung (Stilverfahren, Darstellungsarten, Stilgattungen/Gebrauchsformen/Textsorten, vgl. Gläser 1979, 59 f.). Die ersten drei Kriterien versteht Benesˇ als stilbildend, die Stilgattungen hingegen als Oberbegriff für eine Vielzahl von Gebrauchsformen (Textsorten). Trotz Überschneidungen und einer Reihe von Kritikpunkten bildete das von ihm entwickelte Beschreibungssystem lange Zeit eine wesentliche Grundlage für die Stilklassifikation (vgl. Fleischer/ Michel 1977, 24 ff.; für die Fachsprachen Gläser 1979, 63). Auch die Konzepte der Stilsphäre, Stilschicht und des Stiltyps als zentrale Stilkategorien der tschechischen Funktionalstilitik wurden erfolgreich auf stilistische (Fach-) Textuntersuchungen übertragen (Drozd/Seibicke 1973). Die Moskauer Schule (sowjetische Funktionalstilistik) geht in ihrem Modell ebenfalls von den verschiedenen Verwendungsweisen der Sprache in den Sphären gesellschaftlicher Tätigkeit aus. Diese Verwendungsweisen sind historisch gewachsen, relativ stabil und gelten deshalb als Norm für einen bestimmten Kommunikationsbereich, unterliegen aber gleichzeitig einem dynamischen Wandel. Riesel (1974, 14 ff.) unterscheidet fünf Vorkommensbereiche, Sprachbereiche und Stile, die durch stilbildende und stilregulierende Ordnungsprinzipien (Stilzüge, Stilelemente) auch die Auswahl der sprachlichen Mittel bestimmen (vgl. auch Fix/Poethe/Yos (2001, 52 ff.): (1) Alltagsverkehr, d. h. Alltagssprache, Stil der Alltagsrede, Stilzüge: Ungezwungenheit, Lockerheit, Emotionalität, subjektive Bewertung, Konkretheit, Bildhaftigkeit, Schlichtheit und Dynamik, Hang zum Humor, Spott und Satire, Ausdrucksfülle; (2) Wissenschaft, d. h. Wissenschafts- (und Fachsprache), Stil der Wissenschaft, Stilzüge: Sachlichkeit, Logik, Klarheit, Fassbarkeit, Eindeutigkeit, Sprachökonomie; (3) Pressewesen, d. h. Zeitungssprache, Stil der Presse und Publizistik, Stilzüge: variierend nach Textsorte (emotional vs. sachlich) mit Tendenzen zur künstlerischen Literatur und zum Stil des öffentlichen Verkehrs sowie zum Stil der Wissenschaft; (4) Amtsverkehr, d. h. Instruktionssprache, Stil der öffentlichen Rede/Stil der Direktive, Stilzüge: Unpersönlichkeit, Sachlichkeit, gedrängte Kürze, leichte Fassbarkeit, streng literatursprachlicher Standard; (5) Belletristik, d. h. Literatursprache, Stil der künstlerischen Literatur. Diese fünf Funktionsbereiche werden über außersprachliche Merkmale und darauf aufbauend über ihre sprachlichen Erscheinungs- und Existenzformen (innersprachliche Merkmale) charakterisiert (vgl. Fleischer/Michel 1977, 253⫺267).
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik ,Funktionalstile‘
spontan, ungezwungen: auf außersprachliche Zwecke gerichtet literarisch-ausgefeilt
nicht künstlerisch geformt Sachprosa
gedanklichsprachlich, informativ
A
B
meinungsverhaltenssteuernd
C
künstler. geformt
D
E
Alltagsrede
Wissensch. Texte
Direktivstil
Belletristik
Presse
gewöhnlich
fachspezifisch
didaktisch
gehoben delektativ
dasselbe wie B, C, D
sozial-kollegial
kollegial-elitär
autoritär
autoritär elitär
autoritär persuasiv kollektiv
Umgangssprache
Sachprosa
Gesetzessprache, Verordnungen
literar. Prosa, Lyrik
alle Stile
Abb. 103.1: Funktionalstile im Überblick (nach Löffler 2005, 98)
Abb. 103.1 veranschaulicht diese Relationen zwischen den genannten Vorkommensbereichen, den Sprachsphären und Stilmerkmalen (Löffler 2005, 98 in Anlehnung an Fleischer/Michel 1977, 246 ff.). Trotz der grundlegenden Akzeptanz der Theorie der Funktionalstile in der Linguistik sollen an dieser Stelle auch einige Schwachstellen dieses Konzeptes erwähnt werden. Die Gliederung in fünf funktionale Sprachen/Stile kann die Vielzahl der real existierenden Kommunikationsbereiche nicht erfassen, da sich diese immer weiter ausdifferenzieren, d. h. das System sollte über einheitliche Kriterien erweiterbar sein. Bestimmte Bereiche/ Textmengen werden nicht berücksichtigt (z. B. Werbesprache). Das vorliegende Klassifikationsraster ist teilweise unausgewogen und die Bezeichnungen der Stile sind nicht einheitlich gewählt (vgl. Status der Wissenschafts- gegenüber Fach- und Berufssprachen). Dennoch ist festzustellen, dass die Theorie der Funktionalstile nicht nur nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklungen in der Stilistik hatte (vgl. Fleischer/Michel 1977), sondern auch auf die Fachsprachenforschung, besonders hinsichtlich der Differenzierung von Fach- und Textsortenstilen (vgl. Gläser 1979, 81 ff.; 1990, 7). Sie wurde darüber hinaus auch in anderen sprachwissenschaftlichen Disziplinen aufgegriffen, wodurch sich eine terminologische Breite etabliert hat, die zur Bezeichnung des Sprachverwendungsbereiches, der darin benutzten Sprache und ihres typischen Stils dient. So spricht man in der Textlinguistik von funktionalstilkonstituierenden Kommunikationsbereichen (vgl. Hoffmann 2007, 6), die für die Beschreibung des Kommunikationskontextes von Texten und Textsorten wichtig sind (vgl. Adamzik 2004, 68 ff.). In der Soziolinguistik (speziell der Varietätenlinguistik, vgl. Löffler 2005, 79 ff.) betrachtet man funktionale Stile als eine Varietätenklasse, d. h. als funktionale Varietäten/Funktiolekte (vgl. Löffler (2005, 95 f.).
103. Funktionale Varietäten und Stil
1725
1.3. Funktionale Varietäten Mit Hoffmann (2007, 2) gehen wir davon aus, dass Funktionalstile bzw. funktionale Varietäten „zweckbestimmte, kommunikationsbereichsbezogene Teilsprachen einer Einzelsprache [sind, d. A.]. Maßgebend für diese stilistische Ordnung, die Ordnung nach Kommunikationsbereichen, sind Vorstellungen von einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft, wodurch sich verschiedene Arbeits- und Lebensbereiche des Menschen konstituiert haben, in denen die Sprache als Kommunikationsmittel bei der Bewältigung von je spezifischen Aufgaben dient.“ (Hoffmann 2007, 2) Hoffmann (2007, 3) geht von der Existenz der tradierten fünf funktionalen Varietäten aus und ergänzt in Anlehnung an die Argumentation von Sowinski (1973) die Werbesprache als eigene Varietät. Den Zusammenhang zwischen Kommunikationsbereich, Zweck der kommunikativen Tätigkeit und funktionaler Varietät erfasst er abstrahierend für die tradierten Bereiche (Abb. 103.2):
Kommunikationsbereiche (Tätigkeitssituation)
Tätigkeiten (gesellschaftliche Zwecke der Sprache)
Funktionale Varietäten (zweckbestimmte Teilsprachen)
Alltag (Alltagskommunikation)
Besprechen familiärer Angelegenheiten; Pflege privater Kontakte; Freizeitgestaltung
Alltagssprache (auch: Funktionalstil des Alltagsverkehrs)
Bürokratie (Behördenkommunikation)
Administrieren; Regeln offizieller Angelegenheiten
Behördensprache (auch: Funktionalstil des Amtsverkehrs)
Wissenschaft (Wissenschaftskommunikation)
Vermitteln theoretischer Erkenntnisse über die Welt
Wissenschaftssprache (auch: Funktionalstil der Wissenschaft)
Journalismus (Pressekommunikation)
Informieren über aktuelle Ereignisse; Beeinflussen der öffentlichen Meinung
Pressesprache (auch: Funktionalstil der Presse und Publizistik)
Kunst (poetische Kommunikation)
Herstellen von Sprachkunstwerken; Bewirken von Kunsterlebnissen
Dichtersprache (auch: Funktionalstil der Belletristik)
Abb. 103.2: Funktionale Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und Sprache (nach Hoffmann 2007, 3)
Der von Hoffmann (2007, 11) in Anlehnung an Fleischer/Michel (1977, 246 ff.) erarbeitete Algorithmus zur Abgrenzung funktionaler Varietäten (vgl. Abb. 103.2) ermöglicht die Integration der Werbesprache in das funktionale Varietätengefüge. Er differenziert mündliche und schriftliche Texte über so genannte Knoten (vgl. 1⫺5), mithilfe von in Opposition stehenden Parametern (z. B. „ungezwungen-locker vs. literarisch ausgefeilt“, „künstlerisch geformt vs. nicht künstlerisch geformt“) und kann so über die Opposition
1726
IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Abb. 103.3: Ein Algorithmus zur Ermittlung und Abgrenzung von Funktiolekten (nach Hoffmann 2007, 11)
„journalistisch geformt vs. anpreisend-persuasiv“ auch die Werbesprache in das Varietätenspektrum einbeziehen. Durch die Vielfalt an sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten ist es notwendig, ein Systematisierungssystem zur Beschreibung der stilistischen Besonderheiten der einzelnen Funktionalstile, der Textsortenstile und des Individualstiles in einem Text zu erarbeiten. Heinemann (1974, 59) hat ein dreigliedriges Konzept mit Oppositionspaaren entwickelt, über das sich Stilzüge systematisieren lassen: (1) Relation zwischen Text und Denotat (Denotatsrelation): knapp-breit; konkret-abstrakt; prägnant-polyvalent; dynamisch-statisch; (2) Relation zwischen Text, Sender und Rezipient): subjektiv-objektiv; expressiv-nullexpressiv; eindringlich-distanziert; klar-verschwommen; (3) Relation zwischen sprachlichen Einheiten im Text (Textrelation): locker-geschlossen; nominal-verbal; syndetisch-asyndetisch; gegliedert-ungegliedert; steigern (pointiert)-fallend. Hoffmann (1987) geht von Stilzügen als informativen Komponenten im Text aus, d. h. bezogen auf die Rezeptionserleichterung: allgemeinverständlich, lehrhaft, genau; auf die sozialen Beziehungen: förmlich, ungezwungen, höflich; auf die Gefühlslage: erlebnisbetont, feierlich, humorvoll; auf die Beziehung Produzent ⫺ Aussage: sachbetont, rational,
103. Funktionale Varietäten und Stil
1727
ausgeglichen, lebhaft; und schließlich auf die Beziehung Produzent ⫺ sprachlicher Code: variabel, gewandt, geschmückt und originell. Für die nachfolgende Beschreibung nutzen wir die durch die Funktionalstilistik entwickelten und durch praktische Stiluntersuchungen für die einzelnen funktionalen Varietäten manifestierten Stilzüge und Stilprinzipien (vgl. Riesel 1963; Heinemann 1974; Hoffmann 2007; Fix/Poethe/Yos 2001).
2. Funktionale Varietäten und ihre kommunikativen, sprachlichen und stilistischen Merkmale Die folgende Charakterisierung der funktionalen Varietäten erfolgt in Anlehnung an Fix/ Poethe/Yos (2001), Fleischer/Michel (1977), Löffler (2005), Hoffmann (2007, 13 ff.) über (1) eine Skizzierung der jeweiligen Kommunikationsfunktion/der kommunikativen Rahmenbedingungen, (2) typische Kommunikationsformen (Gattungssprachen bzw. -stile und Textsorten) sowie (3) über Ausführungen zum sprachlichen Erscheinungsbild (Stilzüge/Stilprinzipien/Sprachmittel).
2.1. Alltagssprache Die Alltagssprache wurde umfassend beschrieben in Riesel (1963, 461⫺477), Riesel (1970), Fleischer/Michel (1977, 253⫺256), Hoffmann (2007, 14⫺18), Löffler (2005, 97 ff.), Mackeldey (1987) und Schwitalla (1997).
2.1.1. Kommunikative Funktion/Rahmenbedingungen Die Alltagssprache ist relativ unspezifisch in Bezug auf ihren Gegenstand, die Sprecherkonstellation und die Kommunikationsintentionen der Teilnehmer. Sie dient dem privaten Umgang miteinander, zur Kontaktpflege in der Familie, in der Freizeitgestaltung etc. Im „Alltag“ kommunizieren die Kommunikationspartner privat, frei von dienstlichen oder institutionellen Zwängen, d. h. sie begegnen sich in ihren Alltagsrollen. Die Kommunikation ist symmetrisch und erfolgt meist mündlich.
2.1.2. Gattungssprachen/Textsorten Mit Riesel (1970, 74) kann man die folgenden Gattungssprachen unterscheiden: (1) Alltagssprache im Familien- und Freundeskreis; (2) Alltagssprache im Berufsleben, sofern die Beziehung nichtdienstlicher Art ist (Pausenkommunikation); (3) Alltagssprache im kommunikativen Verkehr mit Fremden (ohne jegliche offizielle Bindung). Text- und Gesprächssorten: Privatgespräch (z. B. im Familien- und Freundeskreis, auf Partys, in der Clique, im Wartezimmer), Privatbrief und Grußkarte, Tagebuch, Wegauskunft u. a.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
2.1.3. Stilprinzipien/Sprachliche Erscheinungsormen Stilprinzipien: (a) (b) (c) (d) (e)
Ungezwungenheit und Spontaneität, Knappheit, Breite bzw. Ausdrucksfülle, Expressivität/Ausdrucksverstärkung, Einfachheit
Da Alltagssprache an gruppenspezifische Erfahrungen (z. B. Familie) anknüpft, besteht in der sprachlichen Realisierung eine starke Variationsbreite. Typisch sind die Ungezwungenheit/Lockerheit der Rede, die Verwendung von Humor, Satire und Spott. Verallgemeinernd sind folgende sprachliche Merkmale festzustellen: Phonetik: Lexik:
Syntax:
Stilistik:
Lautliche Kontraktionen und Assimilationen; Lautabstoßungen am Wortende; Silbenabstoßung am Wortanfang paralleles Auftreten aller Formen von Kolloquialismen, von umgangssprachlichen, regionalen und dialektalen Sprachvarianten; Neigung zu Verkürzungen und Gruppen- bzw. teilweise Fachjargon; Einschub von Interjektionen (eh) und Gesprächswörtern (na, also); Wortüberfluß (Füllwörter bei Verlegenheit oder Suche nach einem Wort); Einfachheit in der Wortwahl (dominierend aus der Gemeinsprache, „Schwammwörter“/„Allerweltswörter“, z. B.: machen, tun, Ding ⫺ vgl. Riesel 1970, 88 ff.) sowie Univerbierung (anhaben statt angezogen haben). Freiheit des Satzbaus; Neigung zu kurzen Sätzen; häufige Parataxe (Nebenordnung); Satzabbrüche; syntaktische Konstruktionswechsel (Anakoluth); doppelte Verneinung. expressive Lexik; hyperbolische Phraseologismen (aus der Haut fahren); Mittel des Übertreibens, der Ironie und des Spotts.
Die Alltagssprache kann anhand dieser Unterscheidungen als eine funktionale Varietät mit besonders großer Ausdrucksvielfalt kategorisiert werden, da in ihr sowohl die Umgangssprache als auch Gruppen- und Fachjargonismen, Regionalismen und Dialektismen sowie stilistische Substandardismen (z. B. Vulgarismen) genutzt werden.
2.2. Sprache der künstlerischen Literatur (Dichtersprache) Die Sprache der künstlerischen Literatur (Dichtersprache) wurde ausführlich beschrieben in Braun (1987, 47⫺52), Fleischer/Michel (1977, 257⫺260), Hoffmann (2001; 2007, 19⫺22), Löffler (2005, 101⫺104) und Mukarˇovsky´ (1976).
2.2.1. Kommunikative Funktion/Rahmenbedingungen Die Sprache der künstlerischen Literatur gilt als höchste Form einer Nationalsprache und wird (meist in Form von geschriebener Sprache) mit „großem Stilwillen und starker Formbewusstheit“ (Löffler 2005, 101) auf allen sprachlichen Ebenen (Lexik, Grammatik, Phonetik) verwendet. Sie folgt insbesondere literarischen und standardsprachlichen Normen und dient dem künstlerisch-darstellenden Ausdruck.
103. Funktionale Varietäten und Stil
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Die Kommunikationspartner Künstler ⫺ Publikum/Allgemeinheit kommunizieren zwar auf symmetrischer Ebene, allerdings erfolgt die Verständigung nicht über eine rein sachliche, sondern eine Metaebene, die die Erfahrungs- und Gefühlswelt des Einzelnen tangiert. Der Textrezipient interpretiert das Kommunikat anhand seiner Form und durch Sinnzuschreibungen, die Kommunikation wird so zum Kunsterlebnis. Der Kommunikationskanal ist meist schriftlich, wohingegen Merkmale von Mündlichkeit bei Werken der dramatischen Kunst (Hörspiel, Spielfilm, Theaterinszenierung) vorliegen.
2.2.2. Gattungssprachen/Textsorten In der Literaturwissenschaft unterscheidet man zwischen Lyrik, Epik und Dramatik mit den ihnen jeweils eigenen Gestaltungspotentialen. Text- und Gesprächssorten: Literarische und poetische Texte werden als Genres oder Untergattungen bezeichnet. In der Lyrik sind dies z. B.: Lied, Ode, Sonett; in der Epik: Roman, Novelle, Kurzgeschichte, Fabel. Tragödie Komödie, Tragikomödie und Melodram sind Beispiele für dramatische Genres.
2.2.3. Stilprinzipien/Sprachliche Erscheinungsormen Stilprinzipien: (a) (b) (c) (d)
Künstlerische Formung, Expressivität, Metasprachlichkeit, Bildhaftigkeit
Die literarische Sprache schöpft im Rahmen des jeweils verwendeten Genres das gesamte Potential der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten aus. Das dominante Stilprinzip ist das der künstlerischen Formung. Dieses wird z. B. bei Gedichten deutlich an der Gliederung des Textes in Verszeilen und Strophen mit Reimmustern; einer Vielzahl von Stilfiguren (z. B.: Anaphern, Parallelismus, Personifikation, Metaphern) und an der Interpretierbarkeit von Begriffen (symbolhafte Bedeutung), an der strukturierten Wiederaufnahme von Wörtern und der Verwendung von Alliterationen. Die Sprache der künstlerischen Literatur bietet im Rahmen der in diesem Funktionsbereich verwendeten Genres die größtmögliche stilistische Ausdrucksvielfalt, beansprucht das kognitive und emotionale Rezeptionsempfinden des Rezipienten und ist am wenigsten restriktiv bzw. regulierend.
2.3. Wissenschatssprache Zur Wissenschaftssprache und zu den Fach- und Berufssprachen liegen zahlreiche Einzeluntersuchungen, Sammelbände und Überblicksdarstellungen vor (vgl. Kleine Bibliographie fachsprachlicher Untersuchungen). Stellvertretend sei auf die folgenden verwiesen: Fluck (1996), Gläser (1990), v. Hahn (1983), Hoffmann (1984), Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand (1998/1999), Roelcke (1999).
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik Als funktionale Varietät verwendet man zwar den Begriff „Wissenschaftssprache“, dieser sollte jedoch auf „Wissenschafts-, Fach- und Berufssprachen“ erweitert werden (vgl. Löffler 2005, 104), da wissenschaftliche Kommunikation untrennbar mit dem Kommunikationsgegenstand „Fach“ und der Kommunikation in den jeweiligen Fächern verbunden ist. Michael Hoffmann (2007, 6) führt in seinem Modell des Varietätenraums den Begriff des „Professiolektes“ ein, der auch eine Abhebung der Fachsprachen von den stärker soziolektal geprägten Bezeichnungen Gruppen- und Sondersprachen, aber auch von den eigentlichen Funktiolekten ermöglicht.
2.3.1. Kommunikative Funktion/Rahmenbedingungen Im engeren Sinn bezieht sich Wissenschaftssprache auf die Speicherung, Verbreitung und Klärung von Forschungsergebnissen aus den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Sie ist eine im akademischen Umfeld verwendete Sprache. Im weiteren Sinn wird sie zur intrafachlichen, interfachlichen und fachexternen (didaktisch-vermittelnden) Kommunikation eingesetzt. Benesˇ (1969) hat in seiner „Typologie der wissenschaftlichen Prosa“ eine erste ausführliche Abhandlung über den Funktionalstil (Sachstil) für die Fachprosa vorgelegt, mit der Unterscheidung in den „wissenschaftlichen“ und „praktischen Sachstil“. Die enge Verbindung zwischen Wissenschafts- und Fach- bzw. Berufssprachen wird auch aus den verschiedenen Modellen der horizontalen Gliederung und vertikalen Schichtung erkennbar. Stellvertretend sei auf das Modell von Lothar Hoffmann (1984, 65 ff.) mit seiner fünfstufigen Schichtung verwiesen. Definiert über die Kriterien Milieu, Abstraktionsgrad, Kommunikationspartner und äußere Sprachform lassen sich die drei oberen Ebenen klar als Verwendungsbereiche von Wissenschaftssprache definieren, die beiden unteren Ebenen als periphere Verwendungsbereiche, da sie der Popularisierung von wissenschaftlichen Erkenntnissen dienen. Die Schichten im Einzelnen: (a) Theoretische Grundlagenwissenschaften, höchste Abstraktionsstufe, Wissenschaftler ⫺ Wissenschaftler (Kommunikation zwischen Fachleuten), künstliche Symbole für Elemente und Relationen; (b) Experimentelle Wissenschaften, sehr hohe Abstraktionsstufe, Wissenschaftler (Techniker) ⫺ Wissenschaftler (Techniker) (Kommunikation zwischen Fachleuten), künstliche Symbole für Elemente, natürliche Sprache für Relationen (Syntax); (c) Angewandte Wissenschaften und Technik, hohe Abstraktionsstufe, natürliche Sprache mit einem sehr hohen Anteil an Fachterminologie und einer streng determinierten Syntax, Wissenschaftler (Techniker) ⫺ wissenschaftlich-technische Hilfskräfte (Kommunikation zwischen Fachleuten und Studierenden). Die eigentliche Wissenschaftssprache (Theoriesprache) wird zum schriftlichen Austausch verwendet (z. B. über Monographien, wissenschaftliche Zeitschriftenaufsätze). Darüber hinaus dient die mündliche Wissenschaftssprache (auch fachliche Umgangssprache) zur Kommunikation im Bereich der Institute und Labore. Zu didaktischen Zwecken wird Wissenschaftssprache als Darstellungs- und Erklärungssprache im Lehrbuch oder im Fachunterricht (Vorlesung, Seminar) eingesetzt. Schließlich dient Wissenschaftssprache als populäre Erklärungssprache auch der fachexternen Kommunikation und Information der allgemeinen Öffentlichkeit (Fachleute ⫺ Laien).
103. Funktionale Varietäten und Stil
1731
Die verschiedenen kommunikativen Funktionen der Wissenschaftssprache bedingen auch eine Vielfalt an Gesprächs- und Textsorten mit unterschiedlichen sprachlichen Realisierungsformen.
2.3.2. Gattungssprachen/Textsorten Riesel/Schendels (1975, 292) unterscheiden im Funktionalstil der Wissenschaft zwischen akademischer Wissenschaftssprache und populärwissenschaftlicher Sprache. Darüber hinaus existiert aber auch eine didaktische Wissenschaftssprache. Die im akademischen Umfeld verwendeten Textsorten sind zahlreich, vgl. die Typologie von Gläser (1990, 50 f.), u. a. mit fachinformationsvermittelnden Textsorten (z. B. Monographie, wissenschaftlicher Zeitschriftenartikel, Abstract, Protokoll, Gutachten, Dissertation); mit didaktisierenden Textsorten (z. B. Hochschullehrbuch, Seminarskripte), mit interpersonalen/kontaktiven Textsorten (z. B. Wissenschaftlerbiographie, Konferenzeinladung, Würdigung). Zu den mündlichen Textsorten im akademischen Bereich gehören z. B.: Vorlesung, Referat und Vortrag, Seminargespräch, wissenschaftliche Diskussion, Disputation/Verteidigung, Prüfungsgespräch.
2.3.3. Stilprinzipien/Sprachliche Erscheinungsormen Stilprinzipien: (a) (b) (c) (d) (e) (f) (g) (h)
Objektivität, Abstraktheit, Sachlichkeit/Klarheit/Logik, Vernetzung von Wissensstrukturen, Unpersönlichkeit (Deagentivierung/Agensabgewandtheit), Genauigkeit/Eindeutigkeit, Dichte, Fassbarkeit/Anschaulichkeit (für Modellbildung und Didaktisierung)
Gläser (1979, 82) unterscheidet fünf Fachstile, davon sind für die Wissenschaftssprache der theoretisch wissenschaftlich-technische Fachstil, der didaktisierende Fachstil und der populärwissenschaftliche Fachstil typisch. Während der theoretisch wissenschaftliche Fachstil abstrakt, unpersönlich und nicht redundant ist, weisen der didaktisierende und der popularisierende Stil ein hohes Maß an Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit sowie sprachlicher Redundanz zur Verbesserung der Verständlichkeit auf. Allgemeine Merkmale sind folgende: Lexik:
eindeutiges terminologisches System (fachspezifische Termini, fachübergreifende Abstrakta und allgemeinwissenschaftliche Professionalismen, z. B.: Theorie, Modell, Kategorie, Parameter); hierarchische Begriffsstrukturen; hoher Anteil an Nomina; starke Kompositabildung; Monosemierung; Abkürzungen; Wortneubildungen; Präpositionalgefüge; Ist-Verben; Deagentivierung durch unpersönliche Ausdrücke (man, der Autor); hohe Informations- und daher auch Terminidichte; Mittel der Redewiedergabe, des Verweisens, des Beurteilens; hohe Frequenz von Definitionen.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Syntax:
einfache und komplexe Satzstrukturen; starke Tendenz zur unpersönlichen Ausdrucksweise mit hohem Passivanteil; starke Gliederungsstruktur; Verzicht auf Redundanz (außer in didaktisierenden Textsorten). Textbaupläne: teilweise normierte Makrostrukturen (z. B. Experimentalstudie, Fallstudie in der Medizin); klare Gliederungsstrukturen; Differenzierung von Haupt- und Nebeninformationen (Fußnoten, Anmerkungen); Präzision in bibliographischen Angaben und Lay-out. Stilistik: anaphorische und kataphorische Elemente; klare Gliederungssignale; Metakommunikation; didaktisierende Wissenschaftssprache: anschauliche Sprache (Beispiele, Vergleiche, Illustrationen); Paraphrasierungen; Anschaulichkeit durch Abbildungen, Diagramme, Modelle. Nachdem die Wissenschaftssprache in ihren Anfängen durch das Lateinische dominiert war und erst danach durch die Nationalsprachen, ist die heutige Wissenschaftssprache einer deutlichen Normierungstendenz durch internationale Publikationsorgane und die Anglisierung der Wissenschaften unterworfen. In einigen Fächern wird durchgehend Englisch publiziert, in anderen werden Textbildungsmuster und Stilnormen aus dem Englischen übernommen bzw. beeinflussen diese Muster und Stilnormen traditionelle Textsorten (z. B. Abstracts). Da die Wissenschaft einem ständigen Publikationsdruck unterliegt, sind weiterführende Stiluntersuchungen und die Formulierung von Gestaltungsprinzipien für die Zukunft notwendig.
2.4. Behördensprache/Sprache des öentlichen Verkehrs Die Behördensprache wurde ausführlich beschrieben in Fleischer/Michel (1977, 264⫺ 266), Löffler (2005, 108⫺111) und Hoffmann (2007, 27⫺32) sowie in zahlreichen Einzelpublikationen (vgl. die fortlaufende Kleine Bibliographie fachsprachlicher Untersuchungen von 2006).
2.4.1. Kommunikative Funktion/Rahmenbedingungen Zu den Vorkommensbereichen der Behördensprache/Sprache des öffentlichen Verkehrs zählen Verwaltung, Organisation, Gesetzgebung, Vertragswesen, internationaler Verkehr, Propaganda, politische Meinungsbildung und Politikwissenschaften. Die Behördensprache wird aufgrund ihres Bezugs zum Recht und zur Verwaltung auch zu den Fachsprachen gezählt (vgl. Fluck 1996, 72⫺79). Meist fungiert sie als Kommunikationsmittel zur Realisierung der verschiedenen Arten von Verwaltungsaufgaben, darüber hinaus dient sie zur Regelung von administrativen Vorgängen, zur Klärung rechtlicher Verhältnisse und zur Formulierung von Regelungen und Anweisungen, die die äußeren Bedingungen des allgemeinen Zusammenlebens der Menschen/bestimmter Gruppen (meist in schriftlicher Form) festschreiben. Die Träger dieser Sprache sind die Mitarbeiter in öffentlichen Verwaltungen, Beamte, Politiker und Juristen. Die Adressaten können Mitglieder der oben genannten Berufsgruppen sein, weitgehend aber auch die Allgemeinheit. Die Kommunikationspartner kommunizieren in spezifischen sozialen Rollen, in nichtprivater Funktion, d. h. als Vertreter gesellschaftlicher Institutionen (Verwaltung, Ämter, Gremien) bzw. als Bürger eines
103. Funktionale Varietäten und Stil
1733
Staates. Es werden im Allgemeinen Maßnahmen kommuniziert, die der Umsetzung von Verwaltungsaufgaben dienen bzw. die rechtlichen Verhältnisse im Zusammenleben der Menschen regeln. Der Kommunikationskanal ist vorwiegend schriftlich.
2.4.2. Gattungssprachen/Textsorten Mit Riesel (1963, 21) kann man die folgenden Gattungssprachen unterscheiden: (1) Sprache der Ämter und Kanzleien; (2) Sprache des Gerichtswesens; (3) Sprache des Diplomatenverkehrs. Fleischer/Michel (1977, 264) differenzieren zwischen „unmittelbarer und mittelbarer Direktive“. Der ersten Gruppe ordnen sie u. a. Gesetze, Verordnungen, Anweisungen, Verträge, Anträge, aber auch Gebrauchsanweisungen, Bedienungsanleitungen, Kochrezepte zu. Zu den Textsorten der mittelbaren Direktive gehören u. a. die politische Rede, der Aufruf, d. h. Textsorten, die auch der Ausbildung von Einstellungen und Überzeugungen dienen. Eine moderne Subklassifizierung der Behördensprache besteht nach Hoffmann (2007, 27) in der Unterscheidung von (1) Verwaltungssprache, (2) Rechtssprache und (3) Geschäftssprache. Weitere Textsorten im Bereich der Behördensprache sind u. a. auch Aktennotiz, Protokoll, Stellenausschreibung, Lebenslauf, Bewerbung und Bewerbungsgespräch, Vollmacht, Bescheinigung, Urkunde und auch Fahrplan.
2.4.3. Stilprinzipien/Sprachliche Erscheinungsormen Stilprinzipien: (a) (b) (c) (d)
Allgemeinverständlichkeit, Eindeutigkeit, Genauigkeit, bürokratische Formalisierung
Die Vielfalt der kommunikativen Funktionen, die die Behördensprache erfüllt und ihre Adressierung an die Allgemeinheit, lässt einen weitgehend verständlichen Sprachgebrauch erwarten, was in der Realität jedoch oft nicht der Fall ist. Der verwendete Wortschatz referiert zwar auf allgemeinsprachliche Begriffe, die durch Definition eine spezifische Bedeutung, Präzision und Eindeutigkeit erhalten, um somit Rechtsgültigkeit und Einklagbarkeit des Gesagten zu gewährleisten, ein umständlicher Satzbau und komplexe Wortverdichtungen erschweren jedoch oft die Verständlichkeit. Lexik:
Sie wird weitgehend der Allgemeinsprache entnommen, arbeitet aber mit folgenden Mitteln: begrifflich feste Bedeutung; Wortverdichtungen und mechanische Kompositionen; juristische Professionalismen (Gemeindeverordnung); Nominationsstereotype (Einnahmen und Ausgaben geltend machen); unpersönliche, formelhafte Ausdrucksweise; Umschreibung von Personenbezeichnungen durch Namen von Institutionen oder berufliche Titel; Mittel zum Erzeugen amtlichen Nachdrucks (Pronominaladverbien, wie z. B.: hiermit, hiervon); Amtspräpositionen (infolge, mangels, gemäß); präzise Zeit- und Orts- und Datumsangaben. Syntax: formalisierte Gliederungsmittel (bezifferte Paragraphen, Absätze mit Paragraphenzeichen, Spiegelstriche); komplexer Satzbau; unpersönliche, formelhafte
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik Ausdrucksweise; Passivkonstruktionen (wurde erteilt, wird genehmigt, sind zu leiten, haben zu erfolgen); Partizipialkonstruktionen (bezugnehmend auf die von Ihnen gemachten Vorschläge); Substantiv- und Genitivketten; Funktionsverbgefüge (zu Protokoll geben); Nominalisierungen im Satzbau.
2.5. Pressesprache Die Pressesprache wurde u. a. ausführlich beschrieben in Bucher (1986), Fleischer/Michel (1977, 266⫺267), Hoffmann (2007, 32⫺37), Kurz u. a. (2002), Löffler (2005, 111⫺113) und Lüger (1995).
2.5.1. Kommunikative Funktion Die Pressesprache hat sich im Zusammenhang mit dem Journalismus und der Entwicklung von Zeitungen und Presse herausgebildet. Sie unterliegt wie kein anderer Bereich durch die Entwicklung der elektronischen Medien einem ständigen Wandel. Die Intention der Pressesprache ist neben der Information der Öffentlichkeit über aktuelle Ereignisse auch die politische Meinungsbildung bzw. Beeinflussung, d. h., es überschneiden sich Informativität und Persuasivität. Die Kommunikation verläuft einseitig (unidirektional). Die Kommunikationspartner sind auf Senderseite meist institutionell angestellte oder freie Journalisten, die Rezipienten eine breite Leserschaft mit unterschiedlicher Sozialisation. Die Textrezeption ist Privatsache, d. h., der Kommunikationsgegenstand muss den Erwartungen der Textrezipienten angepasst sein (aktuell, interessant und unterhaltsam), um gelesen zu werden. Der Kommunikationskanal ist in der Regel schriftlich, wobei Nachrichtentexte über das Internet auch auf mündlichem Weg zur Verfügung stehen (Podcasts). Die Sprache variiert je nach dem zu vermittelnden Sachverhalt, der (politischen) Ausrichtung des Presseorgans, nach der sozialen Schicht der Textrezipienten, die angesprochen werden soll, d. h., sie ist informierend, meinungsbildend und/oder politisch-agitatorisch.
2.5.2. Gattungssprachen/Textsorten In der Pressesprache findet sich wie in keiner anderen funktionalen Varietät eine Mischung von Sprach- und Stilformen. Mit Lüger (1995, 22 ff.) kann man die folgenden Gattungssprachen unterscheiden: (1) Pressesprache als Sprache einzelner Zeitungstypen (seriöse Presse, Boulevard- bzw. Regenbogenpresse, Tages- und Wochenzeitungen); (2) Pressesprache als Sprache einzelner Zeitungssparten (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Focus, Der Spiegel); (3) Pressesprache als Sprache von Zeitungsrubriken (z. B. Gliederung in Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport, Lokales); (4) Pressesprache nach Journalismuskonzepten (z. B. sozialwissenschaftlicher, investigativer Journalismus) und (5) Journalismus mit spezieller Ausrichtung (Wirtschafts-, Wissenschafts- und Sportjournalismus). Die zur Anwendung kommenden journalistischen Genres sind sehr vielfältig und spannen sich vom informativen Bericht (z. B. Nachrichten), über Leitartikel, Interview,
103. Funktionale Varietäten und Stil
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Essay, Kolumne und Glosse zum meinungsbildenden Kommentar und der unterhaltenden Reportage und Meinungsumfrage. Texte von Nichtjournalisten (Lesern) gehören als Reflektion ebenso zum Textsortenspektrum des Journalismus (z. B. Kommentar, Leserbrief).
2.5.3. Stilprinzipien/Sprachliche Erscheinungsormen Die Pressesprache unterliegt durch ihre Aktualität in der Faktenberichterstattung und Kommentierung besonders stark den dynamischen Veränderungen in der Sprache und trägt auf ihre Weise auch zur Sprachveränderung bei. Es dominieren die folgenden Stilprinzipien: (a) (b) (c) (d) (e)
Journalistische Formung, Tatsachenbezogenheit/Faktizität, Objektivität vs. Subjektivität, Anschaulichkeit, Bildlichkeit, Unterhaltsamkeit
Diese werden durch folgende sprachliche Ausdrucksmittel realisiert: Lexik:
Verwendung und Generierung von Schlag-, Mode-, Jargonwörtern; Ad-hocWendungen und Neologismen; Verwendung expressiv gefärbter Lexik und von Metaphern, von Abkürzungen und Schlagzeilen; hoher Anteil von Text und Bildkonformität; Verwendung von Mitteln zur Redewiedergabe (direkte/indirekte Rede) und zur Darstellung von Fakten und Sachverhalten; Verwendung ausgeprägt meinungsbildender Lexik, z. B. positiv und negativ wertender Lexeme, von Mitteln des Bewertens, Beurteilens, des Widersprechens und zum Ausdruck des Wollens und Wünschens (z. B. Modalverben, Konjunktive). Syntax: vereinfachter Satzbau; Ellipsen; Parataxe; Nominalisierungen; Funktionsverbgefüge; asyndetische Verbindungen; „Häckselstil“ (Phrasen- und Satzabbrüche); Auftreten lexikalischer, syntaktischer und stilistischer Normverstöße als Stilmittel zur Erregung von Aufmerksamkeit; sprachliche Neuerungen und Sprachwandel durch sprachliche Neuschöpfungen.
2.6. Werbesprache Die Werbesprache wurde u. a. beschrieben in Janich (1999), Hoffmann (2007, 37⫺42) und Sowinski (1998).
2.6.1. Kommunikative Funktion Die Werbesprache dient der Vorstellung, Anpreisung und Vermarktung von Produkten und Dienstleistungen, aber auch von ideellen Zielen (z. B. von politischen Ideen, zur Bekanntmachung von Veranstaltungen). Ziel ist es, dass der Textrezipient sich für das beworbene Produkt entscheidet. Zwischen Textproduzent und -rezipient besteht in der Regel kein direkter Kontakt, der Kommunikationskanal ist meist schriftlich, jedoch auch
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
mündlich. Es werden die Medien massenmedialer Verbreitung genutzt, d. h. Plakate, Werbetexte in Printmedien, aber auch Werbespots im Hörfunk, Fernsehen und im Internet. Textproduzenten sind in der Regel professionelle Werbetexter bzw. Berater für Unternehmen und Parteien. Rezipienten sind spezielle Zielgruppen, in der Regel Kunden, und die breite Allgemeinheit.
2.6.2. Gattungssprachen/Textsorten In der Werbesprache lässt sich zunächst zwischen der Sprache der kommerziellen Werbung (Reklame, Werbespots) und der Sprache der politischen Werbung (Propaganda) unterscheiden sowie zwischen spezieller Produkt- und Markensprache nach Branchen (z. B. für Kosmetikartikel, Gebrauchsgegenstände, Luxusgüter). Typische Textsorten der Werbesprache sind: Werbeanzeige, Plakat, Kunden- bzw. Werbebrief, Werbespot, Flyer, Trailer, Katalog, Wahlkampfrede, Wahlprogramm, neuerlich auch TV-Wahlkampfduelle.
2.6.3. Stilprinzipien/Sprachliche Erscheinungsormen Wichtige Stilprinzipien der Werbesprache sind die folgenden: (a) (b) (c) (d) (e)
Persuasivität, Verständlichkeit, Einprägsamkeit, Originalität, Eindringlichkeit
Die Werbesprache bedient sich oft der AIDA-Formel. Diese steht für das Auslösen von „Attention ⫺ Interest ⫺ Desire ⫺ Action“, d. h. der Textrezipient soll bewusst/unbewusst dem Kaufersuchen des Anbieters bzw. einem Aufruf zur Handlung (Teilnahme an einer Veranstaltung) folgen. Entsprechend vielfältig sind die eingesetzten sprachlichen und stilistischen Mittel. einprägsame, originelle und klangvolle Produkt- und Markennamen (Haribo ⫺ Hans Riegel Bonn) sowie Werbeslogans (Haribo macht Kinder froh und Erwachsene ebenso); Bildung von Gattungsnamen über Eigennamen (Deonymisierung: Tempo für Papiertaschentuch); Herausstellung von Produkteigenschaften durch schmückende Epitheta (rassige Fahrweise) und Komparative/Superlative (bequemere Zahlweise/modernste Technologie) und Verwendung von Fachwörtern als Schlagworte (z. B. bei Autos: Rußpartikelfilter, Schadstoffnorm EU4/Gruppe III); Verwendung von Gefühlswörtern (Freude, Spaß), von werbewirksamen Komposita (Traumauto); spielerischer Umgang mit Phraseologismen und kreative Wortneuschöpfungen sowie Abkürzungen. Syntax: Satzkonstruktionen aus der Sprechsprache; elliptische Konstruktionen; Kurzsätze und unvollständige Sätze; syntaktische Isolierung von Teilsätzen; Nachträge; fehlerhafte Konstruktionen (Da werden Sie geholfen.) und häufiger Gebrauch von Interpunktion.
Lexik:
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Stilistik: Alliterationen; Endreim; Stabreim; rhythmisierte Sprache; Anapher; Euphemismus; Klimax; Hyperbel; Synästhesien; Wortwiederholung und Aufzählungsgruppen; Anspielungen; anthropomorphe Metaphern; direkte Anrede; rhetorische Frage/Aufhänger; Antithese. Am wirkungsvollsten ist Werbesprache, wenn sie die Emotionen, Gefühle und die Lebenswelt des Rezipienten anspricht, seine Erfahrungen und seine Bedürfnisse. Werbesprache nutzt deshalb viele Elemente der Alltagssprache und der Umgangssprache. Fachsprachliche Elemente werden eingesetzt, um Seriosität zu erzeugen; Elemente der Pressesprache sorgen für die Massenwirksamkeit der Werbesprache.
3. Schlussbemerkungen In unserer arbeitsteilig organisierten Welt hat sich eine Vielfalt von Sprachverwendungsbereichen mit spezifischen Sprachverwendungsmustern herausgebildet, die sich abstrahierend als Funktiolekte oder funktionale Varietäten beschreiben lassen und Teilsprachen einer Einzelsprache bilden. Diese funktionalen Varietäten unterscheiden sich durch ihre kommunikativen Rahmenbedingungen, die verwendeten Gattungssprachen und Textsorten sowie durch die Auswahl und Anordnung von sprachlichen Mitteln im Textzusammenhang. Zwischen dem Kommunikationsbereich und den konkret verwendeten Sprachmitteln im Text besteht ein über funktional-pragmatische und stilistische Auswahl- und Kombinationsprinzipien (Stilprinzipien) vermittelter Zusammenhang. Funktionale Varietäten können zusammenfassend als „Muster für die stilistische Organisation von Sprache im Text“ betrachtet werden (Hoffmann 2007, 43).
4. Literatur (in Auswahl) Adamzik, Kirsten (2004): Textlinguistik. Eine einführende Darstellung. Tübingen (Germanistische Arbeitshefte 40). Benesˇ, Eduard (1969) Zur Typologie der Stilgattungen der wissenschaftlichen Prosa. In: Deutsch als Fremdsprache 6, 225⫺233. Braun, Peter (1987): Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. Sprachvarietäten. 2. Aufl. Stuttgart u. a. Bucher, Hans-Jürgen (1986): Pressekommunikation. Grundstrukturen einer öffentlichen Form der Kommunikation aus linguistischer Sicht. Tübingen. Bühler, Karl (1982) [1934]: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Ungekürzter Nachdruck der Ausgabe von 1934. Mit einem Geleitwort von Friedrich Kainz. 3. Aufl. Stuttgart/ New York (Uni-Taschenbücher 1159). Busch-Lauer, Ines-Andrea (2006): Kleine Bibliographie fachsprachlicher Untersuchungen (Fortsetzungsbibliographie). In: Fachsprache ⫺ LSP Journal, 92⫺100. Drozd, Lubomir/Wilfried Seibicke (1973): Deutsche Fach- und Wissenschaftssprache. Wiesbaden. Fix, Ulla/Hannelore Poethe/Gabriele Yos (2001): Textlinguistik und Stilistik für Einsteiger. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Frankfurt a. M. u. a. (Leipziger Skripten. Einführungs- und Übungsbücher 1). Fleischer, Wolfgang/Georg Michel u. a. (1977) [1975]: Stilistik der deutschen Gegenwartssprache. 2., unveränd. Aufl. Leipzig.
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IX. Textgestaltung im Rahmen der Stilistik
Fleischer, Wolfgang/Georg Michel/Günter Starke (1996): Stilistik der deutschen Gegenwartssprache. 2. Aufl. Frankfurt a. M. u. a. Fluck, Hans-Rüdiger (1996): Fachsprachen. Einführung und Bibliographie. 5., überarb. u. erweiterte Aufl. Tübingen (Uni-Taschenbücher 483). Gläser, Rosemarie (1979) Fachstile des Englischen. Leipzig. (Linguistische Studien). Gläser, Rosemarie (1990): Fachtextsorten im Englischen. Tübingen (Forum für Fachsprachen-Forschung 13). von Hahn, Walther (1983): Fachkommunikation. Entwicklung ⫺ Linguistische Konzepte ⫺ Betriebliche Beispiele, Berlin/ New York. Havra´nek, Bohuslav (1976) [1942]: Die funktionale Schichtung der Literatursprache. In: Scharnhorst/Ising (1976), 150⫺161. Heinemann, Wolfgang (1974): Zur Klassifikation von Stilzügen. In: Linguistische Arbeitsberichte 10. Leipzig, 57⫺61. Hoffmann, Lothar (1984): Kommunikationsmittel Fachsprache. Eine Einführung. 2., überarb. Aufl. Berlin (Sammlung Akademie-Verlag 44). Hoffmann, Lothar/Hartwig Kalverkämper/Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.) (1998/1999): Fachsprachen. Languages for Special Purposes. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. An International Handbook of Special-Language and Terminology Research. 2 Bde. Berlin/New York. Hoffmann, Michael (1987): Stilzugklassifikation in kommunikativer Sicht. In: Wolfgang Fleischer (Hrsg.): Textlinguistik und Stilistik. Beiträge zu Theorie und Methode. Berlin (Linguistische Studien, Reihe A, 164), 86⫺111. Hoffmann, Michael (2001): Dichtersprache und Gebrauchssprache im Varietätenraum. In: Zeitschrift für Germanistik N.F 11.1, 16⫺35. Hoffmann, Michael (2005): Textmustervarianz ⫺ am Beispiel von journalistischen Porträts. In: Muttersprache 115.2, 97⫺118. Hoffmann, Michael (2007): Funktionale Varietäten des Deutschen ⫺ kurz gefasst. Potsdam. Jakobson, Roman (1972) [1960]: Roman Jakobson, Linguistik und Poetik. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Hrsg. v. Jens Ihwe. Frankfurt a. M., Bd. 1, 99⫺135. Janich, Nina (1999): Werbesprache. Ein Arbeitsbuch. Tübingen. Kurz, Josef/Daniel Müller/Joachim Pötschke/Horst Pöttker (2002): Stilistik für Journalisten. Wiesbaden. Löffler, Heinrich (1994): Germanistische Soziolinguistik. 2., überarb. Aufl. Berlin (Grundlagen der Germanistik 28). Löffler, Heinrich (2005): Germanistische Soziolinguistik. 3., überarb. Aufl. Berlin: Schmidt (Grundlagen der Germanistik 28). Lüger, Heinz-Helmut (1995): Pressesprache. 2. Aufl. Tübingen (Germanistische Arbeitshefte 28). Mackeldey, Roger (1987): Alltagssprachliche Dialoge. Kommunikative Funktionen und syntaktische Strukturen. Leipzig. Mukarˇovsky´, Jan (1976) [1940]: Über die Dichtersprache. In: Scharnhorst/Ising (1976), 162⫺228. Riesel, Elise (1963) [1959]: Stilistik der deutschen Sprache. 2. Aufl. Moskau. Riesel, Elise (1970): Der Stil der deutschen Alltagsrede. Leipzig. Riesel, Elise (1974): Theorie und Praxis der linguostilistischen Textinterpretation. Moskau. Riesel, Elise/Evgenia Schendels (1975): Deutsche Stilistik. Moskau. Roelcke, Thorsten (1999): Fachsprachen. Berlin (Grundlagen der Germanistik 37). Scharnhorst, Jürgen/Erika Ising (Hrsg.) (1976): Grundlagen der Sprachkultur. Beiträge der Prager Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege. Berlin (Sprache und Gesellschaft 8/1). Schwitalla, Johannes (1997): Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung. Berlin (Grundlagen der Germanistik 33). Sowinski, Bernhard (1973): Deutsche Stilistik. Beobachtungen zur Sprachverwendung und Sprachgestaltung im Deutschen. Frankfurt a. M.
Ines-Andrea Busch-Lauer, Leipzig (Deutschland)
104. Verfahren stilistischer Textanalyse
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104. Verahren stilistischer Textanalyse 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Stiltheorien und Stilanalyse Verfahren produktionsorientierter Stilauffassungen Verfahren der textorientierten Stilanalyse Empirische Methoden der Rezeptionsstilistik Verfahren für eine integrative Stilanalyse Literatur (in Auswahl)
Abstract There is not a single method of stylistic text analysis. Approaches to describe style are determined by concepts of style and their theoretical foundation. The critical review of methods, old and new, classifies approaches according to the main components of communication: textual production (speaker, writer, author), text and textual reception (listener, reader). On the production side there is especially the theory of style as choice, which is presented, with the comparison of author variants and the reconstruction of possible alternatives offered by the language system. Theories of styles restricted only to the text have proposed different approaches such as the description by means of rhetorical categories, by text immanent hermeneutics, by analysis of contextual deviations and by purely formal analysis of statistical data. Empirical methods on the reception side include (the) investigation(s) of reader response, experimental text manipulation, and visual representation of macro stylistic structures. It is argued that stylistic text analysis needs comparison of textual alternatives and the integration of different methods into a comprehensive communicative conception of style and stylistic analysis.
1. Stiltheorien und Stilanalyse Das Phänomen ,Stil‘ in Texten hat seit der Rhetorik der Antike immer wieder zu Definitionen und zu neuen theoretischen Entwürfen herausgefordert. Auch im praktischen Umgang mit Sprache hat die Kategorie ,Stil‘ eine lange Geschichte. In der abendländischen Bildungstradition ist der Gegenstand in den ,Artes Liberales‘ fest verwurzelt. Unter der Bezeichnung ,Rhetorik‘ wird die Technik des guten Sprechens und Schreibens vermittelt ⫺ als Ergänzung zum Lehrgebiet ,Grammatik‘, in dem die Technik des richtigen Sprechens und Schreibens gelehrt wird. ,Stil‘ ist dabei eine sprachliche Textqualität, die theoretisch dargestellt, vor allem aber praktisch als Textproduktion eingeübt wird. Aber auch als rezeptive Textkategorie hat der Objektbereich ,Stil‘ eine lange Tradition: in der Textexegese, der Texterklärung, der philologischen Textinterpretation ⫺ zunächst in der Auslegung religiöser und juristischer Texte, dann in der Erläuterung literarischer Texte. Sehr viel später kommt ein linguistisches Interesse an der Analyse von Fachtexten und alltagssprachlichen Äußerungen hinzu. Von Anfang an wird diskutiert, wie die Besonderheiten von Texten analysiert und beschrieben werden sollen, wie sie
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik verstanden, interpretiert und didaktisch kommentiert werden sollen. Stilistische Textanalyse wird ausgiebig betrieben ⫺ mit oder ohne theoretische Fundierung. Die Diskussion über geeignete Analyseverfahren ist längst nicht abgeschlossen.
1.1. Traditioneller Diskussionsstand In literaturwissenschaftlichen Diskussionen wird mitunter argumentiert, da jeder Text individuell und einmalig sei, könne es auch keine allgemein gültige Methode für die Stilanalyse und die Textinterpretation geben. Es hat den Anschein, dass solche Meinungen vor allem in der deutschsprachigen Germanistik im Schwange sind. Man geht kaum fehl in der Annahme, dass hier die Doktrin germanistischer ,Klassiker‘ des 20. Jahrhunderts ⫺ z. B. Kayser, Staiger, Seidler ⫺ fortwirkt. Ihrer Auffassung einer Analyse sprachlicher Kunstwerke liegen ⫺ vereinfacht resümiert ⫺ drei Annahmen zu Grunde: die Analyse hat als werkimmanente Interpretation zu geschehen; das Restkunstwerk ist in sich homogen und stimmig: jedes Einzelelement verweist auf das Ganze und das Ganze spiegelt sich in jedem einzelnen Textmerkmal wider; die Individualität jedes literarischen Textes schließt in der Analyse jede explizite Methode aus. Diese Prinzipien lassen sich verkürzt durch folgende Zitate belegen: „Wir nennen Stil das, worin ein vollkommenes Kunstwerk ⫺ oder das ganze Schaffen eines Künstlers oder auch seiner Zeit ⫺ in allen Aspekten übereinstimmt. […] Im Stil ist das Mannigfaltige eins. Er ist das Dauernde im Wechsel. Daher denn alles Vergängliche unvergänglichen Sinn gewinnt durch Stil. Kunstwerke sind vollkommen, wenn sie stilistisch einstimmig sind.“ (Staiger 1967, 14). „Daß Stil eine Einheit ist, wird dabei mitgedacht: alle Merkmale, die zum Stil gehören, daß heißt die Stilzüge, sind irgendwie aufeinander abgestimmt.“ (Kayser 1961, 281) „Das allersubjektivste Gefühl gilt als die Basis der wissenschaftlichen Arbeit! Ich kann und will es nicht leugnen. […] Begabung wird erfordert, außer der wissenschaftlichen Fähigkeit ein reiches und empfängliches Herz, ein Gemüt mit vielen Saiten, das auf die verschiedenen Töne anspricht. […] Das Kriterium des Gefühls wird auch das Kriterium der Wissenschaftlichkeit sein.“ (Staiger 1955, 12 f.) „Wer den Stil eines Werkes untersuchen will, der muß zunächst das Werk voll und tief auf sich wirken lassen, ohne alle Nebengedanken an Stilzüge und Formen. Bei einer wiederholten Lesung kann dann auf Stilzüge geachtet werden, oder besser: man muß sich von ihnen ansprechen lassen. […] Eine Stiluntersuchung ist kein mathematischer Beweis; um beginnen zu können, braucht sie Fingerspitzengefühl und Intuition, und sie braucht beides während der weiteren Arbeit.“ (Kayser 1961, 329) „Streng genommen gibt es in der Literaturwissenschaft überhaupt keine Methode, jedenfalls keine, die immer zur Anwendung geeignet sein könnte und dies einfach deshalb, weil jedes Kunstwerk, vor allem jedes bedeutende Kunstwerk etwas Einmaliges ist. Es muß deshalb stets von Fall zu Fall eine geeignete Methode, besser gesagt Untersuchungsart gefunden werden. Sie ergibt sich meist intuitiv nach einer intensiven Lektüre des Textes. Es gibt also theoretisch so viele Untersuchungsweisen wie Texte.“ (Huber 1964, 58)
Gegen die drei Prinzipien lässt sich einwenden, dass einer von ihnen nie empirisch belegt wurde und dass die beiden anderen wissenschaftstheoretisch unhaltbar sind. Es ist kei-
104. Verfahren stilistischer Textanalyse
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nerlei Untersuchung bekannt, die beweist, dass ein einzelnes stilistisches Textmerkmal Struktur, Qualität oder Stil des Gesamttextes repräsentativ widerspiegelt (oder umgekehrt), dass eine Einheit des Stils besteht (Seidler 1963, 58). Dieses Kriterium würde überdies Stilwechsel, Stilbrüche und personenspezifische Stilunterschiede bei wörtlicher Rede innerhalb eines Textes ausschließen. Eine textimmanente Stilanalyse, „die Stilkritik oder immanente Deutung der Texte“ (Staiger 1967, 162) hat den Vorzug, dass die Textmerkmale bei der Analyse im Vordergrund stehen, ist aber methodisch undurchführbar, da der Analysierende ⫺ bewusst oder unbewusst ⫺ seine Leseerfahrungen aus früheren Textlektüren einbringt. Die Behauptung, die Individualität jedes Textes schließe Analysemethoden aus, ist schlicht unhaltbar. Dann müsste nämlich ein einfaches technisches Verfahren wie das Messen ebenfalls unmöglich sein. Hierbei wird nämlich ein jeweils individueller Gegenstand mit einer normierten Maßeinheit verglichen. Selbst wenn man einräumt, dass die Stilanalyse eines Textes ungleich komplexer ist als ein formaler Messvorgang, ist das Individualitätsargument wissenschaftstheoretisch unstimmig. Es wird in der Regel angeführt, um ein intuitives, unmethodisches Vorgehen zu rechtfertigen. Typisch dafür ist Kaysers berühmtes Werk Das sprachliche Kunstwerk, das von 1948 bis 1992 immerhin 20 Auflagen erlebte und lange Zeit maßgeblich die germanistische Textanalyse prägte. Von den 445 Seiten des Textes behandelt nur knapp mehr als eine Seite Methodisches zur Stiluntersuchung, immerhin mit einigen Hinweisen zum Verfahren der Analyse: „Die Möglichkeiten des Fehlens, die in dem intuitiven Charakter der Stiluntersuchung liegen, können nur durch größte Behutsamkeit und Ehrlichkeit bei der Arbeit ausgeschaltet bzw. zurückgedrängt werden.“ (Kayser 1961, 329)
Hier werden allerdings keine Methoden vermittelt, sondern forschungsethische Fingerzeige erteilt („Behutsamkeit und Ehrlichkeit“).
1.2. Stilanalyse ohne Methode? Bereits diese ersten Vorüberlegungen lassen Zweifel daran entstehen, ob es grundlegende und systematische Anleitungen zu Verfahren stilistischer Textanalyse gibt. Umso erstaunlicher ist es, dass unvorstellbar viele Arbeiten zum Stil ⫺ insbesondere in literarischen Werken ⫺ publiziert wurden. Die hohe Anzahl hat dazu geführt, dass bereits vor dem Entstehen der Bibliographie Linguistique damit begonnen wurde, diese Publikationsfülle in umfangreichen Bibliographien zu dokumentieren (vgl. u. a. Hatzfeld 1929/1932; 1944/ 46; 1953; 1966; Hatzfeld/Le Hir 1961; Alston/Rosier 1967; Bailey/Burton 1968; Bailey/ Dolezˇel 1968; Bennett/Staftström 1973; Milic 1967; Roberts 1963; Todorov 1970; Sanders 1995). Solche Stilbibliographien wurden und werden auch in Jahresbibliographien von thematisch einschlägigen Periodika fortgeführt (z. B. in einigen Jahrgängen der Zeitschrift Style). Es bedarf keiner statistischen Auswertung um festzustellen, dass Anleitungen zu Verfahren der Stiluntersuchung und theoretische Reflexion zu Methoden der Stilanalyse in der Fülle der Einzelpublikationen verschwindend gering sind und oft auch nur kurz abgehandelt werden (vgl. u. a. Pongs 1929; Vergnaud 1959; Achmanova 1966; Riesel
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik 1974; Schmidt 1977/78; Hoffmann 1979; Püschel 1980; Spillner 1984). Selbst in Abhandlungen, die sich explizit der Methodik von Stiluntersuchungen verschreiben, erfährt man wenig über anwendbare Analyseverfahren, z. B.: Auf der Basis dieser Überlegungen lassen sich als methodische Grundstufen innerhalb der linguistischen Stiluntersuchung folgende Ebenen festlegen: (1) (2) (3) (4)
das Erfassen des Redeganzen, das Erfassen der Stilelemente, das Erfassen der Stilzüge, die Stilbeschreibung.
¸ ˝ ˛
⫺ Analysestufen ⫺ Synthesestufe
(Michel 1972, 73)
Hier finden sich Empfehlungen über eine gegliederte Reihenfolge des Vorgehens, aber keinerlei Ansätze zu systematischen Analyseverfahren. Wenn überhaupt überlegt über Stil reflektiert wird, sind die Autoren sich einig, dass es sich bei ,Stil‘ um „one of the thorniest concepts to be dealt with“ handelt (Crystal 1987, 66) und bei Stilistik um eine der „komplizierten, wahrscheinlich noch auf lange Sicht keineswegs widerspruchsfreien sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen“ (Peukert 1977, 76). Und der von Aronstein (1920, 251) beklagten Feststellung: „Was ist Stil und was ist Stilistik? Die Worte sind sehr vieldeutig.“ muss man sich leider auch heute noch anschließen. Auch das vor vier Jahrzehnten formulierte Ziel, es solle „die Stiluntersuchung im Zuge der weiteren Wissenschaftsentwicklung von der intuitiven ⫺ wenn auch noch so feinsinnigen ⫺ Deutung zur lehrbaren und weitgehend didaktisch-programmierbaren Textcharakteristik geführt werden.“ (Michel 1972, 8) ist bis heute Desiderat geblieben.
1.3. Terminologische Eingrenzungen Selbstverständlich ist es legitim, eine Stilanalyse ad hoc ganz intuitiv und umgangssprachlich auszuführen. Legitim ist auch, die Interpretation eines literarischen Textes ⫺ wenn man denn meint, dass für eine solche Texterklärung bei interessierten Adressaten Bedarf besteht ⫺ individuell nach eigenem Gutdünken vorzunehmen. Eine solche Deutung ist dann aber eine persönliche Stellungnahme und keine wissenschaftliche Untersuchung. Von wissenschaftlichem Vorgehen ist zu verlangen, dass es systematisch und regelgeleitet ist und dass es mit lehr- und lernbaren Methoden arbeitet. Prinzipiell ist sogar zu erwarten, dass Analysen unabhängig von Untersuchungspersonen zu identischen Resultaten führen. Für naturwissenschaftliche Experimente gilt, dass sie bei gleichen Rahmenbedingungen und identischen Methoden zu jeweils identischen Ergebnissen führen müssen. Nun ist einzuräumen, dass gegenüber physikalischen Versuchen die stilistische Textanalyse sehr viel komplizierter und tiefschichtiger ist. Bei älteren Texten ist zu bedenken, dass Textrezeption und Textverständnis historischem Wandel unterworfen sein können. Stiluntersuchungen können ggf. auch durch unterschiedliche Leseerfahrungen der Analysierenden variieren. Analyseverfahren können ferner ⫺ im Gegensatz zu messbaren Experimenten ⫺ nicht beliebig wiederholt werden. Dennoch sollte das Postulat identischer Resultate bei vergleichbaren Analysebedingungen und identischen Methoden auch für die Stilanalyse ernst genommen werden. Die Annahme, literarische Texte seien unterschiedlich interpretierbar, weil sie wesenhaft mehrdeutig und unterschiedlich verstehbar
104. Verfahren stilistischer Textanalyse
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„Stilistik“ (im weiteren Sinne) Stilforschung
mehrsprachlich sprachextern komparativ
„Vergleichende Stilistik“ unterschiedliche sprachliche Realisierungsmuster kontrastiv in verschiedenen Sprachen Übersetzungswissenschaft
einzelsprachlich sprachintern
deskriptiv analytisch
präskriptiv normativ
„Stilistik“ (im engeren Sinne) Textproduktion Anleitung/ Anweisung zum guten Stil (Stildidaktik)
individuell
„Stilanalyse“ Einzeltexte Textanalyse (Linguistik/ Literaturwisenschaft)
kollektiv
systembezogen
subsystembezogen
„Sprachstile“ „Funktionalstilistik“ „Stile“ (Pragmalinguistik/ Varietätenlinguistik)
„Epochenstil“ „Gattungsstil“ „Altersstil“ ... ... (Literaturwissenschaft)
Abb. 104.1: Terminologie der Stilistik
seien, ist nicht schlüssig. Erstens gilt dieses Argument mindestens graduell für alle Texte (z. B. auch für juristische Anweisungstexte). Und zweitens lassen sich sprachliche Mehrdeutigkeiten sehr wohl herausarbeiten, auflisten und beschreiben. Auf Lexemebene leisten einsprachige Wörterbücher dies ganz hervorragend. Die Termini ,Stil‘ und ,Stilistik‘ werden sehr unterschiedlich verwendet. Wenn daher wenigstens ansatzweise Verfahren stilistischer Textanalyse beschrieben werden sollen, ist eine terminologische Abgrenzung von sprachlichen Stilkonzeptionen unabdingbar.
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik Die ,Vergleichende Stilistik‘ ist Teil der Übersetzungswissenschaft. Sie geht davon aus, dass in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Muster für Äußerungen bestehen, die bei der Übersetzung berücksichtigt werden müssen (z. B. Nominalstil vs. verbaler Stil, abstrakte vs. konkrete Lexik, Komposition vs. analytische Wortbildung). Verfahren sind die kontrastive Analyse von Einzelbeispielen in der Ausgangssprache und den Äquivalenten in der Zielsprache, anschließend die Generalisierung der Transpositionsprozesse im Übersetzungsprozess. Ziel ist die Anwendung in der Übersetzungsdidaktik. Mit stilistischer Textanalyse hat die ,Vergleichende Stilistik‘ nichts zu tun. ,Stilistik‘ im weiteren Sinne wird für alle Aktivitäten gebraucht, die sich mit Sprachstil befassen; als Quasi-Synonym gibt es den Terminus ,Stilforschung‘. Im engeren Sinne bezeichnet ,Stilistik‘ die einzelsprachliche normative Anleitung zum guten Stil. Sie ist damit Nachfolgerin der traditionellen Rhetorik, verstanden als ars bene dicendi et scribendi, also als Technik des guten, schönen, wirkungsvollen Sprechens und Schreibens. Im Gegensatz zur antiken Rhetorik ist in neueren Stilistiken meistens nicht angegeben, nach welchen Kriterien sprachliche Formulierungen stilistisch ,gut‘ oder ,schlecht‘ sind (warum z. B. im Deutschen Verben ,besser‘ sind als Nomina oder Aktivsätze ,besser‘ als Passivsätze). Eine ,Stilistik‘ in diesem Sinne ist Teil der Stildidaktik bzw. der Aufsatzlehre, sie ist Anleitung zur Produktion (vorwiegend schriftsprachlicher) Texte nach vorgegebenen Normkriterien. Verfahren sind vorwiegend die Versprachlichung von normativen Regeln nach der Vorlage von (meist literarischen) Mustertexten, in älteren Stilistiken auch die Übersetzung fremdsprachlicher (z. B. lateinischer) Texte in die Muttersprache, die imitative Übertragung von Mustersätzen auf neue Sachverhalte und die Korrektur von stilistisch ,schlechten‘ Beispielsätzen. Innerhalb der deskriptiv-analytischen Ansätze der Stilforschung können jene zusammengefasst werden, die ,Stil‘ auf das Sprachsystem bzw. auf Sub-Systeme beziehen. Sie gehen zurück auf die Funktionalstilistik der Prager Schule bzw. die russische Stilforschung (vgl. u. a. Riesel 1959; Garvin 1964; Dolezˇel/Kraus 1972; Riesel 1975; Riesel/ Schendels 1975; Scharnhorst 1981). Auch die meisten pragmatisch orientierten Stilkonzeptionen lassen sich auf diesen Ansatz zurückführen (siehe z. B. Rehbein 1983; van Peer/Renkema 1984; Sandig 1984; Stolt 1984; Hickey 1987; Püschel 1991; Sandig 2006). In diesen Arbeiten wird der Terminus ,Stil‘ häufig im Plural verwendet (,Funktionalstile‘, ,Stile‘). Die Analyseverfahren decken sich weitgehend mit denen der Varietätenlinguistik und der pragmatisch fundierten Textlinguistik.
1.4. Stilkonzeptionen und Analyseverahren ,Stilanalyse‘ im eigentlichen Sinn bezieht sich auf die wissenschaftliche Untersuchung individueller Einzeltexte. Es besteht heute Konsens darüber, dass ,Stil‘ eine Qualität aller Texte ist (also gesprochene und geschriebene Texte, alltagssprachliche, literarische, fachliche Texte usw.). Eine Annäherung an eine linguistisch (und semiotisch) zu fundierende Stiltheorie ist am ehesten möglich, wenn eine natürliche Sprache nicht mit der Kategorie ,Homogenität‘ konzipiert wird, sondern mit dem Merkmal ,Varietät‘. ,Stil‘ ist dann gebunden an die Existenz unterschiedlicher Ausdrucksmöglichkeiten. Es besteht also Einigkeit darüber, dass sprachlicher Stil an die Kategorie der sprachlichen Varietät geknüpft ist, sehr vereinfacht formuliert: dass ein und derselbe Inhalt
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sprachlich unterschiedlich realisiert werden kann. Damit zusammen hängt die Annahme, dass die Stilistik jene Lücken der sprachwissenschaftlichen Deskription ausfüllt, die von der Semantik nicht (oder noch nicht) ausgefüllt sind. Tatsächlich liegt eine solche Annahme ⫺ explizit oder implizit ⫺ den meisten linguistischen Stilkonzeptionen zugrunde, z. B.: „Roughly speaking, two utterances in the same language which convey approximately the same information, but which are different in their linguistic structure, can be said to differ in style: ,He came soon‘ and ,He arrived prematurely‘.“ (Hockett 1958, 556)
Dieser Einstieg in die Stilproblematik zeigt einerseits wichtige Definitionsmerkmale ⫺ grammatische Varietät bei semantischer Invarianz ⫺, andererseits aber auch Vagheit der semantischen Beschreibung („approximately the same information“, „roughly speaking“). Es stellt sich dabei die linguistisch heikle und umstrittene Frage nach der Synonymie. Ein Stilunterschied ist eine formale Varietät zweier oder mehrerer synonymer paraphrastischer Äußerungen. Wenn es gelänge, die semantische Analyse so zu verfeinern und zu differenzieren, dass jedweder sprachlichen Varietät eine je differente semantische Interpretation zugeordnet werden könnte, wäre eine eigenständige Kategorie ,Stil‘ überflüssig geworden; die Stilistik wäre in die Semantik integriert. Solange dies nicht geschehen ist, kann als ,Stil‘ diejenige Differenzqualität alternativer Äußerungen angesetzt werden, denen die linguistische Semantik keine unterschiedlichen Bedeutungen zuordnet bzw. die von den Sprechern der Sprache nicht als bedeutungsdifferent aufgefasst werden. Es ist klar, dass Hocketts Charakterisierung von Stil als Einstieg in die Problematik der Stilistik geeignet ist, als heuristischer Zugang zu einer wissenschaftlichen Stilanalyse, nicht jedoch als hinreichende Stildefinition. Eben eine solche steht jedoch bislang aus. Auch wenn einige Grundprinzipien stilistischer Varietät anerkannt sind, gibt es bislang keine allgemein akzeptierte Stildefinition, die als Grundlage einer darauf aufbauenden Methodik der Stilanalyse dienen könnte. Neuere Übersichten zur Stilistik erschöpfen sich z. T. in einer Dokumentation (und ggf. kritischen Sichtung) von vertretenen Stilkonzeptionen (vgl. z. B. Spillner 1974a, fast identisch übernommen von Sanders 1977 und ⫺ als beeindruckende historisch fundierte Darstellung ⫺ Müller 1981). Ein Überblick über Verfahren der stilistischen Textanalyse kann daher nicht allgemeingültig verfahren, sondern muss notgedrungen von bestehenden Stilkonzeptionen ausgehen. Sie lassen sich einteilen nach den kommunikativen Hauptkomponenten Text, Produktionsseite (Sprecher, Schreiber, Autor) und Rezeptionsseite (Hörer, Leser, Adressat). Damit wird gleichzeitig die Position vertreten, dass eine künftige Stiltheorie ⫺ oder auch nur Stildefinition ⫺ mindestens diese rudimentären kommunikativen Komponenten enthalten muss.
2. Verahren produktionsorientierter Stilauassungen Wenn man der Ansicht ist, dass Stil vor allem Indiz bestimmter kommunikativer Absichten, Intentionen des Texturhebers ist, muss die Stilanalyse am Prozess der Hervorbringung von stilistisch relevanten Äußerungen ansetzen. Die Stilanalyse muss dann versuchen, Motivationen des Sprechers/Schreibers zu ermitteln oder doch wenigstens die Relationen zwischen der Persönlichkeit/Psyche des Autors und dem produzierten Text zu
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik ermitteln oder zu rekonstruieren. Der letztere Ansatz kann in zwei verschiedenen Richtungen geschehen. Einmal kann man versuchen, aus den individuellen Befindlichkeiten des Texturhebers, seiner Individualität, seinem Charakter, seinen Mitteilungsintentionen den Stil des produzierten Textes abzuleiten und zu erklären. Zum anderen kann man umgekehrt versuchen, aus stilistischen Textmerkmalen auf Persönlichkeit und Charakter des Texturhebers rückzuschließen. Dieser Ansatz lässt sich mit der psychologischen Graphologie vergleichen, mit der man versucht, aus charakteristischen Merkmalen der Handschrift auf die Persönlichkeit des Schreibers rückzuschließen. Beide Analyserichtungen ⫺ vom Verfasser zum Text und vom Text zum Verfasser ⫺ werden auch miteinander kombiniert oder zirkulär aufeinander bezogen.
2.1. Rekurs au metasprachliche Autorenäußerungen In der literaturwissenschaftlichen Textinterpretation ist versucht worden, Stilmerkmale an Hand von metasprachlichen Äußerungen des Autors zu erklären. Dieser Ansatz hat methodisch zur Folge, möglichst umfangreich Bemerkungen des Verfassers zu seiner Arbeitsweise und seinen Stilintentionen auf Grund von Tagebüchern, Interviews, Kommentaren etc. zusammen zu stellen und auszuwerten. Das Verfahren setzt voraus, dass der literarische Autor ⫺ sich genau über seine sprachstilistische Arbeit bewusst ist bzw. darüber reflektiert und ⫺ mit seinen metasprachlichen Äußerungen die Wahrheit sagt. Beide Annahmen sind mehr als fraglich. Marcel Proust z. B. hat selbst behauptet, sein komplexer Stil sei eine Folge seiner komplizierten „vision du monde“ (vgl. Spillner 1971, 140) ⫺ eine Aussage, die in der literaturwissenschaftlichen Textinterpretation gern aufgegriffen wurde. Die erhaltenen Manuskripte zeigen jedoch, dass der Autor beständig am Text gearbeitet hat: Streichungen, aber vor allem syntaktische Einschübe (bis zu sechs Schichten mit Zetteln aufgeklebte Zusätze). Nun lässt sich natürlich deuten, die Weltsicht des Autors habe sich beständig geändert und sei immer komplexer geworden. Es lässt sich aber auch vermuten, dass der Satzbau durch die ständigen Zusätze immer komplexer und unübersichtlicher geworden ist. Beide Annahmen lassen sich nicht beweisen. Es spricht aber Einiges für die Vermutung, Proust habe mit seinen werkbezogenen Äußerungen seine metikulöse Textproduktion verschleiern wollen. Falls trotz aller Vorbehalte dieses Verfahren für die literarische Textarbeit verwendet wird, muss die Stilanalyse alle metasprachlichen Autorenäußerungen auswerten und darf sich nicht auf Einzelzitate beschränken.
2.2. Biographische und textgenetische Ansätze Ein produktionsorientiertes Verfahren wird auch dann verwendet, wenn nicht auf metasprachliche Äußerungen eines Autors rekurriert wird, sondern auf seine Biographie. Dies ist nötig, wenn es etwa um emigrierte Autoren handelt, die in einer Zweitsprache publizieren. Hier ist natürlich mit stilistisch relevanten Interferenzen aus der Muttersprache oder mit erstsprachlichen Leseerfahrungen zu rechnen. Bei allen Autoren können Ausbil-
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dung, Wissensbestände, Leseerfahrungen bei der Textproduktion eine Rolle spielen. Zu diesem Zweck müssen ggf. biographische Einzelheiten methodisch ermittelt werden (Vita, Schulbildung, Lektürekanon etc.). Selbstverständlich können intertextuelle Bezüge, Reaktionen auf stilistische Modeströmungen usw. den Stil von ⫺ insbesondere literarischen ⫺ Autoren beeinflussen. Zu beachten sind auch genetische Elemente wie literarische Vor- und Endfassungen (z. B. Goethe: Urfaust vs. Faust I, Iphigenie in Prosafassung vs. in metrischer Form). Hierbei sind biographische Verfahren mit Methoden des Textvergleichs zu verbinden (vgl. dazu die von Guiraud (1954; 1970) unter der Bezeichnung ,stylistique ge´ne´tique‘ zusammen gefassten Richtungen der Stilforschung).
2.3. LHomme et luvre Das in der französischen Literaturwissenschaft sehr verbreitete Verfahren ,L’Homme et l’œuvre‘ geht auf den Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804⫺1869) zurück. Ende des 19. und im 20. Jahrhundert, aber auch noch bis in die Gegenwart sind über zahlreiche (vor allem französische) Schriftsteller und Philosophen Monographien mit dem Titelhinweis ,L’Homme et l’œuvre‘ verfasst worden. Dabei geht es darum, die Biographie des Verfassers mit seinem publizierten Werk zu verbinden. Dies ist dann legitim, wenn ein besonderes Interesse am Lebenslauf eines Autors besteht. Im Hinblick auf die Stilanalyse bieten sich dabei drei verschiedene Verfahren an. Einmal können Besonderheiten der Vita (Herkunft, soziale Schicht, Familienzugehörigkeit, Lebensschicksal, Charakter) als Motivation für die persönliche Schreibweise angenommen und mit Textmerkmalen korreliert und gedeutet werden. Das Vorgehen erfordert eine möglichst genaue Erforschung der Lebensumstände des Verfassers und viel Phantasie beim Interpretieren, um Korrelationen zwischen biographischen Daten und stilistischen Textmerkmalen herzustellen. So hat man von der Biographie Marcel Prousts ausgehend den eigenwilligen Stil u. a. als Auswirkung des Stils im Talmud, als Reflex der Sprache von John Ruskin (den Proust übersetzt hatte), als beeinflusst von der Filmdramaturgie bei Max Ophüls oder als sprachliche Nachbildung des Eiffelturms gedeutet (vgl. Spillner 1971, 144 ff.). Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass man von auffälligen Stileigentümlichkeiten im Text ausgeht und sie auf aus der Biographie bekannte (oder vermutete) Besonderheiten des Autors zurückführt. So hat man Prousts Satzbau z. B. auf das Asthma-Leiden des Autors zurück geführt, aber auch auf frühkindliche Mutterbindung und sogar auf seine homosexuellen Neigungen (vgl. Spillner 1971, 187 f.). Aus solchen Stildeutungen lässt sich leicht entnehmen, dass eher psychoanalytisches Interesse eine Rolle spielt als literaturwissenschaftliche Textanalyse. Die dritte Möglichkeit besteht darin, dass beide Verfahren zirkulär miteinander verbunden werden. Ein auffälliges Textmerkmal wird auf einen biographischen Umstand zurückgeführt und dieser dann wiederum durch andere Textmerkmale belegt und bestätigt. Auch hier wird das stilistische Interesse oft von psychoanalytischer Deutung überlagert, z. B. in einer Interpretation zum Stil Heinrich Kleists: „Seine Konstruktionen und seine Interpunktion verraten den französischen Einfluß. Manches ist märkische Eigenart, manches sprachlicher Wildwuchs, anderes ist schlechthin falsch.
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik Kleists Prosa leidet nicht selten an syntaktischer Verstopfung ⫺ verdickte Galle, wie man sie später im Leibe des Toten finden wird. Die Perioden kämpfen mit Atemnot, den Versen fehlt es an Ruhe und edlem Fluß […].“ (Blöcker 1960, 226)
Es versteht sich von selbst, dass solche (durchaus ernst gemeinten) biographisch-stilistischen Kurzschlüsse mit akzeptablen Verfahren der Stilanalyse nichts gemein haben.
2.4. Auswahlstilistik Für die gegenwärtige linguistische Stilanalyse spielt die Konzeption einer Auswahlstilistik eine große Rolle. Sie geht davon aus, dass der Autor eines Textes prinzipiell mehrere sprachliche Möglichkeiten hat, einen Sachverhalt auszudrücken. Er trifft nach bestimmten Ausdrucksabsichten (Stilintentionen) eine Wahl unter Alternativen, die das Sprachsystem ihm anbietet. Dieses ,concept of style as choice‘ (Russell 1971, I, 76; vgl. Marouzeau 1965, 10) stimmt genau mit der eingangs zitierten Stilumschreibung von Hockett überein. Die Auswahl kann bewusst oder unbewusst geschehen (vgl. Spillner 1974a, 45⫺ 49); sie ist auch nie völlig frei, sondern bis zu einem gewissen Grade durch gesellschaftliche Normen, sprachliche Regeln, stilistische Konventionen determiniert (vgl. u. a. Asmuth/Berg-Ehlers 1974, 28; Sandig 1978, 39⫺42). Sprachliche Varietät, die semantisch nicht differenziert wird, Auswahlmöglichkeiten unter alternativen Varietäten des Sprachsystems und die Annahme, dass die sprachlichstilistischen Folgen der Auswahl im Text kodiert sind, stellen also wichtige Grundlagen für eine linguistische Stiltheorie dar. Die Auswahlstilistik ist also ein wichtiger Baustein für eine kohärente Stilkonzeption; sie vernachlässigt jedoch Komponenten des literarischen Kommunikationsprozesses ⫺ vor allem die Komponente des Lesers. Besonders vielfältig sind die Wahlmöglichkeiten des Autors im Bereich des Wortschatzes und des Satzbaus (besonders der Satzstellung). Bereits in der Stilistik der traditionellen Rhetorik waren drei Stilebenen unterschieden worden (im Mittelalter unter der Bezeichnung ,Rota Virgilii‘ geläufig), für die der Autor je verschiedene Lexeme auszuwählen hatte (vgl. Lausberg 1960, 519⫺525). Auf die deutsche Sprache übertragen, könnte die lexikalische Differenzierung nach Stilebenen etwa so aussehen: (1) Hohe Stilebene: entschlafen, Antlitz, Ross (2) Mittlere Stilebene: sterben, Gesicht, Pferd (3) Niedere Stilebene: verrecken, Fresse, Gaul Diese Lehre von den Stilebenen ist natürlich der präskriptiven Stilistik zuzurechnen; die Ebenen sind an literarische Gattungen gebunden. Bei der Textproduktion hat der Autor noch größere Wahlmöglichkeiten unter Quasi-Synonymen und Umschreibungen. Je nach lexikalischer Wahl und der potentiellen Reaktion des Rezipienten ändert sich der Stil. Auch auf syntaktischer Ebene stehen dem Autor viele alternative Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung. Ihre Zahl ist umso größer, je freier die Wort- und Satzstellung der betreffenden Sprache ist. So sind im Lateinischen aufgrund der differenzierten Flexion die Positionsmöglichkeiten der Satzglieder fast unbegrenzt. Auch das Deutsche kommt mit einer relativ geringen Anzahl obligatorischer syntaktischer Stellungsregeln aus, verfügt also vom Sprachsystem her über einen hohen Grad an syntaktischen Alternativen und damit an Auswahlmöglichkeiten bei der Textproduktion; z. B.:
104. Verfahren stilistischer Textanalyse (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) …
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Gestern ging Hans froh mit seiner Tante in den Zoo. In den Zoo ging Hans gestern froh mit seiner Tante. Hans ging gestern mit seiner Tante froh in den Zoo. Froh ging Hans gestern mit seiner Tante in den Zoo. Hans ging mit seiner Tante gestern froh in den Zoo. Mit seiner Tante ging Hans gestern froh in den Zoo. Froh in den Zoo ging Hans gestern mit seiner Tante.
Natürlich sind nicht alle mathematisch denkbaren Permutationen syntaktisch möglich. Zu den akzeptablen Realisierungen können vergleichend ggf. Stilintentionen und potentielle Stileffekte herausgearbeitet werden. Die Konzeption einer Auswahlstilistik bietet zwei unterschiedliche Methoden für die Stilanalyse an.
2.4.1. Stilistischer Textvariantenvergleich Viele Texte liegen in unterschiedlichen Fassungen vor. Dabei kann es sich um Korrekturen von Briefen handeln, um Überarbeitungen von Reden oder wissenschaftlichen Manuskripten, von Gesetzesentwürfen oder Gebrauchsanweisungen. Besonders interessant sind natürlich literarische Texte, die von ihrem Autor korrigiert, überarbeitet oder in einer späteren Fassung für besondere Mitteilungsabsichten elaboriert wurden, z. B.: (1) „Herrscher möge der sein, der seinen Vorteil verstehet; Doch wir wählten uns den, der sich auf unsern versteht.“ (1. Fassung) (2) „Mache zum Herrscher sich der, der seinen Vorteil verstehet! Doch wir wählten uns den, der sich auf unsern versteht.“ (2. Fassung) (Goethe, Venetianische Epigramme)
In der zweiten Fassung wird durch den strengen syntaktischen Parallelismus von ,der‘ und ,den‘ die Antithese verstärkt. Die Veränderung betont also die Erscheinungen der stilistischen Kongruenz. Solche Vergleiche lassen sich gut im Literaturunterricht durchführen, wobei Stilunterschiede leicht zu erkennen sind. Aus diesem Grund sind z. B. auch motivgleiche Gedichte mit gutem Erfolg verglichen worden. Wie bei allen Stilvergleichen ist jedoch zu bedenken, dass sich stilistische Unterschiede exakt nur bei semantischer Invarianz, das heißt Bedeutungsgleichheit, formulieren lassen. Als heuristisches Verfahren zur Ermittlung von potentiell stilistischen Besonderheiten eines Textes ist dieser Ansatz jedoch gut geeignet ⫺ vorausgesetzt, es sind vergleichbare Textvarianten überliefert. Dann jedoch können auch geringfügige Veränderungen stilistisch relevant sein, z. B.: (1) Und wenn die beiden gleich darauf sich trennen, beim ersten Wort ist jeder schon allein. Sie werden lächeln und sich kaum erkennen, aber sie werden beide größer sein … (1. Fassung) (2) Das erste Wort wird beide wieder trennen, ein jeder ist, mehr als vorher, allein;
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik sie werden lächeln und sich kaum erkennen, aber sie werden beide größer sein. (2. Fassung)
(Rilke, Begegnung/Zu solchen Stunden)
Ein Textvergleich zeigt Änderungen in der Interpunktion (mit stilistischer Wirkung vor allem am Schluss), die Einführung von Zäsuren im zweiten Vers, die Schaffung einer intensiven dreifachen Alliteration und eine wichtige semantische Veränderung: „die beiden trennen sich“ wird zu „das Wort wird beide trennen“. Schließlich führt der Autor in der zweiten Fassung auch einen inhaltlichen Zusatz ein („mehr als zuvor“). Bei jeder stilistischen Textveränderung ist mit unterschiedlichen Leserreaktionen zu rechnen. Auf der Produktionsseite ist der stilistische Textvariantenvergleich eine sehr geeignete Methode, mindestens teilweise die Auswahl des Autors zu objektivieren. Die Textvarianten sind für eine Stilanalyse besonders deshalb interessant, weil sie bei bedeutenden Autoren in historisch-kritischen Ausgaben dokumentiert und daher für einen Vergleich leicht zugänglich sind. Eine Gegenüberstellung lässt daher auf geänderte Mitteilungsabsichten, spezifische Stilintentionen und Präzisierung von kommunikativen Effekten schließen. Autorenvariantenvergleiche und andere Stilvergleiche sind in der literaturwissenschaftlichen Stilanalyse nicht häufig durchgeführt worden. Es liegen einige Textvariantenvergleiche vor (z. B. Keipert 1939; Albalat 1931; Arai 2007); verglichen worden sind auch unter stilistischen Aspekten Texte aus verschiedenen Schaffensperioden eines Autors (z. B. Adelson 1943; Bennett 1957). Literaturwissenschaftlich können Unterschiede beispielsweise als „Altersstil“ oder „Jugendstil“ eines Autors gedeutet werden. Zum Vergleich bieten sich auch Stile zweier oder mehrerer Autoren an, wobei gegebenenfalls themengleiche oder thematisch verwandte Texte zugrunde gelegt werden können (siehe u. a. Antoine 1973; Ortega 1972; Hayes 1966; Ardat 1980). Obwohl solche Stilvergleiche auch für unterschiedliche literarische Epochen, unterschiedliche Textsorten, geschriebene vs. gesprochene Sprache etc. durchführbar sind, fehlt es bislang an einer ausgebauten Vergleichsmethodologie, die insbesondere Vergleichsbedingungen, das „tertium comparationis“, erforderliche Größe der Textproben usw. klärt. Das Verfahren besteht in der Dokumentation von zugänglichen Textvarianten und ihrem Vergleich im Hinblick auf Unterschiede von Stilintentionen und Stileffekten. Der linguistische Befund kann Grundlage für eine literarische Interpretation sein.
2.4.2. Rekonstruktion von Alternativen des Sprachsystems Ausgehend von einem Lexem/Syntagma/Satz/Textabschnitt des stilistisch zu analysierenden Textes können Auswahlmöglichkeiten rekonstruiert werden, die dem Texturheber zur Verfügung standen. Bedingung ist, dass sie mit dem Original-Textsegment synonym sind oder doch mindestens ⫺ im Sinne der zitierten Definition von Hockett ⫺ annähernd bedeutungsäquivalent sind. Auf diese Weise ergibt sich eine Liste von alternativen Ausdrucksmöglichkeiten, die anschließend mit einander verglichen werden können, z. B.: Original: „Die schönen Tage in Aranjuez Sind nun zu Ende. Eure königliche Hoheit Verlassen es nicht heiterer.“
(Schiller, Don Carlos)
104. Verfahren stilistischer Textanalyse
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Paraphrasen: (1) Der Aufenthalt in Aranjuez hat Eurer Majestät zwar gut gefallen, aber die schlechte Laune nicht verändert. (2) Am Schluss des Kurzurlaubs in Aranjuez ist zu konstatieren, dass Hoheit ihn zwar sehr genossen hat, er aber dennoch nicht zu einer Aufhellung des Gemütszustandes beigetragen hat. (3) Auch nach der schönen Zeit in Aranjuez fühlen sich Eure Majestät noch genauso deprimiert wie vorher. (4) Die angenehme Zeit in Aranjuez ist jetzt beendet. Aber Ihr, Don Carlos, fühlt Euch nicht besser.
Dieses Verfahren ist besonders für die Stildidaktik der Textanalyse geeignet. Studenten oder Schüler können im Vergleich die stilistischen Besonderheiten der Originalfassung herausarbeiten und auf mögliche Stilintentionen des Autors schließen. Natürlich ist auch denkbar, den Probanden eine metasprachlich formulierte Kommunikationsintention vorzulegen und um eine oder mehrere sprachliche Realisierungen zu bitten, z. B.: [Jemand drückt aus, dass er früher einmal ohne eine besondere Absicht eine baumbestandene Landschaft durchquert hat]
Anschließend kann die zu analysierende (Original-)Fassung eines literarischen Textes zum Vergleich vorgelegt werden: „Ich ging im Walde So für mich hin, Und nichts zu suchen, Das war mein Sinn.“
(Goethe)
Es ist erstaunlich, dass solche Verfahren in der Stildidaktik praktisch überhaupt nicht eingesetzt werden.
3. Verahren der textorientierten Stilanalyse Selbstverständlich ist eine Stilanalyse ohne Berücksichtigung des Textes undenkbar. Eine ganze Reihe von theoretischen Stilkonzeptionen und praktischen Analyseverfahren versuchen jedoch oder geben vor, eine Stilanalyse ausschließlich am Text selbst vorzunehmen. Es wird jeweils zu prüfen sein, ob dies theoretisch haltbar und praktisch durchführbar ist.
3.1. Rhetorische Stilanalyse Die Rhetorik ist in der Antike als umfassendes Textproduktionssystem nach linguistischen und pragmatischen Kriterien entwickelt worden. Die Anleitung zum guten Sprechen und Schreiben reicht von der Ideenfindung bis zum wirkungsvollen Vortrag einer
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik Rede. Nach dem Erfolg des rhetorischen Systems als Anleitung zur Gerichtsrede wurde es bald auf den öffentlichen politischen Diskurs übertragen, später auch auf die Produktion schriftsprachlicher literarischer Texte. Von da aus lag der Schritt nahe, das Produktionssystem auf die Analyse und Beschreibung literarischer Texte zu übertragen. Tatsächlich ist das System der traditionellen Rhetorik in zwei Bereichen für die Stilanalyse interessant: dem Bereich der rhetorischen Tugenden (z. B. Angemessenheit, Klarheit, Kürze, Wirkung) und dem Bereich der bis in kleinste Einheiten elaborierten Produktionsstufe der rhetorischen Figuren. So ist immer wieder versucht worden, das rhetorische Beschreibungsinventar und die einschlägige Terminologie auf die Analyse literarischer Texte anzuwenden, im 20. Jahrhundert insbesondere von Lausberg und seiner Schule (vgl. u. a. Lausberg 1960; 1966). Das Verfahren hat sich in der literaturwissenschaftlichen Stilanalyse oft darauf beschränkt, rhetorische Figuren im zu analysierenden Text zu lokalisieren und mit griechischen bzw. lateinischen Termini zu benennen. Die rhetorischen Tugenden sind weitgehend unberücksichtigt geblieben. Nun bringt es für die Stilanalyse sehr wenig, im Text eine Antimetabole, ein Oxymoron, eine Katachrese oder ein Rapport-Schema zu entdecken und zu benennen. Es müssten dann wenigstens im Text die stilistischen Textfunktionen und Stileffekte herausgearbeitet werden. Das rhetorische Instrumentarium ⫺ insbesondere in seiner pragmatisch orientierten Komponente ⫺ verdient es jedoch, unter kommunikativem Blickwinkel für die stilistische Textanalyse und die Stildidaktik auf seine Brauchbarkeit abgeklopft zu werden.
3.2. ,Explication de textes In der französischen Schul- und Universitätspraxis wurde zu Anfang des 20. Jahrhunderts das Verfahren ,Explication de textes, entwickelt (vgl. z. B. Rudler 1902; Roustan 1911; Vianey 1914; Sarthou 1924). Das Verfahren versucht innerhalb einer Textinterpretation eine Stilbeschreibung, bei der mithilfe einer Art von Fragenrepertoire potentiell wichtige Textmerkmale abgefragt werden (Aufbau, Strophenform, Reimschema, Assonanzen, Parallelismen, Stilfiguren, Metaphorik etc.). Obwohl das Verfahren leicht in schulmäßiger Routine erstarren kann, wird immerhin ein leicht erlernbares Analyseschema bereitgestellt, das den Analysierenden vor ungeordneten und rein intuitiven Beobachtungen bewahrt und außerdem die Analyse stets auf den Text rückbezieht. Stiltheoretisch ist zu kritisieren, dass Stil letztlich im Sinne der alten rhetorischen Auffassung vom ,Ornatus‘ als zusätzlicher Beigabe verstanden wird, wobei sich die Stilanalyse in der Aufzählung auffälliger Stileigentümlichkeiten erschöpft, ohne dass eine Synthese versucht oder nach Funktionen und Wirkungen gefragt wird. Über die reine Textanalyse hinaus wird vielfach auf biographische Daten des Autors, historische Hintergründe und literarisch-historische Strömungen ausgegriffen. Der didaktische Wert des Verfahrens ist wegen der leichten Anwendbarkeit und der Vorgabe des einzuschlagenden Analyseweges unbestritten. Die Beliebtheit ⫺ besonders in der schulischen Interpretationsarbeit ⫺ ist, wie spätere Veröffentlichungen zeigen (z. B. Hatzfeld 1957; Delaisement 1968; Delesalle 1970; Hallyn 1975), ungebrochen. Eine Verfeinerung des Verfahrens unter Einbeziehung stiltheoretischer Erwägungen erscheint allerdings kaum denkbar.
104. Verfahren stilistischer Textanalyse
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3.3. Werkimmanente Textanalyse Die so genannte ,Werkimmanente Textanalyse‘ (oder ,Werkimmanente Interpretation‘) ist die Bezeichnung für z. T. unterschiedliche Richtungen der deutschsprachigen Literaturwissenschaft in der Bundesrepublik, in Österreich und in der Schweiz, die in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts dominierend waren, aber in der schulischen Literaturdidaktik bis heute weiter leben. Dieser Ansatz grenzt sich einerseits gegen biographische Analyseansätze ab (insbesondere in ihren psychoanalytischen Ausprägungen): „Es ist grundsätzlich zu betonen, dass der Dichter einem literarischen Text nicht immanent ist: […] Der Dichter ist in dem eigentlichen Gegenstand der Literaturwissenschaft nicht enthalten.“ (Kayser 1961, 17)
Noch deutlicher, wenn auch durch adverbiale Stildämpfung verschleiert, formuliert Kayser später: „Denn nun gibt es wiederum nichts außerhalb des Werkes Liegendes mehr, über das wir mit der Stiluntersuchung Aussagen zu machen hätten.“ (Kayser 1958, 77)
Kaysers Ansatz grenzt sich aber vor allem gegen alle ideologischen, politischen und literarhistorischen Einflüsse ab, die in der Zeit des so genannten ,Dritten Reiches‘ in der Germanistik eine Rolle gespielt hatten. Gegenstand der Text- und Stilanalyse ist daher das Wortkunstwerk, der Text an und für sich. Die Analyse soll vorwiegend hermeneutisch erfolgen. Es wird wiederholtes Lesen empfohlen, fragendes Verstehen, Schließen vom Einzelnen auf das Ganze und umgekehrt. Es bleibt allerdings offen, wie die Analyse operationalisiert werden kann. Positiv zu bewerten ist methodisch das Arbeiten am Text und trotz des zirkulär hermeneutischen Ansatzes der Einsatz ⫺ bei einigen Autoren wie Kayser ⫺ eines deskriptiven Instrumentariums aus der rhetorisch-poetischen Tradition. Insgesamt hat der Analyseansatz den kritischen Einwänden nicht Stand gehalten. Er beruht auf der unbewiesenen idealen Annahme eines in sich geschlossenen und stimmigen Wortkunstwerkes, das sich ahistorisch und überzeitlich gültig analysieren und interpretieren lässt. Es ist auch undenkbar, dass eine Stilanalyse eines autonomen Textes an sich möglich ist. Jeder Text ist durch Produktion und Rezeption determiniert. Und nach abgeschlossener Produktion wird sich die Rezeption notwendigerweise historisch ändern. Wer Text und Stil analysiert, bringt seine Wissensbestände und Leseerfahrungen in die Analyse mit ein, seine literarhistorischen Kenntnisse von Biographie, Epoche, Zeitgeist etc., seine Implikationen von Intertextualität (bewusster oder unbewusster Bezug auf vergleichbare Texte, literarische Vorläufer oder Zeitgenossen). Eine erschöpfende immanente Textanalyse, ein Verstehen des Textes an sich ist daher weder möglich noch wünschenswert.
3.4. Leo Spitzers ,Methode Vergleichbar dem hermeneutischen Zirkel der werkimmanenten Interpretation ist der ,philologische Zirkel‘ des Romanisten Leo Spitzer (Spitzer 1948, 25; 1969, 29). Spitzer steht allerdings stärker in der philologischen Tradition und lehnt sich an den Ansatz
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik
,Explication de textes‘ an. Außerdem bezieht er durchaus auch literarhistorische Fakten ein. Sein von ihm selbst als Methode deklariertes Verfahren der Textanalyse und hermeneutischen Texterklärung (Spitzer 1949) hat Leo Spitzer an vielen Stilanalysen demonstriert (Spitzer 1928; 1949; 1952; 1969). Er steht durchaus in der Tradition der rein subjektiven Stilanalyse; aber er reflektiert die intuitiv aus dem Text an den Leser gelangenden Anstöße, und es gelingt ihm bis zu einem gewissen Grade, das sich daran anschließende Analyseverfahren zu systematisieren. Bei der Analyse ist man zunächst gehalten, „drauflos zu lesen, bis einem etwas Sprachliches auffällt“ (Spitzer 1931, I, 5). Ein solcherart an einer einzelnen Textstelle intuitiv als stilistisch relevant erkanntes Merkmal wird dann in einem erneuten Lesedurchgang systematisch am Text überprüft und gegebenenfalls an ähnlichen Stilmerkmalen bestätigt. Der Zirkelschluss besteht also aus einer intuitiv gewonnenen Einzelbeobachtung, die den Stilinterpreten frappiert, der sich daraus ergebenden Überzeugung, dass dieses beobachtete Einzelphänomen relevant und repräsentativ für das gesamte Kunstwerk ist, und dem Belegen der aus dem Text gewonnenen Beobachtung durch andere Stilmerkmale am Text selbst. Mit der Auffassung, dass ein Einzelmerkmal repräsentativ und stellvertretend für den ganzen Text steht, ist Spitzer „der Initiator einer immanenten pars-pro-toto-Interpretation“ (Klotz 1964, 997) geworden (siehe auch Hytier 1950; Hardy 1969). Der zweite Schritt des von Spitzer propagierten philologischen Zirkels ⫺ der systematischen Überprüfung einer stilistischen Hypothese am Text ⫺ vollzieht sich beträchtlich methodischer als viele subjektive Interpretationen der werkimmanenten Richtung. Überaus problematisch ist aber der erste Schritt, der die Voraussetzung für die nachfolgende Stiluntersuchung ist. Für ihn lässt sich, wie Spitzer selbst ausführt, keinerlei methodischer Hinweis angeben: „Why do I insist that it is impossible to offer the reader a step-by-step rationale to be applied to a work of art? For one reason, that the first step, on which all may hinge, can never be planned: it must already have taken place. This first step is the awareness of having been struck by a detail, followed by a conviction that this detail is connected basically with the work of art […]. Unfortunately, I know of no way to guarantee either the ,impression‘ or the conviction just described. They are the results of talent, experience and faith.“ (Spitzer 1948, 26 f.)
Spitzer kann also für den ersten Schritt der Stilanalyse keine Methode anbieten, sondern ⫺ dafür spricht bereits der Hinweis auf den Glauben ⫺ nur die Hoffnung auf eine Art göttlichen Funken: „The only way leading out […] is to read and reread, patiently and confidently, […] (by a quasi-metaphysical urge toward solution) it does not seem long until the characteristic ,click‘ occurs […].“ (Spitzer 1948, 27)
Das Verfahren ist also von begnadeten Interpreten durchführbar, aber mangels explizierbarer Methoden nicht lehrbar und daher für Stilanalysen im Literaturunterricht auch nicht anwendbar. Es steht außer Frage, dass Leo Spitzer ein universal gebildeter Philologe, überaus belesener Sprach- und Literaturkenner und begnadeter Interpret sprachlicher Kunstwerke war. Ebenso ist aber unbestreitbar, dass sein intuitives und introspektives Verfahren über Jahrzehnte die Herausbildung von Methoden der Stilanalyse blockiert hat.
104. Verfahren stilistischer Textanalyse
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3.5. Positionen der Abweichungsstilistik und der generativen Transormationsgrammatik Ein sehr traditioneller Ansatz der vorwiegend textorientierten Analyse beruht darin, auffällige Einzelelemente als stilistisch relevant aufzufassen und als Abweichung von einer (außerhalb des Textes etablierten) Sprachnorm zu definieren. Auf diese Weise wurde versucht, Stilistik als eine ,science des e´carts‘ zu konstituieren (Bruneau 1951/52, 55) und Stil als ,deviation from a norm‘ (Enkvist 1964, 23), als ,e´cart par rapport a` la norme linguistique‘ (Mounin 1967/68, 55). Vorausgesetzt, diese Auffassung wäre stiltheoretisch akzeptabel, ergäbe sich konsequent ein sehr einfaches Analyseverfahren. Der zu analysierende Text müsste von Anfang bis Ende systematisch mit der Sprachnorm verglichen werden. Alle ermittelten Normabweichungen wären dann als stilistisch relevant ermittelt. Zwar gäbe es Schwierigkeiten mit der Festlegung einer gültigen Sprachnorm und der Unterscheidung von ,Varietät‘ und ,Abweichung‘, aber dennoch wäre das Verfahren leicht durchzuführen und auch zu didaktisieren. Auch das allen Oberlehrern seit jeher peinliche Problem der ,poetischen Lizenz‘ bei guten Autoren wäre stiltheoretisch gelöst. Obwohl das Konzept der Auswahlstilistik in der linguistischen Stilforschung jahrzehntelang sehr verbreitet war, ist kein Beleg dafür bekannt, dass ein abweichungsorientierter Normvergleich einmal konsequent an Textmaterial vorgeführt worden wäre. Die Suche nach Abweichungen kann gegebenenfalls heuristisch brauchbar sein, um auffällige Textstellen aufzufinden. Als Grundlage einer Stiltheorie ist sie denkbar ungeeignet: alle sprachlichen Fehler wären Stilmittel; zahllose Texte hätten keinen Stil. Auch viele andere theoretische Mängel erlauben es nicht, stilistische Verfahren auf der Abweichungskonzeption zu fundieren (vgl. u. a. Spillner 1974a, 31⫺40). Dies gilt auch für jene Ansätze, die ,Abweichung‘ pragmatisch zu definieren versuchen (z. B. Püschel 1985, 12). Es ist kein Zufall, dass eine linguistische Schule, die generative Transformationsgrammatik, die Abweichungskonzeption übernommen hat, ohne sich auf die traditionelle Abweichungsstilistik zu berufen. Die generative Grammatik hat keinen kommunikativen Ansatz, kennt keinen natürlichen Sprecher/Hörer und in ihrer klassischen Version auch weder Varietät noch Text. Eine Kategorie ,Stil‘ ist weder theoretisch fundiert noch in der Analyse vorgesehen. Tatsächlich ist jedoch bemerkt worden, dass mitunter in literarischen Texten ,abweichende‘ Sätze vorkommen und dass andererseits auch ungrammatische und/oder unakzeptable Sätze vom generativen Produktions-Algorithmus erzeugt wurden. Stilistik wurde also zum Bereich, in dem grammatisch eigentlich unakzeptable Sätze diskutiert wurden. Ausgangspunkt war der Versuch von Levin (1964), eine grammatisch-stilistische Beschreibung folgender vom normalen englischen Sprachgebrauch abweichender Sätze von E. E. Cummings zu liefern: ⫺ He danced his did. ⫺ Anyone lived in a pretty how town. Für jeden, der die Grammatik der englischen Sprache kennt, ist es einsichtig, dass z. B. die Verbform „did“ normalerweise nicht in der syntaktischen Funktion eines Nomens („his did“) verwendet werden kann. Die stilistische Besonderheit des Satzes lässt sich also einleuchtend als bewusster Verstoß gegen eine grammatische Regel, als Abweichung von der Norm der englischen Sprache interpretieren. Dieser anscheinend unwiderlegbaren Beweiskraft haben es die beiden Sätze von Cummings wohl zu verdanken, dass sie
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik im Anschluss an Levins Versuch in Arbeiten der Abweichungsstilistik immer wieder zitiert und diskutiert wurden (u. a. Thorne 1965; Hill 1967; Hendricks 1969; Butters 1970; Carstensen 1970; Enkvist 1971). Auch aus der generativen Variante der Abweichungsstilistik lassen sich außer heuristischen Ansätzen keine Verfahren für die Stilanalyse ableiten.
3.6. Mikrostilistik vs. Makrostilistik Bei allen textbezogenen Verfahren lassen sich prinzipiell zwei Analysedimensionen unterscheiden. Die erste Dimension, traditionell als ,Mikrostilistik‘ bezeichnet, analysiert Stilelemente im begrenzten Kontext eines Satzes, die zweite Dimension ,Makrostilistik‘ bezieht sich auf satzübergreifende Stilelemente bis hin zum Textganzen. So unterscheidet Sowinski „Ansätze zu einer satzübergreifenden und texterfassenden ,Makrostilistik‘ im Gegensatz zu der auf die traditionellen Ausdrucksformen (Figuren, Tropen) bedachten ,Mikrostilistik‘“ (Sowinski 1984, 23). Er bezieht sich dabei auf Riesel/Schendels, die ,Makrostilistik‘ verstehen als „die Untersuchung von mehr oder weniger geschlossenen Textstrukturen unterschiedlicher Arten im Gegensatz zur Mikrostilistik […] als Lehre von den sprachstilistischen Teilsystemen“ (Riesel/Schendels 1975, 3). Die Terminologie für die Unterscheidung kann schwanken, z. B.: „[…] unter Großstil ⫺ oder auch Makrostil ⫺ versteht man dann ungefähr die Struktur oder den Aufbau eines bestimmten Abschnittes oder Buches und unter Kleinstil ⫺ auch Mikrostil ⫺ bestimmte Eigenarten des Ausdrucks innerhalb des betreffenden Textes.“ (Deist 1977, 327).
Zum Bereich ,Makrostilistik‘ kann man syntaktisch komplexe Hypotaxen rechnen, satzübergreifende Stilfiguren (z. B. Parallelismus, Anaphern, Responsionen und Reim in der Lyrik, semantische Isotopien, durchlaufende Metaphern), Abschnittsgliederung, Thematik etc. Es lassen sich aber auch Gliederungsaspekte von der traditionellen Funktionalstilistik bis hin zur Textsortenlinguistik darunter fassen, z. B.: „Kommunikationsweisen, Funktionalstile, Stilzüge, Stilfärbungen, Textsorten und Gattungen, Darstellungsarten, Redewiedergaben, Erzählstrukturen, Textaufbau/Komposition“ (Sowinski 1981, 77).
Wenn man textorientierte Stilanalysen überblickt, stellt man fest, dass makrostilistische Untersuchungen gegenüber mikrostilistischen in sehr geringer Anzahl durchgeführt wurden. Der Hauptgrund dafür dürfte sein, dass makrostilistische Ergebnisse in Veröffentlichungen zur Stilanalyse nur sehr schwer darstellbar sind. Schließlich muss dabei unter Umständen ein sehr großer Kontext abgebildet werden. Bei unübersichtlichen Satzkomplexen haben sich Verfahren der Visualisierung bewährt (bei denen natürlich von der linearen Satzsequenz abgewichen wird), z. B. bei der Stilanalyse der komplexen Satzstrukturen bei Marcel Proust: „Car les Guermantes (que Franc¸oise de´signait souvent par les mots de ,en dessous, en bas‘) e´taient sa constante pre´occupation depuis le matin ou`, jetant, pendant qu’elle coiffait maman, un coup d’œil de´fendu, irre´sistible et furtif dans la cour, elle disait: ,Tiens, deux bonnes
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Abb. 104.2: Visualisierung von Syntax (Spillner 1971, 119)
soeurs; cela va suˆrement ,en dessous‘, ou: ,Oh! les beaux faisans a` la feneˆtre de la cuisine, il n’y a pas besoin de demander d’ou` qu’ils deviennent, le duc aura-t-e´te´ a` la chasse‘, jusqu’au soir ou`, si elle entendait, pendant qu’elle me donnait mes affaires de nuit, un bruit de piano, un e´cho de chansonnette, elle induisait: ,Ils ont du monde ,en bas‘, c’est a` la gaiete´‘ […].“ (Marcel Proust, A la recherche du temps perdu II, 16)
Die Skizze zeigt deutlich, dass die komplexe Hypotaxe auf einfachem Parallelismus beruht, der allerdings durch Verdoppelung und parenthetische Einschübe verkompliziert wird (vgl. dazu Spillner 1971, 118 ff.). Bei einer makrostilistischen Analyse in größerem Kontext ist eine graphische Skizze nicht mehr brauchbar. Hier muss sich eine Darstellung auf Textauszüge beschränken, die im Bezug zu einander das Stilverfahren überschaubar machen. So zeigt sich an einem längeren Abschnitt bei Proust, dass der Autor auch in größeren Erzählabschnitten das für den Satzbau beschriebene Verfahren anwendet. Ein stark komprimiertes Zitat des Abschnittes macht seinen parallelen Aufbau deutlich: „Au commencement de la saison, […], quand nous arrivions rue du Saint-Esprit, il y avait encore un reflet du couchant sur les vitres […]. [10 Zeilen] Dans l’e´te´, au contraire, quand nous rentrions le soleil ne se couchait pas encore; […]. [8 Zeilen] Mais, certains jours fort rares, quand nous rentrions, […] il n’y avait plus, quand nous arrivions rue du Saint-Esprit, nul reflet de couchant e´tendu sur les vitres […].“ [8 Zeilen] (Marcel Proust: A la recherche du temps perdu I, 133)
Für eine makrostilistische Stilanalyse ist es unvermeidlich, dass der Text in der Darstellung der stilistischen Mittel auf wesentliche Elemente verkürzt wird.
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik
3.7. Statistische und quantitative Methoden der Stilanalyse Die strengste Beschränkung der Stilanalyse auf den Text und nur den Text liegt dann vor, wenn Stil als eine formale, quantifizierbare und/oder statistisch messbare Eigenschaft des Textes aufgefasst und untersucht wird. Es ist nicht verwunderlich, dass aus solch einer Stilauffassung vor allem von Mathematikern und informatisch orientierten Ingenieuren explizite Methoden der Textanalyse abgeleitet wurden und vor allem seitdem mit Hilfe von Computern umfangreiche Datenmengen ausgewertet werden konnten. Diese methodischen Möglichkeiten können für die Stilanalyse nur willkommen sein. Leider wurden (und werden) und zwar vor allem in literaturwissenschaftlichen Stiluntersuchungen viel zu oft unbelegte quantitative Aussagen etwa vom Typ ⫺ In der zweiten Strophe dominiert der dunkle Vokal a. ⫺ Fontane verwendet selten Archaismen. ⫺ Bei Ce´line sind vor allem Naturmetaphern sehr häufig.
geleistet, Aussagen, die oft einer einfachen Auszählung nicht Stand halten. Mindestens seitdem brauchbare statistische Verfahren für sprachliche Daten zur Verfügung stehen, sind solche unbelegten Aussagen wissenschaftlich nicht mehr zulässig.
3.7.1. Stilistische Text- und Autorenvergleiche Die drei konstruierten Beispiele sind, auch wenn sie quantitativ abgesichert wären, ohne argumentative Aussagekraft. Die Befunde könnten nämlich für die gesamte Sprache, das gesamte Werk des Autors, für den ganzen Text oder auch für die Textsorte schlechthin gelten. Quantitative Erhebungen werden erst dann sinnvoll, wenn sie komparativ angelegt sind, als Methode den Vergleich einbeziehen, das „gemeinsame methodische Prinzip“ der Stilanalyse (Fix 1991, 141). Der statistische Vergleich hat dann ⫺ ausgehend vom stilistisch zu untersuchenden Text ⫺ entweder mit einem sprachlich repräsentativen großen Vergleichscorpus der Sprache zu geschehen oder mit anderen vergleichbaren Texten oder Textcorpora (z. B. mit Texten derselben Textsorte, Texten eines anderen literarischen Autors; literarischer Vergleich Frühwerk vs. Alterswerk, Vergleich zwischen literarischen Epochen, Gattungen etc.). Wie bei allen wissenschaftlichen Vergleichsoperationen sind dabei selbstverständlich die Anforderungen an ein geeignetes ,tertium comparationis‘ zu beachten. Dies impliziert bei stilistischen Textvergleichen u. a. dieselbe Sprache, hinreichenden Textumfang, ggf. Synchronie, Identität von Genus oder Textsorte usw. Tatsächlich handelt es sich bei den ersten größeren statistischen Monographien zur Stilanalyse um Text- und Autorenvergleiche (Fucks 1953; 1955a; 1955b; Winter 1961; Lauter/Wickmann 1967; vorher schon Williams 1939). Der Mathematiker Wilhelm Fucks differenzierte literarische Autoren durch statistischen Vergleich von formalen Parametern wie Silbenzahl pro Wort und Häufigkeit von Versfüßen, wobei Stilcharakteristika „primär lediglich mit den formalen Strukturen, nicht aber mit den Sinngehalten von sprachlichen Äußerungen“ ermittelt wurden (Fucks 1955a, 5). Andere stilstatistische Analysen beruhen auf den formalen Parametern Wortlänge, Satzlänge, Wortfolgen bzw. Satzgliedern (Krallmann 1966; Weiß 1967), den Wortklassen Nomen, finites Verb und attributives Adjektiv (Nordberg 1968, Thelander 1970), Satz-
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länge (Manczak 1961), Frequenzrelation zwischen Verb und Adjektiv (Antosch 1969), Frequenz von Personalpronomina (Kra´msky´ 1986), Wortzahl pro Satz, Nomina pro Satz, attributive Adjektive pro Satz, finite Verben pro Satz (Pieper 1979). Überblicke über die unterschiedlichen stildifferenzierenden formalen Parameter finden sich bei Posner (1963) und in einer übersichtlichen Aufstellung bei Kaul (1990, 382⫺388). Die Ergebnisse der stilstatistischen Auszählungen lassen sich anschaulich graphisch darstellen. So gelingt Fucks allein aufgrund der Parameter durchschnittliche Wortzahl pro Satz und durchschnittliche Silbenzahl pro Wort nicht nur eine Abgrenzung von ,Dichtern‘ und ,Schriftstellern‘, sondern auch eine in Diagrammen dargestellte Differenzierung einzelner Autoren (z. B. Fucks 1955a). Methodisch einschränken lässt sich, dass dabei z. T. Autoren ganz unterschiedlicher Epochen und z. T. unterschiedlicher Sprachen miteinander verglichen werden. So vergleicht Fucks in einem Fall Goethe, Rilke, Caesar und Sallust, in einer anderen Statistik u. a. Ganghofer, Hartmann von Aue, Lessing und Thomas Mann, dann auch Luther, Jean Paul, Voltaire und Churchill (Fucks 1968). Da ergibt sich natürlich wegen fragwürdiger Vergleichbarkeit methodische Kritik aus linguistischer Sicht. Bedenken auf Seiten von Literaturwissenschaftlern ergeben sich auch insofern, als die Resultate ⫺ Stildifferenzierung von literarischen Autoren ⫺ zwar mit exakten Verfahren gewonnen werden, aber auf sehr rudimentären formalen Parametern beruhen und für eine Stilanalyse von Texten und gar für eine literarische Interpretation relativ wenig hergeben. Vor- und Nachteile quantitativer Methoden lassen sich leicht an einem Analysebeispiel zeigen, das nur einfache Auszählungen erfordert und nicht einmal computergestützte Software oder statistische Relevanzberechnungen erfordert. Zemb (1967) hat für vergleichbare literarische Autoren lediglich Wortarten ausgezählt. In seiner ,Stylome´trie‘ genannten Methode werden einfach die Wörter eines Textes nach Wortarten getrennt gezählt und die Gesamtzahlen ⫺ bezogen auf einen Mittelwert ⫺ auf einer sternförmigen Figur abgetragen. Dadurch ergeben sich verschiedenartige graphische Gestalten, die sich ⫺ nach den Autoren der Texte geordnet ⫺ miteinander vergleichen lassen (s. Abb. 104.3). Die graphisch dargestellten Resultate sind sehr anschaulich und zeigen deutliche Unterschiede. Sie erlauben in dieser Form jedoch noch keinerlei Rückschlüsse auf literari-
Abb. 104.3: Quantitativer Vergleich von Wortarten (Zemb 1967, nach Spillner 1974a, 83)
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik sche Genera, den Anteil wörtlicher Rede in den berücksichtigten Texten, den Anteil argumentierender Textabschnitte usw. Außerdem lässt sich aus den skizzierten Graphiken noch wenig für eine Textinterpretation im literaturwissenschaftlichen Sinn ableiten. Vielleicht ist dies einer der Gründe dafür, dass solche auf formalen Kriterien beruhenden statistischen Vergleiche in der zünftigen Literaturwissenschaft praktisch überhaupt nicht rezipiert wurden. Immerhin gibt es auch in der mathematischen Stilforschung bereits Ansätze, über rein formale Daten hinausgehende Parameter in die statistischen Auszählungen einzubeziehen. Bereits bei Krallmann werden lexikalische Ansätze teilweise berücksichtigt. Sie werden irreführend als ,syntaktische Felder‘ bezeichnet (Krallmann 1966, 189 ff.); gemeint sind Kollokationen, die man auch als lexikalische Solidaritäten einstufen könnte. Daneben gibt es eine ganze Reihe weiterer experimenteller Versuche, quantitative und statistische Auswertungen literarischer Texte auf der Grundlage von formalen Textparametern vorzunehmen (siehe u. a. Dolezˇel 1965; Somers 1967; Mistrik 1967; Dolezˇel/Bailey 1969; Ducretet 1970; Moerk 1970; Nübold 1974; Bolz 1984; Esser 1993; Laan 1995; Holmes 1998). Erst später werden stilometrische Vergleiche durchgeführt, die ganz auf dem signifikanten Vokabular literarischer Autoren beruhen (Noe 1992). Aber auch solche elaborierten Verfahren des Stilvergleichs sind in der literaturwissenschaftlichen Textanalyse nicht rezipiert worden.
3.7.2. Zuschreibung anonymer literarischer Texte Immerhin sind quantitative Textvergleiche in der Literaturwissenschaft bereits mit großem Erfolg durchgeführt worden. Dies geschah vor allem bei der Zuschreibung anonym überlieferter literarischer Texte oder bei solchen Texten, deren Autorschaft strittig war. Bedingung dafür ist, dass der anonyme oder strittige Text einen für statistische Erhebungen hinreichenden Umfang hat und dass vergleichbare Texte (von in Frage kommenden Autoren) zur Verfügung stehen. Hier hat die vergleichende Auszählung formaler Parameter in vielen Fällen zu einer solchen Übereinstimmung geführt, dass mutmaßliche Zuschreibungen zu Autoren vorgenommen werden konnten (vgl. u. a. Ellegard 1962; Brinegar 1963; Austin 1969; Wickmann 1969; Kreifelts 1972; Morton 1978; Sabourin 1994). Zu bedenken ist lediglich, dass es sich dabei nicht um Beweise, sondern um mit mehr oder weniger hoher Wahrscheinlichkeit mögliche Zuschreibungen handelt. Die quantitativen Vergleiche von rein formalen Textvarietäten scheinen also geeignet zu sein, Rückschlüsse auf individuelle Textcharakteristika von Autoren zu ermöglichen. Die Verwendung von mathematisch-statistischen Verfahren für die Stilanalyse sollte jedenfalls nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden.
3.7.3. Beiträge aus der orensischen Texturheberschatsbestimmung In der Forensik wird versucht, anonyme Texte individuellen Texturhebern zuzuordnen. Dabei werden auch linguistische Methoden eingesetzt (vgl. u. a. Kniffka 1990; Gibbons 2003). Voraussetzung ist auch hier, dass die zu untersuchenden Quellen hinreichenden Umfang haben und dass geeignete Vergleichstexte zur Verfügung stehen. Relativ leicht ist eine Zuordnung bei gesprochenen Texten und bei handschriftlichen oder maschinegeschriebenen Quellen, da hier individuelle Merkmale ermittelbar sind. Andere geschrie-
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bene Texte sind sehr viel schwieriger zu individualisieren. Hier müssen auch Texturheber und Schreiber nicht immer identisch sein. Doch auch bei dieser Quellenlage kann es gelingen, durch die Übereinstimmung von Textvarianten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den Texturheber zu schließen. Der Untersuchungsbereich hat gegenüber der Zuschreibung literarischer Texte sogar einen Vorteil. Während Verfasser anonymer literarischer Texte oft nicht mehr am Leben sind, kann in der forensischen Linguistik eine auf Wahrscheinlichkeit beruhende Urheberschaftsvermutung ggf. durch das Geständnis eines anonymen Texturhebers bestätigt werden (vgl. u. a. Domı´nguez 1977; zuletzt Grant 2007). Auch diese Erfolge der forensischen Texturheberschaftsbestimmung durch Textvariantenvergleich sind ein Argument dafür, quantitative und statistische Verfahren für die vergleichende Stilanalyse nicht auszuschließen, sondern zu erproben und zu prüfen, inwieweit sie mit qualitativen Textanalysen zu kombinieren sind.
3.7.4. Ausbau und Integration statistischer Analyseverahren Es gibt keinen Grund dafür, quantitative Verfahren für die Stilanalyse literarischer Texte auszuschließen. Dies gilt besonders, seitdem zahlreiche literarische Texte digitalisiert und leicht zugänglich vorliegen (z. B. in Textsammlungen wie dem Gutenberg-Projekt) und für computergestützte quantitative Auswertungen zur Verfügung stehen. Allerdings stimmt die Annahme nicht, es sei mit einer so genannten ,Corpuslinguistik‘ ein neues Zeitalter angebrochen. In der Linguistik wird seit dem 19. Jahrhundert intensiv mit Textcorpora gearbeitet. Der Einsatz von Computern und die Digitalisierung großer Textbestände erlauben es lediglich, umfangreiche Datenbestände für einfache Suchoperationen sehr schnell auszuwerten. So lassen sich z. B. die Häufigkeit von Wortformen in einem Text oder einfache Wortkombinationen (Kollokationen) in kurzer Zeit auch in großen Textmengen feststellen und belegen. Dieses Verfahren sollte unbedingt auch auf literarische Texte angewendet werden, sofern quantitative Aussagen erforderlich sind. Aussagekräftig und Grundlage für eine Textinterpretation sind Ergebnisse jedoch nur, wenn sie vergleichend erhoben werden. Relevant sind die Ergebnisse also zunächst nur im Hinblick auf Text 1 versus Text 2, Autor 1 versus Autor 2 usw. Wenn Aussagen über den Stil eines Textes oder den Individualstil eines Autors erzielt werden sollen, muss mit einem großen repräsentativen Vergleichscorpus der Sprache, der Epoche, der Textsorte oder des literarischen Genus verglichen werden. Der Einsatz von Computerprogrammen ermöglicht gegenüber traditioneller Arbeit mit Zettelkästen ein leichteres Speichern, Ordnen und Umgruppieren von Datenmerkmalen. Es gilt aber zu bedenken, dass mit Computerhilfe leicht und schnell formale mikrostilistische Elemente verglichen werden können. Semantische Stilfiguren, komplexe Satzstrukturen, makrostilistische Merkmalfiliationen erfordern jedoch ggf. einen hohen Aufwand an manueller Textpräedition. Auch für computerbasierte Paralleltextanalysen und für die Analysen der so genannten ,Corpus Stylistics‘ (vgl. u. a. Adolphs/Carter 2002; Semino/Short 2004; O’Halloran 2007; Hoover 2007) gelten die bekannten Anforderungen an Repräsentativität, Synchronizität, Vergleichbarkeit etc. Die zu Beginn des statistischen Stilvergleichs verwendeten Parameter waren formal, sehr einfach strukturiert und ausschließlich mikrostilistisch. Eine erforderliche Weiterent-
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik wicklung des Verfahrens muss ,höherrangige‘ Stilmerkmale isolieren, nach Möglichkeit im Hinblick auf statistische Auswertungen operationalisieren und in der Textanalyse vergleichend erproben.
4. Empirische Methoden der Rezeptionsstilistik Wenn ,Stil‘ in Texten als Komponente im Kommunikationsprozess ernst genommen werden soll, muss auch die Rezeption durch einen Hörer/Leser als Teil der Textanalyse untersucht werden. In der Literaturwissenschaft ist viel von Rezeptionsästhetik, intendiertem Leser usw. die Rede gewesen. Ein ,Leser‘ als kommunikativer Faktor, geschweige denn als empirische Größe der Textrezeption hat jedoch selten eine Rolle gespielt (z. B. Groeben 1977). Auch in der linguistischen Stilanalyse ist ein Leser meistens nur als Desiderat erwähnt worden, z. B.: „What a poem means is what it means to its readers.“ „Die Wirkung der Leseerfahrung ist Teil des Textsinns.“
(Widdowson 1992, 115) (Sandig 2006, 30)
„The importance of including readers in written academic texts and engaging them in the unfolding discourse is now well established.“ (Hyland 2005, 363)
Aus solchen Aussagen wurden aber kaum Konsequenzen für die Stilanalyse gezogen. Und nur gelegentlich gibt es oberflächliche Diskussionen über einen Leser als empirische Größe in der Stilanalyse (z. B. Fish 1970/71; Kintgen 1974; 1977; 1980; Fairley 1979). Ein einschneidender theoretischer Anstoß für die Einbeziehung des ,Lesers‘ kommt in der neueren Stilforschung erst durch Michael Riffaterre. Vereinfacht resümiert beruht der stiltheoretische Ansatz von Riffaterre auf zwei Grundlagen: ⫺ Stil geht auf einen sprachlichen Kontrast innerhalb des Mikrokontextes zurück (nicht zu verwechseln mit einer Abweichung von einer Norm außerhalb des Textes) ⫺ Stil entsteht dadurch, dass die Erwartungshaltung eines Durchschnittslesers als Reaktion auf einen solchen Kontrast ,enttäuscht‘ wird (Riffaterre 1959; 1960; 1961; 1971). Bereits bevor dieser stiltheoretische Ansatz nach und nach entwickelt wurde, hatte Riffaterre Grundzüge in einer größeren Arbeit zur französischen Literatur als Stilanalyse vorgelegt und den Leser darin als „destinataire naturel de l’e´nonce´“ charakterisiert (Riffaterre 1957, 20). Der Ansatz Riffaterres hat beträchtliche Vorzüge. Die Auffassung, dass alle sprachlichen Elemente kontextgebunden sind, dass sie also je nach dem Kontext einen Stileffekt ausüben können oder nicht (und auch je nach Art des Kontrastes verschiedenartige Stileffekte haben können) unterscheidet sich von den Versuchen der herkömmlichen deskriptiven Stilistik, den sprachlichen Einheiten bereits auf der Ebene der ,langue‘ einen ,Stilwert‘ zuzuordnen. Vorteilhaft ist ferner, dass die kontrastierenden Elemente im Text selbst auffindbar sind und nicht erst konstruiert werden müssen. Die Theorie vermag außerdem viele auffallende Erscheinungen an literarischen Texten linguistisch schlüssig und auch literaturwissenschaftlich zufrieden stellend zu beschreiben. Eine Gefahr liegt
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allerdings darin, dass das Auffallende an Texten (das ganz unbestreitbar stilistisch relevant ist) überbetont und Stil nur in unerwarteten Besonderheiten, in den emphatischen Hervorhebungen, gesehen wird. Die Betonung von Kontrasten im Kontext als potentiell stilistisch wirksamen Elementen muss also unbedingt dadurch ergänzt werden, dass auch Rekurrenzen, d. h. Wiederholungen, Bestätigungen im Kontext als potentiell stilrelevante Elemente anerkannt werden (vgl. dazu Spillner 1974a, 67⫺71). Eine weitere erforderliche Korrektur an der Konzeption von Riffaterre betrifft den theoretischen und empirischen Status des ,Lesers‘. Riffaterre konzipiert einen potentiellen Leser, der auf Stimuli des Textes reagiert und aus dessen Blickwinkel die Stilanalyse vorgenommen werden soll. Hierbei wird aber nicht klar, ob es sich bei dem ,Leser‘ um eine Komponente der Stiltheorie, um ein Hilfsmittel für die Stilanalyse oder um beides handelt. Einerseits geht Riffaterre davon aus, dass die Stileffekte auf den Leser gemünzt sind und von ihm gar nicht übersehen werden können, und leitet daraus als Rolle des Lesers ab: „the prolongation of stylistic effects […] as well as the perception of the poem […] depends entirely on the reader.“ (Riffaterre 1959, 162) Demnach kommt dem Leser eine entscheidende Funktion zu: die Stileffekte „werden streng genommen erst existent, wenn sie vom Leser wahrgenommen werden“ (Frey 1970, 35) ⫺ „car il n’y a de style que dans ce qui est perc¸u“ (Riffaterre 1961, 334). Demnach wäre die Existenz von Stil an die Wahrnehmung durch den Leser/Hörer gebunden; der ,Leser‘ müsste dann Kategorie der Stiltheorie sein. Andererseits beschreibt Riffaterre den Leser als heuristische Größe für die praktische Stilanalyse. Dieser zunächst als „average reader“ (Riffaterre 1959, 165), dann in der bearbeiteten französischsprachigen Aufsatzsammlung (1971, 46) als „archilecteur“ bezeichnete Leser soll dem Stilforscher Hinweise auf das Vorhandensein der ,stylistic devices‘ geben. Um die Stilanalyse nicht von eigenen Werturteilen lenken zu lassen, ist der Stilforscher gehalten, die Reaktionen von Lesern empirisch zu ermitteln und bei der literarischen Interpretation zu berücksichtigen. Der theoretische Status des ,Lesers‘ bei Riffaterre ist also unklar; in der Stilanalyse ist der ,Leser‘ keineswegs homogen, sondern ein Konstrukt und Konglomerat. Aus einer von Riffaterre (1966) vorgelegten Stilanalyse zu einem Gedicht von Baudelaire lässt sich zusammenstellen, woraus der Archileser für diese Analyse besteht. Genannt werden: ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
Baudelaire selbst (Korrekturvariante zu einem Vers) Gautier (Bemerkungen zu dem Sonett im Vorwort einer Ausgabe) Laforgue (einige Anklänge an Baudelaires Sonett in einem seiner Gedichte) drei Übertragungen ins Englische alle zugänglichen Kritiken die Interpretationen von Jakobson und Le´vi-Strauss Dictionnaire Larousse du XIXe`me Sie`cle studentische Informanten weitere zufällige Informanten.
Es ist offenkundig, dass es sich hier um ein Sammelsurium von Quellen ganz verschiedener Natur handelt, über deren Auswahl und Relevanz nichts ausgesagt wird. Die meisten dieser so genannten Informanten werden auch bei traditionellen Stilbetrachtungen herangezogen. Von einer wissenschaftlichen Objektivierung der Stilanalyse durch den Archileser kann also keine Rede sein. Es folgt daraus, dass die Kategorie ,Leser‘ in einer
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik empirischen Stilanalyse der Rezeptionsseite nur aus einer Informantengruppe natürlicher Leser bestehen kann (vgl. Spillner 1974a, 206 ff.; Spillner 1974b).
4.1. Unterstreichungsverahren Riffaterres Gedanke, die Befragung von Informanten als heuristisches Verfahren in die Stiluntersuchung einzuführen, hat aber wichtige Anstöße zur Entwicklung neuer Analysemethoden gegeben. In einer stilistischen Untersuchung von Kafkas Erzählung Ein Hungerkünstler hat Frey versucht, das Verfahren der Leserbefragung zur Auffindung von Stileffekten zu testen. Über 50 Informanten wurden informell aufgefordert, alle stilistisch auffallenden Textstellen zu unterstreichen und dazu einen Kommentar abzugeben: „[U]nderline every stylistic device that you recognize as such, and any word or phrase or grammatical construction that strikes you for some reason or other (positively or negatively), […] characterize it with one or two words […], and indicate, by ⫹, ⫺, or O, whether you think that this particular device improves, diminishes, or is neutral to the stylistic quality of that passage.“ (Frey 1970, 78)
Bei diesem als empirische Erprobung der Rolle des von Riffaterre konzipierten Durchschnittslesers durchgeführten Unterstreichungstests ergab sich, dass die Unterstreichungen der Informanten unter einander weitgehend überein stimmten (siehe Frey 1980, 22⫺ 43; vgl. auch Frey 1975). Leider hat Frey diese überaus interessanten Befragungen nur an relativ geringem Textumfang durchgeführt und, nachdem er bemerkte, dass die Aussagen der Befragten zu den stilistisch relevanten Textstellen mit seinen eigenen Einschätzungen übereinstimmten, für die eigentliche Stilanalyse des Kafka-Textes keine Informantenaussagen mehr eingeholt. Trotz der noch verbesserungsbedürftigen Testdurchführung handelt es sich hier um eine der ganz wenigen germanistischen Stilmonographien, in denen rezeptionsorientierte Analyseverfahren erprobt wurden. Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass nicht alle potentiellen Stilmittel im Text durch Unterstreichen markiert werden können, insbesondere nicht makrostilistische Phänomene. Dennoch ist der Unterstreichungstest ein einfaches und leicht durchführbares Verfahren, um empirisch Leserreaktionen zu ermitteln und als Anstoß für anschließende textorientierte Analysen zu verwenden.
4.2. Lückentexte Ähnlich wie bei den aus dem Fremdsprachenunterricht bekannten Lückentests kann einer Informantengruppe ein Text mit Lücken (z. B. mit in jedem Satz fehlenden finiten Verben) präsentiert werden mit der Bitte, das mutmaßlich vom Autor des Textes an den betreffenden Stellen gewählte Wort einzutragen, z. B. (zu Einzelheiten dieser Leserbefragung siehe Spillner 1976, 30 f.): „Im folgenden Textausschnitt sind an einigen Stellen Verben ausgelassen worden. Bitte schreiben Sie in jede Lücke diejenige Wortform, die nach Ihrer Meinung am besten in den Zusammenhang passt: Sie war viele Tage abwesend und kam erst spät in der Nacht zurück.
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1765
Sie ………… geräuschlos wie ein Schmetterling ins Haus, aber ich hörte sie doch. Vielmehr ich hörte sie nicht, ich ………… sie. Wenn ich mich aus dem Atelierfenster …………, konnte ich im Vorgarten den Lichterschein ihres Schlafzimmers sehen. (Walter Hasenclever (1969): Irrtum und Leidenschaft, Berlin, 227)“
Die experimentelle Leserbefragung setzt voraus, dass der Textsinn auch trotz der Auslassungen noch von den Informanten erschlossen werden kann. Die eingefügten Vorschläge geben Aufschluss über die Lesererwartungen. Sie können ausgezählt und dann mit der Fassung des unveränderten Originaltextes verglichen werden. Hohe Übereinstimmungen der Autorenformulierungen mit den Leservorschlägen belegen, dass die Erwartungen der Leser erfüllt wurden und lassen sich ggf. als stilistisch konventionell oder banal interpretieren. Sehr geringe Übereinstimmungen sind ein Indiz dafür, dass der Autor eine unerwartete, ggf. als ungewöhnlich, originell, unkonventionell, neologistisch etc. zu interpretierende Formulierung gewählt hat. Beim Textausschnitt ergibt sich durch den Ausfülltest, dass die Formulierungen des Originaltextes von Hasenclever weitgehend den Lesererwartungen der 68 Informanten entsprechen: ⫺ Sie flatterte geräuschlos wie ein Schmetterling ins Haus Leservorschläge: huschte 13, flatterte 12, schwebte 8, glitt 7, schlich 7, trat 4, schlüpfte 3, kam 3, verschwand 2, schlich sich 2, tanzte 1, tänzelte 1, taumelte 1, rauschte 1, polterte 1, stampfte 1, kletterte 1. ⫺ […] ich fühlte sie Leservorschläge: spürte 18, ahnte 17, sah 14, fühlte 8, erahnte 6, erblickte 2, bemerkte 1, erspähte 1, vernahm 1, roch 1. ⫺ Wenn ich mich aus dem Atelierfenster beugte Leservorschläge: beugte 31, lehnte 29, hinausbeugte 1, neigte 1, hinauslehnte 1, legte 1, herabseilte 1, stürzte 1, dachte 1. Das Verfahren ist sehr gut geeignet für die Literaturdidaktik: Die Leser können die von ihnen vorgeschlagene Fassung mit derjenigen des Autors vergleichen und aus dem Vergleich unter Umständen auf Stilintentionen des Autors schließen (vgl. dazu auch Porsch 1984).
4.3. Multiple-Choice-Verahren Ein ähnliches Verfahren, die Lesererwartungen empirisch zu erfassen, besteht in der Anwendung des Multiple-Choice-Verfahrens als Hilfsmittel für die Stilanalyse literarischer Texte. Hierbei werden dem befragten Informanten mehrere Antwortmöglichkeiten präsentiert, unter denen er sich jeweils für eine entscheiden kann. Diese verbreitete Befragungstechnik ist gut geeignet, um subjektive Lesererwartungen und Bewertungen empirisch zu erfassen. Folgende Versuchsanordnung ist vorstellbar: In einem literarischen Text wird zu begrenzten Textstellen eine Anzahl von mehr oder weniger synonymen Varianten konstruiert. Diese werden dem Leser gemeinsam mit der Originalfassung präsentiert. Die Informanten werden gebeten, diejenige Fassung anzukreuzen, die nach ihrer Meinung (also aufgrund ihrer Lesererwartung) im unveränderten Text wirklich steht. Als Kontextstellen können für dieses Experiment solche gewählt werden, die der Stilforscher intuitiv für stilistisch relevant hält oder die sich aufgrund eines vorher mit einer anderen
1766
IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik Informantengruppe am selben Text durchgeführten Unterstreichungstests als stilistisch relevant erwiesen haben. Ein den Informanten vorzulegender Text sieht also folgendermaßen aus; zugrunde liegt eine Textprobe von Wolfgang Borchert:
„Dann sahen sie beide vor sich aufs Wasser und ihre Beine hingen betrübt an der Kaimauer. Eine Barkasse
冦
tutete stampfte schrie tuckerte
冧
O O O O
kamen dick und
weißdampfend vorbei und die Wellen
冦
plätschernd greinend klatschend schwatzhaft
冧
O O O O
hinterher. Dann war
es wieder still, nur die Stadt brauste eintönig zwischen Himmel und Erde und krähengesichtig,
冦
blauschwarz übertrauert stumm und ich sich gekehrt dumpfgrau aufgeplustert mit hängendem Köpfen
冧
O O O O
hockten die beiden
Männer im Nachmittag.“ Abb. 104.4: Multiple-Choice-Verfahren (Wolfgang Borchert, Die Krähen fliegen abends nach Hause)
Das Verfahren besteht also aus einer Kombination der Rekonstruktion fakultativer Alternativen mit der Informantenbefragung. Die Auswertung und Interpretation der Testergebnisse im Hinblick auf Kontraste zur Lesererwartung kann nach ähnlichen Gesichtspunkten geschehen wie bei der Vervollständigungsmethode (vgl. zur Analyse dieses Beispiels Spillner 1974a, 92 f.). Die Informanten entschieden sich für folgende der Alternativen (unterstrichen jeweils die Fassung Borcherts): tutete stampfte schrie tuckerte
1 14 1 52
plätschernd greinend klatschend schwatzhaft
24 0 39 5
blauschwarz übertrauert stumm und in sich gekehrt dumpfgrau aufgeplustert mit hängenden Köpfen
7 49 5 7
Der Text Borcherts unterscheidet sich ganz signifikant von der Lesererwartung. Obwohl der Kontext mehrere ,ungewöhnliche‘ Formulierungen enthält, werden die zum Ankreu-
104. Verfahren stilistischer Textanalyse
1767
zen angebotenen Fassungen des Autors nur von ganz wenigen Informanten für wahrscheinlich gehalten. Die Befragung weist darauf hin, dass die unerwarteten sprachlichen Einheiten in ganz hohem Maße stilistisch relevant sind und entsprechend nachhaltige Stileffekte hervorrufen. Immerhin fällt auch hier wieder auf, dass die Übereinstimmung zwischen Originaltext und Lesererwartung mit fortschreitender Lektüre leicht zunimmt (schrie 1, schwatzhaft 5, blauschwarz übertrauert 7). Auch in Vergleichsbefragungen lässt sich feststellen, dass die Lesererwartung sich bis zu einem gewissen Grade auf die vom Autor gewählten Fassungen einstellt, wenn vorab mehr unveränderter Kontext mitgeteilt wird. Gegenüber der Lückentextprobe hat dieses Verfahren den Vorteil, dass für die Leser der Textsinn eindeutiger ist. Noch abzuklären wäre, welche Gesichtspunkte bei der praktischen Anlage des Tests, seiner Durchführung und der Auswertung zu beobachten sind. Dazu gehören etwa die Fragen, ob die Varianten semantisch äquivalent sein müssen, wie viele Auswahlmöglichkeiten am zweckmäßigsten sind und an wie viel Stellen im Text man das MultipleChoice-Verfahren einbauen kann, inwieweit Informanten von einer vorher getroffenen Auswahl bei der nächsten Stelle beeinflusst werden usw. Trotz dieser noch ungeklärten Schwierigkeiten verspricht auch diese Methode guten Aufschluss über das Leserverhalten bei der Rekonstituierung von Stil. Das Verfahren vermag eine textorientierte Stilanalyse nicht zu ersetzen, bietet aber eine gute Möglichkeit, Leserreaktionen zu testen und damit die Stilanalyse ein Stück weit zu objektivieren.
4.4. Vervollständigungsverahren Empirische Verfahren zur Ermittlung der Lesererwartung führen fast zwangsläufig dazu, gegen einen ungeschriebenen Glaubenssatz der Literaturwissenschaft zu verstoßen. Dieses Dogma besagt, dass der Originaltext eines literarischen Autors unantastbar, gleichsam sakrosankt ist. Empirische rezeptionsstilistische Verfahren bringen es aber mit sich, Texte, und auch literarische Texte, experimentell zu verändern, zu manipulieren. Dabei handelt es sich nicht um Experimente im naturwissenschaftlich-technischen Sinne, da Tests mit Lesern nicht beliebig variierbar und auch nicht mit denselben Probanden wiederholbar sind. Aber immerhin wird versucht, Reaktionen auf Texte zu testen und dabei die Originaltexte probeweise zu verändern. Tatsächlich sind Leserbefragungen besonders viel versprechend in Verbindung mit Verfahren der Textmanipulation. In Umkehrung des bereits beschriebenen Eliminierungstests wird den Informanten ein fortlaufender Text ohne Lücken präsentiert, in dem ein Teil der verzichtbaren sprachlichen Einheiten des Originaltextes ausgelassen ist (z. B. ,adverbiale Angaben‘, ,erläuternde Relativsätze‘, ,Attribute‘). Dann werden die Informanten gebeten, all jene Stellen im Text durch einen senkrechten Strich zu markieren, an denen nach ihrer Meinung eine sprachliche Einheit aus dem Originaltext eliminiert wurde. Anzahl und Stellen dieser Markierungen ergeben bei der Auswertung im Vergleich mit dem Originaltext bereits wichtige Aufschlüsse über die Lesererwartung. Steht beispielsweise im Originaltext eine Einheit an einer Stelle, an der keiner der Informanten eine Auslassung vermutet, lässt dieser Umstand einen Kontrast zur Lesererwartung und daher hohe stilistische Relevanz vermuten. Weitere Aufschlüsse ergibt aber erst der nächste Schritt dieser Methode. Die Informanten werden
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik jetzt aufgefordert, an den bereits markierten Stellen diejenigen Wörter bzw. Phrasen niederzuschreiben, die nach ihrer Meinung im manipulierten Originaltext tatsächlich gestanden haben. Ein relativ umfangreicher Text dieser Art ist mit großen unterschiedlichen Probandengruppen durchgeführt worden (zur Auswertung eines dieser Tests siehe Spillner 1976). Zunächst wurde dabei ein stilistisch interessanter Text von H. Clauren ausgewählt: „Adolphine streckte ihre zarten Glieder auf das weiche Moos; das heilige Rauschen in den Wipfeln der uralten Bäume, das Plätschern des zum Vater Rhein hinabeilenden Baches, lullten die Schlummermüde ein. Der Champagner und die Freude hatten den Liliensammet ihre Wangen gerötet; das Köpfchen lag in der rechten Schwanenhand; die linke ruhte auf dem schwellenden Moose. Freundlich lächelten die Purpurlippen, als schwebe ihr der Scherz des Tages vor der freudetrunkenen Seele, der kleine Mund war halb geöffnet, wie eine sich eben entfaltende Rosenknospe; der Lilienbusen wogte ruhig, und das niedlichste aller Füßchen im ganzen Rheingau war nur bis zur Zwickelspitze des blütenweißen Strümpfchens sichtbar. Leise Lüfte vom flutenden Rhein herauf küßten ihr kühlend die brennende Stirn und das geschlossene Auge und spielten heimlich mit dem lockigen Haar und den flatternden Bändern, und der lose Gott der Träume, der ihr auf des Champagners leichtem Schaume ein ganzes, mit mancherlei Gaukelwerk der Phantasie befrachtetes, buntbeflaggtes Schiffchen in des Herzens stillen Hafen gesandt, umfing sie jetzt mit seinen Blumenarmen.“ (Heinrich Clauren, Unterirdische Liebe, in: Schriften Bd. 5, Stuttgart 1827, 37)
Dieser Text wurde manipuliert, indem alle Attribute, Vergleiche, ausschmückenden Relativsätze getilgt wurden. Der neue, auf die Grundinformationen reduzierte Text wurde den Informanten ohne Bezeichnung der verkürzten Textstellen in folgender Form präsentiert: „Adolphine streckte ihre Glieder auf das Moos; das Rauschen in den Wipfeln der Bäume; das Plätschern des Baches, lullten die Müde ein. Der Champagner und die Freude hatten den Sammet ihrer Wangen gerötet; das Köpfchen lag in der rechten Hand; die linke ruhte auf dem Moose. Freundlich lächelten die Lippen, als schwebe ihr der Scherz des Tages vor der Seele, der Mund war halb geöffnet, wie eine Knospe; der Busen wogte ruhig, und das Füßchen war nur bis zur Spitze des Strümpfchens sichtbar. Lüfte vom Rhein herauf küßten ihr die Stirn und das Auge und spielten mit dem Haar und den Bändern, und der Gott der Träume, der ihr ein Schiffchen in des Herzens Hafen gesandt, umfing sie jetzt mit seinen Armen.“
Über die fortgelassenen Konstituenten erhielten die Testteilnehmer eine grammatische und eine eher semantische Information. Ihnen wurde mitgeteilt, es handele sich um sprachliche Einheiten mit attributivem Charakter, und zwar um Merkmalangaben, um ,schmückendes Beiwerk‘. Genauere Angaben waren nicht möglich, um die Resultate der Befragung nicht zu präjudizieren. Die Informanten wurden nunmehr aufgefordert, im Text durch einen senkrechten Strich all jene Stellen zu markieren, an denen nach ihrer Meinung eine sprachliche Einheit des Originaltextes getilgt worden war. Anschließend wurden sie gebeten, die von ihnen markierten Stellen auszuzählen und die Anzahl auf dem Testbogen niederzuschreiben. Hierdurch sollte erreicht werden, dass die Teilnehmer die Anzahl der markierten Stellen im weiteren Testablauf nicht veränderten. In einem zweiten Schritt wurden die Informanten gebeten, an den zuvor von ihnen markierten Stellen diejenigen sprachlichen Formulierungen niederzuschreiben, die nach ihrer Meinung im Originaltext tatsächlich gestanden hatten.
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Gegenüber dem Original waren an 31 Stellen sprachliche Einheiten ausgelassen worden; dagegen wurden von den Testteilnehmern durchschnittlich nur 9,44 Stellen markiert. Der Text hat eine einfache Grundstruktur; diese wird durch zahlreiche Einschübe von Attributen erweitert ⫺ und zwar in erheblich stärkerem Maße, als dies von den befragten Lesern erwartet wurde. Wichtige Hinweise für eine genaue Stilanalyse liefern jene Stellen, die nur von sehr wenigen Informanten markiert wurden, obwohl gegenüber dem Original eine Tilgung vorliegt, z. B.: „…, der ihr auf des Champagners leichtem Schaume ein ganzes, mit mancherlei Gaukelwerk der Phantasie befrachtetes, buntbeflaggtes Schiffchen …“
Diese Fälle lassen wegen des Kontrastes zur Lesererwartung auf stilistische Relevanz schließen (ein Schluss, der sich natürlich noch bei einer Stilanalyse am nicht manipulierten Text zu bestätigen hätte). Eine weitergehende literarische Interpretation könnte den verbalen Aufwand gerade dieser Stellen als Hypertrophie, möglicherweise als schwülstig oder kitschig einstufen. Umgekehrt sind auch alle Stellen interessant, an denen viele Informanten im Gegensatz zum Originaltext eine sprachliche Einheit vermuten, z. B.: „… das Plätschern des zum Vater Rhein hinabeilenden Baches …“ „… das Köpfchen lag in der rechten Schwanenhand …“ „Der Champagner und die Freude …“
Tatsächlich heben sich diese knappen Formulierungen gegenüber dem sonst an Epitheta so reichen Text stilistisch ab. Interessant ist auch, dass viele Informanten sprachliche Einheiten anderer grammatischer Kategorie erwarteten, als sie der Originaltext enthält, vgl. z. B.: „… umfing sie jetzt mit seinen Blumenarmen …“ „… lullten die Schlummermüde ein …“
An diesen Stellen vermuteten die Informanten Adverbien oder Adverbialphrasen. Das Original enthält erheblich weniger Adverbien als erwartet, dagegen mehr Adjektive, Partizipien und Zusätze zu Nomen (Komposita). Da man auf diese Weise dem stilistischen Verfahren des Autors, d. h. seiner Auswahl aus den ihm zur Verfügung stehenden grammatischen, lexikalischen, rhythmischen Möglichkeiten der Sprache näher kommt, dürfte der didaktische Wert des Verfahrens auf der Hand liegen. Eine anschließend durchzuführende textorientierte historische Analyse müsste natürlich die zeitgenössische Tendenz zu epithetischen Komposita des Textes herausarbeiten (Liliensammet, Schwanenhand, Purpurlippen, Lilienbusen, Blumenarme). Besonderen Aufschluss für die Stilanalyse ergibt die Auswertung des zweiten Befragungsteiles. Hier zeigten sich deutliche Konvergenzen in der Lesererwartung. In den meisten Fällen stimmten die Antworten wenigstens teilweise untereinander überein bzw. ließen sich zu einem oder mehreren semantischen Feldern gruppieren. Bei der Auswertung lassen sich grundsätzlich zwei Möglichkeiten unterscheiden, je nachdem, ob die Vorschläge der Informationen mit dem Originaltext übereinstimmen oder sich von ihm unterscheiden.
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik (1) Wenn die Vorschläge der Informanten mit dem Original übereinstimmen, kann man davon ausgehen, dass die Formulierung des Originaltextes an der betreffenden Stelle weitgehend der Lesererwartung entspricht. Dafür zwei Beispiele: (a) „Adolphine streckte ihre zarten Glieder …“ Die Antworten liegen in zwei semantischen Feldern: (i) Zartheit der Glieder: zarten, schlanken, lieblichen, zierlichen (ii) Müdigkeit: müden, matten, ermüdeten, ermatteten, erschöpften Für die sprachliche Charakterisierung von Gliedern, die ausgestreckt werden, gibt es offenbar zwei sprachlich übliche Konventionen. Der Autor ist einer davon gefolgt und hat damit die Lesererwartung bestätigt. (b) Originaltext: „… auf das weiche Moos …“ präsentierter Text: „… auf das Moos …“ Leserantworten (insgesamt 18 Nennungen): weich (10mal), samten, samtig, sanft (2mal). Das Adjektiv weich entspricht hochgradig der Lesererwartung. Es ist also kaum als stilistisch relevant anzusehen und möglicherweise als konventionell zu interpretieren, sofern nicht die weitere Stilanalyse, die einen größeren Kontext einbezieht und Kontextfunktionen untersucht, dieses Ergebnis noch modifiziert. (2) Wenn die Angaben der Informanten übereinstimmend vom Original abweichen, ist prinzipiell mit hoher stilistischer Relevanz zu rechnen; im Einzelfall muss ein solches Urteil allerdings differenziert werden. Da für die Befragung bewusst ein stilistisch recht konventioneller Text gewählt wurde, traten signifikante Unterschiede in relativ geringer Anzahl auf. Dieser Befund lässt sich an der Tatsache belegen, dass entgegen der dem Test zugrunde liegenden Hypothese so ,ausgefallene‘ Wendungen wie ,die Schlummermüde‘ und ,der lose Gott der Träume‘ jeweils einmal genau erraten wurden. Immerhin gibt es in einigen Fällen interessante Unterschiede zwischen Text und Lesererwartung. Dazu gehören die bereits erwähnten Nomen, bei denen Clauren auf ein Adjektiv verzichtet, z. B.: „… das Plätschern“ „… Der Champagner und die Freude …“ Auch in anderen Fällen gibt es keine Übereinstimmungen zwischen Originaltext und Lesererwartungen, z. B.: (a) „Die Purpurlippen“ Hier liegen die Vorschläge der Leser in zwei semantischen Feldern: ⫺ rote Farbe: rosigen, roten, vollen roten, blassroten, Korallenlippen ⫺ Form: vollen, runden, feingeschwungenen, breiten Die Informationen kommen dem Original semantisch sehr nahe (Klischee der roten Lippen), unterscheiden sich aber im sprachlichen Verfahren: attributives Adjektiv versus Kompositabildung (immerhin kommt die Angabe ,Korallenlippen‘ sehr in die Nähe des Originals).
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(b) Originaltext: „… das heilige Rauschen in den Wipfeln …“ präsentierter Text: „… das Rauschen in den Wipfeln …“ Leserantworten: sanft, leise, mild, angenehm etc. Die Leserantworten lagen fast durchgehend in einem semantischen Feld. Die Möglichkeit des Originaltextes wurde aber ⫺ was nur relativ selten vorkam ⫺ überhaupt nicht genannt. Sie wurde also von den Lesern nicht erwartet. Eine textorientierte Analyse dieser Stelle ergibt, dass die Kombination ,heilig‘ ⫹ ,Rauschen‘ semantisch anormal ist; sie verstößt gegen Selektionsregeln der deutschen Gegenwartssprache. Die Informantenbefragung lässt darauf schließen, dass die Kombination in einem gegenwärtigen literarischen Kommunikationsprozess hochgradig unerwartet, also stilistisch relevant ist. Wegen der prinzipiellen Polyvalenz stilistischer Merkmale lässt sich allerdings noch nichts über die genaue Stilqualität aussagen: je nach Kontext und Rezeptionsbedingungen (Lektüreerfahrungen, literarische Wertmaßstäbe, Wissen über den Autor und seine Zeit etc.) könnte diese stilistisch relevante Nominalphrase vom Leser z. B. als ,erhaben‘, ,archaisch‘, ,deplaziert‘, ,kitschig‘, ,ironisch gemeint‘ aufgefasst werden. Ob die aufgrund des unternommenen Versuches vorhergesagte stilistische Relevanz tatsächlich besteht und welche Stilqualität mit ihr verbunden ist, kann letztlich erst eine textorientierte Analyse des Originaltextes bestätigen. Der Vervollständigungstest kann natürlich die Analyse der Leserreaktionen auf den echten Originaltext und die dabei erfolgende Rekonstituierung von Stil nicht ersetzen. Aber bereits für sich allein liefert er wertvolle Hinweise darauf, was an einem Text stilistisch relevant ist. Die Durchführung dieser Vervollständigungsmethode ist in mehreren Varianten denkbar. Bevor ein eliminierter Text präsentiert wird, kann ein Abschnitt des vorhergehenden Kontextes in der Originalfassung mitgegeben werden. In diesem Fall wäre die Lesererwartung bereits auf den Text und seinen Stil eingestellt. Unterschiede zwischen den Antworten der Informanten und ausgelassenen sprachlichen Einheiten des Originaltextes wären dann mit besonderem Gewicht als stilistische Kontraste zu interpretieren.
4.5. Makrostilistische Textmanipulation Dass Verfahren zur empirischen Ermittlung der stilistischen Lesererwartung auch im makrostilistischen Rahmen möglich sind, soll kurz an der experimentellen Präsentation eines Gedichtes von Günter Eich skizziert werden (zu einer ausführlichen Analyse siehe Spillner 1979): Strandgut Bruchstücke von Gesprächen, die unter Wasser geführt werden, auf den Strand geworfene Antworten, ⫺ Keine Fährten, aber die Wellenränder mit Quallen und Algenteilchen, Holzsplitter, Muschelschale und Bernsteinrest, und die Welle, die zurückläuft, Dass hinter der Feuchtigkeit
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik der Sand sich wieder erhellt, als begebe sich eine schnelle Dämmerung, Die Frage erwartend flattert das Gras auf der Düne. (Günter Eich)
Dieses Gedicht wurde 153 Schülern im Deutschunterricht in folgender Fassung mit einer kurzen Versuchsanweisung vorgelegt: „Dies ist ein modernes Gedicht, dessen sechs Teile in veränderter Reihenfolge abgeschrieben wurden. Es ist vollständig (nur die Satzzeichen am Ende der einzelnen Teile sind fortgelassen). Bitte ordne die sechs Teile in der richtigen Reihenfolge und schreibe das Gedicht dann noch einmal auf: Keine Fährten, aber die Wellenränder mit Quallen und Algenteilchen, Holzsplitter, Muschelschale und Bernsteinrest auf den Strand geworfene Antworten und die Welle, die zurückläuft Die Frage erwartend flattert das Gras auf der Düne Daß hinter der Feuchtigkeit der Strand sich wieder erhellt, als begebe sich eine schnelle Dämmerung Bruchstücke von Gesprächen, die unter Wasser geführt werden“
Um eine mögliche Beeinflussung durch die Reihenfolge der Vorlage auszugleichen, erhielt die Hälfte der Probandengruppen den Text in nochmals veränderter Folge. Keinem Leser war das Gedicht bekannt. Die Auswertung ergibt, dass die 153 Informanten von den 720 rechnerisch möglichen Permutationen insgesamt immerhin 79 verschiedene Lösungen anbieten. Dies ist ein Indiz für die textuelle Variabilität der Komponenten moderner Poesie, die der Leser in diesem Experiment durchaus kreativ zu jeweils neuen Gedichten restrukturieren kann. Einmal wurde die von Günter Eich gewählte Reihenfolge genannt; die meisten Vorschläge entfernen sich jedoch signifikant von der Originalstruktur. 68 Vorschläge (44,5 %) beginnen mit dem letzten Abschnitt der Originalfassung, 44 Vorschläge (28,8 %) mit dem dritten Element, nur 39 Vorschläge (25,5 %) mit dem ersten Element. 106 Informanten (⫽ 69,3 %) nennen das letzte Element vor dem zweiten Element der Originalfassung. Die Leser erwarten also, dass das Lexem Frage vor dem Lexem Antwort im Text erscheint. Kontraste zwischen Lesererwartung und Originaltext weisen (ähnlich wie signifikante Kongruenzen) heuristisch auf stilistische Relevanz im Text und gegebenenfalls auf stilistische Intentionen des Autors hin. Damit ist eine Verknüpfung der Ermittlung von Lesererwartung mit einer textorientierten Stilanalyse des Textes erreicht: das Gedicht von Günter Eich zeigt eine von der Lesergruppe nicht erwartete und alltagslogisch ungewöhnliche Folge Gespräch ⫺ Antworten ⫺ Frage.
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Die Vermutung, dass sich diejenigen Leser, die eine vom Original unterschiedliche Anordnung der einzelnen kleinen Abschnitte getroffen haben, nach anderen Gliederungsgesichtspunkten getroffen haben, wird durch die Textanalyse untermauert: Gespräch unter Wasser Antworten auf den Sand geworfen die Frage auf der Düne
Die Reihenfolge Eichs ist durch das in den Adverbialphrasen verbalisierte Ansteigen des Niveaus der Strandlandschaft motiviert. Die topographisch ,richtige‘ Sequenz kreuzt sich also mit der kommunikationslogisch umgekehrten Reihenfolge von Frage und Antwort. Offen geblieben ist bei der leserorientierten Textmanipulation die Frage, ob das Zentralthema des Gedichtes die Zerstörung des Strandlebens ist, für die das erfolglose Hin und Her der Kommunikation als Vergleich herangezogen wird, oder etwa die Unmöglichkeit menschlicher Kommunikation, die durch das unaufhörliche, aber zerstörerische Wechselspiel des Wellenganges am Strand illustriert wird. Für die erste der (neben anderen denkbaren) Möglichkeiten könnte der Titel sprechen, für die zweite Interpretation spricht der Schluss des Gedichtes. Die Ergebnisse der Leserbefragung zeigen deutlich, dass beide Interpretationen stilistisch möglich sind. Das gewählte Verfahren weist wichtige Analysewege für eine anschließende textorientierte Untersuchung.
4.6. Semantisches Dierential Ein Verfahren, das zur Ermittlung der Lesererwartung, aber sehr wohl auch zur Untersuchung von unterschiedlichen Konnotationen bei produktionsorientierten Auswahlmöglichkeiten geeignet ist, stellt das auf Osgood/Suci/Tannenbaum (1957) zurückgehende Verfahren des ,Semantischen Differentials‘ dar, das in der Psychologie und Empirischen Sozialforschung von Hofstätter (1966) als ,Polaritätsprofilmethode‘ weiter entwickelt wurde. Ihr Ziel ist es, mit Befragungstechniken Aufschluss über Assoziationen, Gefühlsregungen, unbewusste Bewertungen etc. von Informanten zu erlangen. Die Befragten wissen dabei gar nicht, was in der Befragung ermittelt werden soll; ihre Reaktion auf scheinbar nicht zum Befragungsthema gehörende Teststimuli vermag Auskunft über unbewusste Reaktionen zu geben. Dabei werden die Versuchspersonen gebeten, ihre subjektive Reaktion auf einen Begriff, auf ein Wort, auf einen Text etc. in Bezug auf eine ganze Liste polarer Adjektive wiederzugeben, z. B.: aktiv ⫺ passiv, stark ⫺ schwach, warm ⫺ kalt, konkret ⫺ abstrakt. Innerhalb eines Adjektivpaares ist die Reaktion auf einer Skala anzukreuzen, so dass graduiert angegeben werden kann, in welche Richtung die Reaktion tendiert und wie stark sie ist. Der statistische Durchschnitt der Informantenauskünfte wird in einem Diagramm dargestellt und lässt sich mit Befragungsergebnissen zu anderen Stimuli vergleichen. Auf die Ermittlung der Bewertung literarischer Texte ist dieses Verfahren von Carroll in einer Versuchsreihe zusammen mit mathematischen Methoden der Faktorenanalyse angewandt worden. Dabei wurden 150 Textabschnitte von je etwa 300 Worten durch 8 Informanten bewertet. Carroll stellt dabei exakt numerisch fest, welche der Adjektivpaare mit welchen Koeffizienten für sechs stilistische Bewertungskategorien relevant sind; und zwar
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik für ,General stylistic evaluation‘, ,Personal Affect‘, ,Ornamentation‘, ,Abstractness‘, ,Seriousness‘, ,Characterization‘ (Carroll 1960, 286). Einwände gegen das Verfahren hat Carroll selbst zu widerlegen versucht. „[…]: are all these dimensions really of ,style‘ ⫺ are not some of them rather a matter of the content of a passage? […] we must reply that there is no hard and fast distinction between style and content. Try as we may to define style as the manner of treating subject matter, the type of subject matter will in general impose constraints upon the possible kinds of stylistic treatment.“ (Carroll 1960, 292)
Das Verfahren ist auch sonst nicht unumstritten, von relativ begrenzter Aussagekraft und erfordert einen relativ hohen empirischen und analytischen Aufwand. Dennoch wäre es lohnend, den Einsatz für die produktions- wie rezeptionsorientierte Stilanalyse an Lexemen, Phraseologismen oder Stilfiguren zu überprüfen.
5. Verahren ür eine integrative Stilanalyse Eine Stilanalyse, die alle drei Hauptkomponenten der Kommunikation ⫺Textproduzent, Text, Textrezipient ⫺ berücksichtigt und obendrein aufeinander bezieht, die ferner bei Bedarf auf geschichtliche und literarhistorische Bedingungen der Textentstehung oder auch der Rezeption rekurriert, die schließlich intertextuelle Bezüge zu anderen Texten, zum literarischen Genus, zur Epoche berücksichtigt, kann unmöglich mit einem einzigen schlichten Analyseverfahren auskommen. Zwangsläufig müssen auch die unterschiedlichen Stiltheorien zu je unterschiedlichen Methoden der Stilanalyse führen. Der vorgenommene Überblick erfordert daher eine kritische Durchsicht der skizzierten Verfahren im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit und ferner auf ihre Kombinierbarkeit. Eine mögliche Auswahl unter diesen Gesichtspunkten bedeutet nicht zwangsläufig, dass eine Stilanalyse eklektisch Verfahren mixt. Es geht darum, welche methodischen Verfahren miteinander kompatibel sind und was sie jeweils für die Analyse leisten. Indiskutabel sind intuitive Interpretationen eines kundigen Analysierenden, der den Text immer wieder liest, bis ihn die stilistische Eingebung überkommt. Ein solcher Zugang mag legitim sein, aber er hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Die wissenschaftlichen Verfahren der Stilanalyse müssen offen gelegt werden und prinzipiell auch von anderen Analysierenden durchführbar sein. Bei der Darstellung der einzelnen Verfahren ist bereits auf ein Grundprinzip wissenschaftlicher Erkenntnis und Methodik hingewiesen worden: den Vergleich. Nur vergleichend können Spezifika, Charakteristika eines Objektbereiches herausgearbeitet werden. Aussagen zu Stil ohne Vergleich (mit dem Sprachsystem, mit anderen Texten, mit frühen Fassungen im Prozess der Textgenese, mit alternativen Ausdrucksmöglichkeiten usw.) sind nicht aussagekräftig. Sie sind natürlich legitim, aber nicht wissenschaftlich. Ein mögliches Kriterium für die Bewertung von Verfahren der Stilanalyse ist ferner die Umsetzbarkeit für die Textdidaktik, insbesondere für die Stildidaktik im Literaturunterricht. Zwar muss von einer Theorie oder einer Methode nicht unbedingt verlangt werden, dass sie didaktisierbar ist. Andererseits ist zu überlegen, für welchen Zweck Stilerklärungen und Textinterpretationen unternommen werden, wenn nicht für Textverstehen, Einsicht in kommunikative Ausdrucksmittel und auf der Produktionsseite die Vermittlung persuasiver oder poetischer Textwirkungen.
104. Verfahren stilistischer Textanalyse
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Es hat sich gezeigt, dass für die Produktionsseite zwei zuverlässige Methoden zur Verfügung stehen: die Auswahlstilistik mit den empirischen Ansätzen des Textvariantenvergleichs und der Rekonstruktion der im Sprachsystem angelegten Ausdrucksmöglichkeiten. Beide Ansätze erlauben den stilorientierten Vergleich. Beide Ansätze lassen sich auch ohne Schwierigkeiten auf die vom Textverfasser gewählte Möglichkeit im Text selbst beziehen. Die beiden auswahlstilistischen Zugänge ermöglichen auch, Bezüge zu potentiellen Stilwirkungen und damit zur Textrezeption herzustellen. Die konstruierten Alternativen können vergleichend auf unterschiedliche Wirkungen auf den Textrezipienten abgefragt werden. Der Textvariantenvergleich erlaubt sogar einen Blick in Stadien der Textgenese und erlaubt Hypothesen darauf, dass der Autor beim stilistischen Korrektionsprozess seine Stilintention verstärkt, präzisiert (oder möglicherweise auch zurück genommen) hat. Allerdings sind bei diesem Verfahren die Datenressourcen begrenzt, wenn die Produktionsstadien nicht oder nur unzureichend dokumentiert sind. Ohnehin sind die Quellen meistens auf literarische Texte von hochrangigen Autoren beschränkt, da bei alltagssprachlichen oder fachsprachlichen Textsorten (Briefe, Verträge, wissenschaftliche Texte, Reden usw.) Entwürfe und Vorfassungen in der Regel nicht erhalten sind. Verfahren zur rezeptionsorientierten Stilanalyse sind bislang vernachlässigt. Dies liegt daran, dass die Rolle des Lesers bei der Stilkonstituierung lange nicht erkannt wurde. Dies liegt aber auch daran, dass empirische Verfahren zur Ermittlung von Lesererwartung und Leserreaktion auf potentiell stilistisch relevante Textmerkmale aufwändig und mühsam sind. Bislang sind auch erst eher experimentelle, wenngleich aufschlussreiche und viel versprechende Versuche zur rezeptionsorientierten Stilanalyse unternommen worden. Sie müssen zu standardisierten Verfahren ausgebaut und mit der textorientierten Analyse gekoppelt werden. Es ist auch nicht unbedingt erforderlich, alle leserbezogenen Ansätze für jede Stilanalyse umfangreich auszuführen. Sie sollten aber in keiner expliziten Stiluntersuchung ganz fehlen. Für einen Ausbau rezeptionsbezogener Leserbefragungen spricht auch die Tatsache, dass sie sich sehr erfolgreich stildidaktisch im Literaturunterricht und beim Schreibtraining einbauen lassen. In diesem Zusammenhang muss auf Sonderprobleme der Stilanalyse älterer (besonders literarischer) Texte eingegangen werden. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Stil von zeitgenössischen Lesern und von späteren Rezipienten unterschiedlich rekonstruiert werden kann. Stil ist also durch sich verändernde Rezeptionsprozesse ein historisches Faktum. Dies ist bedingt durch Sprachwandel, durch literarische Moden, durch unterschiedliche Lesererfahrungen, durch die Stilwirkung von Neologismen usw. Wenn Stil in ein und demselben Text sich also historisch ändern kann, muss nicht nur die Stilwirkung auf die Rezipienten zum Zeitpunkt der Stilanalyse empirisch überprüft werden, sondern auch der Anteil des Lesers an der Stilkonstituierung selbst. Im Bereich der textorientierten Verfahren konkurrieren traditionelle und kreativere Ansätze. Ansätze, die vorgeben, eine Stilanalyse am Text und nur am Text zu bewerkstelligen, sind auszuschließen, es sei denn, die implizierten und unreflektierten textexternen Implikationen können offen gelegt und operationalisiert werden. Ein Kriterium zur Bewertung von textbezogenen Verfahren ist der Grad ihrer Verbindbarkeit mit produktionsbezogenen und rezeptionsorientierten Ansätzen. Die quantitativen und statistischen Verfahren auf Grundlage rein formaler Textmerkmale sperren sich nur scheinbar dagegen, mit anderen Analyseansätzen kombiniert zu werden. Quantitative Daten sind viel-
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IX. Textgestaltung im Rahmnen der Stilistik mehr gut geeignet, als Grundlage qualitativer Stilanalysen auch literarischer Texte zu dienen. Außerdem sind die Möglichkeiten dieser Verfahren für die Textanalyse noch längst nicht ausgeschöpft. Der Ausbau quantitativer Verfahren durch Einbeziehen semantischer und möglichst auch makrostilistischer Komponenten ist ein Desiderat künftiger Stilforschung. Eine neue Herausforderung entsteht auch durch einen Wandel der zu analysierenden Texte. Die literaturwissenschaftliche Stilanalyse hat sich traditionell nur mit rein sprachlichen Texten befasst. Es gibt aber auch Texte, die durch mehrere Zeichensysteme konstituiert werden, zum Beispiel durch eine Kombination von Sprache und Bild. Solche Texttypen gibt es schon lange, etwa in der emblematischen Barockliteratur oder in den seit der Antike existierenden illustrierten Fachbüchern. Durch neue mediale Möglichkeiten nehmen solche Texttypen eminent zu. Comics, Gebrauchsanweisungen, Werbeanzeigen, illustrierte Handlungstexte, Film, Fernsehen, Internet-Textsorten usw. sind solche bimedialen bzw. multimedialen Texte. Non-verbale (bildliche, auditive) Textelemente können bei einer Stilanalyse nicht ausgeklammert werden. Desiderat ist eine semiotische Analysemethode, die die verbalen und non-verbalen Textelemente auf einer gemeinsamen Beschreibungsebene aufeinander bezieht und analysiert. In den Handbüchern der Semiotik gibt es für diese Aufgabe bislang keinerlei Hilfestellung. Und in den literaturwissenschaftlichen Textuntersuchungen wird der Terminus ,semiotisch‘ entweder banal metaphorisch oder synonym mit ,strukturell‘ verwendet. Eine semiotische Stiltheorie steht bislang aus; es gibt funktionierende heuristische Zugänge zu einer semiotischen Stilanalyse (siehe Spillner 1995). Das Hauptproblem für Stiltheorie und Stilanalyse ist gegenwärtig die Herausbildung einer integrativen Stilkonzeption. Sie muss kommunikativ konzipiert sein und darf nicht nur den Text berücksichtigen, sondern muss sowohl die Produktions- als auch die Rezeptionsseite einbeziehen. In allen kommunikativen Grundkategorien können pragmatische Faktoren der Textentstehung, Texttradierung und der historischen Textrezeptionen einbezogen werden. Die methodischen Grundelemente einer solchen integrativen Stilkonzeption stehen bereit.
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Bernd Spillner, Duisburg (Deutschland)
X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaten in der Gegenwart 105. Rhetoric and stylistics in philosophy 1. 2. 3. 4. 5.
Systematic issues Historical relationships between rhetoric and philosophy Conceptual issues Conclusion: Rhetorical philosophy/philosophical rhetoric Selected bibliography
Abstract The topic of rhetoric and stylistics in philosophy opens up the broader question for the Western tradition of the relationship between rhetoric and philosophy. Rhetoric can be considered in two ways: either as a separate form of discourse, used by certain individuals at certain times for certain distinct purposes (persuasion), or as a general feature of all discourse insofar as every linguistic act unfolds in a style and aims to produce an effect on the receiver (move, instruct, entertain, deceive, convince). Philosophy likewise has gone through periods of institutional and societal isolation from other forms of discourse as well as periods where it reigned as queen over all other sciences and modes of expression. In short, both can have either particular applications or universal significance. This article will pursue the different modes of interaction between rhetoric and philosophy, both historically and in terms of systematic and conceptual issues.
1. Systematic issues A more detailed account of rhetoric as a complex, systematic study of discourse and communication (i. e. as more than just “stylistics”) will reveal places where it contributes to or differs from philosophical practice.
1.1. Rhetoric as system The first great systems of rhetorical techniques divide up the field of communication in three different ways. First, according to the sources of persuasion: logos or the words and arguments; ethos or the character of the speaker; and pathos or emotions. Second, there are also three broad genres of speech depending on the context and intended outcome: deliberative, influencing a choice between possible courses of future action (as in politics); judicial, leading to a legal decision; epideictic or demonstrative, praising or
1784 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart critiquing a person or situation (most closely related to poetry). Finally, there are five parts to the actual practice of rhetoric: inventio seeks the means and arguments to make the most effective speech; dispositio or narratio teaches the organization and order of a speech; elocutio presents the figures of thought and speech (tropes) that can be used to phrase or embellish a speech; memoria is the art of committing a speech to memory; and pronuntiatio or actio offers advice on performance. Given that Aristotle defines rhetoric as the ability of finding for any specific case the best means of persuasion (1991, 1355b) the art of “discovery” or “invention” is given a special prominence in his system. All but the last two play a role in the writing of philosophy (on the impact of rhetoric’s reflections on memory, see Yates, 1966).
1.2. Parts o rhetoric in philosophical argumentation In introducing the three sources of persuasion, Aristotle both demarcated philosophy from rhetoric and indicated a field of considerable overlap. Traditionally, pathos has been banned from philosophical argumentation. However, even here one might make a case that truly effective philosophies have been “passionate.” Moreover, some philosophers recognize the contribution of the emotions to cognition. The ethos of the philosopher undoubtedly plays a role in the reception and evaluation of his or her arguments. But in granting that the logos has a major impact on the persuasiveness of a case, Aristotle ensured that good rhetoric could not be free of the truth-, logic-, and validityclaims that make up philosophy, and that philosophy would benefit from the study of speech (logos) that is part of rhetoric. The importance of a broader, rhetorically inflected notion of logos for philosophy thus goes beyond the role of formal logic. Theories of topoi are derived from the field of inventio and are crucial for all successful argumentation, including philosophical. Topos (Greek) and locus (Latin) are the words for “place” and their study shows a speaker generally where to go to find something appropriate to say on any giving subject. Such “commonplaces” (koinoi topoi or loci communi) also help tie the speaker to the audience, since these topics are shared and mutually understood. Philosophers, too, have their “commonplaces,” the study of which is part of training in the discipline and the use of which makes an argument recognizably philosophical. The art of seeing the relevant particular within a general case or the general principle applying to a particular situation could be said to unite both rhetoric and philosophy (consider Kant’s concept of “judgment” [Urteilskraft]). Mason (1989; 12⫺ 13) offers a long list of general and specific “topics” that organize typical philosophical arguments (from such broad categories as “definition” or “cause and effect” to subjects such as “free will and determinism” or “possible worlds” to names of individual philosophers and appeals to authority). In contemporary rhetorical theory, Toumlin (1958) and Perelman (1958) have pursued modes of argumentation as the main point of overlap between philosophy and rhetoric. Other features of rhetorical invention and arrangement play important roles in philosophy, even if they are often not explicitly accepted. For example, while the syllogism is one of the models of logical argumentation, the enthymeme, often called the “rhetorical syllogism,” which leaves one of its premises unspoken, will always find a place in philosophical arguments because shared assumptions between a writer and an audience are taken for granted. Likewise, although ad hominem arguments have the reputation of
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being illegitimate since they address the person and not the issue, at some level all philosophy aims at affecting the beliefs of the addressee (see Johnstone 1959; 1978; Natanson 1965; Mason 1999). Finally, the highly developed doctrine of “issues” (Greek staseis, Latin constitutiones) from juridical rhetoric, helped not only lawyers plead a case ⫺ by establishing fact, defining the situation, relating it to wider (mitigating) circumstances, connecting it to appropriate law or judgment ⫺ but also offered a model for philosophical argumentation. We see a remnant of this tradition of juridical rhetoric in philosophy when Kant, for example, regularly refers to the “court (Gerichtshof ) of reason” as the site before which ideas need to be adjudicated.
1.3. Rhetoric as elocutio (stylistics) The broad system of rhetoric came increasingly to be reduced to one component, which then in turn grew to cover an ever greater field, namely elocutio (Genette 1970). We can say that this development was detrimental because it becomes too easy in its wake to dismiss rhetoric as a mere study of ornament. Once the figures of speech (esp. the four “master” tropes, metaphor, metonymy, synecdoche, and irony) come to dominate rhetorical theory, rhetoric itself becomes “nothing else” but the “clothing” covering up (perhaps deceptively) ideas themselves (“Rhetorica vero addit elocutionem, quasi vestitum,” in the words of the Humanist Melanchthon). But this development was beneficial to the extent that such an intense reflection on the workings of language opened up new avenues of how formal linguistic features contribute to meaning creation. Even elocutio, despite its tendency toward excessive floweriness, raises important issues for philosophy. Elocutio and its techniques are governed by principles of perspicuitas, aptum, and decorum which insist on agreement with the rules of grammar and on a correct association between the ideas (res, matter, subject) and their expression (verba, words). Even the first rule of the Cartesian method, clarity, can thus be viewed not so much as a call for pure, i. e. non-rhetorical conceptuality as for rhetorically and philosophically proper elocution. Philosophy, too, must address such rhetorical issues as: What does it mean to present a topic “appropriately”? Is the mathematical model, or some other, apt for the presentation of philosophical truths? That is, while philosophy might dismiss the notion of “adorning” itself, even in the interest of making its arguments more accessible, as external to its actual goals, the core rhetorical demand behind elocutio ⫺ namely, how to speak aptly ⫺ is at the heart of all philosophical reflection as well.
1.4. Special status o metaphor Of all the figures of speech and thought that filled handbooks on elocutio, metaphor always had a special status. It serves as a “vehicle” to “transport” an underlying meaning. Aristotle’s definition in the Poetics is: “metaphor is a transference of a word [or its meaning] to something else” (1984, 1457b). He grants metaphor special abilities to produce knowledge because it reveals hidden associations and identifications: Metaphors point to a “proportional likeness” in things. “We learn above all from metaphors…
1786 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart [M]etaphor must be a transference from things that are related, but not obviously so, as it is a sign of sound intuition in a philosopher to see similarities between things that are far apart” (1991, 1405a; 1410b; 1412a). Thanks to such a definition, it can be associated from the 18th century onwards with notions of “wit” and judgment that likewise bring out hidden meanings. Metaphor survives the decline of rhetoric as a major discipline in the 20th century by resurfacing in linguistics (e.g. Jakobson), literary criticism (Black, Genette, De Man), and hermeneutics (Gadamer, Ricoeur, Blumenberg). It plays a central role, e.g., in I. A. Richards’ Philosophy of Rhetoric (1936) as the “omnipresent principle of language,” which helped transform rhetoric from a collection of strategies for persuasive speech into a general theory of linguistic (esp. literary but also philosophical) analysis. The recognition that philosophical discourse not only cannot do without metaphor but also in fact relies on it to produce meaning, was emphasized by Max Black’s “theory of interaction” in 1962 (he writes: “Undoubtedly metaphors are dangerous⫺and perhaps especially so in philosophy. But to forbid their use would be an intentional and fateful limitation of our scientific possibilities.”). The fact that the effect of such unavoidable metaphoric language can work against the explicit claims of a philosophical argument, has been a core of poststructuralist critique (Derrida 1967; De Man 1971; 1979).
1.5. Style in philosophy: Textuality The style of most philosophers can be recognized after a few sentences, like that of a great musician after a few measures. That must be significant insofar as it remains an inerasable trace of individuality within even the most universal claims. And yet, the nature and impact of style in/of philosophy is perhaps the least explored feature. “Style” is actually a relatively new category in rhetorical theory. In an 18th-century handbook, Scheller felt the need to remind his audience of the term’s origin. Etymologically, he explains, style suggests the instrument for writing on wax tablet; by metonymy, the term designates the act of writing itself. Style should be used to refer to the rhetoric of writing whereas the older term elocutio is reserved for oral speech. As public speaking declines, style (in writing) becomes more important. Style connects each philosopher to the tradition of writers because each writer must work through that tradition in order to find his or her particular style. This paradoxical process ⫺ immerse oneself in the work of others in order to emerge with a unique response ⫺ was clearly delineated in the rhetorical handbooks that guided the education of most philosophers up through the 19th century. Moreover, we can use the notion of style to connect the writings to the character of the philosopher if we consider the famous sentence of de Buffon, “Le style est l’homme meˆme” (Discourse on Style). A portion of every philosophical system represents something of the ethos of the writer. In fact, this is one of Nietzsche’s main points about philosophy and philosophers (in The Gay Science; the third essay of Genealogy of Morals; Ecce Homo; Derrida, Eperons). Whether explicit or implicit, the “I” of the philosophers, and the “we” that they use to relate to the audience, shapes the text. Manfred Frank joins these different aspects in his definition: “This non-deducible individuation, which relates a canonical structure to a lived (and non-repeatable) experience, is the work of style” (Frank 1992, 52). Part of investigating style is also the study of genre. It is framed most broadly by the three levels first formulated in a lost work by a pupil of Aristotle, Theophrastes: simple
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style (genus subtile), average style (genus medium), and exalted style (genus sublime). While the study of philosophy has tended to treat it as if it were without style, it is more appropriate to view style within the tradition of this genre theory. More specifically, Lang (1990) points to the fact that philosophers themselves commonly give their works titles that refer to important generic differences (“essay,” “treatise,” “critique,” “discourse,” “letters,” etc.) and they ought to be taken at their word since each genre organizes the argument in a different way. What is claimed here about style can be generalized by recognizing the textual nature of philosophy: “The most neglected, but at the same time, most formal and general feature of philosophy is that it consists of a group of texts… They are all structured in one way or another, and display a number of particular and common qualities of style” (Ijsseling 1975, 4). The study of the materiality of these texts ⫺ their unique conditions of production, modes of expression, and means of address ⫺ does not necessarily undo their conceptual content, but it does leave a “remainder” of individuality that cannot be reduced to, and thus potentially challenges, claims of abstract universality (Adorno).
2. Historical relationships between rhetoric and philosophy Different periods during the Western tradition have defined the relationship between philosophy and rhetoric in multiple ways. Indeed, this relationship in a given period says a great deal about the general cultural conditions. Times when philosophy was more rhetorical in nature, or when major thinkers encouraged it to be so, were often in the midst of political transition, so that philosophers were called upon to take up their deliberative function. At other times, often when public rhetoric played less of a role, philosophy also withdrew itself from rhetorical and social engagement.
2.1. Greekssophists, Plato, Aristotle, and the emphasis on social practice The original teachers of public speaking were called σοfιστη´ (sophistes), as general conveyors of knowledge. They came onto the scene in the 5th century BCE when men like Corax and Gorgias gained considerable success (and wealth) by developing speeches themselves, as well as methods of teaching others, to plead cases in courts and public fora. Isocrates (436⫺338 BCE) and Demosthenes wielded extensive political power thanks to their speeches, which became models for others. The first uses of the term ρη´ τωρ (rhetor) referred to a speaker before the public assembly and court in Athens. The term “rhetoric” (ρητορικη´ ), used in the sense of an art or science (techne), was actually coined by Plato (Gorgias, Phaedrus, Protagoras) in order to distinguish instructors of oratory from the true purveyors of wisdom, the philosophers. Plato (427⫺347 BCE) took the rhetoricians to task on three grounds: First, his Gorgias exposed the difficulties of defining and delimiting the sphere of rhetoric, and his Protagoras offered different accounts of the extent of rhetoric’s range. Second, rhetoric dealt with appearances, not truth. Finally, and perhaps most important for him, the sophistic rhetoricians acted in a way that harmed the wider community. While his dia-
1788 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart logue partners point out that rhetoric can help move audiences to accept what is desirable, Socrates insists that only the philosophical grasp of what is good and just can truly help the polis. These are “philosophical” critiques, but ones that must be understood within a wider context of practical knowledge. That is, although Plato develops his own position largely in a polemic against rhetoric, it is not a question of an abstract opposition but of the effects these discourses produce on the community. Aristotle (384⫺322 BCE) had similar concerns as Plato, but instead of rejecting rhetoric for not having a proper and delimited object, he organized it and set boundaries. Most important are his early distinctions between rhetoric and dialectic: The former deals with the realm of the possible or contingent, while the latter deals with what is necessarily the case (“The function of Rhetoric, then, is to deal with things about which we deliberate, but for which we have no systematic rules” (1991, 1357a) and “Everything which of necessity either is or will be, or which cannot possibly be or come to pass, is outside the scope of deliberation” (1359a)). However, these distinctions allowed for much ambiguity, since, e.g., the theory and practice of inventio and topoi belong to both rhetoric and dialectic. Indeed, Aristotle opens the Rhetoric by connecting as much as differentiating them: “Rhetoric is a counterpart of Dialectic; for both have to do with matters that are in a manner within the cognizance of all men and not confined to any special science. Hence all men in a manner have a share of both; for all, up to a certain point, endeavor to criticize or uphold an argument, to defend themselves or to accuse” (1354a). Rhetoric could be accepted on the one hand as a tool that could contribute to and not just damage philosophy and on the other as a legitimate theoretical enterprise, with its own validity claims.
2.2. Roman ars bene dicendi (Cicero, Quintilian) Cicero (106⫺43 BCE) and Quintilian (35⫺ca. 100 CE), the major theoreticians if not also practitioners of rhetoric in the Roman Republic and early Empire, define rhetoric along the lines of the Stoics in an ambiguous fashion as the ars bene dicendi or scientia recte dicendi (Inst. Orat. II, 15, 34; also 38). By speaking “well” (bene) or “correctly/ appropriately” (recte) they cover both the techniques that would lead to persuasive speech and the demand that rhetoric must lead to correct speech and thus cannot be separated from some notion of the good and true in a philosophical sense. They attempted to rehabilitate rhetoric, to argue for its relevance for philosophy (and vice versa), and to encourage the formation of political agents who mastered both. Hence Cicero has Brutus look back critically on earlier distinctions between rhetoric and philosophy in a famous passage from the dialogue De Oratore: “Whereas the persons engaged in handling and pursuing and teaching the subjects that we are now investigating were designated by a single title (the whole study and practice of the liberal sciences being entitled philosophy), Socrates robbed them of this general designation, and in his discussions separated the science of wise thinking from that of elegant speaking… This is the source from which has sprung the undoubtedly absurd and unprofitable and reprehensible severance between the tongue and the brain, leading to our having one set of professors to teach us to think and another to teach us to speak” (3.16.60⫺61). Indeed, Quintilian, though he saw the need for the speaker and statesman to know philosophy (and
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good reasoning), mocked the idea that philosophy as a separate enterprise from public engagement was at all valuable. It was Cicero’s and Quintilian’s versions of the rhetorical system that had the greatest impact in the following centuries. Through them, rhetoric entered into, indeed formed, the lives of even the anti-rhetorical philosophers (see, e.g., Smith on Hegel’s education).
2.3. Medieval rhetoric, logic, and theology Two features characterized intellectual life during the Middle Ages. First, education was organized according to the seven liberal arts, divided into the trivium ⫺ grammar, rhetoric, and dialectic ⫺ and the quadrivium ⫺ arithmetic, geometry, music, and astronomy. They were derived from the seven bridesmaids depicted in Martianus Capella’s allegorical Marriage of Philology and Mercury (ca. 420 CE). Second, of essential importance was the Bible with its claim to divine authority. The main locus of public speaking thus shifted from the political forum to the courts, education system, and church. Given the “sisterly” relationship between rhetoric and dialectic in the trivium, they were able to live basically side-by-side, e.g. in the academic forum of the disputatio, the exchange of question and answer (modeled in part on the quaestiones that were the standard techniques of arriving at the truth in judicial proceedings). Given the emphasis on logic, the branch of inventio played a larger role than the others. Moreover, rhetoric was mined for its hermeneutical contributions so that it could help with the reading of the Bible. Together with philosophy, it played the role of the propaedeutic and “handmaid” to theology (Ijsseling, Murphy).
2.4. Humanist rebirth o rhetoric and dialectic In the Humanist movement that swept Europe in the 14th through 16th centuries, the Roman ideal of the well-speaking and well-thinking public figure came to replace the medieval focus on logic and theology. Individuals like Francesco Petrarcha (1304⫺1374), Lorenzo Valla (1407⫺1457), and Pico della Mirandola in Italy, and Erasmus of Rotterdam (1466⫺1536) or Melanchthon (1497⫺1560) in Germany, resuscitated the model of Cicero and Quintilian in all its aspects: classical Latin replaced church Latin as the model for imitation; philosophy no longer focused on the logic of syllogisms and argumentation but turned its attention to the surrounding world and man’s place (power) within it; finally, the individual thinker embraced the techniques of rhetoric that could assist him (with exceptions: this option was also open to some highly educated women) in exercising social and political authority. Education, which was to serve as the introduction to civic life, was more explicitly focused on the art of rhetoric as a full-blown system with practical applications. (The Institutio Oratoria was reprinted for the first time in full in 1470.) Hundreds of new textbooks were published in the century after the invention of the printing press, not to mention reissues of classics. Here one finds a fusion of rhetorical and philosophical thinking. For example, the relationship between res and verba, the conceptual matter or idea and its linguistic representation, was of central importance, whereby each was given its due. In handbooks by Melanchthon,
1790 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart students learn to grapple with ideas by first mastering the language and style of past thinkers through lectio, imitatio, translatio, and aemulatio, while Agricola and Ramus emphasized the connections between rhetoric and dialectic. At the higher level of the university, philosophy (vita contemplativa) was not taught as the final end of education; rather, its ideas must again find rhetorical expression in order to be effective within the polity. To be cultivated, humanus, one must unite ratio and oratio.
2.5. Enlightenment and idealism - rhetorical anti-rhetoric Philosophy in the 18th and early 19th century has suffered from an image problem, namely its identification with a form of absolute reason. Undoubtedly, thinkers as diverse as Leibniz, Wolff, Locke, Voltaire, Rousseau, Kant, and Hegel, to name just a few, stress the primacy of human rationality in grounding the autonomy of individuals from external and past influences. Kant’s famous definition of enlightenment as “man’s stepping out of one’s self-incurred tutelage” (“Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit”) indeed stresses the need for independence. Through rational reflection (a philosophical formulation of Protestant inwardness), the individual becomes the author of his or her own life and destiny. For this reason, Enlightenment philosophers often point out that both the materiality of language and its rhetorical attachment to particular situations would therefore have to be transcended. (For typical philosophical critiques of rhetoric as being too tied to concrete purposes, even essentially deceptive, see Kant in the Critique of Judgment, § 53 or Hegel in the Lectures on Aesthetics, III; Lang (1990) cites other passages from the British tradition: Locke, Hume, Berkeley.) However, if we look not just to Enlightenment philosophers’ pronouncements against rhetoric but to both the role of rhetoric in forming their writing and in shaping their ideas of human beings in society, a richer image emerges. For example, even in Kant’s definition above, “tutelage” is the common translation of the original German word “Unmündigkeit”; while this term refers to one’s status as a minor, it literally means “without a mouth/voice.” Hence, enlightenment, for Kant, is a call not just to abstract and isolated reasoning but to speaking participation in the community. Indeed, in general, the Enlightenment follows the rhetorical tradition in emphasizing that erudition for its own sake is an empty endeavor. Hence, the fact that rhetoric no longer occupied a major place in philosophical systems of the Enlightenment did not mean that it lost its functional force (see van Dyck in Schanze). Not only did major concepts in aesthetic theory continue to carry the imprint of the rhetorical tradition (despite the increasing “autonomy” of art) but modes of communication and the importance of the “public sphere” for the early Enlightenment (from the coffee house to the popular weekly journals; see Habermas 1962) ensured that rhetorical handbooks and training played a role in education and philosophy. Even in the late 18th and early 19th century, when Idealism developed the strongest arguments for the transcendental nature of reason, philosophy as a discipline continued to be engaged in important public debates. The philosopher and theologian Schleiermacher gained great popularity and significance through his published Speeches on Religion (1799). Likewise, Fichte was stylized as a rhetor germanicus thanks to his Speeches to the German Nation (1807/08).
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2.6. Positivism - ailure o non-rhetorical philosophy The philosophical movement in the 19th century most antagonistic to rhetoric was positivism, which focused solely on knowledge gained from the senses and filtered out the meaning attributed to experience by individuals’ subjective or collective perspectives. Growing out of modern empiricism, positivism emphasized the methods of the natural sciences as the only access to the truth (or certain and well-founded knowledge). Ever since Francis Bacon’s Novum Organum (1620), the new sciences were to be grounded on experience/ experiment and needed to fight against the impediments (“idols”) to observation of nature and logical reasoning. Included in those “idols” was the kind of linguistic and contextual framing that was part of the rhetorical tradition. Hence, empiricism opposed all language that did not follow from and describe experience clearly. In the late 19th and early 20th century, deeper reflection on the conditions for such a language led to logical positivism and its accounts of truth statements and procedures of verifiability. And yet, as Habermas (1988) has pointed out, positivism by definition is unable to provide the necessary reflections on its own (linguistic) conditions. It is thereby thrust onto a background of linguistic and rhetorical assumptions in both its practice and theoretical claims for which it cannot account. Kuhn has argued that even the development of the natural sciences, despite the workings of the empirical method in “normal” science, depends on powerful acts of rhetoric through which “revolutionary” scientists convince others to make a leap into a new theoretical paradigm. Ironically, perhaps as an ultimate sign of the underlying interdependence of rhetoric and philosophy, positivism, the most serious philosophical challenge to rhetoric, fails both in its challenge and as philosophy.
2.7. Nietzsche and postmodernism The end of the 19th century brought a contradictory development: on the one hand, a reduction and devaluation of rhetoric, including its gradual disappearance as a guiding discipline for education, literary criticism, and philosophy; on the other, with Nietzsche, a philosophy in a new rhetorical mode. Nietzsche grappled very early in his philosophical career with the rhetorical tradition (lectures on Aristotle’s Rhetoric in Bern, for example, see Gilman/Blair/Parent 1989). This tradition forms key aspects of his project of bringing about the self-overcoming of the Western metaphysical tradition. First, Nietzsche inverts the notion of rhetorical language as a mask of the truth. He opens his unpublished manuscript, “On Truth and Lying in an Extra-Moral Sense” with the now famous formulation: “What then is truth? A mobile army of metaphors, metonyms, and anthropomorphisms ⫺ in short, a sum of human relations which have been enhanced, transposed and embellished poetically and rhetorically.” Second, he extends this view to a general principle that reverses the metaphysical priority of “reality” over “appearance” by arguing that there is nothing “behind” the world of appearances (even the sense of a “beyond” is a secondary effect of appearances). In this way he reverses Plato’s critique of rhetoric and embraces instead the “will to power” motivating the sophists. Third, his own philosophy unfolds as an often dizzying play with styles and tonalities (e.g. Thus Spoke Zarathustra’s use of biblical rhetoric for anti-Christian ends). Nietzsche’s philosophy can be said not so much to employ irony as to be ironic.
1792 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Nietzsche’s influence on the development of a new mode of rhetorical philosophizing or of philosophy as rhetoric can be seen most prominently in postmodern or poststructuralist thinkers. I mention just three. Jacques Derrida has not only employed a critical analysis (“deconstruction”) that reveals the workings of rhetoric in otherwise anti-rhetorical philosophical texts and “theorized” notions like the trace, e´criture, and diffe´rance to explain the multi-layered and non-self-identical nature of all textuality, but composed many of his own works as endlessly playful webs of tropes and figures that escape and undermine the logocentrism of the metaphysics of presence (or ring its “death knell,” as in Glas). Although a historian, Hayden White investigated 19th-century philosophies of history as being organized by “metanarratives” around a one of the four “master tropes” (metaphor, metonymy, synecdoche, irony) and introduced a rhetorical mode of analysis with implications for philosophical as well as historical texts. Finally, Richard Rorty has combined the disparate traditions of American pragmatism, linguistic analysis, hermeneutics, and postmodernism to develop a position that could be considered a “neoSophist” in a strong sense-philosophy as a separate and privileged activity that would capture the “true meaning” of things has reached its end and gives way to both playful and serious struggles for what will count as the accepted interpretation of things (cf. Chapter 2, “The Sophistry of Rhetorical Pragmatism” in Mailloux 1989).
3. Conceptual issues Plato established the key dividing line between rhetoric and philosophy when he denied rhetoric the status of a “science” in the Gorgias because its aim is what appears to be true and not truth itself (462a⫺481b; 500a⫺504e). But it is not so easy to dismiss rhetoric as lying and thereby to preserve the purity of philosophy, since rhetoric raises important questions about the nature of truth.
3.1. Truth and representation How does truth present itself? In what way is language a medium for the presentation of truth? Can philosophy develop a conceptual mode of arguing that is free of the material features of language that are the stuff of rhetoric? On the one hand, philosophy in a Platonic or “antirepresentational” mode has stressed the opposition between truth and appearance and strives for the direct or at least “proper” way of depicting the “inherent property” of nature. For this reason, mathematics often is used as the model for philosophical argumentation since it is the least tainted by the rule (or unruliness) of language. On the other, philosophers are aware that their language is not transparent and thus is as much a part of the truth as truth itself. Hegel’s opening comments to the Introduction of the Phenomenology of Spirit reject the notion of knowledge (or language) as a mere “medium” through which the truth shines/appears, with more or less distortion; instead, truth and its appearance are inseparable. Such a conception is fundamental to the “linguistic turn” of modern philosophy for which language is not so much a medium through which truth shines as the medium in which it exists. Indeed, the conception of truth as aletheia in Heidegger’s philosophy i. e. as a simultaneous revealing and concealing, could
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itself be seen as a condensation of rhetorical conceptions of the necessary role of language in the very coming-to-be of truth (a reading that goes against the grain of Heidegger’s ontology but does take into account his profound indebtedness to Aristotle, the pre-Socratics, even the Sophists). However, we also encounter interesting paradoxes in this relationship between truth and representation. Not only is a philosophy without language impossible, but it has been clear since Aristotle that rhetoric must also mask itself in order to be effective (“We can now see that a writer must disguise his art and give the impression of speaking naturally and not artificially” 1991, 1404b; also Cicero, Orator 38). Inappropriate uses of elocutio arise when the rhetorician’s skills are too much in the foreground and thereby earn the distrust of the audience; hence, the truly talented orator must make the use of ars seem like natura. On the one hand, we see here an underlying philosophical principle that language and truth, though connected, are not identical (since language can distort truth and make us suspicious of the rhetorician’s claims). But on the other, we face the possibility that philosophical style itself is but the perfection of the self-masking of rhetoric in interest of the strongest persuasion of truth.
3.2. Truth, belie, persuasion, knowledge, opinion The Greek term that captures the main aim of all rhetorical speech acts is πι´στι (pistis), which includes both the general element of firm belief and what produces such firm belief (from πι´στευ´ ειν, pisteuein, to believe firmly in, to have the conviction that, or to be certain). It thus does not contain the difference between “convince” and “persuade” (or überzeugen and überreden), i. e. the difference between gaining a willing, open consent from and imposing a belief on another. While philosophical critiques of rhetoric would establish a strict divide between these two acts, in fact it is difficult. All philosophy aims not just at the presentation of valid and true arguments but also at assent of the reader (Mason 1989; 1999). The knowledge and wisdom (episteme and sophia) that the reader of philosophy is to attain on the basis of well-grounded arguments, involve belief and conviction. One of Plato’s key critiques of rhetoric (as well as poetry) was that it does not deal with certainties and truth but only with opinions (doxa). Philosophy, in contrast, strives for grounded assertions, knowledge, episteme. Even Aristotle distinguished between dialectic’s treatment of necessary truths as opposed to rhetoric’s sphere of probabilities. This differentiation has one of the most lasting consequences on the history of Western metaphysics, which defines itself in terms of the absolute, i. e. that which is separate from the realm of contingency. And yet, hermeneutically inflected rhetoric (or rhetorically informed hermeneutics) has emphasized the impossibility of this distinction and has argued therefore for the need to rethink the very nature of philosophy (Gadamer, Habermas). Hermeneutics, the art or science of interpretation, is closely aligned to rhetoric insofar as both recognize the historical conditions under which texts are transmitted and received. A text only makes sense within a “horizon” of understanding and shared belief that moves with time, embraces both the author and reader/listener, and can never be transcended. This shared horizon of understanding, within which philosophical texts also reveal their significance (though never in a timeless and absolute fashion), includes the unspoken ideas, i. e. precisely the doxa, that philosophy would have banned into the realm of rhetoric.
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3.3. Education, ethics, politics, and religion Rhetoric and philosophy have competed for well over two thousand years not just with each other directly but also over the control of other important cultural spheres. In the broadest sense, we can consider this a struggle over pedagogy, the tradition of paideia or Bildung, the right way to form, lead or direct young souls in their development. Indeed, there is a question even of just what can be taught. On the one hand, rhetoric is a techne with teachable methods (imitatio, aemulatio, etc.). But is philosophy such a techne, or does it rely on a notion of wisdom that can only be achieved in some other way? Or can rhetoric be a means to that end, something abandoned or sublated in Hegelian fashion? On the other, the distinction between ars and natura, what can be acquired and what is a product of innate “genius” (ingenium), is an integral part of rhetorical theory and practice itself. Both fields, therefore, face the same sets of paradoxes: If they are “natural” to human beings, then they do not need to be taught; yet they certainly do not seem to come naturally. And yet again, they lose their significance if they become “artificial”; hence, the rhetorician must learn to mask his or her learned art and the philosopher must learn (via ars) to use his or her natural reason. While the rhetorical model, most developed in Quintilian’s Institutio Oratoria, informed educational theory and practice through the 18th century, more philosophically grounded ones (from Rousseau through Humboldt) have come to dominate the last two hundred years. With the rise of the natural sciences, yet another model has become widespread; however, this model, too, has been placed into question for not taking into account the role that rhetorical persuasion plays in introducing scientists into “normal” and “revolutionary” paradigms (Kuhn). Rhetoric and philosophy have generally parted ways on the issue of ethics. If, as Aristotle claimed, the sphere of rhetoric is that of human action, whereby no outcome is certain but open to choice, alternative, and decision, then the question remains whether or not there is a measure provided beyond rhetoric as a guide to proper action. If the answer is yes ⫺ as it is for Plato, Christian thinkers, Kantians, etc. ⫺ then rhetoric will always represent either a secondary phenomenon that must follow the dictates of philosophical ethics in order to be legitimate or a dangerous manipulation of language to unethical ends. If the answer is no ⫺ as it tended to be for the Sophists, some Humanists, Nietzsche, and neo-Sophistical postmodern thinkers ⫺ then rhetoric emphasizes the grounding of ethics in the ethnos, i. e. in the community whose shared values form a network of beliefs that are formed and reformed precisely by rhetorical acts. Rhetoric always had a particularly strong relationship to politics. According to Ijsseling, the “rhetorike´ techne` and arete´ politke´ (political virtue) were also identical” (1975, 12). The Sophists and many Italian Humanists used rhetoric to gain wealth and power in peddling their techniques for use in court and public life. Political deliberation, according to Aristotle, has a special place in rhetoric, and rhetoric plays the central role in politics (“Thus it appears that Rhetoric is as it were an offshoot of Dialectic and of the science of Ethics, which may be reasonably called Politics. That is why Rhetoric assumes the character of Politics” (1991, 1356a)). The question is, what role does philosophy play in political discussions and what role does politics play in philosophy? At those times when, and according to those thinkers for whom, philosophy is defined as having a position outside of the marketplace of political debate ⫺ and this would be the dominant view in the Western tradition ⫺ rhetoric is viewed as tainted by its political past and aim of moving an audience to action, and hence must be kept separate from
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philosophical discourse. Or, stated differently, one could say that Plato’s and Aristotle’s suspicions concerning rhetoric were in the broadest sense “political” ⫺ they rejected the way earlier rhetoricians were using their methods in ways that damaged the polis. For others, from Cicero to contemporary theorists, these realms cannot be kept separate. Philosophy cannot be a pure foundation for politics and rhetoric because it is always implicated in them, and vice versa. The tensions between rhetoric and philosophy become more complicated when they are triangulated with the issue of religious truth. Beginning with the early church fathers Jerome and Augustine (354⫺430 CE), the turn to Christianity involved an initial rejection of both classical rhetoric and “heathen” (Roman) philosophy (a rejection depicted in the Confessions). And yet, much of those traditions entered into Christian thinking. Not only does (Neo)Platonism play an important role in formulating a new Christian philosophy, but the fourth book of Augustine’s De doctrina Christiana offers a reevaluation of rhetoric as a neutral tool that can be used for the interpretation and propagation of the message of Scripture. From this point on, faith as the privileged access to divine meaning stands in an uneasy relation to logos with its two meanings of reason and speech. While many Christian philosophers (Anselm, Aquinas, Descartes) turn to logic for arguments that support faith, others (Kierkegaard, Pietists, and 20th-century theologians like Karl Barth) reject philosophy in the name of scripture, faith, inner reflection, or prayer, and yet employ themselves techniques of rhetoric handed down through the tradition of homiletics.
4. Conclusion: Rhetorical philosophy/philosophical rhetoric If theory and practice cannot be disengaged, then all speaking and writing, including the philosophical, participates in the practice of rhetoric (despite theoretical pronouncements of separation). All philosophy in some way bears the adjective “rhetorical.” Even the most abstract arguments aim ultimately at the effect of producing belief-persuasion in an audience. That over history some philosophers have accepted the rhetorical component of their activity more than others, has depended both on the nature of the philosophical theories themselves and on the external circumstances determining the status of the intellectual’s engagement in the public sphere in general. Conversely, rhetoric is also both practice and theory. Although thinkers from a rhetorical perspective have often turned against philosophy as an abstract and isolated discipline, or, as in more recent postmodern versions, have criticized philosophy for its blindness to rhetorical effects in its midst, nonetheless rhetoric is engaged in philosophical reflection and hence cannot escape the demand to respect truth and validity claims.
5.
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1798 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart
106. Rhetorik und Stilistik in der Theologie 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Die Bibel als explizite und implizite Norm Rhetorisch-stilistische Grundierung der Theologie Religiöse Sprache Gender-Perspektive Stil und Rhetorik der Predigt Liturgischer Stil Stil als christliche Lebenskunst Literatur (in Auswahl)
Abstract The Bible is considered the internal and/or external norm of style and rhetoric of religious language in a Christian context. Christian theology follows ancient rhetorical tradition, which has been developed and transformed by the various views of theologians throughout the history of Christianity. A major issue relating to rhetoric and stylistics in theology is the attempt to define and describe the matter of religious language. Since the 1950s, theology has been discussing problems of religious language with specific reference to the aspect of gender. The Christian sermon and worship is theoretically reflected by homiletics in rhetorical and stylistic perspective. Contemporary theology conceives of Christianity as a specific form of lifestyle in a pluralistic world which is also expressed using rhetoric and stylistics.
1. Die Bibel als explizite und implizite Norm 1.1. Alle Überlegungen zu Rhetorik und Stilistik in der Theologie nehmen am besten ihren Ausgang von den biblischen Texten selbst. Denn die in der Bibel vorfindlichen rhetorischen und stilistischen Elemente haben die Sprachgestalt der religiösen und theologischen Überlieferung des Christentums von Anfang an bis auf den heutigen Tag beeinflusst. Der Sprachgestalt der Bibel kommt deshalb eine normative Rolle zu, die teils explizit wahrgenommen und anerkannt wurde, teils eher implizit und untergründig, deshalb aber nicht weniger bestimmend am Werk war. 1.2. Grobflächig lassen sich in der Bibel drei verschiedene Weisen rhetorischer und stilistischer Sprachgestaltung erkennen. Wir finden dort narrative Texte (z. B. die 5 Bücher Mose oder die Evangelien), meditativ-expressive Texte (z. B. die Psalmen oder das Buch Hiob) sowie reflektierende Texte (z. B. die Briefe des Paulus von Tarsus). Diese verschiedenen Sprachgestalten sind den theologischen Inhalten nicht äußerlich, sondern verweisen auf deren jeweilige Tiefenstruktur. Die narrativen Passagen verleihen dem spezifisch biblischen Gottesbild sprachlichen Ausdruck: Der biblische Gott ist ein Gott, der in der Geschichte handelt und sich in die Lebensgeschichten der Menschen verstrickt. Die meditativ-expressiven Texte sind subjekthafter Ausdruck der Freude, aber auch des Lei-
106. Rhetorik und Stilistik in der Theologie
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dens an Gott und verhelfen den emotionalen Tiefenschichten der Menschen zum Ausdruck. Schließlich sprechen die reflektierenden Texte der Bibel das kognitive Vermögen der Menschen an. Der christliche Glaube drängt offensichtlich danach, sich selbst zu begreifen und dementsprechende diskursive Sprachformen zu entwickeln. In dieser dreifachen sprachlich-rhetorischen Gestalt von Narration, Expression und Reflexion wurde die Bibel für die weitere christliche Überlieferung stilbildend. 1.3. Die biblischen Autoren orientieren sich dabei an den sprachlich-rhetorischen Mustern ihrer kulturellen Umwelt, versuchen jedoch zugleich diesen Mustern einen eigenen Stil anzubilden. So orientiert sich etwa das lukanische Geschichtswerk an rhetorischen Mustern der antiken Geschichtsschreibung, und doch unterscheiden sich das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte stilistisch-inhaltlich von dem etwa zeitgleich entstandenen jüdischen Geschichtswerk des Josephus. Das Gleiche kann für die Briefe des Paulus gelten, die unverkennbar Einflüsse der kynisch-stoischen Diatribe aufweisen (Bultmann 1910) und zugleich einen eigenständigen Typus theologischer Reflexion darstellen. Dieses Ineinander von Einbeziehung allgemeiner rhetorischer Muster und gleichzeitiger Ausbildung eines eigenen Stils kennzeichnet die gesamte folgende Sprachtradition des Christentums.
2. Rhetorisch-stilistische Grundierung der Theologie 2.1. Vor dem Hintergrund der stilbildenden Kraft der biblischen Überlieferung kann es nicht verwundern, dass die christliche Theologie von Anfang an ein enges Verhältnis mit der antiken Rhetorik und Stilistik eingegangen ist. Dabei war dieses Verhältnis jedoch niemals unumstritten. Die Kontroverse um die Bedeutung von Rhetorik und Stilistik begleitet die christliche Theologie von ihren Anfängen an bis in die jüngste Gegenwart hinein. Gerade an den fundamentalen theologischen Weichenstellungen der Christentumsgeschichte wurden immer auch Fragen der Rhetorik und des Stils thematisiert. 2.2. Einen wichtigen Meilenstein auf diesem Weg stellt die Theologie des Aurelius Augustinus dar (vgl. dazu Mainberger 1987/88). Als Rhetoriklehrer in Thagaste und Karthago war er aufs engste mit der antiken rhetorischen Tradition in Theorie und Praxis vertraut. Gleichwohl muss Augustinus einen erheblichen Argumentationsaufwand aufbringen, um die theologische Legitimität der Rhetorik zu begründen. Dieser Tatbestand zeigt, dass noch zur Zeit des Augustinus der Stellenwert der Rhetorik für die Theologie ein höchst kontroverses Thema war. In seinem kurzen und prägnanten Werk „De doctrina christiana“ (abgeschlossen um das Jahr 426) entwickelt Augustin die erste christlich-rhetorische Homiletik, die Anspruch auf eine systematische Entfaltung erheben kann. Er argumentiert dort folgendermaßen: Die antike Rhetorik wurde zwar in einem heidnischen Kontext entwickelt, stellt ihrerseits jedoch ein neutrales Regelwerk zum kunstfertigen Umgang mit der Sprache dar und kann deshalb auch theologisch legitim genutzt werden. Augustin erkauft also die theologische Legitimität der Rhetorik mit einem weithin formalisierten Rhetorikverständnis als technischem Regelwerk. An dieser Bestimmung der Rhetorik entzünden sich dann immer wieder die theologischen Kontroversen. Gleichwohl kommt Augustin das Verdienst zu, die Rhetorik in der Theologie
1800 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart definitiv heimisch gemacht zu haben. Das vierte Buch von doctrina christiana, das als rhetorische Predigtlehre verfasst ist, bestimmt die Theorie und Praxis der Predigt bis an die Schwelle der Neuzeit. Gleich nach Erfindung des Buchdrucks erscheint der Text im Jahre 1465 in Straßburg unter dem Titel „De arte praedicandi“, was die Bedeutung dieser von Augustin ausgehenden Traditionslinie nachdrücklich unterstreicht. 2.3. Neben der rhetorisch-homiletischen Tradition ist die christliche Theologie des Mittelalters und der frühen Reformationszeit durch die Form der wissenschaftlichen Disputation bestimmt (vgl. Gerber 1970). Die disputatio wird zum bevorzugten Medium der Herausbildung der christlich-wissenschaftlichen Theologie. Die Entwicklung der Institution der europäischen Universität seit dem 12. Jahrhundert ist aufs engste mit dieser Form der Generierung wissenschaftlicher Argumente und Erkenntnisse verbunden. Die disputatio kann begriffen werden als ein rhetorisch-stilistischer Habitus, der sowohl sprachlich-rhetorische wie auch kommunikativ-personale Aspekte umfasst. Es geht um die Aneignung und korrekte Handhabung des theologischen Überlieferungsstromes, der individuell-eigenständig und gleichwohl der Tradition verpflichtet erfasst werden soll. Aneignung theologischer Gedanken beinhaltet gemäss der inneren Logik des Disputationsverfahrens immer auch die Weiterentwicklung dieser Gedanken. Der Scholar ist in diesem Sinne seinem Lehrer nicht untergeordnet, sondern ihm zugeordnet. Der stilistisch-rhetorische Habitus der dispuatio beschreibt und regelt diese Zuordnung gleichermaßen. Disputationes können stattfinden im Schulbetrieb, an der Universität, in den Klöstern sowie in den Häusern der Magister. Ihr Schema weist eine klare, gleichwohl nicht starre Struktur auf: Eine Frage (questio) wird aufgeworfen und mit Argumenten pro und contra bedacht, sie wird zu überlieferten Traditionsbeständen (sententiae) in Beziehung gesetzt und einem Lösungsvorschlag (propositio) zugeführt. Jede dieser propositiones kann dann wiederum zum Ausgangspunkt einer neuen disputatio werden. 2.4. Die theologischen Kontroversen der Reformationszeit werden vor allem in der Frühzeit noch ganz im Stil der mittelalterlichen disputatio ausgetragen. Gleichwohl verändert sich das Verständnis der Sprache, und damit auch der Rhetorik und Stilistik, unter dem Einfluss der Theologie Martin Luthers nicht unwesentlich. Stellte die mittelalterliche Theologie die Sprache in erster Linie in den Kontext der menschlichen Vernunftfähigkeit, so rückt die Reformation die Sprache nun vor einen dezidiert theologischen Horizont (vgl. dazu Nembach 1972; Knape 1993). Der Mensch wird sprachmächtig in dem Maße, in dem er seinerseits von Gott angesprochen ist. Deshalb wird nun die Predigt zum herausragenden Medium religiöser Kommunikation, wobei vor allem die oben benannte normative Funktion der biblischen Überlieferung zum Tragen kommt. Weil Christus selbst, so Luther, klar und verständlich zu den einfachen Menschen gesprochen habe, müsse dies auch die Predigt tun. Nicht mehr die Gelehrtensprache des Mittelalters ist nun das Leitparadigma religiöser Sprache, sondern die Predigt in der jeweiligen Volkssprache. In seinem „Sendbrief vom Dolmetschen und Fürbitte der Heiligen“ aus dem Jahre 1530 entwickelt Luther eine eigenständige reformatorische Rhetorik und Stilistik, die vor allem die sprachlichen Besonderheiten des Deutschen betont. Übersetzen ist für Luther ein kommunikatives Geschehen, das vor allem auf die Rezeptivität der Leserinnen und Leser der Bibel sowie der Hörerinnen und Hörer der Predigt ausgerichtet ist. 2.5. Der weitere Gang der Christentumsgeschichte, die von nun an lernen musste, mit der konfessionellen Differenz zu leben, lässt auch die sprachlich-mentalen Differenzen
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des jeweiligen konfessionellen Milieus deutlicher zutage treten. Die katholische Gegenreformation entwickelte eine machtvolle Barockrhetorik und einen Stil, der durch Beeindruckung der reformatorischen Herausforderung gerecht werden wollte (vgl. Herzog 1991). Der Pietismus seinerseits entwickelt einen Stil individueller Frömmigkeitsdarstellung, der untergründig bis in die gegenwärtigen postmodernen Individualisierungsprozesse hinein am Werk ist. Im Zusammenhang mit der kulturellen Krisenerfahrung, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte, wurde noch einmal exemplarisch deutlich, wie sehr theologische Kontroversen immer auch mit Fragen der Rhetorik und des Stils verbunden waren. In vordergründig antirhetorischer Polemik entwickelt die sogenannte Dialektische Theologie (vor allem Karl Barth) einen eigenen Sprachduktus, der gleichwohl mit den rhetorischen Mustern des Expressionismus verbunden ist. Auf katholischer Seite bildet sich zu gleicher Zeit ein an der Lebensphilosophie und Wandervogelbewegung orientierter Stil aus, der der Erkennbarkeit des katholischen Profils dienen sollte. Die modernen und postmodernen Pluralisierungsprozesse nötigen auch die Konfessionen und Kirchen vermehrt dazu, einen eigenständigen und erkennbaren Stil ihrer sprachlichsymbolischen Darstellung zu entwickeln. Von daher kann es nicht verwundern, dass gegenwärtig die Rhetorik und Stilistik im Bereich der wissenschaftlichen Theologie eine neue Aktualität gewinnen.
3. Religiöse Sprache 3.1. In einer Gesellschaft des weltanschaulichen und religiösen Pluralismus kann sich die Theologie in ihrem Nachdenken über Sprache nicht mehr ohne Weiteres auf überkommene institutionelle und frömmigkeitsgeschichtliche Gegebenheiten beziehen. Auch rhetorisch-stilistische Artikulationsformen des Glaubens verstehen sich nicht mehr von selbst. Theologie hat den Pluralismus der Lebensorientierungen ebenso zu respektieren wie zu reflektieren. Von daher ist es verständlich, dass die neuere Theologie der Frage, was denn religiöse Sprache sei und wie sie zu identifizieren ist, besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat. Bereits die Definition, was als religiöse Sprache gelten kann, stellt vor nicht unerhebliche Schwierigkeiten, die nicht einfach nur unterlaufen werden können, sondern die zum expliziten Themenbestand einer theologischen und rhetorischen Stilistik gehören. 3.2. Bei der Bestimmung dessen, was als religiöse Sprache identifiziert werden kann, konkurrieren ein funktionaler und ein materialer Religionsbegriff miteinander. Der funktionale Religionsbegriff, der gegenwärtig in der wissenschaftlichen Theologie eine gewisse Karriere erfährt, geht davon aus, dass nicht allein die etablierten großen Weltreligionen wie das Christentum, der Islam oder der Buddhismus als Religion angesprochen werden können, sondern dass wir auch von Religion bzw. dem Religiösen dort sprechen müssen, wo bestimmte Phänomene und Verhaltensweisen Funktionen der einstmals unbestritten das Feld beherrschenden etablierten Religionen übernommen haben. Religion ist gemäß dem funktionalen Religionsbegriff alles, was Lebensdeutung und Lebenssinn verspricht. So wären etwa die Rituale der großen totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts wie des Faschismus und des Leninismus-Stalinismus als religiöse Vollzugsweisen anzusprechen. Die Sprache des nationalsozialistischen Propagandaministers Joseph Goebbels
1802 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart wiese in dieser Perspektive durchaus religiöse Anteile und Gehalte auf. Als „Religion“ wären im Kontext einer pluralistischen Gesellschaft aber auch Phänomene wie eine Fußballweltmeisterschaft mit ihren Ritualen und Symbolen anzusprechen. Religion ist gemäß dieser Sichtweise vor allem in den vielfältigen Spielweisen der populären Kultur anzutreffen. Es ist unbestreitbar, dass dieser weite funktionale Religionsbegriff für das Nachdenken über Rhetorik und Stil des Religiösen ein großes Anregungs- und Innovationspotential enthält. So liegen gegenwärtig vielfältige Untersuchungen zur Rhetorik und Stilistik religiöser Implikationen in der Hochkultur wie der populären Kultur unserer Gegenwart vor (vgl. dazu Gutmann 1998; Gräb 2002). Allerdings sind gegen einen solchen weiten Religionsbegriff auch Bedenken erhoben worden. Wenn schließlich alles, was zur Deutung und Gewinn von Lebenssinn führt, als Religion anzusprechen ist, bekommt der Religionsbegriff eine solche Ausweitung, dass mit ihm schlussendlich alles und das heißt nichts mehr erklärt werden kann. Wenn vom Titanic-Film über Harry Potter bis hin zu den Ritualen der Papstreisen alles unter dem Stichwort einer Rhetorik und Stilistik der Religion erklärt werden kann, verliert eine solche Erklärung letztlich ihre präzise Bestimmtheit. 3.3. Dieser Gefahr möchte ein materialer Religionsbegriff wehren, der die Bestimmung des Religiösen in der Unterscheidung von Profanem und Heiligem zu gewinnen sucht. Religiös ist in diesem Sinne ein Verhalten und ein Inhalt, der an der ultimativen Größe eines „Heiligen“ orientiert ist. Von hier aus werden dann anregende Studien zu der Rhetorik und Stilistik eines Gottesdienstes oder zur Rhetorik von Heiligenlegenden etc. erarbeitet. Doch auch der materiale Religionsbegriff ist mit internen Schwierigkeiten behaftet. Im religiösen Verhalten von Menschen lassen sich in einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr eindeutige und offensichtliche Orientierungen an einem genau abzugrenzenden und exakt zu bestimmenden „Heiligen“ ausmachen. Die Grenzen zwischen der etablierten Religion und dem alltagsweltlich-praktisch religiösen Verhalten verschwimmen (vgl. dazu Graf 2004). 3.4. Der lebenspraktisch zu beobachtende und durch empirische Studien (vgl. Jörns 1997) belegte alltagsweltliche Religionssynkretismus lässt es sinnvoll erscheinen, sich weder an dem weiten funktionalen noch an dem enger gefassten materialen Religionsbegriff exklusiv zu orientieren. Zur Bestimmung dessen, was wir heute als Religion und in diesem Zusammenhang als religiöse Sprache zu identifizieren haben, scheint eher ein pragmatisches Vorgehen angeraten zu sein. Religiöse Sprache ist dann dasjenige Sprechen, welches in einer religiösen Situation verankert ist. In diesem Zusammenhang hat Ingolf Dalferth folgenden Vorschlag zur Identifizierung religiöser Sprache gemacht: „Eine Situation ist religiös strukturiert, wenn sie als Realisierung eines religiösen Verhaltensoder Interaktionsmusters beschrieben werden kann. Als solche kann sie insbesondere dann beschrieben werden, wenn sich zeigen lässt, dass und wie in, mit und unter der Realisierung bestimmter instruktiver Sprechhandlungsmuster religiöse Muster, Strukturen und Formen realisiert werden. Aber nicht nur solche sprachlich konstituierten, sondern alle Situationen sind religiös, die dadurch strukturiert und geprägt sind, dass sie Aktualisierungen religiöser Muster darstellen. Rede lässt sich von ihrer Situation her somit genau dann als religiös erweisen, wenn diese Situation zugleich als Äußerungssituation und damit als Realisierung spezifischer Sprachmuster und als religiöse Situation und damit als Aktualisierung charakteristisch religiöser Sachmuster beschrieben werden kann […] Religiöse Rede gibt es somit
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nicht ohne religiöse Situation; Situationen sind immer dann religiös, wenn sie religiös strukturiert sind; religiöse Strukturen weisen sie auf, wenn sie als Realisationssituationen der Muster einer Religion beschrieben werden können.“ (Dalferth 1974, 359)
3.5. Lässt sich nun eine stilistische Besonderheit aufweisen, die allen Formen religiöser Sprache notwendigerweise anhaften muss? Diese Frage ist vor allem im Kontext homiletischer Überlegungen thematisiert worden. Muss sich, so lautet in diesem Zusammenhang eine verbreitete These, eine Predigt, damit sie die Menschen erreicht, nicht der Sprache des Alltags bedienen? So populär diese These ist, so sehr ist ihr von der Sache her zu widersprechen. Und genau an dieser Stelle zeigt sich, welch aufklärerischen Wert nicht zuletzt für die Praxis eine wissenschaftliche Rhetorik und Stilistik der religiösen Rede hat. Johannes Anderegg unterscheidet in diesem Zusammenhang zunächst zwei Arten des Sprechens. Zum einen die Sprache des Alltags, die von genau definierten Sinngehalten der Sprache ausgeht. Von dieser Sprache des Alltags ist die Sprache der Poesie unterschieden, die im Medium der Sprache erst diejenigen Sinnhorizonte zu erschließen sucht, deren sich dann die Sprache des Alltags als bereits erschlossene fraglos bedient. Es ist deutlich, dass religiöse Sprache, der es substantiell um Erschließung von Sinnhorizonten geht, der Sprache der Poesie näher stehen muss als der Sprache des Alltags. Allerdings ist die religiöse Sprache auch nicht einfach mit der poetischen Sprache identisch. Deshalb schlägt Anderegg vor, religiöses Sprechen als tentative Rede zu verstehen: „Das tentative Reden bewegt sich zwischen poetischer Sprache und Sprache des Alltags gewissermaßen auf schmalem Grat. Aus dem Alltäglichen sich lösend, ist es Annäherung an die besondere Zeichenhaftigkeit, an die Metaphorik poetischer Sprache, und es ist dabei immer in der Gefahr, die Metaphorik, um die es hier geht, zu reproduzieren oder aber zurückzufallen in die alltagssprachlichen Konventionen. Tentativ ist dieses Sprechen aber auch unter dem Aspekt des Dialogischen: Es zielt auf Verständigung über das, was nicht selbstverständlich ist, aber seine Verständlichkeit ist nicht wie beim alltäglichen Sprachgebrauch von vornherein gegeben. Auch in bezug auf den oder die Gesprächspartner ist das tentative Reden nicht mehr als Annäherung ⫺ aber auch nicht weniger.“ (Anderegg 1998, 377 f.)
4. Gender-Perspektive Die Feministische Theologie hat in den Problembereich einer Rhetorik und Stilistik religiöser Rede energisch die Gender-Perspektive eingebracht. Ist die Sprache der Theologie, aber auch die Sprache von Bibel, Predigt und Liturgie nicht von der Sprach- und Erfahrungswelt der Männer dominiert? Besonders eindringlich stellt sich diese Frage angesichts der Bedeutung, die die Trinitätslehre für die christliche Theologie und das liturgische Handeln der Kirche gewonnen haben. Die sprach-symbolische Trias von Vater, Sohn und Heiligem Geist ist in der Tat durch und durch männlich metaphorisiert. Feministische Theologie reagiert auf zweifache Weise auf diesen Tatbestand. Zum einen wird versucht, die Genese christlicher Erfahrung und der damit verbundenen Sprache kritisch zu rekonstruieren, wobei den unterdrückten, durch Frauen geprägten Traditionen besondere Aufmerksamkeit gilt. Gerade die rhetorische und stilistische Analyse der Sprache des Christentums führt hier zu weiterführenden Erkenntnissen (vgl. dazu Schüssler Fio-
1804 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart renza 1988). Das Christentum war inhaltlich, aber auch in seinen sprachlich-kommunikativen Formen immer mehr als das, was der männlich geprägte Main-Stream der Überlieferung suggeriert hat. Zum anderen versucht Feministische Theologie alternative Sprachformen religiöser Rede und der Liturgie zu entwickeln. Männlich geprägten Metaphern (Gott als Vater, als König etc.) sollen weiblich konnotierte Bilder und Symbole (Gott als schützende Mutter, als nährende Amme etc.) an die Seite treten. Zunehmend wird allerdings diese Art und Weise weiblicher Ergänzungsrhetorik und Ergänzungsstilistik gerade von Feministischen Theologinnen auch kritisch betrachtet, leistet doch eine solche sprachliche Umschreibung der religiösen Metaphorik einer Intensivierung der Sexualisierung der religiösen Rede nur Vorschub. Deshalb gewinnen neuerdings Versuche an Bedeutung, die Sprache der Liturgie mit geschlechtsneutralen Bildern und Symbolen anzureichern (Gott als Kraft, als Energie etc.). Insgesamt hat die Sprach- und Sachkritik der Feministischen Theologie die Sprachwelt von Theologie und Kirche in einer Weise in Bewegung gebracht, die für die künftige Rhetorik und Stilistik innerhalb der Theologie von weitreichender Bedeutung sein wird.
5. Stil und Rhetorik der Predigt 5.1. Die deutschsprachige protestantische Homiletik des 20. Jahrhunderts ist der Exemplarfall des Wandels in der Einstellung und der Rezeption von Rhetorik und Stilistik. Die dem Kulturprotestantismus verbundene sogenannte Liberale Theologie machte mit ihrem programmatischen Postulat einer „modernen Predigt“ die Hinwendung zur Alltagswelt der industriellen Moderne zur Voraussetzung einer gelingenden Predigt (vgl. Hummel 1971, 9⫺74). Damit verbunden ist die Integration genuin rhetorischer Fragestellungen, wie die Frage nach den Bedürfnissen der Hörerinnen und Hörer und nach einer angemessenen Sprachform: „Was soll also die Predigt? Sie soll einer bestimmten Gemeinde im bestimmten Augenblick das Evangelium predigen. Das heißt: sie soll das Evangelium auf eine ganz bestimmte Situation wirksam anwenden. Es gibt keine Musterpredigt schlechthin, so wenig es eine Musterreichstagsrede gibt. Es gibt nur eine Predigt im gegebenen Moment, zu den gegebenen Hörern, unter den gegebenen Umständen, zum gegebenen Zweck, aus dem Mund des gegebenen Predigers.“ (Hummel 1971, 89)
Die Predigten, die im Umfeld der Liberalen Theologie gehalten wurden, lassen durchweg eine sorgfältig gestaltende rhetorische Predigtkultur erkennen. 5.2. Gegen das liberale Programm der modernen Predigt hat in den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts die Dialektische Theologie ihren Einspruch erhoben. Das theologische Konstrukt von Gott als dem Ganz Anderen delegitimiert jegliche Orientierung der Predigt an den Bedürfnissen und Gegebenheiten der kulturellen Gegenwart als Verrat an der Sache der Theologie. Mit dieser programmatischen Orientierung der Homiletik verbunden ist die Erneuerung des Verdachts gegen die Rhetorik als bloßes Regelwerk und als Werbetechnik, die der Rede von Gott unangemessene ist. Eduard Thurneysen, der führende Vertreter der Homiletik der Dialektischen Theologie, hat den Einspruch gegen die Rhetorik so pointiert wie polemisch formuliert: „Darum erste Regel: Keine Beredsam-
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keit! Man spüre es, dass der Prediger nicht in eigener Sache redet. Darum rede er auch nicht wie ein Advokat, der eine gefährdete Position zu retten, oder wie ein Kaufherr, der für seine Ware Reklame zu machen sucht […] Der Prediger ist, wenn er ist, was er sein soll, nicht Agitator und nicht Krämer.“ (Hummel 1971, 111 f.) Damit erneuert die Dialektische Theologie den in der Theologiegeschichte häufig anzutreffenden Generalverdacht gegen die Rhetorik. Allerdings dürfte es sich auch beim Einspruch der Dialektischen Theologie gegen die Rhetorik letztlich um ein Selbstmissverständnis handeln. Wenn Thurneysen etwa die forensische Redeweise als unangemessen für die Rede von Gott deklariert, so führt er damit ein genuin rhetorisches Argument an, nämlich das Argument des aptum, das nach der Angemessenheit der jeweiligen Sprachgestalt angesichts des zu versprachlichenden Sachverhalts fragt. Der Einspruch der Dialektischen Theologie gegen die Rhetorik ist selbst rhetorisch kunstvoll und einprägsam formuliert und Ausdruck einer dezidierten antirhetorischen Rhetorik. Der gleiche Sachverhalt lässt sich auch an den Predigten der Dialektischen Theologen erkennen, deren Sprachgestalt durchaus dem theologischen Programm entspricht. Diese Predigten pflegen eine autoritativ-expressionistische Redeweise und sind gerade an ihrem Stil leicht als Predigten der Dialektischen Theologie zu identifizieren. 5.3. Die Homiletik und Predigtpraxis stand bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg hinein ganz im Schatten der Dialektischen Theologie, die sich mit ihrem konsequenten Einspruch gegen den Nationalsozialismus auch historisch legitimiert hatte. Erst an der Wende von den 60er- zu den 70er-Jahren meldet sich das Thema der Rhetorik in der Homiletik neu an. Dabei sind Einflüsse der allgemeinen Rhetorik-Renaissance in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unverkennbar. Walter Jens hat in einer vielbeachteten Rede auf dem Deutschen Pfarrertag des Jahres 1976 das Thema der Rhetorik unabweisbar auf die Tagesordnung der Homiletik gesetzt. Dabei nimmt er die Wirkungsgeschichte der Dialektischen Theologie kritisch in den Blick und kontrastiert deren Programmatik mit dem Entstehensprozess einer realen, und das heißt rhetorischen Gesetzmäßigkeiten unterliegenden Predigt: „Während man hier [im Umfeld der Dialektischen Theologie] Meditationen über Art und Weise verbaler Transsubstantiation vorexerziert und, in einer Art nimmermüdem Glasperlenspiel, den Spannungsbogen zwischen Menschenwort und Gotteswort zu analysieren versucht, wird dort, in der Nacht zum Sonntag, eine Rede geschrieben. Eine Rede, nichts weiter. Ein Manuskript formuliert von einem Pfarrer, für den das Predigen eine Tätigkeit unter anderen ist […] Es wird erwiesen, dass die Sprache von der Welt als die Sprache von Gott nur eine weltliche Sprache sein kann, eine Sprache deren Form weder eine quantite´ ne´gligeable noch ein Zufallssurplus ist, das genauso gut wegfallen könnte, sondern die Prämisse, die über das Verständnis des Inhalts befindet.“ (Jens 1977, 22)
Damit war das Thema der Rhetorik als genuin-theologische Thema neu gestellt und wurde so auch von der Fachwelt aufgenommen. Innerhalb kürzester Zeit folgten eine Fülle von Publikationen, die das Stichwort der Rhetorik zum Teil explizit im Titel führen: „Predigt als Rede“ (Otto 1976); „Der Heilige Geist und die Rhetorik“ (Rothermundt 1984); „Rhetorik und Theologie in der Predigtarbeit“ (Josuttis 1985); „Predigt als rhetorische Aufgabe“ (Otto 1987). Mit der homiletischen Hinwendung zur Rhetorik ist eine Neuentdeckung der Hörerinnen und Hörer der Predigt und damit eine inhaltliche Neuakzentuierung des Gegen-
1806 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart stands der Predigt verbunden. War für die Dialektische Theologie „Gott“ der einzig legitime Inhalt der Predigt, so findet nun eine anthropologische Umpolung der Predigt statt: „Predigen heißt: Ich rede mit dem Hörer über sein Leben […] Er, der Hörer ist mein Thema, nichts anderes; freilich: er, der Hörer vor Gott.“ (Lange 1982, 58) Diese Äußerung von Ernst Lange zeigt sehr schön, dass die Aufnahme rhetorischer Perspektiven in die Homiletik nicht allein die Formfragen der Predigt tangiert, sondern dass sich in der rhetorischen Perspektive auch die Frage nach dem Inhalt der Predigt neu stellt. Insofern kann der Einfluss der Rhetorik auf die neuere Homiletik kaum hoch genug veranschlagt werden. Allerdings war die Neuentdeckung der rhetorischen Fragstellung in der Homiletik anfangs noch ungebrochen mit einem sehr eingleisigen Verständnis des Kommunikationsgeschehens der Predigt verbunden. Zwar waren die Hörerinnen und Hörer in das Blickfeld der Homiletik geraten, aber sie wurden nur als Objekte in den Köpfen derer verstanden, die eine Predigt zu verfassen hatten. Der Prediger und die Predigerin mussten auf die Bedürfnislagen ihrer Zuhörenden reflektieren. Der Dialog zwischen Prediger und Hörer war ein selbstreflexives Geschehen allein des homiletischen Vorbereitungsprozesses einer Predigt. Ansonsten wurde das Kommunikationsgeschehen, das die Predigt darstellt, recht eingleisig verstanden. Der Predigtinhalt, der natürlich dialogisch reflektiert werden muss, sollte möglichst gerade und eingleisig in den Köpfen der Hörerinnen und Hörer ankommen, die dabei nur als passiv Rezipierende verstanden wurden. Dementsprechend hatten die Predigten im Umfeld dieses Predigtverständnisses eher eine kognitiv-appellative Struktur. 5.4. Dieses einseitige Verständnis des Kommunikationsgeschehens Predigt wurde dann erst in einer späteren Phase der homiletischen Diskussion in den 80er- und 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts aufgebrochen. Bezeichnenderweise geschah dies wiederum dadurch, dass allgemeine rhetorische und stilistische Theorien, die außerhalb der Theologie entwickelt wurden, homiletisch rezipiert wurden. Unter dem Einfluss rezeptionsästhetischer Theorien veränderte sich das Verständnis der Predigt ein weiteres Mal. Wurden unter dem eingleisigen Verständnis von Kommunikation Assoziationen und Abschweifungen der Hörerinnen und Hörer eher als Störungen empfunden, so wurden diese nun als produktive Leistungen erkannt. Unter Aufnahme rezeptionsästhetischer und semiotischer Theorien entwickelte Wilfried Engemann das Verständnis der Predigt als Auredit. Die reale Predigt ist weder das, was auf dem Manuskript eines Predigers steht, noch das, was auf der Kanzel aus seinem Munde geht, sondern das, was im Kopf der Hörenden als jeweilige Predigt entsteht: „[Bei Auredit] handelt es sich ⫺ in Analogie zu ,Manuskript‘ (⫽ ,mit der Hand geschrieben‘) ⫺ um eine Wortbildung aus dem Ablativ zu auris und dem Passiv von audire (⫽ ,mit dem Ohr gehört‘). Es geht jedoch weniger um eine sprachliche, als vielmehr um eine strukturelle Analogie im Predigtprozess: Wie das Manuskript aus der Beschäftigung des Predigers mit dem Text hervorgeht, entsteht das Auredit als Resultat der Auseinandersetzung des Hörers mit der vernommenen Predigt.“ (Engemann 2002, 172) Mit dem Verständnis der Predigt als Auredit ist die aktive Rolle der Predigthörenden legitimiert. Predigt wird nun verstanden in Analogie zur Wirkung eines Kunstwerks, wie dies Umberto Eco in seiner Theorie des offenen Kunstwerks (Eco 1977) entfaltet hat. Dem entspricht eine zunehmende Vielfalt bei der konkreten rhetorischen Gestaltung der Predigt. An die Stelle rein argumentativer Predigten tritt eine neue Fülle stilistischer Merkmale des Predigens: Erzählende Predigt, Symbolpredigt, Meditative Predigt etc.
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5.5. Die Homiletik des 20. Jahrhunderts ist also durch mehrere Wendungen gekennzeichnet: Auf das rhetorisch orientierte Programm der modernen Predigt folgt das antirhetorische Konzept der Predigt als autoritativer Gottesrede der Dialektischen Theologie, das bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmend war. Erst seit den späten 70er-Jahren entwickelt sich ein Verständnis der Predigt, das wiederum rhetorische Überlegungen aufnimmt. Zusammenfassend lässt sich auf jeden Fall feststellen, dass die Wandlungen des Predigtverständnisses im 20. Jahrhundert immer auf engste verflochten waren mit den jeweils bestimmenden Konzepten der Rhetorik und Stilistik und dass sie ohne deren Einflüsse so nicht zustande gekommen wären.
6. Liturgischer Stil War bis vor etwa zwanzig Jahren im Zusammenhang des Gottesdienstes in der wissenschaftlichen Theologie vor allem von der Predigt die Rede, so treten gegenwärtig zunehmend Fragen der Liturgie in den Vordergrund. Ganz offensichtlich ist, was im katholischen Bereich ohnehin gilt, dass der Gottesdienst wissenschaftlich zu eng perspektiviert ist, wenn er allein auf die Predigt fokussiert wird. Sicher ist das neue Interesse an einer wissenschaftlichen Liturgik auch eine Reaktion auf das, was die Kultursoziologie die Erlebnisgesellschaft genannt hat (vgl. dazu Schulze 1992). Gottesdienste wollen, das belegen empirische Studien, von den Menschen vor allem „erlebt“ werden. Und die Erlebnisanmutung eines Gottesdienstes wird erst in seiner liturgischen Gestaltung als Ganzheit konkret. Was sich in der konkreten Gestaltung der Liturgie vollzieht und wie der reale Pluralismus der Liturgien zu verstehen und zu beschreiben ist, wird von der Liturgiewissenschaft zunehmend mit der Kategorie des Stils zu beschreiben versucht. Dabei ist dann nicht mehr länger allein die traditionelle Differenz etwa zwischen katholischem, orthodoxem, lutherischem oder reformiertem Stil von Bedeutung. Die Vielfalt der innertheologischen Lebensstile, aber auch die Milieubestimmtheit der Gottesdienstbesucher erzeugt eine Stilvielfalt des Gottesdienstes, die noch einmal quer zu den Stilen der traditionellen konfessionellen Ausprägungen verläuft. In diesem Zusammenhang hat David Plüss (2003) den Vorschlag gemacht, vier liturgische Stiltypen der Gottesdienstgestaltung zu unterscheiden: Den traditionsbezogenen Stil (z. B. im agendarischen Sonntagsgottesdienst), den erfahrungsbezogenen Stil (z. B. in Männer- oder Frauengottesdiensten), den situationsbezogenen Stil (z. B. in Friedensgebeten) sowie den inszenierungsbezogenen Stil (z. B. in charismatischen Gottesdiensten). Diese Stiltypen lassen sich ohne weiteres in den verschiedenen konfessionellen Liturgien identifizieren. Der Vorteil dieses liturgiewissenschaftlichen Zugangs besteht darin, dass er liturgische Vollzüge präzis beschreiben kann, ohne diese Beschreibung normativ zu überfrachten, und gleichwohl nach Beurteilungskriterien für gelingendes liturgisches Handeln zu fragen fähig ist: „Die liturgischen Stile sind zwar nicht autonom, doch setzen sie aus sich heraus Qualitätskriterien frei. Die normative Bewertung, das Urteil über den gelungenen bzw. misslungenen Gottesdienst kann letztlich nur aus der Teilnehmerinnenperspektive im Zusammenhang eines konkreten Vollzugs und d. h. nur stilintern getroffen werden. Damit sind grundlegende (nor-
1808 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart mative) theologische wie anthropologische Reflexionen nicht suspendiert, sondern diese werden bei der Entwicklung der stilinternen Qualitätskriterien vorausgesetzt und integriert. Eine liturgische Stilkunde kann für ihre ästhetisch-theologische Kriteriologie einer fundamentalliturgischen (und als solcher immer auch normativen) Reflexion nicht entbehren. Aber sie setzt nicht mit normativen Entscheidungen ein, sondern mit geduldigen Unterscheidungen und sorgfältigen Beschreibungen.“ (Plüss 2003, 277)
Es ist zu erwarten, dass von diesem neuen Ansatz einer Liturgik als Stilkunde oder Stilistik für die weitere Forschung innovative Impulse ausgehen werden.
7. Stil als christliche Lebenskunst 7.1. Rhetorik und Stilistik waren im Disziplinenhaushalt der wissenschaftlichen Theologie vor allem in der Disziplin der Praktischen Theologie angesiedelt. Sie dienten in erster Linie dazu, das professionelle Handeln der Amtsträger zu beschreiben. Es kennzeichnet den Rang und die Bedeutung der Rhetorik und Stilistik für die wissenschaftliche Theologie, dass beide sich gegenwärtig anschicken, ihren Geltungsbereich über ihre traditionell angestammte Rolle hinaus auszuweiten. Die Perspektive von Rhetorik und Stilistik dient zunehmend dazu, das lebensweltliche Erscheinungsbild des Christentums in der weltanschaulich und religiös pluralistischen Gesellschaft zu beschreiben. 7.2. Thomas Erne (2002) identifiziert im Anschluss an Hans Blumenberg das Rhetorische als eine Maßnahme des Distanzgewinns von und zu einer Welt, die die Individuen zunehmend zu überfordern droht. Das rhetorische Weltverhältnis gibt den Menschen eine Form des Welt- und Lebensbezuges vor, die sie zur Anteilnahme und zur Distanznahme gleichermaßen befähigt: „In dieser Funktion, nicht die Blöße der nackten Existenz zu bekleiden, sondern nacktes Existieren zu ermöglichen, steht das rhetorische Verfahren, Eindruck in Ausdruck, die Unbestimmtheit, die an den Rändern der lebensweltlichen Vertrautheit aufbricht, in unbestimmte Bestimmtheit umzuverstehen, in genauer Entsprechung zur Weltoffenheitsthese, die zum Grundbestand moderner Kulturtheorie gehört. Die wesentliche Ungesichertheit der Erfahrungswelt des Menschen und die Einsicht, dass rationale Verfahren der Begründung angesichts dieses Unbestimmtheitshorizontes überfordert sind, macht Blumenbergs These plausibel, dass das Rhetorische den vernünftigen Umgang mit den Deckungslücken der Vernunft in der Moderne darstellt.“ (Erne 2002, 171)
Der rhetorische Distanzgewinn ist somit als lebensfördernd zu beschreiben. Und um genau diese lebensfördernde Distanz von und zu der Welt geht es nach Erne auch im Christentum. Deshalb ist auch die christliche Existenz als rhetorische Grundhaltung zu beschreiben: „Das Ineinander von gelebter Religion und vertrauten Symbolen und Ritualen beschreibt eine Spannung von ,sich Zeigendem und sich Verbergendem‘. Im Sinne von Blumenberg
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kann man sagen, dass der Zusammenhang von gelebter und manifester Religion ein Hinweis ist auf diejenigen Selbstverständlichkeiten, die in der religiösen Lebenspraxis in Geltung stehen, damit das Leben erträglich bleibt, und er ist zugleich der Hinweis auf einen Sinnüberschuss, der den stabilen Horizont religiöser Vertrautheit irritiert. Das Rhetorische religiöser Sinngebung liegt folglich nicht nur darin, ein explizites Einverständnis über die mitlaufenden Hintergrundgewissheiten zu ermöglichen, sondern auch durch imaginative Suggestionen das Übermaß an Fraglichkeit, das an den Rändern und im Zentrum der Lebenswelt aufbricht, abzublenden.“ (Erne 2002, 193)
7.3. Nutzt Erne den Begriff des Rhetorischen, um die genuinen lebensweltlichen Leistungen der christlichen Religion zu beschreiben, so orientiert sich Korsch (1997) am Begriff des Stils. Im Kontext einer Gesellschaft des weltanschaulichen und religiösen Pluralismus wird die Erkennbarkeit einer Gruppe oder Institution (über-)lebenswichtig. Nur das, was auf dem Markt der Möglichkeiten als unverwechselbar identifiziert werden kann, kann auf diesem Markt bestehen. Diese notwendige Identifikationsleistung geschieht heute bevorzugt über Stilverhalten. Man erkennt sich an den Vorlieben für die gleiche Sportart, für die gleichen Filme, dieselben Formen der Geselligkeit etc. Stil ist im Rahmen der Erlebnis- und Mediengesellschaft zum bevorzugten Erkennungszeichen geworden. In diesen Kontext reiht nun Korsch auch das Christentum ein, wobei er sich bevorzugt an der protestantischen Variante des Christentums orientiert. Christentum ⫺ das ist für Korsch in pointierter Weise „Religion mit Stil“. Als ein besonderer Stil ist das Christentum in die kulturelle Gegenwart einbezogen und geht doch nicht unerkennbar darin auf: „Weil Religion eine basale Deutung für die Letztinstanzlichkeit von Stil bietet, eröffnet sie, praktisch gesehen, auch eine potentielle Distanz zu den empirisch vermittelten Kulturschemata; sie macht Subjekte wahl- und veränderungsfähig, und zwar gerade darum, weil sie nicht auf ein Kulturschema festlegen will, sondern alle zu begleiten imstande ist.“ (Korsch 1997, 12) Die beiden Konzepte von Erne und Korsch konvergieren darin, dass sie das Christentum als Ars vitae, als Lebenskunst mit rhetorischen Stilqualitäten beschreiben. 7.4. Die neuere Inanspruchnahme der Begriffe des Rhetorischen und des Stils für eine Gesamtdeutung der Leistungen der christlichen Religion in der entwickelten Moderne unterstreicht nachdrücklich die eingangs explizierte These von der rhetorisch-stilistischen Grundierung der Theologie. Die Bedeutung von Rhetorik und Stilistik für die wissenschaftliche Theologie ist ganz offensichtlich nicht an die bleibende Geltung antiker oder Humboldtscher Bildungskonzepte gebunden, sondern vermag sich gerade dann zu bewähren, wenn Jahrhunderte in Geltung stehende Traditionen sich auflösen und in der Diffusität einer pluralistischen Kultur profillos zu werden drohen.
8. Literatur (in Auswahl) Anderegg, Johannes (1998): Über Sprache des Alltags und Sprache im religiösen Vollzug. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 95, 366⫺378. Bühlmann, Walter/Karl Scherer (1994): Sprachliche Stilfiguren der Bibel. 2. Aufl. Giessen.
1810 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Bultmann, Rudolf (1910): Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe. Göttingen. Dalferth, Ingolf Ulrich (1974): Sprachlogik des Glaubens. Texte analytischer Religionsphilosophie und Theologie zur religiösen Sprache. München. Dockhorn, Klaus (1973): Luthers Glaubensbegriff und die Rhetorik. In: Linguistica Biblica 21/22, 19⫺39. Eco, Umberto (1977): Das offene Kunstwerk. Frankfurt am Main. Engemann, Wilfried (2002): Einführung in die Homiletik. Tübingen/Basel. Erne, Thomas (2002): Rhetorik und Religion. Studien zur praktischen Theologie des Alltags. Gütersloh. Gerber, Uwe (1970): Disputatio als Sprache des Glaubens. Zürich. Gräb, Wilhelm (2002): Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft. Gütersloh. Graf, Friedrich Wilhelm (2004): Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München. Grözinger, Albrecht (1979): Das Verständnis von Rhetorik in der Homiletik. In: Theologia Practica 14, 265⫺272. Grözinger, Albrecht (1991): Die Sprache des Menschen. Ein Handbuch. München. Grünberg, Wolfgang (1973): Homiletik und Rhetorik. Gütersloh. Gutmann, Hans-Martin (1998): Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen und der König der Löwen. Religion lehren zwischen Kirche, Schule und populärer Kultur. Gütersloh. Herzog, Urs (1991): Geistliche Wohlredenheit. Die katholische Barockpredigt. München. Hummel, Gert (Hrsg.) (1971): Aufgabe der Predigt. Darmstadt. Jens, Walter (1977): Republikanische Reden. Frankfurt. Jörns, Klaus-Peter (1997): Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen heute wirklich glauben. München. Josuttis, Manfred (1985): Rhetorik und Theologie in der Predigtarbeit. Homiletische Studien. München. Knape, Joachim (1993): Philipp Melanchthons Rhetorik. München. Korsch, Dietrich (1997): Religion mit Stil. Protestantismus in der Kulturwende. Tübingen. Lange, Ernst (1982): Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgie und Pfarramt. München. Mainberger, Gonsalv (1987/88): Rhetorica. 2 Bände. Stuttgart-Bad Cannstatt. Nembach, Ulrich (1972): Predigt des Evangeliums. Luther als Prediger, Pädagoge und Rhetor. Neukirchen⫺Vluyn. Otto, Gert (1976): Predigt als Rede. Über die Wechselwirkung von Homiletik und Rhetorik. Stuttgart u. a. Otto, Gert (1987): Predigt als rhetorische Aufgabe. Homiletische Perspektiven. Neukirchen⫺Vluyn. Plüss, David (2003): Liturgie ist Stilsache. Eine stiltheoretische Typologisierung ganz normaler Gottesdienste. In: Praktische Theologie. Zeitschrift für Praxis in Kirche, Gesellschaft und Kultur 38, 275⫺286. Reschke, Thomas/Michael Thiele (1992): Predigt und Rhetorik. St. Ottilien. Rothermund, Jörg (1984): Der Heilige Geist und die Rhetorik. Theologische Grundlinien einer empirischen Homiletik. Gütersloh. Schüssler Fiorenza, Elisabeth (1988): Zu ihrem Gedächtnis. Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge. München. Schulze, Gerhard (1992): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/ New York. Watson, Duane Frederick (1994): Rhetorical criticism of the Bible. Leiden.
Albrecht Grözinger, Basel (Schweiz)
107. Rhetorik und Stilistik in der Rechtswissenschaft
107. Rhetorik und Stilistik in der Rechtswissenschat 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Einleitung Die Gerichtsrede: Der Beginn der Rechts- und Redekunst Die Spaltung zwischen rhetorischer Jurisprudenz und Rechtswissenschaft Rhetorik und Stilistik in der Rechtswissenschaft der Gegenwart Entwicklung der Rhetorischen Rechtstheorie Neuere, empirisch fundierte Ergebnisse Literatur (in Auswahl)
Abstract Legal reasoning is a special branch of rhetoric in general. In Greek antiquity it has been undoubted that success before the court was attainable only by a convincing address to the jury. To compose these convincing texts legal and rhetorical knowledge had to be applied and have been one unified field of knowledge. Since the rise of the Cartesian method lawyers try to deny the rhetorical constitution of their discipline in order to adopt a scientific style of reasoning. Their ideal is the logical derivation of concrete judgements from general rules. In the point of view of these “legal scientists” rhetorical strategies are mere methods of non-scientific persuasion. The latter is supposed to be forbidden by the scientific ideal. Despite this failing recognition of the rhetorical constitution of legal reasoning in legal sciences practitioners, such as lawyers and judges, produce their texts to reach rhetorical success ⫺ as the adherents of the Mainzer Schule pointed out legal reasoning is still rhetorical. In legal texts all rhetorical means ⫺ Pathos, Logos and Ethos ⫺ are used to justify a decision. This essay gives a brief summary of the results of an empirical rhetorical survey of judgements. These results verify and render more precisely the thesis of the Mainzer Schule: Law is rhetoric. The stylistics of legal reasoning are composed to persuade the addressees of judgements by a regular combination of means of persuasion and rational argumentation. This style is ⫺ consciously ore not ⫺ uniformly adopted by all judges.
1. Einleitung Recht und Rhetorik sind von Beginn an unzertrennlich (Ueding 1995). Die juristische Praxis ist eine besondere rhetorische Praxis (Ballweg 1989; Sobota 1990a, 1 f.); juristisches Praxiswissen ist ein besonderes rhetorisches Handlungswissen (Viehweg 1974, 46 ff.; Ballweg 1984; Sobota 1990a). Seit dem 16. Jahrhundert beginnt die Jurisprudenz jedoch ihre Rhetorizität zu verdrängen. Sie will Wissenschaft werden und nicht länger Jurisprudenz (von lat. prudentia: Klugheit) sein (Ballweg 1970). So spaltet sie ihre Methodik und ihr Selbstbewusstsein in eine praktische, rhetorikkundige Kryptolehre, die vorwiegend mündlich und durch Imitation tradiert wird, und ein szientifistisches, ideales Pseudoprogramm, das gelehrt und diskutiert, aber nicht angewendet wird (zum Unterschied von Herstellung und Darstellung des Rechts: Sobota 1990a, 13 ff.).
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1812 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart
2. Die Gerichtsrede: Der Beginn der Rechts- und Redekunst Im antiken Griechenland wurden Recht und Rhetorik als einheitlicher Stoff von den sog. Sophisten gelehrt: von marktorientierten Pädagogen, die sich „Redner und Rechtskundige“ nannten (Gomperz 1912). Sie entwickelten die Disziplin der Gerichtsrede, womit sie nicht nur die Rhetorik als reflektierte Praxis und Lehre begründeten, sondern auch die Rechtskunst (Ueding 1995, 16 f.). Da damals jeder selbst, ohne anwaltliche Vertretung, vor Gericht auftreten musste, zählte es zu ihren einträglichsten Aufgaben, Bürger auf ihren forensischen Auftritt vorzubereiten. Es galt, die Rede zu konzipieren und auswendig zu lernen, Argumente zu finden und die Art des Vortrages einzuüben. Die Verbindung von Prozesserfolg, persönlicher Anerkennung und Entlohnung dürfte ein Grund dafür gewesen sein, dass diese ersten Redelehrer ihr Wissen um Sprachkunst, Redetaktik, ⫺ wirkung und ⫺ psychologie mehrten. Sie sammelten ihre Erfahrungen, bildeten Schemata und zogen Schlüsse, von denen wir heute einiges als Grundlagenforschung bezeichnen würden (Ballweg 1991; 1996). Neben ihren allgemeinen Einsichten in die überzeitlichen Bedingungen der Überzeugungssituation zeichneten sie die Hauptlinien des juristischen Denkens vor. Dabei lag der Schwerpunkt nicht im materiellen, sondern im prozessualen, methodischen ⫺ argumentativen ⫺ Teil des Fachs. So folgt man z. B. bis heute in Strafsachen einem Aufbauschema, das die antiken Rhetoren für die Verteidigung von Angeklagten entwickelt haben: der Gliederung nach der sog. Stasislehre (Horak 1972, 172 ff.; Hohmann 1989, 171 ff.). Man beginnt mit der Frage nach dem „Sachverhalt“: Hat der Angeklagte die Tat begangen? Es folgt die Prüfung der „Tatbestandsmäßigkeit“, sodann der „Rechtfertigungsgründe“, der „Schuld“, der „Verfahrensfehler“ und gegebenenfalls der Prüfung der zugrunde gelegten Norm nach den übergesetzlichen Kriterien der Gerechtigkeit, heute: der „Verfassungsmäßigkeit“. Überzeugt das Plädoyer auch in diesem Punkte nicht, bleibt noch die Bitte um Gnade.
3. Die Spaltung zwischen rhetorischer Jurisprudenz und Rechtswissenschat Rhetorik- und Rechtslehre sind ⫺ wenn auch ungleich ⫺ Sprösslinge desselben Stammes. Irgendwann zwischen dem 15. und 16. Jh. mag sich die Jurisprudenz nicht mehr zu dieser gemeinsamen Herkunft bekennen. Zugleich strebt ihre bewusste Selbstwahrnehmung langsam fort von den alltäglichen Handlungsbedingungen hin zu abstrakten Prinzipien, was bis heute zu einer Spaltung ihres Selbstbewusstseins geführt hat. Die akademische Jurisprudenz entfernt sich von der professionellen Juristenschaft (Ballweg 1970, 108 ff.) und beginnt, den Vorgang der Rechtsgewinnung nach den Ideen der Neuen Zeit und der Neuen Wissenschaften zu definieren. Zuvor standen im Mittelpunkt des Rechtsunterrichts Techniken der Problembewältigung. Propädeutische Grundlage waren die Kenntnisse, die der angehende Jurist in den Fächern des Trivium (Grammatik, Rhetorik und Dialektik), später mit dem Baccalaureus an der Universität (Rhetorik und Dialektik) erworben hat. Dort lernte er argumentativ und stilistisch zu überzeugen. Er übte sich in der ars inveniendi (Topik), einer Technik, die durch Formelsammlungen und Aufbauschemata hilft, für die Falllösung geeignete Prämissen zu
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finden, und Kataloge zusammenstellt, die bewährte Prämissen ⫺ Leitentscheidungen, Dekrete, dogmatisierte Kommentare ⫺ ordnet, einprägsam und verfügbar macht (Viehweg 1974, 35 f.; 111). Die gelehrte Rechtsgewinnung erscheint ihm als die Kunst, ein anstehendes Lebensproblem mit einem autorisierten Satz in Verbindung zu bringen. Die Rechtsprämissen bilden eine vielfältige, nach unterschiedlichen Kriterien schwach geordnete Masse; diese tendiert zu Vielfalt, inneren Widersprüchen und Unübersichtlichkeit, das heißt: sie spiegelt die Kontingenz der menschlichen Angelegenheiten. Bis in das 16. Jh. versteht man deshalb juristisches Arbeiten als gelehrte Fertigkeit, anerkannte Rechtsregeln aufzuspüren und deren konkrete Sachbeziehung argumentativ zu belegen. So begreift Christoph Hegendorf (1536, liber I 10; liber IV) das Recht noch als Argumentationskunst und behandelt die Schluss- und Definitionstechniken, die geläufigen Topoi und Sophismen; dem ganzen Spektrum der Überzeugungsmittel widmet er seine „Rhetoricae legalis“ (Hegendorf 1541). Der Bruch mit dieser Tradition zeigt sich jedoch bereits bei Zeitgenossen wie Mattheo Gribaldus Mopha (1553) und Melchior Kling (1550).
Nun soll Recht nicht länger die vielgestaltige Lösung der individuellen Probleme sein (Viehweg 1974, 79); Gerechtigkeit will man nicht mehr durch Verfahren, in den Texten der Autoritäten und durch Austausch von Argumenten suchen; jetzt erstrebt man abstrakte, logisch-prinzipielle Antworten. Der Weg dorthin führt zu einer Methode der akademisierten, mono-logischen Rechtserkenntnis (Viehweg 1995a, 129). Juristisches Vorgehen wird ⫺ wie bald ausdrücklich von Niels Hemmingsen (1564) ⫺ nach Art der Euklidschen Geometrie als more geometrico beschrieben, also als begriffspräzise deduzierende Methode. Damit korrespondierend entwickelt sich ein neues Rechtsverständnis, geprägt vom aufkommenden naturrechtlichen Vernunftrecht: Recht soll, den Objekten der Naturwissenschaften gleichgestellt, auch ein Wesen der Schöpfung sein, das in der Außenwelt existiert und sich durch deduktiv-systematische Aussagen exakt und wahr beschreiben lässt. Diese Methode ist nicht mehr die Arbeitsweise der Praxis, sondern Konsequenz einer gewissheits- und legitimitätsverbürgenden Idee. Als Kulmination dieses Stils erscheint das Gebäude, das Christian Wolff (1754) als lückenlosen Ableitungszusammenhang entwirft. Im Glauben, dass der logisch deduzierte Satz das Vernünftige und damit Natürliche sei, knüpft er Ketten aus Hunderten von Obersätzen, welche seine metaphysischen Anfangsgründe mit dem jeweiligen einzelnen Rechtssatz verbinden. Die Erkennenden dieses normativen Seins glauben mit ihren begriffslogischen Operationen in den Kreis der Wissenschaftler aufrücken zu können. In dieser Zeit erodiert in der universitären Theoriebildung das Bewusstsein für die Verbindung von Recht und Rhetorik und für die topische Organisation ihres Wissensbestandes. Besiegelt wird diese Entwicklung, als sich die Jurisprudenz im 19. Jahrhundert den Namen Rechtswissenschaft gibt. Mit dieser Bezeichnung kappt sie endgültig den Bewusstseinsstrang, der bis in die Antike reicht: ihr Selbstverständnis als humane Klugheitslehre, die immer unauflöslich mit der Rhetorik verbunden war.
4. Rhetorik und Stilistik in der Rechtswissenschat der Gegenwart Heute interessieren sich Juristen wieder für die Kunst der Beredsamkeit. Sie besuchen Seminare zu Präsentations- und Persuasionstechniken, die zwar meist tiefere Reflexion liefern, aber doch spielerisch zeigen, wie Rechtsangelegenheiten von der Gestaltungskraft der Sprache bestimmt werden. Nicht die Logik entscheidet, sondern die Situation; nicht
1814 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart das System, sondern das Problem, nicht die „einzig richtige“ Lösung (so noch Larenz 1979, 12 ff.), sondern die „plausible“ Lösung (Bayer 1975; Sobota 1992a, 237) führt zum Erfolg. Zu dieser Einsicht gelangen viele erfahrene Juristen auch durch eigene Beobachtung; spätestens am Ende ihres Berufslebens wissen oder ahnen sie ⫺ dass die sprachliche Eindeutigkeit und die logische Systematizität der Rechtsfindung eine Fiktion sind (Sobota 1990a, 83 ff.), ⫺ dass es auf das anstehende Problem und die beteiligten Personen ankommt, nicht auf das System und andere Abstraktionen, ⫺ dass es methodisch nicht um das einzig richtige Recht, sondern ein bestimmtes Ethos und einen sachlichen Stil geht (Sobota 1990a, 152). Normalerweise räumen sie diesen Feststellungen jedoch nur eine inoffizielle Kammer ihres Bewusstseins ein (anders aber: Seibert 2004 und Strauch 1923, die sowohl Richter als auch rhetorisch reflektierende Gelehrte sind). Den offiziellen Raum beansprucht die herrschende Lehre: Sobald Juristen eine Entscheidung ausarbeiten, fallen sie regelmäßig in die angelernte Vorstellung zurück, ihre Arbeit sei „eindeutige“ „Erkenntnis“ eines „objektiv“ seienden Rechts ⫺ das Recht gedacht als begrifflich präzises, in sich weitgehend logisches System. Damit unterliegen sie einer verdeckten Wissensspaltung: Die unbewusst-pragmatischen Kenntnisse, die rhetorisch geprägt sind (Sobota 1990b, 509), widersprechen den theoretischen, die auf einem logisch-naturrechtlichen Konzept beruhen. Deshalb gibt es für die Rhetorik noch immer kein Forum in der Rechtswissenschaft. Sie ist Kryptodisziplin, die zumeist durch unbewusstes Wissen tradiert (Sobota 1990b, 505) und aktuell in ein paar, von bildungswilligen Studenten hoch geschätzten Büchern über die Redekunst und die juristische Arbeitsweise festgehalten wird. Diese Literatur ist nicht Bestandteil des fachlichen Curriculums. Sie wird vom Akademiebetrieb genauso wie die Rhetorik lediglich als Soft-Skill geduldet, jedenfalls solange sie die Ebene des allgemein Handwerklichen nicht verlässt. In diesem Rahmen ist auch die Stilistik in ihrer trivialen Form als „Kleine Stilkunde für Juristen“ (in diesem Sinne Schmuck 2003) akzeptiert. In der Rechtswissenschaft fehlt dem Begriff eine eigenständige theoretische Dimension. Der Begriff Rhetorik hingegen steht seit fünfzig Jahren für eine ergiebige, wenn auch zunächst heftig bekämpfte Forschungsdisziplin. Ihr Begründer ist Theodor Viehweg, als analytische Disziplin formulierte sie Ottmar Ballweg; bekannt wurde sie unter dem Namen Rhetorische Rechtstheorie oder Mainzer Schule (Schlieffen 2005a, 313 ff.).
5. Entwicklung der Rhetorischen Rechtstheorie Viehweg, ein milder Skeptiker, unternimmt in der Nachkriegszeit das Wagnis, an die vorwissenschaftliche Tradition der Jurisprudenz zu erinnern. Es war ein Versuch zur ungünstigen Zeit, suchte die Rechtslage nach der Erfahrung des Nationalsozialismus wieder nach naturrechtlichen oder logizistischen Gewissheiten. Seine Schrift „Topik und Jurisprudenz“, in der die Verbindung von Recht und Rhetorik zunächst nur anklingt (Viehweg 1974, 11; 29 f.; 63 f.; 114), wird von der Mainzer Schule in den folgenden Jahrzehnten zu der These fortentwickelt, dass Recht eine besondere rhetorische Praxis sei.
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Rhetorizität zeichne nicht nur die forensische Debatte aus, sondern auch die Ideen und Systeme der Rechtsdogmatik, Rechtsphilosophie und Methodenlehre (Ballweg 1989, 239 f.; Sobota 1990a, 3 ff.). Damit ist die Annahme verbunden, dass Rechtstexte rhetorisch, also wirkungsbezogen und durch den Einsatz rhetorischer Mittel hergestellt werden (Sobota 1992b). Nachdem Viehwegs Schrift zunächst kaum zur Kenntnis genommen wird (Ballweg 1982a, 7), folgt später eine Welle der Abwehr (Herget 1996, 66, 70; Schlieffen 2004, 104). Einige äußere Umstände zwingen der deutschen Rechtswissenschaft die Diskussion über Viehwegs These auf. Hierzu zählt die internationale Resonanz auf die „Topik“. Das erste Echo verstärkt sich mit dem weltweiten Erfolg von Chaim Perelmans Idee einer „Nouvelle Rhetorique“ (Perelman/Olbrechts-Tyteca 1992), die sich, zunächst unabhängig von Viehwegs Wirken in Mainz, mit den Bedingungen rationaler Argumentation befasst und dazu beiträgt, das Reizwort Rhetorik auch in Juristenkreisen zu rehabilitieren. Hinzu kommt, dass in den sechziger und siebziger Jahren jüngere Rechtswissenschaftler ein lebhaftes Interesse an interdisziplinärer Zusammenarbeit zeigen. Man öffnet sich für die Sprach-, Kommunikations- und Sozialwissenschaften, woraus sich u. a. die Rechtslinguistik und Rechtssemiotik als die terminologisch moderner und moderater auftretenden Zweige der Rechtsrhetorik entwickeln (Müller 1999; Christensen/Kudlich 2001; Seibert 1996). Die Rhetorische Rechtstheorie beginnt als rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung (Viehweg 1995b; Ballweg 1972). Sie sieht das Recht als eine humane, sprachverfasste Orientierungsleistung (Viehweg 1995c) und dekonstruiert in sophistischer Tradition die herrschenden Rechtsphilosophien und Rechtstheorien (Ballweg 1972, 44). Ballweg erkennt in der Rhetorik vor allem das analytische Potential (Analytische Rhetorik) (Ballweg 1989; 1991), mit dem sich das System Recht (Ballweg 1970, 83 ff.) ⫺ wie auch andere soziale Steuerungssprachen beobachten lassen (Ballweg setzt mit der Jurisprudenz u. a. gleich die Rhetorik des Ökonomischen (McCloskey 1985), der Moral (MacIntyre 1981) und der Politik (Perelman 1984)) ⫺. Sie alle bedienen sich der Umgangssprache, und diese ist Rhetorik, wie es Ballweg mit den Worten Nietzsches (1922, 298) sagt. So kommt es zur Kernaussage: Recht ist Rhetorik (Ballweg 1989; 1991), die auch später international von einem rhetorical turn in der Jurisprudenz mitgetragen wird (z. B. Gold 1985; Goodrich 1987; Prentice 1983/84; White 1985). Die von Recht geschaffene Welt des Rechts kann nichts außerhalb ihrer eigenen Sinnkategorien wahrnehmen, wie es überhaupt keinen unmittelbaren Zugang zu „etwas anderem“ gibt: „Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, […] und besitzen doch nichts als Metaphern“ (Nietzsche 1988, 879). Im Einklang mit den Ansätzen Nietzsches und den Einsichten eines sozialwissenschaftlichen und kognitionstheoretischen Konstruktivismus (Berger/Luckmann 2004; Maturana 1985; Luhmann 1994) und der Ethnomethodologie (Patzelt 1987) sieht die Rhetorische Rechtstheorie im Recht einen sich durch Selbstbezeichnung selbst erzeugenden, sich selbst wahrnehmenden Handlungs- und Zeichenzusammenhang (Ballweg 1989, 233 ff.; 237 ff.; Sobota 1994), eine Rhetorik der Herstellung von Wirklichkeit (Sobota 1990a, 13; 25 ff.). Diese ist nicht wahr oder falsch, sondern bewährt ⫺ oder nicht (Nietzsche 1995; Blumenberg 1981, 104⫺136). Zur Annäherung an diese Komplexität formuliert Ballweg ein zeichentheoretisches Schema (Ballweg 1976). Es beschreibt nicht nur die Wirkungen zwischen Subjekten und Zeichen (S J Z J S), sondern erfasst auch die Beziehungen zwischen den zeichengeschöpften, einander nie un-mittelbar, rhetorikfrei begegnenden Subjekten (S J S). Weitere Dimensionen sind das Wechselverhältnis zwischen Subjekt und zeichenhaftem Objekt (O J Z J O) sowie die Beziehung zwischen den Objekten: die rhetorisch konstituierte Weltordnung (O J O).
1816 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Die Semiotik findet bei allen Vertretern der Rhetorischen Rechtstheorie Interesse, namentlich bei Schreckenberger und Seibert, die die Auffassung vertreten, dass die konventionelle Rechtsbetrachtung den pragmatischen Aspekt vernachlässigt und sich auf die syntaktische und semantische Dimension beschränkt; die Rechtsdogmatik denkt also ⫺ im Gegensatz zu den überkommenen Prudentien ⫺ nicht-situativ (Ballweg 1970, 106 ff.; Seibert 1981, 17 ff.). Deshalb plädiert die Mainzer Schule für eine pragmatische Rechtsbetrachtung, die der Handlungsmäßigkeit der Rechtstexte gerecht wird. Wie Dieter Horn (1966) in seiner kommunikationswissenschaftlichen Studie gehen die Vertreter der Rhetorischen Rechtstheorie davon aus, dass es sich bei der Rechtssprache um eine ⫺ lediglich fachsprachlich angereicherte ⫺ genuine, nicht-formalisierte Sprache handelt (Viehweg 1974, 84 ff.; Ballweg 1970, 57 ff.). Damit teilt die Rechtssprache unausweichlich die Primärfunktion der Umgangssprache: das Streben nach Verständigung in konkreten Situationen. Dies gelingt zunächst mit einer gestenähnlichen und imperativen, verhaltensauffordernden Sprachverwendung („Tabu!“) (Horn 1966; Rodingen 1972). Zur Verstetigung von Koordinationsleistungen legt sich über diese Grundkommunikation unter besonderen Kulturbedingungen ein aussageförmiger, deskriptiver Stil, der dauerhafte Begriffszuordnungen und schließlich situationsenthobene Nominalfügungen gestattet („Betreten verboten“). So erscheint die Welt als eine objektive Gegebenheit, die von Begriffen und Sätzen mit relativ invarianter Bedeutung repräsentiert wird (Horn 1966, 77; 97 ff.; Rodingen 1977, 45 ff.). Diese Sprechform verschafft Distanz, Konstanz, die Möglichkeit zur Generalisierung und lageunabhängigen Zuordnung (Rodingen 1977, 45 ff.; Seibert 1972, 48 ff.). Ohne die aktive, auf Verständigung gerichtete Funktion zu verdrängen, prägt sie vor allem die Oberfläche der okzidentalen Rechtssprache und vermittelt den Anschein eines bleibenden Systems existierender, seinslogisch geordneter Rechtsgegenstände (Rechtsontologie) (Schreckenberger 1978, 38 f.; 182; 320; 366; Neumann 1979, 51; Sobota 1990a, 126). Unterstützt wird dieser Eindruck durch die Anonymität der rhetorisch agierenden Institutionen und die Unbestimmtheit ihrer Adressaten (Schreckenberger 1978, 18). Viehweg (1974, 113) nennt den entsprechenden Denkstil „intellektuell bequem“: Ist ein Denkgefüge erst einmal von seiner pragmatischen Ausgangssituation befreit, kann man störungsfrei über dessen syntaktisch-semantischen Aufbau verfügen. Der Jurist entlastet sich von Folgenerwägungen und persönlicher Verantwortung, indem er sich auf die Rolle eines situationsexternen Textinterpreten reduziert. Der pragmatische Ansatz hingegen lenkt den Blick auf die einzelne Situation, in der Zeichen verwendet werden, und analysiert die Faktoren der Zeichenproduktion (Seibert 1981, 16). Er deckt den Handlungscharakter und die ⫺ durch die aussagenförmige Oberfläche verschleierte ⫺ direktive Funktion juristischer Sätze auf (Rodingen 1977, 33; 44; Seibert 1977). Auf diese Weise nimmt die Rechtsrhetorik eine sophistische Tradition auf und macht die Scheinbarkeit des Rechts zu einem Leitthema. So fragen Rodingen (1977, 21, 33), Seibert (1981) und Sobota (1990a, 13 ff.), wie Juristen den Anschein von Sachlichkeit erzeugen. Seibert zeichnet die etappenweisen Umformungen nach, die bei der Bearbeitung von Konflikten durch die versachlichende, insbesondere aktenmäßige Darstellung der verschiedenen Rechtseinrichtungen entstehen (Seibert 1981, 9 ff.). Sobota nimmt an, dass die „Herstellung“ von Welt generell durch eine abweichende, zeichenhafte „Darstellung der Herstellung“ begleitet wird. Dieses „Als Ob“ (Vaihinger 1924; Strauch 1923) formiere Identität (Sobota 1990a). Sie formuliert als Forschungsaufgabe, die Grundmuster der juristischen Darstellung nachzuzeichnen, da Fiktionen Auskunft über das fingie-
107. Rhetorik und Stilistik in der Rechtswissenschaft
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rende Handeln und damit auch über die Art und Weise der Rechtsgewinnung gäben. Wenn Juristen die Rechtsgewinnung als gesetzesabgeleitete, ontologische Rechtsfindung darstellen, könne man annehmen, dass eine akzeptable Textherstellung derart angelegt sein muss, dass für die Beteiligten der Eindruck einer ontologischen Deduktion entstehe. Die für diese Projektion geeignete Technik habe Aristoteles mit der Figur des Enthymems beschrieben. Der Sozialzwang, der nach einer anerkannten Darstellungsweise verlange (rhetorisches Ethos), bewirke diejenigen Bindungen, von denen die Rechtsphilosophie meine, sie seien Ausdruck der Geltung von rechtlichen Normen. Sobota weist schließlich darauf hin, dass im Recht neben dem ontologischen Darstellungsmodus noch andere, evolutionär frühere und spätere Präsentationsformen wirkten, die ebenfalls Rückwirkungen auf die rechtliche Herstellung hätten und deshalb bei der Entwicklung der Rechtskultur genauso sorgfältig zu erforschen seien (Sobota 1990a, 31 ff.). Der Austausch von Rechts- und Literaturwissenschaft, der die angloamerikanische Debatte zur Rechtsrhetorik geprägt hat (Hohmann 1998, 828), begann seit den achtziger Jahren auch die deutschsprachige Diskussion zu beeinflussen (Schneider 1987; Lüderssen 2002, 47 ff.; 2003).
6. Neuere, empirisch undierte Ergebnisse Neben der Grundlagendiskussion widmet sich die Rechtsrhetorik der Erforschung der rechtlichen Praxis. In der Art sprachorientierter Verhaltensforschung wird gefragt, wie es gelingt, durch Sprache und Sprechen Recht herzustellen (Ballweg 1972; Sobota 1990a). Unter Abkehr von den herkömmlichen idealen Methodenlehren versucht man, die Muster der juristischen Herstellung und Darstellung unter Rückgriff auf die klassische Rhetoriktheorie durch empirisch gestützte Theorien zu beschreiben (Sobota 1992a). Voraussetzung für diese Perspektive ist eine externe Beobachterposition, die nicht durch den juristischen Problembezug (Viehweg 1974, 97) und rechtsinterne Handlungszwänge (Ballweg 1970, 108 ff.) bestimmt wird. Ein Beispiel ist die Erste Hagener Studie zu Rhetorik und Rechtsmethodologie. Dabei handelt es sich um eine von der VW-Stiftung finanzierte Untersuchung, bei der 50 verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, die den unterschiedlichsten Gebieten des Verwaltungsrechts entstammten und der Studie von den Gerichten zur Verfügung gestellt wurden, nach rhetorischen Kriterien analysiert wurden. Dabei wurden 20 Entscheidungen einer vertieften Analyse unterzogen. Grundidee der Methode ist, eine rhetorische Textevaluation auf eine quantitative Grundlage zu stellen und dafür klassische rhetorische Kriterien zu nutzen. Die Studie ging von zwei rhetorischen Wirkkategorien aus, die nach Aristoteles mit den Begriffen Pathos und Logos bezeichnet wurden. Innerhalb dieser Kategorien wurden mit einem zurückgenommenen Anspruch auf Präzision, in Einsicht aller Eingrenzungsund Überschneidungsprobleme und ohne Rücksicht auf antike Terminologie oder barocke Klassifikationen zwei Textmerkmale erhoben: Rhetorische Figuren (Pathos) und argumentative Stützungen (Logos). Zur Kategorie Logos wurden auch alle Autoritätsverweise (z. B. „vgl. BVerfG 89, 291, 300) und Quellenangaben („NVwZ 93, 1222“) gezählt. Dies ist gut vertretbar, da derartige Refe-
1818 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Rhetorisches Mittel: Nonverbal
Verbal inhaltlich
Verbal formal
PATHOS
ETHOS
LOGOS
Stimme, Mimik, Haltung: alle Ausdrucksformen
Aussagen, die Sinne und Sozialgefühl ansprechen
Mathematik Ontologische Aussagen, Referenz an Logik
Rhetorische
Figuren und
Figuren (incl.
Argumente
Argumente
Tropen) Hier: Argumente (einfache Stützen und Enthymeme)
Abb. 107.1: Untersuchte Überzeugungsmittel
renzen immer auch eine implizite Argumentkette enthalten („Da jener das auch so sagt, und jener ein Großer ist, und bei Großen die Einsicht liegt, muss das richtig sein, …“).
6.1. Pathos: Rhetorische Figuren Die Studie verwendete zur Feststellung der Häufigkeit und Intensität der rhetorischen Figuren ein Verfahren, mit dessen Entwicklung vor fünfzehn Jahren in Mainz begonnen wurde (Sobota 1992a; ausführlich zur Methode: Schlieffen 2006). Das Figurenzählen ⫺ Feststellen des Figurenanteils (FA) ⫺ liefert die quantitative Basis für die abschließende qualitative, pragmatische Texteinschätzung. Es kann unterschiedliche Textabschnitte messen (Satz, Absatz, Gesamttext), aber auch dynamisch die Figurenverwendung im Textverlauf ermitteln („Rhetorisches Seismogramm“). Da alle Messresultate im Kontext gesehen werden müssen, sollen im Rahmen dieses Überblicks nur einige Ergebnisse in ihrer Tendenz erwähnt werden. Verwaltungsrichter setzen bei ihren Begründungen genau wie Verfassungsrichter nur in mäßiger Menge fortlaufend rhetorische Figuren ein. Der Durchschnittswert beträgt 50 FA, wobei auffällig ist, dass sie in jeder Begründung dieses Mittel pro Wortzahl in etwa demselben Verhältnis verwenden. Sie scheinen damit unbewusst einer kollektiv empfundenen Vorgabe zu folgen, die ihnen dieses Maß an stilistischem Pathos empfiehlt. Die Standardabweichung betrug für die 50 untersuchten Entscheidungen 15,8 bei einer Skala, deren Werte von FA 0 bis 1000 reichen. (Zwar sind nach dem Verfahren der Ermittlung des FA noch höhere Werte denkbar. Praktisch wird jedoch als Durchschnittswert für Texte, die Logosanteil besitzen (kann fehlen bei Poesie, bei Impressionen wie in der Werbung oder bei Gewaltersatz) nur eine Skala zwischen FA 0 und 300 in Anspruch genommen.) Die Berechnung des FA erfolgt nach der Grundformel: FA ⫽ AF/T : AW/T ⫻ 1000. Es bedeuten F ⫽ Figur, A ⫽ Anteil, T ⫽ Text, W ⫽ Wörter. Die Multiplikation mit 1000 erfolgt lediglich, um die Werte als ganze Zahlen ausdrücken zu können. Im zweiten Schritt werden
107. Rhetorik und Stilistik in der Rechtswissenschaft
1819
die rhetorischen Figuren nach ihrer Intensität gewichtet; weniger intensive zählen z. B. nur halb oder als ein Viertel und gehen entsprechend mit 0,5 oder 0,25 in die Berechnung ein.
Stellt man den Einsatz von rhetorischen Figuren im Textverlauf dar (Rhetorisches Seismogramm), entdeckt man bei den großen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eine bestimmte Linie: Nach einem längeren sanften Anstieg mit einigen wenigen Ausschlägen {a} steigert das Gericht seinen Figureneinsatz zu zwei Gipfeln, dem Twin-Peak {b}, um nach dieser Höhenpassage auf kurzer Strecke nüchtern zu schließen {c}. Dies bezieht sich auf den reinen Text der Entscheidungsgründe ohne Titel, Unterschrift, Rechtsmittelbelehrung; diese Textbestandteile sind in die Werte für das sog. Gesamturteil (mit Tatbestand, Rubrum usw.) eingegangen. Bei vielen Begründungen ließ sich die Abfolge {a,b, c} soweit bestimmen, dass man die Texte in Siebentel aufteilen konnte und jedenfalls für das erste und letzte Siebentel einen messbar niedrigen FA sowie für das fünfte und sechste Text-Siebentel einen deutlich höheren FA feststellen konnte. Von den 50 verwaltungsgerichtlichen Begründungen, die in der Hagener Studie untersucht wurden, entsprachen nur 14 dieser „idealen“ Form, davon die Hälfte auch nur phasenverschoben (z. B. Klimax weiter vorne). Die übrigen wiesen eine unstrukturierte Flackerform auf, was daran liegen mag, dass es sich, anders als bei den BVerfG-Texten, um sehr kurze Routineentscheidungen handelt, die möglicherweise ohne (unbewussten) rhetorischen Plan abgearbeitet wurden.
Viel Pathos, wenig Logos ⫺ und spiegelverkehrt: Zu den Entdeckungen der quantitativ gestützten Analysemethode zählt die Einsicht, dass es eine reziproke Korrespondenz zwischen dem FA und dem Argumentanteil gibt (Sobota 1992a, 235). An Textstellen, an denen der Redner viel argumentiert, verwendet er weniger rhetorische Figuren; wo er viele Figuren einsetzt, setzt er weniger Argumente ein. Diese Beobachtung wurde auch mit der neuesten Studie in den VG-Entscheidungen bestätigt (ausführlich: Schlieffen 2006). Wenn es wichtig wird, steigen die Figuren: Schließlich hat die Hagener Studie geholfen, eine Hypothese zu verdeutlichen, die den Figurenanteil und den Inhalt des Textes
Urteil 23 - Schliefanlage
Figuren - und Stützenanteil in ‰
Pathos/Logos - Entscheidungsgründe FA und Stützenanteil auf Satzbasis 250 200 150 100 50 0 45 47 49 51 53 55 57 59 61 63 65 67 69 71 73 75 77 79 81
Satznr. Pathos
Logos
Abb. 107.2: Rhetorisches Seismogramm mit fast prototypischer Spiegelbildlichkeit von Pathos und Logos
1820 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart verknüpft. Während zunächst pauschal angenommen wurde, dass juristische Relevanz zu einer Erhöhung des FA führt (Sobota 1992a, 235), verfestigt sich an Hand der neuen Daten nun die Einsicht, dass es primär die pragmatische Relevanz für das Gericht ist, die den höchsten Figureneinsatz bedingt. Für das BVerfG, aber auch viele VG, fällt diese oft mit der rechtsdogmatischen Relevanz zusammen (so noch Sobota 1992a; schon differenzierend Solbach 2003, 224), es muss aber nicht so sein. So kann es z. B. für das Gericht wichtiger sein, zur Vermeidung von Rechtsmitteln einem unterlegenen Kläger beschwichtigend entgegenzukommen, als eine Rechtsfrage darzulegen; die entsprechende Textpassage würde als „rechtlich unerheblich“ bewertet; ja sie stützt noch nicht einmal das Ergebnis.
6.2. Logos Nach der absolut herrschenden Vorstellung in der Rechtswissenschaft wird eine rechtliche Entscheidung logisch-deduktiv begründet: Der Jurist legt dar, dass sein Ergebnis der Anwendung einer Norm auf den gegebenen Fall entspricht. Soll ein Urteil begründet werden, muss es sich bei der Norm aus verfassungs-, insbesondere demokratieprinzipiellen Gründen um ein geltendes Gesetz handeln. So folgt die Begründung vorgeblich dem Schema des Syllogismus im Modus Barbara, einem Dreischritt aus Norm (Obersatz), sachverhaltlicher Konkretisierung (Untersatz) und Bestimmung der konkreten Rechtsfolge (Schlusssatz). Beispiel: Norm: Werden Polizeikräfte aufgrund einer Alarmierung durch eine Überfall- und Einbruchmeldeanlage eingesetzt (Tatbestand) ⫺ fällt eine Gebühr in Höhe von 170.00 g an (Rechtsfolge). Anwendung auf den Fall: In diesem Fall (Sachverhalt) ⫺ wurden Polizeikräfte aufgrund einer Alarmierung durch eine Überfall- und Einbruchmeldeanlage eingesetzt (Tatbestand ). Entscheidung/Subsumtion: In diesem Fall (Sachverhalt) ⫺ fällt eine Gebühr in Höhe von 170.00 g an (Rechtsfolge).
Tatsächlich hat noch kein Jurist je so geredet und sich kein Gericht eine derart redundante Passage erlaubt. Das Hagener Projekt konnte durch Dekonstruktion realer Begründungen (n ⫽ 20) nachweisen, dass die Praxis anders argumentiert. Beispiel: Das VG-Urteil „Fehlalarm“ bietet eine typische Begründung, die Juristen inhaltlich überzeugt und deren bürokratischer Duktus einschließlich der stilistischen Mängel Ausweis des heutigen Gerichtsbetriebs sind. Sachverhalt: Fast einen Tag nach Auslösen der Alarmanlage und Anruf des Nachbarn kommt die Polizei zum Haus des abwesenden Klägers und schließt auf einen Fehlalarm. Der Kläger, der für den Polizeieinsatz bezahlen soll, wendet sich gegen den Gebührenbescheid. Das Gericht weist die Klage ab und stellt fest: „Die angefochtene Verfügung … ist rechtmäßig“ (Satz 38). Weiter in Satz 41: „Rechtsgrundlage für die von dem Kläger geforderte Gebühr sind die §§ 1 Abs. 1, 2 des Gebührengesetzes … sowie Tarifstelle Nr. 18.4 des Allgemeinen Gebührentarifs (AGT) zur AVwGebO.“ Wird aus dieser Norm die Entscheidung logisch abgeleitet?
107. Rhetorik und Stilistik in der Rechtswissenschaft
1821
In dem vorliegenden Beispiel wird ohne Zweifel eine Norm genannt und, wie man sogleich lesen kann, nimmt das Gericht auch eine Subsumtion vor. Doch steckt die Lösung des eigentlichen Fallproblems charakteristischerweise nicht „in“ der Norm; sie kann deshalb auch nicht „aus“ ihr abgeleitet werden. Beispiel: 44
Gemäß dem 1. Halbsatz der Tarifstelle 18.4 AGT fällt bei dem Einsatz von Polizeikräften aufgrund einer Alarmierung durch eine Überfall- und Einbruchmeldeanlage die von dem Beklagten festgesetzte Gebühr in Höhe von 170.00 g an. 47 Nach dem eindeutigen Wortlaut des 1. Halbsatzes der Tarifstelle 18.4 AGT ist der Gebührentatbestand schon erfüllt, wenn der Alarm für den Polizeieinsatz kausal geworden ist. 48 Diese Kausalität ist gegeben, weil der von der Anlage abgegebene Alarm von einem Dritten wahrgenommen, der Polizei gemeldet und damit wesentliche Ursache des nachfolgenden Einsatzes geworden ist.
Die Norm wird offenbar an hervorragender Stelle herangezogen. Wichtig für das Ergebnis sind aber auch andere Aussagen. Beispiel: Der „eindeutige Wortlaut“ der Vorschrift; dieser scheint eher als die Norm selbst Ausgangspunkt der Subsumtion zu sein. Das Wort „kausal“ kommt im Normtext freilich nicht vor. Es steht aber wohl in engem Zusammenhang mit der konkreten Frage, die den Kläger bewogen hat, die Bezahlung der Gebühr zu verweigern. „Kausal“ ist die Brücke zwischen der Norm und dem Streit. Weitere tragende Aussagen stecken in Satz 48, einige davon nicht ausdrücklich, aber impliziert: Regeln und Hilfsregeln, die für den konkreten Fall klären, wann Kausalität vorliegt.
Deshalb wurde die Hypothese formuliert, dass sich juristische Begründungen nicht aus einer Norm ableiten, sondern eine Entscheidung durch eine Mehrzahl von Aussagen gestützt wird (so auch Toulmin 1974, 94 ff.). Bei den Stützen kann es sich um Allsätze handeln, aber auch um Einzelfallaussagen (Schlieffen 2005b, 423 f.). Die Allsätze können rechtsnormativ sein, aber auch alltäglichen Lebensregeln (Common Sense oder Nonsense) oder eristischen Prämissen entsprechen.
6.2.1. Einzelaussagen In diesem Sinne begann die Hagener Studie mit einer rein empirischen Bestandsaufnahme. Alle Sätze der Texte wurden tabellarisch in Einzelaussagen zerlegt (Maßstab: Potentielle Stützungsfähigkeit). Vermutete Implikationen notierten die Codierer ebenfalls; es gab Raum für Anmerkungen. Beispiel: Einzelaussagen in Satz 44: 44a Bei dem Einsatz von Polizeikräften aufgrund einer Alarmierung durch eine Überfall- und Einbruchmeldeanlage fällt eine Gebühr in Höhe von 170 g an. 44b Dies folgt aus dem 1. Halbsatz der Tarifstelle 18.4 AGT. 44c Diese Gebühr hat der Beklagte festgesetzt. 44d [Mitschwingende Implikation] Der Beklagte hat den Bescheid in Anwendung der Tarifstelle 18.4 AGT erlassen (⫽ vorschriftsmäßig).
1822 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart
6.2.2. Qualiikation der Einzelaussagen Die gewonnen Aussagen wurden in der Tabelle mit Blick auf verschiedene Vorfragen bewertet. Hier sei lediglich ein Thema angeschnitten: In welchem Umfang berufen sich die Gerichte bei ihren Entscheidungen auf Gesetze und auf andere juristische Sätze? Wie verwirklicht sich die richterliche Rechtsbindung in der Praxis? Betrachtet man hier nur diejenigen Aussagen in den Entscheidungsbegründungen, die stützen, erhält man ein konstantes Bild: Es überwiegen die rechtlichen Einzelaussagen, also Aussagen juristischen Inhalts für den Einzelfall ohne Regelcharakter (25 %). Ihnen folgen Aussagen, die als Dogmen bezeichnet wurden (24 %), die also gängige Regeln oder Rechtsmeinungen wiedergeben, die Eingang in die Juristische Lehre gefunden haben. Alltagsregeln, d. h. Erfahrungs- und Glaubenssätze lebensweltlicher Art, stellen 10 % der Aussagen; Tatsachenfeststellungen sind mit 11 % vertreten. Mit 11 % in der Summe stark erscheinen schließlich die Ethos-Stützen in Gestalt von Autoritäts- und Quellenverweisen. Quellenangaben, die auf Fundstellen verweisen, um andere Aussagen zu verifizieren, bestreiten 5 %, Autoritätsverweise noch einmal 6 %. Auf kodifizierte Normen stützen sich Gerichte selten (10 %). Noch seltener (4 %) sind Prämissen, die es lege artis gar nicht geben dürfte: Verallgemeinerungen juristischer Einzelmeinungen, hier „Generalisierte Einzelmeinungen“ genannt. Klassisch rhetorisch handelt es sich um eristische Aussagen, da sie vorgeben, Endoxa zu sein, während sie doch singulären Charakter haben. Der Anteil von etwa 4 % ist offenbar für jede Entscheidung unverzichtbar, um über Begründungslücken hinwegzukommen. Eine Sondergruppe sind die sog. Widerlegungsauftakte (1 %): alle Aussagen, die das begründete Abweichen von einer Gegenmeinung ankündigen. Sie passen in keine andere Kategorie, sind aber ebenfalls wichtige Stützen der juristischen Argumentation, z. B. „Die von dem Kläger geäußerte Vermutung steht diesem Ergebnis nicht entgegen, …“.
Stützung
%
Kodifikation
10
Dogma
24
Generalisierte Einzelmeinung
4
Alltagsregel
10
Rechtsaussage Einzelfall
25
Tatsachenfeststellung
11
Autoritätsverweis
6
Quellenangabe
5
Widerlegungsauftakt
1
Abb. 107.3: Häufigkeit eines Stützungstyps in einer Entscheidungsbegründung (Stichprobe n ⫽ 10)
107. Rhetorik und Stilistik in der Rechtswissenschaft
1823
In der Menge der ermittelten Stützen enthalten sind auch die implizierten Aussagen, also nicht geschriebene, aber ⫺ nach Wahrnehmung eines juristisch ausgebildeten Lesers ⫺ angedeutete, für den Begründungszusammenhang offenbar unerlässliche Stützen. Dabei wird deutlich, dass Gerichte Allsätze ⫺ im Gegensatz zu Einzelfallaussagen und Autoritätsverweisen ⫺ sehr häufig implizieren. Allein dieser hohe Anteil verschwiegener Prämissen dürfte für Laien das Verständnis richterlicher Begründungen erschweren. Eine Sonderstellung unter den implizierten Aussagen nehmen die so genannten Stützungsstützen ein. Sie stützen nicht Aussagen, sondern Stützungsbeziehungen. Stützungsstützen geben in manchen Fällen eine Regel an, nach welcher die stützende Aussage als plausible Stützung der Behauptung gilt. In diesem Fall enthalten sie einen Allsatz im Wenn-Dann-Schema, der oft seinerseits durch eine oder mehrere implizite Allaussagen („Backings“ nach Toulmin 1974, 103 ff.) gestützt wird. Häufig sind Stützungsstützen aber auch inhaltliche Leerstellen. Expliziert man sie nach dem Regelschema, erhält man Aussagen, die juristisch nicht plausibel sind. Eristische Stützungsstützen können jedoch in einem weiteren Schritt durchaus mit anderen plausiblen Aussagen (Backings) begründet werden. Insgesamt wirkt die Einordnung der Stützen nicht rechtswissenschaftlich, sondern wie das rechtskluge (jurisprudentielle) Orientieren am Üblichen und Hergebrachten (Dogma und Schriftautorität mit insgesamt 35 %) kombiniert mit flexiblem, Pro und Contra beleuchtendem Argumentieren aus der konkreten rechtlichen Situation und dem allgemeinen Leben (Einzelargumente, Alltag und Widerlegung 36 %). Die wissenschaftlichste Aura umgibt vielleicht noch das Quellenargument. In der heute üblichen Präsentation handelt es sich um eine relativ neue Form der Glaubhaftmachung. Es besagt: Diese Behauptung stimmt, weil dies „da und dort“ geschrieben steht. Eine Grundlage für diese Plausibilisierungstaktik dürfte der Mythos der frühen Verschriftlichungen bilden (z. B. Gesetzestafeln), aber auch der moderne Glaube an die Publikationskultur. Was davon in Urteilstexten noch jurisprudentiell, also rechtsklug, oder gar wissenschaftlich ist und was nur rituell absolviert wird, und damit allenfalls rational in dem Sinne erscheint, als es gezielt eingesetzt wird, um einem Bedürfnis der Adressaten zu entsprechen, kann freilich diskutiert werden.
6.2.3. Stützungsstruktur Besonders kompliziert gestaltete sich die Analyse der Begründungsbeziehungen zwischen den einzelnen Aussagen. Nach jahrelangem erfolglosen Bemühen, die logischen ⫺ oder besser: ätiologischen ⫺ Strukturen der Texte zu entziffern, entschloss sich das Projekt, auf entsprechende Vorverständnisse zu verzichten und sich von den Texten leiten zu lassen. Es wurde nur noch zur Kenntnis genommen ⫺ was explizit gesagt wurde, d. h. für alle Fachleute eindeutig war, ⫺ welche Aussagen damit offensichtlich impliziert werden sollten, d. h. welche für alle beteiligten Fachleute, z. T. nach Gesprächen, weitgehend selbstverständlicher Teil der Gedankenführung waren und ⫺ welche Aussagen einander stützen sollten.
1824 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Beispiel: Stützungen in Satz 44 (Urteil 34): 44 Gemäß dem 1. Halbsatz der Tarifstelle 18.4 AGT fällt bei dem Einsatz von Polizeikräften aufgrund einer Alarmierung durch eine Überfall- und Einbruchmeldeanlage die von dem Beklagten festgesetzte Gebühr in Höhe von 170.00 g an.
Abb. 107.4: Stützungen in Satz 44 des Urteils 34 So kann man für den Beispielsatz 44 lediglich festhalten, dass das Gericht die richtige Wiedergabe des Normtextes (44a) mit dem Verweis auf die Norm (44b) stützt. 44c dient dazu, noch einmal den Sachverhalt in den Blick zu bringen; argumentativ ist die Aussage beziehungslos. Sie wird auch nicht unter die Norm Tarifstelle 18.4 AGT subsumiert, aber es wird der Eindruck erweckt (angedeutet, impliziert), dass die Gebührenfestsetzung eine Anwendung der Vorschrift war (Implikation 44d). Diese Implikation wird im Text später expliziert, sie hat hier nur Verstärkerfunktion. Stützungszusammenhänge in Satz 47 und 48 (Urteil 34): 47 Nach dem eindeutigen Wortlaut des 1. Halbsatzes der Tarifstelle 18.4 AGT ist der Gebührentatbestand schon erfüllt, wenn der Alarm für den Polizeieinsatz kausal geworden ist. 48 Diese Kausalität ist gegeben, weil der von der Anlage abgegebene Alarm von einem Dritten wahrgenommen, der Polizei gemeldet und damit wesentliche Ursache des nachfolgenden Einsatzes geworden ist.
Die Beispiele zeigen exemplarisch, dass neben den Aussagen mit Gesetzesrang auch andere, zum nicht unerheblichen Teil auch außer-rechtliche Begründungen Plausibilität stiften. Keine dieser Stützen taugt als Obersatz eines Syllogismus, der eine wahre Aussage sein muss, damit auch das Ergebnis des Schlusses wahr sein kann. Dem gegenüber sind alle diese Stützen meinungsmäßig (Ballweg 1996). Keine genügt dem Anspruch auf Universalisierbarkeit und keine erhebt ihn (dies aber fordert Habermas 1973, 251). Nur manche haben überhaupt die Qualität von Endoxa, d. h. von generalisierenden Aussagen, die eine herrschende, respektierte Meinung wiedergeben (Aristoteles Topik I,1.), wie z. B. 47c, 47d und 44a. Wo immerhin Endoxa, aber auch andere Allaussagen vorkommen, wird die Argumentation nach traditioneller Diktion enthymematisch. Das Enthymem, der sog. rhetorische Schluss, erinnert an den Syllogismus.
107. Rhetorik und Stilistik in der Rechtswissenschaft
1825
Abb. 107.5: Stützungszusammenhänge in Satz 47 und 48 des Urteils 34
6.2.4. Das Enthymem Nach allgemeiner Auffassung sind Syllogismus und Enthymem formal identisch. Der Unterschied besteht darin, dass die Sätze des Enthymems meinungsmäßiger Art sind und nur teilweise ausgesprochen werden (Aristoteles Rhetorik I.2.13.⫺14.). Beispiel: Explizit: „Nach dem eindeutigen Wortlaut des 1. Halbsatzes der Tarifstelle 18.4 AGT ist der Gebührentatbestand schon erfüllt, wenn der Alarm …“ Implizit, also nicht ausdrücklich erwähnt wird in diesem Ausspruch: (Obersatz) „Was der eindeutige Wortlaut einer Vorschrift besagt, gilt“; (Untersatz) „1. Halbsatzes der Tarifstelle 18.4 AGT ist eine Vorschrift“. (Schlusssatz) „Was der eindeutige Wortlaut der Tarifstelle 18.4 AGT besagt, {ist}/gilt“.
Nachdem sich in der Rechtstheorie langsam die Unhaltbarkeit des syllogistischen Modells durchsetzt, scheint das Enthymem eine Stellvertreterrolle übernehmen zu sollen. Die Hagener Studie hat jedoch gezeigt, dass die praktische Funktion des Enthymems als dreigliedrige Argumentationsfigur begrenzt ist. Die Stützen in VG-Begründungen beruhen kaum zur Hälfte auf Allsätzen (Juristischen Dogmen, Alltagsregeln, kodifizierten Rechtsnormen). In diesen Fällen wird sich die Argumentation in Form dreigliedriger Enthymeme rekonstruieren lassen. Die andere Hälfte der Stützen sind jedoch Einzelfallaussagen. Sie wären nur dann Untersatz eines Enthymems, wenn sich eine implizierte
1826 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Stützungsregel identifizieren ließe. Die wäre bei Explikation aber häufig eine Leerstelle bzw. eine petitio principii oder eine eristische Prämisse. Jedenfalls handelt es sich gerade nicht um einen Satz, auf den der Verfasser ⫺ ohne ihn auszusprechen ⫺ anspielen möchte. Möglicherweise ist es, wenn nicht der Inhalt, so doch manchmal die Form, die er unbewusst implizieren will, da sie ihm den Anschluss zu weiteren Stützen (Backings) gestattet. Ob die Textverfasser und die Adressaten tatsächlich im engen Sinne enthymematisch denken, muss daher in Frage gestellt werden; als Analytiker gewinnt man den Eindruck, dass das Enthymem (vom Syllogismus ganz abgesehen) auf einer sehr komplexen Ordnungsebene liegt. Man kann dieses Niveau akademisch erschließen; ausgeschlossen scheint jedoch, dass dies der juristische Alltag leistet. Dort werden Argumente, jedenfalls im Routinebereich, als einfache Stütze (Ätiologie) registriert. Trotzdem werden alle am Projekt beteiligten Juristen aus eigener Anschauung bestätigen, dass bei juristischen Begründungen die Tendenz besteht, Entscheidungen letztlich mit einem Allsatz zu stützen ⫺ und damit ein schulmäßiges Enthymem zu verwenden ⫺, als mit einer Einzelfallaussage zu begründen, also eine nur zweigliedrige Konstruktion ohne implikative Erweiterungen zu verwenden. Dies hängt jedoch nicht zwangsläufig mit der bevorzugten Form des Enthymems, sondern mit der grundsätzlich hohen Plausibilität weitreichender Prämissen zusammen. Der Hang zur Verallgemeinerung wird besonders deutlich, wenn man sieht, dass Gerichte 4 % der einfachen Stützen ⫺ oft nur dem Fachpersonal erkennbar ⫺ zum Endoxon, der anerkannten Regel aufschönen (sog. Generalisierte Einzelmeinung).
6.2.5. Architektur der Begründung Stellt man sämtliche Behauptungen und Stützen einer Begründung grafisch in Form von Stützungsketten dar, zeigen alle untersuchten Urteile eine ähnliche Struktur. Der übliche Auftakt einer richterlichen Argumentation ist der schlanke Stützungsstamm: Es beginnt mit der Entscheidung, auf die, von oben nach unten, jede Behauptung mit einer Aussage begründet wird. So stellt sich der Jurist den Urteilsstil vor, und solange es sich um routinemäßig abgehandelte Prozess- und Rahmenfragen handelt, kann das Gericht dies auch durchhalten. Sodann, am Fuß des Stamms, folgt immer wenigstens ein Knotenpunkt, von dem aus sich Stränge seitwärts verzweigen. Grafisch entspricht diese Struktur einem Stammbaum, der über die ersten Generationen nur die Namen der Stammhalter mitteilt. Ein- oder zweimal, bevor das eigentliche Astwerk beginnt, taucht vielleicht auch schon auf dieser Höhe eine ganze Familie auf ⫺ selten findet man sogar einen richtigen abzweigenden Stützungszusammenhang ⫺ aber insgesamt weisen von allen Entscheidungen, die grafisch aufbereitet wurden, 80 % zu Beginn die durchlaufende Kette auf (bei Urteilen: mindestens fünf Glieder, bei Beschlüssen mindestens drei). Nach der Eingangspassage folgt der Verteiler, zumeist in Form eines gesetzlichen Tatbestands, von dem aus mehrere, für den Rechtsstreit problematische Fragen nacheinander erörtert werden. In diesem Moment verliert sich die vertikale Form der Reihe; die Darstellung, die jeder Aussage ein Feld einräumt, geht in die Breite. Stützende Aussagen werden nicht nur ihrerseits gestützt, sondern auch mehrfach, quer oder ⫺ entgegen dem Urteilsstil ⫺ „von oben“ gefolgert, also nicht gestützt, sondern aufgehängt. So ballen
107. Rhetorik und Stilistik in der Rechtswissenschaft
1827
Abb. 107.6: Schema der typischen Struktur einer gerichtlichen Entscheidungsbegründung
Abb. 107.7: Typische und atypische Proportionen von Argumentationsnestern in gerichtlichen Entscheidungsbegründungen
sich Argumente an einem Ort (griechisch Topos); in der Baumstruktur bilden sich abgrenzbare Nester. Nach dem bisherigen Eindruck baut ein kleines Urteil etwa vier bis sieben Problemzentren auf. Offenbar gilt die ,magische Zahl fünf (plus/minus zwei) auch für größere Begründungen, mit der Maßgabe, dass die Verfasser dann Untergliederungen anlegen. Ein typisches Nest enthält regelmäßig zwischen fünf und neun Sätze (Baufeldsche Zahl). Was diese Menge übersteigt, wird auch für ausgewiesene Fachleute intransparent.
6.2.6. Topische Struktur des juristischen Begründens Die stammbaumartige Begründungsarchitektur mit ihren geordneten Argumenthäufungen spricht gegen ein deduktiv-logisches Entscheiden und für eine rhetorisch-topische Arbeitsweise, wie sie Aristoteles beschrieben hat. Zwar gibt es einige Merkmale, die zunächst den Eindruck einer Normdeduktion erwecken. So werden an der Verteilerstelle, von der die großen Äste ausgehen, oftmals ⫺ ggf. nach einer prozessualen Vorfrage ⫺ zunächst eine gesetzliche Norm und einige Merkmale ihres Tatbestands genannt. Damit handelt es sich bei zwei oder drei der wesentlichen Nester auch typischerweise um Begründungen, die Tatsachen aus dem Sachverhalt auf diese gesetzlichen Merkmale beziehen (Subsumtionen). Meist folgt aber ⫺ argumentativ gleichrangig ⫺ ein weiterer außer-
1828 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart gesetzlicher Gesichtspunkt, der in einem oder zwei weiteren Nestern genauso ausgiebig gestützt wird wie die kodifizierten gesetzlichen Merkmale. Inhalt dieser zusätzlichen Argumentationsnester kann u. a. sein ⫺ die Prüfung von Punkten, welche die Lehre (also nicht der Gesetzgeber) vorgibt, z. B. sog. ungeschriebene Tatbestandsmerkmale oder Ausnahmetatbestände, ⫺ die Diskussion von Tatbestandsmerkmalen, die einzig nach dem Rechtsverständnis des Gerichts eine Rolle spielen, ⫺ die entscheidungsstützende Auseinandersetzung mit den Argumenten einer Partei, ⫺ die Auseinandersetzung mit dem Vortrag der unterlegenen Seite, um ihr ⫺ in offensichtlich rechtsbefriedender Intention ⫺ Referenz zu erweisen, ⫺ die abstrakte Diskussion bestimmter Rechtsfragen, die etwa für künftige Fälle oder die Verwaltungspraxis relevant werden könnten. 6.2.6.1. Damit ergibt sich die Gliederung der Begründung aus etwa fünf (plus/minus zwei) Punkten, die durch die Formulierung oder schlicht den Aufbau des Textes als Problemfelder gekennzeichnet werden. Beispiel: 1. Problemfeld: eine Fragwürdigkeit hinsichtlich der Zulässigkeit der Klage, 2.⫺4. Problemfeld: drei ausgewählte, vorliegend vom Gericht als kritisch angesehene Merkmale des gesetzlichen Tatbestands, 5. Problemfeld: Beschwichtigung der unterlegenen Seite.
6.2.6.2. Auch die Feinstruktur der Begründung entspricht nur manchmal der Vorstellung, es gälte einen Sachverhalt unter ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal zu subsumieren; sie folgt nur teilweise dem Aufbau des „einschlägigen Gesetzes“. Innerhalb der Problemfelder wird vielmehr, wenn im Ton auch sachlich bis moderat und inhaltlich überwiegend stringent, mit allen Mitteln der schriftlichen Rhetorik gearbeitet. Typischerweise suchen sich die Verfasser eine oder mehrere Prämissen, aus denen sich das Ergebnis, das sie stützen wollen, zumeist implizit ergibt. Bevorzugte Stützen sind natürlich Gesetze oder andere Vorschriften. Aber auch Lehrsätze, Rechtsprechung oder notfalls eigene Erfindungen können im richtigen Kontext ausreichende Dienste leisten. Damit bemüht sich das begründende Gericht, genau jene Methode anzuwenden, die Aristoteles (Topik I 1. 100a 18⫺21) so beschrieb: über jedes aufgestellte Problem aus einem wahrscheinlichen Satz einen Schluss zu bilden.
6.3. Kontinuum der rhetorischen Formen Solange eine Analyse von der Idee des Syllogismus ausgeht, wird sie nicht finden, was eine juristische Begründung plausibel macht. Auch das Enthymem, der sog. rhetorische Schluss, ist nicht die Antwort auf alle Fragen. Wie sich die Verfasserin entgegen früherer Auffassung eingestehen muss, ist der rhetorische Schluss ⫺ der Beweis, der das Resultat aus etwas (scheinbar) Allgemeinem (scheinbar) herleitet ⫺ eine zu hoch entwickelte Kategorie, um sich als generelles Analyseraster zu eignen. Das Enthymem ist zwar eine sehr eindringliche Taktik, weshalb Aristoteles (Rhetorik I. 1.11, auch 3) sagt: Es sei das „be-
107. Rhetorik und Stilistik in der Rechtswissenschaft
1829
deutendste Überzeugungsmittel“, „denn wir glauben da am meisten, wo wir annehmen, dass etwas bewiesen sei“ (Aristoteles, ebd.). Mit Aristoteles (Rhetorik I. 2.3) schätzen wir das Enthymem vor allem, weil es ein Mittel ist, das „aus der Sache selbst“ überzeugt: Es versachlicht. Zudem ist es dem Akademiker vertraut, weil es dem Syllogismus ähnelt und weil es diejenige rhetorische Form ist, die sich ⫺ abgesehen von Figuren wie der Antithese oder Ordinatio (Gliederung) ⫺ dem verstandesorientierten Diskurs am leichtesten erschließt. Der Wunsch nach Sachlichkeit und einer ausgewogenen, problemorientierten Debatte sowie die Wahrnehmungsraster der analysierenden Theoretiker haben freilich in der Rechtswissenschaft, und nicht nur dort, die Funktionen des Pathos vergessen lassen. Dabei nennt Aristoteles (Rhetorik I. 2.4) neben dem Beweis und scheinbaren Beweis, also Logos, gleichrangig Ethos und Pathos: die Überzeugung „durch den Charakter“ des Redners und die Überzeugung „durch die Zuhörer“, „wenn sie durch die Rede in Affekte versetzt werden“. Außerdem erwähnt er gleich zu Beginn seiner Rhetorik weitere Arten der Einflussnahme, mit denen er sich nicht beschäftigen will, auf die sich aber ,andere Theoretiker‘ vor ihm beschränkt hätten: gezielte Verwirrung der Gefühle, Erregung von Angst, Zorn oder Neid, Einsatz von Zeugen oder Folter (Aristoteles 1980 I. 1.3⫺5). Diese Mittel trügen nicht zur Bildung von abgewogenen „Überzeugungen“ vor Gericht oder in der Versammlung bei; sie emotionalisieren und manipulieren auf niederste Weise und passen nicht zu der Art von Rhetorik, deren Kunstlehre Aristoteles entwickeln will: eine Rhetorik, welche gerade die primitiven, rein affektorientierten Einwirkungen zugunsten eines sachlichen, gemeinsinnigen Stils überwinden will. Sie werden aber eingesetzt, haben die längere Verwendungsgeschichte und sollten, gerade auch um der Kultivierung der sachlichen Mittel willen, von der Analyse nicht ignoriert werden. So kann man vermuten, dass die sensuell wirkenden rhetorischen Figuren in enger, vielleicht untrennbarer Verbindung mit den rein affektiven Mitteln der Beeinflussung stehen, die keine rational nachvollziehbare Überzeugung, sondern lediglich eine emotionsbasierte Einstellung schaffen.
Abb. 107.8: Logos ⫺ Ethos ⫺ Pathos. Das Kontinuum rhetorischer Wirkmittel
1830 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Irgendwo da, wo Aristoteles die Grenze zwischen einfacher Affektstimulation und einer kunstgerechten Rhetorik sieht, liegen vermutlich die Ursprünge ihrer einfachsten Muster. Zunächst dominiert das Nonverbale, dann kommt die immer stärkere Spur des Verbalen hinzu. Entwicklungsgeschichtlich werden die nonverbalen Muster den Urgrund der rhetorischen Formen bilden; ihre Wurzeln reichen zurück in unvordenkliche, wenn nicht prähumane Zeit. Auf dieser Grundlage ruhen die ersten verbalen Muster; Wiederholungen, Rhythmus und bestimmte Lautfolgen verbinden das Wort mit der alten akustischen und motorischen (Gruppen-)Koordinierung. Sobald die Sprache ein eigenes Universum darstellt, lösen sich die verbalen rhetorischen Formen von der nonverbalen Basis und entfalten sich zu dem unendlichen Reich der uns bekannten rhetorischen Figuren. Mit diesem Hintergrund bilden sie die Matrix der juristischen Rhetorik, auf deren Grundlage, also einem ästhetischen, und nicht logischen Muster, entschieden und argumentiert wird.
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1831
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108. Rhetorik und Stilistik in der Soziologie
1833
Viehweg, Theodor (1995a): Modelle juristischer Argumentation in der Neuzeit. In: Theodor Viehweg: Rechtsphilosophie und Rhetorische Rechtstheorie. Gesammelte kleine Schriften. Hrsg. von Heino Garrn. Baden-Baden, 127⫺136. Viehweg, Theodor (1995b): Rechtsphilosophie als Grundlagenforschung. In: Theodor Viehweg: Rechtsphilosophie und Rhetorische Rechtstheorie. Gesammelte kleine Schriften. Hrsg. von Heino Garrn. Baden-Baden, 45⫺60. Viehweg, Theodor (1995c): Ideologie und Rechtsdogmatik. In: Theodor Viehweg: Rechtsphilosophie und Rhetorische Rechtstheorie. Gesammelte kleine Schriften. Hrsg. von Heino Garrn. Baden-Baden, 86⫺96. White, James Boyd (1985): Heracles’ Bow. Essays on the Rhetoric and Poetics of the Law. Madison, Wis. Wolff, Christian (1754): Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, worin alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden. Halle. (Neudr. Königstein 1980)
Katharina Gräfin von Schlieffen, Hagen (Deutschland)
108. Rhetorik und Stilistik in der Soziologie 1. 2. 3. 4. 5.
Einleitung Rhetorik Stil und Stilisierung Schluss Literatur (in Auswahl)
Abstract The article sketches first the role rhetoric played and plays within sociology. Having been neglected for a long time in this discipline, it gained, due to the constructivist turn since the 1960s, territory and is now being applied to science itself. “Style” always played a prominent role in sociology ⫺ putting aside the sociology of arts ⫺ only in combination with other categories. In the sociology of knowledge, the category “thought style” or “cognitive style” denotes socially patterned ways of thinking. The notion “life-style” even conquered the public debate, indicating socially significant differences in the ways of living. And finally, style is an important category in the sociology of language and sociolinguistics, referring to differences of language with respect to different social categories.
1. Einleitung Weder Rhetorik noch Stilistik zählen zu den Grundbegriffen der Soziologie. Hingegen kommt dem Begriff des Stils in dieser Disziplin durchaus eine Bedeutung zu, wenn auch zumeist nur in Kombination mit anderen Begriffen. Nach einer kurzen Skizze des Ver-
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1833
Viehweg, Theodor (1995a): Modelle juristischer Argumentation in der Neuzeit. In: Theodor Viehweg: Rechtsphilosophie und Rhetorische Rechtstheorie. Gesammelte kleine Schriften. Hrsg. von Heino Garrn. Baden-Baden, 127⫺136. Viehweg, Theodor (1995b): Rechtsphilosophie als Grundlagenforschung. In: Theodor Viehweg: Rechtsphilosophie und Rhetorische Rechtstheorie. Gesammelte kleine Schriften. Hrsg. von Heino Garrn. Baden-Baden, 45⫺60. Viehweg, Theodor (1995c): Ideologie und Rechtsdogmatik. In: Theodor Viehweg: Rechtsphilosophie und Rhetorische Rechtstheorie. Gesammelte kleine Schriften. Hrsg. von Heino Garrn. Baden-Baden, 86⫺96. White, James Boyd (1985): Heracles’ Bow. Essays on the Rhetoric and Poetics of the Law. Madison, Wis. Wolff, Christian (1754): Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, worin alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden. Halle. (Neudr. Königstein 1980)
Katharina Gräfin von Schlieffen, Hagen (Deutschland)
108. Rhetorik und Stilistik in der Soziologie 1. 2. 3. 4. 5.
Einleitung Rhetorik Stil und Stilisierung Schluss Literatur (in Auswahl)
Abstract The article sketches first the role rhetoric played and plays within sociology. Having been neglected for a long time in this discipline, it gained, due to the constructivist turn since the 1960s, territory and is now being applied to science itself. “Style” always played a prominent role in sociology ⫺ putting aside the sociology of arts ⫺ only in combination with other categories. In the sociology of knowledge, the category “thought style” or “cognitive style” denotes socially patterned ways of thinking. The notion “life-style” even conquered the public debate, indicating socially significant differences in the ways of living. And finally, style is an important category in the sociology of language and sociolinguistics, referring to differences of language with respect to different social categories.
1. Einleitung Weder Rhetorik noch Stilistik zählen zu den Grundbegriffen der Soziologie. Hingegen kommt dem Begriff des Stils in dieser Disziplin durchaus eine Bedeutung zu, wenn auch zumeist nur in Kombination mit anderen Begriffen. Nach einer kurzen Skizze des Ver-
1834 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart hältnisses der Soziologie zur Rhetorik wollen wir uns einigen zentralen Aspekten des Stilbegriffes in der Soziologie zuwenden. (Für eine ausführlichere Darstellung des Verhältnisses von Rhetorik und Soziologie vgl. Knoblauch/Reichertz 2005).
2. Rhetorik Der Begriff der Rhetorik spielt in der Geschichte der Soziologie eine untergeordnete Rolle. Wo er auftritt, wird er in der Regel mit der aufklärerischen Intention der Zuschreibung „strategischer Kommunikation“ verwendet. Als rhetorisch galt, was die eigentlichen Absichten verdeckt oder was „unlogisch“ ist. Erst durch den Einfluss des Sozialkonstruktivismus wird zunehmend auch Rhetorik konstruktivistisch verstanden. So definiert Wolff (1976, 77) Rhetorik als „jede systematisch, d. h. nach rekonstruierbaren Regeln für sich vollziehende Interpretation von Erfahrung, wobei das immer implizierte Überziehen von Sicherheit grundsätzlich nicht-intentional erfolgt, da die Struktur solcher Erfahrungen im Erfahrungsprozess selber immer nur partiell problematisiert werden kann“. Erst in den 90er Jahren ist ausdrücklich auch von rhetorischen Analysen in der Soziologie die Rede: Die soziologische Diskurstheorie sieht die Welt sogar ganz von der Macht der Diskurse beherrscht und somit von Diskursen erzeugt. Sie nimmt an, dass die Etablierung von Tatsachen vor allem durch ihre diskursiven Beschreibungen geschieht, die im Wesentlichen als rhetorisch verstanden werden können. Die Gleichsetzung von Diskursen mit dem Rhetorischen wird vor allem in den Cultural Studies zur Regel. Der Begriff des Rhetorischen erfährt damit eine Verschiebung, indem er nun schöpferische, weltschaffende Aspekte miteinschließt. Im Zuge dieser wachsenden Akzeptanz der Rhetorik in der Soziologie entsteht seit den späten 70er Jahren eine wissenschaftskritische Argumentationslinie, die die rhetorischen Aspekte der Soziologie selbst zum Gegenstand macht: Die Rhetorik der Soziologie. Richtungsweisend war hier Brown (1983), der die positivistische Soziologie aus poststrukturalistischer Perspektive in eine „humanistische Rhetorik“ überführt. In einer weniger poststrukturalistischen Weise wird diese „Rhetorik der Soziologie“ von Edmondson (1984) vorgeführt. Indem sie Rhetorik als Instrument versteht, Plausibilität zu schaffen, untersucht sie die argumentativen Strategien der Erzeugung soziologischer Wahrheiten. Parallel dazu hat sich auch in der soziologischen Wissenschaftsforschung eine rhetorische Wende eingestellt, die wissenschaftliche Ergebnisse als unbeabsichtigte Resultate kommunikativer Verfahren ansieht, die eher sozialen als logischen Regeln folgen. Bazerman (1988) hat gezeigt, wie viel man gewinnt, wenn man wissenschaftliche Texte als literarische Gattungen betrachtet, die nicht nur beschreiben, sondern auch überzeugen wollen und dafür rhetorische Stilmittel einsetzen. Heintz (1996) ergänzt deswegen die Vorstellung, dass Wissenschaft in einem „context of discovery“ und einem „context of validation“ stattfände, um einen rhetorischen „context of persuasion“. Vor diesem Hintergrund wird die Rhetorik zu einer zentralen Betrachtungsweise in der Analyse der Wissenschaft (Campbell 1996).
3. Stil und Stilisierung Während der Begriff der Rhetorik in der Allgemeinen Soziologie kaum Fuß fassen konnte, gewinnt Stil zunächst mit Blick auf die Kunst eine gewisse Bedeutung. Für Sim-
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mel (1908) etwa besteht das Wesen des Stils darin, dass die Besonderheit des Kunstwerkes verneint und einem allgemeinen Formgesetz unterworfen werde. Besonders für die individualisierten Menschen der Moderne nimmt Stil deswegen eine besondere soziale Bedeutung an, weil er eine Verhüllung und damit auch Entlastung des Persönlichen bewirke. In einem stärker materialistischen Verständnis wird Stil dagegen von Elias (1935) gefasst. Er erklärt z. B. die Ausbreitung des Kitschstils durch die Ausbreitung des Kapitalismus in der bürgerlichen Gesellschaft. Kitschstil entstehe dann, wenn die Laien, die Geld haben, den Kunstgeschmack bestimmen und die Künstler, Händler oder Verleger anbieten müssen, was die reichen Laien verlangen. Dass Stile mit den Strukturen sozialer Ungleichheit (Klassen, Schichten etc.) variieren, ist eine durchgängige Erkenntnis der Kunstsoziologie und ⫺anthropologie. Ausgehend von der Annahme, man könne Stile und Sozialstrukturen korrelieren, wird etwa behauptet, dass einfache hierarchische Gesellschaften zu asymmetrischen visuellen Mustern neigen, während einfache egalitäre Gesellschaften Bildelemente in eine symmetrische Ordnung bringen (Fischer 1961). Gegen eine solche Auffassung, die ein homologes Verhältnis zwischen Kunststilen und Sozialstruktur behauptet, betont Kavolis (1979), dass es weniger die sozialstrukturelle Lage selbst ist, die den Stil bestimmt, sondern vielmehr die Selbsteinordnung in die Sozialstruktur (ob man sich ⫺ unabhängig von etwa ökonomischen Faktoren ⫺ subjektiv etwa der Mittelschicht zugehörig fühlt oder nicht). Die sich daraus ergebende interpretative Offenheit wird in der jüngeren Kultursoziologie in den Vordergrund gerückt, auf die wir unten eingehen werden.
3.1. Denkstil Während der Stilbegriff in der Kunstsoziologie noch bis Luhmann (1986) auf das Verhältnis von Kunst und Gesellschaftsstrukturen beschränkt bleibt, entwickelt Mannheim (1984) eine wissenssoziologische Vorstellung des Begriffes als Denkstil. In Anlehnung an kunsthistorische Untersuchungen strebte er eine Stilanalyse des Denkens und damit aller Kulturgebilde an, in denen er soziohistorische Deutungszusammenhänge rekonstruiert (Barboza 2005). Mit Denkstil bezeichnet er Eigenheiten von Denkrichtungen, die weniger in der Theorie als in den hinter Theorien wirkenden Weltanschauungen begründet sind, die ihre Prägung durch „seinsmäßige“ soziale Unterschiede erhalten. So entwickeln nach Mannheims Auffassung Minderheitsgruppen, wie zum Beispiel die Juden, häufig ein abstrakteres und reflexiveres Denken als die Mehrheitskultur. Denkstile sind für ihn „jene Hauptströmungen im denkerischen Kosmos […], die jeweils vorhanden, historisch abwandelbar gegeneinander oder aufeinander hinzu sich bewegen und von Fall zu Fall sich partiell oder ganz verbinden“ (Mannheim 1984, 227). Die Analyse von Denkstilen zielt darauf, einen geistigen Habitus offen zu legen. Mannheim entwickelt dazu eine Methode, die eine Bedeutungsanalyse, die Herausstellung von Begriffen für das Andere des jeweiligen Denkstils, die Rekonstruktion der Kategorialapparatur, die Identifikation der dominierenden Denkmodelle, der Stufe der Abstraktion und der vorausgesetzten Ontologie umfasst. Der Begriff des Denkstils findet sich in der zunächst wenig beachteten wissenschaftssoziologischen Arbeit von Fleck (1980), der damit die von Denkkollektiven geprägten Denkweisen wissenschaftlicher Gemeinschaften bezeichnet. Für Fleck beschreibt Denk-
1836 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart stil einen bestimmten Wissensstand, der entscheidenden Einfluss auf das Erkennen hat. Er lässt sich durch Ergänzungen, Erweiterungen und Umwandlungen verändern. Diese Veränderungen des wissenschaftlichen Denkens sind aber, wie gesagt, von sozialen Faktoren beeinflusst, genauer: von einem Denkkollektiv, das aus jenen Menschen gebildet wird, die durch Gedankenaustausch in einer Wechselwirkung stehen. Denkkollektive sind die Träger des Denkgebietes. Sie prägen den Denkstil entscheidend: Beeinflusst wird das Denken zum einen durch das Gewicht der Erziehung, also durch das erlernte Wissen, zum anderen durch die Last der Tradition, d. h. dass nämlich neu Erkanntes von bisher Erkanntem vorgeprägt ist, und schließlich durch die Wirkung der Reihenfolge des Erkennens, also den Einfluss der begrifflichen Ordnung. „Erkennen als soziale Tätigkeit ist daher an die sozialen Voraussetzungen der sie ausführenden Individuen gebunden. Jedes ,Wissen‘ bildet folglich seinen eigenen ,Gedankenstil‘ aus, mit dem es Probleme begreift und auf seine Zwecke ausrichtet“ (Schäfer/Schnelle 1980, XXII). Die Vorstellungen von Fleck wurden vom amerikanischen Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn aufgenommen. Kuhn, dessen Arbeit eine ungleich größere Wirkung als die Flecks entfaltete, verband dessen Konzepte des Denkkollektivs und des Denkstils in seinem Begriff des Paradigmas. Paradigma bedeutet herkömmlich ein anerkanntes Schulbeispiel oder Schema. Kuhn versteht darunter „allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefern“ (Kuhn 1967, 10), die den Präzedenzfällen im Rechtswesen entsprechen. Erst durch Kuhns Arbeiten zur Abhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis von Denkstilen und ihrer revolutionären Veränderlichkeit gewinnt diese Vorstellung große Popularität, wenn auch unter dem neuen Begriff des „Paradigmas“. In jüngerer Zeit finden auch die Anglizismen „epistemic“ bzw. „cognitive“ oder „intellectual style“ Verwendung. Sie weiten den Denkstil über die Wissenschaft hinaus auf ganze Subkulturen und Kulturen aus.
3.2. Lebensstil In der allgemeinen Soziologie wird der expressive Stil insbesondere gegen instrumentell und rationalistisch vereinseitigte Konzepte sozialen Handelns ins Feld geführt. Schon Georg Simmel, einer der Gründerväter der Soziologie, schrieb dem Stil eine zentrale Funktion für die moderne Gesellschaft zu: Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die mit ihr verbundene Individualisierung würden zur Isolation und Anomie geraten, entwickelte sich nicht eine moderne Stilisierung des Lebens, die eine Verbindung zwischen der subjektiven Kultur und der objektiven Kultur bildet. Mit Stil bezeichnet Simmel (1993) Formen des Benehmens, Feinheiten des Geschmacks und andere Formen der Aneignung von Objekten und Formen der „objektiven Kultur“, die dadurch zur subjektiven Kultur wird. Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieses Begriffs wird etwas später von Geiger (1987/1935, 130) herausgehoben, der in der Sozialstrukturanalyse in den 1930er Jahren verschiedene „typische Lebenshaltungsstile“ identifizierte. Solche Lebenshaltungsstile machte er an der Verbindung von Mentalitätszügen mit komplexen Typen des sozialen Handelns und Rollenmustern sowie zu ökonomischen Merkmalen fest. Auf die Bedeutung der ökonomischen Merkmale hatte zuvor schon Veblen (1986) hingewiesen, der den Prestigewert des Stils hervorhob: In modernen Gesellschaften, in denen Ansehen
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durch Verdienst erworben wird, übernimmt der Konsum die Funktion, das unterschiedliche Ansehen anzuzeigen. Die Semantik des „Lebensstils“ ist zweifellos sehr entscheidend davon beeinflusst worden, dass auch der Webersche Begriff der „Lebensführung“ als „life-style“ ins Englische übersetzt wurde und später (unübersetzt) wieder ins Deutsche zurückkehrte. Unter Lebensführung verstand Weber die zunächst religiös motivierte ethische Ausrichtung der alltäglichen Handlungspraxis. Dadurch erhält der Begriff des Lebensstils neben dem von Simmel betonten ästhetisierenden auch einen stark ethischen Aspekt, der etwa in der Definition Richters (2005, 113) zum Ausdruck kommt: „Lebensstile sind ein Konglomerat aus Werthaltungen, die man im Laufe der Sozialisation mitbekommen hat, und Verhaltensgewohnheiten bzw. Ideen, die man in den täglichen Kontakten überprüft, bestätigt findet und verfestigt“. Der Lebensstil trägt dadurch stark zur sozialen Distinktion bei: Zum einen zeigt er Zugehörigkeit an, zum zweiten grenzt er zu anderen Lebensführungsweisen ab, und schließlich dient er zur Schließung sozialer Beziehungen. Dies gilt nicht nur für die vorherrschenden, sondern auch für oppositionelle Stile. Wie etwa Hebdige (1990) zeigt, dient der Stil unterschiedlicher Subkulturen als ein kulturelles Zeichen zur Markierung von Opposition und Differenz ⫺ und damit wiederum von sozialer Ordnung. Auf der Grundlage subkultureller Stile wird innerhalb der Cultural Studies auch der Begriff des Kulturstils verwendet, der sich auch hier vor allem auf die Besonderheiten von Zeichen und ihrer praktischen „Aneignung“ bezieht. Zum Kulturstil zählen in diesem Sinn etwa Fernsehprogramme und die Art, wie sich die Zuschauer zu ihnen verhalten. Strukturell werden Lebensstile durch kulturelle Attribute und Distinktion charakterisiert. Eine besondere Bedeutung gewinnt der Begriff in der jüngeren soziologischen Debatte, indem er dazu beiträgt, herkömmlich vertikale Modelle der sozialen Ungleichheit aus ihrer hierarchischen Anordnung zu lösen und auszuweiten. So verknüpft etwa Bourdieu (1984) den Begriff des Stiles mit dem Habitus, der gleichsam ein in den Körper eingeschriebenes Programm darstellt, das dafür sorgt, dass die Handlungs-, Wissens- und Geschmackspräferenzen verschiedener sozialer Klassen sich voneinander unterscheiden bzw. einander ähneln. Lebensstile sind dann wahrgenommene und klassifizierte Erscheinungsformen des Habitus. Die verschiedenen Begriffe des Lebensstils bilden die Grundlage für eine ausgebaute empirische Forschung, die einen großen Einfluss in der Marketing- und Konsumforschung gewonnen hat. Der Begriff des Lebensstils kann damit ein fruchtbares Instrument zur Analyse des Publikumsgeschmacks werden.
3.3. Stilistik und Sprachsoziologie Innerhalb der Sprachsoziologie und Soziolinguistik gelten stilistische Variationen als ein Bindeglied zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft. In seinem allgemeinsten Gebrauch bezeichnet Stil jede Wahl der sprechenden Person aus mehreren alternativ verfügbaren sprachlichen Ausdrucksmitteln ⫺ von der Wahl grammatischer und lexikalischer Varianten bis zur Wahl einer Sprache, eines Dialekts oder Registers. In der vorherrschenden Lehre stellt der Stil sogar eine Art Widerspiegelung der gesellschaftlichen Ordnung dar: Am sozial prestigereicheren Ende finden wir formales, gewähltes Sprechen, am stigmatisierten Pol dagegen beiläufiges und unkontrolliertes Reden. Folgt man den Vorstellungen von Labov (1972), dann können einzelne Personen den Stil ihres Sprechens
1838 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart und Schreibens ändern („intraspeaker variation“). Natürlich folgen auch verschiedene Personen unterschiedlichen Stilen („interspeaker variation“). Diese Variation ist, wie Labov meint, von der Struktur der sozialen Ungleichheit abhängig: Der als angesehen bewertete Stil findet sich in den oberen, der gering bewertete Stil in den niederen sozialen Schichten. Stilunterschiede könnten anhand der Aufmerksamkeit festgemacht werden, die der Sprache geschenkt wird: Die gängigste Form der Umgangssprache erfordert auch die geringste Aufmerksamkeit. Stile markieren damit soziale Unterschiede, nicht aber Unterschiede der Sinngehalte. Daran ist schon erkennbar, dass die Variation eines der wesentlichen Kennzeichen des Stils darstellt. Allerdings gilt die Annahme, dass Stil eindeutig mit der sozialen Gruppenzugehörigkeit variiert, keineswegs mehr als unumstritten. Die „Berliner Schnauze“ etwa kann zwar als eine Ausprägung eines urbanen Sprechstils angesehen werden (Levinson 1988); aber soziale Gruppenzugehörigkeit und Sprachstil können auch auseinander fallen. Labov schlägt deswegen vor, zwischen Markierungen mit sozial emblematischer Bedeutung und Stilvariationen zu unterscheiden. Allerdings wird gegen ihn nicht nur zunehmend vorgebracht, dass es sinnvoll sei, zwischen Stil und Register zu unterscheiden, wobei Register die Sprechweisen in verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen (Ökonomie, Wissenschaft, Privatleben etc.) bezeichnen. Überdies wird zu bedenken gegeben, dass der Stil auch mit unterschiedlichen Situationstypen und der Praxis des Sprechens und Schreibens variieren kann. So unterscheidet Bell (1984) zwischen einem initiativem und einem responsivem Stil. Der initiative Stil trägt dazu bei, die Situation selbst zu definieren, in der gesprochen wird. Dazu wird auf den Gedanken Goffmans (2005) zurückgegriffen, dass Situationen ihre soziale Bedeutung erst durch gewisse Rahmungen erhalten. Diese Rahmungen können sprachlich (aber auch gestisch-zeichenhaft) vorgenommen werden. Die Bedeutung einer sprachlichen Interaktion wie auch die Identität der daran Beteiligten wird erst im Verlauf der Interaktion selbst konstruiert, während der responsive Stil eine Situation als gegeben annimmt und der Stil entsprechend angemessen ausfällt. In ähnlicher Weise ist der Stil durch die Situation bewertet, in der er Verwendung findet. So werden zum Beispiel bestimmte syntaktische Formen deswegen als stigmatisiert gelten, weil sie in sehr familiären Situationen Verwendung finden. Die Funktion der Situation, in der eine bestimmte Sprache verwendet wird, bestimmt demnach ihre Einschätzung und Bewertung. Zur Bestimmung der jeweiligen Funktion des Stils schlagen Biber und Finegan (1994) vor, verschiedene Arten von Registern zu unterscheiden: Das informelle Register ist in ihren Augen sehr stark von der Prosodie und dem Kontext abhängig und baut entsprechend auf implizite Bedeutungen (Parataxe, Ellipse, Allusionen). Formelle Register sind expliziter und entkontextualisiert; sie beruhen auf einer gegliederten Syntax. Die sozialen Unterschiede zwischen diesen Registern sind weniger vom sozialen Status der Sprecher abhängig als von ihrer Nähe zur und Vertrautheit mit der Schriftkultur. Da Stile mit sozialen Kategorien variieren, ist es sinnvoll, verschiedene Ebenen der Variation sozialer Kontexte zu unterscheiden. Deswegen schlägt Hymes (1979, 176 ff.) vor, Sprechstile, die an soziale Gruppen gebunden sind, als Varietäten zu bezeichnen. Register dagegen behält er Sprechstilen vor, die an Personen, Situationen oder Genres gebunden sind. In diesem Fall spricht er auch von personalen, situativen und Genrestilen. Sofern sich der Stil auf verschiedene Kommunikationsmodi bezieht ⫺ also etwa Singen, Sprechen, Schreiben, Druck etc. ⫺, kann man von stilistischen Modi sprechen.
108. Rhetorik und Stilistik in der Soziologie
1839
Stilistische Strukturen dagegen bezeichnen Elementar- oder Minimalgenres, die konventionell organisiert sind. Wie etwa Begrüßungen und Abschiedfloskeln, Rätsel, Sprichwörter oder kleine Versformen weisen sie alle einen Anfang und einen Schluss sowie andere rekurrente Merkmale auf. Die Bedeutung der Sprechstile wird wesentlich von den sozialen Kontexten geprägt, in denen sie realisiert werden (Hymes plädiert schon früh für den Begriff der „Performance“), also von den Unterschieden der Teilnehmer, vom Schauplatz, von den kommunikativen Medien, von sprachlichen Normen usw. Diese Kontexte bilden den Gegenstand einer eigenständigen Forschungsrichtung, der Ethnographie des Sprechens (Hymes 1979). Ein auf die Rolle des Publikums zugeschnittenes Konzept des Stils hat Bell (1984) vorgeschlagen. An Radiosprechern, die in verschiedenen Sendern für verschiedene Publika die Nachrichten verlasen, beobachtete er stilistische Unterschiede. Diese Unterschiede führte er auf den jeweiligen Publikumszuschnitt („audience design“) zurück. Der Stil reflektiert also gleichsam soziale Unterschiede. Allerdings schneiden Sprecher ihre Äußerungen nicht direkt aufs Publikum zu, sondern lassen sich von ihrem Vorwissen des Publikums leiten. Zwar ist das Thema von einer gewissen Bedeutung, doch spielt es eine viel wichtigere Rolle, wie unmittelbar das Publikum adressiert werden kann, ob es beispielsweise Rückkanäle für Publikumsreaktionen, Äußerungen des Publikums oder verschiedene Kategorien des Publikums gibt. In diesem Sinne ist der Stil nicht nur eine sozial-situative Varietät des Sprachlichen, die durch bestimmte Gattungen, lexikalische Wahlen oder prosodische Elemente bestimmt werden kann; Stil ist vielmehr ein zentrales Rahmungselement, um soziale Situationen zu definieren. Stil variiert nicht nur mit sozialen Kontexten, sondern weist eigenständige sprachliche Merkmale auf. Allerdings gibt es bei der linguistischen Bestimmung des Stils große Differenzen. Denn die Merkmale, die variieren können, unterscheiden sich von Sprache zu Sprache. So betreffen Stilunterschiede im Javenesischen zum Beispiel beinahe alle linguistischen Elemente, während sie sich in anderen Sprachen auf lexikalische Wahlen oder prosodische Merkmale beschränken können (Errington 1988). Während die fachlinguistische Bestimmung sehr schwer fällt, können Sprecher im Alltag unterschiedliche ethnolinguistische Stile verhältnismäßig zuverlässig unterscheiden. Die Differenz zwischen „Schmeiss den Dreck in den Mülleimer“ oder „Wir möchten Sie höflichst bitten, für anfallende Abfälle die dafür vorgesehenen Entsorgungsbehältnisse zu benutzen“ macht sehr deutlich, wie leicht es fällt, Stilunterschiede einzuschätzen. Während die Unterschiede zwischen Stilmerkmalen aus linguistischer Sicht in der Regel graduell sind, fallen die alltäglichen Einschätzungen meist kategorisch aus. An diesen kategorischen Unterscheidungen machen sich auch die Stileinteilungen fest, wie sie in der Ratgeber-Literatur zu finden sind: Stilunterscheidungen sind etwa „formal“, „standard“, „familiär“ und „populär“ oder (durchaus auch in deutschen Ratgebern in Englisch:) „frozen style“, „formal“, „consultative“, „casual“ und „intimate“.
4. Schluss Wie schon eingangs erwähnt, bleiben die verschiedenen Begriffe des Stils weitgehend unverbunden. Allerdings gibt es einige Ansätze vor allem in der gegenwärtigen Kultursoziologie, die ⫺ in Anlehnung an die klassischen Ansätze von Simmel, Mannheim und
1840 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Elias ⫺ einen allgemeinen soziologischen Stilbegriff entwickeln. Eine Verbindung von Sprach-, Lebens- und Denkstilen wird von Bourdieu (1984) vorgenommen. In seinen Augen stellt die Sprache eine Form des sozialen und kulturellen Kapitals dar, das dazu beiträgt, soziale Ungleichheit anzuzeigen, wie dies in herkömmlichen sprachsoziologischen Theorien angenommen wurde. Bourdieu zufolge sind Sprachstile nicht einfach Gegenstand einer bewussten Stilwahl, sondern auch Ausdruck eines gesellschaftlich-kulturellen Habitus. Bestimmte Stile sind Teil des selbstverständlich tradierten Wissens von sozialen Gruppen und ganzen sozialen Klassen; die Stellung und das Prestige dieser Klassen haftet auch den Sprachstilen an. Diese Unterschiede existieren aber nicht außerhalb der Sprache; sie werden vielmehr erst durch den Gebrauch der Sprache, also durch die Sprachpraxis hergestellt, so dass der Sprachgebrauch zur Herstellung sozialer Ordnung beiträgt. Diese Vorstellung wird von der neueren interpretativen Soziolinguistik gestützt, die Bourdieu vorwirft, die soziale Klassenordnung und damit auch die Stilunterschiede der Sprache als zu verfestigt anzusehen. In anderen jüngeren kulturalistischen Ansätzen wird der Stil weniger eng an die Struktur sozialer Ungleichheit geknüpft, sondern als eigenständige Kraft zur Schaffung sozialer Ordnung angesehen. Das bedeutet, dass nicht mehr die „harten“ Tatsachen sozialer Ungleichheit, sondern Stile zum zentralen Instrument der sozialen Ordnung werden. So sieht etwa Schulze (1992) für die einzelnen sozialen Milieus konstitutive „alltagsästhetische Schemata“ am Werk, die kulturelle Präferenzen von Akteuren prägen. Auch Soeffner und Raab (2004) betrachten den Stil als Grundlage für die überhöhende Inszenierung und Präsentation des eigenen Selbst in der Sozialwelt. Stil setzt sich aus Handlungsweisen, Zeichenformen und Kommunikationsmustern zusammen, die wesentlich dazu beitragen, die soziale Ordnung selbst sichtbar zu machen und sie damit auch herzustellen. Der Stilbegriff beschränkt sich also weder auf das Denken noch auf die Sprache oder die Kunst, sondern umfasst alle Kulturgegenstände. So betont Soeffner (1992), dass der moderne Mensch so stark zum Stil getrieben werde, um das Persönliche zu entlasten und zu verhüllen. Damit aber dient der Stil ganz wesentlich dazu, die soziale Ordnung herzustellen, indem er sie symbolisch oder performativ anzeigt bzw. „inszeniert“.
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108. Rhetorik und Stilistik in der Soziologie
1841
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Hubert Knoblauch, Berlin (Deutschland)
1842 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart
109. Rhetorik und Stilistik in der Politologie 1. 2. 3. 4. 5.
Historischer Abriss der Rolle von Rhetorik und Stilistik in der Politologie Gegenstand und Relevanz, Stand und Desiderate der politologischen Rhetorikforschung heute Forschungsfelder der politologischen Rhetorikforschung Neue Herausforderungen und künftige Aufgaben der politologischen Rhetorikforschung Literatur (in Auswahl)
Abstract Politics and rhetoric are intimately linked. This correlation has its early evidence when the tyranny ended and thus debate about issues and interests became possible in the Greek democracies of the poleis. This indicates that the relevance of rhetoric depends upon the specific political context, the concepts of politics and of power in the respective period of history. Thus the perspective of political science analysing the role of rhetoric and stylistics has to insist on the analysis of the political context. The relevance of rhetoric has to be discussed on the background of its role and function for the forming of opinion, of decision making and implementation processes. The analysis of political language and speeches would be futile if it was limited to a material perspective. The political dimension and the aspect of acting are essential. A political science research of rhetoric and stylistics has to aim as well at linguistic means as at the political dimension.
1. Historischer Abriss der Rolle von Rhetorik und Stilistik in der Politologie Seit in unserem Kulturkreis die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Politischen ihren Anfang genommen hat, kommt der Rhetorik ein relevanter Platz zu. Denn ihre Genese ist aufs Engste verbunden mit der politischen Entwicklung in Sizilien und Athen. Seit dem 18. Jahrhundert entwickelte sich die Stilistik zur ästhetisch-literarischen Einweisung in den angemessenen Gebrauch der Schrift. Sie „löste sich damit aus der rhetorischmündlichen Tradition“, Eine allgemein akzeptierte, einheitliche Stilistik gibt es bis heute nicht (Vollers-Sauer 1993, 605). Die sprachwissenschaftlichen Konzepte der Stilistik wurden von der Politologie bisher nur in Ansätzen genutzt, so zum Beispiel bei der Differenzierung der verschiedenen Funktionen des politischen Sprechens wie Sprache der Verhandlung, Sprache der Verwaltung, Sprache der Überredung. Deshalb wird im Folgenden das Interesse auf den Kernbereich der Rhetorik ausgerichtet. Es ist kein Zufall, dass die Bedeutung der Rhetorik für die Politik sich in dem Moment manifestierte, da mit dem Ende der Tyrannenherrschaft die Auseinandersetzung über politische Gegenstände und Interessen in den griechischen Stadtdemokratien möglich wurde. Politische Beredsamkeit und Überzeugungskraft gewannen in dem Maße
109. Rhetorik und Stilistik in der Politologie
1843
an Bedeutung, wie die Willensdurchsetzung von Machthabern durch den Wettstreit der Meinungen ersetzt wurde. „Politisch zu sein, in einer Polis zu leben, das hieß, daß alle Angelegenheiten vermittels Worten, die überzeugen können, geregelt werden und nicht durch Zwang und Gewalt“ (Arendt 1994, 30). Die Genese der Rhetorik und ihre Relevanz in den antiken Stadtdemokratien weisen derweil auf einen ersten grundlegenden Befund für die politikwissenschaftliche Einordnung hin: Der Stellenwert von Rhetorik korreliert seit jeher mit dem zu der jeweiligen Zeit vorherrschenden Politikbegriff und Herrschaftsverständnis. Für diesen Befund liefern die Reflexion und Einordnung von Rhetorik durch die antiken Denker, insbesondere durch die „Väter“ der Politologie Aristoteles und Platon, den besten Beweis. Rhetorik lieferte innerhalb des aristotelischen und platonischen Politik- und Staatsverständnisses im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Referenzkonzepte, an denen auch heute keine politologische Beschäftigung vorbeikommt. Sie stehen nämlich für die beiden zentralen Alternativmodelle staatlicher Ordnungen, den freien und für Meinungsstreit offenen versus den vom Wahrheitsanspruch einiger weniger geleiteten, geschlossenen Staatswesen. Nach dem aristotelischen Verständnis ist Rhetorik an Demokratie gebunden, sprich an die Möglichkeit von Rede und Gegenrede. Das Ziel ist, mit der Mitwirkung der Öffentlichkeit zu politischen Entscheidungen zu kommen und zugleich gemeinsames Handeln festzulegen. Jüngere Arbeiten weisen auf den Aspekt der Konsensstiftung hin, der im aristotelischen Verständnis enthalten ist (so Ptassek 1992; Kopperschmidt 1995a; Kirchner 2000). „Rhetorik dient der Sicherung der „politischen Gemeinschaft“ als einer Wert- und Überzeugungsgemeinschaft unter Bedingungen fehlender Gewissheitsevidenz, indem sie die praktisch-normativen Grundlagen der Polis im deliberativen Prozeß kollektiver Willensbildung sich jeweils neu öffentlich zu bewähren nötigt.“ (Kopperschmidt 1995a, 84). Konsensbildung wiederum muss als Bedingung für Handlung gesehen werden. Für Aristoteles galt die Rhetorik als eine politische Hilfswissenschaft mit einer pragmatischen, nämlich auf das Handeln bezogenen Funktion für die Politik: „das Beratschlagen im öffentlichen Kontext als prominente Aufgabe der Rhetorik“ (Ptassek 1995, 21) mit dem Ziel, situative Problemlagen im Interesse einer Entscheidungsfindung zu klären und die Entscheidung über zukünftiges Handeln transparent zu machen. Platons Politikverständnis kann auf diese Funktion der Rhetorik verzichten, da für ihn Politik auf einem Wahrheitsanspruch beruht, der „Rede allenfalls noch als Hilfsmittel für seine bessere öffentliche Durchsetzung braucht“ (Kopperschmidt 1995b, 50). Da für Platon die Sprache untauglich ist zur Erkenntnis des Wahren und die Rhetorik nur dem „Scheinbaren nachjagen“ kann (Platon, Phaidros, 272 d⫺e), wird sowohl die Erkenntnis der Wahrheit als auch Handlungsorientierung verneint. Da bei Platon politische Entscheidungen nicht durch öffentliche Willensbildung und öffentlichen Konsens erreicht werden sollen, sondern auf der Basis anderer Ressourcen, wird die Funktion politischer Rede reduziert. Die Tatsache, dass sich der Stellenwert der Rhetorik korrelativ zum Politikverständnis verändert, lässt sich an den Theoretikern der folgenden Jahrhunderte nachvollziehen, die zudem eine Reihe unterschiedlicher Rhetorikbegriffe hervorgebracht haben: sei es Augustinus’ religiöse Verkündigungsrhetorik, Rhetorik als Gefährdung der politischen Ordnung bei Hobbes, die höfische Herrscherrhetorik im 17. und 18. Jahrhundert (vgl. Bohlender 1995, 233 f.). Dieser Begriffswandel macht zusammen mit der seit der Antike bestehenden Unsicherheit über das Wesen der Rhetorik eine Definition schwierig. Die Funktion von „Rhetorik im eigentlichen Sinne“, so Fuhrmann, „hatte freie Staatswesen
1844 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart zur Voraussetzung“ (Fuhrmann 1983, 23). Damit bezieht er sich auf die Antike und die Willensbildung freier und gleichberechtigter Bürger durch Rede und Gegenrede. Die ideengeschichtliche Perspektive zeigt, dass Rhetorik für die politische Praxis immer dann an Bedeutung verlor, wenn die politischen Entscheidungen in der Hand von absoluten Fürsten oder ständisch-feudaler Herrschaft lag, die Öffentlichkeit also weitgehend ausgeschlossen war (ausführliche Überblicke dazu: Grieswelle 2000; Ueding 1976; Kopperschmidt 1995). In den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts konnte aber, anders als im Absolutismus etwa, nicht auf das Einbeziehen der Öffentlichkeit verzichtet werden, sind sie doch auf die Mobilisierung der Massen, ideologische Geschlossenheit, Umerziehung und Indoktrination ausgerichtet, wozu die Sprache elementar gebraucht wird. Rhetorik diente, das zeigt der Nationalsozialismus ebenso wie der Kommunismus, zudem zur Legitimation ihrer Herrschaft. Die Sprache als Instrument der Politik ist für jedes politische Gemeinwesen, unabhängig von seiner Ideologie, unverzichtbar und für die Legitimität der Herrschenden wesentlich. In totalitären Systemen wird Rhetorik monologisch eingesetzt („von oben nach unten“), in pluralistischen Gemeinwesen dagegen dialogisch („auf gleicher Augenhöhe“). Je stärker politische Macht auf physischer Gewaltanwendung gründet, desto größer scheint der Zwang zur Rechtfertigung zu werden, desto umfangreicher wird Einfluss auf die Sprache ausgeübt. Daher drängt die physische Methode der Herrschaftsausübung in autoritären und totalitären Staaten den Einsatz der symbolischen Methode nicht zurück, sondern macht sie nur noch notwendiger (Bergsdorf 1978, 56 f.). Gerade der Missbrauch der Rhetorik im Nationalsozialismus hat die Frage nach der ethischen Fundierung von Rhetorik und die von Platon begründete Verachtung ihr gegenüber, die sich ebenfalls durch die Jahrhunderte zieht, wieder aufleben lassen. Die modernen totalitären Systeme bestätigen insofern die „ewige Ambivalenz der Rhetorik“ (Schottlaender 1975, 139), die in dem potenziellen Umschlagen zur Demagogie, Propaganda und Sprachlenkung liegt, und ihre große „Wandlungsfähigkeit“, die sie immer auch mit nicht freiheitlich-demokratischen Systemen zurechtkommen ließ, wie die Herrscherrhetorik des Absolutismus zeigt. Das macht sie zu einem „äußerst feine(n) Indikator für Wandlungen in ihren äußeren Bedingungen“ (Braungart 1995, 146). Es mag auch diese Ambivalenz und Wandlungsfähigkeit, die schwierige Einigung auf das Essenzielle an der Rhetorik sein, die seit jeher zu einer Rhetorikskepsis geführt hat. Zudem hatte die antike Formel „gut reden ⫽ überzeugend reden“ den Persuasionsaspekt in den Vordergrund gestellt. Zwar forderte Cato daher als echten Redner den „vir bonus“ ein, und für Cicero gehörten Weisheit und Beredsamkeit zusammen. Das zentrale Problem aber macht Kopperschmidt an dem Selbstverständnis fest, mit dem die Rhetorik ihre „instrumentelle Unschuld“ zu sichern glaubt, indem sie die Intentionalität ihrer konkreten Verwendung durch den Redner ausgrenzt (Kopperschmidt 1990, 263 f.). Vor allem aber fehlt die Verortung der Rhetorik im konkreten politischen Kontext. Das Einbeziehen der politischen Dimension entkräftet die Schwere des ethischen Problems. Die politikwissenschaftliche Perspektive macht eine „instrumentelle Unschuld der Rhetorik“ unmöglich. Jede politikwissenschaftliche Analyse würde zudem in die Irre gehen, wenn nicht beachtet wird: nicht die Kunst der Rhetorik bewirkt oder verhindert politische Entwicklungen, sondern die Menschen, die sich ihrer zum Zwecke der Überredung oder Überzeugung bedienen. Der Erfolg dieser Bemühungen ist abhängig von den politischen und kommunikativen Rahmenbedingungen, unter deren Herrschaft politische Rhetorik und politische Terminologie entfaltet werden.
109. Rhetorik und Stilistik in der Politologie
1845
2. Gegenstand und Relevanz, Stand und Desiderate der politologischen Rhetorikorschung heute 2.1. Gegenstand und Relevanz Innerhalb der Korrelation zwischen Rhetorik und Politik interessiert die Politikwissenschaft Funktion, Intentionalität und Wirkung der Rhetorik sowie der benutzten sprachlichen Mittel in den jeweiligen politischen Kontexten und Handlungsprozessen. Begreift man Politik als Gestaltungs- und Entscheidungsaufgabe und setzt man voraus, dass sich ein großer Teil der Politik mit dem Entwurf von Handlungszielen und den Voraussetzungen ihrer Verwirklichung beschäftigt, dann gehört die Analyse der Sprache innerhalb dieser Prozesse zu einem genuinen Feld der Politikwissenschaft. Definiert man Politik mit Hermann Lübbe als „Kunst, im Medium der Öffentlichkeit Zustimmungsbereitschaft zu erzeugen“ (Lübbe 1975, 107), dann wird deutlich, dass Kommunikation einen zentralen Stellenwert für die Politik hat, dass sie nachgerade zum kategorischen Imperativ wird (Bergsdorf 1988, 13). Diese Feststellung gilt sogar für nicht-pluralistische Systeme, in denen die Regierenden bestrebt sind, die Legitimität ihrer Herrschaft durch Kommunikationsregulierung zu sichern. Durch die artifiziell begrenzte (monologische) Kommunikation soll die Akzeptanz totalitärer Politik erzwungen werden. Um so mehr gilt der politisch-kommunikative Imperativ für freiheitliche Systeme, in denen alle Gruppen, die politischen Einfluss suchen, dies zuvorderst kommunikativ tun werden, so dass man sagen kann: Freiheitliche Politik ist heute im Wesentlichen politische Kommunikation. Sie ist im Unterschied zur totalitären Kommunikation dialogisch, und zwar im Blick auf die politischen Mitbewerber wie auch im Blick auf die angesprochene Öffentlichkeit. Zentrale Fragen der politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Stellenwert von Rhetorik beziehen sich auf die Rolle und Funktion der Sprache innerhalb der politischen Willensbildung, der Entscheidungs-, Gestaltungs- und Umsetzungsprozesse. Die Analyse des politischen Sprachgebrauchs wäre verfehlt, würde sie sich auf das Sprachmaterial allein beschränken. Für die politikwissenschaftliche Perspektive ist die politische Dimension des Sprechens wesentlich. Wenn der politische Zweck des Sprechens nicht berücksichtigt wird, bleibt die Handlungsdimension ausgespart. Es ist deshalb unzureichend, Rhetorik nur im Kontext von Texten oder Reden zu sehen, denn sie gewinnt ihre Bedeutung im Kontext von Handlungen. Das Ziel der politikwissenschaftlichen Rhetorik- und Stilistikforschung muss es sein, sprachliche Mittel wie auch politische Dimension gleichermaßen angemessen zu erfassen. In den einzelnen politikwissenschaftlichen Disziplinen ergeben sich daraus verschiedene Forschungsfelder (s. a. 3): Das Verhältnis von Rhetorik und Politik ist situativ und diachronisch analysierbar, und somit lassen sich der Funktionswandel von Rhetorik im Blick auf politische Handlungsprozesse wie auch der Wandel von Rhetorik im öffentlichen Verständnis und Gebrauch feststellen. Hier liegt eine wichtige Aufgabe für das Forschungsgebiet der Politischen Theorie und Ideengeschichte. Die Forschung zur Internationalen Politik analysiert im Zusammenhang mit Rhetorik und Stilistik die Verhandlungssprache, die in der Diplomatie im zwischenstaatlichen bzw. multilateralen und transnationalen Bereich benutzt wird, etwa um Übereinstimmung zu erzielen. Die Funktion von Rhetorik, das Verhältnis von Politik und Rhetorik in bestimmten innenpolitischen Konstellationen, ist ein weiteres Gebiet der politikwissenschaftlichen Forschung, durchaus auch komparativ verstanden. Gerade auch die
1846 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Einordnung in den politischen Kontext ermöglicht im Systemvergleich, über die unterschiedlichen Funktionen, Zwecke, Wirkung und Benutzung sprachlicher Mittel von politischer Rede in Demokratien, Diktaturen und autoritären Systemen Aussagen zu treffen. Im Gegensatz zum antiken Kontext haben wir es seit dem 20. Jahrhundert mit Massengesellschaften zu tun, die ungleich stärker ausdifferenziert und organisiert sind. Damit stehen die Politik und auch die Kommunikation gänzlich anderen Erfordernissen gegenüber ⫺ und das gilt für moderne freiheitliche, pluralistische Demokratien ebenso wie für totalitäre oder autoritäre Systeme. Die technische Entwicklung im Bereich der Massenkommunikation, ebenso aber die gesellschaftliche Pluralisierung haben die Rahmenbedingungen für die sprachliche Vermittlung, für die Herstellung von Zustimmung, für die Legitimation von Politik verändert. Ging es bei der relativ homogenen Öffentlichkeit der agora oder des forum um die face-to-face-Einzelrede eines Politikers mit dem Ziel, das anwesende Publikum, das im Anschluss über einen politischen Sachverhalt entscheiden sollte, zu überzeugen, so nehmen sich heutige Entscheidungsprozesse ungleich komplizierter aus. Zwar leistet auch hierzu noch immer die Rede von Politikern einen Beitrag, dennoch muss man die gesamte politische Kommunikation und ihre Funktion im politischen System betrachten (Bergsdorf 1980, 75⫺91), um zu generalisierbaren Urteilen zu kommen. Aus einer unendlichen Vielfalt von Ereignissen, Entwicklungen und Ideen gilt es, einige wenige auszuwählen, zu thematisieren und so der Öffentlichkeit als präformierende Elemente zu übergeben. Diese Selektionsarbeit leisten heute die Massenmedien. Die Reduktion der Komplexität (Niklas Luhmann) als gesellschaftliche Generalfunktion der Massenmedien leistet die Herstellung einer fiktiven Wirklichkeit, die dennoch real wird, weil sie allen gemeinsam ist und Handlungsentwürfe begründet, indem sie Überschaubarkeit suggeriert. Öffentlichkeit als Konstruktion kommunikativer Gemeinsamkeit und als Struktur von Themen hat für die Politik in modernen Großgesellschaften elementare Bedeutung. Die Herstellung dieser Öffentlichkeit ist eine politische Generalfunktion der Massenmedien. In demokratischen Systemen dient sie der Schaffung von Transparenz zur Willensbildung und Entscheidung, in totalitären Systemen der artifiziellen Konstruktion einer herrschaftslegitimierenden Gemeinsamkeit. Diese Generalfunktion kann in weitere Funktionen differenziert werden: (a) Bildung: In demokratischen Systemen gilt sie als Diffusion von Wissen und Kenntnissen, in totalitären Systemen als Repetition der ideologischen Grundlagen. (b) Information: In demokratischen Systemen bedeutet sie tendenzielle Vollständigkeit nach Kategorien wie Objektivität, Betroffenheit, Neugier; in totalitären Systemen hingegen Filterung durch das Informationsmonopol der Herrschenden. (c) Sozialisation: In demokratischen Systemen zielt sie auf die Einübung der Toleranz inhaltlicher Pluralität, in totalitären Systemen auf die Normierung der Formen und Inhalte des politischen Verhaltens (d) Artikulation: In demokratischen Systemen stellt sie sich als Vertretung unterschiedlicher Interessenlagen dar, in totalitären Systemen als Artikulationsmonopol der Herrschenden. (e) Kritik und Kontrolle: In demokratischen Systemen meint sie Sach-, Personal- und Stilkritik, auch intermediär, in totalitären Systemen besteht sie nur aus gelenkter „Kritik“ zur Zementierung der Herrschaft. Neben der Herstellung von Öffentlichkeit, der Schaffung von Transparenz für den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess hat die (Massen)Kommunikation zwei
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weitere zentrale Aufgaben für das demokratische Gemeinwesen: Zum einen dient sie der Legitimation (Oberreuter 1989), zum anderen fördert und sichert sie die Integration der vielfältigen und unterschiedlichen Interessen der Gesellschaft zu einem einheitlichen Staatswillen. Während im klassischen Verständnis die Einzelrede auf die Stiftung von Gemeinsamkeit im Hinblick auf gemeinsames Handeln (s. 1) zielte, wird dies in der modernen pluralistischen Gesellschaft durch die politische Kommunikation als Medium dieses permanenten Integrationsprozesses geleistet. In totalitären Gesellschaften wird sowohl die Legitimation ⫺ allerdings lediglich artifiziell ⫺ als auch eine Art von Gemeinsamkeit im Sinne ideologischer Geschlossenheit benötigt, die durch Mobilisierung von Massen (siehe Nationalsozialismus und Faschismus), indoktrinierende Propaganda (Nationalsozialismus und Kommunismus) geschieht. Die Relevanz der Rhetorik für die Politikwissenschaft ergibt sich aus der Tatsache, dass sich Politik ⫺ sei es bei der Vermittlung, im Kampf um Zustimmung und Legitimation oder schließlich in der Umsetzung und Durchführung ⫺ kommunikativ vollzieht: Ringen um Macht und Ausübung von Macht vollziehen sich (dialogisch) über die Sprache. Die zentrale Erkenntnis der antiken Denker lässt sich in der Aussage verdichten, dass Sprache als Medium politischen Handelns dient. In diesem Handlungsaspekt sind Politik und Rhetorik aufeinander bezogen, und hier setzt das politikwissenschaftliche Interesse an: Unter welchen Bedingungen, mit welchem Zweck und welchen Zielen, mit welchem Erfolg wird Rhetorik in der Politik eingesetzt? In der Politik beginnt ⫺ ganz anders als in der Wissenschaft ⫺ der Handlungskreis mit der Information, am Ende steht das Ziel: Soll die Machtsituation verändert (Ziel der Opposition) oder stabilisiert werden (Ziel der Regierung)? Oder soll ⫺ wie in nicht-demokratischen Systemen ⫺ der Meinungsstreit ganz unterbleiben und durch Kontrolle der Informationsinstanzen eine gleichgeschaltete sprachliche Bewertung gewährleistet werden? Sind die konkreten politisch-historischen Bedingungen der Kommunikation geklärt, die Funktion der Rhetorik eingeordnet und die Frage der Intentionalität beantwortet, stellt sich die Frage nach den sprachlichen Mitteln. Sie verweisen auf die Bedeutung der Stilistik für die eingehende politologische Textanalyse. Ohne die Beschäftigung mit den stilistischen Mitteln wären weder Aussagen zur Instrumentalisierung der Sprache durch die jeweiligen Politiker oder Systeme möglich, noch käme man zu Erkenntnissen über die Korrelation von Ziel und Wirkung der politischen Rhetorik. So lässt sich die totalitäre Zielsetzung des NS-Sprachgebrauchs an seinen stilistischen Elementen erkennen. Die Analyse der sprachlichen Mittel beruht auf der Erkenntnis, dass jedes System mit einem geschlossenen Weltbild eine eigene Sprache benötigt. Die Sprache der Nationalsozialisten war gekennzeichnet durch aktivistische und emotionalisierende Wörter, durch ihre Appellfunktion, durch einen relativ kleinen Wortschatz, durchsetzt mit militärischen, religiösen, technischen und biologischen Begriffen, durch Superlativismen, Euphemismen, „Adjektivitis“, heroisierende Generalisierungen, Simplifizierungen und radikalisierte Schwarz-Weiß-Schematismen. Die Anstrengungen der Nationalsozialisten in der Lenkung der politischen Sprache liefen zweigleisig: institutionell in der Gleichschaltung der Medien und formell durch die Umdeutung, Aufladung und Okkupation von Begriffen, durch eine Gleichschaltung der sprachlichen Ausdrucksformen, die alle sprachlichen Unterschiede geschichtlicher, sozialer regionaler Herkunft in der auf Heroik gestimmten Parteisprache einebnete. Dass jedes System mit geschlossenem Weltbild eine eigene Sprache benötigt, gilt gleichermaßen für den Kommunismus bzw. Sozialismus. Auch die SED wollte die Eigenstaatlichkeit der DDR durch eine Eigensprachlichkeit bekräftigen. Im Gegensatz zum Dritten Reich waren administrative Mittel
1848 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart wie Verbote und Vorschriften seltener, der Informationsfluss insgesamt wurde administrativ geregelt. Dabei war das wichtigste Instrument der Sprachlenkung in der DDR die Sprachregelung der politischen Autoritäten, des SED-Zentralorgans Neues Deutschland und der Nachrichtenagentur ADN. Etliche sprachliche und stilistische Elemente des Sozialismus waren bereits vom Dritten Reich bekannt: Die emotionale Aufgeladenheit, die superlativistischen Wendungen, die Vorliebe für Begriffe aus dem militärischen Bereich, die starken Schematisierungen, die mit extremen Bewertungen einhergingen. Unter dem alles beherrschenden Grundsatz der Parteilichkeit, den Geboten und Verboten der Sprachlenkung hatte sich das politische Deutsch der DDR zu einer von Klischees befrachteten und gebetsmühlenartiger Formelhaftigkeit gekennzeichneten Sprache entwickelt, deren Monotonie Leblosigkeit anzeigte. Die Sprachlenkung der SED war insofern erfolgreich, als offener Widerspruch unterdrückt wurde. Andererseits bringen Hohlheit und Monotonie der totalitären Sprache die Menschen dazu, eigene Deutungswelten zu entwickeln, „zwischen den Zeilen“ zu kommunizieren. Das zeigt nicht zuletzt die hohe Sprachqualität eines großen Teils der DDR-Literatur. Daher muss bedacht werden, dass die Wirkung einer politischen Propagandasprache in die außersprachlichen Faktoren einzubetten ist. Im Unterschied zu jenen totalitären Systemen muss sich der Politiker in der Demokratie nicht nur der Kritik an seinen politischen Inhalten stellen, sondern auch der Kritik an seiner Sprache. Beides hängt zusammen. Allerdings geht es in der Demokratie nicht um die Offenlegung von Wahrheiten, sondern um das Herstellen von Mehrheiten für politische Programme in der Auseinandersetzung um diese. Das hat Konsequenzen für Stil und stilistische sprachliche Mittel. Handelnde Politiker sind darauf angewiesen, von möglichst Vielen verstanden zu werden, wenn bzw. weil sie Mehrheiten gewinnen oder erhalten wollen. Eine demokratische Sprachkultur hat daher immer einen anti-elitären Soupc¸on. Es ist auch eine Aufgabe der Politologie, zu erhellen, wie die Absicht der Mehrheitsgewinnung die stilistischen und rhetorischen Mittel insbesondere von politischen Reden prägt. Die Prozesse von Mehrheitsgewinnung, Erzeugung von Zustimmungsbereitschaft und Integration der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen sind nicht eine einmalige, sondern eine permanente Aufgabe der Politik. Politische Kommunikation ist in der freiheitlichen Demokratie das wichtigste Instrument der politischen Führung.
2.2. Stand und Desiderate Obwohl gerade die jüngste deutsche Geschichte genug Anschauungsmaterial für die Sprachlenkung in totalitären Systemen bietet, hat die deutsche Politologie erst sehr verzögert begonnen, sich damit zu beschäftigen. Bis in die 1960er Jahre hinein wurde der Linguistik die sprachanalytische Aufarbeitung der Rhetorik des Nationalsozialismus und Kommunismus überlassen (Schumann 1991, 17). Überhaupt kommt der kommunikativen Dimension von Politik selbst bis heute noch zu wenig Aufmerksamkeit zu. So stellte Hans-Gerd Schumann noch Anfang der 1990er Jahre fest: „Über politikwissenschaftliche Semantik- und Rhetorikforschung einen Überblick zu geben, heißt eigentlich, über ein Meer von Unterlassungen zu fliegen und über weite Strecken nur von Zwergatoll zu Zwergatoll zu springen“ (Schumann 1991, 14). Erst in den 1970ern rückte das Verhältnis von Sprache und Politik ins Blickfeld der Politikwissenschaft. Trotz des gewachsenen Interesses von Politik und Politologie an dem Thema Sprache und Politik hat die kom-
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munikative Dimension der Politik bisher zu wenig Aufmerksamkeit auf sich lenken können. Die Aussage, dass Sprache in der Politik ein marginales und kaum reflektiertes Thema der deutschen Politikwissenschaft ist, bleibt gültig (Latniak 1991, 10). Die Vielzahl der notwendigen Betrachtungsweisen und beteiligten Disziplinen, die unvermeidliche Verknüpfung politikwissenschaftlicher, soziologischer, psychologischer, kommunikationswissenschaftlicher und historischer Ansätze wirkt sich anscheinend als Zugangssperre zu diesem Forschungsfeld aus (Bergsdorf 1988, 15). Für den Bereich der Ideengeschichte moniert Kopperschmidt, ein „rhetoriktheoretisches Interesse an der Theoriegeschichte der Politik“ habe sich bisher kaum artikuliert (Kopperschmidt 1995c, 13). Stammen fordert, die rhetorische Dimension politisch-theoretischer Texte einzubeziehen, da sie ebenso wie die literarische Form als konstitutives Element einer kalkulierten Textstrategie in konkret-geschichtlichen Kommunikationssituationen eine „neue erhellende Bedeutung für die politische Ideengeschichtsforschung gewinnen“ (Stammen 1997, 49) könnte. Die Rhetorik könnte eine ganz neue und für die Ideengeschichtsforschung innovative Bedeutung erlangen, wenn sie sich nicht nur um die Wissensproduktion, sondern auch um die Frage der Distribution und Rezeption von Wissen unter je bestimmten Rahmenbedingungen verschiedener Kommunikationssituationen kümmert (Stammen 1997, 49). Innerhalb der Systemlehre hat die Beschäftigung mit Kommunikation in demokratischen Systemen durchaus zugenommen, allerdings meist in solchen westlicher Prägung. Teilweise ist auch die Erforschung der politischen Kommunikation in nicht-demokratischen Systemen gut fortgeschritten, wie etwa in Bezug auf die Sprache im Nationalsozialismus. Weit weniger gilt dies für autoritäre Diktaturen, insbesondere auch außereuropäische. Auch die Rolle von politischer Kommunikation in Transformations- oder Schwellenländern ist weitgehend ein weißes Feld. Diese Defizite haben ihren Grund auch darin, dass im Sinne der Korrelation von Rhetorik und politischen Rahmenbedingungen die Analyse von Rede und Redestil auch die Analyse des zeitlichen bzw. politisch-sozialen Kontextes voraussetzt; d. h. die zeit- und gesellschaftsabhängigen Wertüberzeugungen, Weltbilder, Ideologien etc., die sich etwa in Schlüsselbegriffen verdichtet widergespiegelt finden und die den Hintergrund für die Handlungsentwürfe und Zielvorstellungen von Reden bilden, müssen bekannt sein. Nur so lässt sich eine, wie Kopperschmidt es nennt, „materiale Redeanalyse betreiben als Analyse der in Rede kategorial wie argumentativ manifest werdenden Wirklichkeitskonstruktion“ (Kopperschmidt 1990, 266). Die Analyse von Reden kann sinnvollerweise nicht ohne Kenntnis und Bezugnahme auf die historisch-politischen Rahmenbedingungen geschehen. Rhetorikanalyse in totalitären Systemen muss daher Ideengeschichte und Politische Theorie berücksichtigen. Analog dazu müssen bei Länderanalysen Unterschiede im politischen System beachtet werden. Die vergleichende Untersuchung von Rhetorik bzw. politischer Kommunikation, und zwar sowohl für die westlichen als auch für die Transformationsländer, wurde bisher zu wenig berücksichtigt. Innerhalb der Internationalen Politikforschung war während des Kalten Krieges die Frage von Rhetorik und auch Stilistik in der Kommunikation zwischen den beiden Großmächten ein durchaus rege bearbeitetes Thema. Der Zusammenbruch der bipolaren Ordnung und ihre Ersetzung durch eine immer noch in der Ausgestaltung befindliche „neue“ Weltordnung verweisen die Politologie auf vielfältige Beschäftigungsfelder, wobei ihr Hauptaugenmerk stark auf institutionelle und prozessorientierte Fragen gelenkt ist. Der Frage nach der Bedeutung von Rhetorik und Stilistik innerhalb dieses Prozesses wird bislang noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt (s. auch 4).
1850 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart
3. Forschungselder der politologischen Rhetorikorschung 3.1. Die politische Rede Die politische Rede ist Kernstück der Rhetorik und damit der zentrale Gegenstand, an dem die politologischen Forschungsfragen nach Funktion, Intention, Wirkung und sprachlichen Mitteln innerhalb des politisch-gesellschaftlichen Kontextes (s. 2) untersucht werden. Politische Rede definiert sich heute im engeren Sinne als „längere(n) mündliche(n) Ausführung mit politischem Inhalt vor Publikum ohne Festlegung auf die Gattungsspezifik“ im weitesten Sinn als „jedweder(n) Beitrag im Rahmen politischer Diskurse, unabhängig von Medium, Gattung und Umfang: vom politischen Essay bis zum Kürzest-Statement im Rahmen von Fernsehinterviews oder zum Gesprächsbeitrag im Rahmen einer Talk-Show“ (Klein 2003, 1466). Der Funktionswandel der politischen Rede ist auch ein Resultat des Struktur- und Funktionswandels der Öffentlichkeit (Kopperschmidt 1990, 269 ff.). Die Rede-Orte haben sich dezentralisiert, d. h. öffentliche politische Reden werden nicht mehr nur im Parlament gehalten; auch die Rede-Stile sind pluralisiert in dem Sinne, wie sich die Gesellschaft pluralisiert hat. Zudem haben sich die Kommunikationsbedingungen durch die Mediatisierung von Politik geändert. (s. dazu 4.2). Die politologischen Grundbefunde der gesellschaftlichen Pluralisierung und Individualisierung, der starken Ausdifferenzierung der Öffentlichkeit, mit der sich die grundlegende, aber längst nicht beantwortete Frage nach der künftigen Integration einer sich zentripetal bewegenden Gesellschaft verbindet, hat Rückwirkungen auf die Anforderungen an die politische Rede. Sie steht dem Paradoxon gegenüber, einerseits Zustimmungsbereitschaft zu produzieren, also Konsens zu stiften, dazu aber andererseits verschiedene und möglichst viele gesellschaftliche Segmente adressieren zu müssen. Die politische Rede ist als Instrument der Exposition von Handlungsentwürfen, zur Überzeugung von politischen Programmen und Inhalten, zur Gewinnung von Zustimmung zudem nicht mehr auf Politiker beschränkt. Die im politischen Kommunikationsprozess zwischen Regierung und Regierten zwischengeschalteten und am politischen Willensbildungsprozess beteiligten intermediären Institutionen nutzen ebenfalls kommunikative Mittel. Die Vervielfältigung von potenziellen Rednern zusammen mit der Vervielfältigung der medialen Möglichkeiten, an die Öffentlichkeit heranzutreten, wirft die Frage auf, wie sich dies auf den Stellenwert der politischen Rede niederschlägt, auf die Auswahl der Stilmittel durch den Redner, aber auch auf die Wirkung beim Publikum. Wie wird dem immer weiter abnehmenden Aufmerksamkeitspotenzial des Bürgers durch stilistische Mittel oder in der Präsentation der Rede ⫺ Stichwort: Inszenierung, symbolische Politik ⫺ Rechnung getragen? Und wie wiederum vertragen sich diese Mittel dann mit dem Ziel der Konsensstiftung? Das Thema „gesellschaftliche Integration“ enthält eine zentrale politikwissenschaftliche Fragestellung, deren rhetorische bzw. kommunikative Dimension in der problematischen Gegenläufigkeit von notwendiger politischer Konsensstiftung und sozialer Segmentierung, von zunehmender Akteurszahl auf der rhetorischen Bühne und begrenzter Aufmerksamkeit im Publikum noch intensiver auszuleuchten ist. Was bedeutet es für politische Führung, bei knappen „Konsensressourcen“ Zustimmungsbereitschaft zu erzeugen (siehe dazu Kopperschmidt 1988)? Und welche Folgen hat es für die Themensetzung politischer Führung, wenn das Thema nicht mehr der inhaltlichen Festlegung von Meinungen dient, sondern „zunächst und vor allem dem Einfangen von Aufmerk-
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samkeit“, zumal Aufmerksamkeit noch nicht Bindung an bestimmte Entscheidungsinhalte bedeutet (Luhmann 1974, 36)? Mit der Anzahl potenzieller politischer Redner multiplizieren sich auch die Forschungsfelder für die Politologie im Bezug auf Gewerkschaften, Kirchen, Bürgerbewegungen, Intellektuelle etc. Dennoch bleibt die Rede von Spitzenpolitikern ein klassisches Forschungsfeld. Dazu zählen Bundeskanzler und Premierminister in parlamentarischen, Präsidenten in präsidentiellen (USA) oder semi-präsidentiellen Systemen (Frankreich), wobei die Studien sich meist auf einen Redetypus besonderer Art konzentrieren, nämlich Regierungserklärungen oder Antrittsreden. Ein weiterer Untersuchungsbereich von politischer Rhetorik ist die parlamentarische Rede, die einerseits einen breiten Blick auf die Debattenkultur und ihre rhetorische und stilistische Vielfalt wirft (Simmler 1978), zum anderen die Frage nach der Funktion von Reden für die parlamentarische Willensbildung und Entscheidung, aber auch bei der Festlegung weit reichender politischer Koordinaten impliziert; man denke etwa an die Debatten über die Wiederbewaffnung, über den NATO-Doppelbeschluss, über den Paragrafen 218 oder die Hauptstadtdebatte. Ausgehend von der Tatsache, dass die Sprache der Politik eine Sprache der Begriffe ist, die für Zusammenhänge stehen, durch sie bestimmt werden und erst in diesen Zusammenhängen ihre Bedeutung erhalten, stellt die Untersuchung politischer Schlüsselbegriffe ein wichtiges, wenn auch noch nicht ausgeforschtes Feld dar (Bergsdorf 1983). Hierbei stehen vor allem die Parteien und ihre Terminologien im Vordergrund.
3.2. Massenmedien Es ist heute nicht mehr möglich, über politische Beredsamkeit zu sprechen, so einmal Bundespräsident Roman Herzog, ohne darüber zu reflektieren, dass wir in einer Mediengesellschaft leben. (Herzog 1998, 46). Tatsächlich erfüllen die Massenmedien innerhalb des höchst komplexen Systems von Machtbeziehungen zwischen Bürgern, Verbänden, Parteien, Parlament und Regierung wichtige Aufgaben (s. 2.1). Ohne Medien wäre die Durchsichtigkeit dieser Beziehungen, die Informierung, der Meinungsaustausch nicht möglich. Andererseits haben Kommunikations- und Medienwissenschaft bzw. politologische Analysen der Massenkommunikation dysfunktionale Effekte massenmedialer Darstellung von Politik festgestellt. Dies bezieht sich zuvorderst auf das Fernsehen, dessen Funktionsbedingungen (Bildhaftigkeit, begrenzte Zeit für die Information, Aktualität, Einschaltquoten) sich auf die Darstellung und Vermittlung von Politik signifikant auswirken. Die Mediatisierung von Politik lässt sich unter den Stichworten Visualisierung, Personalisierung und Ritualisierung fassen (siehe Bergsdorf 1983). Fernsehbestimmte Politikvermittlung, so Oberreuter, entspricht nicht der Komplexität des politischen Willensbildungsprozesses, durch die dramaturgischen Notwendigkeit des Fernsehens ⫺ Spannung, Verkürzung, Simplifizierung ⫺ bleiben Kontinuität und Rationalität auf der Strecke (Oberreuter 1989, 37). Wenn Fernsehen aber ein Übermaß an Publikumsorientierung verursacht und die Aktionsweise der Politiker sowie die Substanz ihrer Politik verändert, dann ist davon auch die rhetorische Dimension von Politik betroffen. Dem Prozess der wechselseitigen Instrumentalisierung von Politik und Medien (ebd. 40 f.), bei dem sich die Politik einerseits der Eigengesetzlichkeit der Medien unterwerfen muss, sich andererseits ihrer bedient, haben sich rhetorische und stilistische Mittel angepasst. Diese Veränderungen haben in den 1980er Jahren in der amerikanischen Politikwissenschaft eine
1852 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart kritische Auseinandersetzung mit der „Rhetorischen Präsidentschaft“ ausgelöst (vgl. Jäger 1992, 23 ff.). Es zeigte sich, dass die enorme Zunahme öffentlicher Präsidentenreden auf eine direkte Mobilisierung der Öffentlichkeit durch den Präsidenten zielte. Der sprachanalytische Befund ergab, dass die Rede weniger argumentativen als vielmehr aphoristischen Charakter bekommen hatte. Schwarz-Weiß-Malerei, Dramatisierung, Vereinfachung, Krisenbeschwören gingen in die Rhetorik der politischen Reden ein. Dazu kam, dass die Reden des Präsidenten dramatisch in Szene gesetzt wurden. Die Information der Öffentlichkeit etwa durch Pressekonferenzen dagegen verlor an Bedeutung. Das führte zu dem Schluss: „Die primäre Aktion hat Priorität vor der sekundären Information und Rechtfertigung; Öffentlichkeitsarbeit geht vor Informationspolitik, das Bild vor dem Wort“ (ebd., 33). Längst lassen sich diese Erkenntnisse auch auf die europäischen Demokratien übertragen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Dennoch sind Inszenierung von politischen Reden und Entwertung des Wortes Tatsachen, die sich insofern auf die rhetorische und stilistische Ausgestaltung auswirken, als sie bestimmten Mustern folgen müssen, wollen sie zum einen Aufmerksamkeit erregen und zudem Unterstützung erreichen. Deshalb sind Inhalt und Form der Reden ebenso zu untersuchen wie Redesituationen, Redestrategien und Redekontexte. Für die Politologie sind dabei vor allem qualitative Untersuchungen interessant.
4. Neue Herausorderungen und küntige Augaben der politologischen Rhetorikorschung 4.1. Neue Medien So wie sich die Massenmedien auf die politische Rhetorik ausgewirkt und damit der Politologie neue Forschungsaufgaben gestellt haben, verhält es sich auch mit den Neuen Medien, insbesondere dem Internet. Das Aufkommen Neuer Medien rief von Anfang an ambivalente Prognosen hervor. Zum einen wurden Chancen gesehen, etwa im Abbau von sprachlicher Uniformität und sprachlicher Ritualisierung, oder auch in dem steigenden Bedarf der Politiker, sich breiten Bevölkerungskreisen verständlich zu machen. Je präziser der Ausdruck, desto stärker wird die Handlung festgelegt. Zum anderen wurde die Verflachung nicht nur der Inhalte, sondern auch der Rhetorik befürchtet. Rund zwanzig Jahre nach jenen Medienrevolutionen lassen sich Befunde wie Desiderate für die politikwissenschaftliche Auswertung ausmachen. So gibt es politologische Untersuchungen etwa dazu, wie Politik im öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehen dargestellt wird. Wie die mediale Aufarbeitung von Politik auf die Rhetorik der Redner zurückwirkt, ist jedoch noch weiter auszuleuchten. Ein anderes Stichwort für die Politologie lautet „e-democracy“. Hierbei gilt es nicht nur zu untersuchen, welche Bedeutung interaktive Technologien für die politische Meinungs- und Willensbildung haben, sondern auch nach den möglichen Veränderungen für die politische Kommunikation zu fragen. Dabei rücken veränderte Gesprächstaktiken, Kommunikationsdramaturgien oder sprachliche Politikinszenierungen ebenso ins Blickfeld wie die Frage nach dem erfolgreichen Sprachgebrauch unter den Bedingungen und dem Einfluss neuer Technologien. Die für manche heute verheißungsvolle Aussicht, zur vormodernen face-to-faceKommunikation zurückkehren zu können, quasi auf die elektronische agora, hat sich in
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dem erhofften Maße nicht erfüllt. Dennoch haben sich aber einerseits die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung durch die Bürger (z. B. Reden abrufen via Internet) geändert, was sie von der Information via Fernsehen unabhängiger macht. Andererseits erlaubt die Technik auch die direkte Kommunikation in Echtzeit ⫺ etwa Internet-Chats ⫺ zwischen Politikern und Bürgern. Wie sich diese technischen Möglichkeiten auf die rhetorischen Überzeugungsstrategien und die stilistischen Mittel von Politikern auswirken, ist eine weitere Frage, der sich die Politologie stellen muss. Gerade in diesem Zusammenhang sind komparative Arbeiten ein Desiderat, die die weiter fortgeschrittenen Erfahrungen etwa der amerikanischen Wahlkämpfe und europäische Fälle betrachten.
4.2. Political correctness Manche gesellschaftliche Entwicklung führte mit ihren Regeln der political correctness zu einem Veränderungsdruck auf die politische bzw. politisch-administrative Sprache. Political correctness, ihre Entstehungsgeschichte, Gesetzmäßigkeiten und Auswirkungen auf den politischen und öffentlichen Sprachgebrauch sind Themen, die die Politologie beschäftigen müssen. Denn es handelt sich um semantische Verbots- und Gebotsstrategien, denen sich Politiker nicht nur bei Reden, sondern bei jeglicher Kommunikation (Talk-Shows ebenso wie Zeitungsartikel, Verordnungen oder Hintergrundgespräche) unterwerfen müssen. Heute wird es sich kein Politiker mehr leisten können, nur von „den Bürgern“ statt von „den Bürgerinnen und Bürgern“ zu sprechen. Es gibt bereits einige Arbeiten zu diesem Phänomen (s. Behrens/von Rimscha 1995; Papcke 2003 u. a.). Es bedarf jedoch weiterer Analysen ⫺ auch hier wiederum komparativer Art ⫺, um den genauen Auswirkungen auf die Spur zu kommen, die solche Ver- und Gebotsvorgaben auf das Redeverhalten von Politikern und die stilistische Ausgestaltung ihrer Reden haben. Einen speziellen Fall diesbezüglicher sprachkritischer Betrachtung stellt der feministische Diskurs dar. Hier gibt es Schnittmengen mit den Gender Studies, die die sprachliche Ausgestaltung in Politik und Gesellschaft unter feministischer Theoriebildung und mit Hilfe empirischer Analysen untersuchen.
4.3. Globalisierung Für die Politik und Politologie schaffen die Vergrößerung und Beschleunigung der Informationsmöglichkeiten und vor allem ihre Globalisierung eine ganze Fülle neuer Fragestellungen. Die erste und vielleicht wichtigste ist die Frage, ob und inwieweit die Konstituierung von Öffentlichkeit als transparenter Diskurszusammenhang durch die integrierten Informations- und Kommunikationstechnologien berührt wird. Das Prinzip Öffentlichkeit ist mit der Entfaltung der modernen Demokratie, mit der prinzipiellen Austauschbarkeit von Regierung und Opposition so unmittelbar verknüpft, dass seine faktische Einschränkung oder partielle Aufhebung Probleme für das politische System heraufbeschwören kann. Im Zusammenhang mit den „Netzverdichtungsprozessen“ lassen sich grob zwei Hypothesen formulieren: Eine These unterstellt kulturell homogenisierende und dezentralisierende Wirkungen, was auf eine Einheitszivilisation in eigentlich disparaten Räumen hinauslaufen könnte. Die andere These geht statt von kultureller
1854 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Vermassung durch Neue Technologien eher von Vorgängen kultureller Pluralisierung und Individualisierung aus (s. dazu Lübbe 1997). Ein Aspekt bei der Überprüfung dieser Thesen ist die Frage nach den Auswirkungen auf die sprachliche Seite. Lassen sich Vereinheitlichungstendenzen in der politischen Rhetorik oder Einflüsse durch globalisierte Kommunikationszusammenhänge auf die nationale politische Rhetorik feststellen? Eine andere Frage richtet sich auf den durch die elektronischen Medien evozierten „mündlichen“ Denk- und Empfindungsstil. Wie wirken sich Internetsprache oder „Netiquette“, die Benimmregeln der Netzreisenden, auf die politische Kommunikation aus; etwa in den amerikanischen Wahlkämpfen, die sich längst auch über das Internet an die Bürger wenden? Nicht nur die antike, auch die moderne Demokratie ist mit den Begriffen und Konzepten von Öffentlichkeit, Kommunikation und Erzeugung von Zustimmung verbunden. Die Auswirkungen von transnationaler Vernetzung und Kommunikation auf die Öffentlichkeit einerseits und auf rhetorische Anforderungen an Politiker, politische Parteien, gesellschaftliche Institutionen andererseits sind daher essenzielle Fragestellungen, die die Politologie künftig beschäftigen müssen. Die Erforschung neuer Erscheinungsformen von Kommunikation und ihrer politisch-gesellschaftlichen Relevanz sind ein Desiderat. Auch dies muss vor allem ⫺ ein ceterum censeo ⫺ interdisziplinär zusammen mit der Sprach- und Kommunikationswissenschaft inhaltsanalytisch geschehen.
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1856 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Vollers-Sauer, Elisabeth (1993): Prosa des Lebensweges. Literarische Konfigurationen selbstbiographischen Erzählens am Ende des 18. und 19. Jahrhunderts. Stuttgart/Weimar.
Wolfgang Bergsdorf, Bonn (Deutschland)
110. Rhetorik und Stilistik in der Psychologie 1. 2. 3. 4. 5.
Frageperspektiven in Sprache, Denken, Kommunikation Stilistik Rhetorik Wechselwirkungsdynamiken Literatur (in Auswahl)
Abstract Examining the psychological approach to language production from the perspective of stylistics, we can note a major focus of research on group styles. These include gender-specific types of conversation and styles of thinking or interacting that become manifest in language, whereas the style of individual authors has rarely been the subject of psychological studies. With regard to the perception of language, major emphasis has been devoted to the emotional aspects of the situation, indicators for the credibility of specific information or characteristics of untruthful statements. From the perspective of rhetoric, we can trace a long tradition of research on the persuasiveness of texts. More recently, strategies of impression management, the structure and effect of figurative language, as well as argumentative communication referring to the ethical dimension of argumentational integrity have been investigated. The development of both style and consciousness of an individual in its mutual interaction is relevant to a multitude of genres, e. g. ranging from love discourse to the structure of scientific journal articles. This clearly shows how stylistic and rhetorical approaches interpenetrate in psychology.
1. Frageperspektiven in Sprache, Denken, Kommunikation Wenn man nach den technischen Fachbegriffen der Stilistik und Rhetorik in der Psychologie Ausschau hält, so ergibt sich eine deutliche Asymmetrie. Die Rhetorik wird ⫺ zumindest von der konzeptuellen Substanz her ⫺ immer wieder direkt oder indirekt thematisiert, während das für die Stilistik ⫺ insbesondere vom konzeptuellen Zentrum der Sprachstilistik her (vgl. Fix 1990) ⫺ sehr viel weniger gilt. Das hängt damit zusammen, dass für die Relation von Psychostruktur und Sprachstil zunächst einmal die Ausdrucksfunktion zentral erscheint, die sich aber für einzelne Individuen (Autorstil) nur schwer empirisch sichern lässt, weswegen dieses Feld weitgehend der Linguistik überlas-
1856 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Vollers-Sauer, Elisabeth (1993): Prosa des Lebensweges. Literarische Konfigurationen selbstbiographischen Erzählens am Ende des 18. und 19. Jahrhunderts. Stuttgart/Weimar.
Wolfgang Bergsdorf, Bonn (Deutschland)
110. Rhetorik und Stilistik in der Psychologie 1. 2. 3. 4. 5.
Frageperspektiven in Sprache, Denken, Kommunikation Stilistik Rhetorik Wechselwirkungsdynamiken Literatur (in Auswahl)
Abstract Examining the psychological approach to language production from the perspective of stylistics, we can note a major focus of research on group styles. These include gender-specific types of conversation and styles of thinking or interacting that become manifest in language, whereas the style of individual authors has rarely been the subject of psychological studies. With regard to the perception of language, major emphasis has been devoted to the emotional aspects of the situation, indicators for the credibility of specific information or characteristics of untruthful statements. From the perspective of rhetoric, we can trace a long tradition of research on the persuasiveness of texts. More recently, strategies of impression management, the structure and effect of figurative language, as well as argumentative communication referring to the ethical dimension of argumentational integrity have been investigated. The development of both style and consciousness of an individual in its mutual interaction is relevant to a multitude of genres, e. g. ranging from love discourse to the structure of scientific journal articles. This clearly shows how stylistic and rhetorical approaches interpenetrate in psychology.
1. Frageperspektiven in Sprache, Denken, Kommunikation Wenn man nach den technischen Fachbegriffen der Stilistik und Rhetorik in der Psychologie Ausschau hält, so ergibt sich eine deutliche Asymmetrie. Die Rhetorik wird ⫺ zumindest von der konzeptuellen Substanz her ⫺ immer wieder direkt oder indirekt thematisiert, während das für die Stilistik ⫺ insbesondere vom konzeptuellen Zentrum der Sprachstilistik her (vgl. Fix 1990) ⫺ sehr viel weniger gilt. Das hängt damit zusammen, dass für die Relation von Psychostruktur und Sprachstil zunächst einmal die Ausdrucksfunktion zentral erscheint, die sich aber für einzelne Individuen (Autorstil) nur schwer empirisch sichern lässt, weswegen dieses Feld weitgehend der Linguistik überlas-
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sen wird. Empirisch zugänglicher erscheinen Sprachstilunterschiede zwischen Gruppen von Individuen (z. B. Geschlechtern, gesellschaftlichen Schichten etc.), für die aber kaum mehr eine Ausdrucksfunktion anzusetzen ist, sondern bei denen lediglich von symptomatischen Unterschieden ausgegangen werden kann. Damit aber geht es letztlich nur mehr um die Beschreibung (von Dimensionen) interindividueller Unterschiede, für die der generelle, eher unspezifische ,Stil‘-Begriff herangezogen wird (Denkstile etc.: s. 2). In diesem unspezifischen Sinne wäre dann allerdings die gesamte Differenzielle Psychologie (der interindividuellen Unterschiede) einschließlich großer Teile der Sozialpsychologie (Interaktions- und Kommunikationsunterschiede) dem Stil-Konzept subsumierbar. Neben der eigenschaftsorientierten Frageperspektive hat in der Psychologie der situationsorientierte Analyseansatz zunehmend an Gewicht gewonnen. Auf die Situation zurückbezogene Stilaspekte der Sprache weisen allerdings einen großen Überlappungsbereich mit der Rhetorik auf, weil es dabei immer auch um Wirkeffekte der sprachlichen Kommunikation geht. Diese Wirkungsdimension stellt seit der klassischen Rhetorik (vgl. Ueding 1976) den zentralen Ausgangspunkt rhetorischer Analysen dar (Gill/Whedbee 1997; Ueding 2000) ⫺ auch in der Psychologie. Dabei kann die amerikanische Persuasionsforschung der 1940er bis 70er Jahre zur Einstellungsänderung auf Grund von politischen Texten als die erste systematisch empirische, z. T. auch experimentelle Überprüfung klassischer Rhetorik-Postulate gelten. In der Folge hat sich der Problembereich rhetorisch relevanter Analyseperspektiven in der Psychologie dann allerdings weiter ausdifferenziert: So sind Aspekte der Glaubwürdigkeit des Kommunikators ausgearbeitet worden in Richtung auf eine Theorie der Selbstdarstellung (impression management); desgleichen haben die Fragen der Argumentqualität zu einer differenzierten Erforschung der argumentativen Kommunikation geführt (s. 3). Der Verlauf der Theorienentwicklung in der Psychologie ist zumeist durch den Dreischritt gekennzeichnet. Es wird mit Eigenschaftstheorien begonnen, dann erfolgt eine Kontrastierung durch situationstheoretische Modelle, die im letzten Schritt durch Interaktionstheorien aufgehoben wird, in denen die Wechselwirkung zwischen Persönlichkeitsmerkmal (trait) und Situationszustand (state) modelliert wird. Diese Abfolge lässt sich, zumindest ansatzweise, auch für den Problembereich der Stilistik und Rhetorik in der Psychologie erkennen, wobei die Interaktionsperspektive allerdings noch spezifische Charakteristika aufweist. Die Wechselwirkung bezieht sich nicht nur auf die Interaktion zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und Kommunikationszuständen, sondern auch auf die schon erwähnte Überlappung von stilistischen und rhetorischen Analyseperspektiven. Außerdem wird im Konzept der Interaktion zunehmend auch die Bidirektionalität der thematischen Wirkungen herausgestellt, z. B. bezüglich der (Rück-)Wirkung von Sprachstilen auf die Identitätsbildung von Einzelnen wie Gruppen, von rhetorischen Strukturen und Normen auf die Kommunikationskultur etc. Solche bidirektionalen Interaktionsdynamiken sind nicht ohne Einbeziehung normativer Aspekte beschreib- und erklärbar, weswegen im Bereich der Stilistik und Rhetorik auch die sprachkritische Perspektive eine essenzielle Dimension darstellt (s. 4).
2. Stilistik Die für die Psychologie nahe liegende Frage nach individuellen Autorstilen, die unter Einsatz quantitativer Beschreibungsverfahren identifizierbar sind, hat kaum Forschungs-
1858 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart anstrengungen auf sich gezogen; eine solche Analyseperspektive „lohnt“ sich sozusagen nur bei bekannten, z. B. literarischen Autoren und markiert daher einen interdisziplinären Überschneidungsbereich mit der empirischen Literaturwissenschaft (vgl. Rusch/ Schmidt 1983). Ähnlich verhält es sich mit stilstatistischen Analysen von Autorengruppen, Epochenstilen, Textsorten etc., die ihr Schwergewicht in der lingustischen Stilanalyse haben (z. B. Pieper 1979). Die interdisziplinäre Kooperativität ist auch Grundlage der Erforschung von Sprachstilunterschieden in der alltagssprachlichen Kommunikation, für die die Analyse geschlechterspezifischer Unterschiede ein paradigmatisches Beispiel darstellt. Die (Sprach-)Psychologie hat hier die linguistische Unterscheidung zwischen so genanntem weiblichen und männlichen Register mit einer Fülle von empirischquantitativen Überprüfungen unterfüttert und ausdifferenziert (vgl. Holmes/Meyerhoff 2005). Dabei wird der „weibliche“ Gesprächsstil auf höchstem Abstraktionsniveau als eher kooperativ, der „männliche“ als eher konkurrierend charakterisiert. Charakteristische Unterscheidungsmerkmale sind (vom männlichen Pol aus formuliert): Anzahl und Dauer von Redebeiträgen, Themeninitiierungen, unpersönliches Reden und aggressivpersönliche Äußerungen, außerdem weitgehendes Fehlen von beitragseinleitend-abschwächenden Partikeln sowie kooperativen Fragen (Schreier 1998). Dabei besteht von der Theoriemodellierung her Einigkeit, dass zur Erklärung dieser Stilunterschiede nicht das biologische Geschlecht (Sex), sondern das soziale Geschlecht (Gender) heranzuziehen ist, was allerdings bisher noch nicht zureichend empirisch belegt werden konnte ⫺ nicht zuletzt wegen des Mangels an differenzierten Erhebungsinstrumenten für das soziale Geschlecht. Die potenzielle Konstanz und Dynamik solcher Gesprächsstilunterschiede lassen sich auf der Grundlage der neueren medialen Entwicklungen besonders eindrucksvoll überprüfen, was der diesbezüglichen Forschung noch einmal einen erheblichen Schub verschafft hat. Denn zur elektronischen Kommunikation im Internet, sei sie zeitgleich oder zeitversetzt, gehört die Möglichkeit, sich eine fiktive Identität zuzulegen, was auch das biologische Geschlecht mit umfasst. Außerdem gelten elektronische Kommunikationsmöglichkeiten als prinzipiell ungebundener, wenn sich auch medienbedingt bestimmte Beschränkungen herausbilden, was etwa die Länge der Äußerungen und die Sprachebene angeht. Trotz dieser medialen Freiheiten zeigen einschlägige Untersuchungen von InternetKommunikationen, dass die geschlechterspezifischen Gesprächsstile weitgehend konstant bleiben (vgl. insbesondere Herring 1996; 2005). Männer setzen längere und häufigere Beiträge ab als Frauen, geben ihre Meinungen als Fakten aus, verwenden gröbere Sprache und interagieren eher konflikthafter als Frauen, die sich auch entschuldigen, anderen Teilnehmer/n/innen Unterstützung zukommen lassen sowie insgesamt konsensorientierter interagieren (Herring 2005). Gerade der Mangel an (disziplinierenden) Regeln führt ⫺ wie in anderen Lebensbereichen auch ⫺ dazu, dass der Stärkere, Aggressivere sich durchsetzt. Es kommt hinzu, dass die Möglichkeit des Spielens mit (Geschlechts-)Identitäten nur höchst selten genutzt wird, im Gegenteil: Die meisten Kommunikationsteilnehmer/innen brauchen anscheinend das Wissen um die Geschlechtsidentität des Gegenübers, um sich möglichst sicher zu fühlen (o. c.; O’Brien 1999; Kendall 1998), weswegen sie sich diesbezüglich durch Spitz- und Eigennamen, geschlechtertypische Interesseninhalte etc. auch selbst „outen“. Dabei spielen natürlich Geschlechtsstereotype eine Rolle, was sich insbesondere bei einem systematischen Spiel mit Geschlechtsidentitäten zeigt. Wenn Versuchsteilnehmer/innen angehalten werden, die
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eigene oder die entgegengesetzte Geschlechtsidentität zu realisieren, versuchen sie die vorgespielte Identität vor allem durch stereotype Inhalte nahezulegen, realisieren dabei aber durchaus den der Realität entsprechenden Gesprächsstil. Zugleich orientieren sich die Interaktionsteilnehmer/innen bei der Geschlechtszuschreibung vor allem an den geschlechtsstereotypen Inhalten und kommen auf diese Weise häufig zu Fehlzuschreibungen (Herring/Martinson 2004). Hinzu kommt, dass geschlechtsspezifische Unterschiede natürlich mit anderen Unterschiedsdimensionen in Verbindung stehen bzw. von diesen beeinflusst werden wie schichtspezifische oder dialektale Differenzen, was aber den Übergang zur eher soziolinguistischen Analyseperspektive markiert (Holmes/Meyerhoff 2005). Im engeren, dezidiert psychologischen Gegenstandsbereich dominiert das ganz generelle Stil-Konzept, das interindividuelle Unterschiede bezeichnet, die über die Sprachverwendung hinausgehen, und zwar vor allem in der kognitiven Dimension einerseits und der interaktiv-kommunikativen Dimension andererseits. In der kognitiven Dimension geht es um prototypische Varianten von Denkweisen, die Informationsverarbeitungsprozesse unter differenzialpsychologischer Perspektive strukturieren. Die seit den 1950er Jahren entwickelten zentralen Konzepte betreffen dabei (1) die Feldabhängigkeit vs. -unabhängigkeit (Fähigkeit, bei kognitiven Prozessen den Einfluss des Kontextes zu überwinden); (2) eingeengte vs. flexible Kontrolle (Anfälligkeit gegenüber Ablenkung); (3) Impulsivität vs. Reflexivität (unmittelbares, wenig überlegtes Handeln vs. abwägendes, Alternativen analysierendes Handeln); (4) kognitive Komplexität vs. Simplexität (viele, differenzierte Dimensionen der Informationsverarbeitung vs. wenige, undifferenzierte); (5) kognitive Strukturiertheit (mehrdimensionale, durchgearbeitete Geordnetheit der Denkprozesse vs. wenig durchgearbeitete, amorphe Struktur) (vgl. Huber/Mandl 1991; Petzold 1985). Unabhängig davon, dass die diagnostische Identifizierung dieser Stile und der Nachweis ihrer Wirksamkeit z. B. beim Problemlösen immer wieder Schwierigkeiten machen, markiert der dimensionale Stilbegriff theoretisch die Überwindung und Fortentwicklung des Typologie-Konzepts, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Persönlichkeitsforschung z. T. dominierend war. Während von den typologischen Systemen alle Personen in zwei oder drei große Kategorien eingeteilt wurden, ermöglicht es das dimensionale Stil-Konzept, die Einzelperson auf einer Vielzahl von Dimensionen (seien sie unipolar oder bipolar) zu beschreiben (vgl. Amelang/Bartussek 2001). Die so verstandene StilKonzeption ist denn auch in einer Fülle weiterer Problembereiche eingesetzt worden: von spezifischen kognitiven Problemfeldern (z. B. Attributionsstile: ob man z. B. zur subjektiven Erklärung von eigenen Leistungsergebnissen eher internale oder externale Ursachen heranzieht) bis zur Integration von Emotion und Kognition (represser vs. sensitizer: ob man Angst evozierende Reize eher unterdrückt oder besonders aufmerksam aufnimmt). Eine parallele Relevanz hat das Stil-Konzept allerdings auch im Bereich der sozialen Interaktionsprozesse entwickelt. Den Beginn markiert hier das Konzept des Führungsstils innerhalb der Gruppendynamik, bei dem bereits Lewin, Lippitt und White (1939) die Varianten autokratisch, demokratisch und laissez-faire unterschieden haben. Diese Differenzierung wurde später auf den Bereich von Unterricht und Erziehung generell
1860 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart übertragen, in dem sie z. T. anders benannt, aber konzeptuell vergleichbar modelliert wurden. Tausch und Tausch (1979) nehmen eine parallele Differenzierung sowohl für Unterrichts- als auch Erziehungsstile vor, nämlich autokratisch vs. sozial-integrativ vs. laissez-faire. Der autokratische Stil ist durch strenge, starke Reglementierung und Normierung von Seiten der Erziehenden und geringe Emotionalität gekennzeichnet, während der sozial-integrative Stil möglichst kooperative, ggf. auch reziproke, auf jeden Fall emotional expressive Aspekte aufweist. Eine Fülle von empirischen Effektstudien zeigt, dass in den meisten Fällen der sozial-integrative Interaktionsstil die positiveren Wirkungen hat, nicht zuletzt in Richtung auf soziale und emotionale Kompetenzen. Das gilt auch für die Kontrastierung zum laissez-faire-Stil, in dem die Kinder bzw. Jugendlichen sich selbst überlassen bleiben. Auch hier bietet die Stil-Konzeption die Möglicheit, neben den genannten noch weitere Dimensionen auszudifferenzieren und diese mit spezifischen Situationsaspekten (wie Lernzielen, Lerninhalten etc.) zu verbinden. Die zentrale Situationskategorie, die für die stilistische Analyse der Psychologie in Bezug auf die Sprachproduktion relevant ist, hat aber vor allem mit dem emotionalen Zustand des Sprechers/der Sprecherin zu tun. Das gilt schon für früheste Arbeiten über den Diversifikationsquotienten (Anzahl verschiedener Wörter zur Gesamtzahl der Wörter) in Abhängigkeit z. B. von Stress, sei es in existenziell bedrohlichen Situationen wie Suizidalität oder in kommunikativen Konfliktsituationen (Osgood/Walker 1959). Und auch bei der Auflösung von ursprünglich als persönlichkeitsbedingt postulierten Stilmerkmalen in Richtung auf Situationsbedingtheit spielt die emotionale Zuständlichkeit eine Rolle. Ein paradigmatisches Beispiel bietet hier der sog. dogmatische Stil, der ursprünglich von Ertel (1972) als Charakteristikum dogmatischen Denkens aufgefasst wurde. Dogmatismus als Persönlichkeitsvariable soll sich danach auch in einer symptomatischen Wortwahl niederschlagen, die ein besonders hohes Maß an Schwarz-WeißDenken, an Überzeugungskohärenz etc. repräsentiert. Entsprechende Dogmatismus anzeigende Lexeme werden in sechs Kategorien expliziert: Häufigkeit, Dauer, Verbreitung (immer, niemals vs. häufig, meistens); Menge, Anzahl (alle, keiner vs. manche, wenige); Ausmaß, Grad (prinzipiell, ganz und gar vs. ziemlich, relativ); Gewissheit (zweifellos, eindeutig vs. vielleicht, fraglich); Einschließung/Ausschließung, Geltungsbereich (ausschließlich, allein vs. außerdem); Notwendigkeit/Möglichkeit (müssen, nicht dürfen vs. können, dürfen) (Günther 1987). Eingehendere Analysen dieser Stilmerkmale konnten dann allerdings wahrscheinlich machen, dass damit weniger habituelle Persönlichkeitsmerkmale (wie Dogmatismus) als eher situative Aspekte (wie das Schreiben aus einer Minderheitenposition heraus und eine damit z. T. zusammenhängende hohe emotionale Beteiligung) indiziert werden (o. c.). Diese Akzentuierung der intrapsychischen Verarbeitung von Situationsaspekten stellt eine psychologische Ergänzung zu den eher linguistischen Situationskategorisierungen dar, die vor allem mehr oder minder institutionalisierte Situationsund damit Stil-Kategorien thematisieren, wie z. B. bürokratische Sprache, Sprache von Sportübertragungen, Sprache in Erziehungskontexten (vgl. Ferguson 1983; Gunnarsson 1997). Für die situationsorientierte (Sprach-)Stilistik in der Psychologie ist allerdings die Perspektive der Sprachrezeption insgesamt ungleich wichtiger. Innerhalb der Forensischen Psychologie hat z. B. die Frage eine lange Tradition und große Praxisrelevanz, ob man an bestimmten Stilmerkmalen erkennen kann, dass eine Aussage der Wahrheit entspricht (oder nicht). Dabei beziehen sich die Glaubwürdigkeitsindikatoren („Realitätskriterien“) natürlich nicht nur, aber auch auf Sprachmerkmale, und hier insbesondere
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auf solche des semantischen Inhalts (vgl. die Systeme von Undeutsch 1967 bis Köhnken 1990). Umfangreiche Validitätsuntersuchungen zeigen, dass bestimmte Stilmerkmale, wie z. B. Konsistenz, quantitative Detaillierung, kontextuelle Einbettung, überflüssige Einzelheiten, unvorhergesehene Komplikationen, externe Assoziationen (vgl. Schreier 1997), durchaus als brauchbare Indikatoren für die Glaubwürdigkeit einer (Zeugen-)Aussage angesetzt werden können. Komplementär lassen sich ⫺ wenn auch nicht mit gleicher Sicherheit ⫺ Unglaubhaftigkeitsmerkmale herausarbeiten, z. B. Antwortlänge, syntaktische Komplexität, Diversifikation, Wiederholungsrate, Sprechgeschwindigkeit, Wortfragmente, Floskeln (o. c.). Die die Alltagskommunikation generell betreffende parallele Frage wird vom Forschungsparadima der Lügendetektion gestellt, das nach Indikatoren für die Unwahrheit nicht nur im Sprachspiel, sondern auch in Mimik, Gestik, Körperhaltung etc. sucht. Die Wahrscheinlichkeit solcher Indikatoren ist nicht zuletzt deshalb gegeben, weil das menschliche Kognitionssystem in dieser Situation durch eine zweifache Täuschungsabsicht belastet und z. T. überlastet wird: durch die primäre Täuschungsabsicht, unwahre Inhalte zu kommunizieren, und durch die sekundäre (metakommunikative) Täuschungsabsicht, sich dabei als aufrichtig darzustellen (Köhnken 1990). Aus der Vielzahl der auf Körperbewegungen, Gestik, Mimik, paraverbales und verbales Verhalten ausgerichteten Indikatoren konnten auch hier ⫺ durch Metaanalyse eines umfangreichen Forschungskorpus ⫺ bestimmte Merkmale als valide Lügenindikatoren gesichert werden. Für das Sprachverhalten sind das die Merkmale Verzögerungen, Sprechstörungen, Antwortlänge und Stimmhöhe, und bei den inhaltlichen Aspekten sind es Merkmale wie negative Äußerungen, Unmittelbarkeit, irrelevante Angaben und Übergeneralisierungen sowie vor allem auch Kanaldiskrepanzen zwischen gestischer/mimischer, paraverbaler und verbaler Botschaft (vgl. Schreier 1997). Da beim Lügen allerdings sprachliche (Stil-)Merkmale mit einer polyvalenten Wirkungsabsicht (nämlich dass das Gegenüber die Lüge für die Wahrheit halten soll) eingesetzt werden, liegt hier bereits der Übergang zur Rhetorik mit dem Fokus auf der Relation von sprachlicher Form und deren Wirksamkeit vor.
3. Rhetorik Die bekannteste und älteste Forschungsperspektive in der Psychologie, die dem Problembereich der Rhetorik zugeordnet werden kann, ist die auf Texte bezogene Persuasionsforschung, in der es vor allem um deren Wirkung für die Einstellungsänderung der Rezipienten/innen geht. Da das Einstellungskonzept traditionell kognitive, emotionale und conative, d. h. handlungsorientierte Aspekte umfasst, kann man hierin die klassischen rhetorischen Wirkungsfunktionen (Ueding 1995) der Belehrung (docere), des emotionalen Genusses (delectare) und der (Handlungs-)Motivierung (movere) abgedeckt sehen. Auf Seiten der Bedingungsvariablen hat, insbesondere in der Frühzeit der Textwirkungsforschung (1940er und -50er Jahre), sicher kein systematischer Bezug auf rhetorische Modelle stattgefunden, sondern die Rhetorik hat sich lediglich als ,abgesunkenes Kulturgut‘ in Form alltagspsychologischer Reflexionen ausgewirkt. Daher sind neben den im engeren Sinne rhetorischen Text- qua Botschaftsvariablen auch die Sender-, Empfänger-, Situations- und Wechselwirkungsvariablen zwischen diesen Kategorien im Einzelnen untersucht worden. Auch hier kann die Fülle empirischer Untersuchungen aus ca. 50 Jah-
1862 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart ren nurmehr in Form sekundärstatistischer Metaanalysen systematisch zusammengefasst werden (vgl. Drinkmann/Groeben 1989). Diese systematische Integration belegt bei den Botschaftsvariablen z. B. die Wirksamkeit der Anzahl von Argumenten und der Argumentqualität in einem Text, nicht jedoch die gern kolportierte Überlegenheit von zweiseitiger vs. einseitiger Argumentation. Furchtevozierung durch die Botschaft hat einen überzufälligen (wenn auch nicht sehr starken) einstellungsändernden Effekt, während für die Reihenfolge der Argumente und die Strukturiertheit der Botschaft keine systematischen Effekte nachweisbar sind. Ebenfalls in der rhetorischen Tradition zu verstehen sind die beiden relevanten Faktoren der Vertrauenswürdigkeit und Liebenswürdigkeit auf Seiten des Senders. Dogmatismus auf Rezipientenseite schränkt die Persuasionswirkung ein, während Stress bei der Textrezeption sie erhöht (Drinkmann/Groeben 1989). In der neueren Forschung wird auch expliziter auf rhetorische Figuren eingegangen, so z. B. auf die Rolle der rhetorischen Frage für den Persuasionseffekt. Hier zeigt sich, wie es im Prinzip bei allen rhetorischen Einzelaspekten zu erwarten ist, dass eine Interaktion mit anderen Merkmalen besteht (vgl. Roskos-Ewoldsen 2003): Rhetorische Fragen können (nicht zuletzt auch über damit verbundene Bewertungsaspekte: Howard 1990) die Verarbeitungstiefe der Botschaft (und damit auch den persuasiven Effekt) steigern, sie können aber auch die Aufmerksamkeit auf die Glaubwürdigkeit des Senders lenken und dadurch über Reaktanzeffekte die Persuasionswirkung schwächen (Ahluwalia/ Burnkrant 2004). Von welchen weiteren Rahmenbedingungen (z. B. der emotionalen Involviertheit auf Rezipientenseite) solche differenziellen Wirkungen abhängen, ist allerdings noch weitgehend ungeklärt. Spezifische Anwendungen der Persuasionsforschung auf den Bereich der Werbung z. B. zeigen, dass insbesondere rhetorische Figuren (wie Metapher, Ironie, witzige Pointen) zu einer größeren Akzeptanz des Werbungsinhaltes einschließlich eines besseren Behaltenseffekts führen (McQuarrie/Mick 1996). Interessanterweise lässt sich dies auch für parallele visuelle Strukturen nachweisen (vgl. Durand 1987; McQuarrie/Mick 2003), was ein weites, generelles Forschungsfeld der visuellen Rhetorik eröffnet (vgl. Forceville 1996; Kenney/Scott 2003). Neben der Ausdifferenzierung der rhetorischen Sprach- bzw. Textmerkmale auf der Bedingungsseite ist aber auch die Spezifizierung auf der Effektseite der persuasiven Wirkung möglich. Ein paradigmatisches Beispiel stellt hier die Verantwortlichkeitsattribution (alltagssprachlich Schuldzuschreibung) dar, die von der Wortwahl bei der Beschreibung von Ereignissen und Personen beeinflusst werden kann. Das linguistische Kategorien-Modell (Semin/Fiedler 1988; 1991) unterscheidet hier vier Wortklassen, die sich nach Konkretheit/Abstraktheit unterscheiden und so unterschiedliche Ursachen auf der Dimension Situationalität vs. Dispositionalität (Persönlichkeitseigenschaften) nahelegen: deskriptive Handlungsverben (z. B. schlagen, treten) beziehen sich auf konkrete spezifische Verhaltensepisoden; interpretative Handlungsverben (z. B. helfen, ermuntern) gehen über die Beschreibung dieser Episode hinaus und enthalten häufig eine wertende Komponente; Zustandsverben (z. B. lieben, hassen) beschreiben psychische Zustände, die nicht direkt beobachtbar, sondern nur inferierbar sind; Adjektive (z. B. aggressiv, ehrlich) beziehen sich auf erschlossene Eigenschaften von Personen, Gruppen etc. Die Verwendung dieser Wortkategorien vermittelt implizite Informationen über die sprecherseitig angenommene Ursachenlokalisation, da konkrete Verhaltensbeschreibungen eine geringe Stabilität des Verhaltens und damit Situationsbedingtheit signalisieren, während abstrakte Verhaltensbeschreibungen eine hohe Stabilität anzeigen, die durch überdauernde Persön-
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lichkeitseigenschaften zustande kommt. Mit der Wortwahl werden also unterschiedliche Verantwortlichkeitszuschreibungen nahegelegt, indem durch adjektivische Beschreibungen bei problematischem Verhalten den beteiligten Personen die Schuld zugeschrieben wird, während konkrete Verhaltensbeschreibungen von Schuld entlasten und das Handeln auf die Situationsdynamik zurückführen. Einschlägige Validierungsuntersuchungen haben gezeigt, dass schon Kinder diese Dispositionalitätsstrategie erlernen, die vor allem gegenüber Personen, die nicht der eigenen Gruppe zugehören, eingesetzt wird (vgl. zusammenfassend Englich 2001). Und auch in juristischen Plädoyers ist die Dispositionalitätsstrategie erfolgreich, weil sie zu höheren Schuldzuschreibungen und Strafzumessungen führt (o. c.). Noch „psychologischer“ erscheint der Fall, dass rhetorische Strategien nicht zur Beeinflussung des Gegenübers in Bezug auf bestimmte inhaltliche Themen eingesetzt werden, sondern mit dem Ziel, für die eigene Person einen möglichst guten Eindruck zu erzielen; dies ist das Thema der Selbstdarstellungstheorie (impression management). Deren Ausgangsthese ist, dass Personen bewusst oder unbewusst den Eindruck, den sie auf andere in realen oder vorgestellten sozialen Interaktionen machen, zu kontrollieren versuchen (Schlenker 1980; Mummendey 2002). Dabei kann man zwischen kurzfristigen impression-management-Taktiken und langfristigen Strategien unterscheiden, desgleichen zwischen positiven und negativen Techniken (o. c.). Bei den positiven Techniken steht die Demonstration eigener Vorzüge im Mittelpunkt, sei es durch Herausstellung von Leistungen, Titeln, durch Selbstwert-Explikation oder -Erhöhung, durch Herausstreichen von Kontakten mit anerkannten Personen, Gruppen, durch Betonung der eigenen Kompetenz, von Expertentum, Glaubwürdigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Attraktivität, durch demonstrative Offenheit (self-disclosure) oder sich-einschmeichelnde Übernahme der Bewertung des Gegenübers. Bei den negativen Techniken setzt man sich selbst herab, um so beim Gegenüber trotzdem eine positive Sicht zu erreichen, indem man z. B. eigene Handicaps herausstreicht, sich als hilfsbedürftig präsentiert etc. Es gibt allerdings auch konkurrenzorientierte Negativtechniken wie die Abwertung oder Einschüchterung anderer (o. c.). Auch in diesem Bereich existiert eine Fülle von empirischer Forschung zur Relation von Selbstdarstellungstechniken und den zu Grunde liegenden Zielsetzungen sowie den damit bewirkbaren Effekten. Dabei kann man zwischen den direkten Zielsetzungen der Eindrucksbildung und der Demonstration sozialer Kompetenz einerseits sowie den Metazielen des Erweckens oder Wiederherstellens eines Integritätseindrucks andererseits unterscheiden (Metts/Grohskopf 2003). Für das Metaziel des Integritätseindrucks lassen sich spezifische Techniken wie vorsorgliches Abschwächen (disclaimers: Ich möchte nicht unhöflich sein, aber …), salvatorische Klauseln (Ich kann mich irren, aber …) einsetzen bzw. zur Wiederherstellung von Integrität vor allem Entschuldigungen oder Rechtfertigungen (vgl. im Einzelnen Metts/Grohskopf 2003). Insbesondere in (Wirtschafts-)Organisationen ist die Wirksamkeit dieser Strategien nachgewiesen (Mummendey 2002), wobei wiederum deutliche Geschlechterunterschiede feststellbar sind: Frauen akzentuieren auch bei der Selbstdarstellung eher die sozial-kooperativen Kompetenzen, Männer demonstrieren eher Selbstvertrauen (o. c.). Ein nicht unwichtiger Effekt der Selbstdarstellungsstrategien ist die Rückwirkung auf das eigene Selbstwertgefühl. Erfolgreiches impression management führt über das soziale feed-back der Gegenüber zur Erhöhung des eigenen Selbstwertgefühls; z. T. tritt diese Erhöhung aber auch schon durch die bloße Produktion der Selbstdarstellungsstrategien ein (o. c.; Leary 2004). Eine erhebliche und vielversprechende Ausweitung erfährt auch dieses Forschungsfeld durch die online-Kommunikation. Die Erstellung von persönlichen Webseiten kann z. B.
1864 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart als Prototyp einer Selbstdarstellung angesehen werden (Schau/Gilly 2003). Dabei wird künftig nicht nur zu klären sein, welche aus der face-to-face-Kommunikation bekannten Selbstdarstellungsstrategien auch in der elektronischen Kommunikation eingesetzt oder ggf. modifiziert werden, sondern auch, welche Strategien eventuell neu hinzukommen. Es ist außerdem denkbar, dass das neue Medium die Ausgangssituation z. T. grundlegend verändert, z. B. schüchterne Menschen zumindest partiell von ihren Hemmungen befreien kann (vgl. Stritzke/Nguyen/Durkin 2004). Nach der sog. kognitiven Wende in der Psychologie (Anfang der 1970er Jahre) wurden auch in der Sprachpsychologie komplexere Gegenstände (als es sinnlose Silben, Paarassoziationen etc. sind) bearbeitet, die einen direkten Bezug zur Geschichte und zu den theoretischen Modellen der Rhetorik aufweisen. Das betrifft zum einen die figurative Sprache als Kernbereich der rhetorischen Figuren, zum anderen das Argumentieren als (besonders) rationale Variante persuasiver Kommunikation. Im Bereich der figurativen Sprache hat sich ein Teil klassischer Rhetorikpostulate empirisch-experimentell validieren lassen, ein Teil war zu modifizieren bzw. zu ersetzen (vgl. Überblick bei Gibbs 1994). Ein paradigmatisches Beispiel ist die Explikation von Ironie als uneigentlich-kontrastiver Sprechakt (Groeben/Scheele 1986), worunter sich die rhetorischen Verfahren das Gegenteil sagen, etwas anderes sagen sowie Lob durch Tadel (bzw. Tadel durch Lob) ausdrücken präzisierend subsumieren lassen. Ein Großteil der heutigen sprachpsychologischen oder psycholinguistischen Forschung stellt allerdings Ausdifferenzierungen rhetorischer Ausgangsmodelle (so z. B. die Präzisierung der Ähnlichkeitsrelation bei Metaphern: vgl. Christmann/Scheele 2001) bzw. Fortentwicklungen von Fragestellungen dar, die mehr generelle Relevanz für die Aufklärung der kognitiven Informationsverarbeitung als für rhetorische Wirksamkeitsdimensionen haben. Ein typisches Beispiel ist hier die Kontroverse, ob bei figurativer Sprache (notwendigerweise) zunächst die wörtliche Bedeutung und erst dann die figurative verstanden wird oder ob dies nur für bestimmte Fälle (z. B. nicht-konventionalisierte figurative Sprache) und für andere (z. B. konventionalisierte Formen figurativer Sprache) nicht gilt (vgl. das Salienz-Modell von Giora 2003; Überblick bei Groeben/Scheele 2003; Groeben/Christmann 2003). Vollständiger innerhalb der Kategorie rhetorischer Problemperspektiven verbleibt dagegen die Forschung zur Argumentation als Variante rationaler Kommunikation. Denn die Argumentationstheorie ist neben der häufig bekannteren Figurenlehre und Stiltheorie ein konstitutives Element der klassischen Rhetorik (Ottmers 1996) ⫺ ein Element zudem, das die klassische Persuasionsperspektive mit dem aufklärerischen Impetus rationaler Begründung zu verbinden vermag (Campbell 1996). Insofern repräsentiert die Argumentation als rationale Kommunikation das Bild eines reflexiven, rationalen, konsensfähigen und -orientierten Subjekts als Gegenpol zu dem eher rezeptiv-reaktiven Menschenbild der frühen Persuasionsforschung (o. c., Billig 1996). Das zentrale Ziel des Argumentierens ist also (in der Kant’schen Unterscheidung) das Überzeugen, nicht das Überreden. Dem entsprechen auch die modernen Definitionen von Argumentieren, die einen strittigen Sachverhalt als Ausgangspunkt ansetzen, über den in partnerbezogener Auseinandersetzung durch rationale Überzeugungsstrategien ein Konsens gefunden werden soll (Hofer 2003). Eine Approximation an die Habermas’sche kontrafaktische Konzeption der idealen Sprechsituation besteht darin, dass alle Beteiligten zwar ihre persönliche Position als allgemein akzeptierte durchsetzen wollen, dies aber nur über den „merkwürdig zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Habermas 1984), was die Bereitschaft impliziert, sich ggf. auch dem besseren Argument des Gegenübers anzuschließen.
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Dabei erschöpft sich die Rationalität des argumentativen Vorgehens keineswegs in der Anwendung logischer (z. B. informationserhaltender) Schlussverfahren; vielmehr geht es um die situationsadäquate Herleitung informationsgenerierender Schlüsse (vgl. Toulmin 1975). Das impliziert u. a. auch, dass es sich bei der alltagskommunikativen Argumentation um informelle, unvollständige Argumente handelt (Enthymene in der klassischen Rhetorik), bei denen vorausgesetzte gemeinsame Wissensteilmengen (vor allem als Prämissen) zu ergänzen sind (o. c.), und zwar in sequenzieller, aufeinander aufbauender Gegenseitigkeit. Die empirische Forschung zeigt, dass dies nicht durchweg gelingt (Kuhn 1991). So bringt fast die Hälfte der Untersuchten nur Pseudo-Beweise vor, hat Schwierigkeiten, adäquate Gegenargumente zur eigenen Position sowie Gegen-Gegenargumente zu produzieren. Argumentieren stellt also ⫺ sicherlich in Abhängigkeit vom Bildungsgrad ⫺ immer auch ein Entwicklungs- oder Lernziel dar (Hofer 2003). Argumentativität ist damit zum einen eine Eigenschaft von kommunikativen Diskursen, zum anderen aber auch ein Kompetenz-Merkmal von Individuen, das mit dem Bedürfnis nach kognitiver Durchdringung (need for cognition), verbaler Intelligenz und Rumination in Zusammenhang steht (vgl. Blickle 1995). Im Optimalfall resultiert aus erfolgreichen Argumentationen nicht nur aktuell eine konstruktive Einigung, die einen Interessensausgleich zwischen den Beteiligten enthält (Hofer 2003; Schreier 2003), sondern auch langfristig ein Vertrauen in die rationale und kooperative Lösung von Konflikten (o. c.). Das ist der Grund dafür, warum argumentative Redlichkeit trotz des anfänglichen Zeitaufwandes auch für die nutzenorientierte Organisationskultur von Wirtschaftsunternehmen durchaus zielführend ist (Blickle 1994). Deshalb hat sich gerade in neuester Zeit auch eine wachsende Forschung zur Rolle von Argumentation in Management-Krisen entwickelt (Heath/Millar 2004). Sowohl unter zweckrationaler wie wertrationaler Perspektive stellt sich damit die normative Frage nach dem ,richtigen‘ Argumentieren als Ethik einer Kommunikation (Johannesen 1990). Von der (Pragma-)Linguistik aus haben van Eemeren/Grootendorst (1992) ein pragma-dialektisches Modell entwickelt, das zehn übergeordnete Regeln für die verschiedenen Argumentationsphasen angibt, die eine möglichst rationale Klärung von Positionsunterschieden ermöglichen sollen. Von psychologischer Seite aus ist das Konzept der Argumentationsintegrität entwickelt worden (Groeben/Schreier/Christmann 1993), das die Rationalität und Kooperativität von Argumentation als oberste Zielkriterien ansetzt, die sich in den vier Normen der formalen Gültigkeit von Argumenten, der Aufrichtigkeit, der inhaltlichen und der prozeduralen Gerechtigkeit manifestieren. Die Befolgung dieser Normen ist durch Integritätsstandards zu sichern, die angeben, welche ethisch problematischen Kommunikationsstrategien zu unterlassen sind. Es handelt sich dabei um die folgenden elf Integritätsverletzungen: ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
Stringenzverletzung, Begründungsverweigerung, Wahrheitsvorspiegelung, Verantwortlichkeitsverschiebung, Konsistenzvorspiegelung, Sinnentstellung, Unerfüllbarkeit, Diskreditieren, Feindlichkeit, Beteiligungsbehinderung und Abbruch,
1866 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart für die jeweils ein Korpus von prototypischen Strategien expliziert und empirisch überprüft worden ist. Da ,Argumentation‘ auch in der alltagspsychologischen Reflexion ein Wertkonzept darstellt, wird eine Verletzung dieser Standards zu einem nicht geringen Teil auch in der Alltagskommunikation bemerkt und (bei Kombination bestimmter Schweregrade der Verletzung und Bewusstheitsgrade der Realisierung) dem Gegenüber zum Vorwurf gemacht (vgl. Überblick über das Modell in Groeben/Christmann 2005). Die Struktur dieser kommunikativen Ethik entspricht damit ⫺ empirisch validiert ⫺ prinzipiell der moralischen Bewertung von Handlungen, wie sie für unser Rechts- und Gesellschaftssystem generell konstitutiv ist. Die argumentative Ethik der Kommunikation stellt ein Beispiel für die normative Perspektive der Sprachkritik dar, die gerade im interdisziplinären Schnittbereich von Linguistik und Psychologie eine Vielzahl von Problemfällen bearbeitet hat. Eine klassische normative Ausgangsperspektive enthält dabei z. B. der genderorientierte feministische Analyseansatz. In Bezug auf Argumentationen wird hier die Überwindung des Persuasionsimpetus in Richtung auf Kooperation und Teilhabe postuliert („invitational rhetoric“: Herrick 2001, passim). Ein Bereich, in dem die Sprachpsychologie die empirische Validierung einer feministischen These geleistet hat, ist das Genus-Sexus-Problem. Es handelt dabei um die von der feministischen Linguistik in Spezifizierung der linguistischen Relativitätsthese (Sapir-Whorf, vgl. Whorf 1963) postulierte Annahme, dass das Denken an Frauen durch das generische Maskulinum behindert wird (vgl. Scheele/Rothmund 2001). Die normative Perspektive wird vor allem durch die sog. Heilungsvarianten einer nicht-sexistischen Sprache repräsentiert, deren (differenzielle) Brauchbarkeit ebenfalls empirisch gesichert werden konnte (vgl. o. c.; Rothmund/Scheele 2004: vor allem Schrägstrich-Splitting und Neutralisierung durch übergreifende Nomen wie Personen, aber nicht durch Versalien-I). Innerhalb einer sozial-konstruktivistischen Perspektive sind diese Ergebnisse subsumierbar unter den generellen Ansatz des doing gender, d. h. dass das soziale Geschlecht als soziale Identität auch und nicht zuletzt durch sprachliche Kommunikation hergestellt, konstruiert wird (z. B. Weatherall/Gallois 2005). Neben der Gender-Problematik gibt es in diesem Überschneidungsbereich von Linguistik und Psychologie aber noch eine Fülle weiterer Problemfelder, die ⫺ mit normativkritischem Impetus ⫺ vor allem von der kritischen Diskursanalyse aufgearbeitet worden sind: ethnische Vorurteile, Rassismus, Autoritarismus, Neue Rechte etc. (z. B. Fairclough/Wodak 1997).
4. Wechselwirkungsdynamiken Die sprachkritische Perspektive enthält im Prinzip bereits die Annahme von Rückkopplungsprozessen, die für die neueren Theorieentwicklungen im Bereich der psychologischen Stilistik und Rhetorik symptomatisch sind. Sprache ist nicht nur Ausdruck und damit Instrument des Denkens, hat nicht nur als soziale Kommunikation bestimmte Wirkeffekte, sondern wirkt auch zurück auf die Kommunizierenden, und das in einem fortlaufenden, sich verstärkenden Prozess. Insofern kann man von einer Wechselwirkungsdynamik im Sinne bidirektionaler Abhängigkeiten sprechen, was z. B. für Diskursstile, seien es Gender- oder Schicht- oder Regionalstile, unmittelbar einsichtig ist (vgl. Sandig/Selting 1997). Neben diesen eher soziolinguistischen Phänomenen geht es in
110. Rhetorik und Stilistik in der Psychologie
1867
der Psychologie vor allem um bestimmte Sprachspiel- bzw. Textgenres. So zeigt z. B. die historische Distanz, dass der Liebesdiskurs (zumal seit der bürgerlichen Individualisierung und Intimisierung der romantischen Liebe) von den Beteiligten immer als höchst individuell empfunden wird, obwohl er in großem Ausmaß sozial geprägt, d. h. sowohl vom Zeitgeist angeregt als auch beschränkt ist (Mees 1991). In gleicher Weise lassen sich für eine Fülle von Textgenres Entwicklungen nachweisen, in denen im Sinne der Wechselwirkungsdynamik das Genre seinerseits eine prägende, sozialisierende Kraft entwickelt. Ein paradigmatisches Beispiel stellt (in Selbstanwendung) das Genre des wissenschaftlichen Aufsatzes dar, in dem stilistische wie rhetorische Analyseperspektiven relevant sind. Insbesondere die Entwicklung der Textsorte ,empirisch-experimenteller Artikel‘ ist ein Problemfeld, in dem die Psychologie auch als Gegenstandsbereich relevant ist (vgl. Bazerman 1988). Generell zeigt die Entwicklung eine Verschiebung des Publikationsschwergewichts vom Buch zum (experimentellen) Zeitschriftenartikel, dessen sozialisatorisch-disziplinierende Funktion noch durch das peer-review-Verfahren verstärkt wird (Gross 1996). Dabei ist auch mit dem wissenschaftlichen Artikel durchaus eine Persuasionsintention verbunden (Prelli 1989), die sehr wohl das Vorkommen rhetorischer Strukturen und Figuren erwarten lässt. Das gilt z. B. für metaphorische Bilder, obwohl die Wissenschaftstheorie lange Zeit eine präzise Fachsprache ohne solche „übertragenen Bedeutungen“ propagiert hat. In der Psychologie lässt sich unabhängig von diesem normativen Selbstverständnis eine durchgehende Geschichte theoriekonstituierender Metaphern nachweisen: vom Dampfkessel-Modell der Freud’schen Trieblehre bis zum Computer-Modell des menschlichen Geistes in der heutigen Kognitiven Psychologie (vgl. Leary 1990). Der wissenschaftliche und der literarische Diskurs sind also keineswegs so strikt getrennt (Locke 1992), wie meist behauptet wird. Andererseits ist die formale Struktur der Textsorte ,wissenschaftlicher Zeitschriftenartikel‘ zunehmend (nach naturwissenschaftlichem Vorbild) festgelegt und geschärft worden (Bazerman 1988). Die Grundstruktur ist durch unverzichtbare Abschnitte festgelegt: Titel, Abstract, Einleitung/Problemstellung, Methoden, Ergebnisse, Diskussion. Die zunehmende Kodifizierung lässt sich in der Psychologie sehr deutlich am ,Publication Manual‘ der American Psychological Assoziation nachweisen, das mittlerweile ein mehrere hundert Seiten umfassendes Kompendium ist (o. c.). Dabei ergeben sich für die einzelnen Teile noch differenzierte Binnenstrukturierungen. Für die Einleitung sind das z. B. folgende Schritte: das Territorium abstecken, eine Nische (offene Frage) etablieren, die Nische besetzen (vgl. Swales 1990). Der Methodenteil ist besonders „objektivistisch“ (z. B. mit Passiv-Konstruktionen) darzustellen, er muss die für Replikation und Kritik notwendigen Informationen enthalten, so dass wegen der generellen Umfangsbeschränkung nicht selten ein kleinerer Schrifttyp gewählt wird (o. c.; Berkenkotter/Huckin 1995). Die Diskussion enthält eine Zusammenfassung der Ergebnisse, die Rückbindung an Theoriemodelle und bisherige empirische Forschung sowie offene Forschungsfragen (Swales 1990). Abgesehen von diesen strukturellen Aspekten lassen sich historische Entwicklungen derart nachweisen, dass die Artikellänge immer einheitlicher (kurz) wird, die Literaturangaben werden weniger und müssen maximal aktuell sein etc. (o. c.). Auch hier sind natürlich kritische Perspektiven möglich, so z. B. in Bezug auf die lange Zeit völlig überzogene und wissenschaftstheoretisch ungerechtfertigte Rhetorik des überinterpretierten Signifikanztests (McCloskey 1998). Das Entscheidende in unserem Zusammenhang ist, dass diese kodifizierte Textstruktur zugleich auch eine Sozialisationsinstanz für die Wissenschaftler/innen selbst ist. Man muss sie erfüllen, wenn man mit zur jeweiligen (histo-
1868 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart risch-räumlich umschriebenen) Scientific Community gehören will (Berkenkotter/Huckin 1995; Locke 1992). Damit ist allerdings nur ein für die Wissenschaft besonders hervorstechendes Beispiel von in Stil bzw. Rhetorik enthaltener sozialer Konstruktionsdynamik genannt. Parallele Dynamiken lassen sich für fast alle Diskursbereiche ansetzen: angefangen beim Erziehungsdiskurs über den Verwaltungs- und Rechtsdiskurs bis hin zum medizinischen Diskurs (Gunnarsson 1997). Diese Dynamiken sind so durchgreifend, dass auf höchstem Abstraktionsniveau festzustellen ist, dass alle Lebensbereiche von narrativen Strukturen durchzogen sind. Die Psychologie des autobiografischen Gedächtnisses z. B. hat immer wieder nachweisen können, dass wir unsere eigene Lebensgeschichte nach den narrativen Strukturen, in die wir hineinsozialisiert worden sind, strukturieren und memorieren (Kerby 1991; Quigley 2000). Letztlich ist unsere gesamte (Selbst-)Identität durch diese narrativen Strukturen bestimmt; ja, unser gesamtes Rechts- und Sozialsystem baut auf der im narrativen Handlungssprachspiel enthaltenen Konzeption des freien Willens auf (Cranach/Foppa 1996). Die zentrale Existenzweise des reflexiven Subjekts Mensch ist die Generierung von sozialen sowie insbesondere kulturellen Bedeutungen ⫺ und diese Bedeutungen haben narrative Strukturen. Wenn man also die Ebene der sozialen, kulturellen Bedeutungen als konstitutiven Gegenstand einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Psychologie ansetzt, dann handelt es sich um eine Psychologie der Narrationen, wie sie z. B. von Bruner (1990) konzipiert und postuliert worden ist. Das würde nach der kognitiven Wende der 1970er Jahre eine diskursive Wende (Quigley 2000) bedeuten, in der Stilistik und Rhetorik für die Psychologie zentrale gegenstandskonstituierende Zugangsweisen darstellen.
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Schreier, Margrit (2003): Rationalität: Individuelle, ,schmale‘ und soziale, ,breite‘ Rationalität. In: Norbert Groeben (Hrsg.): Zur Programmatik einer sozialwissenschaftlichen Psychologie. Band II. 2. Halbband. Münster, 107⫺232. Semin, Gyn/Klaus Fiedler (1988): The Cognitive Functions of Linguistic Categories in Describing Persons: Social Cognition and Language. In: Journal of Personality and Social Psychology 54 (4), 558⫺568. Semin, Gyn/Klaus Fiedler (1991): The Linguistic Category Model, its Bases, Applications and Range. In: Wolfgang Stroebe/Miles Hewstone (eds.): European Review of Social Psychology. Chichester, 1⫺30. Stritzke, Werner/Anh Nguyen/Kevin Durkin (2004): Shyness and Computer-Mediated Communication. In: Media Psychology 6, 1⫺22. Swales, John (1990): Genre Analysis. Cambridge. Tausch, Reinhard/Anne-Marie Tausch (1979): Erziehungspsychologie. Göttingen. Toulmin, Stephen (1975): Der Gebrauch von Argumenten. Kronberg. Ueding, Gert (1976): Einführung in die Rhetorik. Stuttgart. Ueding, Gert (1995): Klassische Rhetorik. München. Ueding, Gert (2000): Moderne Rhetorik. München. Undeutsch, Udo (1967): Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Aussagen. In: Udo Undeutsch (Hrsg.): Forensische Psychologie. Göttingen, 26⫺181. Weatherall, Ann/Cindy Gallois (2005): Gender and Identity. In: Holmes/Meyerhoff (2005), 487⫺ 508. Whorf, Benjamin L. (1963): Sprache ⫺ Denken ⫺ Wirklichkeit. Reinbek.
Norbert Groeben, Heidelberg (Deutschland)
111. Rhetoric and stylistics in social/cultural anthropology 1. 2. 3. 4.
Basic concepts History and current trends Salient findings Selected bibliography
Abstract This entry portrays the study of rhetoric and stylistics within the field of social/cultural anthropology. First, some general considerations concerning the relevance of rhetoric and stylistics for social/cultural anthropology as a discipline are made and the universality of rhetorical issues is discussed. Second, the historical development of social/cultural anthropology and the re-discovery of rhetorical topics during its theoretical sophistication are presented. Third, the most salient findings of social/cultural anthropology in the domain of rhetoric and stylistics are exposed. Among the main characteristics of Non-European rhetoric and stylistics are prosodic variation, repetition, parallelism, rhetorical questions, meta-
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Norbert Groeben, Heidelberg (Deutschland)
111. Rhetoric and stylistics in social/cultural anthropology 1. 2. 3. 4.
Basic concepts History and current trends Salient findings Selected bibliography
Abstract This entry portrays the study of rhetoric and stylistics within the field of social/cultural anthropology. First, some general considerations concerning the relevance of rhetoric and stylistics for social/cultural anthropology as a discipline are made and the universality of rhetorical issues is discussed. Second, the historical development of social/cultural anthropology and the re-discovery of rhetorical topics during its theoretical sophistication are presented. Third, the most salient findings of social/cultural anthropology in the domain of rhetoric and stylistics are exposed. Among the main characteristics of Non-European rhetoric and stylistics are prosodic variation, repetition, parallelism, rhetorical questions, meta-
1872 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart phor, and ambiguity. All of these recurrent features are illustrated by examples. Finally, the entry describes the most fruitful findings of rhetorical and stylistic studies in the field of social/cultural anthropology that have been made mainly in the domains of social organization, ritual, politeness, art and symbolism, emotion, argumentation, person, and gender.
1. Basic concepts Social or Cultural Anthropology deals with “other people’s worlds” (Hendry 1999) and can be defined as “the science of the culturally alien” (Kohl 1993; cf. Bohannan 1992). According to its national tradition, the discipline has been called “Social Anthropology” (UK), “Cultural Anthropology” (US) or “Ethnology” (Continental Europe). At large, the US-American branch has been most open to the study of foreign rhetorical and stylistic traditions. Social and Cultural Anthropology as an academic discipline only emerged in the second half of the 19th century, when positivism and evolutionism were the dominant scientific paradigms. This is one reason why anthropologists only marginally studied rhetoric in the very beginning. “The triumph of the natural sciences in the 19th century and its renunciation of rhetoric also entailed a renunciation of the image of the ‘noble savage’. Its place was filled by the ‘primitive’; and the position of a science that does not neglect its rhetorical nature was taken by positivism” (Strecker 1998a, 1428). Yet, a lot of the data basis early anthropologists relied on was provided by discovery voyagers, colonialists and missionaries who praised the rhetorical skills of the natives they encountered. Probably the most detailed account of an alien “culture of rhetoric” stems from the Jesuit father Jean-Franc¸ois Lafitau (1724). He describes a variety of social occasions and situations where the Iroquois demonstrated their rhetorical skills. For example, he observed the Iroquois counselors who, “all of them, pipes in their mouths, treat affairs of state with as much coolness and gravity as the Junta of Spain or the Council of the Sages [Council of the Ten] at Venice” (Lafitau 1974, 296). Lafitau’s experiences finally motivated him to compare the cultures of the New World to those of Antiquity emphasizing their civilized, competent and rational ways of dealing with public affairs. Lewis Henry Morgan also did ethnographic research among the Iroquois some 130 years later and observed their rhetorical skills. Unlike Lafitau, he interpreted them according to the “Zeitgeist” of his century in quite an opposite direction: “The Indian has a quick and enthusiastic appreciation of eloquence. Highly impulsive in his nature, and with passions untaught of restraint, he is strongly susceptible of its influence. By the cultivation and exercise of this capacity, was opened the pathway to distinction; and the chief or warrior gifted with its magical power could elevate himself as rapidly, as he who gained renown upon the warpath“ (Morgan 1901 I, 102). Foster (1974, 6 f.) rightly points to the Romantic and evolutionist thinking of the European 19th century providing the background for such a judgment. In addition, Pearce (1953) states that the European interest in the Indian eloquence can only be understood through the image of a non-degenerated, natural being that is superior to the civilized and thus sissified European. “The formal talk at Indian treaties and the far-fabled death songs of noble savages ⫺ these had long been known to mark off the savage from the civilized, and had been
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readily interpretable as signs of the superiority of the savages to the civilized or, at the very least, as evidence of a kind of ‘original genius’ forever lost to high civilization” (Pearce 1953, 78 f.). The Indian eloquence (this was general belief) reflects “a nobility which achieved its ends by emotion rather than by reason, by action rather than by thought, by custom rather than by law” (Pearce 1953, 79). As Foster (1974, 7) emphasizes, the rhetorical skills of the Iroquois just like those of any Indians were juxtaposed to the logical comprehension of the Europeans: “The Indians were not extolled for any virtues of rational thought, but for their ability to appeal to the emotions; they were rhetoricians, not logicians“. Thus the persuasive force of Indian rhetoric, as contemporary scholars advanced, is based on the close relationship between speech and emotion and between expression and nature. The Indian pathos was direct and inborn and not learned and systematically deployed. This belief is also omnipresent in the above quotation by Lewis Henry Morgan. The question whether it is possible to apply the object, theory and method of rhetoric in cross-cultural research is still controversially discussed. The first comparative studies therefore agreed to apply the putatively wider concept of “formalized language” or “speech” in order to designate the domain of comparative rhetoric (Bloch 1975; Irvine 1979). This conforms to what “ethnographers of speaking” (Hymes 1962) had found out about native concepts of rhetoric. In most groups, a “wrapped” or “veiled” (Atkinson 1984; Strathern 1975), “sweet” (Brenneis 1984) or “crooked” (Merlan/Rumsey 1991; Ogden 1994; Rosaldo 1973; 1984) speech is distinguished from a “straight” (Katriel 1986) one. In other societies, eloquent speech is called “pleasant tongue”, tongue metonymically meaning language (Cisse´ 1998, 305). Thirdly, emotional or cognitive attitudes in speech may be emphasized, for example, when the Chamula Maya equate rhetorical formalization with “heating”, heat standing for order, height, and divineness (Gossen 1974). But since rhetoric, as it has been conceived by Aristotle, is a science, that intends to systematize the conditions and possibilities of rhetoric and to develop guidelines of practice through the observation of action, one may reject the assumption that rhetoric is solely deductive, culturally normative and eurocentric by its terminology (Hymes 1972, 51). “Though rhetoric is colored by the traditions and conventions of the society in which it is applied, it is also a universal phenomenon which is conditioned by the basic workings of the human mind and heart and by the nature of all human society”, says Kennedy (1984, 10). Departing from a similar assumption, comparative rhetoric gradually emerged since the end of the 1970s (Sapir/Crocker 1977; Paine 1981; Sherzer/Woodbury 1987; Strecker 1998; Kennedy 1998; Meyer 2005; Strecker/Tyler 2009).
2. History and current trends Under the label of “folklore”, anthropologists began their early study of rhetorical practices and stylistics of Non-European people (The Journal of American Folklore 1888 ff.) and, later, continued it as “oral literature” (Finnegan 1970). Probably the first anthropologist who intensively investigated myths, tales, songs, toponyms and all sorts of texts (prayers, speeches delivered in feasts etc.) from both anthropological and linguistic per-
1874 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart spective was Franz Boas, the founder of the American cultural anthropology (cf. Kroeber et al. 1943). Other researchers started by studying poetry, stories of heroes and gleemen, songs, praise narratives, proverbs, and extended their scope later onto rhymes, riddles, trickster stories, wordplays, epics (cf. Görög-Karady 1992; Clements/Malpezzi 1984). Bronislaw Malinowski, the father of participant observation ⫺ the distinct method in social anthropology ⫺ has introduced the concept of “phatic communion” (1923). Using this concept, he wanted to draw attention to the fact that human communication does not mainly serve instrumental goals such as the transmission of information, as contemporary linguistic theory assumed, but rather social goals such as the establishing, renewing and enhancing of social relations. Exchanging verbal gifts in face-to-face interaction is one of the most important tools that man deploys as a social being. “‘[P]hatic communion’ (…) serves to establish bonds of personal union between people brought together by the mere need of companionship and does not serve any purpose of communicating ideas” (1923, 316). Edward Sapir (1929, 209) reminded the scientific community that the study of culture is generally not feasible without a thorough study of linguistic symbolism that makes it significant and meaningful. The most renowned scholar who tried to integrate a notion of style into a whole theory of culture was Ruth Benedict (1934). She discerned cultures along their particular, yet holistic, styles, viewing the latter as personality patterns “writ large”. In a comparison of three peoples ⫺ the Zun˜i of New Mexico, the Dobu of Melanesia, and the Kwakiutl of Vancouver Island ⫺ she observed a general emphasis on restraint in Pueblo cultures of the American southwest, which she described as “placid and harmonious”. Based on Franz Boas’ data of the Kwakiutl, showing their self-aggrandizing, megalomaniac character, she noticed an emphasis on abandon just like in the Native American cultures of the Great Plains. The Dobu Islanders, she described on the basis of Reo Fortune’s research as “paranoiac” and “mean spirited”. Benedict went on to classify the Pueblo as “Apollonian” who are in search of chasteness and have a general distrust against excess, compared to the Kwakiutl, whom she classed “Dionysian” for their valuing of excess as an escape to an overly prosaic order of existence. Beginning in the late 1950s, emerging Cognitive Anthropology comparatively studied Non-European structures of thought and knowledge, i. e. of native classifications, taxonomies and categories (Goodenough 1956; Tyler 1969). From the viewpoint of rhetoric this strand may be called “comparative topics”. But the representatives of these scientific directions assumed knowledge structures to be unconscious and static, which contradicts the rhetorical assumption that competent orators creatively exploit and manipulate them in order to be persuasive. A big leap towards a wider consideration of rhetorical subjects in anthropology was the issue of the “ethnography of speaking” by Dell Hymes (1962). After many years where anthropologists had studied language only as an access to culture and not as a part of it, Hymes now pleaded to study speaking as an anthropological topic in its own right. Anthropologists, said Hymes, should study traditions of speaking as an activity that contributes to sustain social life. Many substantial ethnographic works about rhetoric emerged from this impulse, although they still avoided the term rhetoric (e.g. Rosaldo 1980; Abu-Lughod 1986; Duranti 1994). Another key stimulus was initiated by the reception of John Austin’s Speech Act Theory (1962). Stanley Tambiah and Ruth Finnegan were the first to apply Austin’s
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theory in an anthropological study describing performative utterances in Trobriand magic and in everyday interaction among the Limba (Tambiah 1968; Finnegan 1969). But Austin’s theory and its extension by Searle (1969) has later been criticized by anthropologists saying that its design is ethnocentric for three reasons: (1) Sincerity in uttering a speech act is not always an indispensable pre-requisite for its success; (2) The detection of the speaker’s intention through the hearer neither is perforce a prerequisite for the success of the act; (3) The concepts of person and of agency, inherent in speech act theory, are not entirely applicable to Non-European contexts (Rosaldo 1982; Duranti 1993). Real integration of rhetorical instruments into anthropology can only be tracked in the context of an emerging critique of the scientific production of credibility in writing. James Clifford, one of the exponents of the Writing Culture Movement, used rhetorical techniques for the interpretation of ethnographic texts and dealt with such issues as tropes, allegories or the authority of the ethnographer as constructed through textual instruments (Clifford/Marcus 1986; Clifford 1988). The movement was part of a more general “rhetorical turn” in the humanities, social and natural sciences leading to a more conscious production of scientific authority, credibility and legitimacy (Simons 1990; Hammersley 1993). Another contributor to this movement, Stephen Tyler, had pleaded as early as in 1978 for the integration of rhetoric into the realm of anthropological theory, research and methodology. For him, cultural conventions are at the same time providing the basis for a successful communication and are created through communication: “Our speaking presupposes that we do share in the same objective conventionality, and when we are rudely made to see that we do not, as when others misunderstand us, we do not, except in unusual circumstances, give up on speech, but we seek instead to repair the rents in our net of common intersubjectivity and to get others to understand us. […] Apprehensive at the incipient disintegration of our world of previously unquestioned common understandings, we do not retreat into desperately silent loneliness, but are impelled instead to reaffirm and accomplish that world through constructive negotiation. Thus it is that conventionality emerges from and is sustained in communication” (1978, 148). In 1997, the first ethnography written by a rhetorician was published. Doing extensive fieldwork among the Hispano-American population of Chicago, Ralph Cintron investigated all sorts of “rhetorics of public culture” or ”rhetorics of everyday life” including “hairstyles, clothing, car decoration, musical styles, talk, the geometries of city streets and street names ⫺ as performances, as rhetorical gestures emerging from the desire to persuade others of the propriety of certain identifications and, implicitly, of the impropriety of other identifications” (Cintron 1997, X⫺XI). Cintron concluded that the creation of a Latino identity, of respect and of self-esteem are central motives of all rhetorical efforts made by the Hispano-Americans. The rhetoric that accomplishes this task begins with the denomination of the town district and ends with specific phrases expressing normative insider’s views or topical motives mirroring ideological perceptions and ironical self-reflections. In using these devices, the Latinos “colonize” their world and develop their specific perspective. In 1998, several publications pointed to the convergence of rhetoric and anthropology. The mutual approximation of the two disciplines since the 1960s was first stated by
1876 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Strecker (1998a; 1998b). He particularly emphasizes that rhetorical genius must not only be ascribed to the “well-educated” and “cultured” but also to the “ordinary people” and to those who have formerly been called “savages” (1998b, 91). Therefore he calls for an intensive study of the “deictical anchoring, i. e. the horizon of space, time, and agency” of alien cultures as well as of the discursive implicatures referring to “particular culture specific contexts (e.g. the environment of historical events)” (1998a, 1433). Kennedy discovers rhetoric, defined as “the energy inherent in emotion and thought, transmitted through a system of signs, including language, to others to influence their decisions and actions” (1991, 7), in all communicative processes: among social animals as well as among early humans, illiterate societies, and civilizations such as China, Mesopotamia, Central America and Ancient Greece. In 1998, he adds onto his definition: “Rhetorical energy in its simplest form is conveyed by volume, pitch, or repetition; more complex forms of rhetorical energy include logical reasons, pathetic narratives, metaphor and other tropes, or lively figures of speech such as apostrophe, rhetorical question, or simile. All communication carries some rhetorical energy; […] there is no zero-degree rhetoric” (1998, 215). Starting in 1998, the International Rhetoric Culture Project unified these attempts and launched a series of publications about the relationship between rhetoric and culture in all its domains (Strecker/Tyler 2009).
3. Salient indings 3.1. Main characteristics o rhetoric and stylistics in Non-European societies Reviewing the studies of verbal art in Non-European societies, one can identify a prominence of six rhetorical and stylistic devices. (1) Prosodic variation Particularly in formal situations, orators employ prosodic instruments such as melodic modifications, change of the length of syllables, variation in speech pace, lengthening of final vowels, sound symbolism, the rhetorical use of pauses, and a dialogical performance encouraging responsive utterances by the hearers. Often these devices correspond through vocal and consonant harmony, the reduction of consonant accumulation, metathesis, onomatopoeias, syllable rhyming and other means with the phonological, morphological and syntactic resources of the respective language. Sometimes formal language differs enormously from its everyday variant inasmuch as syntax and lexicon are much more elaborated. Physical devices complete the overall impression of a speech. Gusinde (1931, 1092 f.; 1553 f.) provides us with an excellent example from the Ona of Tierra del Fuego: “A modulation of the voice almost never to be observed in everyday life clearly brings the various parts into contrast with one another, and the constantly interpolated personal adventures or experiences give each account so many special forms and exceptional peculiarity, each according to the character, disposition, and momentary mood of the speaker, that it is gladly listened to each time and contains much that is new besides the well-known basic ideas. Exaggerations are by no means lacking, superla-
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tives and the greatest enhancing of numbers and measurements, powers and achievements are constantly repeated. There are described, very much at the expense of truth, fights and hunts at which the storyteller himself or his friends or his kin group celebrated unattainable triumphs. Such success is not due to brilliant turns of phrase, which are lacking in the word-poor language, but to the intense feeling of the speaker and the purely personal note that he strikes with the greatest emphasis. The rendition of a legend being told gets a life of its own through the various natural sounds being imitated, through onomatopoetic cries, through snapping with the fingers or clapping with the hands or clicking with the tongue or hammering with the fist or stamping with the feet, as well as through the constant fluctuations of voice and emphasis, resulting in extreme contrasts. The storyteller greatly likes to lose himself in the painting of miniatures most precisely dissected and built up with the tiniest details, in which his audience enthusiastically follows him with rapt attention; everyone takes in with eyes and ears the story being recited. A greatly heightened sprightliness, which arises from the lively participation and the inner excitement, but above all from the histrionic talent, thrills through the storyteller and is naturally communicated to his listeners.” (2) Repetition Repetition amplifies the impression a speech exerts upon the hearers. Among the Yanomami of the borderland between Venezuela and Brazil, orators repeat parts of their speeches, sentences or phrases up to 25 times (Good 1988, 12⫺13). Gossen (1974, 401⫺2) provides us with an example from the court rhetoric of the Chamula Maya: Many times already you have stolen. You steal sheep. You steal chicken. You steal potatoes. You steal squash. You steal clothing. You steal cabbage. You steal turkeys. You steal anything. The only thing you don’t steal from people are their testicles. And those you only eat.
(3) Parallelism Parallelism has been called the American Indians’ “master trope” (Sammons 2000, 26) and it has also been extensively documented in South East Asia (Fox 1988). By parallelism, anthropologists understand all sorts of repetition of words, parts of words, phrases or parts of phrases in another context (anaphor, epiphor, alliteration, rhyme), of rhythmic or intonational patterns or of entire themes. Tedlock (1987, 148 f.) gives an example of a refrain from a ritual speech of the Quiche´ Maya containing anaphors (2 f.; 6 f.; 12 f.; 16 f.) and epiphors (4 f.): (1) (2) (3) (4)
Fullfill your names: Hunahpu Possum, Hunahpu Coyote, bearer twice over,
1878 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16) (17)
begetter twice over, great peccary, great tapir, lapidary, jeweller, sawyer, carpenter, maker of green plates, maker of green bowls, incense maker, master craftsman, grandmother of day, grandmother of light.
Parallelism has been assigned to functions of mnemotechnical, aesthetic, meta-pragmatic, diagrammatical, metaphorical and numerical nature (Urban 1986, 33⫺36). Rosaldo (1973, 216) adds that they allow the orator to use parts of the speech of preceding orators and in doing so, to comment and appropriate them. (4) Rhetorical question Another figure of speech that ethnographic literature frequently reports is the rhetorical question. Rhetorical questions involve the hearers and activate their thoughts. Merlan and Rumsey (1991, 112) give an example of a political speech from the Nebilyer of Papua New-Guinea: “If a man had died, oh money, could you replace a man?” Another example (Strecker 2003, 74 f.) originates from the Hamar of Southern Ethiopia and provides us with answers for the rhetorical questions too: Are people fathered for the vultures? Fathered for the hyenas? Fathered for the sun? (No,) people are fathered for people. A man fathers (a son) so that he may herd cows; That he may herd goats; That he may make fields; That he may herd calves; That he may herd lambs; That he may be sent on an errand: ‘Run and get me that thing from him over there!’ He whom you fathered ⫺ vultures (he has been devoured by vultures).
(5) Metaphor Metaphor is the most prominent of the tropes used in Non-European societies. In order to be persuasive, Non-European orators often employ analogies from the surrounding nature or from local history. The chiefs of the Kuna of Panama, for example, like to account for the existence of hierarchies and an institutionalized leadership in asserting that animals (e.g. hawks) have leaders too, so that leadership, to the auditors, appears to be a natural law (Howe 1977, 139⫺145). Village life is analogized with the life of carps in ponds or of chicken in coops. Just as among the Iroquois (Fenton 1998, 32), chiefs themselves are equated with trees,
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and as trees lusciously bear fruits, chiefs have to generously provide their community with gifts (Howe 1977, 145⫺149). The appointment of new chiefs is therefore associated with the planting of a new tree. The male Bororo of Brazil like to term themselves “parrots”. Crocker (1977, 187⫺ 192) explains this metaphor as a practice of ironic self-distancing from their matrilineal and uxorilocal social reality. Among the Bororo, parrots (araras) are kept as pets, and men are similar to them insofar as they also unfreely live among their women and are separated from their social environment. At the same time, parrots and men share a spiritual superiority over other animals and women. Metaphors reflect the natural, social and cultural environment of the people who create and use them. They refer to trees, rivers, structures, animals and crops that are used as a metaphorical reservoir, exploited by competent orators when they search for plausible and convincing analogies with their real world. (6) Ambiguity As ethnographers revealed, rhetoric and stylistics in Non-European contexts are often ambiguous to them, even to the extent of being incomprehensible. Political speeches are often made in form of an allegory. The reason for this may be a general discomfort with being overly direct. Moreover, in societies with only lean hierarchies, people aim to avoid conflicts that may lead to social fission. Thus, people prefer an ambiguous speech, so that speakers cannot be committed to one specific meaning of what they said (Brown/ Levinson 1987). McKellin (1984, 113) provides an example of such a political speech from the Managalase of Papua New Guinea: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16) (17) (18) (19) (20) (21) (22) (23) (24) (25)
We went up there and did something. / We went up / saw something climbing up there. We went up the path chasing after it until it was above us, climbing. / While it was climbing / we stayed, watched and came down to build a fence./ We should cut tree branches to build a fence. Stay. climb up the tree / cut branches and lay them down “Those animals up there will jump down, we will see them and kill them,” And so we should / cut branches, put them down/ build a fence, and watch / While someone will climb up the tree to chase the animals so they jump down; we will see them / catch them, / hold them by the tail, / pick up the sticks we have cut and kill them. Take them and kill them. / Take them, tie them and wrap them up. But suppose / they just ran away / We were not watching, / our eyes were not turned up toward the animals We would not have seen them While we just wait / along! the animals simply jumped down. Then the animals could run away through dangerous places:
1880 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart (26) go down a cliff / or through a valley (27) While we were walking.
To his very surprise, McKellin learned that the speech dealt of an observation the orator had made of a young girl who had met a young man before sunrise. In his speech, the orator pleaded for an unobstructed marriage between the two before conflicts may arise.
3.2. General indings (1) Social Organization As has been pointed out since Malinowski’s ground breaking work, speech in itself is of great importance for the social coherence, the settling of conflicts and the creation of harmony. Bourdieu (1992) added that the specific stylistic form of speech contributes to social differentiation, since social groups cultivate specific in-group styles and exclude outsiders (cf. Scherer/Giles 1979). Furthermore, speech is a prominent, if not the main instrument for creating, exerting and maintaining social power. Hierarchies as well as egalitarian relationship are produced and reproduced mainly through speech and far less through physical activities (Brenneis/Myers 1984; Meyer 2005). Finally, speech is an important tool for the creation (or the illusion) of social justice (Conley/O’Barr 1998). (2) Rituals Defining rituals as representing multivocal and often sacredly legitimized strategies of interaction and dominance, Strecker (1998b) has formulated a rhetorical theory of ritual. For him, the basic principle of producing ritual meaning is the displacement and skilful combination of meaningful symbolic elements. Furthermore, ritual is created by the inventive violation of semantic or pragmatic conventions in a contingent social context. Ritual interaction does not serve the maintenance of the social faces of the participants, but serves explicitly their damaging. Thus, rituals are instruments of coercion of particular members of society used to reinforce power relations. Because of their semiotic polyvalence, they cannot be ascribed to one specific meaning and thus they cannot be contradicted. (3) Politeness In a study of universals of linguistic politeness phenomena, Brown and Levinson (1987) have discovered how verbal style has a direct effect upon the design of social relationships. But it is not only the language used in conversation that shapes the social relationship. The latter influences the verbal style as well. The authors show how social factors exert “deep functional pressures on the shape of grammars” (Brown/Levinson 1987, 56) motivating speakers to employ a wide range of interaction strategies of “positive” and “negative politeness”. Positive politeness consists in communicating to the addressee that the speaker likes him/her. Negative politeness comprises strategies that demonstrate that the speaker respects the addressee and does not want to be invasive. Brown and Levinson’s theory has shown that the verbal style used in interaction expresses and produces specific social relationship between the interactants.
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(4) Art and Symbolism Anthropologists generally apply the concept of style to the “traditional artwork” of entire “tribes”, “collectivities” or “cultures”. After a critique of this practice from within and a subsequent debate about the question whether religious or secular handicraft in these societies may be called “art”, they have generally been reluctant to use the concept of style in a cross-cultural context. The reason for this is that the concept either entails normative ideas or is difficult to apply to the phenomenon of alien artworks for its emphasis on notions of individual or epochal styles that cannot easily be transferred to other contexts. Yet, even in the societies studied by anthropologists, some artists were recognized for their individual skills: “It is known that, for instance, individual tattoo artists among the Maori achieved great personal fame (and charged higher fees accordingly). They did so because their work instantiated, better than their competitors’, what Maori collectively regarded as excellence in the matter of tattooing ⫺ not because their tattoos were appreciated as distinctive productions expressive of their artistic individuality” (Gell 1998, 158). Most anthropologists associate “style” with “meaning” and are more interested in semiotic questions of iconography than in aesthetics or in psychological attributions of individual styles as history of art does. Symbols, in contrast, have been explained in terms of rhetoric and stylistics. Wagner (1978) perceives myths as symbolic “obviations”, saying that they contain creative violations of semantic rules and thus render specific issues obvious. Strecker (1988) views symbols as artful displacements and combinations of elements from different semantic fields. The polarity of the elements has a persuasive effect upon the recipient producing an oscillation of thoughts and feelings that leads to constantly new interpretations. (5) Emotion Anthropological studies of emotion have discovered a “rhetoric of emotion”. The expression of emotion is often far from being a mere body reaction, but rather an interactional instrument people employ in order to create or comment social situations. Thus, anger is often considered to be a legitimate reaction of the powerful against transgressions of rules by inferiors. The reaction of the powerless is often fear and, at the same time, they can demand compassion from the powerful (Myers 1988; Lutz 1988). Thus, emotions contain a persuasive power that shapes social situations. (6) Argumentation Anthropological studies of reason and logic have shown that syllogisms do not always serve as prominent tools for deduction, and that the example is not always a plausible inductive instrument (Hamill 1990; Cooper 1975). Even seemingly irrevocable proofs such as the absence of a person at the time of a crime does not always hold as an argument against his guilt, e.g. when a shaman journey is taken into account (Contins/ Goldman 1984). (7) Person The social person is a category that is socially constructed and valued and at the same time serves individuals to gain social influence. Anthropological studies have shown that different societies have also developed dissimilar concepts of the person and related phenomena such as honour, shame, grace and face (Carrithers et al. 1985; Peristiany/PittRivers 1992). As Strecker (1993) has noted, such concepts differ radically in hierarchical
1882 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart societies from those in egalitarian communities. Whereas hierarchical cultures designate by “face” primarily the parts around the eyes and the mouth that are associated with the inner personality and his feelings, egalitarian groups allocate it mainly to the front, where individuality, intellect and self-assertion are located. (8) Gender Anthropological studies of gender-specific speech competence have clearly demonstrated that verbal abilities are by no means inborn, but socially and culturally acquired (Philips/Steele/Tanz 1987; Lakoff 1975). A typical example is the situation among the Vaupe´ of the Amazon where each exogamous patrilineal kin group speaks its own language. This leads to the situation that all men living in a longhouse speak the same language whereas the women speak several languages. Thus, women are twice unprivileged: they do not master the men’s language as well as communication between them is complicated (Jackson 1974).
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112. Rhetorik und Stilistik in der Literaturwissenschaft
1885
Strecker, Ivo/Stephen Tyler (eds.) (2009): Rhetoric Culture Theory. Oxford/New York. Strecker, Ivo (1988): The Social Practice of Symbolization. An Anthropological Analysis. London/ Atlantic Highlands. Strecker, Ivo (1993): Cultural Variations in the Notion of ‘Face’. In: Multilingua 12/2, 119⫺141. Strecker, Ivo (1998a): Kulturanthropologie. In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 4. Tübingen, 1421⫺1439. Strecker, Ivo (1998b): Auf dem Weg zu einer rhetorischen Ritualtheorie. In: Alfred Schäfer/Michael Wimmer (Hrsg.): Rituale und Ritualisierungen. Opladen, 61⫺93. Strecker, Ivo (2003): Nyabole. Laufgesang ⫺ Singing on the way to the dancing ground (Booklet). Berlin. Tambiah, Stanley (1968): The Magical Power of Words. In: Man, (N.S.) 3. 175⫺208. Tedlock, Dennis (1987): Hearing a Voice in an Ancient Text: Quiche´ Maya Poetics in Performance. In: Joel Sherzer/Anthony Woodbury (eds.): Native American Discourse: Poetics and Rhetoric. Cambridge, 140⫺75. Tyler, Stephen A. (1978): The Said and the Unsaid. Mind, Meaning, and Culture. New York. Tyler, Stephen A. (ed.) (1969): Cognitive Anthropology. New York. Urban, Greg (1986): Semiotic functions of macro-parallelism in the Shokleng Origin myth. In: Joel Sherzer/Greg Urban (eds.): Native South American discourse. Berlin, 15⫺58. Wagner, Roy (1978): Lethal Speech. Daribi Myth as Symbolic Obviation. Ithaca.
Christian Meyer, Bielefeld (Germany)
112. Rhetorik und Stilistik in der Literaturwissenschat 1. 2. 3. 4.
Zusammenhang von Literaturwissenschaft und Rhetorik Die Rolle der Rhetorik in der Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Literaturwissenschaftliche Rhetorikforschung im 20. Jahrhundert Rhetorik und Stilistik in aktuellen literaturwissenschaftlichen Handbüchern, Lexika und Einführungen 5. Literatur (in Auswahl)
Abstract Both literary studies and rhetoric are concerned with texts: From the age of Hellenism, when the focus of rhetoric had shifted from oral to written texts, up to the 18th century, rhetoric was the prevailing theory concerned with the composition of texts, and the scholarly investigation of texts also took place within the trivium. With the emergence of “literary studies” as a discipline in the middle of the 19 th century, however, the composition of texts no longer remains the domain of rhetoric. The contemporary concept of literature is also
112. Rhetorik und Stilistik in der Literaturwissenschaft
1885
Strecker, Ivo/Stephen Tyler (eds.) (2009): Rhetoric Culture Theory. Oxford/New York. Strecker, Ivo (1988): The Social Practice of Symbolization. An Anthropological Analysis. London/ Atlantic Highlands. Strecker, Ivo (1993): Cultural Variations in the Notion of ‘Face’. In: Multilingua 12/2, 119⫺141. Strecker, Ivo (1998a): Kulturanthropologie. In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 4. Tübingen, 1421⫺1439. Strecker, Ivo (1998b): Auf dem Weg zu einer rhetorischen Ritualtheorie. In: Alfred Schäfer/Michael Wimmer (Hrsg.): Rituale und Ritualisierungen. Opladen, 61⫺93. Strecker, Ivo (2003): Nyabole. Laufgesang ⫺ Singing on the way to the dancing ground (Booklet). Berlin. Tambiah, Stanley (1968): The Magical Power of Words. In: Man, (N.S.) 3. 175⫺208. Tedlock, Dennis (1987): Hearing a Voice in an Ancient Text: Quiche´ Maya Poetics in Performance. In: Joel Sherzer/Anthony Woodbury (eds.): Native American Discourse: Poetics and Rhetoric. Cambridge, 140⫺75. Tyler, Stephen A. (1978): The Said and the Unsaid. Mind, Meaning, and Culture. New York. Tyler, Stephen A. (ed.) (1969): Cognitive Anthropology. New York. Urban, Greg (1986): Semiotic functions of macro-parallelism in the Shokleng Origin myth. In: Joel Sherzer/Greg Urban (eds.): Native South American discourse. Berlin, 15⫺58. Wagner, Roy (1978): Lethal Speech. Daribi Myth as Symbolic Obviation. Ithaca.
Christian Meyer, Bielefeld (Germany)
112. Rhetorik und Stilistik in der Literaturwissenschat 1. 2. 3. 4.
Zusammenhang von Literaturwissenschaft und Rhetorik Die Rolle der Rhetorik in der Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Literaturwissenschaftliche Rhetorikforschung im 20. Jahrhundert Rhetorik und Stilistik in aktuellen literaturwissenschaftlichen Handbüchern, Lexika und Einführungen 5. Literatur (in Auswahl)
Abstract Both literary studies and rhetoric are concerned with texts: From the age of Hellenism, when the focus of rhetoric had shifted from oral to written texts, up to the 18th century, rhetoric was the prevailing theory concerned with the composition of texts, and the scholarly investigation of texts also took place within the trivium. With the emergence of “literary studies” as a discipline in the middle of the 19 th century, however, the composition of texts no longer remains the domain of rhetoric. The contemporary concept of literature is also
1886 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart no longer compatible with the concept of rhetoric as a regulative doctrine. Only sporadically do approaches of literary studies refer explicitly to rhetoric. It was not until the middle of the 20 th century that rhetoric found its way back into literary studies in Germany: Research on literary topoi, rhetorical devices and affections form the basis of rhetorical research within literary criticism. Subsequently, the Baroque research in the 1960s begins to call on rhetorical categories for the analysis of texts; in the 1970s, the research is expanded to other eras (Enlightenment, Romanticism). In the 1980s, literary studies receive further impulses from Deconstruction, which concentrates on the rhetorical devices and the form of the text. Both “downfall” and “revival” of rhetoric in literary studies are reflected in encyclopedias, dictionaries and introductions for freshmen: While rhetoric is not mentioned until the middle of the 20th century, it is prominent in current works. However, particularly in propaedeutic studies, a systematic connection between rhetoric and literary studies is not always established: Although the relevance of rhetoric, especially of the rhetorical devices to the analysis of texts has been emphasized, other areas (e.g. literary topoi, affections, persuasion) are not integrated systematically. Yet, one thing becomes evident: For the study of literature, rhetoric has almost completely lost its original function as a theory of producing texts. Today, rhetoric is mainly an instrument for analyzing texts.
1.
Zusammenhang von Literaturwissenschat und Rhetorik
1.1. Die Disziplin Literaturwissenschat Literaturwissenschaft ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur bzw. mit Texten ⫺ was jeweils als „Literatur“ und damit als Gegenstand der Literaturwissenschaft gilt, wird unterschiedlich beurteilt, je nachdem, ob ein normativer, deskriptiver oder pragmatischer Literaturbegriff zu Grunde gelegt wird (vgl. Baasner 2006, 239); die Öffnung des Fachs hin zu Gebrauchstexten ist jedoch mit ausschlaggebend dafür, dass die Rhetorik ab der Mitte des 20. Jahrhunderts innerhalb der Literaturwissenschaft an Bedeutung gewinnt (vgl. Jeßing/Köhnen 2003, 145). Unter dem Oberbegriff „Literaturwissenschaft“ werden mehrere Aufgabengebiete zusammengefasst. Die wichtigsten sind: (1) Edition, d. h. Sicherung und Bereitstellung von Texten, (2) Interpretation, d. h. der deutende Umgang mit Texten, der in der Regel als Hauptaufgabe der Literaturwissenschaft gilt, sowie (3) der Bereich der Literaturgeschichte bzw. Literatursoziologie, d. h. die historische und soziale Einordnung von Texten.
1.2. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in der Literaturwissenschat Die Rolle der Rhetorik bzw. Stilistik innerhalb der Literaturwissenschaft lässt sich auf die Konzentration auf das zentrale Überzeugungsmittel, den (schriftlich ausformulierten) Redetext zurückführen. Die der ursprünglichen antiken Definition der Rhetorik als „Überzeugungskunst“ (ars persuadendi) gegenüber nachgeordnete, zweite Definition der Rhetorik als „Kunst gut zu formulieren“ (ars bene dicendi) rückt damit in der Literaturwissenschaft in den Vordergrund (Knape 2007, 651).
112. Rhetorik und Stilistik in der Literaturwissenschaft
1887
Grundlage ist die „Literarisierung“ der Rhetorik im Hellenismus bzw. in der Kaiserzeit, in der eine „Gewichtsverlagerung von einer mündlichen, auf Persuasion zielenden Rhetorik zu einer solchen, die der Produktion von (schriftlichen) Texten dient“ stattfindet, die dazu führt, „daß rhetorische Kategorien bis ins 18. Jahrhundert hinein für die Poetik und damit für die Auffassung von Literatur maßgeblich wurden.“ (Torra 1995, 101) In der Literaturwissenschaft werden die rhetorischen Produktionskategorien jedoch textanalytisch umgekehrt: „Aus der Rhetorik wird ein Analyseinstrument und eine Hermeneutik.“ (Till 2007, 460; Knape 2006, 172; zu dieser Umkehrung vgl. auch Jens 1977, 442) Rhetorik spielt innerhalb der Literaturwissenschaft also vor allem im Bereich der Interpretation eine Rolle, wenn man davon ausgeht, dass rhetorische Stilmittel gezielt eingesetzt werden, um bestimmte Bedeutungen zu transportieren. Diese Verfahrensweise lässt sich prinzipiell auf alle Textsorten anwenden, besonders relevant ist sie für Epochen, in denen die Rhetorik die maßgebliche Textproduktionstheorie darstellt. Um diesen Einfluss der zeitgenössischen Rhetorik auf die Textproduktion zu ermitteln, kann eine Untersuchung der jeweiligen Bildungs- und Sozialgeschichte hilfreich sein ⫺ auch im Bereich der Literaturgeschichte und -soziologie bestehen also Verbindungen zwischen Literaturwissenschaft und Rhetorik.
2. Die Rolle der Rhetorik in der Literaturwissenschat bis zum Ende des 19. Jahrhunderts 2.1. Rhetorik als maßgebliche Textproduktionstheorie bis zum 18. Jahrhundert Bis zum 18. Jahrhundert ist die Rhetorik die maßgebliche Theorie der Textproduktion: Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Texten findet innerhalb des Triviums (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) statt. Hinzu kommt die Poetik als Theorie der Poesie, doch diese ist eine „Analogkonstruktion zur Rhetorik“ (Till 2007, 441). Erst im 19. Jahrhundert, im Zuge der Ausdifferenzierung der Wissenschaften, etabliert sich die Literaturwissenschaft als eigene Disziplin: Der erste Beleg des Begriffs „Literaturwissenschaft“ findet sich 1842 in Theodor Mundts Einleitung zu seiner Geschichte der Literatur der Gegenwart (vgl. Oppel 1957, 39); das spezifische Programm dieser neuen Wissenschaft kristallisiert sich jedoch erst gegen Ende des Jahrhunderts heraus (vgl. Weimar 2003, 481 ff.). Die Rhetorik ist zwar ⫺ auch aufgrund ihrer Verankerung im Trivium ⫺ die einzige (bzw. neben der Theologie dominante) textwissenschaftliche Disziplin, die seit der Antike existiert, und bildet dadurch auch die Grundlage der Literaturwissenschaft, doch auf dieser Basis entsteht nicht bruchlos die neue Disziplin Literaturwissenschaft. Vielmehr gilt auch hier, dass rhetorisches Wissen zwar in die neue Wissenschaft eingeht, die Rhetorik als Disziplin innerhalb der Literaturwissenschaft aber zunächst verdrängt wird, da sie als (vermeintlich) präskriptive „Regelrhetorik“ nicht mehr mit dem zeitgenössischen Literaturverständnis vereinbar ist, das die Zweckfreiheit und Autonomie des literarischen Kunstwerks in den Vordergrund stellt.
1888 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart
2.2. Rhetorik in literaturwissenschatlichen Ansätzen des 19. Jahrhunderts Daher hat die Rhetorik im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund der vor allem von Kant geäußerten Rhetorik-Kritik „keine Chance mehr, auch als Disziplin zur Analyse von Literatur ernstgenommen zu werden“ (Kruckis 2001, 370). Nur vereinzelt finden sich literaturwissenschaftliche Ansätze, die auf der Rhetorik basieren bzw. rhetorische Erkenntnisse und Systembestandteile mit einbeziehen.
2.2.1. Wilhelm Wackernagel: Poetik, Rhetorik, Stilistik Wilhelm Wackernagel zieht in seinen Vorlesungen über Poetik, Rhetorik und Stilistik aus dem Wintersemester 1836/37 (1873 posthum herausgegeben von Ludwig Sieber) scharfe Grenzen zwischen Poetik, Rhetorik und Stilistik, indem er Poetik als „Theorie der Poesie“ und Rhetorik nach klassischem Verständnis als „Theorie der Prosa“ definiert und damit zum einen strikt zwischen gebundener und ungebundener Rede unterscheidet, zum anderen aber auch die Stilistik als eigenen Bereich abtrennt ⫺ den der sprachlichen Gestaltung, „in welchem Poesie und Prosa sich begegnen“ (Wackernagel 2003, 311). Wackernagels Kapitel zur Rhetorik umfasst damit einerseits mehr als die antike Rhetorik, da er hier nicht nur Inhalt und Disposition der drei klassischen genera causarum behandelt, sondern alle Formen von Prosa, zu denen er u. a. Geschichtsschreibung (wie Cicero), aber auch Roman, Novelle bzw. Erzählung, Lehrbuch, Dialog, Briefform und „das Rednerische“ zählt. Andererseits spart er im Abschnitt über die „rednerische Prosa“ alles aus, was zur Stilistik gehört, so dass dieser Abschnitt verhältnismäßig kurz ausfällt. Dennoch finden sich im Abschnitt über die „rednerische Prosa“ aus der antiken Rhetorik bekannte Systembestandteile, da Wackernagel ausführlich das Gliederungsschema der partes orationis thematisiert. Im Kapitel zur Stilistik greift Wackernagel das antike Modell der Dreistillehre auf: Unter dem Begriff des „niedrigen Stil“ bzw. des „Stils des Verstandes“ diskutiert er Stiltugenden und -fehler (virtutes und vitia elocutionis), unter dem „mittleren Stil“ bzw. „Stil der Einbildung“ Tropen und Figuren und beim „hohen Stil“ bzw. „Stil des Gefühls“ kommt Wackernagel auf die jeweils „höchsten“ Formen von Poesie und Prosa zu sprechen: die Rede und die Lyrik.
2.2.2. Wilhelm Scherer: Poetik Die explizite Bezugnahme auf die Rhetorik ist ⫺ neben ihrem ökonomischen Ansatz ⫺ auch ein wesentliches Charakteristikum der Poetik von Wilhelm Scherer (1888 posthum herausgegeben von Richard M. Werner), der Literatur in Analogie zu ökonomischen Kategorien als Ware definiert, die „dichterische Production“ nüchtern nach „Natur, Kapital, Arbeit“ aufgliedert (Scherer 1977, 101) und sich damit gegen den zeitgenössischen Literaturbegriff wendet, „der Dichtung an den Kriterien der Zweckfreiheit, der Autonomie und des individuell-spontanen Schöpfertums mißt“ (Reiss 1977, XXIII). Im ersten Kapitel seiner Poetik gibt Scherer einen historischen Überblick über die antike Rhetorik und entwickelt anschließend seinen eigenen Ansatz aus dem Zusammenhang von Poetik und Rhetorik: „Die spätere Rhetorik nun hat alle die Keime, die Aristo-
112. Rhetorik und Stilistik in der Literaturwissenschaft
1889
teles gelegt hat, zu einer sehr strengen und systematischen Theorie ausgebildet, welche für die Poetik theils ein Vorbild sein kann, theils ihr geradezu zu gute kommt.“ (Scherer 1977, 39) Diese Orientierung an der Rhetorik spiegelt sich im Aufbau der Poetik wider: „Im Ganzen entspricht diese Einteilung den alten rhetorischen Lehren […].“ Im dritten Kapitel („Die Stoffe“) widmet sich Scherer demnach der inventio und stellt im Wesentlichen eine Topik klassischer Motive dar, im vierten Kapitel („Innere Form“) beschreibt er dispositionelle Aspekte und im fünften Kapitel („Äußere Form“) handelt er die elocutio ab ⫺ neben den literarischen Gattungen sind hier aus dem Bereich der Rhetorik die Figurenlehre und die Metrik enthalten. Die Resonanz auf die Ansätze von Scherer und Wackernagel ist in der zeitgenössischen Literaturwissenschaft jedoch sehr gering (vgl. Reiss 1977, XI; Kruckis 2001, 370 f.).
3. Literaturwissenschatliche Rhetorikorschung im 20. Jahrhundert Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Rhetorik in der Literaturwissenschaft kein Thema: Bis zur Mitte des Jahrhunderts „fehlt“ die Rhetorik sowohl in literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken wie dem Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte (1. Aufl. 1929) als auch in Einführungswerken wie Oskar Bendas Der gegenwärtige Stand der deutschen Literaturwissenschaft (1928) oder Richard Newalds Einführung in die deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft (1947) und selbst in der monumentalen Überblicksdarstellung Deutsche Philologie im Aufriß (ab 1952 herausgegeben von Wolfgang Stammler). In den USA beginnt die Wiederentdeckung der Rhetorik in der Literaturwissenschaft bereits in den 1920er Jahren (z. B. Clark 1922; Baldwin 1924), in Deutschland beschäftigt sich die Literaturwissenschaft jedoch erst ab der Mitte des Jahrhunderts wieder mit der Rhetorik. Verschiedene Gründe sind für diese erneute Hinwendung zur Rhetorik verantwortlich: (1) Die Literatur der Frühen Neuzeit wird „wieder entdeckt“ (Heßelmann 2001, 121), so dass vor allem die Barockforschung als „Pionierin“ bei der Untersuchung der Bedeutung der Rhetorik für die Literatur gelten kann. Die Erforschung weiterer Epochen folgt, z. B. die der Aufklärung, der englischen und der deutschen Romantik. Da die zeitgenössische Rhetorik v. a. in der Frühen Neuzeit großen Einfluss auf die literarische Textproduktion hatte, kann die „genaue Kenntnis der herrschenden rhetorischen Lehre der Literaturwissenschaft wichtige Aufschlüsse über die Entstehungsbedingungen literarischer Texte geben.“ (Spillner 1974, 104) (2) Ein weiterer Grund ist das erwachte Interesse an strukturalistischer bzw. linguistischer Textinterpretation, es entstehen „strukturalistische und formalistische Programme einer Textinterpretation, die nach einem neuen Werkzeug bei der Analyse von Literatur suchte“ (Heßelmann 2001, 121), und linguistische Verfahren werden in die literaturwissenschaftliche Theoriebildung und Praxis integriert. (3) Nicht zuletzt verändert sich auch der Gegenstand der Literaturwissenschaft: Der Literaturbegriff wird über streng abgegrenzte Vorstellungen von „Dichtung“ hinaus erweitert (Kruckis 2001, 371) ⫺ und damit rücken auch Textsorten in das Interesse der Literaturwissenschaft, deren rhetorischer (i. S. v. persuasiver) Charakter offensichtlich ist, wie z. B. Werbung.
1890 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart
3.1. Forschungsschwerpunkte der literaturwissenschatlichen Rhetorikorschung Grundlage für den Aufschwung der Rhetorik in der literaturwissenschaftlichen Forschung bilden einige „Meilensteine“ der Forschungsgeschichte, die um die Mitte des Jahrhunderts entstehen, die Barockforschung in den 1960er und 1970er Jahren, eine Ausdehnung dieses Forschungsansatzes auf weitere Epochen ab den 1970er Jahren bis heute sowie die Dekonstruktion, die zwar einen gänzlich anderen Rhetorik-Begriff ins Spiel bringt, jedoch der Literaturwissenschaft entscheidende Impulse verleiht.
3.1.1. Wiederentdeckung der Rhetorik in den 1940er und 1950er Jahren (1) Topikforschung: Ernst Robert Curtius Ein erster Meilenstein der Forschungsgeschichte ist das 1948 erschienene Hauptwerk des Romanisten Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Curtius erforscht in diesem Werk die Latinität des Mittelalters als Bindeglied zwischen „zwei Kulturkörpern“, dem „antik-mittelmeerischen und dem modern-abendländischen“ (Curtius 1993, 19). Um diese Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart zu belegen, zieht Curtius tradierte „Topoi“ heran und untersucht in diachronen Längsschnitten, wie diese „Topoi“ ⫺ z. B. Bescheidenheits- und Unsagbarkeitstopos, Topoi der „verkehrten Welt“ („Knabe und Greis“, „Die Greisin und das Mädchen“) und Metaphern wie „das Leben als Schifffahrt“, „die Welt als Theater“ sowie Techniken der Eröffnung und Schlussgebung von literarischen Werken ⫺ in der mittelalterlichen Dichtung über die Jahrhunderte weg in der Literatur erhalten blieben. Im Weiterleben der Topoi sieht Curtius einen Beleg für die Einheit des Erbes der europäischen Kultur. Grundlage ist eine (Neu-)Definition des Topos-Begriffs: Unter Topoi versteht Curtius „Klischees, die literarisch allgemein verwendbar“ sind (Curtius 1993, 79), also literarische Stereotypen, Denk- und Ausdrucksschemata bzw. „literarische Legobausteine“ (Zelle 2006, 247). Curtius verfolgt damit ein materiales Topik-Konzept und sieht in den Topoi ein „Vorratsmagazin“ für Literatur und Rede. Was zunächst als Fehlinterpretation der antiken Rhetorik kritisiert wurde, ist mittlerweile jedoch akzeptiert (Till 2007, 445; zur Vieldeutigkeit des Topos-Begriffs vgl. auch Kühlmann/Schmidt-Biggemann 2003). Mit seiner Topos-Auffassung als literarischem Motiv begründet Curtius die Toposforschung. (2) Literarische Rhetorik als Figurenlehre: Heinrich Lausberg Konzentriert sich Curtius innerhalb der Rhetorik auf den Bereich der Topik und damit ein Element der inventio, ist ein weiterer Meilenstein der Forschungsgeschichte im Bereich der elocutio angesiedelt: 1949 veröffentlicht der Romanist Heinrich Lausberg die Elemente der literarischen Rhetorik, 1960 folgt das ausführliche Handbuch der literarischen Rhetorik, das inzwischen auch ins Englische übersetzt wurde. Hierin unternimmt Lausberg den Versuch, das gesamte Figureninventar der Rhetorik zu systematisieren: Eine erste Unterscheidung ist die in „Einzelwortschmuck“ und „Mehrwortschmuck“, eine zweite ⫺ und für die Figurenlehre weitreichende ⫺ die Einteilung in von ihm so genannte „Änderungsoperationen“, d. h. Operationen, die die Entstehung von Tropen
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und Figuren erklären. Diese Änderungsoperationen (adiectio, detractio, transmutatio, immutatio) lassen sich zwar auf die antike Rhetorik zurückführen, Lausberg macht sie jedoch zur festen systematischen Größe und beeinflusst damit nachfolgende Publikationen zur Rhetorik (vgl. Knape 1992, 555). Grundlage von Lausbergs systematischer Aufarbeitung sprachlich-rhetorischer Strukturen ist Ferdinand de Saussures Unterscheidung von langue als Sprachsystem und parole als Sprachgebrauch. Lausberg betont, dass das Handbuch dem Interpreten von Literatur Phänomene der langue aufzeigen will und wendet sich damit gegen das damalige Literaturverständnis der werkimmanenten Interpretation, die die Individualität des Kunstwerks in den Vordergrund stellt (Lausberg 1960, 8). Zwar orientiert sich Lausberg in seiner gesamten Darstellung an den Produktionsstadien, konzentriert sich aber ⫺ auch quantitativ ⫺ auf die elocutio: Entfallen auf die inventio ca. 180 Paragraphen, sind es für die dispositio lediglich acht, der memoria sind sieben und der pronuntiatio nur ein Paragraph gewidmet ⫺ gegenüber mehr als 530 Paragraphen zur elocutio. Der zweite Band des Handbuchs umfasst ein Abkürzungs- und Literaturverzeichnis sowie ein alphabetisches Begriffsregister, so dass es sich als Nachschlagewerk für rhetorische Figuren etabliert hat. An die von Lausberg erarbeiteten Aspekte schließen weitere literatur- und sprachwissenschaftliche Ansätze an (vgl. dazu Knape 1994, 1073 ff.), beispielsweise die Rhe´torique ge´ne´rale der Gruppe μ um Jacques Dubois (1970), die das Vierkategoriensystem übernimmt, aber modifiziert, und Heinrich F. Plett, der die Lausbergschen Änderungskategorien ebenfalls abwandelt (1971). Die den Änderungskategorien zugrunde liegende Deviationstheorie kann kritisch beurteilt werden (vgl. dazu z. B. Knape 1992, 560 ff.; 1996, 299; 339 f.), ermöglicht jedoch eine umfassende Darstellung rhetorischer Figuren, die auch in den meisten Darstellungen der Rhetorik in literaturwissenschaftlichen Einführungen übernommen wird (vgl. 4.2). (3) Affektenlehre: Klaus Dockhorn Der Anglist Klaus Dockhorn kritisiert Lausbergs Handbuch und stellt dessen „primär regelbezogene[r] Rhetorikanalyse“ eine „primär wirkungsbezogene Rhetorikforschung“ gegenüber (Breymayer 1972, 76). Den Kern der Rhetorik sieht Dockhorn in der Persuasion, die seiner Ansicht nach wiederum durch teils milde (Ethos) und teils starke (Pathos) „Erregung der Affekte“ geschieht (Dockhorn 1968, 126). Diese Affekte entdeckt Dockhorn beispielsweise in den ästhetischen Schriften des englischen Hochromantikers William Wordsworth (in der Formulierung proof und passion) wieder (Dockhorn 1968, 16 f.) und gelangt zu dem Schluss, dass „die rhetorische Tradition also an einem zentralen Punkt der literarischen Kritik Wordsworths wirkungsmächtig ist.“ (Dockhorn 1968, 25) Ausgehend von Autoren der englischen Romantik versucht Dockhorn, dieses Schema von Ethos und Pathos bei weiteren Autoren nachzuweisen, immer mit dem Ziel, Vorurteile und Fehlansätze auszuräumen, „insbesondere das Vorurteil, die Rhetorik sei eine öde Regelpoetik klassizistischer Provenienz, eine formalistische Schmucklehre äußerlicher Preziosität, aber auch das Vorurteil, daß sie durch die Erneuerung der deutschen Dichtersprache endgültig überwunden worden sei.“ (Dockhorn 1968, 125) Dabei stellt Dockhorn jedoch einseitig die Affektenlehre in den Vordergrund und verfolgt damit einen anthropologischen Ansatz, der die Rhetorik auch noch dort wieder findet, „wo die Systemrhetorik […] als Disziplin zu existieren aufhört“ (Zelle 2006, 242; zur Kritik an Dockhorns „panrhetorischem“ Ansatz vgl. Till 2004). Die literaturwissenschaftliche Rhe-
1892 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart torikforschung der 1960er Jahre erhielt jedoch gerade durch Dockhorn entscheidende Impulse, wie z. B. die Arbeiten von Joachim Dyck, Gert Ueding oder Helmut Schanze zeigen.
3.1.2. Durchbruch der Rhetorik in der Literaturwissenschat: Barockorschung der 1960er und 70er Jahre Nachdem durch die genannten „Meilensteine“ die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft wieder auf die Rhetorik gerichtet wird, gerät insbesondere eine Epoche in ihren Blick: die Barockliteratur. Der rhetorische Grundzug der Renaissance- und Barockliteratur wird ab den 1960er Jahren von Neuphilologen erforscht, wodurch die Barockforschung eine Vorreiterrolle bei der Anwendung rhetorischer Analysekategorien in der Literaturwissenschaft einnimmt: „In keinem anderen Zweig der Germanistik scheint der Siegeszug der Kategorie Rhetorik derart eindrucksvoll wie in der Barockforschung.“ (Barner 1970, 71) Die Literaturwissenschaft wird auf diese Weise sogar zur „primäre[n] Form von Rhetorikforschung“ in Deutschland überhaupt (Plett 2000, 254). Zentral für die frühe literaturwissenschaftliche Rhetorikforschung ist dabei die These, „daß der poeta orator verantwortlich sei für den Grad der Rhetorizität der von ihm hervorgebrachten Werke. Aus diesem Grund bedürfe es detaillierter historischer Recherchen über den Stand seiner rhetorischen Kenntnisse sowie die allgemeine Situation der rhetorischen Poetik der Zeit.“ (Plett 2000, 252) Ende der 1960er Jahre erscheinen daher in rascher Folge mehrere Arbeiten zur (deutschen) Poetik des 17. Jahrhunderts. Impulsgeber waren unter anderem Walter Jens (Tübingen) und Albrecht Schöne (Göttingen). Die Arbeiten von Renate Hildebrandt-Günther (1966), Joachim Dyck (1966), Ludwig Fischer (1968) und Wilfried Barner (1970) legen zwar unterschiedliche Schwerpunkte, versuchen jedoch alle herauszuarbeiten, wie die Literatur und die Poetik des Barock von der antiken Rhetorik geprägt waren. Hildebrandt-Günther zeigt, „[…] wie stark noch die deutsche literarische Theorie des 17. Jahrhunderts der antiken Rhetorik in Regel und Wertungen verpflichtet ist.“ (Hildebrandt-Günther 1966, 11), indem sie deutsche Poetiken aus dem 17. Jahrhundert auf ihr Verhältnis zur Antike bzw. zur antiken Rhetorikanweisung analysiert. Ziel der Arbeit von Dyck ist es, „die ,Dichtkunst‘ des 17. Jahrhunderts auf ihre Abhängigkeit von der Rhetorik zu befragen und ihr damit einen historisch relevanten Maßstab anzulegen.“ (Dyck 1966, 21). Er stellt fest, dass Poetiken lediglich Spezialrhetoriken waren; die gebundene Rede galt als höchste Form der Rhetorik, die sich nur durch Metrum und Reim von der „normalen“ Rede unterschied (Dyck 1966, 13). Auch Dyck zeichnet am Beispiel der Topik und der rhetorischen Stillehre im zweiten und dritten Kapitel seiner Arbeit nach, wie in den deutschen Poetiken, die sich auf die klassische Rhetorik und die Humanistenpoetik (die wiederum auf der Rhetorik basiert) stützten (Dyck 1966, 14), die Tradition fortgeführt wird. Gegen solche Kontinuität versucht Fischer, Veränderungen innerhalb der BarockPoetik herauszuarbeiten. Das Anliegen seiner Arbeit ist es, „an wenigen wichtigen Theoremen das Verhältnis der barocken Poetik und Rhetorik zur Tradition zu untersuchen, um an beobachtbaren Verschiebungen und Umdeutungen das vielleicht doch in bezeichnender Weise geprägte Gesicht der Literaturtheorie dieser Epoche erkennen zu kön-
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nen und so zum Verständnis dessen beizutragen, was rhetorisch im Barock bedeutet.“ (Fischer 1968, 3) Angestoßen durch diese „Meilensteine“ zeigt sich in der deutschen Poetikforschung eine deutliche Hinwendung zur Rhetorik: Wurde in den 1950er Jahren der Zusammenhang von Poetik und Rhetorik noch weitgehend vernachlässigt (vgl. Martini 1957), wird er in aktuellen Schriften stets betont und unter Aspekten der Differenz verhandelt (z. B. Knape 2006; Till 2007). Knape (2006) nimmt die Literatur ausdrücklich als kommunikatives Faktum in den Blick und verbindet Poetik und Rhetorik unter dieser analytischen Prämisse. Im Unterschied zu den Genannten konzentriert Wilfried Barner sich nicht auf die Poetiken, sondern auf die Verankerung der Rhetorik in Gesellschaft und Bildungswesen des 17. Jahrhundert und damit auf eine Untersuchung des „sozialen und bildungsgeschichtlichen Kontextes der Rhetorik“ (Barner 1970, 84). Barner stellt hier die Einheit von doctrina, exempla und imitatio fest, die den Unterricht der Barockzeit prägte (Barner 1970, 59), und betont, dass bei den Voraussetzungen der Barockliteratur nicht nur die Theorie (doctrina) in Form der ⫺ von den zuletzt genannten Autoren untersuchten ⫺ Poetiken berücksichtigt werden muss, sondern auch die Tradition der exempla und der imitatio. Einen sozialhistorischen Ansatz verfolgt die Arbeit von Volker Sinemus (1978), der einen Zusammenhang zwischen der literaturwissenschaftlichen Theorie und den politisch-sozialen Gegebenheiten des Barock herzustellen versucht und dabei zu dem Ergebnis kommt, „daß die Entwicklungsstufen der dargestellten sozhialhistorischen Wandlungsprozesse den Entwicklungsstufen in der rhetorisch-poetologischen Decorum- und Stillehre entsprechen.“ (Sinemus 1978, 243)
3.1.3. Konsolidierung der literaturwissenschatlichen Rhetorikorschung ab den 1970er Jahren bis heute Im Anschluss an die Vorreiterrolle der Barockforschung dehnt sich die literaturwissenschaftliche Rhetorikforschung ab den 1970er Jahren auf das 18. Jahrhundert aus. Eine der ersten umfänglichen Einzelstudien gilt Friedrich Schiller. Gert Ueding zeigt, wie eng sich dessen ästhetische Theorie an die rhetorische Tradition anlehnt (Ueding 1971). So variiert das Ideal der Ganzheit, das in den Briefen zur ästhetischen Erziehung entworfen wird, die rhetorische aptum-Lehre und knüpft an das vir-bonus-Ideal an, die Ausdifferenzierung von Anmut, Schönheit und Erhabenheit ist ohne die rhetorische Affektenlehre und die Theorien Pseudo-Longins nicht denkbar, das Selbstverständnis des Dichters in kritischer Gegenüberstellung von Redner und Schriftsteller erst richtig zu erfassen. Dass Schiller sich in seinen ästhetischen Schriften so häufig auf die Rhetorik bezieht, ist dabei nach Ueding nicht verwunderlich, da dessen Ausbildung noch ganz im Zeichen einer rhetorischen Tradition stand. Insgesamt kommt Ueding zu dem Ergebnis, dass der „Verfallsprozeß der Redekunst, der weit bis ins neunzehnte Jahrhundert andauert, nur die Rhetorik als festes Lehrgebäude“ berührt, „nicht aber die rhetorischen Elemente überhaupt aus Dichtkunst und Ästhetik verbannt“ (Ueding 1998, 190). Einen ähnlich hohen Stellenwert misst Jürgen Schröder der Rhetorik bei Lessing zu, er zeigt, wie sehr Lessings Sprache, aber auch seine Argumentationsweise von der Rheto-
1894 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart rik geprägt ist (Schröder 1972), und auch diese Studie hat sich zu einem Modell zur Erforschung der Rhetorik im 18. Jahrhundert entwickelt. Nachdem man zunächst das Ende der rhetorischen Tradition mit dem 18. Jahrhundert assoziiert hatte, trennt man sich auf Grund solcher Forschungsergebnisse in der Literaturwissenschaft zusehends von diesem Paradigma. Stattdessen nimmt man „Transformationsprozesse“ an, die rhetorisches Wissen in veränderter Form bewahren. Beispielhaft ist etwa Carsten Zelle, der Pseudo-Longin als wichtigen Bezugspunkt der Autonomisierung der Ästhetik im 18. Jahrhundert auffasst, um Diskontinuität, Naturwüchsigkeit und Individualität als Merkmale der Literatur besser verstehen zu können (Zelle 1989) sowie Anna Carrdus, die die Erlebnislyrik im Sinne einer rhetorischen Schreibart deutet und der evidenten Darstellungsweise eine entscheidende Rolle bei dem Versuch zuschreibt, innere Empfindungen transparent zu machen (Carrdus 1993). Beide Autoren lassen dabei, gerade indem sie sich auf die Genieperiode konzentrieren, die These eines radikalen Neubeginns in der Literatur hinfällig werden. Vor diesem Hintergrund ist auch das Paradigma „Selbstüberredung“ in der Literatur des 18. Jahrhunderts bedeutsam. Den von Blumenberg eingeführten Begriff nutzt etwa Erich Meuthen (1994), um Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser und Goethes Werther zu verstehen, und macht so eine anthropologische Sichtweise der Rhetorik für die Literaturwissenschaft fruchtbar: Der Individualitätsdiskurs des 18. Jahrhunderts ist, so gesehen, auch ein rhetorisches Phänomen, bei dem die Konstruktion eines einheitlichen Selbstbildes zu einem Akt rhetorischer Selbstüberredung wird. Heike Mayer untersucht den Einfluss der Rhetorik auf Lichtenberg am Beispiel der Sudelbücher (Mayer 1999), die nach Mayer in der Tradition rhetorischer Kollektaneen stehen, die dem Redner die copia rerum erschließen sollen. Allerdings variiert Lichtenberg das Modell immer mehr zu einer „Methode der Kritik“ und aktualisiert das rhetorische Verfahren auf diese Weise im Sinne der Aufklärungsbewegung, setzt also die kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten, nicht ihre bloße Sammlung und Strukturierung, an die erste Stelle. Mayer entwickelt in ihrer Arbeit eine Rhetorikdefinition, die den Konflikt zwischen schulrhetorisch-systematischen und anthropologischen bzw. affektrhetorischen Modellen überwindet, sieht die Literatur des 18. Jahrhunderts in Beziehung zu einer offenen und dynamischen rhetorischen Tradition. Ähnliches gilt für Björn Hambsch, der die Transformation antiker und moderner Rhetorik bei Herder untersucht (Hambsch 2007). Er kommt zu dem Ergebnis, dass bei Herder eine „Partikularisierung“ der Rhetorik zu beobachten sei, die es dem Autor ermögliche, regelrhetorische Paradigmen kritisch zu bewerten, aber zugleich die Bedeutung der Rhetorik für Poetik, Religion, Philosophie anzuerkennen. Nach Hambsch tritt bei Herder zudem die politische Dimension der Rhetorik wieder in den Vordergrund, indem er sich mit Fragen nationaler Identität und Kultur beschäftigt. Olaf Kramer schließlich zeigt, wie auch bei dem scheinbar unrhetorischen Autor Goethe die ästhetische Theoriebildung von der Rhetorik dominiert wird (Kramer 2009). Goethe entdeckt in anthropologischen und affektrhetorischen Theoremen Modelle einer individuellen Ausdrucksästhetik und adaptiert zugleich den in der Rhetorik formulierten Kompromiss zwischen handwerklich-systematischen und anthropologischen Rhetorikmodellen schon in der Geniephase. Auch über ästhetische Fragen hinaus ist die rhetorische Tradition für ihn relevant. So setzt er sich in psychologisierender Form mit Modellen rhetorischer Verhaltensregulierung auseinander und stellt in Iphigenie auf Tauris unterschiedliche rhetorische Typologien gegeneinander, im Tasso, aber auch schon im
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Werther beschäftigt ihn die Aktualität des cortegiano-Ideals. Selbst die erkenntnistheoretische Dimension der Rhetorik ist Goethe vertraut, sie spielt etwa im Faust eine Rolle. Beim späten Goethe reift dann, beeinflusst etwa durch Ernestis Handbücher, im Divan ein Modell reiner Rhetorik, in dem der ästhetische Wert, die affektive Wirkung rhetorischer Figuren entscheidend ist. Damit kommt Goethe zu einer Ästhetik rhetorischer Artifizialität, die schon in Richtung der Romantik weist, die Peter D. Krauses Studie Unbestimmte Rhetorik am Beispiel Friedrich Schlegels untersucht (Krause 2001). Der Rhetorik-Auffassung Schlegels, der in seiner romantischen Romanpoesie bzw. „Progressiven Universalpoesie“ Poesie, Philosophie und Rhetorik in Beziehung setzt, widmet sich auch Helmut Schanze. Hier konzentriert Schanze sich auf „das für das Verhältnis von ,Aufklärungspoetik‘ und Romantik bedeutsame, in der Romantikforschung kaum beachtete Element ,Rhetorik‘“ (Schanze 1976, 10) und arbeitet an dieser Stelle Übergangsund Verbindungspunkte zwischen den zunächst als Gegensatz verstandenen Epochen Romantik und Aufklärung heraus. Die Rhetorik-Praxis dieser Zeit steht im Mittelpunkt der Arbeit von Peter Philipp Riedl, der die Foren (und Formen) öffentlicher Rede um 1800 untersucht ⫺ öffentliche Vorlesung, politische Predigt und Reden innerhalb von Dramen ⫺ und zeigt, dass die tradierten rhetorischen Strategien, z. B. die Wirkungsfunktionen des docere und delectare bei den öffentlichen Vorlesungen ⫺ zur Anwendung kommen (Riedl 1997, 219). Dietmar Till geht in seiner Studie Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert (2004) von der Beobachtung aus, dass die Forschung ganz unterschiedliche Rhetorikbegriffe verwendet hat, wenn es darum geht, den Untergang oder die Kontinuität der Rhetorik im 18. Jahrhundert zu zeigen: ,Tod‘ oder ,Weiterleben‘ erweist sich als Ergebnis eines historiografischen Konstruktionsprozesses, der als solcher kaum je reflektiert wurde. Till geht in seiner Darstellung vom Konzept der Rhetorik als ,Kunstlehre‘ aus, wie sie seit der Antike in Gestalt der officia-Systemrhetorik in zahlreichen Lehrbüchern vorliegt. Sie wird von ausschließlich wirkungsorientierten und anthropologisch fundierten Rhetorikkonzepten abgegrenzt, wie sie prominent von Dockhorn vertreten wurden. Aus dem Widerstreit systematischer und anthropologischer Rhetorikmodelle „läßt sich ein historiographisches Schema ableiten, das die Denkfigur der ,rhetorica contra rhetoricam‘ zum inhärenten Strukturprinzip ihrer Historie macht: Rhetorikgeschichte läßt sich, von der Persistenz des Systems ausgehend, als Geschichte der Abweichungen von der doctrina des ,idealen‘ Rhetorik-Lehrbuchs schreiben.“ (Till 2005a, 79) In der historischen Rekonstruktion zeigt sich, dass die Rhetorik keineswegs erst im 18. Jahrhundert in die Kritik gerät; vielmehr lässt sich Rhetorikgeschichte insgesamt als ein kontinuierlicher Prozess von Transformationen beschreiben, als Auseinandersetzung widerstreitender Konzepte von Rhetorik: Der Bruch mit ,der‘ rhetorischen Tradition sei „kein Ereignis, das sich zeitlich einigermaßen genau definieren und eingrenzen ließe, vielmehr Ergebnis eines langwierigen Prozesses, der für die longue dure´e der Frühen Neuzeit selbst konstitutiv ist und erst im 18. Jahrhundert zur gänzlichen Ablehnung“ (Till 2004, 96 f.) der Rhetorik führt. Dieser Transformationsprozess wird an den zentralen Theorietexten der Rhetorikgeschichte von 1600 bis 1800 vorgeführt. Tills Buch Das doppelte Erhabene. Geschichte einer Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts stellt die Rezeption von Pseudo-Longins Peri hypsus (Über das Erhabene) seit der Frühen Neuzeit dar. Der Verfasser geht von der These aus, dass Longins hypsos-Begriff mit dem hohen Stil der schulrhetorischen Dreilstillehre nicht
1896 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart identisch ist. Aus dieser Differenz entwickelt sich ein Reibungspotential zwischen dem ,Erhabenen‘ (hypsos/sublimitas) und dem ,erhabenen Stil‘ (genus sublime), das im Zentrum der komparatistisch argumentierenden Studie steht. Till zeigt, wie sich die Geschichte des Erhabenen als langdauernder und zäher Ablösungsprozess aus den Vorgaben rhetorischer Normen schreiben lässt. Sie lässt sich zugleich als Emanzipation der Ästhetik von der Rhetorik verstehen. Der in der germanistischen Literaturwissenschaft kanonischen Ansicht, dass die barocke Poetik die Rhetorik vollständig unter ihre „Schirmherrschaft“ nehme und ihr als „Sondergattung rhetorischen Schrifttums nur wenig Eigenständigkeit“ erlaube (Dyck 1966/1991, 26 f.), stellt Till ein komplexeres Modell einer ,synkretistischen Poetik‘ an die Seite. Er geht von der Beobachtung aus, dass sich in frühneuzeitlichen Poetiken Elemente einer ,platonischen‘ Dichtungstheorie, welche sich auf Inspiration und Enthusiasmus des als poeta vates verstandenen Poeten beziehen, mit rhetorischen Elementen vermischen, die vom Grundsatz der Poetik als einer Kunstlehre (ars) ausgehen und ein (eher) handwerkliches Poesiemodell pflegen. Poetikgeschichtlich mündet dies in die Subversion der ,rhetorisierten‘ Poetik, wenn sich etwa Autoren wie Albrecht Chr. Rotth am Ende des 17. Jahrhunderts bei der Behandlung der Topik nicht auf die rhetorische Kunstlehre, sondern auf das ,Herz‘ und den furor poeticus als Organ poetischer Findekunst verlassen wollen (Till 2001): Dies sei Ausdruck einer Verschiebung innerhalb der Dialektik von natura und ars in Richtung der natürlichen Anlage; rhetorische Kunstlehre werde dadurch funktionslos. Seit der Frühaufklärung sei insgesamt von einem Prozess der ,Entrhetorisierung‘ der Poetik auszugehen, der sich auf unterschiedlichen Ebenen (Produktionsästhetik: Geniebegriff und Verabschiedung der Poetik als Produktionslehre; externe Funktionen von Literatur: Abschied von der prodesse-delectare-Formel, Abkehr von der Gelehrtenpoesie und der imitatio-Ästhetik; Entfunktionalisierung der Antike als Diskursnorm; Till 2005b) zeige.
3.1.4. Neue Verwendungsweise des Rhetorikbegris in der Literaturwissenschat ab den 1980er/1990er Jahren Neben solchen Studien zu einzelnen Epochen oder Autoren beruht die „Konjunktur der Rhetorik in der Literaturwissenschaft“ (Till 2007, 451) auf dem Ansatz der Dekonstruktion. 1967 vom Philosophen Jaques Derrida etabliert, wird dieser Ansatz vor allem von Paul de Man unter Rückgriff auf Ansätze bei Kenneth Burke für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht (Knape 2000). Unter Bezugnahme auf Nietzsches RhetorikVorlesungen aus dem Wintersemester 1872/73, der die Figuralität jeglicher Sprachäußerung betont, konzentriert sich de Man auf die rhetorischen Eigenschaften eines Textes, seine „Rhetorizität“, d. h. auf die Tropen und Figuren, denn „sie sind es, die der Begriff Rhetorik hier bezeichnet, und nicht die abgeleiteten Bedeutungen von Erläuterung, Redegewandtheit und Überredung“ (de Man 1988, 35). Die Inhaltsseite des Sprachzeichens wird problematisiert, die Möglichkeit, durch Sprache Zugang zur Wirklichkeit zu gewinnen, verneint ⫺ auf diese Weise rückt der Signifikant als materieller Zeichenträger in den Mittelpunkt, „Sprache wird in ihrer autonomen, von Referenz befreiten Kraft entdeckt (Pekar 1994, 518; vgl. de Man 1988, 34). Die Dekonstruktion als literaturwissenschaftliche Methode wird bis zur Mitte der 1980er Jahre in Deutschland zwar rezipiert, ein der Situation in den USA vergleichbarer
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Erfolg bleibt jedoch aus. Kritiker werfen der Dekonstruktion u. a. ihr verkürztes, auf die Figurenlehre reduziertes Rhetorikverständnis vor (Vickers 1988; Knape 2000), aber auch, dass die von de Man vorgesehenen „technisch korrekten readings“, d. h. ein Nachvollziehen der Tropenbewegungen, zu einer tendenziell finiten Anzahl von Lektüren führe und die Wirkung des Werks letztlich neutralisiere (Fohrmann 1993; vgl. Wegmann 1997). Der von Jürgen Fohrmann herausgegebene Sammelband Rhetorik. Figuration und Performanz zum Germanistischen Symposion 2002 zeigt jedoch, dass verschiedene Diskussionen der Sprach- und Literaturwissenschaft von einer systematischen Bezugnahme auf die Rhetorik bzw. einzelne Gebiete der Rhetorik (z. B. Tropen, actio) profitieren können (Fohrmann 2004; aus rhetoriktheoretischer Perspektive dazu Knape 2008).
4. Rhetorik und Stilistik in aktuellen literaturwissenschatlichen Handbüchern, Lexika und Einührungen Der „Wiederaufstieg“ der Rhetorik ab der Mitte des 20. Jahrhunderts und ihre aktuelle Verankerung im Fach Literaturwissenschaft kann exemplarisch anhand von Fach-Lexika und -Einführungen nachvollzogen werden: Während in Lexika und Handbüchern aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Rhetorik keine Beachtung findet, wird sie ab den 1960er Jahren stärker thematisiert und findet sich in allen aktuellen literaturwissenschaftlichen Lexika und Handbüchern sowie in den meisten Einführungen.
4.1. Handbücher und Lexika Einen ersten Hinweis auf die Bedeutung der Rhetorik in der Literaturwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts liefert die erste Auflage des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte von 1929: Zwischen den Lemmata Rheinpoesie und Rhythmische Dichtung „fehlt“ ein Eintrag zur Rhetorik; die Rhetorik als Disziplin ist ⫺ mit ihrer Geschichte, ihrer Systematik etc. ⫺ aus dem Lehrgebäude der Literaturwissenschaft verschwunden. Doch auch Mitte des Jahrhunderts hat sich die Lage noch nicht verändert, wirft man einen Blick in die Deutsche Philologie im Aufriß, ab 1952 herausgegeben von Wolfgang Stammler: Ein eigener Aufsatz zur Rhetorik ist nicht vorhanden, aber auch in verwandten Aufsätzen ⫺ zur Methodenlehre der Literaturwissenschaft, zur Poetik und zur Sprechkunde ⫺ wird Rhetorik nur marginal thematisiert: Im Beitrag von Horst Oppel zur Methodenlehre der Literaturwissenschaft heißt es beispielsweise lapidar zum Zusammenhang von Rhetorik, Poetik und Stilistik: „So wird die sprachliche Eigengesetzlichkeit des Werkes zum Arbeitsfeld der Stilistik. […] Wesen, Formen und Arten der Dichtung allgemein zu bestimmen, bleibt der Poetik vorbehalten. Da nach Überzeugung von Antike, Mittelalter und Humanismus bestimmte lit. Gattungen dem Dichter die zu verwendenden Kunstmittel vorschreiben, ist zwischen Stilistik und Poetik der Rhetorik ihr Platz zuzuweisen. Sie hat sich historisch nicht nur für die äußere Formensprache als höchst bedeutsam erwiesen, sondern stellt einen kraftvollen Impuls des abendländischen Geisteslebens dar, indem sie den Zusammenhang mit der Antike gewährleistet hat.“ (Oppel 1957, 52) Und Fritz Martini beobachtet in seinem Beitrag zur Poetik zwar eine „neue […]
1898 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Hinwendung zur Poetik“, die sich mit der „Strukturanalyse des einzelnen dichterischen Gebildes wiederum der Beschäftigung mit den solcher Strukturanalyse zugrundeliegenden generellen Kategorien und Formen“ beschäftigt (Martini 1957, 221), stellt abschließend jedoch fest, dass die Stilkunde, die rhetorischen Figuren, in der aktuellen Dichtung ⫺ und damit auch in der Literaturwissenschaft ⫺ an Bedeutung verloren haben: „Die Wandlungen des dichterischen Sprechens von rhetorischer Kunst zur unmittelbaren Erlebnisaussage haben ihre [d. h. der Stilkunde, J. S.] lange zentrale Geltung stark gemindert; heißt dichterisches Sprechen doch nicht mehr ein geschicktes und kenntnisreiches Ausfüllen und Handhaben vorgeprägter Formelemente, sondern ein schöpferisches Erzeugen eigener freier Sprachmöglichkeiten aus der unmeßbaren Seelenbewegung heraus.“ (Martini 1957, 259) Auch im Artikel über „Sprechkunst“ von Walter Wittsack findet die Rhetorik nur ganz am Rande Erwähnung: Selbst im Abschnitt über die Geschichte der Sprechkunst verweist Wittsack in erster Linie auf die Anweisungen zur Deklamation aus der Goethe-Zeit und thematisiert die Problematik fehlender Ton-Aufnahmen; eine zu erarbeitende Geschichte der „Redekunst“ wird nur ganz am Ende ⫺ und ohne expliziten Hinweis auf Rhetorik ⫺ skizziert. Dabei enthält der Artikel durchaus rhetorisches Gedankengut, wenn er beispielsweise davon ausgeht, dass der Sprecher (bzw. Redner) sich mit der Situation seines Sprechens (Raum, Zeit, Zuhörer etc.) auseinandersetzen und dabei Schwierigkeiten bewältigen muss (Wittsack 1957, 1503). Einen Umbruch im Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Rhetorik markiert der Artikel Rhetorik von Walter Jens in der zweiten Auflage des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, das 1977 erscheint: Jens definiert die Rhetorik als „Kunst des guten Redens (und Schreibens)“ (Jens 1977, 432) und verdeutlicht so, indem er auf die für die Literaturwissenschaft grundlegende Definition der Rhetorik als ars bene dicendi Bezug nimmt, gleich zu Beginn die Relevanz der Rhetorik für Literatur und Literaturwissenschaft. Jens stellt das System der antiken Rhetorik (z. B. Wirkungsfunktionen, Stilebenen, Figuren) ausführlich dar und zeichnet nach, wie sich die Rhetorik im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat ⫺ immer in Bezug auf ihre Relevanz für die Literaturwissenschaft. Der Artikel endet mit einem kurzen Forschungsüberblick, in dem die o. g. „Meilensteine“ ⫺ sofern sie zum Erscheinungszeitpunkt des Bandes vorlagen ⫺ gewürdigt werden (Jens 1977, 447). In aktuellen literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken und Handbüchern ist stets ein Artikel zur Rhetorik enthalten, der neben einer Skizze des rhetorischen Systems in der Regel auch einen historischen Abriss umfasst sowie einen Verweis auf einzelne literaturwissenschaftliche Rhetorikforschungen oder zumindest einen Hinweis darauf, dass die Rhetorik in der Literaturwissenschaft an Bedeutung gewonnen hat. Dieser Bedeutungsgewinn zeigt sich auch darin, dass die Artikel meist mit verwandten Lemmata (inventio, dispositio etc.) verknüpft sind (z. B. Braungart/Till 2003; Knape 2007) ⫺ rhetorisches Vokabular hat also verstärkt Eingang in die Literaturwissenschaft gefunden. Ein ähnlicher „Niedergang“ und „Wiederaufstieg“ der Rhetorik innerhalb der Literaturwissenschaft lässt sich auch anhand literaturwissenschaftlicher Einführungen nachvollziehen.
4.2. Literaturwissenschatliche Einührungen Als Beleg für den „Niedergang“ der Rhetorik in der Literaturwissenschaft seien an dieser Stelle exemplarisch nur drei Einführungen aus der Zeit vor der „Renaissance der Rheto-
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rik“ (Schanze 1974, 7) genannt: In seinem Forschungsüberblick Der gegenwärtige Stand der deutschen Literaturwissenschaft von 1928 stellt Oskar Benda die zeitgenössischen literaturwissenschaftlichen Strömungen in der Germanistik dar. Ein explizit rhetorischer Ansatz ist nicht darunter, und auch rhetorisches Gedankengut ist in keinem der Ansätze enthalten. Auch weder in Richard Newalds Einführung in die deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft (1947), noch in der Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft von Karl Otto Conrady von 1966 findet sich eine Bezugnahme auf die Rhetorik. Obwohl erste „Meilensteine“ der literaturwissenschaftlichen Forschung zur Rhetorik (Curtius, Lausberg, Dockhorn) zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Werks bereits vorlagen, waren diese Erkenntnisse und Ansätze noch nicht in literaturwissenschaftliche Einführungen diffundiert. Erst 1973, in den von Heinz Ludwig Arnold und Volker Sinemus herausgegebenen Grundzügen der Literatur- und Sprachwissenschaft, stellt Ludwig Fischer die Rhetorik systematisch dar und erläutert ihren Bezug zur Literaturwissenschaft. Fischer wendet sich explizit gegen den „gängigen, pejorativ wertenden Gebrauch der Begriffe ,Rhetorik‘ und ,rhetorisch‘“ (Fischer 1973, 134) und betont, dass der übliche Sprachgebrauch, der mit Rhetorik „veräußerlichte Schönrednerei“ oder „demagogischen, rätselhaft hypnotisierenden Wortzauber“ verbindet, nur ein Teilgebiet der Rhetorik, den ornatus, im Blick hat (ebd.). Eine solche Betrachtungsweise, so Fischer, „verkennt den Nerv der Rhetorik“, den er als das „Prinzip der Wirkungsbezogenheit“ definiert (Fischer 1973, 141). Fischer zeigt, dass „Rhetorisches“ wie beispielsweise Tropen und Stilfiguren, rhythmische Satzschlüsse und Perioden, nicht als bloß Formales, Äußerliches oder Aufgesetztes sind, „das man gleichsam abzulösen hat, wenn man zum ,Wesentlichen‘ vordringen will“ (Fischer 1973, 135), sondern dass Figuren, Tropen und andere rhetorische Gestaltungsmittel gleichzeitig Mittel der Persuasion sind. Die Bedeutung der Rhetorik für die Literaturwissenschaft liege in eben diesem Zusammenhang von Intention und sprachlicher Gestaltung, den die Literaturwissenschaft zu erkunden habe (Fischer 1973, 156). In anderen literaturwissenschaftlichen Einführungen aus den 1970er Jahren wird der Stellenwert der Rhetorik für die Literaturwissenschaft nicht vergleichbar beurteilt: Weder in der Einführung in die Literaturwissenschaft von Jochen Schulte-Sasse und Renate Werner (1977), noch in der Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft von Dieter Gutzen, Norbert Oellers und Jürgen H. Petersen (1976). Anhand dieser letzteren Einführung lässt sich jedoch demonstrieren, wie die Bedeutung der Rhetorik in der Literaturwissenschaft zugenommen hat: Zwar findet sich auch in der Neuauflage von 2006 kein eigenes Rhetorik-Kapitel, innerhalb verschiedener Beiträge wird die Rhetorik jedoch explizit einbezogen, und das rhetorische System wird, soweit es für den jeweiligen Zusammenhang relevant ist, punktuell dargestellt (z. B. Stil und Stilebenen, Figurenlehre, Zusammenhang von Rhetorik und Poetik und die Rolle der Rhetorik für Semiotik und Dekonstruktion) (Petersen/Wagner-Egelhaaf 2006). Diese stärkere Einbeziehung von rhetorischen Denkweisen und Fachbegriffen ist symptomatisch für aktuelle Einführungen in die Literaturwissenschaft: In den meisten Büchern, die sich als Einführung für Studienanfänger verstehen, finden sich Aufsätze bzw. Kapitel oder Abschnitte zum Thema Rhetorik; wo dies nicht der Fall ist, wird zumindest punktuell bei einzelnen Themen auf die Rhetorik Bezug genommen. Allerdings findet diese Bezugnahme an unterschiedlichen Systemstellen innerhalb der Einführungswerke statt: Zum Teil ist der Beitrag zur Rhetorik in einem größeren Abschnitt zur „Textproduktion/-gestaltung“ enthalten (z. B. Becker u. a. 2006; Arnold/Dete-
1900 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart ring 1996; Pechlibanos u. a. 1995), die produktionsästhetische Orientierung der Rhetorik wird also betont. Zu einem größeren Teil wird die Rhetorik jedoch als ein Mittel der Textanalyse bzw. -interpretation dargestellt (z. B. Schneider 1998; Klarer 1999; Stenzel u. a. 2001; Brackert/Stückrath 2001), d. h. die analytische Funktion der Rhetorik steht im Vordergrund. Nur selten wird verdeutlicht, wie diese beiden Perspektiven zusammenhängen bzw. dass die Rhetorik innerhalb der Literaturwissenschaft eine Doppelfunktion einnimmt: „Die Rhetorik ist beides: Lehre der Textproduktion und des Textverstehens.“ (Allkemper/Eke 2006, 82) Der größte Teil der Einführungen entzieht sich ganz einer solch systematischen Einordnung und stellt die Rhetorik ⫺ relativ unverbunden ⫺ als eines von vielen Themen der Literaturwissenschaft dar, neben Themen wie literarische Gattungen, Metrik, Intermedialität oder Literaturgeschichte (z. B. Grimm u. a. 1997; Jeßing/Köhnen 2003; Köhler 2006; Vogt 2002). Ergibt sich auf der Ebene des Aufbaus kein einheitliches Bild der systematischen Einund Zuordnung von Rhetorik in der Literaturwissenschaft, zeigen sich auf der inhaltlichen Ebene zunächst große Ähnlichkeiten: In allen Rhetorik-Kapiteln und -Abschnitten wird ⫺ mehr oder weniger ausführlich ⫺ das rhetorische System dargestellt und meist um einen kurzen Abriss über die Geschichte der Rhetorik ergänzt. Sämtliche Einführungen bieten eine kurze Darstellung und Erläuterung der Produktionsstadien (officia oratoris), der Schwerpunkt wird hier meist auf das Stadium der elocutio gelegt. Neben der Figurenlehre wird zumeist auch das Prinzip der Dreistillehre erläutert, zum Teil mit Verweis auf die „Anwendung“ dieses Prinzips in literarischen Werken, d. h. die von der rota virgilii abgeleitete Ständeklausel (z. B. Jeßing/Köhnen 2003, 153). Andere Aspekte der elocutio wie die virtutes elocutionis und das aptum werden dagegen nicht sehr häufig erläutert. Aus dem Bereich der inventio findet bei einem kleinen Teil der Einführungen die Topik Erwähnung, stärkere Beachtung gilt dagegen aus dem Bereich der dispositio dem klassischen Aufbauschema der partes orationis. Den Produktionsstadien übergeordnete Prinzipien wie die Wirkungsfunktionen (delectare, docere, movere) und die Redegattungen (genera causarum) werden insgesamt nur selten genannt und erläutert. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt dagegen im Großteil der Einführungen auf dem Bereich des Redeschmucks (ornatus), und hier v. a. auf den Tropen und Figuren. Mit Formulierungen wie etwa das „Inventar sprachlicher Figuren“ stelle eine „wichtige Grundlage für die sprachliche Gestaltung literarischer Texte wie für deren Analyse“ dar (Stenzel u. a. 2005, 44; ähnlich auch bei Korte u. a. 2004, 116; Neuhaus 2005, 104) oder die Kenntnis der Fachbegriffe für Tropen und Figuren sei „für Germanisten unverzichtbar“ (Becker u. a. 2006, 57), machen die Autoren deutlich, dass die Relevanz der Rhetorik für die Literaturwissenschaft vor allem in diesem Bereich zu suchen ist. Auch implizit kommt dies zum Ausdruck: So demonstriert beispielsweise Neuhaus die Anwendung von Rhetorik in der Literaturwissenschaft anhand einer Beispielanalyse von Stilmitteln in Heines „Die Heimkehr“ (Neuhaus 2005, 107 ff.) und Böker/Houswitschka nennen zwar die fünf Produktionsstadien, erläutern jedoch ausschließlich Themen im Bereich der elocutio (Tropen, Figuren, Stilebenen, Änderungsoperationen), so dass die Rhetorik gewissermaßen nur als Hinführung zur Stilistik dient: Erst dort setzt die „eigentliche“ literaturwissenschaftliche Betrachtungsweise an, die versucht, mit Hilfe der Bestimmung eines literarischen Stils die Frage zu beantworten, was Literatur bzw. Literarizität eines Textes ist (Böker/Houswitschka 2000, 180 ff.). Der Stilistik wird also, zumindest in einigen Einführungen, eine größere Bedeutung für die Literaturwissenschaft zugewiesen als der Rhetorik bzw. die Stilistik wird als „Nachfolgerin“ der Rhetorik betrachtet, die die für die
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Literaturwissenschaft relevanten Bereiche der Rhetorik übernimmt (vgl. Klarer 1999, 14 f.; Schneider 1998, 61). Da die Bedeutung der Rhetorik für die Literaturwissenschaft im Bereich der Stillehre gesehen wird, dient der Abschnitt bzw. das Kapitel über Rhetorik in vielen Einführungswerken auch dem Zweck, dem Studienanfänger Wissen über gängige Stilmittel, in erster Linie Tropen und Figuren, zu vermitteln; häufig auch in Form eines (tabellarischen) Überblicks. Der größte Teil der Einführungen folgt dabei der von Lausberg in der Literaturwissenschaft etablierten Systematik und unterscheidet Redeschmuck in Einzelwörtern (in verbis singulis) und in Wortverbindungen (in verbis coniunctis) (z. B. Köhler 2006; Grimm u. a. 1997). Auch die Einteilung der Figuren nach Art der Änderungsoperation (adiectio, detractio, immutatio, transmutatio) wird zum Teil von Lausberg übernommen (so bei Becker u. a. 2006; Jeßing/Köhnen 2003). Einige Einführungen weichen jedoch von der Lausbergschen Systematisierung ab (z. B. Neuhaus 2005, der neben Wort-, Satz- und Gedankenfiguren noch die Kategorie „Bilder“ einführt oder Schneider 1998, der sich an den verschiedenen Ebenen der Sprache bzw. des Stils orientiert) oder verzichten ganz auf eine systematische Darstellung der rhetorischen Figuren: So nennen Böker/Houswitschka zwar die Termini „Tropen“ und „Figuren“, unterscheiden diese jedoch nicht systematisch (Böker/Houswitschka 2000, 179), Vogt verweist ausschließlich auf weiterführende Literatur (Vogt 2002, 77) und Allkemper/Eke stellen ausgewählte Stilmittel nicht in systematischer, sondern alphabetischer Reihenfolge dar (Allkemper/Eke 2006, 84 ff.). Neben diesem Großteil der Einführungen, der sich im Bereich „Rhetorik“ auf das Thema „Figurenlehre“ konzentriert, gibt es auch eine kleinere Gruppe von Einführungen, die andere Schwerpunkte setzt: So ist z. B. der Beitrag von Torra (1995) in erster Linie historisch ⫺ also weniger systematisch ⫺ angelegt und nimmt nicht auf das System der Tropen und Figuren Bezug. Auch bei Fischer, der sich explizit gegen den „Formalismus“ wendet, der der Rhetorik angelastet wird, findet sich keine systematische Übersicht über Figuren oder dergleichen; er weist nur darauf hin, „daß die traditionelle […] Systematik der Rhetorik […] das persuasive Moment in ganz bestimmten gedanklichen und sprachlichen Formen gleichsam konserviert zu haben scheint“ (Fischer 1973, 142). Ähnlich ist der Beitrag von Neumann in der Neuauflage der Grundzüge von 1996 ausgerichtet. Eine andere Begründung für die „Auslassung“ der Figurenlehre liefern Stenzel u. a., die der Figurenlehre keine besonders große aktuelle Bedeutung zumessen: „Sie werden zu sprachlichen Verfahren, die nicht mehr die Wirksamkeit von Aussagen unterstützen, sondern die Autoreferentialität literarischer Texte begründen.“ (Stenzel u. a. 2001, 44) Ein Grund für diese unterschiedliche und uneinheitliche Darstellung der Rhetorik und ihrer Bedeutung für die Literaturwissenschaft könnte darin zu suchen sein, dass in den Einführungen häufig nicht zwischen der Rhetorik als ars bene dicendi und als ars persuadendi unterschieden wird. Zwar definieren einige Einführungen Rhetorik zunächst im Sinne der ars persuadendi als „Kunst der Meinungsbeeinflussung“ o. ä., konzentrieren sich im weiteren Verlauf dann jedoch auf die Figurenlehre (z. B. Allkemper/Eke 2004) oder nehmen nicht weiter auf diese Definition Bezug (z. B. Neuhaus 2005). Häufig wird Rhetorik gar nicht oder nicht eindeutig definiert ⫺ einige übernehmen die Definition von Jens, der in seiner Übersetzung von ars bene dicendi als „die Kunst, gut und wirkungsvoll zu reden“, selbst zwischen diesen beiden Definitionen schwankt ⫺ so dass auch an dieser Stelle nicht explizit gemacht wird, inwiefern Rhetorik für die Literaturwissenschaft relevant ist. Allerdings machen einige Einführungen auch deutlich, dass die
1902 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Bedeutung der Rhetorik für die Literaturwissenschaft nicht allein im Bereich der Figurenlehre zu suchen ist: Autoren wie Fischer (1973), Neumann (1996) und Heßelmann (2001) arbeiten die Persuasion als Proprium der Rhetorik heraus und sehen darin auch ihre Bedeutung für die literaturwissenschaftliche Analyse: „Indem die Literatur beim Rezipienten eine bestimmte Wirkung hervorruft, ist sie unmittelbar rhetorisch.“ (Neumann 1996, 229) Andere leiten umgekehrt die Bedeutung der Rhetorik für die Literaturwissenschaft daraus ab, dass generell deren Interesse an der Wirkung von Texten gestiegen sei (Grimm u. a. 1997, 88 f.) oder dass sich deren Gegenstandsbereich auf Texte ausgeweitet habe, bei denen die Wirkung stärker im Vordergrund stehe (Jeßing/Köhnen 2003, 145).
4.3. Systematische Anschlüsse zwischen Rhetorik und Literaturwissenschat Abgesehen von einigen Ausnahmen, die das System der Rhetorik nur sehr knapp und teilweise nicht ganz korrekt darstellen, bieten die literaturwissenschaftlichen Lexika, Handbücher und Einführungen einen Überblick über die wichtigsten rhetorischen Begrifflichkeiten. Häufig bleiben die Autoren jedoch dabei stehen, d. h. es wird nicht verdeutlicht, worin der Bezug zur Literaturwissenschaft bzw. der Nutzen der aufgefächerten Systematik und deren Kenntnis für den Literaturwissenschaftler besteht. Wie einzelne Beispiele zeigen, kann jedoch gerade die systematische Darstellung der Rhetorik dafür genutzt werden, aufzuzeigen, wo Verbindungen bestehen: So können beispielsweise Systembestandteile wie die Topik erläutert und ihre Bedeutung für die Literaturwissenschaft dargestellt werden (vgl. z. B. Till 2007). Solch ein systematisches Eingehen oder zumindest ein Verweis auf diese Forschungsgebiete ist zwar in aktuellen Lexikon-Artikeln zu finden, in literaturwissenschaftlichen Einführungen jedoch nur selten: Torra verweist auf den Zusammenhang von Rhetorik und Literaturwissenschaft in der Dekonstruktion (Torra 1995, 108 ff.), Neumann auf die Topik, die Barockforschung und die strukturalistische Figurenlehre (Neumann 1996, 226, 230, 232) und Fischer geht kurz auf einzelne Autoren wie Lausberg, Dockhorn und Barner ein (Fischer 1973, 139, 143, 149). Daher wird in den meisten Einführungen ⫺ abgesehen davon, dass Figurenlehre aus der Rhetorik stammt und (in Form der Stilistik) für Literaturwissenschaft Bedeutung hat ⫺ nicht deutlich, wie ein rhetorischer Ansatz der Literaturwissenschaft aussehen könnte. Eine Systematisierung unternimmt Dietmar Till, der die Topikforschung im Bereich der inventio verortet und die strukturalistische Rhetorik im Bereich der Figurenlehre bzw. elocutio (Till 2007). Eine andere Systematisierung nimmt Joachim Knape vor, der zwischen Ansätzen unterscheidet, die an die Oratortheorie anknüpfen (etwa das Autorkonzept von Wayne C. Booth) und solchen, die an die Texttheorie anknüpfen (wie das dekonstruktivistische Figurenverständnis von de Man). Ihren ursprünglichen Charakter als „Produktions- und Performanztheorie“ (Knape 2006, 71) hat die Rhetorik für die Literaturwissenschaft jedoch ⫺ bis auf Ausnahmen, wie die „Einübung in die Literaturwissenschaft“ von Rüdiger Zymner und Harald Fricke, die anhand von „Parodien“ in literarische Gattungen, Stile etc. einführt ⫺ fast völlig verloren: „Die Rolle der Rhetorik in allen mit Texten befassten Disziplinen ist heute primär eine rein analytische“ (Till 2007, 439).
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113. Rhetorik und Stilistik in Text- und Gesprächslinguistik
1907
Weimar, Klaus (2003): Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. 2. Aufl. Paderborn. Wittsack, Walter (1957): Sprechkunde. In: Wolfgang Stammler (Hrsg.): Deutsche Philologie im Aufriß. 2., überarb. Aufl. Bd. 1, 1481⫺1522. Zelle, Carsten (1989): Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger. In: Christine Pries: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim, 55⫺73. Zelle, Carsten (2006): Fall und Aufstieg der Rhetorik in der Moderne. In: Reinhold F. Glei (Hrsg.): Die Sieben Freien Künste in Antike und Gegenwart. Trier, 237⫺263. Zymner, Rüdiger/Harald Fricke (1993): Einübung in die Literaturwissenschaft: Parodieren geht über Studieren. 2., durchges. Aufl. Paderborn/München.
Julia Schmid, Tübingen (Deutschland)
113. Rhetorik und Stilistik in Textund Gesprächslinguistik 1. 2. 3. 4. 5.
Rhetorik und Stilistik im Interessensspektrum von Text- und Gesprächslinguistik Stil in der Gesprächslinguistik Stil in der Textlinguistik Stil und Sinn Literatur (in Auswahl)
Abstract The contribution deals with links between rhetoric, stylistics, and conversational linguistics as well as rhetoric, stylistics, and textual linguistics with respect to the term ‘style’. While the relationships between stylistics and textual linguistics are regarded to be complementary, this cannot be assumed for rhetoric and textual linguistics. Modern rhetoric is closely related to communication science and to conversational rhetoric. A dominant orientation of conversational linguistics and stylistics/textual linguistics can be stated based on the phenomena of ‘style’ in a sociological perspective. Style is determined in conversational linguistics in consideration of interactional and ethnomethodogical, sociological approaches as a bundle of co-current features with a contextualising function (speech styles). With the stipulation of style as a carrier of social sense, conversational linguistics follows stylistics. Such close linking with stylistics cannot yet be stated for textual linguistics. Nonetheless, co-current stylistic features in texts correlate with the extra-linguistic. This correlation is further processed in stylistics and textual linguistics in the sociological concept of the functional styles. With respect to system theory, functional styles also relay social sense, which keeps selections made as a ‘re-entry’ available for current operations of the social system.
113. Rhetorik und Stilistik in Text- und Gesprächslinguistik
1907
Weimar, Klaus (2003): Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. 2. Aufl. Paderborn. Wittsack, Walter (1957): Sprechkunde. In: Wolfgang Stammler (Hrsg.): Deutsche Philologie im Aufriß. 2., überarb. Aufl. Bd. 1, 1481⫺1522. Zelle, Carsten (1989): Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger. In: Christine Pries: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim, 55⫺73. Zelle, Carsten (2006): Fall und Aufstieg der Rhetorik in der Moderne. In: Reinhold F. Glei (Hrsg.): Die Sieben Freien Künste in Antike und Gegenwart. Trier, 237⫺263. Zymner, Rüdiger/Harald Fricke (1993): Einübung in die Literaturwissenschaft: Parodieren geht über Studieren. 2., durchges. Aufl. Paderborn/München.
Julia Schmid, Tübingen (Deutschland)
113. Rhetorik und Stilistik in Textund Gesprächslinguistik 1. 2. 3. 4. 5.
Rhetorik und Stilistik im Interessensspektrum von Text- und Gesprächslinguistik Stil in der Gesprächslinguistik Stil in der Textlinguistik Stil und Sinn Literatur (in Auswahl)
Abstract The contribution deals with links between rhetoric, stylistics, and conversational linguistics as well as rhetoric, stylistics, and textual linguistics with respect to the term ‘style’. While the relationships between stylistics and textual linguistics are regarded to be complementary, this cannot be assumed for rhetoric and textual linguistics. Modern rhetoric is closely related to communication science and to conversational rhetoric. A dominant orientation of conversational linguistics and stylistics/textual linguistics can be stated based on the phenomena of ‘style’ in a sociological perspective. Style is determined in conversational linguistics in consideration of interactional and ethnomethodogical, sociological approaches as a bundle of co-current features with a contextualising function (speech styles). With the stipulation of style as a carrier of social sense, conversational linguistics follows stylistics. Such close linking with stylistics cannot yet be stated for textual linguistics. Nonetheless, co-current stylistic features in texts correlate with the extra-linguistic. This correlation is further processed in stylistics and textual linguistics in the sociological concept of the functional styles. With respect to system theory, functional styles also relay social sense, which keeps selections made as a ‘re-entry’ available for current operations of the social system.
1908 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart
1. Rhetorik und Stilistik im Interessensspektrum von Text- und Gesprächslinguistik Im Hinblick auf die historische Entwicklung der in diesem Beitrag in Rede stehenden Disziplinen gilt die Stilistik als Nachfolgerin der klassischen Rhetorik und als Vorläuferin der Textlinguistik. Als Nachfolgerin der alten Rhetorik hat sich die Stilistik aus dem dritten Bearbeitungsteil der Rede ⫺ der elocutio ⫺ im 18. Jahrhundert entwickelt und hat als Haupterscheinungsweise die literaturwissenschaftliche Stilistik ausgeprägt. Die Linguistik entdeckt die Stilistik erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wobei die Linguostilistik im Gegensatz zur Poetostilistik ihren Gegenstandsbereich nun über literarische Texte hinaus ausweitet. Diese Entwicklung deutet sich bereits im präskriptiv-normativen Zweig der Stilistik, der Schul- und Aufsatzstilistik, an, die sich im späten 19. Jahrhundert auf weitere Bereiche (Deutsch in Behörden und Verwaltung, Deutsch im kaufmännischen Geschäftsverkehr, Journalistensprache u. a.) ausdehnte. Eine derartige Ausweitung liegt wiederum der Textsortenlinguistik der Gegenwart zu Grunde. In der Linguostilistik führt zum Ende der 1970er-Jahre die in der Linguistik übliche Unterscheidung in Mikro- und Makrostrukturen zur Differenzierung in Mikro- und Makrostilistik. Mikrostilistik meint die Betrachtung der lexikalischen und grammatisch-syntaktischen Einzelelemente, jedoch auch der Textfiguren als stilistische Ausdrucksformen. Der Begriff Makrostilistik wurde von Riesel/Schendels propagiert, die die Aufgabe der Makrostilistik in „der Erforschung des Stils als Komplexerscheinung und Organisationsprinzip von Ganzheitsstrukturen“ (1975, 12) sahen. Die Makrostilistik ist mit dem soziologisch fundierten Konzept der Funktionalstilistik eng verbunden, das Funktionalstile durch Funktionalität, Zweckmäßigkeit und Konventionalisierung sprachlicher Verwendungen in bestimmten gesellschaftlichen Kommunikationsbereichen bestimmt sieht und ihnen einen normativen Charakter für die Kommunikation in diesen Bereichen zuschreibt. Mikrostilistik (Textanalyse) und Makrostilistik (Stilkomplexität, Funktionalstile) können somit als Vorläuferinnen der Textlinguistik gelten. Stilistik und Textlinguistik stehen sich als je eigenständige Disziplinen gegenüber, die jedoch über eine „klare Grundbeziehung“ (Sanders 2000, 24), den gemeinsamen Gegenstand „Text“, verfügen. Andererseits wird Stil hinlänglich als eine Eigenschaft von Texten gewertet. Eine Annäherung beider Disziplinen erfolgte über die „Pragmatisierung der Linguistik“, also auch der Textlinguistik, und eine „Linguistisierung der Stilistik“ (Einbeziehung aller sprachlichen Ebenen) (Lerchner 1986, 33 f.). Während die Textlinguistik in ihrer Entwicklung in den vergangenen 40 Jahren mit grammatischen, semantischen, kommunikativ-pragmatischen und kognitiven Modellen der Textbeschreibung eher textinterne Faktoren in den Blick genommen und sich Fragen der Textklassifikation und Texttypologisierung zugewandt hat, wird der Zweck der Stilistik darin gesehen, Variantenspielräume, aber auch Konventionalisierungen in der Realisierung von Handlungstypen in Abhängigkeit von Bedürfnissen der Kommunikation und konkreten Situationen aufzuzeigen. Als Schnittstelle zwischen Stilistik und Textlinguistik gelten die Darstellungsarten/Vertextungsstrategien bzw. Textsorten oder auch kohärenzbildende Stilzüge. Ein gravierender Unterschied wird darin gesehen, dass Stil eine wertende Kategorie darstelle, indem wertende Aussagen über die „Sprachqualität und Textwirkung“ (Sanders 2000, 25) getroffen werden. „Textlinguistik und Stilistik kann man sagen, sind so gleich und verschieden wie die zwei Seiten einer Münze.“ (Sanders 2000, 25) Jeweilige Eigenständigkeit und gleichzeitige Ergänzung zeichnen heute das Verhältnis von Stilistik und
113. Rhetorik und Stilistik in Text- und Gesprächslinguistik
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Textlinguistik aus, was inhaltlich und nominell markiert wird. Sandig (2006) verbindet Textlinguistik und Stilistik zu „Textstilistik“, Fix/Poethe/Yos (2003) führen gemeinsam in beide Disziplinen ⫺ Textlinguistik und Stilistik ⫺ ein. Eroms (2008, 41 ff.) widmet in seiner Einführung Stil und Stilistik der Textlinguistik ein einführendes, für die Stilistik grundlegendes Kapitel. Damit werden in aktuellen Ansätzen Verflechtungen der beiden Disziplinen deutlich. Auf die Rhetorik gehen die drei genannten Arbeiten lediglich marginal im Sinne der antiken rhetorischen Figuren ein. Sandig (2006) bedauert zudem, dass in ihrer Textstilistik Rhetorik nur stellenweise angedeutet werden konnte, eine Auslotung jedoch weiteren Gewinn bedeuten würde. Während die Beziehung zwischen Stilistik und Textlinguistik als eng und komplementär wahrgenommen wird, ist dies zwischen Textlinguistik und Rhetorik in der Weise nicht auszumachen. Trotz vielfältiger Beziehungen zwischen Rhetorik, Stilistik und Textlinguistik steht die moderne Rhetorik in engerer Beziehung zur Kommunikationswissenschaft, indem sie Aspekte der Kommunikationssituation spezifisch ausbaut, nach der Wirkungsmächtigkeit verbaler und nonverbaler Mittel fragt und als angewandte sprachverwendungsorientierte Disziplin ihre Aufmerksamkeit auf die Auswirkungen in Texten sowie auf Menschenführung und Verhalten (vgl. Kalverkämper 2000, 8) richtet. Heutige Aktionsbereiche der Rhetorik sind u. a. in der Politik, Werbung, Rhetorik-Ratgebung für die Wirtschaft oder in der Poetik auszumachen. In diesem Sinne betont Kalverkämper (2000) die Eigenständigkeit und den besonderen Wert der Rhetorik in modernen kommunikationsorientierten Gesellschaften. Das Interesse an einer „diziplinhistorischen Filiation von Rhetorik und Textlinguistik“ (Kalverkämper 2000, 11) sieht er seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts verblasst. Beobachtbar ist allerdings eine wechselseitige Bezugnahme von Rhetorik und Gesprächslinguistik. Die in der Sprechwissenschaft verankerte Rhetorische Kommunikation versteht ihren Gegenstand als Rhetorik der Rede und als Rhetorik des Gesprächs (vgl. Pabst-Weinschenk 2004, 110), was durchaus in der Tradition der Antike begründet liegt. Rhetorik in der Sprechwissenschaft wendet sich der Frage zu, welche Funktion kommunizierten Zeichen zuzuschreiben ist und welche Wirkungen sie auslösen. Dabei wird Rhetorizität einerseits auf verbale, paraverbale und extraverbale Zeichen in der „rhetorischen Oberflächenstruktur“ sowie andererseits auf kognitive, soziale und voluntative Prozesse der Verstehenshandlungen („rhetorische Tiefenstruktur“) bezogen. Die Bewertung der eigenen rhetorischen Leistung und des rhetorischen Verhaltens sowie die des Verhaltens der Kommunikationspartner konstituieren „Verstehens- und Bewertungshandlungen situationsspezifisch und kontextgebunden“ (Pabst-Weinschenk 2004, 111). Als Haupttypen der Gesprächsrhetorik werden in der Sprechwissenschaft Klären und Streiten, in der Rederhetorik Informieren und Argumentieren unterschieden. Etrillard (2005) verwendet den Begriff Gesprächsrhetorik für eine praxisorientierte Publikation, die sich mit den Möglichkeiten herrschaftsfreier Gesprächsrhetorik und kommunikativer Interaktion (souveränes Agieren und überzeugendes Argumentieren) in Alltagssituationen befasst. Im Focus stehen praxisorientierte Ansätze für die professionelle und zwischenmenschliche Kommunikation. Der Begriff Gesprächsrhetorik ist ein eher junger Begriff, der mit dem Projekt „Gesprächsrhetorik“ (1992 bis 2002) unter der Leitung von Kallmeyer verbunden ist. Kallmeyer (1996b) bezieht den Begriff Gesprächsrhetorik auf die linguistische Reflexion von Gesprächen und „stellt dadurch auch die Linguistische Gesprächsforschung in die Wirkungsgeschichte der Rhetorik“ (Pabst-Weinschenk 2004, 111). Den Unterschied der Gesprächsrhetorik zur klassischen Rhetorik sieht Kallmeyer allerdings in dem „interakti-
1910 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart onstheoretisch fundierte[n] gesprächsanalytische[n] Zugang“ (1996b, 9) der ethnomethodologischen Gesprächsanalyse. Das theoretische Konzept der Interaktionskonstitution ist von Kallmeyer und Schütze (1976; 1977) seit den 1970er-Jahren erarbeitet worden und unterscheidet eine Reihe von Interaktionsebenen, auf denen Interagierende simultan Aktivitäten entfalten (Gesprächsorganisation, Handlungskonstitution, Typisierung von Aktivitäten, Sachverhaltsdarstellungen, soziale Identitäten und Beziehungen, Interaktionsmodalitäten, Reziprozitätsherstellung). Interaktion bedeutet also Struktur und Ordnung, die sich in den Leistungen der am Gespräch Beteiligten zeigt und beobachtbar ist. Gesprächsrhetorik orientiert sich auf die Arbeit der am Gespräch Beteiligten auf den genannten Ebenen und „akzentuiert die Bedeutung ihrer Erfolgsorientiertheit“ (Kallmeyer 1996b, 10). Gesprächsrhetorik konzentriert sich auf die praktisch-rhetorischen Probleme beim sprachlichen Handeln unter Interaktionsbedingungen, wobei innerhalb des Projekts „Gesprächsrhetorik“ insbesondere solche Handlungssituationen in den Blick geraten, in denen es um die Problem- und Konfliktbearbeitung geht. Zu nennen wären: Beratungs- und Schlichtungsgespräche (Schwitalla 1995), Kommunikationsstörungen, Metakommunikation, Argumentieren als interaktives Verfahren (Spranz-Fogasy 2003), Rhetorische Verfahren im Gesprächsprozess (Keim 1996; 1997; Keim/Schütte 2002). Kallmeyer/Schmitt (1996) entwickeln anhand eines komplexen Beispielfalles das Konzept der Kooperationsweise Forcieren, das als Mittel der Problem- und Konfliktbearbeitung in dem Sinne zu verstehen ist, dass im Gespräch eigene Kommunikationsmöglichkeiten erweitert und die des Gesprächspartners verringert werden. Die ermittelten Beteiligungsweisen am Gespräch werden sozialstilistisch als Interaktionsstile interpretiert, „für die jeweils eigene Durchsetzungsstrategien und Legitimationsweisen charakteristisch sind“ (Kallmeyer/Schmitt 1996, 98) und die sich in der Interaktionsbiographie herausbilden. „Individuen bilden im Laufe ihrer Interaktionsbiographie ihnen gemäße Formen interaktiver Präsenz aus, wobei sich die Sedimentierung und Organisation hauptsächlich nach Erfolgs- und Misserfolgskriterien strukturiert. In ihrer Grundstruktur sind sie soziale Aktivitätsmuster.“ (Kallmeyer/Schmitt 1996, 102) Forcierende Verfahren enthalten zudem legitimierende Kontextualisierungen: „Durchsetzungswillen und Reaktionszwang führen sehr schnell zu einer Symmetrie der wechselseitigen Übergriffe […] und die Interaktionsdynamik bringt aufgrund des Legitimationsbedarfs Definitionen situationsübergreifender, sozialstilistisch bedeutsamer Handlungsweisen hervor“ (soziale Rolle und ihre Handlungsmaximen) (Kallmeyer/Schmitt 1996, 103). Interessant an dem Ansatz der Gesprächsrhetorik ist es, dass Erfolg bzw. Misserfolg anzeigende rhetorische Strategien in einen sozialen Stilbegriff münden (soziale Interaktionsstile), der Kontextualisierungshinweise vermittelt. Als Befund der knapp aufgezeichneten Entwicklung und der interdisziplinären Forschungsstränge von Stilistik, Textlinguistik, Rhetorik und Gesprächslinguistik lässt sich also zusammenfassend eine augenscheinlich präferierte bzw. dominante Orientierung auf das Phänomen Stil konstatieren, so dass im Folgenden genauer zu hinterfragen sein wird, in welchem Sinne das Konzept Stil in Bezug auf Gespräche und Texte in den vergangenen knapp 20 Jahren produktiv entwickelt wurde.
2. Stil in der Gesprächslinguistik Betten (2001) arbeitet den Forschungsstand zu Gesprächsstilen (vgl. auch Fiehler in diesem Band) insbesondere seit den 1980er-Jahren auf. Sie hebt hervor, dass mit den sprach-
113. Rhetorik und Stilistik in Text- und Gesprächslinguistik pragmatisch, handlungstheoretisch begründeten Arbeiten Sandigs die Stildiskussion eine neue Qualität erfahren hat. Konsens ist es seitdem, dass Stil als Resultat von Interaktionsprozessen verstanden wird und für schriftliche wie für die mündliche Kommunikation gilt. Für die 1980er-Jahre wird ein dominierender Einfluss der Sprechakttheorie sichtbar, der zu Fragen nach Stilen als Handlungsdurchführung, danach, welche Sprechstile für bestimmte Sprechhandlungstypen zu identifizieren sind, welcher Sprachstil für spezifische Gesprächssorten (Klärungsgespräche oder Prüfungsgespräche) entwickelt wird, führt. Zunehmend gerät in den Blick, dass Sprechstile/Gesprächsstile gemeinsame Aktivitäten der Kommunizierenden darstellen, Prozesscharakter tragen sowie Indikator für die Beziehungen zwischen den Kommunizierenden sind (vgl. Betten 2001, 1395). In der Folge bestimmen zunehmend Arbeiten der amerikanischen Soziolinguistik und der Ethnographie des Sprechens die Forschung zu Gesprächsstilen. Von besonderer Relevanz erweisen sich weiterhin Arbeiten der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (Sacks/Schlegloff/Jefferson 1974) sowie die ethnographisch orientierte Kontextualisierungsanalyse (Gumperz 1982; Auer 1989; 1999). Das Konzept der Kontextualisierung geht auf John J. Gumperz zurück, der gemeinsam mit Dell Hymes die „Ethnographie der Kommunikation“ begründete. Gumperz (1982) entwickelt den Begriff Kontextualisierung aus der Beschäftigung mit Fehlschlägen in der interkulturellen Kommunikation und gelangt zu der Erkenntnis, dass Sprache nicht nur vom Kontext abhängt, sondern dass Sprache den Kontext schafft. Nach Gumperz (1982) kann jede interpretierbare sprachliche Struktur indexikalische Elemente tragen. Wichtiger Aspekt der Kontextualisierung seien neben anderen sprachlichen Mitteln Stil, die Wahl des Dialekts oder eines Registers, die die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen oder Kulturen signalisieren. In der deutschen Gesprächslinguistik ist das soziologisch motivierte Kontextualisierungskonzept vielfach zur Anwendung gekommen. Als wichtiges Mittel zur Kontextualisierung im Deutschen ist beispielsweise die Prosodie erkannt, da sie keine referentiell-distinktive Funktion hat (vgl. Auer 1999). Als Konklusion der Auseinandersetzung mit dem Kontextualisierungskonzept Gumperz’ definiert Auer Kontextualisierung als „dreistellige Relation zwischen Ausdrucksmitteln (Idiomatik, Gestik, Prosodie usw.), der Bedeutung (Interpretation) bestimmter Handlungen und Wissensbeständen (Frames), die diese Interpretation ermöglichen, indem sie als ihr Kontext relevant gemacht werden.“ (1999, 174) Vor dem Hintergrund des soziologischen Kontextualisierungsansatzes konsolidiert sich Stil als relationale Größe (Sandig 2006; Kotthoff 1989; 1991), und mit Bezug auf Auer (1989) „als Menge interpretierter, kookurrierender sprachlicher und/oder nichtsprachlicher Merkmale, die (Gruppen/Rollen von) Personen, Textsorten, Medien, etc. zugeschrieben werden, sozial interpretierter Merkmale“ (Auer 1989, 30). Stil besteht also aus Kontextualisierungshinweisen. Gesprächsstile/Sprechstile oder auch kommunikative Stile (Keim/Schütte 2002) dienen als Kontextualisierungsverfahren. In diesem Sinne werden im Einzelnen untersucht „weibliche und männliche Gesprächskulturen“ (Kotthoff 1989; 1991), „mündliche Sprechstile in konversationellen Erzählungen“, Kontextualisierungshinweise für emphatischen Stil als „hervorragende Technik der Anforderung von Rezipientenreaktionen“ (Selting 1989; 1995, 249). Selting präzisiert Stil als „aktiv hergestelltes, flexibles, dynamisches, auf Zuhörer/Rezipienten zugeschnittenes sprachliches Gestaltungsmittel“, als „holistisches Gestaltungsmittel, das
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1912 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Sprecherinnen und Sprecher durch die Wahl kookurrierender Stilmittel aus unterschiedlichen linguistischen Subsystemen sowie durch die Herstellung spezifischer Sprechhandlungstypen und Sprechhandlungssequenzen signalisieren“ (1995, 251). Paul interpretiert den „pastorale(n) Stil“ „als zuverlässiges Mittel der Kontextualisierung und Situierung des aktuellen Standes der rituellen Kommunikation“ (1989, 181), Keim/Schwitalla (1989) vergleichen soziale Gruppen hinsichtlich ihrer Stile der Konfliktbearbeitung und der Bearbeitung von Tabuthemen. Uhmann (1989) arbeitet konstituierende Stilmerkmale des Interviews heraus und kommt zu dem Schluss: „Verletzungen [der konstituierenden Merkmale ⫺ C. G.] führen zur Nichtbeachtung oder Änderung des Interaktionsmodus. Interviews nähern sich dann auf einer Skala kommunikativer Ereignisse entweder dem Polende des Alltagsgesprächs oder auch dem anderen Ende, der Prüfung oder dem Verhör“ (1989, 161). Selting/Sandig (1997) systematisieren bei aller Differenziertheit der in dem von ihnen herausgegebenen Band zum Tragen kommenden stilistischen Erscheinungen Stil als interaktiv bedeutsames Phänomen. Mit Stil werden Aktivitäten angezeigt und intern strukturiert, Beziehungen gestaltet, Einstellungen angezeigt. Stil gilt als dynamisch und flexibel den Erfordernissen von Interaktionssituationen angepasst und somit als eine Teilnehmerkategorie, mit der sozialer Sinn signalisiert wird. Als „stilistisch relevante Typen der Sinnherstellung“ werden in dem Band u. a. behandelt: Selbstdarstellung, Beziehungsherstellung, soziale Kategorisierungssignalisierung der Art der Handlungsdurchführung, Modalität und Modalisierung oder die Kontextualisierung des Situationstyps (vgl. Sandig/Selting 1997, 4 f.). Zudem werden Sprechstil und Gesprächsstil differenziert und definiert: „Mit Sprechstil ist die Art und Weise des Sprechens in natürlichen Interaktionskontexten gemeint, z. B. das interaktiv relevante Zusammenspiel lexiko-semantischer, syntaktischer, morphophonemischer, prosodischer und weiterer im weitesten Sinne rhetorischer Mittel der Gestaltung der Rede im Gespräch. Zum Gesprächsstil gehört darüber hinaus auch die interaktiv relevante Art und Weise der von den Partnern gemeinsam hergestellten Organisation natürlicher Gespräche in Situationskontexten, einschließlich der verwendeten Sprechstile.“ (Sandig/Selting 1997, 5) Selting (2001) verdichtet die ersten Systematisierungen und Befunde zu „Prämissen, Grundlagentheorie und Methodologie“ der „interaktionalen Stilanalyse“ und bestimmt Stil als aktiv und interaktiv hergestellte und flexible Struktur, als relationales Phänomen, als ganzheitliche Gestalt, als Kontextualisierungshinweis und Bündel kookurrierender Merkmale. (1) Flexible Struktur: „Stile werden aktiv hergestellt. Sie sind nicht [Hervorhebung C. G.] durch den außersprachlichen Kontext, die Situation, den Aufmerksamkeitsgrad der Sprecher, die Text- oder Gesprächssorte, die kommunikative Aufgabe o. ä. determiniert. Gleichwohl bilden die Mitglieder von Kommunikationsgemeinschaften im Laufe ihrer kommunikativen Sozialisation Erwartungen aus über die Erwartbarkeit bestimmter Stile in bestimmten Kommunikationskontexten.“ (Selting 2001, 5) (2) Dass realisierter Stil in Relation zu Kenntnissen und Erwartungen hinsichtlich der Faktoren von Kommunikation steht, arbeitet Sandig heraus (u. a. 2001; 2006). (3) Die Auffassung von Stil als holistischer Gestalt, die als Ganzheit über andere Eigenschaften verfügt als die zur Gestaltung genutzten Elemente, wird in der Textstilistik u. a. von Fix (1995; 1996) vertreten. Selting verweist auf die Nähe derartiger Positionen zu den Sozialwissenschaften (vgl. 2001, 7). Die holistische Gestalt von Stil verbindet sich mit einem „Bündel kookurrierend verwendeter konstitutiver Merkmale
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aus unterschiedlichen sprachlichen und nichtsprachlichen Systemen: Phonetik-Phonologie, Prosodie, Morphologie, Syntax, Lexiko-Semantik, Formulierungsmuster, Organisation des Sprecherwechsels, sequentielle Organisation, Arten der Durchführung von Aktivitäten und Gattungen, Gestik, Mimik, Bewegungsweise, Kleidung, Haartracht usw.“ (Selting 2001, 9) (4) „Die holistische Gestalt ,Stil‘ wirkt als komplexer Kontextualisierungshinweis, der die für die Interpretation relevanten Interpretationsrahmen nahe legt und somit die Kontexte als interaktionsrelevante Konstrukte erst instantiiert und herstellt.“ (Selting 2001, 8) Grundsätzlich erfährt also Stil in der interaktionistischen Stilanalyse eine soziologische Perspektivierung. Methoden und Denkweisen der Ethnomethodologie und der Konversationsanalyse, wie sie für die Analyse von Sprech- und Gesprächsstilen herangezogen werden, haben ihre Ursprünge in der interaktionistischen Soziologie, in Konzepten der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit (vgl. Selting 2001, 11). Die bisherige kommunikativ-pragmatische Stilistik orientiert sich hingegen an der Tradition der Sprechakttheorie. Ebenso in diesem Sinne verfahren Einführungen in die linguistische Gesprächsanalyse (vgl. Henne/Rehbock 2001 oder Brinker/Sager 2001), die beispielsweise dem Verhältnis von Gesprächsschritt und Sprechakt oder auch Illokutionsstrukturen größere Aufmerksamkeit widmen als der Kategorie Stil oder den Sprech- und Gesprächsstilen, die in den gesprächslinguistischen Erörterungen noch ausgespart bleiben. Eine Verknüpfung des Stilbegriffs mit soziologischen Ansätzen schlägt gleichfalls van Peer (2001) vor, der Stil „tief in unserem mentalen und sozialen Verhalten verankert“ (van Peer 2001, 43) sieht und dann evolutionspsychologische Zusammenhänge diskutiert. Allerdings würde sich ein Blick auf evolutionssoziologische Erkenntnisse der Gesellschaft durchaus ebenso als produktiv erweisen.
3. Stil in der Textlinguistik Während die moderne Gesprächslinguistik vor soziologischem Hintergrund den Begriff Stil in engster Verbindung mit Kontextualisierung und Kontextualisierungsverfahren behandelt, Theorie und Methodologie einer interaktionalen Stilanalyse vorantreibt, ist für die Textlinguistik eine derartige Orientierung und Verflechtung mit der Stilistik noch nicht zu konstatieren. Eine nach wie vor sprechakttheoretische Orientierung in der kommunikativ-pragmatischen Textlinguistik, eine Orientierung auf die Diskussion der Merkmale von Texten in einer medialisierten Gesellschaft oder Verbünde von Texten, Textdiskurse, oder auch konstatierte Ermüdungserscheinungen in der Textsortenlinguistik haben soziologische Perspektiven auf Texte und Textsorten und deren Stil bisher eher vernachlässigt. In den Einführungen zur Textlinguistik spielt Stil eine marginale Rolle und wird in dem in der Stilistik (vgl. auch Fix/Poethe/Yos 2003; Sandig 2006) und in der Gesprächslinguistik behandelten Sinn als „sozialen Sinn“ stiftendes Phänomen nicht gesehen bzw. kaum thematisiert. Heinemann/Heinemann bestimmen das Stilistische im Sinne des „Wie“ (Wahlmöglichkeiten, Mikrostilistik) als stilistische Besonderheiten (2002, 147) oder als „stilistische Adäquatheit“ (2002, 201) im Rahmen der Methode der Textbeschreibung. Ebenso in Adamzik (2004) oder Gansel/Jürgens (2002; 2007) spielt der Stilbegriff im Sinne der Mikrostilistik keine Rolle. Es ist die Stilistik, die dezidiert
1914 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart auf ihren Status als Teildisziplin der Textlinguistik verweist (vgl. Fix/Poethe/Yos 2003, 27) und Verbindungen zwischen beiden Disziplinen herstellt (Sandig 2006; Eroms 2008). Von daher kann formuliert werden, dass die Initiative, eine Verbindung zwischen Stilistik und Textlinguistik (wieder) herzustellen, von den Vertretrinnen und Vertretern der Stilistik ausgeht. Fix/Poethe/Yos (2003) führen den Begriff Stil ausdrücklich in Bezug auf den Text und das Gespräch ein. Konsens herrscht darüber, Stile als Kontextualisierungshinweise aufzufassen und mit Bezug auf Selting und Sandig (1997) bzw. Selting (2001) „Stil als interaktionales Herstellen von Sinn“ (Fix/Poethe/Yos 2003) in ethnomethodologischer Tradition zu fassen. Stil ist also dazu geeignet, die Kommunikationssituation zu kennzeichnen, Selbstdarstellung zu betreiben, Beziehungen zwischen den Kommunizierenden zu gestalten, das Verhältnis zu Sprache kenntlich zu machen. Von daher liegen in der Kookurrenz stilistischer Merkmale von Gesprächen und Texten korrelative Beziehungen zwischen Außersprachlichem und sprachlichen Gebrauchsweisen verborgen. Dem Außersprachlichen, den textexternen Merkmalen, also Kommunikationsbereichen, wendet sich die Textlinguistik verstärkt erst in jüngster Zeit zu (vgl. Adamzik 2004; Brinker u. a. 2000; Gansel/Jürgens 2002; 2007; Gansel 2008). Die verstärkte Sicht auf Kommunikationsbereiche und die in ihnen sich ausdifferenzierenden Textsorten verbindet die Textlinguistik wiederum mit der makrostilistischen Funktionalstilistik, die deutlicher an der Textlinguistik ausgerichtet ist (vgl. Fix/Poethe/Yos 2003). Auf die Funktionalstilistik wird im Zusammenhang mit der Diskussion externer Merkmale und von Kommunikationsbereichen in der Textlinguistik (vgl. Gansel/Jürgens 2002; 2007; Adamzik 2004) und in der Stilistik in Verbindung mit textlinguistischen Grundlagen (vgl. Eroms 2008) Bezug genommen. Der Begriff Funktionalstil „entstand aus der Einsicht in die Verwendungsweisen der Sprache in den vielfältigen Sphären gesellschaftlicher Tätigkeit und in ihre kommunikativen Funktionen. […] Die Angehörigen einer Sprachgemeinschaft verwenden die Sprache in unterschiedlichen Kommunikationssphären und -situationen auf differenzierte und spezifische Weise.“ (Fleischer/Michel 1975, 24) Sprache differenziert sich nach den Tätigkeitsbereichen der Sprecher und so werden in der tschechischen wie in der sowjetischen Funktionalstilistik der 1930er- und 1950er-Jahre als funktionale Sprachen bzw. Funktionalstile Alltagssprache/Stil der Alltagsrede, Geschäfts- und Amtssprache/ Stil der öffentlichen Rede, Wissenschaftssprache/Stil der Wissenschaft, Sprache der Belletristik/Stil der schönen Literatur sowie der Stil der Presse und Publizistik benannt (vgl. auch Fleischer/Michel/Starke 1993, 28). Fleischer/Michel/Starke (1993, 29) bezweifeln allerdings eine sprachstilistische Ausgrenzbarkeit der Bereiche auf einer derart hohen Abstraktionsebene. Ein mittlerer Ansatz, der der Textsorte, erscheint ihnen aussichtsreicher. Dennoch verwenden sie neben den Stiltypen Textsortenstil, Gruppenstil, Individualstil und Zeitstil den Ausdruck „Bereichsstil“. Mit der „gesellschaftlichen Funktion von Stil […], nach der sich die Sprachverwendung richtet“ (Fix/Poethe/Yos 2003, 34), rückt in der Funktionalstilistik Normatives in den Blick. Den normativen Ansatz der Funktionalstilistik greift Eroms (2008) auf und differenziert ihn in seiner Einführung Stil und Stilistik über bisherige Ansätze hinausgehend aus. Da es Eroms in seinen Darlegungen um Funktionsbereiche ⫺ also letztlich um Kommunikationsbereiche ⫺ geht, ist sein Ansatz gleichfalls für die Textlinguistik beachtenswert. Seine Definition von Stil führt systematisch über Stil als Wahl, individuellen Stil und universelle Vertextungsstrategien auf hoher Abstraktionsebene zu Funktionsbereichen. „Stil ist das auf paradigmatischer Opposition der Ausdrucksvarianten beruhende, syntagmatisch fassbare, effektive, einheitliche und je ausgewählte und unverwechselbare Merkmal von Sprache in je bestimm-
113. Rhetorik und Stilistik in Text- und Gesprächslinguistik
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ten Funktionsbereichen. […] Stil auf bestimmte Funktionsbereiche zuzuschneiden ist der Versuch, die Verwendungsbedingungen der Sprache als bestimmende Instanzen zu fassen.“ (Eroms 2008, 107) Mit Funktionalstilen, so Eroms (2008, 107), liegt ein „normatives Raster für die Erklärung von sprachlichen Erscheinungen vor“. Im Einzelnen unterscheidet Eroms acht funktionale Stiltypen: Alltagssprache, Wissenschaftssprache, Öffentliche Kommunikation, Sprache der Medien, Sprache der Unterweisung, literarische Sprache, sakrale Sprache, Werbungssprache (vgl. 2008, 115). Die von Eroms beobachteten funktionalen Stiltypen lassen sich nun im Wesentlichen auf funktional ausdifferenzierte Teilsysteme moderner Gesellschaften beziehen, wie sie in der soziologischen Systemtheorie beschrieben und für die Klassifikation von Textsorten und deren Beschreibung in der Textlinguistik herangezogen werden (vgl. Brinker u. a. 2000; Gansel/Jürgens 2007; Gansel 2008): Eroms (2008)
Funktionales System
Alltagssprache Wissenschaftssprache Öffentliche Komm. Sprache der Medien Sprache der Unterweisung Literarische Sprache Sakrale Sprache Werbungssprache ⫺
⫺ Wissenschaft Recht, Politik Massenmedien Erziehung Kunst Religion Werbung (?) Wirtschaft
Es zeigt sich also, dass das soziologische Konzept der Funktionalstilistik mit Einsichten in differenzierte Verwendungsweisen von Sprache in unterschiedlichen Sphären der Gesellschaft sich mit heutigen modernen Erkenntnissen der Soziologie zur Differenzierung funktionaler sozialer Teilsysteme produktiv verbinden lässt. Erkenntnisfortschritt ist bei einem solchen Vorgehen zu erwarten. Allerdings wird das wirtschaftliche System im Modell von Eroms (2008) noch ausgeblendet, Kunst wird im Sinne literarischer Kommunikation und Sprache eingeengt. Die Auffassung, dass möglicherweise Werbung im Gegensatz zu früheren Einordnungen Luhmanns in das System der Massenmedien (vgl. 1996) ein eigenständiges funktionales System bilde, wird in systemtheoretischen Arbeiten heute gleichfalls gesehen (vgl. Zurstiege 2002). Dass Recht und Politik jeweils eigenständige Bereiche bilden, ist unstrittig. „Öffentlichkeit“ wird in der Systemtheorie nicht als soziales System, sondern als Umwelt eines sozialen Systems gesehen. So bildet beispielsweise der Markt die Umwelt des Wirtschaftssystems. Für den Bereich der Alltagssprache, der üblicherweise in Gesprächs- und Textlinguistik angenommen wird, hält die Systemtheorie kein korrelatives soziales System bereit. Von daher wäre die Frage nach dem Status von Alltagskommunikation oder Alltagssprache durchaus bedenkenswert. Mit Bezug auf die Soziologie der Gesellschaft könnten weiterhin unsichere Fragen zum Status literarischer oder sakraler Sprache als einheitliche Funktionsbereiche, wie Eroms sie andeutet, und die Vermischung beider Bereiche vermieden werden. Die Literaturwissenschaft sieht Literatur als ein soziales, autopoietisches, selbstreflexives System, d. h. als operativ geschlossen und kognitiv offen arbeitendes System, das sich seit dem 18. Jahrhundert geschlossen hat. Operativ geschlossen meint, dass das System eine spezifische Struktur und Funktion entwickelt hat, in deren Rahmen in der Umwelt wahrgenommene Irritationen
1916 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart oder Störungen kognitiv verarbeitet werden. Es lässt sich im Symbolsystem (Literarische Gattungen und Genre) und Handlungssystem (Produktion, Handlungen mit den Texten des Symbolsystems in Distribution und Rezeption) Literatur beobachten. Das System Religion wird wie andere funktional ausdifferenzierte soziale Teilsysteme der Gesellschaft in der Systemtheorie hinsichtlich Code (binäre Leitdifferenz des Systems), Medium (Sinn, Regeln für die Kombination von Symbolen), Funktion (Folgen von Systemoperationen für das System selbst), Leistung (Form der Beziehung zwischen Systemen) und Programm (Regeln für zulässiges Kommunizieren) beschrieben. Für das System Religion stellt Krause (2005, 238 f.) fest, dass zu diesem System alle Kommunikationen gehören, die sich auf Gott beziehen. Der binäre Code des religiösen Systems ist Immanenz/Transzendenz: Gott wird systemtheoretisch als Transzendentes beobachtet. Das symbolisch generalisierte Medium des Systems ist der Glaube, an dem sich alle Handlungen im System orientieren. Funktion des religiösen Systems nach innen ist es, „auf die Offenheit von Sinnhorizonten mit Schließung zu antworten“ (Krause 2005, 239), d. h. Kontingenz (Wahlmöglichkeit) wird ausgeschaltet. Diese Funktion wird als geistliche Kommunikation erfüllt, in der sich alles auf die Kommunikation über Gott orientiert. Die Leistungen für andere soziale und insbesondere psychische Systeme bestehen in der Diakonie, der Seelsorge. Als Programmierung des religiösen Systems „dienen Offenbarung, die Lebensführungsregeln der Bibel und wohl hauptsächlich, weil darauf bezogen, die Dogmatik“ (Krause 2005, 239). Zu fragen ist nun, welche Relevanz soziologische Beschreibungen für die Funktionalstile besitzen. Funktionalstile bilden nicht an sich ein „normatives Raster für die Erklärung sprachlicher Erscheinungen“, dies wäre zirkulär, sondern erst vor dem außersprachlichen Hintergrund des Codes, des Mediums, der Funktion, der Leistung, der Programme eines sozialen Funktionssystems. Der systemtheoretische Bezug kommt bei Eroms (2008) nicht zum Tragen, dennoch sind seine Ausführungen systemtheoretisch interpretierbar. Hinsichtlich einer funktionalen Gemeinsamkeit religiöser, magischer und liturgischer Texte entdeckt Eroms (2008, 133) „transzendente Bezüge“, die die Texte bzw. Textsorten stiften. Religiöse Kommunikation folgt also dem Code des funktional ausdifferenzierten Systems Religion. Die Stilzüge Feierlichkeit, Abgehobenheit und Altertümlichkeit bilden Erwartungs-Erwartungen (Konventionen), die an die geistliche Kommunikation geknüpft werden. Dass es sich dabei um systemstabilisierende, auf die interne Funktion des Systems orientierte Kookurrenzen sprachlicher Mittel handelt, macht Eroms mit dem Verweis auf die Ablehnung von „an der Umgangssprache orientierten Übersetzungsversionen“ (2008, 133; vgl. dazu auch Paul 1989) des Bibeltextes einsichtig. Programme sind zwar flexibel, weil Systeme selbstreferentiell lernfähig sind und Veränderungen zulassen. Sie entscheiden, „wie die Systemereignisse verwaltet, angelagert, strukturiert werden“ (Eckoldt 2007, 39). Dennoch kann antizipierend im System als Irritation bzw. Störung wahrgenommen werden, dass mit einer Veränderung des Bibeltextes, also mit Programmveränderungen, möglicherweise für das Funktionieren des Systems unerwünschte Strukturen entstehen. Festzuhalten bleibt vor dem Hintergrund der Zuwendung stilistischer Ansätze zur Funktionalstilistik, dass eine soziologische Orientierung von Textstilistik und insbesondere Textsortenlinguistik auf der Tagesordnung steht und Erkenntnisfortschritt erwarten lässt. Beziehungen zwischen Kommunikationsbereichen und sozialen Systemen (Interaktionssystem, Organisationen, funktional ausdifferenzierte Teilsysteme) werden in Gansel/ Jürgens (2007, 74 ff.) diskutiert, soziale Systeme bilden hier den Ausgangspunkt für die Zuordnung von Textsorten (vgl. dazu auch Brinker u. a. 2000) und deren Leistungsgrup-
113. Rhetorik und Stilistik in Text- und Gesprächslinguistik
1917
pen. Textsorten sind nicht unidirektional durch Kontextfaktoren bedingt, sondern sie sind konstitutiv für soziale Systeme, konstituieren das System als Grundlage für Kommunikationen mit und differenzieren sich unter den strukturellen Bedingungen des sozialen Systems aus. Im System entstehen Textsorten, die unterschiedliche Leistungen erbringen. Kerntextsorten erweisen sich als konstitutiv für ein soziales System. Sie bilden innerhalb des Systems konventionalisierte, institutionalisierte Anschlusskommunikationen und sie erfüllen Aufgaben im Rahmen struktureller Kopplungen zu anderen sozialen oder psychischen Systemen. Als Resultate kommunikativer und sozialer Handlungen sind Textsorten an bestimmte soziale Handlungsrollen gebunden. Textsorten lassen sich von einer Dominante ⫺ dem sozialen System/Kommunikationsbereich ⫺ her hierarchisch klassifizieren. Weitere Diskussionsansätze zu Systemtheorie und Textsorten finden sich in Gansel (2008). Funktionalstile beziehen sich letztlich auf Kommunikationsbereiche, d. h. auf den Stil der hier vorfindlichen Textklasse (vgl. auch Gwensadze 2001) und kommen in Textsortenstilen zum Tragen (vgl. Fix/Poethe/Yos 2003).
4. Stil und Sinn Im Hinblick auf Forschungsperspektiven ist festzuhalten, dass sich die in diesem Beitrag referierten ethnomethodologischen Ansätze und die Richtung der interpretativen Soziolinguistik (vgl. auch Keim/Schütte 2002) sowie funktionalstilistische Diskussionen von Stil in Texten einer Textklasse zu einer soziologischen Ausrichtung verdichten. Die soziologische Perspektivierung zeigt sich zudem in der Textstilistik, in der Stil als relativ zum Kontext und als sozialer Sinn gefasst wird (Sandig/Selting 1997; 2006). Sie findet sich ebenso in der Vorstellung von Stil als holistischer Gestalt und in seinem Bezug nicht nur auf literarische Texte, sondern als ästhetische Gestaltung, die grundsätzlich in allen Gebrauchstexten wahrzunehmen ist (vgl. Fix 2001; Fix/Poethe/Yos 2003). Die in diesem Beitrag nachgezeichnete linguistische Konturierung von Stil als kontextstiftendem sozialen Sinn steht in enger Beziehung zum Begriff Sinn in der Systemtheorie Luhmannscher Prägung. Luhmann betont, dass keine gesellschaftliche Operation anlaufen kann, ohne von Sinn Gebrauch zu machen. „Sinn ist […] ein Produkt der Operationen, die Sinn benutzen, und nicht etwa eine Weltqualität, die sich einer Schöpfung, einer Stiftung, einem Ursprung verdankt.“ (Luhmann 1998, 44) Sinn wird in der System/Umwelt-Differenz gesehen, d. h. ein System beobachtet sich als von seiner Umwelt zu unterscheidendes System. Ein psychisches System beispielsweise nimmt sich in Differenz zu einem anderen psychischen System wahr, das seine Umwelt bildet (z. B.: Person A unterscheidet sich von Person B oder die Universität als Organisationssystem sieht sich nicht als Subsystem der Wirtschaft, dennoch wird sie durch Umweltsysteme wie Politik oder Wirtschaft irritiert). „Psychische und soziale Systeme bilden ihre Operationen als beobachtende Operationen aus, die es ermöglichen, das System selbst von seiner Umwelt zu unterscheiden ⫺ und dies obwohl […] die Operation nur im System stattfindet.“ (Luhmann 1998, 45) Sinn wird also im System selbst produziert und somit als Unterschied zur Umwelt des Systems hergestellt sowie im System als Unterschied zur Umwelt beobachtet. Die System/Umwelt-Differenz wird im System immer wieder eingegeben, was Luhmann als „reentry“ bezeichnet. „Das System wird für sich unkalkulierbar. Es erreicht einen Zustand
1918 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart von Unbestimmtheit, der nicht auf die Unvorhersagbarkeit von Außenwirkungen (unabhängige Variable) zurückzuführen ist, sondern auf das System selbst. Es braucht deshalb ein Gedächtnis, eine ,memory function‘, die ihm die Resultate vergangener Selektionen als gegenwärtigen Zustand verfügbar machen […].“ (1998, 45) Die Konsequenzen des „re-entry“ belegt Luhmann mit dem Begriff „Sinn“. „In der kommunikativen Erzeugung von Sinn wird diese Rekursivität vor allem durch die Worte der Sprache geleistet, die in einer Vielzahl von Situationen als dieselben verwendet werden können.“ (1998, 45 f.) In Bezug auf funktional ausdifferenzierte Systeme der Gesellschaft wie Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Kunst, Erziehung, Religion oder Massenmedien ist dieser „reentry“ in Funktionalstilen beobachtbar, in Bezug auf Gespräche als Interaktionssysteme in Sprech- und Gesprächsstilen, in Stil als sozialem Sinn. „Es gibt keine psychischen und sozialen Systeme, die im Medium Sinn nicht zwischen sich selbst und anderem unterscheiden könnten […]. Systeme, die im Medium Sinn operieren, können, ja müssen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden“ (Luhmann 1998, 51). Selbstreferenz als Identifizierung einer Gruppe und Fremdreferenz als Abgrenzung zu anderen verdeutlichen Keim (2002) und Gätje (2007), die den sozialen Stil auf eine soziale Gruppe beziehen. Keim definiert sozialen Stil in Hinblick auf Kultur und die soziale Identität der Sprecher. Stil meint „die von Mitgliedern einer sozialen Einheit (soziale Gruppe, soziale Welt) getroffene Auswahl an und Weiterentwicklung von Ausdrucksformen aus den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen für die Durchführung kommunikativer Aufgaben“ (2002, 235). Gätje (2007) schlussfolgert aus seiner soziostilistischen Untersuchung zum Gruppenstil der RAF im „INFO“-System in systemtheoretischer Perspektive, dass der soziale Sinn (Wie) den referentiellen Sinn (Was) determiniere. „Sinn ermöglicht bei allen internen Operationen ein laufendes Mitführen von Verweisungen auf das System selbst und auf eine mehr oder weniger elaborierte Umwelt […].“ (Luhmann 1988, 64) Luhmann verwendet den Ausdruck Stil nicht, jedoch verweist er auf das Mitführen von sozialem Sinn in Wörtern und Sprache. Orientiert an Luhmann könnte Stil also interpretiert werden als manifestierte Erwartungs-Erwartung, als der in der Kommunikation mitgeführte soziale Sinn. Über den Begriff des Stils und den Funktionalstil lassen sich Textlinguistik und Stilistik produktiv (wieder) mit einander verbinden. Eine Textlinguistik, die Textsorten mit soziologischem Hintergrund erforschen möchte, also die Untersuchung von Textsorten in Bezug auf deren Funktionieren in Kommunikationsbereichen/sozialen Systemen und deren Leistungen für andere Systeme im Blick hat, kommt ohne den Begriff Stil bzw. Funktionalstil/Bereichsstil nicht aus. Zu fragen ist, wie Textsortenstile den Sinn des sozialen Systems mitführen und somit den „re-entry“ des Systems sichern. Die Stilistik liefert Methodik und Analyseinstrumentarium zur Untersuchung der Merkmale von Textsortenstilen, die auf die Merkmale des Systems zu beziehen sind.
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1919
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114. Der Stilbegriff in der Kunstwissenschaft
1921
Spranz-Fogasy, Thomas (2003): Alles Argumentieren, oder was? Zur Konstitution von Argumentation in Gesprächen. In: Arnulf Deppermann/Martin Hartung (Hrsg.): Argumentieren in Gesprächen. Gesprächsanalytische Studien. Tübingen, 27⫺39. Uhmann, Susanne (1989): Interviewstil: Konversationelle Eigenschaften eines sozialwissenschaftlichen Erhebungsinstruments. In: Hinnenkamp/Selting (1989), 125⫺165. Zurstiege, Guido (2002): Werbung als Funktionssystem. In: Armin Scholl (Hrsg.): Systemtheorie und Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft. Konstanz, 147⫺159.
Christina Gansel, Greifswald (Deutschland)
114. Der Stilbegri in der Kunstwissenschat 1. Allgemeines 2. Vorgeschichte: Der Stilbegriff der Künstler und Kunsthistoriographen vom 16. bis ins 19. Jahrhundert 3. Das „Problem des Stils“ in der frühen Kunstwissenschaft 4. Der Stilbegriff in der neueren Kunstwissenschaft 5. Neuere Tendenzen aus der Kultursoziologie und den Kulturwissenschaften 6. Literatur (in Auswahl)
Abstract “Style” is one of the main concepts in Art History. The term signifies the aesthetic features of a work of art that makes it recognizable as a work of an individual or a group, a region, or a period of time. Art History distinguishes individual and period styles, formal and expressive styles, regional and social styles. Conceptualization of “style” was constitutive for Art History in the late 19 th century. Changes and variations in theories and discussions of style are most significant for the history of Art History.
1. Allgemeines „Stil“ gehört zu den zentralen Begriffen der Kunstwissenschaft. Er bezeichnet die ästhetischen Eigenschaften eines Kunstwerks, durch die es als Werk eines Einzelnen oder einer Gruppe, einer Region oder einer Zeit identifizierbar wird. Die Kunstwissenschaft unterscheidet Individual- und Epochenstile, regionale und nationale Stile, benennt aber auch in vielfältigen Variationen Form- und Ausdrucks-Stile, themenbezogene und soziale Stile. Stile werden als Ausdruck technischer oder ästhetischer, weltanschaulicher oder sozialer Normierungs- oder Deviationsprozesse begriffen. Der kunstwissenschaftliche Stilbegriff hat eine Vorgeschichte in der antiken Rhetorik und der frühneuzeitlichen Kunst- und Architekturtheorie, mit ihm werden aber anders als mit dem Stilbegriff der Künstler und Kunsttheoretiker keine ästhetischen Normen gesetzt oder in Frage gestellt, sondern
114. Der Stilbegriff in der Kunstwissenschaft
1921
Spranz-Fogasy, Thomas (2003): Alles Argumentieren, oder was? Zur Konstitution von Argumentation in Gesprächen. In: Arnulf Deppermann/Martin Hartung (Hrsg.): Argumentieren in Gesprächen. Gesprächsanalytische Studien. Tübingen, 27⫺39. Uhmann, Susanne (1989): Interviewstil: Konversationelle Eigenschaften eines sozialwissenschaftlichen Erhebungsinstruments. In: Hinnenkamp/Selting (1989), 125⫺165. Zurstiege, Guido (2002): Werbung als Funktionssystem. In: Armin Scholl (Hrsg.): Systemtheorie und Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft. Konstanz, 147⫺159.
Christina Gansel, Greifswald (Deutschland)
114. Der Stilbegri in der Kunstwissenschat 1. Allgemeines 2. Vorgeschichte: Der Stilbegriff der Künstler und Kunsthistoriographen vom 16. bis ins 19. Jahrhundert 3. Das „Problem des Stils“ in der frühen Kunstwissenschaft 4. Der Stilbegriff in der neueren Kunstwissenschaft 5. Neuere Tendenzen aus der Kultursoziologie und den Kulturwissenschaften 6. Literatur (in Auswahl)
Abstract “Style” is one of the main concepts in Art History. The term signifies the aesthetic features of a work of art that makes it recognizable as a work of an individual or a group, a region, or a period of time. Art History distinguishes individual and period styles, formal and expressive styles, regional and social styles. Conceptualization of “style” was constitutive for Art History in the late 19 th century. Changes and variations in theories and discussions of style are most significant for the history of Art History.
1. Allgemeines „Stil“ gehört zu den zentralen Begriffen der Kunstwissenschaft. Er bezeichnet die ästhetischen Eigenschaften eines Kunstwerks, durch die es als Werk eines Einzelnen oder einer Gruppe, einer Region oder einer Zeit identifizierbar wird. Die Kunstwissenschaft unterscheidet Individual- und Epochenstile, regionale und nationale Stile, benennt aber auch in vielfältigen Variationen Form- und Ausdrucks-Stile, themenbezogene und soziale Stile. Stile werden als Ausdruck technischer oder ästhetischer, weltanschaulicher oder sozialer Normierungs- oder Deviationsprozesse begriffen. Der kunstwissenschaftliche Stilbegriff hat eine Vorgeschichte in der antiken Rhetorik und der frühneuzeitlichen Kunst- und Architekturtheorie, mit ihm werden aber anders als mit dem Stilbegriff der Künstler und Kunsttheoretiker keine ästhetischen Normen gesetzt oder in Frage gestellt, sondern
1922 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Konzepte der Deskription, der Klassifizierung, der Periodisierung und des Verstehens von Kunst und ihrer Geschichte entwickelt und begründet. Die Definition eines eigenen Stilbegriffs war für die universitäre Kunstwissenschaft des späten 19. Jahrhunderts von konstitutiver Bedeutung. Mit einer gegenstandsspezifischen, aus der Geschichte der Kunsttheorie übernommenen Beschreibungs- und Ordnungskategorie konnte sich das junge Fach von den Geschichtswissenschaften und der Kunstphilosophie (Ästhetik) abgrenzen und als selbständige Disziplin etablieren. Bis weit ins 20. Jahrhundert kreiste die Theoriebildung des Faches um den Begriff des Stils. Die Veränderungen und die Differenzierung, die der kunstwissenschaftliche Stilbegriff im 20. Jahrhundert erfahren hat, die frühe Polarisierung der Stildiskussion durch die unterschiedliche Bewertung von Form- und Inhaltsaspekten, aber auch die späteren Diskussionen um einen stärker soziologischen Stilbegriff sind für die Geschichte des Faches in höchstem Maße signifikant. Obwohl das „Problem des Stils“ heute nicht mehr im Zentrum der kunstwissenschaftlichen Theoriediskussionen steht, spielt der Begriff als Kategorie der Beschreibung, Identifizierung und Zuordnung von Kunstwerken nach wie vor eine wichtige Rolle. Auch wenn sich seine Bedeutung für die Theoriebildung des Faches mittlerweile erschöpft zu haben scheint, hat er insbesondere in den praktischen Tätigkeitsfeldern der Kunstwissenschaft, der Kunstwissenschaft an den Museen, der Denkmalpflege und dem Kunsthandel, die mit der vergleichenden Methode der „Stilkritik“ die Kunstwerke erfassen, bestimmen und bewerten, bis heute einen zentralen Stellenwert.
2. Vorgeschichte: Der Stilbegri der Künstler und Kunsthistoriographen vom 16. bis ins 19. Jahrhundert In den Anfängen der frühneuzeitlichen Kunstgeschichtsschreibung wurde der Begriff des Stils nur sehr vage gefasst. Giorgio Vasari unterschied in seinen Viten der italienischen Künstler der Renaissance die „maniera moderna“ von der „maniera greca“, die Kunst der neuen von der Kunst der alten Zeit (Vasari 1550/1564). Seine Beschreibungen der Künstlerviten lassen ein Bewusstsein von Epochen-, Regional- und Individualstilen erkennen, die er jedoch nicht näher qualifizierte. Wichtiger als der Begriff der „maniera“ war ihm der Begriff des „disegno“, den er als Qualitätsmaßstab einführte, wichtiger als die Kategorisierung war ihm die Bewertung der Kunst, die er nach formalen, nicht aber nach stilistischen Kriterien vornahm. Auch Karel van Mander unterschied in seinen Lebensbeschreibungen der niederländischen und deutschen Maler stilistisch nur vage zwischen „altertümlich“ und „modern“, ließ aber Ansätze einer formalen Qualifizierung und ästhetischen Bewertung des Stils erkennen, wenn er etwa von der „harten, eckigen und häßlichen modernen Manier“ sprach (Mander 1604/1991, 42; 48). Die Künstlerhistoriographie des 16. Jahrhunderts verwendete den Begriff der „maniera“ nicht nur als Subjektkategorie (Stil als Vermögen des Künstlers), sondern auch als Objektkategorie (Stil als Eigenschaft des Kunstwerks), etwa zur Markierung kultureller Identitäten geographischer und politischer Räume, stellte die stilistische Autorität der Künstler aber nicht in Frage. Dies änderte sich mit dem Aufkommen des Absolutismus im 17. Jahrhundert, als Kirche und Staat die Kunst nicht mehr allein als ästhetisches Kontemplations- und Repräsentationsmedium, sondern zunehmend als politisches und soziales Handlungsfeld
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begriffen und die künstlerische Produktion ihrem politischen Autoritätsanspruch und gesellschaftlichen Normierungswillen zu unterwerfen versuchten. Bereits im 16. Jahrhundert hatte das tridentinische Konzil ein umfangreiches stilistisches und ikonographisches Regelwerk für die kirchliche Kunst festgelegt und damit den Anspruch der Kirche als künstlerische Autorität bekundet. Mit der Gründung von Akademien, insbesondere der Acade´mie royale in Paris, demonstrierte im 17. Jahrhundert der frühmoderne Staat seine Zuständigkeit für die Kunst (vgl. Held 2001). Zum einflussreichsten Theoretiker der Akademien wurde Giovanni Pietro Bellori, der in seinen Viten der modernen Maler, Bildhauer und Architekten (Bellori 1672) einen vorbildhaften, zwischen dem Naturalismus (Caravaggios) und dem Manierismus ausbalancierten Stil definierte (vgl. Panofsky 1924). Die „maniera“, verstanden als der Individualstil des Künstlers, wurde zugunsten des „decorum“, eines von den Akademien erarbeiteten und gesellschaftlich legitimierten Stilkonsenses abgewertet, der stilistische Spielraum des Künstlers durch die Normen des Staates beschränkt. Wie bei den „genera dicendi“ der antiken Rhetorik ging es um die „Angemessenheit“ des künstlerischen Stils und letztlich um das soziale Anpassungsvermögen des Künstlers. Der Wandel von einer normativen Ästhetik zu einer historisch beschreibenden, wissenschaftlichen Konzeption von „Stil“ fand im 18. Jahrhundert in den Schriften von Johann Joachim Winckelmann statt. Standen seine Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (Winckelmann 1755) wie die Kunsttheorie Belloris noch ganz im Zeichen der Begründung eines Schönheitsideals, wurde in der Geschichte der Kunst des Alterthums (Winckelmann 1764) der ästhetische Aspekt durch die historische Perspektive auf die Kunst relativiert. Die Geschichte der griechischen Kunst, die er „nebst dem verschiedenen Stile der Völker, Zeiten und Künstler“ (Winckelmann 1764, 5) beschrieb, gliederte er in die vier (Evolutions-)Phasen Ursprung, Wachstum, Veränderung und Fall, denen er vier Stilstufen zuordnete: den geraden und harten Stil, den großen und eckigen, den schönen und fließenden und den Stil der Nachahmer. Die Stilbezeichnungen zeigen, dass sie vor allem aus der Analyse der Kontur und der Binnenzeichnung der Kunstwerke gewonnen wurden. Die Zeichnung (disegno), die Vasari als Maßstab für die Bewertung der Kunstwerke genommen hatte, verwendete Winckelmann zu ihrer Beschreibung, Kategorisierung und Periodisierung. Dieser Perspektivenwechsel markierte den Beginn der (kunst-)wissenschaftlichen Geschichte des Stilbegriffs. Das grundlegende Paradigma des neuen, wissenschaftlichen Stilbegriffs war die Erkenntnis eines Zusammenhangs zwischen Stil und Zeit. Winckelmanns Schriften, seine ästhetischen Wertsetzungen und sein Stilbegriff riefen, nicht zuletzt wegen ihres normativen Charakters, unter Künstlern und Intellektuellen vielfach Widerspruch hervor. Goethe setzte mit seinem Lob der Gotik des Straßburger Münsters einen ästhetischen (und stilistischen) Gegenakzent zum Klassizismus und zur Wissenschaftlichkeit Winckelmanns (Goethe 1772). In seinem Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil (Goethe 1789) relativierte er später seine ästhetische Position zum Klassizismus, begriff aber nach wie vor den Stil, den er als die höchste Stufe des künstlerischen Ausdrucks fasste, als Kompetenz des Künstlers, als Ausdruck seiner Individualität und seines Erkenntnisvermögens. Auch von Architekten wurden die ästhetischen Ideale Winckelmanns und der neue, historiographische Stilbegriff kritisiert. Heinrich Hübsch konstatierte in seiner Schrift In welchem Style sollen wir bauen? eine „Unzulänglichkeit des antiken Styls für die heutige Anwendung“ (Hübsch 1828, 1). Statt der Nachahmung der Antike empfahl er seinen
1924 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Zeitgenossen aus Gründen der Funktionalität und Angemessenheit einen an mittelalterlichen Gewölbeformen orientierten „Rundbogen-Styl“. Unter dem Stil eines Gebäudes verstand er die spezifische Akzentuierung, die Konfiguration und Gestaltung der tektonischen Elemente. Sein technisch-funktionalistischer Stilbegriff unterschied sich von dem historischen Ansatz Winckelmanns ebenso wie von dem individualistischen Stilbegriff Goethes. Der Titel seiner Schrift ließ erkennen, dass er (wie Goethe) den Künstler (und nicht den Historiker) als Souverän des Stils sah. Gleichwohl war sein Konzept im Ansatz nicht weniger normativ als die Schriften Winckelmanns. Im Zuge der Industrialisierung und der zunehmenden Technisierung und Modernisierung weiter Lebensbereiche bezogen sich die ambitioniertesten Stildefinitionen und Stildiskussionen des 19. Jahrhunderts nicht auf die freien Künste, auf Malerei und Bildhauerei, sondern auf die angewandten Künste und die Architektur. Einen ausgesprochen materialistischen Stilbegriff entwickelte Gottfried Semper in seinem zweibändigen Werk Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten (Semper 1860/1863), einem „Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde“. Für Semper war jedes technische Produkt „ein Resultat des Zweckes und der Materie“ (Semper 1860, 7). Stile entstanden nach seiner Darstellung in unmittelbarer Abhängigkeit vom Material und von der Technik, in seinen Worten „von dem Stofflichen“ und „durch die Art der Bearbeitung der Stoffe“ (Semper 1860, 9). Sein durchaus weit gefasster Stilbegriff bezog sich nicht nur auf die Struktur- und Oberflächenphänomene der gestalteten Objekte („Produkte“), sondern erstreckte sich auch auf ihre Symbolik und ihre Funktion. Den Ursprung der Stile suchte Semper in kulturhistorischer Perspektive in den Kultur- und Produktionstechniken einer Gesellschaft.
3. Das Problem des Stils in der rühen Kunstwissenschat Die universitäre Kunstwissenschaft des späten 19. Jahrhunderts setzte der „praktischen Ästhetik“ Sempers ein stärker theoretisch ausgerichtetes Konzept des Stils entgegen. Alois Riegl grenzte sich in seinem Buch Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik (Riegl 1893) explizit von Sempers materialistischem Ansatz ab. Den Ursprung für das Entstehen von Kunst und die Herausbildung von Stilen, nach dem er suchte, sah er nicht in einem mechanisch-materiellen Nachahmungstrieb, wie er mit Blick auf die Anhänger Sempers überspitzt formulierte, sondern in einem frei schöpferischen „Kunstwollen“ (Riegl 1893, V). Es war sicherlich kein Zufall, dass er seine frühen stiltheoretischen Überlegungen, die mit dem Aufkommen der Jugendstil-Bewegung in Europa zusammenfielen, am Beispiel einer Geschichte der Ornamentik entwickelte; die thematische Konzentration auf die angewandte Kunst verband ihn mit Semper. Sein Konzept des „Kunstwollens“ führte ihn zu der Vorstellung von materiell unabhängigen, spontanen Stilentwicklungen, allerdings räumte er, als Konzession an Semper, die Bedeutung kultureller Techniken für die Ausbildung von Stilen ein. Stärker als Semper interessierte sich Riegl für einzelne Formen und Motive, für die Klassifikation von Stilmerkmalen und schließlich für die Benennung von Stilen. Seine wissenschaftliche Empirie, die methodisch auf Winckelmann zurückgriff, unterschied ihn von den Künstlern, Architekten und Ästhetikern, die den Stilbegriff im 19. Jahrhundert geprägt hatten. Von den Begründern der Kunstwissenschaft im 19. Jahrhundert, den Vertretern der Berliner Schule wie Franz Kugler und Carl Schnaase, aber auch von Jakob Burckhardt, die die Kunstge-
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schichte als Teil einer Gesamtgeschichte begriffen und ihre Wissenschaft methodisch an den Geschichtswissenschaften ausrichteten, unterschied er sich dagegen darin, dass er einen ästhetisch (und nicht historiographisch) aufgebrachten Begriff wie den des Stils als zentrale wissenschaftliche Ordnungskategorie zu etablieren versuchte. Damit setzte er ein Zeichen für die Emanzipierung der Kunst- von den Geschichtswissenschaften und für die Kunstgeschichte als selbständige wissenschaftliche Disziplin mit einer eigenen, an ihrem Gegenstand orientierten Terminologie. In seinem Buch über die spätrömische Kunstindustrie (Riegl 1901) versuchte er, sein Konzept der „spontanen“, vom „Kunstwollen“ abhängigen Stilentwicklung zu systematisieren, indem er zwei stilgeschichtliche Grundtendenzen konstatierte, eine „haptische“ (skulpturale) und eine „optische“ (malerische) Auffassung, die sich in langen Zyklen abwechseln. Den Weg der Verwissenschaftlichung und Systematisierung des kunstgeschichtlichen Stilbegriffs setzte Heinrich Wölfflin zu Beginn des 20. Jahrhunderts fort. In seinem Vortrag Das Problem des Stils in der bildenden Kunst (Wölfflin 1912), den er 1911 vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin hielt, skizzierte er im Vorgriff auf sein Buch Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst (Wölfflin 1915) seinen Begriff des künstlerischen Stils, seines Ursprungs und der Gründe seines Wandels. Wölfflin sprach von „Formsystemen, die wir Stile nennen“ (Wölfflin 1912, 572). Er unterschied Stile, die Völker und Zeiten charakterisieren (Epochenstile), von den Stilen starker Künstlerindividuen (Individualstile). Den Wandel von Stilen erklärte er mit der Veränderung von „Auffassungs- und Darstellungsformen“ (Rezeptions- und Performanzmustern). Allgemeine Darstellungsformen in der neueren Kunst (für Wölfflin: Renaissance und Barock) waren für ihn das Lineare und das Malerische, Fläche und Tiefe, die geschlossene und die offene Form, Vielheit und Einheit sowie Klarheit und Unklarheit. Diese Begriffspaare, deren bipolares Grundmuster an Riegls Unterscheidung von „haptisch“ und „optisch“ erinnerte, bezeichnete er als „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“ (Wölfflin 1915). Ausgangspunkt jeder Stildiskussion war für Wölfflin die (ethno-)psychologisch akzentuierte, wahrnehmungstheoretische Frage „des Verhältnisses des Auges zur Welt“ (Wölfflin 1912, 578), das er in einem ständigen Wandel begriffen sah. Stilerscheinungen begriff er als Ausdruck psychischer Temperamente (von Völkern und Individuen), Stilveränderungen als wahrnehmungspsychologisch begründet. Zu seinem psychologisch basierten, evolutionären und tendenziell biologistischen Konzept des Stils und des Stilwandels, das von einer Gesetzmäßigkeit und periodischen Wiederholung von Stilentwicklungen ausging, passte der Begriff eines national differenzierten „Formgefühls“, den er in späteren Veröffentlichungen einführte (Wölfflin 1931), eine Paraphrase und Ergänzung seines früheren Begriffs der Auffassungs- und Darstellungsform, die in der NS-Zeit im Sinne einer völkischen Kunstgeschichte ideologisiert und politisch instrumentalisiert wurde. Wölfflins ambitioniertes Modell der „kunstgeschichtlichen Grundbegriffe“ hat den Stil als theoretische Kategorie fest in der Kunstwissenschaft verankert. Die Grundbegriffe haben die Stildiskussion in der Kunstwissenschaft systematisiert, erweitert und differenziert und einen wichtigen Beitrag zur Theoriebildung des Faches geleistet. Zugleich hat seine Präferenz der formalen Erscheinungen gegenüber den Bedeutungen („Erst muss die optische Basis festgelegt sein, bevor man daran gehen kann, sich über die Ausdruckswerte einer Zeit auszusprechen“, Wölfflin 1912, 578), vor allem aber seine Auffassung, dass Stile nicht an Inhalte gebunden sind, zur Polarisierung der fachwissenschaftlichen Diskussion geführt und die Kritik herausgefordert.
1926 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Noch vor dem Erscheinen der Grundbegriffe setzte sich Erwin Panofsky ausführlich und kritisch mit dem Begriffssystem Wölfflins auseinander. Das „Problem des Stils“ (Panofsky 1915), das er als „das allgemeinste und grundsätzlichste Problem der Kunstwissenschaft“ (Panofsky 1915, 460) bezeichnete, schien ihm durch Wölfflin zu sehr auf die Frage nach („leeren“) Formen und Darstellungsmodi reduziert zu sein. Wölfflins Grundbegriffe waren für Panofsky geeignet, Stilphänomene zu beschreiben, nicht aber dazu, die Ursachen für die Herausbildung von Stilen zu erklären. Dazu bedurfte es nach Panofsky einer stärkeren Berücksichtigung der Ausdruckwerte stilistischer Erscheinungen und der Ergründung eines immanenten Sinns, der dem Ausdrucksstreben und dem Gestaltungswillen einer Epoche zugrunde liege. Näher als das System Wölfflins stand ihm Riegls Konzept des „Kunstwollens“ (vgl. Panofsky 1920), weil es sich mit seiner Vorstellung eines dem Kunstwerk immanenten (Epochen-)Sinns verbinden ließ, wobei er die Intentionalität, die Riegls Begriff implizierte, zu relativieren versuchte. Das Streben nach der Aufdeckung von stilistischen Gesetzmäßigkeiten stellte er dagegen in Frage. Wie er das Phänomen des Stilwandels zwischen zwei Epochen erklären wollte, das Wölfflin in seinen Grundbegriffen am Beispiel des Übergangs von der Renaissance zum Barock untersucht hatte, demonstrierte Panofsky in seinem Aufsatz Die Perspektive als „symbolische Form“ (1927) am Beispiel des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit. Die Zentralperspektive, die den Bildraum ausgehend vom Auge des Betrachters organisiert, für Panofsky das stilistische Distinktionsmittel der neuzeitlichen Malerei, deutete er nicht allein als technische und formale Neuerung, sondern als symbolische Form, in der sich der Wandel vom Theozentrismus des Mittelalters zum Anthropozentrismus der Neuzeit artikuliere. Sein Konzept des immanenten Sinns eines Kunstwerks, des Grundes seiner künstlerischen Gestalt, den es hervorzuheben gelte, erläuterte er später in dem Aufsatz Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst (Panofsky 1932). Obwohl Panofsky immer wieder darauf hingewiesen hat, dass Form und Inhalt im Kunstwerk eine Einheit bilden, und seine Diskussion des Stilbegriffs entsprechend akzentuierte, führten seine Betonung der Inhaltsdeutung, sicher aber auch seine dezidierte Abgrenzung zu Wölfflin dazu, dass seine Methode der Ikonographie und Ikonologie (Panofsky 1939/1955/1975), die er als jüdischer Emigrant im US-amerikanischen Exil weiterentwickelte, vor allem von der Kunstwissenschaft in Deutschland als komplementäres Verfahren zu form- und stilgeschichtlichen Ansätzen wahrgenommen wurde. Unangetastet ließ Panofsky in seiner Kritik Wölfflins das Modell des Epochenstils, dem die Vorstellung einer homogenisierenden Wirkung der Zeit und einer sich in weit ausgedehnten Zeiträumen vollziehenden Entwicklung der Stile zugrunde lag. Im Bemühen um eine Differenzierung der Stilverläufe entwarf Wilhelm Pinder in seinem Buch Das Problem der Generationen in der Kunstgeschichte Europas (Pinder 1926) das Modell sich überlagernder Generationenstile. Ausgehend von seiner Beobachtung einer „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“, d. h. einer zeitlichen Überschneidung von Stilen, die er insbesondere in der Moderne, aber auch im Mittelalter erkannte, setzte er in seinem „Gesetz des Rhythmus“ die Lebensdauer einer Generation als Maß für ein Stilinterval an. Stile waren seiner Überzeugung nach Ausdruck des Durchsetzungswillens einer jüngeren gegenüber einer älteren Generation. Mit diesem darwinistischen Konzept der Stilentwicklung und des Stilwandels avancierte Pinder zum einflussreichsten Kunsthistoriker der NS-Zeit (vgl. Held 2005). Nur wenig Beachtung fanden dagegen die strukturalistischen Überlegungen, die Julius von Schlosser unter dem Titel „Stilgeschichte“ und „Sprachgeschichte“ der bildenden
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Kunst (Schlosser 1935) formulierte. In Analogie zu de Saussures Modell von „parole“ und „langue“ unterschied er zwischen dem Stil des Künstlers (als Ausdruck seines individuellen Genies) und der Sprache der bildenden Kunst (als Summe ihrer darstellerischen Möglichkeiten). Die stärkere Bindung des Stilbegriffs an den Künstler (statt an die Epoche), die mit Pinder eingesetzt hatte, stand im Zeichen einer Kritik des EpochenstilBegriffs, die sich nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland fortsetzte.
4. Der Stilbegri in der neueren Kunstwissenschat Die Beiträge, die nach dem 2. Weltkrieg die Stildiskussionen des frühen 20. Jahrhunderts fortsetzten, waren von dem Bemühen um eine Differenzierung des Stilbegriffs, aber auch um eine Synthetisierung und Homogenisierung der Diskussion bestimmt. Im Sinne eines ganzheitlichen Stilbegriffs, der Form und Inhalt eines Kunstwerks gleichermaßen berücksichtigt, sicher aber auch im Zeichen der angestrebten Versöhnung der Kriegs- und Nachkriegskunsthistoriker in Deutschland mit den jüdischen Emigranten prägte Kurt Bauch im Rahmen seiner Rembrandt-Studien den Begriff des „ikonographischen Stils“ (Bauch 1967). Bezugnehmend auf Panofskys frühere Auseinandersetzung mit Wölfflin (Panofsky 1915), würdigte er ausdrücklich dessen synthetisierende Konzeption, die er in veränderter Perspektive, d. h. mit Blick auf den Individualstil einer historischen Künstlerpersönlichkeit (statt auf den Stil einer künstlerischen Epoche), neu belebte. Unter dem „ikonographischen Stil“ verstand Bauch die signifikante motivische Akzentuierung und Inszenierung eines künstlerischen Themas, z. B. Rembrandts eigene, „philologische“ Interpretation und Darstellung biblischer Themen, die sich von der überlieferten Typengeschichte und Bildtradition unterschieden. Der „ikonographische Stil“, der ⫺ darauf legte er mit Blick auf Panofsky Wert ⫺ dem Stil der Form entspreche, umfasste nach Bauch „das Ganze dessen, was man Inhalt nennt, von der äußerlichsten Einzelheit bis zum höchsten Sinn“ (Bauch 1967, 142). Einen Vorschlag zur Differenzierung des Individualstils hatte wenige Jahre zuvor auch Jan Białostocki vorgelegt. Um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Künstler seinen Stil den Themen seiner Kunstwerke entsprechend variieren kann, reaktivierte er in Orientierung an den Stilkategorien der antiken Rhetorik und in Anlehnung an die Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts den Begriff des „Modus“ (Białostocki 1961). Anders als Wölfflin, der unter dem Darstellungsmodus einer Epoche die Summe ihrer spezifischen Wahrnehmungs- und Darstellungsmöglichkeiten verstand (Wölfflin 1912), ging es Białostocki um eine Differenzierung von Stillagen, d. h. verschiedener Ausdrucksmöglichkeiten innerhalb eines Stils. In ähnlicher Akzentuierung hatte zuvor bereits Meyer Schapiro von „[different] ,modes‘ practised by the same artist or school of artists according to the content to be expressed“ gesprochen (Schapiro 1944, 181). Durch Schapiro erhielt die kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung um den Begriff des Stils nach dem 2. Weltkrieg die vielleicht wichtigsten Impulse. In einem Beitrag für Anthropology Today (Schapiro 1953) versuchte er, den kunsthistorischen Stilbegriff und seine unterschiedlichen Aspekte zusammenzufassen und zu systematisieren, ihn von den Stilbegriffen der Nachbarwissenschaften (wie der Archäologie, der Kulturgeschichte und der Literaturwissenschaften) abzugrenzen und zu historisieren. Aus einer historischanthropologischen, im Ansatz auch ethnomethodologischen Perspektive war er einerseits
1928 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart an einer allgemeinen Bestimmung dessen interessiert, was in der Kunst- und Kulturgeschichte unter Stil, Stilmerkmalen und Stilentwicklungen verstanden wird, andererseits aber auch an einer historischen, sozialen und kulturellen Grundlegung des Stilbegriffs. Systematisch, formgeschichtlich und (ethno-)psychologisch argumentierende Stiltheorien in der Tradition Wölfflins wusste er aufgrund ihrer wissenschaftlichen Elaboriertheit durchaus zu würdigen, kritisierte allerdings die Ausblendung materialistischer und sozialer Aspekte und die Vorstellung quasi autonomer Stilmorphologien. An der marxistischen Kunst- und Kulturtheorie, die den Zusammenhang zwischen Stil und Gesellschaft hätte aufzeigen können, kritisierte er andererseits das Fehlen einer ausgearbeiteten Stiltheorie und eine seiner Ansicht nach zu schematische und deterministische Methodik. Ihm schwebte ein integratives Modell einer sozial begründeten Stiltheorie vor: „A theory of style adequate to the psychological and historical problems has still to be created. It waits for a deeper knowledge of the principles of form construction and expression and for a unified theory of the process of social life in which the practical means of life as well as emotional behavior are comprised.“ (Schapiro 1953, 311) Am nächsten kam diesem von Schapiro formulierten Desiderat sicherlich das Konzept des „cognitive style“, das Michael Baxandall 1972 in einer Arbeit über die italienische Malerei des 15. Jahrhunderts entwickelte (Baxandall 1972/1977). Anschließend an Wölfflins wahrnehmungstheoretisches Konzept der Auffassungs- und Darstellungsform einer Epoche, in der ihr Stil begründet liegt, versuchte Baxandall, den „Blick der Zeit“ (Baxandall 1972/1977, 41) zu rekonstruieren, der die Ästhetik der Kunst bestimmt. Panofskys Kritik an Wölfflin berücksichtigend, beließ er es nicht bei der bloßen Konstatierung (epochen-)spezifischer Wahrnehmungs- und Darstellungsmuster, sondern fragte nach deren Ursprüngen. Anders als Panofsky suchte er diese aber nicht in weltanschaulichen Grunddispositionen, sondern, Schapiro folgend, in den praktischen Tätigkeiten des sozialen Lebens. Als maßgeblich für die Erfahrung der Welt und damit form- und stilbildend für die Malerei der italienischen Frührenaissance führte er die religiösen und kulturellen Formen in den italienischen Städten des 15. Jahrhunderts an, Predigten, Theaterspiele und Tänze, aber auch die Handlungen und Wertmaßstäbe der Handwerker und Kaufleute, das Messen und Berechnen von Produkten, das Bestimmen von Maß- und Wertverhältnissen usw. Die Wahrnehmung dieser sozialen und kulturellen Handlungen hielt er für die Bildung der visuellen Kompetenzen der Maler für mindestens ebenso wichtig, wenn nicht für wichtiger als die sprachlich gefassten und eher das intellektuelle Vermögen der Künstler bildenden Begriffe und Wertsetzungen der zeitgenössischen Kunsttheorie, die er ebenfalls anführte, semantisch bestimmte und auf ihre Bedeutung für die Malerei befragte. In der Erfahrung der Alltagswirklichkeit aber sah er den eigentlichen Ursprung der visuellen Kultur des Quattrocento. Der soziologisch akzentuierte Stilbegriff der anglo-amerikanischen Kunstwissenschaft fand bemerkenswerterweise in der Kunsthistoriographie der DDR ein stärkeres Echo als in den Stildiskussionen, die in Westdeutschland geführt wurden. Die westdeutsche Diskussion kreiste in den siebziger Jahren um den Begriff des „Stilpluralismus“, den J. A. Schmoll gen. Eisenwerth als Kritik einer Stilepochen-Kunstgeschichte geprägt hatte (Schmoll gen. Eisenwerth 1970; Hager/Knopp 1977). Angesichts der Heterogenität der Stilentwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert suchte Schmoll nach einem differenzierteren Modell zur Beschreibung stilistischer und stilgeschichtlicher Phänomene, als es das Konzept des Epochenstils leistete. Pinders Kunstgeschichte der Generationen verwarf er, weil sie die Ungleichheit verschiedener Stile innerhalb einer Generation nicht erklären
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konnte. Näher stand ihm Białostockis Modus-Konzept, das allerdings eher dazu geeignet war, synchrone als diachrone Stilentwicklungen zu beschreiben. Den „Stilpluralismus“, den Schmoll im 19. und 20. Jahrhundert feststellte, führte er auf die zunehmende Demokratisierung der Gesellschaft seit der französischen Revolution zurück. Stilbildungen und Stilverläufe, die er wie Riegl und Wölfflin auf ein antipodisches Grundmuster, in seinem Fall auf die Auseinandersetzung zwischen klassizistischen und antiklassizistischen Strömungen zu reduzieren versuchte, begriff er im Sinne einer normativen Ästhetik (und darin Pinder nicht unähnlich) als Ausdruck politischer und gesellschaftlicher Dominanzen. Die ostdeutsche Kunstwissenschaft kritisierte das Konzept des Stilpluralismus, weil es stilistische Phänomene zu vereinzeln und eine angenommene strukturelle Analogie der verschiedenen Künste einer Zeit aus dem Blick zu verlieren schien, und setzte dem westdeutschen Konzept des Stilpluralismus den von dem Literaturhistoriker Rainer Rosenberg geprägten Begriff der „Stilformation“ entgegen. In einem grundlegenden Beitrag über den Stil als Kategorie der Kunsthistoriographie erläuterte Friedrich Möbius sein Konzept eines sozial- und kommunikationswissenschaftlich fundierten Stilbegriffs, der „Stile als schichten- oder klassenspezifische Organisationsformen des sozialen Austauschs“ und die kunstgeschichtliche Stilanalyse entsprechend als „Phänomenologie der sozialen Kommunikation“ auffasste (Möbius 1984, 24; 38). In Anlehnung an Baxandall, dessen Ansatz er historisch-materialistisch ausdeutete, betonte er die Bedeutung sozialer Erfahrungen für das Entstehen von Stilen: „Der Formenapparat des sozialen Austauschs erwächst jeweils aus der realen Lebenspraxis, er ist abhängig vom Stand der Produktivkräfte und dem Charakter der Produktionsverhältnisse.“ (Möbius 1984, 38).
5. Neuere Tendenzen aus der Kultursoziologie und den Kulturwissenschaten Bei allen Unterschieden zeichnen sich die kunstwissenschaftlichen Theorieentwürfe bis heute durch einen starken Ordnungs- und Kategorisierungswillen, vor allem aber durch die Gemeinsamkeit eines phänomenologischen, auf das Objekt bezogenen Stilbegriffs aus. Sie unterscheiden sich in dieser Hinsicht von handlungstheoretischen Modellen aus der Soziologie und den Kulturwissenschaften, die den Stil nicht als eine Qualität der künstlerischen Objekte in den Blick nehmen, sondern als Ausdruck sozialer Handlungen. Pierre Bourdieu hat in seiner Soziologie der symbolischen Formen (Bourdieu 1970) in Anlehnung an Panofsky anstelle des Stils den ursprünglich scholastischen Begriff des „Habitus“ eingeführt, den er als ein System verinnerlichter Muster begriff, das dazu führe, die typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu generieren. Den der Produktion und Rezeption eines Kunstwerks zugrunde liegenden Habitus definierte er als sozial determiniert. Um ein Kunstwerk entschlüsseln zu können, bedarf es seiner Ansicht nach eines Zugangs zu seiner sozialen Codierung, d. h. zu den Bildungsinstitutionen, die die Codes vermitteln. Kunst verstand er als ein Medium sozialer Differenzierung, deren Grad von der Distanz zwischen dem „Emissionsniveau“ des Kunstwerks und dem sozial bedingten „Rezeptionsniveau“ der Individuen abhing. Sein soziologischer Begriff des Habitus bzw. der „Kunstkompetenz“ ist das Kernelement seiner
1930 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, die er in Abgrenzung zu einer Ideologie des „reinen Auges“ entwickelte. Hans Ulrich Gumbrecht stellte 1986 am Schluss seiner kurzen Geschichte des Stilbegriffs (Gumbrecht 1986) eine Beziehung zwischen dem (kunst-)wissenschaftlichen und dem trivialen Verständnis des Stils, zwischen einer quasi objektiven, auf ein Erkenntnisobjekt gerichteten wissenschaftlichen Handlung und der Stilisierung der Subjekte im Alltag her. In dem Maße, wie Stil und Stilisierung im täglichen Leben an Bedeutung gewannen, sah er den Begriff des Stils aus den Wissenschaften verschwinden. Die jüngere Theoriegeschichte der Kunstwissenschaft schien diese Beobachtung durchaus zu bestätigen. Unausgesprochen stellte sich mit Gumbrechts These auch die Frage nach der Stilisierung der Wissenschaften selbst, insbesondere auch der Kunstwissenschaft, eine Frage, die bisher kaum Beachtung gefunden hat, für deren Beantwortung Bourdieu (1979/1982; 2004) allerdings mit seinen bildungs- und wissenschaftssoziologischen Arbeiten wichtige Ansätze entwickelt hat. Anders als in den Anfangszeiten der Kunstwissenschaft, als die Stildiskussion ein zentrales Element der Theoriebildung mit fachkonstitutierender Bedeutung war, spielt der Begriff des Stils in den heutigen Theoriediskussionen der Kunstwissenschaft nur noch eine marginale Rolle, wenn auch in der Praxis unter dem Etikett der „Stilkritik“ weiter mit ihm gearbeitet wird. Im Zuge einer Neudefinition der Kunstwissenschaft, die sich in einer weiter gefassten, interdisziplinären Bildwissenschaft zu behaupten versucht, könnte er allerdings wieder an Bedeutung gewinnen (vgl. Bredekamp/Schneider/Dünkel 2008).
6. Literatur (in Auswahl) Ackerman, James S. (1962): A Theory of Style. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 20/3, 227⫺237. Bauch, Kurt (1967): „Ikonographischer Stil“. Zur Frage der Inhalte in Rembrandt’s [sic!] Kunst. In: Kurt Bauch (1967): Studien zur Kunstgeschichte. Berlin, 123⫺151. Baxandall, Michael (1972/1977): Painting and Experience in Fifteenth Century Italy. A Primer in the Social History of Pictorial Style. Oxford. Dt.: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts. Frankfurt/M. Bellori, Giovanni Pietro (1672): Le Vite De’ Pittori, Scvltori Et Architetti Moderni. Rom. Białostocki, Jan (1961): Das Modusproblem in den bildenden Künsten. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 24, Sp. 128⫺141. Białostocki, Jan (1966): Stil und Ikonographie. Studien zur Kunstwissenschaft. Dresden. Bourdieu, Pierre (1970): Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt/M. Bourdieu, Pierre (1979/1982): La distinction. Critique social du jugement. Paris. Dt.: Die feinen Unterschiede. Frankfurt/M. Bourdieu, Pierre (2004): Science of Science and Reflexivity. Cambridge. Bredekamp, Horst/Birgit Schneider/Vera Dünkel (Hrsg.) (2008): Das technische Bild. Kompendium für eine Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder. Berlin. Dittmann, Lorenz (1967): Stil, Symbol, Struktur. Studien zu Kategorien der Kunstgeschichte. München. Dittmann, Lorenz (1991): Zur Entwicklung des Stilbegriffs bis Winckelmann. In: Peter Ganz/Martin Gosebruch (Hrsg.) (1991): Kunst und Kunsttheorie 1400⫺1900. Wiesbaden, 189⫺218. Elkins, James (1996): Style. In: Jane Turner (ed.) (1996): The Dictionary of Art. 34 Bde. New York, 29, 876⫺883.
114. Der Stilbegriff in der Kunstwissenschaft Goethe, Johann Wolfgang von (1772): Von deutscher Baukunst. Frankfurt. Goethe, Johann Wolfgang von (1789): Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil. In: Der Teutsche Merkur 2, 113⫺120. Gombrich, Ernst (1966): Norm and Form. London. Gombrich, Ernst (1968): Style. In: David L. Sills (ed.) (1968): International Encyclopedia of the Social Sciences. New York, 352⫺361. Goodman, Nelson (1975): The Status of Style. In: Critical Inquiry 1, 799⫺811. Gumbrecht, Hans Ulrich (1986): Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs. In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.) (1986): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt/M., 726⫺788. Hager, Werner/Norbert Knopp (Hrsg.) (1977): Beiträge zum Problem des Stilpluralismus. München. Held, Jutta (2001): Französische Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts und der absolutistische Staat. Le Brun und die ersten acht Vorlesungen an der königlichen Akademie. Berlin. Held, Jutta (2005): Kunstgeschichte im ,Dritten Reich‘: Wilhelm Pinder und Hans Jantzen an der Münchner Universität. In: Kunst und Politik 5, 17⫺59. Held, Jutta/Norbert Schneider (2007): Grundzüge der Kunstwissenschaft. Gegenstandsbereiche, Institutionen, Problemfelder. Köln/Weimar/Wien. Hübsch, Heinrich (1828): In welchem Style sollen wir bauen? Karlsruhe. Lang, Berel (ed.) (1979): The Concept of Style. Philadelphia. Locher, Hubert (2003): Stil. In: Ulrich Pfisterer (Hrsg.) (2003): Metzler-Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart/Weimar, 335⫺340. Mander, Karel van (1604/1991): Het Schilder-Boeck. Haarlem. Dt. (Auszug): Das Leben der niederländischen und deutschen Maler. Übersetzung nach der Ausgabe von 1617 und Anmerkungen von Hanns Floerke. Neuausgabe nach der ersten Auflage München/Leipzig 1906. Worms. Möbius, Friedrich (1984): Stil als Kategorie der Kunsthistoriographie. In: Friedrich Möbius (Hrsg.) Stil und Gesellschaft. Ein Problemaufriß. Dresden. Möbius, Friedrich/Helga Sciurie (Hrsg.) (1989): Stil und Epoche. Periodisierungsfragen. Dresden. Panofsky, Erwin (1915): Das Problem des Stils in der bildenden Kunst. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 10, 460⫺467. Panofsky, Erwin (1920): Der Begriff des Kunstwollens. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 14, 321⫺339. Panofsky, Erwin (1924): Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie. Leipzig/Berlin. Panofsky, Erwin (1927): Die Perspektive als ,symbolische Form‘. In: Vorträge der Bibliothek Warburg, 1924/25. Leipzig/Berlin, 258⫺330. Panofsky, Erwin (1932): Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst. In: Logos 21, 103⫺119. Panofsky, Erwin (1939/1955/1975): Introductory. In: Erwin Panofsky (1939): Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance. New York, 3⫺31. Veränderte Fassung: Iconography and Iconology: An Introduction to the Study of Renaissance Art. In: Erwin Panofsky (1955): Meaning in the Visual Arts. Garden City, 26⫺41. Dt.: Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance. In: Erwin Panofsky (1975): Sinn und Deutung in der bildenden Kunst. Köln, 36⫺67. Pinder, Wilhelm (1926): Das Problem der Generationen in der Kunstgeschichte Europas. Berlin. Riegl, Alois (1893): Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik. Berlin. Riegl, Alois (1901): Spätrömische Kunstindustrie. Wien. Sauerländer, Willibald (1983): From Stilus to Style. In: Art History 6/3, 253⫺270. Schaper, Eva (1969): The Concept of Style. In: British Journal of Aesthetics 9, 246⫺357. Schapiro, Meyer (1944): Rezension zu Charles Rufus Morey, Early Christian Art. In: The Review of Religion 8, 165⫺186. Schapiro, Meyer (1953): Style. In: Alfred L. Kroeber (ed.) (1953): Anthropology Today. An Encyclopedic Inventory. Chicago/London, 287⫺312.
1931
1932 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Schlosser, Julius von (1935): „Stilgeschichte“ und „Sprachgeschichte“ der bildenden Kunst. In: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Abteilung 1. Schmoll gen. Eisenwerth, Josef Adolf (1970): Stilpluralismus statt Einheitszwang. Zur Kritik der Stilepochen-Kunstgeschichte. In: Martin Gosebruch/Lorenz Dittmann (Hrsg.) (1970): Argo. Festschrift für Kurt Badt zu seinem 80. Geburtstag. Köln, 77⫺95. Semper, Gottfried (1860/63): Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. 2 Bde. München. Suckale, Robert (2001): Stilgeschichte. In: Kunsthistorische Arbeitsblätter 11, 17⫺26. Vasari, Giorgio (1550/1564): Le Vite De Piv Eccellenti Architetti, Pittori, Et Scvltori Italiani, Da Cimabve Insino A’ Tempi Nostri. Florenz. Weisbach, Werner (1957): Stilbegriffe und Stilphänomene. Vier Aufsätze. Wien. Willems, Gerrit (1995): Erklären und Ordnen. Stilanalytische Ansätze in der Kunstgeschichte. In: Marlite Halbertsma/Kitty Zijlmans (Hrsg.) (1995): Gesichtspunkte. Kunstgeschichte heute. Berlin, 83⫺111. Winckelmann, Johann Joachim (1755): Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Dresden. Winckelmann, Johann Joachim (1764): Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden Wölfflin, Heinrich (1912): Das Problem des Stils in der bildenden Kunst. In: Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften 21, 572⫺578. Wölfflin, Heinrich (1915): Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. München. Wölfflin, Heinrich (1931): Italien und das deutsche Formgefühl. München.
Martin Papenbrock, Karlsruhe (Deutschland)
115. Rhetorik und Stilistik in der Musikwissenschat 1. 2. 3. 4. 5.
Musik und Rhetorik Die Rhetorik in der Musikwissenschaft Die genera (Stile) in der Musikgeschichte Die Stilistik in der Musikwissenschaft Literatur (in Auswahl)
Abstract Since ancient times, man has believed that music served a communicational function, yet, it also achieved “effects”, and it could therefore be considered as “language”. In turn, language also possesses those inner qualities of music that may enhance the effectiveness of speech. In vocal music, this mutual penetration resulted in the claim that music needed to be truly adapted to the meaning of the text, underscoring and representing it with the help of specific elements of melody, harmony and rhythm. Onwards from the
1932 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Schlosser, Julius von (1935): „Stilgeschichte“ und „Sprachgeschichte“ der bildenden Kunst. In: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Abteilung 1. Schmoll gen. Eisenwerth, Josef Adolf (1970): Stilpluralismus statt Einheitszwang. Zur Kritik der Stilepochen-Kunstgeschichte. In: Martin Gosebruch/Lorenz Dittmann (Hrsg.) (1970): Argo. Festschrift für Kurt Badt zu seinem 80. Geburtstag. Köln, 77⫺95. Semper, Gottfried (1860/63): Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. 2 Bde. München. Suckale, Robert (2001): Stilgeschichte. In: Kunsthistorische Arbeitsblätter 11, 17⫺26. Vasari, Giorgio (1550/1564): Le Vite De Piv Eccellenti Architetti, Pittori, Et Scvltori Italiani, Da Cimabve Insino A’ Tempi Nostri. Florenz. Weisbach, Werner (1957): Stilbegriffe und Stilphänomene. Vier Aufsätze. Wien. Willems, Gerrit (1995): Erklären und Ordnen. Stilanalytische Ansätze in der Kunstgeschichte. In: Marlite Halbertsma/Kitty Zijlmans (Hrsg.) (1995): Gesichtspunkte. Kunstgeschichte heute. Berlin, 83⫺111. Winckelmann, Johann Joachim (1755): Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Dresden. Winckelmann, Johann Joachim (1764): Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden Wölfflin, Heinrich (1912): Das Problem des Stils in der bildenden Kunst. In: Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften 21, 572⫺578. Wölfflin, Heinrich (1915): Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. München. Wölfflin, Heinrich (1931): Italien und das deutsche Formgefühl. München.
Martin Papenbrock, Karlsruhe (Deutschland)
115. Rhetorik und Stilistik in der Musikwissenschat 1. 2. 3. 4. 5.
Musik und Rhetorik Die Rhetorik in der Musikwissenschaft Die genera (Stile) in der Musikgeschichte Die Stilistik in der Musikwissenschaft Literatur (in Auswahl)
Abstract Since ancient times, man has believed that music served a communicational function, yet, it also achieved “effects”, and it could therefore be considered as “language”. In turn, language also possesses those inner qualities of music that may enhance the effectiveness of speech. In vocal music, this mutual penetration resulted in the claim that music needed to be truly adapted to the meaning of the text, underscoring and representing it with the help of specific elements of melody, harmony and rhythm. Onwards from the
115. Rhetorik und Stilistik in der Musikwissenschaft
1933
14th century, these characteristic features have evolved in parallel with the tropes of rhetoric into a true system of “musical-rhetorical figures”, the application of which can be traced well into the 19 th century, and with their contextual assignment it is still being consistently noticeable in the 20 th century. These figures of musical rhetoric soon imported meaning to the field of instrumental music, where such form-construing factors as speech patterns, etc., in addition to the demand for “language-declamatory” articulation exerted further impact. ⫺ Likewise, stylistic differences have been known in the field of music since ancient times. Onwards from the Middle Ages, various style patterns have been described such as epoch style, national style, genre style, expressive style and idiolects, as well as the motivated use of “levels of style” as being supportive of expression. Scientific studies on the relation between music and rhetoric first started in the late 19 th century with some peripheral references, before Arnold Schering in 1907 began to consider rhetorical topic, the system of figures as well as the ars inveniendi, and thus initiated plenty of further publications. Semantic analyses that were based upon the musical-rhetorical figures occasionally raised contradictions, however, they all in all resulted in profound insight into the works of the 14th to the 19 th centuries, and even of the 20 th century. Likewise, patterns based upon “rhetorical” forms and structures as well as aspects of “rhetorical” execution resp. interpretation (even in instrumental works) were considered from an analytical point of view. ⫺ Studies on style in music started around 1900 with the researches of Guido Adler, who considered the individual selection of expressive means by the composer and the time-related means of expression in a dialectical interrelation and therefore categorized the history of music into “style periods”. His successors then emphasized the individual styles (idiolects) as well as “expressive style norms”. Marxist aesthetics of music in particular addressed the societal impacts, however, only rarely relating it to the rhetoric as such. The same approach can also be noticed for the investigation of other stylistic criteria, mainly for genres in the field of Neue Music (“new music”) produced with the help of electronic sounds, for genres with elements of improvisation or even for genres without an explicit ‘character of work’ (opus). A very specific field of research has formed by studies on the various peculiarities of style mixes in the era of “postmodernism”.
1.
Musik und Rhetorik
1.1. Allgemeiner historischer Überblick Da man der Musik, und zwar auch jener ohne Text, seit jeher eine ,Mitteilungsfunktion‘ beimaß, galt sie bereits in der Antike als sprachverwandte Kunst. Die Überzeugung, Musik könne Affekte sowohl darstellen als auch hervorrufen und somit wie eine Sprache ,Wirkungen‘ erzielen, spiegelte sich dabei insbesondere in ihrer Aufgabe, die Menschen zu Moral und Gottesfurcht anzuhalten. Doch auch den römischen Rhetoren (Cicero, Quintilian) galten musikalische Kenntnisse bzw. das Wissen um die musikalischen Qualitäten der Sprache als günstig, um die Effektivität ihrer Reden zu steigern. Im Mittelalter sah man die Musik ebenfalls als ,Sprache‘, was für die Vokalmusik in der Forderung gipfelte, die Musik müsse sich voll und ganz dem Textsinn anpassen. Und zeitgleich mit der vertieften Textausdeutung schärfte sich das Bewusstsein für aus der Rhetorik
1934 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart übernommene Kunstmittel. Marchettus von Padua (um 1325) verglich die „colores ad pulcritudinem consonantiarum“ [Ausschmückungen zur Schönheit der Konsonanzen] in der Musik mit den „colores rhetorici ad pulcritudinem sententiarum“ [… der Sätze] (Marchettus 1325/1784, 135) in der Grammatik und verstand sie als Mittel des Textausdrucks, die sich sogar ,falscher‘ Wendungen bedienen durften; darüber hinaus stellten sie Mittel für den (textabhängigen) ornatus der musikalischen Rede dar. Gobelinus Persona (1417/1907, 195) erlaubte einen „cantus irregularis“ als „color rhetoricus“, und schließlich wurde für solche Lizenzen in Anlehnung an Quintilian der Begriff figura angewandt (Tinctoris 1477, 73). 1537 sah dann Listenius die musica poetica als rhetorische Kategorie der (wie die Poetik) erlernbaren Kompositionswissenschaft und stellte sie der musica theorica und der musica practica gegenüber. In Italien forderte Zarlino die Affekteinheit von Text, Komposition und musikalischem Vortrag (1558, 339 f.), in England fragte Henry Peacham jr. (1622/1950, 337) „hath not music her figures, the same which rhetoric?“, und in Frankreich hieß um 1650 eine Sammlung von Lautenstücken La Rhe´torique des dieux. Um 1600 fasste Burmeister in drei Schriften das Wissen um die ,musikalische Rhetorik‘ zusammen und stellte erstmals die ,musikalisch-rhetorischen Figuren‘ systematisch dar. Die Verbindung der italienischen „Monodie“ mit der Figurenlehre fand vor allem bei Bernhard (ca. 1648, hg. Müller-Blattau 1963) statt, doch wurde ab dem 18. Jh. auch die ,rhetorische‘ Wiedergabe von Instrumentalmusik gefordert. Das System in seiner Gesamtheit beschrieb dann Forkel: Er setzte die „musikalische Rhetorik“, die „Verbindung ganzer Gedanken“, zunächst deutlich von der „musikalischen Grammatik“ ab, der „Zusammensetzung einzelner Gedanken aus Tönen und Accorden [und] einzelner, dann mehrerer musikalischen Wörter zu einem Satze“, ehe er die Rhetorik gliederte: „1) Die musikalische Periodologie. 2) Die musikalischen Schreibarten. 3) Die verschiedenen Musikgattungen. 4) Die Anordnung musikalischer Gedanken […] nebst der Lehre von den Figuren. 5) Den Vortrag oder die Declamation der Tonstücke. 6) Die musikalische Kritik“ (Forkel 1788, 36⫺39). Die Lehre von den Figuren umfasste laut Forkel sämtliche „Hülfsmittel des Ausdrucks“, seien sie nun von der „Absicht auf die Empfindung“ getragen, „für den Verstand“ gedacht oder „für die Einbildungskraft“ angewendet, wie u. a. „alle sogenannte musikalische Malereyen“ (ebd., 51⫺55). Im 19. Jh. ist die Rhetorik im Bewusstsein der Musiker weiter präsent. Der Prager Kantor Ryba (1817) zählt 31 „Figuren“ (musikalisch-rhetorische sowie „malende“) auf, und Kanne (1821) findet in Mozarts Klavierwerken durch mit Hilfe der Figurenlehre vorgenommene semantische Analysen inhaltliche Elemente. Auch das Wissen um eine (,Inhalte‘ ausdrückende) Musiksprache bleibt erhalten. So sieht Schopenhauer (ähnlich wie Hegel) die Musik als „eine ganz allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die anschauliche Welt übertrifft“ (1819, Bd. 3, § 52), und noch bei Schilling enthält die Rhetorik in der Musik „alles, was Erfindung und Anordnung der Hauptgedanken, den Vortrag, das Hauptsächlichste des sog. Styls betrifft“ (1844, Bd. 2, 343). Darüber hinaus kennen viele Komponisten die Symbolsprache der rhetorischen Figuren bzw. der aus ihnen hervorgehenden Topoi, Liszt bezeichnet die Musik gar als „Zwillingsschwester der Sprache“ und spricht vom „Gebären musikalischer Grammatik, Logik, Syntax und Rhetorik“ (1855, 179). In besonderem Maße ist dann die Wiener Schule (Schönberg, Berg, Webern) von der Sprachlichkeit der Musik überzeugt, und Ähnliches gilt für viele Komponisten der Gegenwart, die eine betont ,sprechende‘ Musik schreiben und sie gar unter Titel wie Rufe, Stimmen oder Abenteuer (Aventures) stellen.
115. Rhetorik und Stilistik in der Musikwissenschaft
1935
1.2. Grammatik und Rhetorik Die „Musikalische Grammatik“ war laut Forkel die „Rechtschreibungslehre“ und umfasste Tonarten- und Harmonielehre, „Prosodie (Rhythmopöie)“, Akustik, „Eintheilungslehre der Klänge“ und „Zeichenlehre“ (Forkel 1788, 35 f.). Bereits im Mittelalter sah man Metrik und Moduslehre unter dem Gesichtspunkt der Grammatik, Burmeister nannte das Zusammensetzen von Konsonanzen und Akkorden „Syntax“ (1606, 17), Lippius (1610) ordnete die Grammatik der einfachen, die Rhetorik hingegen der geschmückten Rede zu. William Tansurs Traktat A Compleat Melody or the Harmony of Sion (1734) erschien bald als A New Musical Grammar, und noch 1806 bezeichnete John Wall Callcott seine in London erscheinende Musiklehre als A Musical Grammar.
1.3. ,Rhetorische Arbeitsstuen Der Kompositions-Unterricht ging wie in den Lateinschulen nach den Prinzipien von Regel (praeceptum), Beispiel (exemplum) und Nachahmung (imitatio) vor sich. Dabei lernte der Schüler nach der satztechnischen Unterweisung (der Musica poetica) „die Mittel kennen, mit denen er eine Komposition kunstvoller gestalten und einen Text musikalisch ausdrücken konnte“ (Ruhnke 1955, 132). Das fünf- bzw. sechsstufige Schema der Arbeitsstufen umfasste inventio, dispositio, elocutio (elaboratio), (bisweilen decoratio), memoria sowie executio (actio, pronuntiatio). Die inventio basierte auf der Überzeugung, analog zu Quintilians loci communes musikalische Gedanken in einem ,Vorratsmagazin‘ an gewissen loci topici zu finden, doch waren die loci auch „ziemlich artige Hülffs⫽Mittel zum Erfinden“ (Mattheson 1739, 123). Die dispositio wies zunächst die Abschnitte exordium, medium und finis auf, später „eben diejenigen sechs Stücke, die einem Redner vorgeschrieben werden, nemlich den Eingang, Bericht, Antrag, die Bekräfftigung, Wiederlegung und den Schluß. Exordium, Narratio, Propositio, Confirmatio, Confutatio & Peroratio“ (Mattheson 1739, 235). Die elaboratio (elocutio) ging mit Hilfe aller kompositionstechnischen Mittel (einschließlich der Figuren) vor sich, war u. a. für den Schmuck (ornatus) der ,musikalischen Rede‘ verantwortlich und wurde gemeinsam mit der decoratio als „Ausarbeitung und Zierde“ [der Melodien] bezeichnet (ebd.). Das Lernen (memoria) war in der musikalischen Literatur kein Thema mit Bezug auf die Rhetorik, die Ausführung der Musik (pronuntiatio, actio, executio) schließlich hatte in besonderem Maße rhetorischen Gesetzen zu gehorchen.
1.4. Periodik, Form und Gattungsaspekt Kleinste, zumeist viertaktige Einheit der musikalischen ,Unterredung‘ war der ,Satz‘, die Kadenzen wurden schon früh als Punkt oder Komma empfunden. Dabei war die Lehre „von den Ab- und Einschnitten“ auch für den „sprechenden“ (sprachlich artikulierten) musikalischen Vortrag der „Klang-Rede“ (Mattheson 1739, 180 f.) von Bedeutung, daneben prägte die ,rhetorische Sicht‘ der Musik den Bau der Formen und Gattungen: Die Sonate galt als „musikalische Conversation, oder Nachäffung des Menschengesprächs“ (Schubart 1806, 360), die Sonatenhauptsatzform als „Drama“ über ein (einziges!) Thema
1936 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart (auch im inhaltlichen Sinne) mit einem Aufbau gemäß der Dramentheorie (Reicha 1826, 298); sie bestand aus der „Exposition der Vorgeschichte“ (1. Teil) sowie aus „Schürzung des Knotens“ (bzw. „Intrige“) und dessen Auflösung (2. Teil). Eine Fuge hatte wie die Symphonie die „Empfindung einer versammelten Volksmenge […] auszudrücken“, ein „Concert“ galt als „leidenschaftliche Unterhaltung des Concertspielers mit dem ihm begleitenden Orchester“ (Koch 1802, 610; 354).
1.5. Wort-Ton-Verhältnis, Semantik und virtutes elocutionis Die Gewissheit, Musik könne ,Inhalte‘ bzw. Botschaften wiedergeben, führte zu einer Art von ,Vokabular‘, das zum Teil wegen seiner bildhaften, akustischen oder ,gefühlsmäßigaffektiven‘ Übereinstimmung mit dem Darzustellenden verstanden wurde, zum Teil durch das Wissen um die Zuordnung. In der Zeit des beginnenden Humanismus sah man nun die Möglichkeit, das semantische Netzwerk der Rhetorik, also Tropen und Figuren, zum Zwecke ,musiksprachlicher‘ Mitteilung zu adaptieren. Tropen, Veränderungen eines Wortsinnes durch Metaphern, konnte es in der Musik zwar in dieser Form nicht geben, dennoch verglich Calvisius (1611, 35) die Anwendung von Tropen und Figuren in der Rede mit dem Gebrauch verschiedener Intervalle, Zusammenklänge, Klauseln und Fugen, und Bacon sprach von „certain Figures, or Tropes“, „almost agreeing with the Figures of Rhetorike“ (1627, 38), ohne die Begriffe zu definieren. Figuren waren Abweichungen vom ,normalen‘ Satz, wobei das ,Abweichen‘ zunächst durch Ausschmückung (Verzierung) bewerkstelligt werden konnte und in diesem Falle ornatus war. Solche nur im Ausnahmefall ,Inhalte‘ darstellenden Figuren galten als figurae principales bzw. figurae fundamentales und gehörten dem polyphonen ,alten‘ Stil an. Auf der anderen Seite gab es die primär bedeutungstragenden, Affekte, Bilder und Emotionen transportierenden Figuren: die figurae minus principales, später auch figurae superficiales genannt. Sie waren im stylo moderno zu Hause und betrafen insbesondere die Dissonanzbehandlung, ahmten aber auch den Sprachduktus nach. Die ,Bedeutung‘ ergab sich durch Grad und Art der Abweichung von der Norm, durch Ähnlichkeit des Dargestellten mit dem musikalischen Sachverhalt, durch etymologische Hinweise durch den Namen der Figur, durch Analogien (z. B. Hohes ⫺ Gutes) oder durch ,selbstverständliche‘ Affektivität. Insgesamt erfuhren über 100 musikalisch-rhetorische Figuren eine Nennung (Unger 1941; Bartel 1985; Krones 1997; Krones 2001b).
1.6. Deklamation und Vortrag Bereits Zarlino sah den „accento Rhetorico“ als höchste Tugend der Ausführenden an und stellte ihn über den „accento Grammatico“, der den Gesamtsinn nicht beachte (1588, 325). Im 17. und 18. Jahrhundert wurden dann auch die Instrumentalisten dazu angehalten, „wortgemäß“ zu artikulieren sowie die „musikalische Interpunktion“ (Türk 1789, 340) nachzuempfinden, und noch Czerny verglich die Notenwerte mit Silben und sprach von „sprechender“ Artikulation sowie von „deklamatorischem Ausdruck“ (1842, 61 f.). Entsprechend dieser Ästhetik zählte zu den speziell von der Rhetorik geprägten
115. Rhetorik und Stilistik in der Musikwissenschaft
1937
Vortragselementen auch die „sprechende Pause“, die u. a. für Beethoven dokumentiert erscheint, von dessen „Redekunst am Pianoforte“ Anton Schindler (1860, 237) emphatisch berichtet.
2. Die Rhetorik in der Musikwissenschat 2.1. Historischer Überblick Obwohl sich Musikgeschichtsschreibung und Musikästhetik des 19. Jahrhunderts immer mit den Verbindungen von Wort und Ton beschäftigten, geriet die spezielle ,musikalische Rhetorik‘ bald in Vergessenheit. Selbst Kretzschmar verglich in seinen Arbeiten über die Affektenlehre lediglich die musikalische Phrasierung mit der „richtigen Deklamation in der Rhetorik“ (1884, 136) oder zitierte ohne weitere Folgerungen Matthesons Formulierung, dass „die Komposition aus Inventio, Elaboratio und Executio bestehe“ (1912, 71). Einen Anstoß zur tiefergehenden Beschäftigung mit der Materie gab Richters Veröffentlichung (1902) der Vorrede Kuhnaus (1709) zu seiner Sammlung Texte zur Leipziger Kirchen-Music, die u. a. „Invention und Variation, ohne welche die Music ihren Finem, nehmlich die Delectation und Bewegung der Gemüther, schwerlich erreichet“ (Richter 1902, 150), behandelt. Auf die in Heinichens Generalbaßschule (1711) erwähnte „oratorische Topik mit ihren Fragen Quis, Quid, Ubi usw.“ sowie auf die dort angesprochene „Erfindung von Themen mit Hilfe der Permutation einzelner Töne“ verwies dann Schering (1907, 317), der auch die musikalisch-rhetorischen Figuren ,entdeckte‘ (1908) und zahlreiche Ausprägungen der musikalischen ars inveniendi in den Blick nahm (1926). Die Veröffentlichung der Schriften von Bernhard (Müller-Blattau 1926) gab einen weiteren Anstoß zu einschlägigen Forschungen, die schließlich in einem Überblick über die Figuren(-lehre) und deren Anwendung in Kompositionen des 15. und 16. Jahrhunderts (Brandes 1935), in Analysen zu deren Weiterleben im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert (Schenk 1937; 1941) sowie in einer ersten umfassenden Gesamtdarstellung (Unger 1941) gipfelten. Nach dem Krieg gingen wesentliche Impulse von mit Hilfe der Figurenlehre durchgeführten Bach-Analysen (Schmitz 1950a, b) aus, in deren Umfeld und Folge nicht nur weitere Komponisten (Massenkeil 1952; Eggebrecht 1959b), sondern auch Lehrbücher (Schmitz 1952; Ruhnke 1955; Feldmann 1958) sowie einzelne Figuren Untersuchungen erfuhren. Auch in der englischsprachigen Musikwissenschaft wurde man auf die musikalische Rhetorik aufmerksam, wobei zunächst neben deren Verbindung mit der Affektenlehre (Buelow 1966) vor allem die Schriften Matthesons (Lenneberg 1958; Buelow/Marx 1983), die englischen Quellen (Butler 1980) und spezielle Figuren (Butler 1977) Betrachtung fanden. Eine Gesamtdarstellung des „musikalisch-rhetorischen Prinzips“ im deutschen Barock gelang Dammann (1967, 93⫺180), während Schenk (1970) und sein Wiener (Schüler-)Kreis primär das Fortwirken der Figuren(-lehre) in der Wiener Klassik (W. Kirkendale 1971; Gruber 1972; Krones 1981; 1988a; 1990; 2006) sowie ⫺ von anderen deutschsprachigen Forschern (E. Seidel 1969; Hoffmann-Erbrecht 1990; Liebert 1993; Böhm 2006) bestärkt ⫺ bis ins 20. Jahrhundert hinein (Krones 1992; 1998; 2007) belegen konnten. Auch auf rhetorischen Mustern basierende Formgebungen wurden nachgewiesen (W. Kirkendale 1979; U. Kirkendale 1980; Krones 1995; W. Kirkendale
1938 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart 1997; Krones 2003; Revers 2003; Peters 2003; Peters 2005), und dies dann vermehrt auch von amerikanischen Forschern (Street 1987; Bonds 1991; Beghin 1997; Beghin/ Goldberg 2007).
2.2. Inventio Bereits in der ersten wichtigen Publikation zur musikalischen ars inveniendi (Schering 1926) erscheinen deren wichtigste Verfahren dargestellt: das Zuordnen von Tönen zu Vokal- bzw. Buchstaben(-reihen); das Unterlegen der Solmisationssilben ut, re, mi, fa, sol, la unter jene Silben, die denselben Vokal aufweisen; das ,Übersetzen‘ von Buchstaben in Noten (wie b-a-c-h für Bach, g-a-d-e für Gade, a-b und h-f als Liebeserklärung Alban Bergs für Hanna Fuchs etc.); das Nachahmen von Geräuschen, Naturklängen oder Instrumenten, aber auch von Gesten und somit von Gemütszuständen, womit die sog. Affektenlehre begründet war; weiters die Möglichkeiten des Nachahmens von Vorbildern bzw. von ,Entlehnungen‘ (auch aus eigenen Werken); aber etwa auch rein musikalische Varianten- und Permutationsbildungen. Schering arbeitete hier schon heraus, dass noch Beethoven viele Einfälle aus außermusikalischen Vorstellungen bezog, was spätere Autoren (Floros 1978; Schleuning 1987; Krones 1988b; Raab 1996) auch für Formgebungen des Komponisten belegen konnten. Forschungen zur Themenfindung (an Hand von exempla, Zahlensymbolik, Assoziationen oder ,handwerklichen‘ Verfahren) betrafen (u. a.) auch Kompositionen des Renaissance-Zeitalters, Händels oder J. S. Bachs (Dreyfus 1996), doch blieb die Frage auch für spätere musikgeschichtliche Perioden relevant. Erwähnung finden müssen schließlich noch Wesselys (1972) Untersuchungen der Anregung Kuhnaus (1709, hg. Richter 1902), bei der Vertonung von Bibeltexten auch deren Wortlaut in den drei ,heiligen Sprachen‘ zur inventio heranzuziehen; er konnte dann an einem Werk von Heinrich Schütz zeigen, dass dieser sein Material tatsächlich durch von den hebräischen, griechischen und lateinischen Versionen des Bibeltextes ausgelöste Assoziationen gewann (Wessely 1981).
2.3. Dispositio und Formgebung Die Bedeutung der dispositio, die „nicht mit einer irgendwie gearteten Formenlehre verwechselt werden darf“, hob als erster Unger (1941, 46) hervor, der auch auf Burmeisters (1606, 71⫺74) am Beispiel einer Motette Orlando di Lassos exemplifizierte Formsicht einging. Unger legte zudem für den 1. Satz von Bachs 3. Brandenburgischem Konzert (53 f.) eine kurze Analyse nach dem sechsteiligen Rede-Schema (1.3) vor, die Budde (1997) später (mit der auch schon von Mattheson angewandten Vertauschung von Confirmatio und Confutatio) präzisierte. Peters (2003, 6 f.; passim) wies dann nach, dass wohl doch die ursprüngliche Reihenfolge der Redeteile anzuwenden sei und dass zudem viele weitere Werke Bachs diesem Schema folgen. Bonds (1991) sah auch die Da-capo-Arie sowie die Sonatenform unter rhetorischen Aspekten, und noch weiter ging U. Kirkendale (1980), die den Gesamtablauf von Bachs Musikalischem Opfer auf das große Quintiliansche Rede-Schema (Exordium I, Narratio brevis, Narratio longa, Egressus, Exordium II, Argumentatio, Peroratio in adfectibus, Peroratio in rebus) bezog. Diese Deutung, die von
115. Rhetorik und Stilistik in der Musikwissenschaft
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einigen Forschern zurückgewiesen wurde, erfuhr später eine weitere Absicherung (Kirkendale/Kirkendale 2007). Auch die herkömmliche Sicht der ,Sonaten(hauptsatz)form‘ erfuhr durch die Erschließung von auf ,rhetorischer‘ Basis stehenden Quellen eine deutliche Relativierung. Zunächst gab Fred Ritzel (1968) einen historischen Überblick, der vor allem die auf Redemustern gründende Abfolge von melodischen Perioden als Grundlage formaler Gestaltung herausarbeitete, dann ergänzten weitere Forscher diese Erkenntnisse (Dahlhaus 1978; Schmalzriedt 1985), bis die Dreiteiligkeit Exposition-Durchführung-Reprise endgültig als Frucht des mittleren 19. Jahrhunderts feststand. Noch Komponisten wie Bruckner (Krones 2003) oder Wolf (Krones 1995; Revers 2003) hielten sich zum Teil an die alten rhetorischen Muster.
2.4. Figurenlehre Nach der historischen Darstellung der Figuren(lehre) begannen etliche Forscher, das Wissen um die semantischen Felder der Figuren für ,inhaltliche‘ Analysen nutzbar werden zu lassen und einerseits (bei Vokalwerken) Textexegetik und zusätzliche Assoziationen, andererseits (bei Instrumentalwerken) die (oft ,verschwiegenen‘) außermusikalischen Inhalte ,aufzudecken‘. ,Objektive‘ Anhaltspunkte hiefür waren zwar zumeist Äußerungen der Komponisten selbst, doch wurde dennoch davor gewarnt, die Figurenlehre zur Grundlage „einer Methode wissenschaftlicher Hermeneutik“ (Dahlhaus 1954, 135) werden zu lassen. Dies insbesondere angesichts der Tatsache, dass man unter „Figur“ zwar immer eine Abkehr von Normen des Komponierens sah, diese Abkehr aber keineswegs immer aus semantischen Gründen, sondern oft ,nur‘ zum Zwecke des Schmuckes, aus ,lehrhaft-kompositionstechnischen‘ oder aus rein klanglichen Überlegungen vollzog. Daher widmeten sich zahlreiche Beiträge auch (nur) diesen Funktionen der Figuren, zu denen Untersuchungen zu geographischen bzw. ,nationalen‘ (Sloan 1990), gattungsbedingten oder historischen (Niemöller 1993) Unterschieden traten. Ein weiterer Kritikpunkt war, dass die Traktate (zumindest partiell) jeweils andere Figuren (in sehr unterschiedlicher Menge) nannten, sodass man von keiner einheitlichen Figurenlehre sprechen könne. Zudem sei in den wenigsten Fällen gesichert, dass die Komponisten ihre musiksprachlichen Mittel tatsächlich als ,musikalisch-rhetorische Figuren‘ sahen. Gegen diese Bedenken wurde ausgeführt, dass viele ,Theoretiker‘ bedeutende Komponisten gewesen seien und dass wohl die meisten Musiker das theoretische Schrifttum ihrer Zeit sowie dessen Informationen zu ,musikalischer Rhetorik‘ und Figurenlehre kannten. Die Meinung, dass diese Lehre lediglich im „provinziellen“ protestantischen Teil Deutschlands und zudem nur in einem sehr begrenzten Zeitraum eine wesentliche Ausbildung erfahren habe (Forchert 1986; Raab 1997), scheint angesichts der zahlreichen englischen und französischen Quellen (vgl. Butler 1977; 1980; Seidel 1986), angesichts äußerst früher Präsenz (Flotzinger 1975; Reckow 1982; Niemöller 1993) sowie angesichts späten Schrifttums im katholischen Süden (insbesondere Ryba 1817; Kanne 1821) zumindest ergänzungsbedürftig. Dies auch im Hinblick auf die Verwendung vieler Figuren bis weit ins 19., ja noch ins 20. Jahrhundert hinein mit genau den von den ,Theoretikern‘ durchgeführten semantischen Zuordnungen. Dass hier vieles lediglich aus zweiter Hand und ohne Kenntnis des rhetorischen ,Gesamtgebäudes‘ geschah, ist sicher; dennoch scheint die Diskussion um die (geographische und zeitliche) Präsenz sowie um das Weiterleben der Figurenlehre keineswegs abgeschlossen.
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2.5. Klang-Rede und sprechender Vortrag Obwohl sich die Tradition einer vom Komponisten in die Noten ,eingeschriebenen‘ „sprechenden“ Artikulation (vgl. 1.4) sowie der Brauch des ,sprechenden Vortrages‘ bis weit ins 20. Jh. hinein hielt, ging der Gesamtfundus dieses Wissens partiell nach und nach verloren. Erst die Vertreter der sog. historischen Aufführungspraxis erinnerten vehement an diese Kategorie der musikalischen Rhetorik, bis Schering (1939) an Hand der Klavierschule von C. Ph. E. Bach auch von Seiten der Wissenschaft auf das „redende Prinzip“ aufmerksam machte. Darüber hinaus regte er an, den „sprechend“ gesteigerten Ausdruck mit Hilfe einer „vergleichenden musikalischen Ausdrucks- oder Symbolkunde“ (1939, 22) systematisch zu erforschen und die Ergebnisse in die Interpretationen einfließen zu lassen. Grundsätzlich der Frage der „Artikulation“ widmete sich Lohmann (1982), Goldschmidt (1971) wies für Beethoven nach, dass dessen instrumentale Melodik sehr häufig den Grundmustern von Vers und Strophe folgte, und eine Gesamtsicht legte Niemöller (1980) vor, der neben den historischen Ansätzen auch die neuen Theoriebildungen über den Sprachcharakter von Musik darstellte. Ergänzungen gaben noch Forschungen, die den Beziehungen zwischen der musikalischen Deklamation sowie der Gestik und ,Bewegungsrhetorik‘ des Barock-Tanzes nachgingen (Ranum 1986), sowie Betrachtungen zur ,rhetorischen‘ Phrasierung im Jazz und in der Popularmusik (Toft 2004).
3. Die genera (Stile) in der Musikgeschichte 3.1. Zur Terminologie Dem Begriff „Stil“ begegnen wir im Bereich der Musik erstmals 1588, als Pontio (154 ff.) den verschiedenen Gattungen einen jeweils unterschiedlichen stile zuordnete und die Vermischung der Stile ablehnte. Doch schon in Antike (τo´νο bzw. τρo´πο, auch γε´ νο) und Mittelalter (genus, species, tropus, später auch modus) gab es bedeutungsähnliche Termini. Im 16. Jh. wurde zudem Manier (bzw. maniera) im Sinne von Stil verwendet, während genus bisweilen auf kompositionstechnische Unterschiede wies; auch die ,neue‘ solistische (monodische) seconda pratica und die ,alte‘ polyphone prima pratica bezeichneten Stilsphären. Schließlich setzte sich aber „Stil“ (bzw. stile oder genus) als Oberbegriff durch, Manier oder species waren ebenso untergeordnet wie die verschiedenen Arten des contrapunto. Deckungsgleiche Bedeutung mit Stil haben im deutschen Sprachraum noch Schreibart, im französischen Sprachraum gouˆt.
3.2. Historischer Überblick Schon die Antike kannte in der Musik stilistische Unterschiede. Sie waren durch die dichterische Gattung, das verwendete Instrument und den Anlass der Musik gegeben, aber auch durch die Bauweise der Gesänge und die Tongeschlechter, an deren Charakteren auch in den Traktaten des Mittelalters die Stilunterschiede festgemacht erscheinen. Dabei gab es um 1320 einen ,Stilkonflikt‘, als Philippe de Vitry in einem später ars nova
115. Rhetorik und Stilistik in der Musikwissenschaft
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genannten Traktat die ,alte‘ Kunst um eine ,neue‘ erweiterte und somit Epochenstile benannte und bewertete. Analog zu den Stilhöhen der Rede sprach Burmeister dann auch in der Musik von genus humile (bzw. subtile), genus grande und genus mediocre, ergänzte diese aber durch das genus mixtum sowie durch gattungsspezifische genera (Burmeister 1606, 17; 23⫺28; 55⫺70; 75). Spezielle Stile bildete die frühe Oper aus: den ,Sprechgesang‘ des stile monodico (stile narrativo), den bei erhöhtem Affekt mehr gesungenen stile recitativo speciale oder den leidenschaftlich deklamierenden stile rappresentativo bzw. espressivo. Später führten diese drei Stile zu den Gattungen Secco-Rezitativ, Accompagnato-Rezitativ und Arie. Eine über 250 Jahre gültige Dreiteilung der Musikstile wurde dann von Claudio Monteverdi und Marco Scacchi (1649) begründet: „Ecclesiasticus“ (Kirchenstil), „Cubicularius“ (Kammerstil) sowie „Scenicus seu Theatralis“ (Theaterstil). Kircher (1650) hingegen schied den von Temperament und Nationalität des Komponisten abhängigen stylus impressus vom gattungsbezogenen stylus expressus. Später wurde auch die jeweils unterschiedliche Aufführungspraxis der Stile zum Thema, bis sämtliche Instrumentalschulen des 18. und 19. Jahrhunderts die Gattungsstile und Nationalstile sowohl charakterisierten als auch hinsichtlich ihrer Ausführung umrissen. In England schied man die stilistischen Gattungen u. a. in „grave“ und „light“ (Morley 1597, Vorwort), ehe man auf die Unterschiede zwischen italienischem und französischem Stil aufmerksam wurde. In Frankreich verstand man im 17. Jahrhundert unter genera zunächst nach wie vor die griechischen Tongeschlechter (Mersenne 1636/37, 152), während modi die ,Kirchentöne‘ darstellten. Später orientierte man sich an den Kategorien Kirchers, kannte aber auch Nationalstile, Funktionsstile und Epochenstile. Dabei wurde der Gegensatz zwischen ,alter‘ (etwa von Lully) und ,neuer‘ Musik (Rameau) insbesondere für die Oper betont. Auch nach der Stilwende um 1750 sah man die Stile lange in ähnlicher Weise, doch begründeten Elemente aus den Folkloren allmählich spezielle Nationalstile; umgekehrt wurde bisweilen auch das Aufgreifen fremdländischer Elemente stilbildend. Um und nach 1750 etablierten sich zudem eine Reihe von Stilen mit speziell hohem Ausdruckspotential wie der ,galante Stil‘ oder der ,empfindsame Stil‘, in dem „ein Musickus […] rühren“ soll, indem er „selbst gerührt“ erscheint (Bach 1753, 122). Später wurde der literarische Stilbegriff des Sturm und Drang als Bezeichnung für ,genialische‘ Kompositionen der Zeit um 1770/80 übernommen, und auch die Termini Klassik oder Romantik galten als Synonyme für stilistische Gegebenheiten, ehe sie sich zu Epochenbegriffen entwickelten. In nur wenig (etwa durch Militär- und Jagdmusik) ergänzter Weise blieb die Scheidung in Kirchen-, Kammer- und Theaterstil bis ins frühe 20. Jahrhundert gültig (Prosniz 1897, 56⫺59), wenngleich etwa Kirchenszenen, Haus- und Tanzmusik in Opern oder opernhafte Arien in Messen für Überlappungen sorgten. Für neue Gattungen (Musical, Neues Musiktheater) wurden hingegen neue Stile wie der von Kurt Weill entwickelte ,Song-Stil‘ oder der ,Sprechgesang‘ Arnold Schönbergs bestimmend. Sowohl auf Stile als auch auf Epochen weisen Bezeichnungen wie Impressionismus, Expressionismus oder Moderne, und selbst kompositionstechnische Begriffe wie Dodekaphonie, Atonalität, serielle Musik, postserielle Musik, elektronische Musik u. Ä. können unter stilistischen Aspekten gesehen werden. Primär Stilbezeichnungen sind hingegen Termini wie Neorenaissance, Neobarock, Neoklassizismus oder selbst Postmoderne; erstere umreißen an historische Stile angelehnte Schreibweisen, letzterer bezeichnet eine mit Elementen verschiedener Stile (Polystilistik) arbeitende Kompositionsästhetik. Schließlich sind auch Begriffe wie Dadaismus, Futurismus, Lettrismus, musique concre`te, Klangfarbenmusik, minimal music u. a. deutlich stilistisch bestimmt.
1942 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Hatten wir es bereits bei dem „stile del Palestrina“ (Scacchi 1649, C1) mit einem frühen Personalstil zu tun, so wurden angesichts der aufkommenden ,Genieästhetik‘ ab dem 18. Jahrhundert spezielle stilistische Eigenheiten immer häufiger als persönliche Ausprägungen eines Schöpfers gesehen. Walther (1732, 584 f.) umriss Stil als Art und Weise, „welche eine jede Person besonders vor sich zu componiren, zu executiren, und zu informiren hat“, Nägeli sprach speziell von „Mozarts Geist und Styl“ und ortete in ihm auch „Stylunfug“ und „widerwärtige Styllosigkeit“ (1826, 157 f.; 169), Hanslick setzte dann Stil und Charakter vollends gleich: „Dieser Componist hat Styl, in dem Sinne als man von Jemand sagt: er hat Charakter.“ (Hanslick 1854, 56). Noch Schönberg sah den Stil primär als Ausdruck einer Persönlichkeit: „Die positiven und negativen Regeln dürfen von einem fertigen Werk als Bestandteile seines Stils abgeleitet werden“ (1930/45, 31 f.). Und wenn er bedauerte, „daß so viele zeitgenössische Komponisten sich soviel um Stil und so wenig um Gedanken kümmern“ (ebd., 34), so umreißt er ein Problem, das nach dem Zweiten Weltkrieg vollends zur Krise der modernen Musik geriet: den Primat stilistischer Überlegungen gegenüber handwerklichen Fragen, was auch dazu führte, dass Werke einer nicht geschätzten stilistischen Ausrichtung als ,unmodern‘ (oder ,epigonal‘) bezeichnet oder gar als minderwertig verdammt wurden.
4. Die Stilistik in der Musikwissenschat Die Beschäftigung mit der Kategorie „Stil“ ist in der Musikwissenschaft gleichsam eine allgegenwärtige, da jede Untersuchung eines Musikwerkes Fragen zu dessen Stil aufwirft. Diese müssen aber keineswegs das Feld der Rhetorik berühren; im Gegenteil: Die meisten stilistischen Untersuchungen betreffen vor allem (wenn nicht ausschließlich) handwerklich-kompositionstechnische Elemente und sehen „Stil“ als Summe dieser Einzelerscheinungen, ohne die (sprachliche bzw. metasprachliche) Mitteilungsfunktion der Musik im Hinblick auf konnotativ oder denotativ ,angesprochene‘ Inhalte zu berühren. Selbst Fragen nach Artikulation, Phrasierung und Wort-Ton-Verhältnis werden nicht selten völlig ohne Einbeziehung rhetorischer Kategorien untersucht, also rein phänomenologisch. Das Gesamtfeld „Stil und Musikwissenschaft“ stellt sich somit ⫺ angesichts dieser Beliebigkeit ⫺ als nahezu unüberschaubar dar und kann daher nur eine Darstellung im Überblick erfahren, wobei ein Schwergewicht auf jenen Forschungen liegt, die das Gebiet der Rhetorik zumindest partiell einbedenken. Die musikwissenschaftliche Annäherung an das Phänomen Stil begann in England mit Parry (1911), im deutschen Sprachraum vor allem mit Adler: Er sah den musikalischen Stil als „die Art und Weise, wie sich der Künstler mitteilt, wie der Künstler seine Stimmungen und Gedanken faßt“, wobei „Idee, Kraft, Stoff, Auswahl und Verwendung der Mittel nicht allein von dem Produzierenden […] abhängen, sondern auch von den Erfordernissen und Möglichkeiten seiner Zeitgenossenschaft“ (Adler 1911, 5 f.). Schon früher hatte er ein System der Analyse entwickelt, das sämtliche Merkmale der „constructiven Beschaffenheit“ von „Tonwerken“ (Adler 1885, 6) einzeln untersuchte und diese gemeinsam mit den Elementen von Gattung und historischem Umfeld zu einer Gesamtsicht von Stil verdichtete. Und in logischer Weiterführung dieses Ansatzes gliederte Adler sein Handbuch der Musikgeschichte (1930) in vier „Stilperioden“: die frühen liturgischen Gesänge, Mittelalter und Renaissance, die Zeit von 1600⫺1880 sowie die
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„Moderne (seit 1880)“. Auf Adlers frühe Publikationen aufbauend sah aber auch Riemann (1908, Vorwort) die Musikgeschichte als „Entwicklungsgeschichte der musikalischen Formen und Stilarten“. Schüler Adlers wie Fischer (1915) oder Ga´l (1916) untersuchten dann sowohl musikhistorische Perioden als auch persönliche Idiome unter stilistischen Aspekten, während Bücken und Mies vor allem die kompositorische Außenschicht ansprachen, wenn sie Stil als „Summe aller Stilmomente“ und das „Stilmoment“ als „jede konstant auftretende musikalische Formung“ (Bücken/Mies 1923, 220) bezeichneten. Darüber hinaus nannten sie Stilelemente „mit konstantem Ausdruck“ (wie ,fragende‘ Melodik) „Ausdrucksstilformen“ (ebd., 224), womit auch das Gebiet der musikalischen Semantik in die Stildiskussion gebracht wurde. Soziologische Implikationen sprach später insbesondere die marxistische Musikästhetik an, die mit Lissa (1975, 93) „die Wahl der Mittel, deren sich der Autor einer Mitteilung bedient“, von der „eigenen Ideologie“ des Komponisten abhängig sah. Die freie Verfügbarkeit über sämtliche Stilmittel aus Vergangenheit und Gegenwart (heute zumeist unter den Begriff ,Postmoderne‘ gestellt und dabei mannigfaltig wissenschaftlich diskutiert) sowie deren analog freie Interpretation sind für Lissa „die Grundlagen des zeitgenössischen Kulturgefühls“ auf dem Gebiet der Musik (ebd., 102). Musikwissenschaftlich analysierbar wird der Stil eines Werkes laut Adler (1911, 11 f.) „aus der Vergleichung mit Erzeugnissen seiner Zeit, der umgebenden Schulen und Richtungen in Gegenwart und Vorgängerschaft“; ein Werk, das „nicht solchen Anforderungen entspricht“, wird „stillos“ (ebd., 6) genannt, wobei ,Stillosigkeit‘ bisweilen selbst zum Stil werden kann: Vor allem in Zeiten, in denen bewusst mit der Tradition gebrochen wurde, befleißigten sich Komponisten ganz bewusst keines ,herkömmlich‘ eingrenzbaren Stiles, was ⫺ oft mit dem Schlagwort ,Avantgarde‘ belegt ⫺ jeweils zu breiten wissenschaftlichen Disputen führte. Hand in Hand damit ging (bisweilen) auch die Auflösung des Werkbegriffs mit sich, was vor allem für musikalische Äußerungen gilt, deren klangliche Formung ⫺ wie etwa bei aleatorischen Konzeptionen ⫺ weitgehend den Interpreten überlassen blieb. Die auch hier sichtbare Problematik, dass „Stil“ an Hand von Kategorien untersucht wird, die lediglich spezielle Bauelemente in den Blick nehmen und zudem spezifische Merkmale einzelner Werke verallgemeinern, führte allerdings zu vehementer Kritik (Kunze 1974), die sogar die grundsätzliche Bedeutung des „Stils“ für musikgeschichtliche Spezifizierungen in Frage stellte. Entsprechend den frühen Kategorisierungen bei Adler und Riemann beschäftigte sich die Musikwissenschaft zunächst vor allem mit der Ein- bzw. Abgrenzung der Stile ,großer‘ Epochen wie Mittelalter, Renaissance, Barock, Klassik und Romantik, ehe man sich den Zwischenstilen zuwandte und etwa die Entwicklung des „galanten Stils“ des 18. Jahrhunderts aufzeigte (Bücken 1924) oder spezielle Epochen wie Notre-DameSchule, ars antiqua oder ars nova betrachtete. Nach 1945 wurden dann in vermehrtem Maße auch die mannigfachen, oft heiß diskutierten und bisweilen ideologisch befrachteten (bzw. betrachteten) Stile der Musik des 20. Jahrhunderts Gegenstand von Untersuchungen, wobei sich auch die Komponisten selbst häufig zu Wort meldeten, nicht selten eine stilistische Kategorisierung ihrer Werke strikt ablehnten und somit eine erneute InFrage-Stellung eines allzu eindimensionalen Stilbegriffs einleiteten. Ähnliches gilt für die Fragen nach Gattungsstilen, Nationalstilen und Personalstilen. Gattungsbegriff und Gattungsstil etwa finden sich bereits bei Adler (1911, 138 ff.) vorgedacht, zudem war die Ansicht, dass je Gattung unterschiedliche Stilprinzipien sowohl historisch bedingt als auch tatsächlich wirksam seien, Allgemeingut. Spezielle Gattungs-
1944 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart darstellungen erschienen ebenso wie gattungsspezifische Analysen und gipfelten in dem sechzehnbändigen Großunternehmen Handbuch der musikalischen Gattungen (Mauser 1993⫺2007). Neue Werkkategorien (bzw. Stücke ohne „Werk“-Charakter) aus den Bereichen Neues Musiktheater, Live-Elektronik, Live-Improvisation (samt Gruppen-Improvisation), Aleatorik oder auch „Third Stream“ (an der Grenze zwischen „ernster“ und „unterhaltender“ Musik) führen allerdings erst recht jedwede rigide Systematik ad absurdum. Und die unterschiedlichen Wechselbeziehungen zwischen Dichtung und Musik, die sich in Lied oder Oper noch problemlos charakterisieren ließen, stellen sich in zeitgenössischer Musik erst recht je Werk individuell dar. Während die prononcierten Nationalstile des 16. bis 20. Jahrhunderts nach wie vor Gegenstand von Untersuchungen mit historischen, kompositionsgeschichtlichen oder aufführungspraktischen Fragestellungen sind, erweist sich diese Kategorie als für das spätere 20. Jahrhundert immer mehr obsolet; von weit höherem Interesse werden hier Untersuchungen der (wechselseitigen) Einflüsse durch ,fremde‘, ,exotische‘ oder auch ,populäre‘ Kulturen, wodurch sich das Schwergewicht der Forschung deutlich in Richtung Musikethnologie, vergleichende Musikwissenschaft sowie Popularmusik- und Jazzwissenschaft verlagert. Dabei erhält auch die (schon im 17. bis 19. Jahrhundert mannigfach angedachte) Kategorie des Personalstils, die ihre endgültige Akzeptanz ebenfalls durch Adler (1911) erfuhr, eine immer größerere Bedeutung. Und entsprechend Adlers Sicht, die aus der Überzeugung von einer unverwechselbaren Individualität jedes Komponisten resultierte, vertrat etwa auch Schönberg vehement die Ansicht, Stil sei zwar vor allem die Eigenschaft eines ganz bestimmten Werkes, habe somit aber auch ganz speziell als Eigenart des jeweiligen Schöpfers zu gelten: eine Ansicht, die im späteren 20. Jahrhundert ⫺ analog zur Literaturwissenschaft ⫺ endgültig die Kategorie des ,Werkstils‘ begründete, die sich heute, angesichts der ,postmodernen‘ Verfügung über die Stile aller Kulturen und Zeiten, immer mehr als die wichtigste auf dem Gebiet der Stilistik erweist.
5. Literatur (in Auswahl) Adler, Guido (1885): Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft. In: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 1, 5⫺20. Adler, Guido (1911): Der Stil in der Musik. Leipzig. Adler, Guido (1930): Handbuch der Musikgeschichte. 2. Aufl. Berlin. Bach, Carl Philipp Emanuel (1753): Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen. Berlin. Bacon, Francis (1627): Sylva Sylvarum, or: A Naturall Historie. London. Bartel, Dietrich (1985): Handbuch der musikalischen Figurenlehre. Laaber. Beghin, Tom/Sandor M. Goldberg (eds.) (2007): Haydn and the Performance of Rhetoric. Chicago. Beghin, Tom (1997): Haydn as Orator: a Rhetorical Analysis of his Keyboard Sonata in D major, Hob. XVI:42. In: Elaine Sisman (ed.): Joseph Haydn and his World. Princeton, NJ, 201⫺254. Böhm, Richard (2006): Symbolik und Rhetorik im Liedschaffen von Franz Schubert (Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis 3). Wien/Köln/Weimar. Bonds, Mark Evan (1991): Wordless Rhetoric: Musical Form and the Metaphor of the Oration. Cambridge, MA (Harvard). Brandes, Heinz (1935): Studien zur musikalischen Figurenlehre im 16. Jahrhundert. Berlin. Budde, Elmar (1997): Musikalische Form und rhetorische dispositio. Zum 1. Satz des 3. Brandenburgischen Konzertes. In: Hartmut Krones (Hrsg.): Alte Musik und Musikpädagogik. Wien/ Köln/Weimar, 69⫺83.
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1945
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1947
1948 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Revers, Peter (2003): „Die blutumspülte Wurzel der dunklen Triebe […], auf die sich Liebe reimt“ [Alfred Polgar]. Hugo Wolfs Symphonische Dichtung „Penthesilea“. In: Österreichische Musikzeitschrift 58/1, 25⫺33. Richter, Bernhard Friedrich (1902): Eine Abhandlung Johann Kuhnau’s. In: Monatshefte für Musikgeschichte XXXIV, 147⫺154. Riemann, Hugo (1908): Kleines Handbuch der Musikgeschichte mit Periodisierung nach Stilprinzipien und Formen. Leipzig. Ritzel, Fred (1968): Die Entwicklung der «Sonatenform» im musiktheoretischen Schrifttum des 18. und 19. Jh. Wiesbaden. Ruhnke, Martin (1955): Joachim Burmeister. Ein Beitrag zur Musiklehre um 1600. Kassel/Basel. Ryba, Jan Jakub (1817): Pocˇa´tecˇnı´ a vsˇeobecnı´ za´kladove´ ke vsˇemu umeˇnı´ hudebnı´mu [Anfängliche und allgemeine Grundsätze zur gesamten Musikkunst]. Prag. Scacchi, Marco (1649): Breve discorso sopra la musica moderna. Warschau. Schenk, Erich (1937): Barock bei Beethoven. In: Beethoven und die Gegenwart. Festschrift Ludwig Schiedermaier. Berlin/Bonn, 177⫺219. Schenk, Erich (1941): Zur Tonsymbolik in Mozarts „Figaro“. In: Neues Mozart-Jahrbuch 1, 114⫺134. Schenk, Erich (1970): Über Tonsymbolik in Beethovens „Fidelio“. In: Beethoven-Studien. Festgabe der Österr. Akademie der Wissenschaften zum 200. Geburtstag von Ludwig van Beethoven. Wien, 223⫺252. Schering, Arnold (1907): Die Musikästhetik der deutschen Aufklärung. In: Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft 8, 263⫺271; 316⫺322. Schering, Arnold (1908): Die Lehre von den musikalischen Figuren. In: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 21, 106⫺114. Schering, Arnold (1926): Geschichtliches zur „ars inveniendi“ in der Musik. In: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für 1925. 32. Jg. Leipzig, 25⫺34. Schering, Arnold (1939): Carl Philipp Emanuel Bach und das „redende Prinzip“ in der Musik. In: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für 1938. 45. Jg. Leipzig, 13⫺29. Schilling, Gustav (1844): Musikalisches Conversations⫽Handlexikon. 2 Bde. 2. Aufl. Augsburg. Schindler, Anton (1860): Biographie von Ludwig van Beethoven. 3. Aufl. Münster. Schleuning, Peter (1987): Beethoven in alter Deutung. Der „neue Weg“ mit der „Sinfonia eroica“. In: Archiv für Musikwissenschaft 44, 165⫺194. Schmalzriedt, Siegfried (1985): Charakter und Drama. Zur historischen Analyse von Haydnschen und Beethovenschen Sonatensätzen. In: Archiv für Musikwissenschaft 42, 37⫺66. Schmitz, Arnold (1950a): Die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik Johann Sebastian Bachs. Mainz. Nachdruck Laaber 1976. Schmitz, Arnold (1950b): Die oratorische Kunst Johann Sebastian Bachs. In: Kongreßbericht Lüneburg. Kassel, 33⫺49. Schmitz, Arnold (1952): Die Figurenlehre in den theoretischen Werken Johann Gottfried Walthers. In: Archiv für Musikwissenschaft 9, 79⫺100. Schönberg, Arnold (1930, 45): Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke. In: Ivan Vojteˇch (Hrsg.): Arnold Schönberg. Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik. Frankfurt a. M., 1976, 25⫺34. Schopenhauer, Arthur (1819): Die Welt als Wille und Vorstellung. Leipzig. Schubart, Christian Friedrich Daniel (1806): Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst [1784]. Hrsg. von Ludwig Schubart. Wien. Seidel, Elmar (1969): Ein chromatisches Harmonisierungs-Modell in Schuberts „Winterreise“. In: Archiv für Musikwissenschaft 26, 285⫺296. Seidel, Wilhelm (1986): Französische Musiktheorie im 16. und 17. Jh. In: Frieder Zaminer (Hrsg.): Geschichte der Musiktheorie 9. Darmstadt, 1⫺140. Sloan, Lucinda Heck (1990): The Influence of Rhetoric on Jean-Philippe Rameau’s Solo Vocal Cantatas and Treatise of 1722. New York.
116. Rhetorik und Stilistik in den Naturwissenschaften
1949
Street, Alan (1987): The Rhetorico-Musical Structure of the „Goldberg“ Variations: Bach’s ClavierÜbung IV and the Institutio oratoria of Quintilian. In: Musical Analysis 6, 89⫺131. Tansur, William (1734): A Compleat Melody or the Harmony of Sion. London. Tinctoris, Johannes (1477): Liber de arte contrapuncti. Ed. A. Seay. Rom 1975. Toft, Robert (2004): Rendering the Sense More Conspicuous: Grammatical and Rhetorical Principles of Vocal Phrasing in Art and Popular/Jazz Music. In: Music & Letters 85, 368⫺387. Türk, Daniel Gottlob (1789): Klavierschule. Leipzig/Halle. Unger, Hans-Heinrich (1941): Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.⫺18. Jahrhundert. Würzburg. Walther, Johann Johann Gottfried (1732): Musicalisches Lexicon. Leipzig. Wessely, Othmar (1972): Zur ars inveniendi im Zeitalter des Barock. In: Orbis musicae 1/2, 113⫺140. Wessely, Othmar (1981): Wort und Ton bei Heinrich Schütz. Am Beispiel des Canticum Beati Simeonis (SWV 352). In: Haselauer (1981), 25⫺45. Zarlino, Gioseffo (1558): Le istitutioni harmoniche. Venedig. Nachdruck New York 1965. Zarlino, Gioseffo (1588): Sopplimenti musicali. Venedig.
Hartmut Krones, Wien (Österreich)
116. Rhetorik und Stilistik in den Naturwissenschaten 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Neutrale Beschreibung und durchsichtige Gestaltung Antirhetorische Haltung Hoch standardisierte Darstellungsformen und unpersönlicher Stil Mathematisierung, Formalisierung und natürliche Sprache Elemente der Visualisierung Schönheit als Argument Literatur (in Auswahl)
Abstract Aspects of rhetoric and stylistics are basically not covered in scientific handbooks or introductory textbooks of science. The language used in scientific publications is generally considered as being neutral and unemotional. This results from the prevailing opinion on rhetorical and stylistic issues. Science has been characterized by an anti-rhetorical attitude since the beginning of modern scientific research. Its rhetoric presents in a neutral voice. Scientific articles are published in a highly standardized form, using impersonal style. Formulae and mathematical formalizations are often applied to efficiently present scientific results and theories. This fact, however, also raises the question of the relation between mathematical formalization and natural language. Another characteristic feature of scientific publications is the use of illustrations and visualizations of all kinds. Pictures provide effective visual information and can fascinate for their aesthetical potential. However, scientists can also detect aesthetical fascination in the beauty of a formula or an experiment.
116. Rhetorik und Stilistik in den Naturwissenschaften
1949
Street, Alan (1987): The Rhetorico-Musical Structure of the „Goldberg“ Variations: Bach’s ClavierÜbung IV and the Institutio oratoria of Quintilian. In: Musical Analysis 6, 89⫺131. Tansur, William (1734): A Compleat Melody or the Harmony of Sion. London. Tinctoris, Johannes (1477): Liber de arte contrapuncti. Ed. A. Seay. Rom 1975. Toft, Robert (2004): Rendering the Sense More Conspicuous: Grammatical and Rhetorical Principles of Vocal Phrasing in Art and Popular/Jazz Music. In: Music & Letters 85, 368⫺387. Türk, Daniel Gottlob (1789): Klavierschule. Leipzig/Halle. Unger, Hans-Heinrich (1941): Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.⫺18. Jahrhundert. Würzburg. Walther, Johann Johann Gottfried (1732): Musicalisches Lexicon. Leipzig. Wessely, Othmar (1972): Zur ars inveniendi im Zeitalter des Barock. In: Orbis musicae 1/2, 113⫺140. Wessely, Othmar (1981): Wort und Ton bei Heinrich Schütz. Am Beispiel des Canticum Beati Simeonis (SWV 352). In: Haselauer (1981), 25⫺45. Zarlino, Gioseffo (1558): Le istitutioni harmoniche. Venedig. Nachdruck New York 1965. Zarlino, Gioseffo (1588): Sopplimenti musicali. Venedig.
Hartmut Krones, Wien (Österreich)
116. Rhetorik und Stilistik in den Naturwissenschaten 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Neutrale Beschreibung und durchsichtige Gestaltung Antirhetorische Haltung Hoch standardisierte Darstellungsformen und unpersönlicher Stil Mathematisierung, Formalisierung und natürliche Sprache Elemente der Visualisierung Schönheit als Argument Literatur (in Auswahl)
Abstract Aspects of rhetoric and stylistics are basically not covered in scientific handbooks or introductory textbooks of science. The language used in scientific publications is generally considered as being neutral and unemotional. This results from the prevailing opinion on rhetorical and stylistic issues. Science has been characterized by an anti-rhetorical attitude since the beginning of modern scientific research. Its rhetoric presents in a neutral voice. Scientific articles are published in a highly standardized form, using impersonal style. Formulae and mathematical formalizations are often applied to efficiently present scientific results and theories. This fact, however, also raises the question of the relation between mathematical formalization and natural language. Another characteristic feature of scientific publications is the use of illustrations and visualizations of all kinds. Pictures provide effective visual information and can fascinate for their aesthetical potential. However, scientists can also detect aesthetical fascination in the beauty of a formula or an experiment.
1950 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart
1. Neutrale Beschreibung und durchsichtige Gestaltung In Nachschlagewerken und Überblicksdarstellungen zu Naturwissenschaften oder zu einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen finden sich keine Einträge oder Hinweise zu Stil, Sprache oder Darstellungsformen der Naturwissenschaften. Rhetorik und Stilistik sind keine naturwissenschaftlichen Gegenstände. Rhetorisch-stilistische Aspekte der in den Naturwissenschaften üblichen Darstellungsformen und Publikationen sind denn auch kein Thema, das in Hand- und Lehrbüchern näher behandelt wird. Genauso wenig Beachtung findet die Bedeutung rhetorischer Mittel bei der Behauptung von Wissensansprüchen in fachlichen Diskussionen innerhalb einer Disziplin. Selbst in umfangreichen Anleitungen zum Verfassen naturwissenschaftlicher oder technischer Arbeiten finden sich in der Regel nur äußerst knappe, allgemein gehaltene Angaben zu stilistischen Fragen und zur rhetorischen Darstellung. Dazu gehören beispielsweise Hinweise der Art: „Die verwendete Schriftsprache sollte neutral beschreiben und durchgängig Präsens oder Imperfekt verwenden“ (Friedrich 1997, 33). Auch eine über fünfhundertfünfzigseitige Anleitung zum Verfassen von Arbeiten in den Naturwissenschaften geht nur an einer Stelle kurz auf Stilgefühl ein und enthält an einer weiteren Stelle auf wenigen Seiten einige Bemerkungen zu stilistisch empfehlenswerten Formulierungen (Ebel/Bliefert 1998, 8; 31⫺36). Diese geringe Beachtung von Fragen der rhetorisch-stilistischen Gestaltung lässt sich auf eine Reihe von Faktoren zurückführen: etwa auf die starke Standardisierung von Darstellungsformen in den Naturwissenschaften oder den ausgeprägten Gebrauch von mathematischen Formalisierungen und graphischen Darstellungen. Nicht zuletzt ist diese geringe Beachtung rhetorisch-stilistischer Aspekte Ausdruck der in den Naturwissenschaften verbreiteten Einstellung, dass die Sprache wissenschaftlicher Publikationen ein neutrales Mittel zur Beschreibung wissenschaftlicher Erkenntnisse darstelle. Gusfield (1976, 16 f.) spricht von der herrschenden „,windowpane‘ theory“ hinsichtlich der sprachlich-rhetorischen Gestaltung wissenschaftlicher Publikationen. Die sprachliche Form dieser Publikationen gilt gewissermaßen als eine in der Regel nicht näher zu beachtende Fensterscheibe, die es einem ermöglicht, auf die dargelegten wissenschaftlichen Inhalte zu blicken. Bildkräftig hat Peirce (1904, 238) die allgemein erwartete sprachlich-stilistische Neutralität der Gestaltung wissenschaftlicher Publikationen veranschaulicht: „Viele literarisch gebildete Personen meinten bisher, daß kaum eine andere rhetorische Regel auf wissenschaftliche Arbeiten anwendbar ist, außer der, daß man sich auf die einfachste und klarste Weise ausdrücken sollte, und daß vom Stil einer wissenschaftlichen Abhandlung zu reden in etwa dem Reden vom moralischen Charakter eines Fischs ähnelt.“ Neutral beschreibende, durchsichtige Gestaltung wird also von wissenschaftlichen Arbeiten aller Disziplinen erwartet. Für diese durchsichtige Gestaltung haben sich drei wesentliche Elemente herausgebildet. Erstens tritt in wissenschaftlichen Texten in der Regel der Autor möglichst nicht persönlich in Erscheinung, schon gar nicht mit der Verwendung des Personalpronomens der ersten Person. Die Inhalte werden zweitens nicht gemäß der Chronologie ihrer Entdeckungs- oder Entstehungsgeschichte erzählt, sondern systematisch geordnet dargelegt. Drittens gilt es, auf Metaphern zu verzichten. Mit pointierter Übertreibung hat Weinrich (1989, 132⫺139) diese typischen Merkmale wissenschaftlichen Darstellens als das „Ich-Verbot“, „Erzählverbot“ und „Metaphernverbot“
116. Rhetorik und Stilistik in den Naturwissenschaften
1951
der Wissenschaftssprache bezeichnet. Kretzenbacher (1995, 26⫺32) plädiert gar dafür, von „Ich-Tabu“, „Erzähltabu“ und „Metapherntabu“ zu sprechen. Diese und weitere Elemente einer Strategie neutraler, durchsichtiger sprachlicher Gestaltung, die beim Lesen nicht besonders auffällt, sondern die Aufmerksamkeit auf den Inhalt lenkt, sind in den Naturwissenschaften besonders zum Tragen gekommen und haben die Entwicklung ihrer Darstellungsformen geprägt. Sprache und Darstellungsformen der Naturwissenschaften sind, grob vereinfacht ausgedrückt, gekennzeichnet durch einen ausgeprägt sachbezogenen, unpersönlichen, neutral beschreibenden, betont unrhetorischen Stil. Zudem sind sie in hohem Maße standardisiert und es wird, wie in 4 dargelegt, ausgiebig Gebrauch gemacht von formalisierten Darstellungsmitteln. Weiter spielen auch Visualisierungen und Illustrationen eine nicht zu unterschätzende Rolle (vgl. 5).
2. Antirhetorische Haltung Naturwissenschaften sind von ihrem Gegenstand wie von ihren Methoden her sachorientiert. Es sind diejenigen Wissenschaften, die sich mit Phänomenen der (unbelebten und belebten) Natur befassen. In ihnen spielt die experimentelle Überprüfung von Hypothesen und nicht etwa die Interpretation von Texten eine wesentliche Rolle. Diese Gegebenheiten haben zur Ausbildung eines ausgeprägt sachbetonten, neutral beschreibenden Stils beigetragen. Ausgewirkt hat sich aber auch eine regelrecht antirhetorische Haltung, die in den Anfangszeiten der modernen Naturwissenschaften von wichtigen Institutionen und Personen vertreten wurde. Der Beginn der modernen Naturwissenschaften liegt im 17. Jahrhundert. Im Zusammenhang mit der Herausbildung der Naturwissenschaften ist oft vom Schlagwort der „wissenschaftlichen Revolution“ die Rede, allerdings wird in der Wissenschaftsgeschichte in Frage gestellt, ob diese Bezeichnung zutreffend sei (vgl. Shapin 1996, 4⫺14). Eine entscheidende Rolle beim Aufkommen des naturwissenschaftlichen Denkens und der Institutionalisierung der Naturwissenschaften spielten wissenschaftliche Akademien und Gesellschaften wie die Royal Society in London (gegründet 1662) oder die Acade´mie des Sciences in Paris (gegründet 1666). Diese Akademien und Gesellschaften bildeten teilweise einen Gegenpol zu den traditionellen, klassisch ausgerichteten Universitäten. Allerdings lässt sich das Verhältnis nicht auf den Gegensatz zwischen fortschrittlichen Akademien einerseits und rückwärts gerichteten Universitäten andererseits reduzieren. So bestanden durchaus auch Beziehungen und personelle Verflechtungen zwischen wissenschaftlichen Gesellschaften und Universitäten (vgl. Burke 2001, 52⫺58). Zum Umkreis der Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften gehörende Wissenschaftler wie Francis Bacon oder Robert Boyle maßen dem Studium der Natur, vor allem auch dem Experimentieren, stärkeres Gewicht bei als der Auslegung von Texten. Entsprechend gewannen Publikationsformen wie der Experimentalbericht, der „experimental essay“, eine größere Bedeutung für die Darlegung von Wissensansprüchen (vgl. Danneberg/Niederhauser 1998b, 76⫺82). „Seit den Akademiegründungen im 17. Jahrhundert [beginnt] die Lösung der Naturwissenschaften von Theologie, Rhetorik und Poetik“ (Pörksen 1998a, 202). Mitglieder der Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften grenzten sich mehr oder weniger stark von den gelehrten humanistisch-scholastischen Traditionen ab. Dies betraf nicht
1952 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart zuletzt Ansprüche an Sprache und Stil wissenschaftlicher Publikationen. Gefordert wurde, auf sprachlichen Schmuck und ausgefeilte rhetorische Mittel zu verzichten zugunsten einer möglichst klaren, sachlichen Darstellung. Entsprechend charakterisierte etwa Robert Boyle den Stil seiner „Certain Physiological Essays“ von 1661: „I have endeavoured to write rather in a philosophical than a rhetorical strain, as desiring, that my expressions should be rather clear and significant, than curiously adorned“ (zitiert nach Harwood 1994, 45). Auffallend an etlichen Forderungen nach einer möglichst klaren Darstellung ohne rhetorischen Schmuck ist übrigens gerade deren wirkungsvolle rhetorische Gestaltung. Das wird besonders an einer berühmten, im Zusammenhang mit der Herausbildung von Stilkonventionen für naturwissenschaftliche Publikationen in dieser Zeit häufig zitierten Stelle aus einer programmatischen Schrift deutlich. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus der 1667 erschienenen „History of the Royal Society“ von Thomas Sprat. Darin nimmt er insbesondere deutlich gegen „this trick of Metaphors“ Stellung und hält weiter fest: „They [⫽ die Mitglieder der Royal Society] have exacted from all their members, a close, naked, natural way of speaking; positive expressions; clear senses; a native easiness: bringing all things as near the Mathematical plainness as they can: and preferring the language of the Artizans, Countrymen, and Merchants, before that, of Wits, or Scholars“ (zitiert nach Hüllen 1993, 43). Trotz der Vehemenz dieser „regelrechten Rhetorik der Anti-Rhetorik“ (Kretzenbacher 1995, 22) darf gleichwohl nicht vergessen werden, dass aus einer Belegstelle allein nicht zu weit gehende Schlussfolgerungen über die tatsächlich in den zeitgenössischen wissenschaftlichen Gesellschaften herrschende Metaphern- und Rhetorikfeindlichkeit gezogen werden dürfen. Eine solche Stelle muss im Kontext des ganzen Buches und Schaffens von Sprat sowie desjenigen seiner Zeitgenossen gesehen werden (vgl. Cahn 1991, 33⫺38; Danneberg 2002, 330⫺332; Hüllen 1989, 98⫺113). Sprat vertritt insbesondere in Bezug auf die Verwendung von Metaphern in der Wissenschaft eine Extremposition, während andere Wissenschaftler den Metaphern durchaus einen gewissen Platz in wissenschaftlichen Texten zuerkennen. Seit dem 17. Jahrhundert hält die Diskussion über den wissenschaftlichen Wert von Metaphern und die Rolle der Metaphern in naturwissenschaftlichen Darstellungen an. Im Zentrum der Diskussionen steht die Frage, ob metaphorisches Sprechen in der Wissenschaft nur eine didaktische Funktion oder auch eine kognitive, erkenntnisleitende Relevanz habe, ob Metaphern in wissenschaftlichen Texten also auch den Wert von Modellen haben könnten (vgl. Danneberg 2002, 294⫺318; Falkenburg 1999, 110⫺114; Niederhauser 1995, 295⫺ 298). Metaphern können durchaus eine produktive, theorie- und experimentkonstituierende Wirkung entfalten (vgl. z. B. Brandt 2004, 23⫺27; 42⫺54; 257 ff.). Theoriekonstitutive Metaphern können nicht zuletzt bei der Begründung und Durchsetzung von Wissensansprüchen in einer Disziplin eine Rolle spielen, sie werden teilweise gar als das „bevorzugte Mittel in Paradigmenschlachten“ (Gessinger 1992, 47) angesehen. Jedenfalls erlauben es naturwissenschaftliche Theorien, deren Schlüsselbegriffe metaphorisch sind, besonders gut, „Begriffsprägungen und Denkmodelle über die Grenzen“ (Pörksen 1998a, 202) des Fachgebiets hinaus in andere Fachgebiete oder gar in die Öffentlichkeit zu übertragen. Musterbeispiele dafür stellen die öffentlichkeitswirksame Übertragung von Schlüsselbegriffen der Darwinschen Evolutionslehre dar (vgl. Pörksen 1986, 126⫺144; Pörksen 1998a, 202 f.) oder die Transformation kybernetischer und informationswissenschaftlicher Begriffe wie Code, Information, Alphabet oder Schrift in der Molekularbiolo-
116. Rhetorik und Stilistik in den Naturwissenschaften
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gie (Brandt 2004, 12⫺23; 107 ff.). Die allgemeine Zugänglichkeit metaphorischer Ausdrücke ist übrigens auch der Grund dafür, dass Metaphern teilweise als regelrechtes Kennzeichen oder gar als Qualitätsmerkmal populärwissenschaftlichen Schreibens über naturwissenschaftliche Themen gelten (vgl. Brandt 2004, 107⫺110; Hoffmann 2006, 407; Niederhauser 1999, 74 f.; Petrus 1995, 301 f.). Im Hinblick auf die in den Naturwissenschaften herrschende Einstellung gegenüber dem Gebrauch rhetorisch-stilistischer Mittel machten sich auch länderspezifische Unterschiede bemerkbar (vgl. Stichweh 1984, 224⫺236). Insbesondere in Frankreich, wo sich die Trennung von Wissenschaft und Literatur später durchsetzte, wurde rhetorischen Aspekten ein höheres Gewicht beigemessen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam dann in Frankreich die Vorstellung auf, diese starke Beachtung rhetorisch-stilistischer Aspekte sei die Ursache für den Rückstand der französischen Wissenschaft gegenüber der deutschen: Die französischen Wissenschaftler hätten eben mehr Aufmerksamkeit auf ihre Schreib- und Redekunst und weniger auf den fachlichen Wert ihrer Experimente gelegt (vgl. Lepenies 1976, 136⫺138). Generell lässt sich festhalten, dass in den Naturwissenschaften von Anfang an eine rhetorikkritische, ja rhetorikfeindliche Haltung verbreitet war: „Das Verhältnis der neuzeitlichen Wissenschaften zur Sprache wird geprägt von der Kritik am rhetorischen Ausdruck. In ihren eigenen Metaphern tendiert diese Kritik dazu, die Sprache als ein optisches Instrument zu denken“ (Cahn 1991, 38). Die Rhetorik der Naturwissenschaften präsentiert sich als Antirhetorik: „an official rhetoric of science ⫺ a rhetoric, moreover, that presents itself as no rhetoric at all, indeed as its very antithesis“ (Locke 1992, 90). Im Laufe der Zeit sind sich die Naturwissenschaftler des rhetorischen Charakters ihrer wissenschaftlichen Darstellungen bewusster geworden, aber eine antirhetorische Haltung prägt die Naturwissenschaften bis heute. Im Vorwort seiner popularisierenden Darstellung der Relativitätstheorie hat Albert Einstein bildhaft auf die in der Physik verbreitete Skepsis gegenüber stilistischen Feinheiten und rhetorischem Schmuck hingewiesen: „Im Interesse der Deutlichkeit erschien es mir unvermeidlich, mich oft zu wiederholen, ohne auf die Eleganz der Darstellung die geringste Rücksicht zu nehmen; ich hielt mich gewissenhaft an die Vorschrift des genialen Theoretikers L. Boltzmann, man solle die Eleganz Sache der Schneider und Schuster sein lassen“ (Einstein 1917, V). Kurz und bündig hält eine heutige Anleitung zum Verfassen naturwissenschaftlicher Arbeiten fest: „Muster an schöner Sprache werden von technischen Berichten nicht erwartet“ (Ebel/ Bliefert 1998, 36).
3. Hoch standardisierte Darstellungsormen und unpersönlicher Stil Der Stil der naturwissenschaftlichen Publikationen ist gekennzeichnet durch einen hohen Grad an Standardisierung. Das ist eine Folge der Entwicklung des wissenschaftlichen Publikationswesens in den Naturwissenschaften. Voraussetzung der Entstehung eines wissenschaftlichen Publikationswesens bildete die Entwicklung des Buchdrucks. Die Möglichkeiten drucktechnischer Reproduktion und marktwirtschaftliche Gesichtspunkte der Verbreitung gedruckter Publikationen wirkten sich in der Folge stark standardisierend auf Sprache und Publikationen in den Wissenschaften aus (vgl. Cahn 1991, 31⫺33;
1954 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Giesecke 1992, 280⫺284). Der Buchdruck ermöglichte Druck und Verkauf von Wissen, er hatte ökonomisch gesehen zur Folge, dass (wissenschaftliches) Wissen zur Ware, zu geistigem Eigentum werden konnte (vgl. Burke 2001, 178⫺189). Im 17. Jahrhundert, zu Beginn der modernen Naturwissenschaften, spielten selbstständige Buchpublikationen eine zentrale Rolle im wissenschaftlichen Publikationswesen. Daneben wurden mit dem Aufkommen der Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften zunehmend Schriften dieser Institutionen publiziert. Auch die frühen, zu Beginn des 18. Jahrhunderts aufkommenden wissenschaftlichen Zeitschriften waren stark buchbezogen: Sie konzentrierten sich meist darauf, Bücher referierend wiederzugeben (Stichweh 1984, 401 ff.). Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden auch allgemeinwissenschaftliche Zeitschriften, die auf Unterhaltung eines breiteren Publikums angelegt waren und vor allem Übersetzungen ausländischer Publikationen enthielten (Stichweh 1984, 407⫺413). Die wissenschaftliche Fachzeitschrift bildete sich am Anfang des 19. Jahrhunderts heraus (ausführlich dazu: Stichweh 1984, 394⫺441). Diese Herausbildung einer neuen Publikationsform fand gleichzeitig statt mit Veränderungen im System der Wissenschaften. Allmählich hatten sich an den Universitäten die Naturwissenschaften von der Vorherrschaft der anderen Fakultäten und Fächer zu emanzipieren begonnen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts verstärkte sich dieser Verselbstständigungsprozess. Mehr und mehr naturwissenschaftliche Disziplinen wurden selbstständige Lehrfächer, und im Zuge der Universitätsreformen des 19. Jahrhunderts wurden Forschung und Lehre der Naturwissenschaften in ein umorganisiertes Wissenschaftssystem integriert. Parallel dazu wurde das Publikationswesen in den Naturwissenschaften immer stärker von wissenschaftlichen Fachzeitschriften dominiert. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist der Fachzeitschriftenartikel die zentrale Textsorte der naturwissenschaftlichen Fachkommunikation, und er stellt bis heute die „Leitgattung der modernen Forschung“ (Weinrich 1995, 165) dar. Die meisten wissenschaftlichen Fachzeitschriften verfügen über Richtlinien, in denen die Gestaltung eines Artikels von der Gliederung bis hin zu Zitierweisen und zur genauen Form der Literaturangaben geregelt ist. Es zeigen sich meist auch gewisse fachspezifische Unterschiede bei Einzelheiten, aber die wissenschaftlichen Artikel in Naturwissenschaften und Medizin weisen einen klar vereinheitlichten Aufbau auf. Dies trifft besonders für die sogenannten Originalarbeiten zu, also für die eigentlichen Forschungsartikel, in denen neue, eigene Forschungsergebnisse vorgestellt werden. Originalarbeiten machen den überwiegenden Teil der Artikel in führenden naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften aus. Ihren standardisierten Aufbau bezeichnet ein Lektor eines wissenschaftlichen Verlags als Formel: „Für die Gliederung von Originalarbeiten gilt international die Imrad-Formel. Imrad steht für einen Aufbau nach dem Muster Introduction, Material & Methods, Results and Discussion. Eine Redaktion kann und darf an dieser Gliederung nichts ändern“ (Staehr 1986, 125). Ob man von einer regelrechten Formel, etwas zurückhaltender von einer „standard fashion“ mit Introduction, Experimental Part, Conclusions, Summary (Chargaff 1986, 108), von einer „kanonischen oder rituellen Form“ (Hoffmann 1988, 1655) oder von „a ritual format with strong historical roots“ (Hoffmann 2006, 406) spricht, sicher ist auf jeden Fall, dass Aufbau und Gestaltung naturwissenschaftlicher Artikel stark standardisiert sind. Die durchgehende Standardisierung des Aufbaus naturwissenschaftlicher Artikel hat denn auch einen Nobelpreisträger für Chemie veranlasst, den Eindruck, den ein Nichtchemiker beim Durchsehen chemischer Fachzeitschrif-
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ten vermutlich erhalten würde, mit folgender ironischer Bemerkung zu charakterisieren: „Nach einer Reihe von Artikeln wird meine Leserin eine ermüdende Eintönigkeit feststellen“ (Hoffmann 1988, 1653). Die starke Standardisierung widerspiegelt sich nicht zuletzt in unzähligen Parodien naturwissenschaftlicher Artikel. Mittlerweile bestehen dafür gar eigene Zeitschriften wie das berühmte „Journal of Irreproducible Results“, das sich von einer Sammlung hektographierter Blätter im Jahre 1955 zu einer regelmäßig erscheinenden Zeitschrift entwickelt hat. Diese Parodien funktionieren nur vor dem Hintergrund standardisierter Darstellungsmuster und Darstellungsgepflogenheiten der Fachkommunikation in den Naturwissenschaften (vgl. Niederhauser 1998, 708 ff.). Die Standardisierung ist auch durch die Kürze der naturwissenschaftlichen Artikel gefördert worden. Auch Artikel, in denen über eine wichtige Entdeckung oder gar über einen Durchbruch auf einem Forschungsgebiet berichtet wird, sind kaum je länger als vier, fünf Druckseiten. Diese Kürze ist Folge und Ausdruck des hohen Spezialisierungsgrads der naturwissenschaftlichen Fachkommunikation. Die in den Artikeln dargestellten fachlichen Inhalte sind stark partikularisiert; das angesprochene Thema wird nicht entfaltet, so dass die Informationen einer Originalarbeit ohne spezialisiertes fachliches Vorwissen sich nicht richtig zuordnen lassen und kaum verständlich sind. Originalarbeiten richten sich eben nur an ein hochspezialisiertes Publikum, das über das notwendige Wissen verfügt, um die partikularisierte Fachinformation einzuordnen. Der hohe Spezialisierungsgrad naturwissenschaftlicher Artikel wird für Außenstehende schon an den Titeln greifbar: Diese sind verhältnismäßig stark sachbetont, in ihnen werden Untersuchungsobjekte, untersuchte Effekte und verwandte Methoden genannt (vgl. Dietz 1995, 79 ff.). Das führt dazu, dass die Titel naturwissenschaftlicher Artikel nur für Fachleute verständlich sind. Laien können einen naturwissenschaftlichen Artikel aufgrund seines Titels allein nicht immer sicher einer Disziplin, geschweige denn einem genauen Fachgebiet zuordnen. Bereits an vielen Titeln zeigt sich, dass sich die Standardisierung der naturwissenschaftlichen Zeitschriftenartikel nicht nur auf ihren Aufbau beschränkt, sondern auch ihre sprachliche Ausgestaltung betrifft. Die Darlegung der Sachverhalte und Argumente erfolgt auf einem hohen Darstellungsniveau mit mathematischen Formalisierungen, Strukturformeln und Graphen. Stilistisch gesehen besonders auffällig ist der unpersönliche, deagentivierte Stil, in dem die Artikel gehalten sind, ihre „agentless prose“ (Locke 1992, 90). Ein wissenschaftlicher Artikel wird selbstverständlich namentlich gekennzeichnet, aber im Text sollten sich Autoren möglichst nicht persönlich bemerkbar machen: „Zum ,sozialen Klima‘ wissenschaftlichen Redens gehört es, die Nennung der eigenen Person zu vermeiden“ (v. Polenz 1981, 105). Nicht nur die Nennung der eigenen Person, sondern auch ein stark persönlich gefärbter, emotionaler Ton ist in Wissenschaftstexten fehl am Platz. Diese durchgehende Deagentivierung mit unpersönlicher, sachbetonter Darstellung hat ein Physiker schon in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einem Festvortrag als Kennzeichen des Stils naturwissenschaftlicher Arbeiten festgehalten: „Der Stil ist heute so, daß die Eigenart des Verfassers ganz zurücktritt […]. Man legte sich einen Stil zu, in dem alle menschlichen Regungen von nicht rein verstandesmäßiger Art verboten waren […]. Die übergroße Mehrzahl der modernen Arbeiten in der Fachliteratur ist nun einmal sehr sachlich und mehr oder weniger unpersönlich geschrieben“ (Kramers 1935, 298, Hervorhebung im Original).
1956 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart
4. Mathematisierung, Formalisierung und natürliche Sprache 4.1. Prägende Formalisierungen Der Stil naturwissenschaftlicher Darstellungen wird stark durch mathematische Formalisierungen geprägt. Naturwissenschaftler bedienen sich in hohem Maße mathematischer Formeln und Methoden zur Formulierung und Darstellung ihrer Überlegungen und Ergebnisse. Das trifft vor allen anderen Naturwissenschaften auf die Physik zu, die als prototypische Naturwissenschaft gilt: „Physikalische Theorien […] sind in der abstrakten und symbolischen Sprache der Mathematik formuliert“ (Falkenburg 1999, 89). Schon auf den ersten Blick wird augenfällig, dass Formeln ein integraler Bestandteil physikalischer Texte sind. Formeln können durchaus auch syntaktisch integriert sein. In physikalischen Texten wird immer wieder auf Formeln Bezug genommen. Deshalb werden wichtige Formeln auch nummeriert. Zum Teil finden sich in physikalischen Werken ganze Abschnitte, die nur aus Formalisierungen und einigen, die verschiedenen Formeln verknüpfenden, verbalen Ausdrücken bestehen (daraus folgt, eingesetzt in, mit xy ergibt sich). Der häufige Rückgriff auf mathematische Formalisierungen zur Darstellung physikalischer Sachverhalte prägt Stil und Rhetorik physikalischer Publikationen. Er erfolgt aus inhaltlichen Gründen, denn mathematisch formalisierte Beschreibungen sind die adäquatesten Beschreibungen physikalischer Modellvorstellungen. So hält der Nobelpreisträger Richard Feynman zu Beginn seines berühmten, weit verbreiteten Lehrbuchs der Physik mit Nachdruck fest: „The correct statement of the laws of physics involves some very unfamiliar ideas, which require advanced mathematics for their description“ (Feynman 1963, Bd. 1, 1). Wer sich eingehender mit einer physikalischen Theorie befassen will, der kommt nicht umhin, sich genügend mit den mathematischen Grundlagen der Theorie auseinanderzusetzen und sich das dafür nötige mathematische Rüstzeug anzueignen.
4.2. Mathematisierung und naturwissenschatliche Modellbildung Die Mathematik ist eine Strukturwissenschaft. Sie untersucht reine Strukturen, ohne sich darum zu kümmern, ob es überhaupt in der physikalischen Realität etwas gibt, das eine solche Struktur aufweist. In der Mathematik sind die Möglichkeiten zur Abstraktion und zur Bildung allgemein gültiger Gesetze am weitesten entwickelt. Ein mathematischer Beweis gilt als Musterbeispiel eines rein durch logische Operationen, ohne jegliche Persuasion hergeleiteten Ergebnisses. Im Grunde genommen finden sich übrigens auch in mathematischen Beweisen rhetorisch-persuasive Elemente (vgl. Davis/Hersh 1987, 59⫺ 67); das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich mit den Mitteln mathematischer Formalisierung eine einzelne Aussage aus einem allgemeinen Gesetz eindeutig und exakt herleiten lässt. Die Möglichkeiten mathematischer Formalisierung erlauben zudem eine starke Verdichtung von Aussagen, einen hohen Abstraktionsgrad der Darstellung. Wissenschaftler anderer Fächer können auf die in der Mathematik eingehend untersuchten und streng durchdachten Strukturen und deren Abstraktions- und Verallgemeinerungsmöglichkeiten zurückgreifen. Das ist in der Physik und in anderen Naturwissenschaften in hohem Maße der Fall.
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Um die Strukturen der physikalischen Realität untersuchen und verstehen zu können, macht man sich in der Physik ein vereinfachendes Bild der komplexen Realität, ein Modell. Diese Modelle müssen so beschaffen sein, dass die Struktur eines Modells ein Abbild der Struktur eines Teils der physikalischen Realität ist, und zwar ein möglichst umfassendes wie auch möglichst einfaches Abbild dieser Struktur. Mit den Worten von Heinrich Hertz (1894, 67) ausgedrückt: „Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, dass die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände […] es ist für ihren Zweck nicht nötig, dass sie [⫽ diese Bilder] irgendeine weitere Übereinstimmung mit den Dingen haben.“ In einem physikalischen Modell werden die Strukturen physikalischer Erscheinungen mit Hilfe der logisch durchdachten Strukturen der Mathematik beschrieben. Dabei können physikalische Größen nicht beliebig mathematischen Begriffen zugeordnet werden. Die Schlussfolgerungen, die sich im Rahmen einer mathematischen Beschreibung physikalischer Sachverhalte ergeben, müssen durch Experimente und Beobachtungen überprüft werden können (vgl. Falkenburg 1999, 90⫺108; Mittelstaedt 1986, 16⫺33; 210⫺ 248; v. Weizsäcker 1960, 141⫺145). In einer physikalischen Theorie muss es nicht zuletzt auch möglich sein, im Rahmen ihres mathematischen Formalismus Resultate zukünftiger Experimente oder physikalische Gesetzmäßigkeiten vorherzusagen. Die Existenz zahlreicher Elementarteilchen zeigte sich zuerst in den Gleichungen der theoretischen Physiker, der experimentelle Nachweis erfolgte später. Das Positron etwa war 1928 von Paul Dirac vorhergesagt worden, experimentell bestätigt wurde sein Postulat 1932. Das mathematische Gerüst der Quantentheorie war in den wichtigsten Teilen fertig, bevor die physikalische Deutung der Quantentheorie einigermaßen klar war.
4.3. Formalisierung und natürliche Sprache Der starke Rückgriff auf mathematische Formalisierungen hat zur Folge, dass sich die physikalischen Modellvorstellungen und diejenigen anderer Naturwissenschaften zunehmend von konkret-sinnlichen, anschaulichen zu unanschaulichen, abstrakt-unsinnlichen Formen hin entwickelt haben (vgl. Falkenburg 1999, 109⫺115). Diese immer abstrakter gewordenen Modellvorstellungen sind nur noch mathematisch beschreibbar und handhabbar. Der starke Rückgriff auf Formalisierungen führt weiter auch zur Frage, ob formalisierte Darstellungen überhaupt noch an Sprache und damit an inhaltlich-begriffliches Denken gebunden seien. Wenn auch physikalische Modellvorstellungen am adäquatesten mit Hilfe der Mathematik beschrieben werden können, lässt sich doch das physikalische Verstehen nicht auf mathematische Methoden und den mathematischen Formalismus reduzieren: „A physical understanding is a completely unmathematical, imprecise, and inexact thing, but absolutely necessary for a physicist“ (Feynman 1963, Bd 2., 1). Formeln müssen in physikalischem Sinne inhaltlich interpretiert werden, um physikalisch etwas auszusagen. Diese Interpretation ermöglicht letztlich die natürliche Sprache. In ihr erfolgen die Zuordnungen von mathematischen Symbolen und physikalischen Begriffen. Eine „Formel ist gleichsam eingebettet in die Sprache“ (v. Weizsäcker 1960, 144). Auch eindeutig und exakt formalisierte Darstellungen naturwissenschaftlicher Sachverhalte sind letztlich nur auf dem Hintergrund einer nicht eindeutigen natürli-
1958 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart chen Sprache möglich. Es handelt sich im Grunde genommen „stets nur um einen Prozess der vielleicht sehr weit getriebenen Umgestaltung derjenigen Sprache, die wir immer schon sprechen und verstehen“ (v. Weizsäcker 1960, 140).
4.4. Zur Unabdingbarkeit mathematisierter Darstellung Trotz der prinzipiellen Einbettung von Formeln in Sprache stellt sich aber die Frage, ob sich mathematisch formulierte naturwissenschaftliche Sachverhalte überhaupt einigermaßen angemessen in einer nichtmathematisierten Darstellungsform wiedergeben lassen ⫺ ein schon seit dem Beginn der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert vieldiskutierter Punkt (vgl. Stichweh 1984, 21⫺25; 173 ff.). Gerade in Diskussionen über Möglichkeiten und Grenzen der Popularisierung naturwissenschaftlichen Wissens spielt die Frage, wie viel Mathematik notwendig sei, um eine bestimmte naturwissenschaftliche Theorie angemessen wiedergeben zu können, eine wesentliche Rolle (vgl. Niederhauser 1999, 87 ff.; 177 f.). Nicht zuletzt sind sich Verfasser populärwissenschaftlicher Darstellungen keineswegs darüber einig, welcher Grad an Mathematisierung der Darstellung für eine solide Vermittlung bestimmter naturwissenschaftlicher Kenntnisse erforderlich sei. Das zeigt sich beispielsweise deutlich beim Vergleich verschiedener Popularisierungen der Relativitätstheorie. Einerseits war etwa der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell (1925, 9) überzeugt: „Viele der neuen Ideen lassen sich in nichtmathematischer Sprache ausdrücken.“ Andererseits stellte der Physiker Max Born (1964, VII f.) apodiktisch fest, viele der populärwissenschaftlichen Darstellungen der Relativitätstheorie seien dieser unangemessen, weil sie „die Tatsachen und Gedanken in gewöhnlicher Sprache und ein wenig philosophischer Terminologie [beschreiben] ⫺ ein Verfahren, durch welches, meine ich, nur eine äußerst oberflächliche Kenntnis der Relativitätstheorie vermittelt werden kann.“ Albert Einstein selbst hielt die Popularisierung seiner Relativitätstheorie zunächst für undurchführbar. So lehnte er 1909 nach einigem Überlegen ein Publikationsangebot eines Verlags deutlich ab: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie man diese Sache weiteren Kreisen zugänglich machen kann. Es gehört eben zum Verständnis derselben eine gewisse Schulung im abstrakten Denken, die die meisten Leute sich nicht aneignen, weil sie derselben nicht benötigen“ (Fölsing 1994, 263 f.). Er ließ sich aber nach einigen Jahren dann doch dazu überreden, ein populärwissenschaftliches Büchlein zu diesem Thema zu verfassen (Einstein 1917).
4.5. Nachlässige Sprechweise Eine indirekte stilistische Auswirkung des starken Gebrauchs von Formalisierungen ist die eher saloppe, nachlässige Sprechweise, die sich in vielen Naturwissenschaften, insbesondere in der Physik, eingebürgert hat. Zur Bezeichnung von fachlichen Konzepten wird teilweise auf besonders bildkräftige Ausdrücke zurückgegriffen, beispielsweise auf Begriffe wie Schwarze Löcher, weisse Zwerge, Big Bang oder die Rede von Geschmack und Geschmacksrichtungen von Quarks oder von eingesperrten Quarks. Solche fast plakativ anschaulichen Begriffe können auch der Popularisierung dienen, weshalb sie teilweise auch als „eine gewisse marktschreierische Tendenz der modernen Naturwissen-
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schaften“ (Kutschmann 1986, 94 f.) kritisiert worden sind. Diese Begriffe sind aber nicht um späterer Popularisierungen willen gewählt worden. Schließlich bergen solche anschaulichen Fachbegriffe gerade die Gefahr, außerhalb der fachwissenschaftlichen Diskussion eher Missverständnisse zu fördern, weil sie Verständlichkeit vorgaukeln. Bildhafte Ausdrücke werden als Benennungen für Fachbegriffe gewählt, um die unanschaulichen, abstrakten Konzepte physikalischer Theorien besser fassbar zu machen. Dieses Fassbarmachen „dient vor allem der leichteren Handhabbarkeit komplizierter formaler Methoden durch die Physiker selbst“ (Falkenburg 1999, 111). Sie sind es gewohnt, bei einem Fachbegriff an die zugrundeliegende mathematische Beschreibung zu denken. Ein physikalischer Sachverhalt wird durch die mathematisch formalisierte Beschreibung oder den Verweis auf experimentelle Ergebnisse eindeutig dargestellt, so dass es nicht unbedingt erforderlich ist, ihn auch noch mit Worten genau und eindeutig zu beschreiben. Das ermöglicht nicht nur die Wahl bildkräftiger Begriffe, sondern auch den Gebrauch einer nicht besonders genauen, eher nachlässigen Redeweise. Von Weizsäcker (1960, 139 f.) spricht in diesem Zusammenhang gar von „Saloppheit“ und „schlampigen“ Ausdrücken und weist darauf hin, dass die „Exaktheit des Gegenstands“ die „Unexaktheit der Sprache“ gestattet.
5. Elemente der Visualisierung Ein weiteres stilprägendes Element naturwissenschaftlicher Darstellungen sind Graphen, Schemata, Skizzen, Illustrationen und Bilder. Der Gebrauch von Visualisierungen ist ein rhetorisches Mittel, das nicht von der antirhetorischen Haltung erfasst wurde, die in den modernen Naturwissenschaften verbreitet ist (vgl. 2). Der Grund dafür liegt vermutlich in der Bedeutung der Visualisierungen für naturwissenschaftliche Darstellungen. Verweise auf visualisierende Darstellungsmittel haben sich auch in der Art des Vortragens niedergeschlagen. Während der typische geisteswissenschaftliche Vortrag aus dem Vorlesen eines vollständig ausformulierten Manuskripts besteht, sprechen Naturwissenschaftler in der Regel frei, machen aber in starkem Maße Gebrauch von Mitteln zur visuellen Verdeutlichung, von Formeln an der Wandtafel über Graphen bis hin zu Bildern. Das führt in der Regel zu einer eher saloppen Sprechweise gegenüber der in den Geisteswissenschaften üblichen genau ausformulierten, wohlgeformten Vortragsweise (vgl. Gould 1996, 43⫺47; v. Weizsäcker 1960, 139 f.; vgl. auch 4.5). Schon in der Antike wurden in den Naturwissenschaften Illustrationen verwendet. Zunächst fanden sich in Texten Verweise auf Illustrationen, die bei einem Vortrag des Textes zur Erläuterung verwendet worden sind, zum Beispiel als Zeichnungen im Sand oder auf Wachstafeln. Mit der Zeit wurden illustrierende Skizzen in naturwissenschaftliche Texte eingefügt. Teilweise wurden von bestimmten Texten einzelne Prachtsausgaben hergestellt mit sorgfältig ausgearbeiteten, farbigen Zeichnungen, während man sich in anderen Fällen mit bloßen Textausgaben begnügte. Auch bei späteren Ausgaben eines Textes wurden die Illustrationen oft weggelassen, weshalb der größte Teil der naturwissenschaftlichen und technischen Illustrationen aus der Antike verlorengegangen ist (vgl. Stückelberger 1994, 11⫺26). Ein vielbenutztes Mittel der Visualisierung in den Naturwissenschaften sind Graphen, graphische Darstellungen mathematischer Relationen und Funktionen. Das hängt so-
1960 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart wohl mit der Bedeutung mathematischer Formalisierungen zusammen wie mit der Tatsache, dass Auswertung und Interpretation von Experimenten in den Naturwissenschaften fundamental sind. In einem Graphen werden die Beziehungen zwischen mehreren physikalischen Größen, die auch durch eine Formel mathematisch beschrieben werden können, visuell dargestellt. Graphen erleichtern auch die Auswertung der Ergebnisse von Experimenten. Werden Messresultate als Punkte in ein geeignetes Koordinatensystem eingetragen, werden Besonderheiten sowie Zusammenhänge zwischen den gemessenen Größen und Hinweise auf Gesetzmäßigkeiten eher augenfällig. Es handelt sich bei Graphen um ein Darstellungsmittel, mit dem Zusammenhänge sichtbar gemacht werden können, das es aber auch ermöglichen kann, Zusammenhänge überhaupt erst zu entdecken. Diagramme können Anschauung und analytischen Zugang verbinden und dadurch Erklärungen und Vorhersagen eines Phänomens ermöglichen. Ein berühmtes Beispiel stellen die Feynman-Diagramme dar, mit denen der Physiker Feynman eine anschauliche Darstellung quantenfeldtheoretischer elementarer Wechselwirkungen vorlegte (vgl. Kemp 2003, 153 ff.). Unterschiedliche Arten von Visualisierungen ein und desselben naturwissenschaftlichen Phänomens hängen auch mit fachlichen Sichtweisen auf das betreffende Phänomen zusammen. So kann in der Chemie ein Molekül auf sehr unterschiedliche Weise bildlich wiedergegeben werden: (vgl. Hoffmann/Laszlo 1991, 4 ff.; Niederhauser 1996, 51 f.). Eine bestimmte Visualisierung hebt bestimmte Aspekte eines Phänomens hervor, gibt bestimmte fachliche Sichtweisen wieder. Die erkenntnisleitende Kraft visualisierender Darstellungen in den Naturwissenschaften zeigt sich nicht zuletzt bei schematischen Skizzen, die im Zusammenhang der ersten Veröffentlichungen neuer Hypothesen angefertigt und teilweise auch publiziert werden und die Träger des Denkprozesses sein können. Hier lässt sich die Beobachtung machen, „dass sich der Wert der naturwissenschaftlichen Visualisierung oftmals weniger nach der handwerklichen Könnerschaft als vielmehr nach ihrer Fähigkeit bestimmt, den gedanklichen Prozess zu forcieren“ (Bredekamp 2005, 11). Eindrückliche, berühmt gewordene Beispiele sind Skizzen zur Entwicklung von Modellen der Evolution (zunächst dienten eher Korallen als leitendes Bild, erst später erfolgte der Wechsel zum ausgewachsenen Stammbaum, vgl. Bredekamp 2005, 16⫺28; 50⫺61; Gould 1996, 48⫺69) oder der Struktur der Doppelhelix der DNA (aus anfänglich feinen symmetrischen Verbindungen im Molekül bildete sich immer mehr eine Spirale in Form einer festen Wendeltreppe heraus, vgl. Pörksen 1997, 122⫺127; Pörksen 1998b, 336⫺342). Einzelne Bilder können sich verfestigen und sich mit einer Theorie verbinden. In den Naturwissenschaften „gehört zu fast jeder wichtigen Theorie ein charakteristisches Bild“ (Gould 1996, 48). Diese charakteristischen Bilder können eine starke rhetorische Kraft entfalten und die Wahrnehmung einer Theorie in der Fachwelt und einer weiteren Öffentlichkeit regelrecht prägen: Sie werden zu „kanonischen Bilder[n]“ (Gould 1996, 47). Pörksen (1998b, 343 f.) spricht von „wissenschaftlich kanonisierten“ Bildern, die zu „Visiotypen“ werden können. „Visiotyp“, eine Parallelbildung zu „Stereotyp“, bezeichnet sich rasch standardisierende Visualisierungen, die zu allgemein gängigen Bildern für einen Begriff oder eine Theorie geworden sind und in der Art eines Schlagworts Diskussionen prägen (Pörksen 1997, 27 ff.; 168⫺174; 256⫺287; 1998b 340 ff.). Beispiele solcher kanonischer Bilder oder Visiotype naturwissenschaftlicher Theorien sind der Stammbaum der Evolution, die Spirale der DNA oder Planetenbahnbilder des Bohrschen Atommodells, bei denen das Atom als miniaturisiertes Planetensystem aufge-
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fasst wird. Solche Bilder prägen die Vorstellungen über die naturwissenschaftliche Theorie, für die sie zum Begriff geworden sind. Gerade in ihren weitverbreiteten Formen, die in der Regel stilisiert und stark verdeutlichend sind, entfalten solche Bilder eine Überzeugungskraft, die auch zu falschen Vorstellungen über bestimmte naturwissenschaftliche Konzepte führen kann. So haben die anschaulichen Planetenbahnvorstellungen von Atomen eigentlich nicht mehr viel mit dem Atombegriff der Quantenphysik zu tun (vgl. Falkenburg 1999, 96 f.; 107⫺110; Niederhauser 1999, 86 f.). Der Stammbaum als Bild für die evolutionäre Entwicklung hat die falsche Vorstellung gefördert, Evolution sei gleichzusetzen mit vorhersehbarem Fortschritt, mit stetigem Aufstieg zu einem Höhepunkt (vgl. Gould 1996, 48⫺51; 57⫺64; Pörksen 1998b, 330⫺335). Die rhetorische, das Denken prägende Kraft solcher kanonischer Bilder in den Naturwissenschaften erkennt man auch daran, dass beispielsweise das Baummotiv trotz kritischer Einwände namhafter Wissenschaftler seinen Wert als Leitmotiv in der Biologie bewahrt hat (vgl. Bader 2005, 35; 46 f.; Bredekamp 2005, 73⫺77; Kemp 2003, 138 ff.). Als Folge der Möglichkeiten der Computersimulation und der computerisierten Erstellung von Bildern und Grafiken ist in den Naturwissenschaften die Visualisierung von wissenschaftlichen Phänomenen und von experimentellen Ergebnissen zunehmend wichtiger geworden. Diese Entwicklung bringt es mit sich, dass Visualisierungen allmählich auch zu einem wissenschaftlichen Argument werden: „As such, scientific visualization has taken its place beside mathematical modeling as an everyday means of interacting with one’s data. This has significantly changed both the amount and the quality of information that scientists are able to extract from raw data, and has effectively established a new paradigm for scientific computing.“ (Wolff/Yaeger 1993, xi).
6. Schönheit als Argument Kanonische Bilder (vgl. 5) wirken nicht zuletzt durch ihre Schönheit. Das heißt, Schönheit kann in den Naturwissenschaften als Argument für Qualität eingesetzt werden, kann rhetorischen Wert haben. Augenfällig zeigt sich das bei denjenigen Bildern, die bewusst kunstvoll gestaltet wurden, um die Schönheit bestimmter naturwissenschaftlicher Objekte und damit letztlich die Schönheit der Natur zeigen zu können. Programmatisch bringt dies ein Buchtitel wie „Kunstformen der Natur“ (Haeckel 1904) zum Ausdruck. Der Zoologe Haeckel präsentierte in diesem Werk in hundert Tafeln mit eindrucksvollen Bildern die Formenvielfalt der Natur, wobei er Symmetrien in der Natur stark hervorhob. Auf die ästhetische Wirkung von Bildern setzen auch renommierte allgemeine Wissenschaftszeitschriften, allen voran das Wissenschaftsmagazin Nature, in dem Illustrationen von Anfang an eine zentrale Rolle spielten: Schon die ersten Ausgaben wurden als „a Weekly Illustrated Journal of Science“ angekündigt (vgl. Kemp 2003, 260⫺266). Erst recht setzen populärwissenschaftliche Darstellungen auf faszinierende Bilder als Blickfang (vgl. Niederhauser 1999, 185⫺196). Durch Schönheit bestechen können nicht nur Bilder, sondern auch Gleichungen, mathematische Herleitungen eines physikalischen Sachverhalts oder Experimente. Die ästhetische Wirkung einer bestimmten Darstellung kommt also in den Naturwissenschaften nicht nur bei Illustrationen zum Tragen: „Great equations are just as rich a stimulus as poetry to the prepared imagination.“ (Farmelo 2002, xii). Vertrautheit mit naturwissen-
1962 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart schaftlichen Themen ist erforderlich, um den ästhetischen Wert eines Experiments erkennen zu können. Bei diesem Schönheitsbegriff geht es nämlich nicht um sinnlich ins Auge Fallendes, sondern um die Schönheit einer besonders eleganten oder idealen intellektuellen Leistung. Die Schönheit eines Experiments liegt in der Art und Weise, wie es erlaubt, Aussagen über bestimmte Phänomene zu treffen (vgl. Crease 2003, xii⫺xxiii; 211⫺217). Drei Elemente bestimmen die Schönheit eines Experiments: „depth, efficiency, and definitiveness“ (Crease 2003, xix). Ein schönes Experiment muss eine Aussage von einer gewissen Tiefe über ein Phänomen unserer Welt ermöglichen, also grundlegende Resultate liefern. Es soll auf ökonomische Weise ablaufen, keine unnötigen Schritte enthalten. Schließlich soll sich sein Resultat ohne weitere Verallgemeinerungen oder Schlussfolgerungen ergeben: „if questions are raised, they are more about the world (or the theory) than about the experiment itself“ (Crease 2003, 214). Die Schönheit einer Formel oder einer mathematischen Herleitung ist ebenfalls mit Klarheit und mit der aus der Formel ableitbaren Erkenntnis, ihrer Allgemeingültigkeit und ihrem Geltungsumfang verbunden: „An additional quality of a good scientific equation is that it has utilitarian beauty“ (Farmelo 2002, xiv). Schönheit und Eleganz einer Formel, einer mathematischen Herleitung oder eines Experiments erschließt sich nur denjenigen, die mit naturwissenschaftlichem Fachwissen vertraut genug sind. Ihnen kann die Schönheit einer Formel, einer Herleitung oder eines Experiments als Argument für die Beurteilung einer wissenschaftlichen Leistung dienen.
7. Literatur (in Auswahl) Bader, Barbara u. a. (Hrsg.) (2005): Einfach komplex. Bildbäume und Baumbilder in der Wissenschaft. Zürich. Born, Max (1964): Die Relativitätstheorie Einsteins. Berlin/Göttingen/Heidelberg. Brandt, Christina (2004): Metapher und Experiment. Von der Virusforschung zum genetischen Code. Göttingen. Bredekamp, Horst (2005): Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die Traditionen der Naturgeschichte. Berlin. Burke, Peter (2001): Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin [Orig.: A Social History of Knowledge. Cambridge 1997]. Cahn, Michael (1991): Der Druck des Wissens. Geschichte und Medium der wissenschaftlichen Publikation. Wiesbaden. Chargaff, Erwin (1986): How Scientific Papers Are Written. In: Fachsprache 8, 106⫺110. Crease, Robert P. (2003): The Prism and the Pendulum. The ten most beautiful Experiments in Science. New York. Danneberg, Lutz (2002): Sinn und Unsinn einer Metapherngeschichte. In: Hans Erich Bödeker (Hrsg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Göttingen, 259⫺421. Danneberg, Lutz/Jürg Niederhauser (Hrsg.) (1998a): Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie. Tübingen (Forum für FachsprachenForschung, 39). Danneberg, Lutz/Jürg Niederhauser (1998b): „… dass die Papierersparnis gänzlich zurücktrete gegenüber der schönen Form.“ Darstellungsformen der Wissenschaften im Wandel der Zeit und im Zugriff verschiedener Disziplinen. In: Danneberg/Niederhauser (1998a), 23⫺102. Davis, Philip J./Reuben Hersh (1987): Rhetoric and Mathematics. In: John S. Nelson/Allan Megill/ Donald N. McCloskey (eds.): The Rhetoric of the Human Sciences. Madison, Wis., 53⫺68.
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1963
1964 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Kutschmann, Werner (1986): Von der Natursprache zur Warensprache. Die Sprache der Naturwissenschaften zwischen Objektivität und sinnlicher Verlockung. In: Theo Bungarten (Hrsg.): Wissenschaftssprache und Gesellschaft. Aspekte des Wissenstransfers in der heutigen Zeit. Hamburg, 94⫺112. Lepenies, Wolf (1976): Das Ende der Naturgeschichte. München/Wien. Locke, David (1992): Science as Writing. New Haven/London. Mittelstaedt, Peter (1986): Sprache und Realität in der modernen Physik. Mannheim/Wien/Zürich. Mittelstaedt, Peter (1999): Sprache und Wirklichkeit in der Quantenphysik. In: Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.): Sprache und Sprachen in den Wissenschaften. Geschichte und Gegenwart. Berlin/ New York, 64⫺88. Niederhauser, Jürg (1995): Metaphern in der Wissenschaftssprache als Thema der Linguistik. In: Lutz Danneberg/Andreas Graeser/Klaus Petrus (Hrsg.): Metapher und Innovation. Bern (Berner Reihe philosophischer Studien, 16), 290⫺298. Niederhauser, Jürg (1996): Darstellungsformen von Wissenschaften als Thema der Fachsprachenforschung. In: Hartwig Kalverkämper/Klaus-Dieter Baumann (Hrsg.): Fachliche Textsorten. Komponenten ⫺ Relationen ⫺ Strategien. Tübingen (Forum für Fachsprachen-Forschung, 25), 37⫺64. Niederhauser, Jürg (1998): Parodien von Wissenschaft im Lichte der Fachsprachenforschung. In: Lita Lundquist/Heribert Picht/Jacques Qvistgaard (eds.): LSP ⫺ Identity and Interface. Research, Knowledge and Society. Proceedings of the 11th European Symposium on Language for Special Purposes, Copenhagen 1997. Kopenhagen. Bd. 2, 708⫺717. Niederhauser, Jürg (1999): Wissenschaftssprache und populärwissenschaftliche Vermittlung. Tübingen (Forum für Fachsprachen-Forschung, 53). Peirce, Charles Sanders (1904): Einige verstreute oder gestohlene Ideen über das wissenschaftliche Schreiben. In: Charles S. Peirce: Semiotische Schriften. Hrsg. u. übers. v. Christian Koesel/Helmut Pape, Frankfurt a. M. 1990, Bd. 2, 238⫺245. Petrus, Klaus (1995): Metapher, Verständlichkeit, Wissenschaft. In: Lutz Danneberg/Andreas Graeser/Klaus Petrus (Hrsg.): Metapher und Innovation. Bern (Berner Reihe philosophischer Studien, 16), 299⫺314. Pörksen, Uwe (1986): Deutsche Naturwissenschaftssprachen. Tübingen (Forum für FachsprachenForschung, 2). Pörksen, Uwe (1997): Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Visiotypie. Stuttgart. Pörksen, Uwe (1998a): Deutsche Sprachgeschichte und die Entwicklung der Naturwissenschaften. Aspekte einer Geschichte der Naturwissenschaftssprache und ihrer Wechselbeziehung zur Gemeinsprache. In: Werner Besch u. a. (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Aufl. Berlin/New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 2), Bd. 1, 193⫺210. Pörksen, Uwe (1998b): Blickprägung und Tatsache. Veranschaulichungsstufen der Naturwissenschaften ⫺ von der hypothetischen Skizze bis zum öffentlichen Idol. In: Danneberg/Niederhauser (1998a), 321⫺347. von Polenz, Peter (1981): Über die Jargonisierung von Wissenschaftssprache und wider die Deagentivierung. In: Theo Bungarten (Hrsg.): Wissenschaftssprache. Beiträge zur Methodologie, theoretischen Fundierung und Deskription. München, 85⫺110. Russell, Bertrand (1925): Das ABC der Relativitätstheorie. München. Nachdruck hrsg. v. Felix Pirani. Reinbek bei Hamburg 1972. Shapin, Steven (1996): The Scientific Revolution. Chicago/London. Staehr, Christian (1986): Spurensuche. Ein Wissenschaftsverlag im Spiegel seiner Zeitschriften 1886⫺1986. Stuttgart/New York. Stichweh, Rudolf (1984): Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740⫺1890. Frankfurt a. M. Stückelberger, Alfred (1994): Bild und Wort. Das illustrierte Fachbuch in der antiken Naturwissenschaft. Mainz.
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Weinrich, Harald (1989): Formen der Wissenschaftssprache. In: Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Jahrbuch 1988. Berlin/New York, 119⫺158. Weinrich, Harald (1995): Wissenschaftssprache, Sprachkultur und die Einheit der Wissenschaft. In: Kretzenbacher/Weinrich (1995), 155⫺174. von Weizsäcker, Carl Friedrich (1960): Die Sprache der Physik. In: Sprache und Wissenschaft. Vorträge gehalten auf der Tagung der Joachim-Jungius-Gesellschaft in Hamburg am 29. und 30. Okt. 1959. Göttingen, 137⫺153. Wolff, Robert S./Larry Yaeger (1993): Visualization of Natural Phenomena. New York u. a.
Jürg Niederhauser, Bern (Schweiz)
117. Rhetorik und Stilistik in der Translationswissenschat 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Vorbemerkungen Literaturhinweise Begriffsbestimmungen Rhetorik und Stilistik in der Translation Dolmetschen Ausbildung Literatur (in Auswahl)
Abstract The article assumes that no form is in itself rhetorically or stylistically marked. Forms are attributed a special effect in the process of their production or reception. In this context, the difference between text as a process, where markedness can be assumed, and texteme as a neutral virtual entity becomes decisive. Translation is understood as the production of a nonverbal or partly verbal textual form stimulated by a temporally previous hetero-cultural form. Coherence between source and target text becomes a culture-specific convention. Markedness is culture-specific and so are its strategies. Any attempt to compare strategies, texts and markedness is case-specific and depends on an indefinite number of conditions.
1. Vorbemerkungen Im folgenden können nur einige Aspekte des Themas behandelt werden. Was in einsprachigen und komparativen Rhetoriken und Stilistiken abgehandelt wird, wird vorausgesetzt und braucht nur insoweit wiederholt zu werden, als dadurch das Verständnis von Besonderheiten der Translation erleichtert wird. Das in den genannten Rhetoriken und Stilistiken Dokumentierte muß weitgehend noch translationstheoretisch und für jeden
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Weinrich, Harald (1989): Formen der Wissenschaftssprache. In: Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Jahrbuch 1988. Berlin/New York, 119⫺158. Weinrich, Harald (1995): Wissenschaftssprache, Sprachkultur und die Einheit der Wissenschaft. In: Kretzenbacher/Weinrich (1995), 155⫺174. von Weizsäcker, Carl Friedrich (1960): Die Sprache der Physik. In: Sprache und Wissenschaft. Vorträge gehalten auf der Tagung der Joachim-Jungius-Gesellschaft in Hamburg am 29. und 30. Okt. 1959. Göttingen, 137⫺153. Wolff, Robert S./Larry Yaeger (1993): Visualization of Natural Phenomena. New York u. a.
Jürg Niederhauser, Bern (Schweiz)
117. Rhetorik und Stilistik in der Translationswissenschat 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Vorbemerkungen Literaturhinweise Begriffsbestimmungen Rhetorik und Stilistik in der Translation Dolmetschen Ausbildung Literatur (in Auswahl)
Abstract The article assumes that no form is in itself rhetorically or stylistically marked. Forms are attributed a special effect in the process of their production or reception. In this context, the difference between text as a process, where markedness can be assumed, and texteme as a neutral virtual entity becomes decisive. Translation is understood as the production of a nonverbal or partly verbal textual form stimulated by a temporally previous hetero-cultural form. Coherence between source and target text becomes a culture-specific convention. Markedness is culture-specific and so are its strategies. Any attempt to compare strategies, texts and markedness is case-specific and depends on an indefinite number of conditions.
1. Vorbemerkungen Im folgenden können nur einige Aspekte des Themas behandelt werden. Was in einsprachigen und komparativen Rhetoriken und Stilistiken abgehandelt wird, wird vorausgesetzt und braucht nur insoweit wiederholt zu werden, als dadurch das Verständnis von Besonderheiten der Translation erleichtert wird. Das in den genannten Rhetoriken und Stilistiken Dokumentierte muß weitgehend noch translationstheoretisch und für jeden
1966 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart praktischen Fall aufgearbeitet werden. Der vorliegende Beitrag soll darauf hinführen. Es wird eine relative Geltung von Behauptungen zu Grunde gelegt. Behauptungen haben die probabilistische Struktur einer Hypothese.
2. Literaturhinweise Rhetorik und Stil(-istik) wurden translationswissenschaftlich selten eingehend behandelt (vgl. Kußmaul 1998, 70⫺72: „Stilistik“). Das „Handbuch Translation“ (Snell-Hornby u. a. 1998) enthält kein Stichwort „Rhetorik“, erwähnt sie aber mehrfach en passant. Die „Encyclopedia of Translation Studies“ (Baker/Malmkjær 1998) weist weder einschlägige Artikel noch entsprechende Stichwörter im Index auf. Weitere Beiträge sind wenig ergiebig (vgl. z. B. Noffke 1968; Stolt 1978; Langeveld 1983; Vermeer 1988; Lommatsch 1990; Vermeer 1991; Aoki 1992; Reichert 1992; Frank 1992; Walter 1992; Malmkjær 1994; Malmkjær 2003; Malmkjær/Carter 2002). Allerdings lassen sich zahlreiche Stellen in Monographien und Aufsätzen auf translatorisch relevante stilistische Fragen und Probleme hin lesen. Zumeist werden literarische Beispiele bilingual kontrastiv besprochen (weitergehend hier Kupsch-Losereit 1982; vgl. auch Kupsch-Losereit/Kußmaul 1982; detailliert bei Carpintero 2004, besonders 5⫺57). Publikationen zur translationsrelevanten Rhetorik fehlen fast ganz (vgl. Tapia Zu´n˜iga 1996 zu Ciceros angeblicher Übersetzung zweier griechischer Reden; Vermeer 2005; Stärke-Meyerring 2005). Publikationen wie die vorgenannten beschränken sich fast ausschließlich auf verbale Texteme. Graphiken gehören ebenfalls zu Textemen und müssen übersetzt werden. Verbale Texte werden in Filme oder Bilder und Melodien in verbale Texte übersetzt usw. Den bisher umfassendsten Überblick zur Translation plurimedialer Texte gibt Kaindl (1995; 2004) anhand von Libretti- und Comicübersetzungen. Die Rolle von Translatoren und Translaten in der transkulturellen (und u. U. translingualen) Übertragung rhetorischer und stilistischer Phänomene und Lehren bleibt bisher zumeist auf literaturphilologische Untersuchungen beschränkt. Sie gehen kaum auf spezifisch translatorische Probleme ein (vgl. z. B. Barner 1970 zum im wesentlichen doch zweisprachig lateinisch-deutschen Barock; Kopperschmidt 1990 f.; Köbele 1993 zu Meister Eckhart). Allerdings kann sich eine translationswissenschaftliche Rhetorik und Stilistik erst entwickeln, wenn die linguistisch-retrospektive „So-wörtlichwie-möglich“-Maxime (wobei „möglich“ und „nötig“ undefiniert bleiben müssen) überwunden wird. Zu einem kulturspezifisch-machtpolitischen Begründungsversuch vergleiche Venuti (1995), der auf Grund der derzeitigen Situation in den USA, angeblich im Anschluß an Schleiermacher (1838; doch vergleiche Snell-Hornby 2004) für eine verfremdende („foreignizing“) Translation eintritt. Venutis foreignization vergißt kulturelle und sprachliche Unterschiede in Stil und Rhetorik. Den folgenden Ausführungen liegen Überlegungen aus Vermeer (2006) zu Grunde.
3. Begrisbestimmungen Eine nonverbale/primär verbale Produktion/Rezeption in actu als Einheit heiße Text (z. B. ein Gemälde, eine Symphonie, ein Aufsatz), das medial fixierte, wiederholt abrufbare Handlungsresultat Textem (vgl. Vermeer 1990; vgl. Phon vs. Phonem etc.). Es gibt
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nur-nonverbale Text(em)e; es gibt keine nur-verbalen Text(em)e. Verbales Handeln wird immer von nonverbalen Elementen begleitet (vgl. die Paralinguistik). Translation sei im folgenden Oberbegriff für Dolmetschen und Übersetzen als Handlung (Prozeß), Translat Oberbegriff für Verdolmetschung und Übersetzung als Produkt. Ein Translator ist in einem komplexen sozialen Umfeld (vgl. Kaindl 2004, 123⫺136, besonders 128⫺136) Rezipient einer ausgangskulturellen Form und Produzent eines heterokulturellen Translats (sowie Beobachter von Evaluierungen). Mitunter wird ein Translator bei Fachtexten zum intendierten Rezipienten, wenn der Ausgangstext ausdrücklich zur Translation produziert wird (vgl. House 1977 und 1997 zur „overt“ und „covert“ Translation; Neubert 1968, 30). Translation wird nicht als Übertragung (das ´ bersetzen führt irre), sondern als kulturspezifische sekundäre Bild vom Überse´tzen als Ü Produktion infolge eines Stimulus durch die Rezeption eines gegebenen Ausgangstexts verstanden. Rhetorik sei die Lehre vom Rhetorischen (das ebenfalls Rhetorik genannt wird; der Kürze halber wird der Ausdruck hier ohne Differenzierung beibehalten), Stilistik die Lehre vom Stil(-istischen). Rhetorisch heißen im folgenden nonverbale oder vorwiegend verbale, evtl. plurimediale, kulturspezifische Handlungsformen in Gebrauch, deren Einsatz nach der Intention des Handelnden (Produzenten) markiert wirken soll bzw. nach der Interpretation eines Rezipienten wirkt. Stilistisch heißen im folgenden nonverbale oder vorwiegend verbale, evtl. plurimediale, kulturspezifische Formen in Gebrauch, deren Einsatz nach der Intention des Handelnden (Produzenten) (vor allem) ästhetisch wirken soll bzw. nach der Interpretation eines Rezipienten wirkt. Eine komplexe Form heißt auch Struktur. Auch Ze´ro ist eine Form (vgl. das Schweigen). Wirkung im vorstehenden Sinn muß formal markiert oder als markiert angenommen werden. Rhetorische und stilistische Phänomene dienen dazu, die Relevanz der Funktion eines Texts oder Textteils zu überhöhen. Sprachgebrauch wird hier als Teil kulturellen Handelns, d. h. intentionalen Verhaltens, betrachtet. Analog zu dem Gesagten unterliegt er kultur- und sprachspezifischen (grammatischen) Regeln. Regularitäten kanalisieren und bekräftigen oder schwächen interaktionales (hier: rhetorisches und/oder stilistisches) Handeln. Wirkungsbedingungen hängen individuell fall- und hierbei situationsspezifisch von indefinit vielen Faktoren(-systemen) ab. Formen können im Gebrauch informativ wirken (vgl. die metrische Bindung). Aber Wirkung (Evaluierung, Funktion, Sinn) ist Formen nicht inhärent. Wirkung wird als kulturell überformtes individuell-momentanes Phänomen nur im Gebrauch einer Form fallspezifisch in gegebener Situation evoziert. Man kann nicht nicht evaluieren. Deshalb wird im vorliegenden Beitrag von der Form ausgegangen. Kein Gemälde, keine Drucktype ist (an sich) schön. Es/sie wird es u. U. in der evaluierenden Meinung eines Betrachters. Der Gebrauch einer Form (vgl. Dialekte usw.) und seine Wirkung gelten für den Produzenten bzw. (in je anderer Weise) für jeden Rezipienten fallspezifisch-situativ holistisch, d. h. konnotativ (d. h. emotiv, evaluativ, assoziativ) und, soweit (zu ~ 10 %) bewußt werdend, denotativ (kognitiv, rational). Die Terminologie verführt: Gegenüber Denotaten sind Konnotate die Hauptsache (vgl. Damasio 1994; 1999; 2003; Roth 2001; 2004). Konnotate sind individuell-momentane Phänomene mit temporalen Wirkungen. Denotate werden als Generalisierungen mit temporaler Dauer angenommen. Wissenschaft verfährt denotativ. Konnotate sind in Art, Intensität und Ausdruck momentan-individuell und werden kulturspezifisch, situationell und z. T. vom Skopos mitbedingt (vgl. die Annahme kulturspezifischer Emotionspegel bei Vermeer 1985, 475).
1968 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart Zwischen oraler und schriftlicher Translation besteht ein Unterschied in der Möglichkeit, Konnotate auszudrücken. Orale Rede kann von Weinen begleitet werden (vgl. oben zum Non-Verbalen), der Übersendung eines verschrifteten Texts (eines Textems) kann kein Weinen beigelegt werden. In schriftlicher Fixierung können Konnotate nur durch wenige Zeichen (wie Ausrufezeichen, Kursive, Fettdruck, Schreibtype) angedeutet, ansonsten nur be-, nicht geschrieben werden. Multimediale Texte haben größere Möglichkeiten. Gebrauch geschieht immer in einer realen oder imaginären (vgl. den Traum) Situation. Gebrauch wird hier möglichst nicht-agential verstanden. Situation sei die für ein Individuum als geltend angenommene kulturspezifisch überformte, perspektivische Umwelt, in der gehandelt wird. Ein Organismus wird durch kulturelle Überformung an angenommene Situationstypen angepaßt. Situationselemente dienen implizit oder explizit als Bezugsgrößen. Vermeers „Mädchen mit Brief“ wirkt je nach der Interpretation in einer Situation, in der das Bild unter einer aktuellen Perspektive betrachtet wird (im Vergleich zu anderen Bildern des Malers, zu anderen Bildern anderer Maler im selben Museumsraum usw.) rhetorisch-stilistisch unterschiedlich. Eine vielfach angenommene semantische Rhetorik bzw. Stilistik gibt es nicht. Tatsächlich verlaufen alle Wirkungen über Formen, wenn auch eine praktische Differenzierung mitunter schwierig ist. Daher wird hier in Bezug auf Funktionen, Semantik usw. nicht von rhetorischer und stilistischer Markierung gesprochen. Doch zwirnen sich Rhetorik und Stil(-istik) im Gebrauch ineinander. Sie können nicht mehr logisch erfaßt werden. Man unterscheidet vertikal/semantisch Intensitätsebenen, u. a. einen wörtlichen (overt), indirekten (metaphorischen, allegorischen, covert) und tiefenpsychologischen Sinn, und horizontal/formal je nach ihrer Komplexität Formen von der Phonetik/Graphetik bis zum Text und zur Kultur. Rhetorik und Stil können Denotativa zurückdrängen (vgl. den Gebrauch metrisch gebundener Texte statt Prosa in der antiken und mittelalterlichen Wissenschaft). Ein Redner wirkt mit seinem gesamten Verhalten. Schriftlich produzierte und damit der Unmittelbarkeit oraler Kommunikation entzogene Formen bilden andere Rhetoriken und Stile aus. Für moderne mediale Träger gilt dies in nochmals anderer Weise. Stil und Rhetorik werden je nachdem, ob ein Translat hand-, maschinenschriftlich oder in leicht korrigierbarer elektronischer Form aufgezeichnet wurde, anders rezipiert (vgl. die Problematiken einer Filmsynchronisation). Zudem müssen bei schriftlicher und elektronischer Produktion Korrektur- und Kopiermöglichkeiten (z. B. Austausch von Stimmen; vgl. den Gebrauch derselben Stimme für verschiedene Schauspieler in verschiedenen synchronisierten Filmen) beachtet werden. Analoges gilt für die Rezeption (vgl. das Vorlesen, die Buchgestaltung, die Medialisierung). Massenproduktion problematisiert die Analogisierung oder Diversifizierung rhetorischer und stilistischer Formen. Emotionale (z. B. religiöse) Einstellungen und Historizitätsbewußtsein beeinflussen die Produktion und Rezeption (vgl. die Ehrfurcht vor Bibel und Koran, vor alten Manuskripten, oder die Unterschiede zwischen Goethe in Fraktur und Antiqua). Zu berücksichtigen sind auch die Interdependenzen zwischen den genannten und weiteren Möglichkeiten. Jeder Gebrauch und seine Wirkungen und Folgen werden für einen Produzenten und für jeden Rezipienten fallspezifisch-situativ unter der jeweilig eingenommenen Perspektive eines Skopos andere. Ein Beobachter ist Rezipient. Für die vorliegenden Ausführungen gilt jeweils die Differenz von Selbst- und Fremdevaluierung. Habermas (1988 et passim) irrt, wenn er von einer Situation für mehrere Partner spricht. Rhetorische und stilistische Formen sind in der hier intendierten holistischen Analyse kulturell überformte individuelle Phänomene. Eine Analyse muß damit auf zwei Ebenen
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ansetzen: der individuell-momentanen und der gesellschaftlich-kulturellen, die durch Generalisierungen zustande kommt und somit zu verschiedenen Zeiten iterativ angewandt werden kann. Als Beispiel denke man an eine Translation des Korans aus dem Arabischen ins Deutsche. Die rhetorische und ästhetische Wirkung eines rezitierten Verses wird durch die religiös-kulturelle Einstellung des Rezipienten mit-evoziert und z. B. in der stummen Lektüre einer schriftlichen Fixierung zu einer auf Semantik reduzierten Wortsequenz. Die Vieldeutigkeit des Ausgangstextems geht in der Translation weitgehend verloren bzw. wird durch andere Möglichkeiten ersetzt. Eine angebliche Treue zum Ausgangstext(-em) reduziert ein Translat u. U. auf möglichst logische Eindeutigkeit (vgl. den Versuch, die Suren nach ihren angenommenen Entstehungszeiten zu ordnen). Der ältere Ausdruck Stilebene verweist auf quasi habituell gewordene kulturelle Ähnlichkeit eines Gebrauchs zwischen Interaktions-/Kommunikationsteilnehmern. Die Stilebene wird im vorliegenden Beitrag als komplexe Stilform behandelt. Komplexen Formen wird durch Reduktion individueller Faktoren mit momentan möglicher Wandlung/ Veränderung über einen Raum-Zeit-Punkt hinaus durch kulturelle Generalisierung Dauer zugedacht. Vom Individualstil wird dann z. B. ein überindividueller Stil (Langeveld 1983: „collective style“) unterschieden. Zeit ist ein Individuale und objektiviertes Generale zugleich (die Zeit schleicht; die Vorlesung dauert 45 Minuten). Zeit hat zwei Richtungen: die sich in der individuellen Erinnerung ständig wandelnde vergangene Zeit als wirkende Spur auf das aktuelle Verhalten und die zukünftige Zeit, die zu Erwartungen wird. Kultur bedeutet Überindividualität. (Auch Idiokultur bezieht sich normalerweise auf eine relationale Dauer, also auf eine Menge momentaner Ereignisse als Einheit von temporaler Dauer.) Regelhaftigkeit entsteht (vor allem im kulturellen Bereich) als gesellschaftliche Anpassung durch die Reduktion individuellen Verhaltens auf gesellschaftlich-kulturelle Regeln. Dabei spielt eine angenommene Macht (traditionell auch eine übernatürliche) eine wiederum für jeden Beteiligten spezifische Rolle. Kultur wird hier (verkürzend) als gesellschaftlich erwartbares Verhalten (und evtl. das Wissen hierum) und seine Folgen (z. B. das Textem; vgl. auch die Wirkung von Evaluierungen) verstanden (zu Einzelheiten vgl. Göhring 1978, 10; Göhring 1980, 73 f.; Witte 2000, 51; zu Unterteilungen von Kultur vgl. Vermeer 1986, 186⫺195; Witte 2000). Kultur bedeutet das Zusammenspiel interdependenter Anpassungen (Enkulturation) von und an situationstypenadäquate(n) funktionale(n) Regeln, d. h. Konventionen, Normen oder Gesetze. Regeln überformen individuell-momentanes Verhalten. Regeln können Symbolwert erhalten; formales Verhalten kann zu Ritualen erstarren. Kultur überformt Individuelles (vgl. die Prägung, Erziehung, Enkulturation, Sozialisierung). So kommt es zu überindividuell ähnlichen Evaluierungen. Ein Kulturem sei nach Vermeer/Witte (1989, im Unterschied zu Oksaar 1988; vgl. Sager 1994, bes. 193⫺199) eine in komparativer Beobachtung festgestellte Eigenart einer Gesellschaft als markiertes Kulturspezifikum. Die Merkmalhaftigkeit kann im konnotativen oder/und denotativen Bereich liegen (vgl. den Faltenwurf von Ciceros Toga vs. Anzug und Krawatte des Advokaten X bei der Verteidigung seines Mandanten vor Gericht). Der Skopos und sein Ausdruck sind kulturspezifisch. Der kulturspezifische Habitus (Geschmack) bestimmt fallspezifisch skoposadäquat die Form des Zieltext(em)s. Skoposadäquatheit kann Unklarheit bedeuten (vgl. die diplomatische Rede). Handlungs-/ Sprachstrukturen beeinflussen Rhetorik- und Stilformen sowie ihre Funktionen (vgl. Ta-
1970 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart pia Zu´n˜iga 1996; Ammann 1993). In der türkischen Literatur sind Formenwiederholungen beliebt, im Deutschen nicht. Wiederholungen werden in türkischer Prosa stilistisch positiv, im Portugiesischen oft sogar in der Fachsprache negativ markiert; Binnenreime, Alliterationen und rhythmische Rede werden in der deutschen Prosaliteratur außer in Redensarten (in Wind und Wetter) mit seltenen Ausnahmen (vgl. Jean Paul; vgl. zum Englischen Dickens) negativ, in der klassischen Urduprosa positiv markiert. ⫺ Zu deutscher und antiker Satz- und Textlänge vgl. z. B. Vermeer (1983); zu Sprechgeschwindigkeit vs. Informationsmenge Vermeer (1989, 256 f.). Wie kann eine Prosatranslation metrisch gebundener Ausgangstexteme bewertet werden (vgl. Schadewaldts (1979) Homerübersetzung)? Die kulturspezifische Generalisierung wird auf der individuellen Ebene als Angebot zu gesellschaftlicher Integration aufgenommen. Das Individuum zeigt sich enkulturiert und verhält sich adäquat, indem es einschlägige Regeln im Verhalten und Handeln, auch Emotiva und Evaluativa berücksichtigt. Das reale Verhalten usw. ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel von Individualität und überindividueller Kulturspezifik. Ein Translator soll den/die intendierten Rezipienten auf Grund angenommener kultureller Konventionen einschätzen (evaluieren) können und daraufhin skoposadäquat mitintendieren. Es kommt aber immer wieder vor, daß die Rezipienten einem Translator unbekannt bleiben. Umgekehrt wird der Name des Translators oft den Rezipienten vorbehalten. Außerdem gibt es Grade der Evaluierbarkeit von Phänomenen. Handeln wird als aus einer indefinit komplexen Menge momentaner gerichteter Prozesse und Ereignisse, die in einem sich ständig wandelnden Organismus in seiner sich ständig verändernden Umwelt ablaufen, ent- und bestehend aufgefaßt. Alles Handeln und damit jede Evaluierung geschieht unter einer Perspektive. Handeln (mit seinen Folgen) ist ethisch relevant; das trifft auch auf Rhetorik und Stil zu (vgl. z. B. Bahadır 2000; 2007). Zentraler Begriff der hier zu Grunde gelegten funktionalen Handlungstheorie ist der Skopos, d. h. das Bestreben, ein Handlungsziel für intendierte Rezipienten x 1 optimal zu erreichen (vgl. Vermeer 1978 et passim; vgl. Holz-Mänttäri 1984). Der Skopos von Rhetorik und Stil sei die Kunst, Überreden und Überzeugen wirkungsvoll und ästhetisch zum πει´θειν/persuadere zusammenzuführen (vgl. die antike Gerichtsrede). Für ein Translat gilt ein anderer Skopos für jeden Rezipienten (einschließlich des Translators) als für den Ausgangstext in der Intention des Autors oder Senders. Der Skopos bedingt den kultur- und hierin fallspezifischen Einsatz von Translationsstrategien. Das intendierte Optimum und die dazu anzuwendende(n) Strategie(en) werden vom Translator als dem Translationsexperten bestimmt. Er kann sich hierbei beraten lassen bzw. einschlägige Informationen einholen und Vorschläge übernehmen. Durch eine Reduktion momentan-individueller Bedingungen und Faktoren werden virtuelle Generalia (Ähnlichkeiten, Frames, Konventionen, Habitu¯s, Zeichen, Begriffe usw.) als (z. B. auf ein vorgefaßtes Ziel hin) perspektivische, überindividuelle, temporale Regularitäten erzeugt. Sie sind notwendige, jedoch für ein Individuum grundsätzlich freibleibende Angebote (vgl. Göhring (1978) zu Sanktionen) zur Integration in eine Kulturgemeinschaft (Gesellschaft). Der Grad einer Enkulturation wird individuell und gesellschaftlich bestimmt. Durch Enkulturation entstehen für das Mitglied einer Kultur vermeintliche rhetorische und stilistische interindividuelle und interkulturelle Äquivalente (in früherer Zeit wurden lateinische Hexameter oft in Knittelverse übersetzt). Hinsichtlich der Translation sind Bedingungen für eine translatorische Äquivalenz bisher nicht befriedigend untersucht worden. Wahrscheinlich bedürfte es hierzu einer
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neuen Methodologie der Vergleichbarkeit und linguistischen Analysetechnik, die noch nicht in Sicht ist (zur Problematik des Vergleichs vgl. Vermeer 1996, 125⫺197). Wie läßt sich die angenommene, komparativ-perspektivisch gesehene relative Vagheit türkischer Wortinhalte bei gleichzeitiger Präzision syntaktischer Strukturen mit den geradezu umgekehrten Verhältnissen im Deutschen vergleichen? Translate werden individuell mit kulturspezifischer Überformung evaluiert (vgl. u. a. ihren Stellenwert in einer Gesellschaft; vgl. Even-Zohar 1978; Hermans 1985). Rhetorische und stilistische Phänomene erhalten in jeder Translation je andere Werte. Jede Selbst- oder Fremdevaluierung geschieht holistisch in einer gegebenen Situation. Dabei sind im Vergleich von Ausgangs- und jedem zugehörigen Zieltext indefinit viele Faktoren zu berücksichtigen. Dadurch ergeben sich individuell und gesellschaftlich-kulturell je andere Werte, weil der Produzent und jeder intendierte und nicht-intendierte Rezipient (einschließlich des Translators) je anders urteilt. Translation gerade rhetorischer und stilistischer Formen ist eine Probabilität. Bei der Evaluierung einer Translation sollte zuerst das Translat als eigenständiger Text beurteilt werden. In einem zweiten Schritt wird der zugehörige Ausgangstext analysiert. Erst an dritter Stelle werden Translat und Ausgangstext hinsichtlich ihrer Beurteilung miteinander verglichen. Rhetorik und Stil dienen der möglichst optimalen Erreichung eines Handlungsskopos. Markierungen ändern sich von einer Kultur und deren Sprache zu einer anderen. Der immer größere Zeitdruck läßt allerdings immer weniger Raum für Individualität. Die Globalisierung und die damit einhergehende Konzentration auf wenige Sprachen, möglichst das Englische, die sprachliche Überfremdung, das Übergewicht von Fachtexttranslationen und die Verarmung an Allgemeinbildung und ästhetischem Interesse besonders in Fach- und Wissenschaftsbereichen berühren auch die schöngeistige Translation (vgl. Cronin 2003, bes. 119⫺121). Ästhetik zählt in der modernen Lokalisierung und der Werbeindustrie wenig (vgl. Cronin 2003, 15⫺17). Mechanisierung und Routine (vgl. Wilss 1992) gehen heute leider vielfach vor Kreativität, und Anonymität verdrängt die Individualität.
4. Rhetorik und Stilistik in der Translation Translation ist weltweit ein gefragtes und, sieht man auf die Menge der Translationen und weniger auf ihre Qualität und ihren Status, ein blühendes Geschäft. Translation ist ein unbekanntes Phänomen. Deshalb wurde in den vorstehenden Abschnitten ausführlich über Grundlagen des Phänomens gesprochen. Die Komplexität von Translation und die Unmöglichkeit, sie in Regeln zu fassen, dürfte deutlich geworden sein. Ausgangstexteme werden nicht selten mehrfach übersetzt. Es gibt dann manchmal die (irrtümliche) Meinung, Translate veralteten schneller als Originale, sie müßten von Zeit zu Zeit re-noviert werden. Was tatsächlich beiseite gelegt wird, sind minderwertige Translate. Nicht jeder Translator ist ein Shakespeare. Auch Nicht-Translate veralten (vgl. das moderne Desinteresse an Goethe, Schiller, der Odyssee-Lektüre.) Rituell behauptete Texte erhalten oft ein Translationsverbot. Werden sie trotzdem übersetzt, geht ihr ritueller Wert verloren; sie werden zur gelegentlichen (Teil-)Lektüre. Das Urchristentum wollte „allen Völkern“ in ihren jeweiligen Sprachen predigen. Als es erstarrte, erschienen mehrfach Translationsverbote. Abweichungen zwischen Translaten auf Grund desselben Aus-
1972 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart gangstextems können den Werteverfall fördern. (Man weiß nicht, an welchen Text man sich halten soll.) Während auf der Mikroebene momentane Punkte unveränderlich und isoliert unvergleichbar nebeneinanderstehen (vgl. die Mikrophysik), kommt ein holistischer Einbezug von Kon- und Denotaten in raumzeitlich ausgedehnten Systemen erst auf der Ebene realer Vorkommen zustande. Konnotate bilden die Hauptsache, auch in der Translation. Für die Translation dialektaler Formen gibt es bisher keinen Konsens (vgl. Black und Indian English ins Deutsche). Vor allem Mischformen im Original bereiten Schwierigkeiten. Anders der Fall bei Lawrence Norfolks „Lempriere’s Dictionary“. Die weitgehend wörtliche Übersetzung von Hanswilhelm Haefs (1991/1992) wurde stark angefeindet (vgl. Geko 1995). Von der individuellen Perspektivität des Handelns wird eine historisch entstandene, konventionell gewordene kulturspezifische unterschieden. Zahlreiche Sprachen zwingen zum Gebrauch agentialer Strukturen: ich schreibe; die USA [sic] führen Krieg gegen den Terrorismus. Die Sprachbenutzer gewöhnen sich an solche Strukturen und glauben, sie spiegelten die Realität (vgl. Ammann 1993). Die kultur- und darin sprachspezifische habituelle Perspektivität zeigt sich auch in der Darstellung eines Geschehens: im Türkischen heißt es al gel (wörtlich: „kauf und komm wieder“), wohingegen man im Deutschen für gewöhnlich geh und kauf sagt. Der Sachverhalt ist dreiteilig: gehen, kaufen und bringen. Verbalisiert werden kulturspezifisch-ökonomisch zwei der drei Teile. In einer südindischen Erzählung heißt es in ausgangstextemnaher Translation: Eines Tages rief P.s Vater seinen Sohn und sagte ihm, er solle zur Post gehen und eine Briefmarke kaufen, und gab ihm Geld [dafür]. Im Deutschen würde üblicherweise gemäß dem hier geltenden kultur- und damit sprach- und stilspezifischen Gesetz der wachsenden Glieder (Behaghel 1930) formuliert: Eines Tages rief P.s Vater seinen Sohn, gab ihm Geld und sagte … Wer äquivalent übersetzt, markiert die (im Ausgangstext nicht gegebene) Verfremdung und evaluiert damit stilistisch anders als jemand, der in den angeführten Fällen zielkulturkonventionell übersetzt, dadurch zwar die Perspektive ändert, aber keine neue Markierung einführt. Äquivalenzstreben verfremdet einen Ausgangstext auf etwas in der Zielkultur Unübliches hin, verfehlt in dieser Hinsicht also gerade die rhetorisch-stilistische Äquivalenz. Lem (1985, Bd. 2, 359) nannte Äquivalenz einen Mythos, der aus einigen Beobachtungen von Ähnlichkeit auf Identität schließe. Andererseits kann Äquivalenzsuche tatsächlich zu poetischer Überhöhung führen, wenn heterokulturelle (und darin heterosprachliche) Formen neu in ein Zieltextem eingeführt werden und ihre Fremdheit als das Unerwartete ihn interessant macht (vgl. Buber/Rosenzweigs Übersetzung von Teilen des Alten Testaments von 1992; vgl. Parodie als Kunstgriff). Der von Voß (1781) in die deutsche Poetik eingeführte Hexameter wurde zwar von einem Moren zählenden zu einem Silben und Tonstellen zählenden Metrum, zugleich wurden die deutsche Syntax und die Wortwahl (auch aus historisierender Intention) verfremdet, doch galt der so angepaßte Hexameter (z. T. im Verein mit dem Pentameter) bald als typisches Metrum deutscher Klassik. Ein Translator beherrscht wie jeder Mensch die Rhetoriken und Stile seiner Arbeitskulturen nur zum Teil. Verantwortung zeigt sich im Bescheiden. Wissensumfänge (auch von Virtualitäten wie Sprache, Kultur usw.) werden erst in der Aktivierung zu einem Gebrauch feststellbar. Für translatorisches Handeln müssen außer den bereits genannten u. U. weitere Faktoren, z. T. in Personalunion, im nur wissenschaftlich-methodologisch trennbaren (vgl.
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Baudrillard 1972, 191⫺194) translatorischen Beziehungsnetz berücksichtigt werden: der Translationsinitiator, der Ausgangstextproduzent (Autor und/oder Sender), der Auftraggeber/Besteller, Konferenzorganisatoren, Lektoren, Redaktoren, Editoren usw. Mit ihren sozialen/geschäftlichen Interessen, Vorlieben, Meinungen, Produktions- und Rezeptionsbedingungen, Terminvorgaben, mit ihrer Verfügbarkeit von Arbeitsmitteln usw. (vgl. Holz-Mänttäri 1984; Robinson 2003a; 2003b; Kaindl 2004) können sie die Rhetorik und Stilistik einer Translation durch ihre Vorgaben, Erwartungen und Evaluierungen beeinflussen. Ein Translator bringt als Translatproduzent seine eigenen Vorstellungen über Rhetorik und Stil des Ausgangstextems, die Erwartungen seines Auftraggebers, die angenommenen Erwartungen der von ihm und seinem Auftraggeber intendierten Rezipienten mit ein (vgl. Robinson 2003b, 113⫺115). Skoposbildung und -realisierung unterliegen selbst wieder komplexen Bedingungen, Rückkoppelungen etc. Auch hierbei ist die kulturspezifische Perspektive ein bisher zu wenig diskutiertes Phänomen. In einer kapverdischen Erzählung steht der Satz „Plötzlich fing es an zu regnen.“ Ein deutscher Rezipient denkt sogleich an schlechtes Wetter. Der Erzähler fährt aber fort, auf der Straße hätten Leute vor Freude getanzt; die Pflanzarbeit konnte beginnen. Ein Translator soll Mißverständnisse vermeiden und den von ihm auf Grund seiner Kulturkenntnis interpretierten Sinn adäquat vermitteln. Mißverständnisse zerstören den Rezeptionsfluß und damit auch die rhetorische bzw. stilistische Wirkung. Ein Vergleich und eine vergleichende Evaluierung von Ausgangstext und Translat sind für einen Zielrezipienten, der der Ausgangskultur und -sprache nicht mächtig ist, normalerweise allerdings irrelevant. Für ihn zählt die Wirkung seines Zieltexts (mit ihren Folgen). Zu Güttingers (1963, 75) „versetztem Äquivalent“ steht bisher eine Untersuchung darüber aus, ob und unter welchen Bedingungen gegebenenfalls rhetorische und stilistische Phänomene, die an einer bestimmten Stelle des Ausgangstextems in der Rezeption durch den Translator nicht berücksichtigt werden können/sollen, an anderer Stelle eingefügt oder durch eine andere Handlung ersetzt werden können. Wie ist Wirkungsäquivalenz zu bestimmen (vgl. die Wirkung der Aufführung einer Komödie; vgl. Taraman 1986 zu Problemen von Brecht-Übersetzungen ins Ägyptisch-Arabische; vgl. Kuhn 1978 zur Translation chinesischer Romane ins Deutsche)? In einigen Kulturen fehlt bei Geschäftsbriefen eine Anrede; im Deutschen wird solches Fehlen negativ markiert. Implizit wurden im Vorstehenden Fragen und Beispiele zur Freiheit des Translators bei seiner Translation mitdiskutiert. In der Vergangenheit wurden die ethische Verantwortung des Translators und eine sich daraus ergebende Freiheit zu wenig beachtet (vgl. die von Nord seit 1986 initiierte Diskussion um Loyalität; vgl. Robinsons (1991) unterschiedliche a-, con-, di-, e-, per-, subversions). In diesem Zusammenhang ist auch die Möglichkeit einer „anderen“ Translation zu berücksichtigen (vgl. Begrich 2001 zu Gen. 9⫺11). Robinson (2003b et passim) diskutiert, ob ein Translator in seiner Rolle performativ handeln kann. Dazu eine auch Emotivität einschließende Bemerkung: Wenn in Indien in einem Kino ein Film vorgeführt wird und an einer Stelle ein Gott erscheint, beginnen Zuschauer mit den dazugehörigen Gesten zu beten, eine Alltagserfahrung für Inder. Der aufgeklärte Zuschauer weiß, daß es sich um die Projektion eines in einem komplexen Ablauf aufgenommenen und aufs Zelluloid gebannten Auftritts eines Schauspielers handelt. Wenn dieses Leinwandphänomen die Hände zum Segen erhebt, fühlen sich viele Zuschauer gesegnet. Sie erleben, daß sie gesegnet werden. Die Figur auf der Leinwand
1974 X. Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften in der Gegenwart übt für sie einen performativen Akt aus. Im aufgeklärten Westen geht es nicht viel anders zu. Wenn das Bild des Papstes auf dem Fernsehbildschirm erscheint, rückt sich der Gläubige im Zuschauersessel zurecht. Dort ist der Papst und sieht ihn an. Es kommt auf die Interpretation eines Phänomens an. Davon hängen Wirkung(en) und Folgen der Rezeption ab. Wenn ein Translator als solcher einen in seiner (des Translators) Intention performativen Akt in seinen Text einbaut, wird dieser Akt für ihn zu einem performativen Akt. Ob Rezipienten die betreffende Translatstelle ebenfalls als performativ interpretieren, ist ihre Sache. Andererseits können Rezipienten einen Akt entgegen der Autorintention etc. als performativ (intendiert) interpretieren.
5. Dolmetschen Besondere rhetorische und stilistische Probleme entstehen für das simultane und konsekutive Konferenz- und vor allem das Fachdolmetschen im sozialen, gerichtlichen, medizinischen usw. Bereich (community interpreting; vgl. u. v. a. Pöchhacker 2000; Bahadır 2004; 2007), vergleiche auch die Synchronisierung und Untertitelung von Filmen, die Unter- oder Obertitelung bei der Aufführung von Bühnenschauspielen und Opern (zu Libretto, Text und Musik vgl. z. B. Kaindl 1995) und andere plurimediale Texteme (vgl. Kaindl 2004 zu Comics). Im simultanen (und u. U. auch im konsekutiven) Dolmetschen können rhetorische Momente, z. B. beim Zitieren eines Gedichts, häufig nur prosaisch-informativ gedolmetscht werden, wenn der zu dolmetschende Textemteil nicht vorher vorgelegt wird.
6. Ausbildung An den bestehenden Dolmetscher- und Übersetzerinstituten (neuerdings auch Institute für Translationswissenschaft oder ähnlich genannt) gibt es zur Zeit keine eigenen auf Translation ausgerichteten Rhetorik- und Stilistikkurse. Traditionell steht die sprachliche Äquivalenz formaler (struktureller) und semantischer Elemente von der Ziel- zur Ausgangstextemoberfläche im Vordergrund des translatorischen Denkens. Wissenschaftlichkeit wird als rationale Suche nach Regeln verstanden. Die Schwierigkeit, Äquivalenzen zu finden, führen zumeist zu angeblich unvermeidlichen Qualitätsverlusten im Zieltextem gegenüber dem Ausgangstextem. Wissenschaft muß reduktionistisch verfahren, um Regelhaftigkeit und damit Wiederholung (die immer mit Variationen verbunden ist) zu erreichen. Dadurch schließt sie die Holistik des Lebens aus und sich selbst in ihr eigenes Paradies („Gehege“) ein (vgl. Dizdar 1997 zu Normen). Eine holistische Skopostheorie führt dagegen in die Unwissenschaftlichkeit: Momentanes Prozeßdenken ist nur probabilistisch erfaßbar. Die Ausbildung eines Translators muß Rhetorik und Stil(-istik) in ihren vielerlei Facetten, gerade auch der kulturspezifischen Ästhetik, Emotivität und Evaluierung einschließen. Holistische Rhetorik sollte besonders in der Dolmetscherausbildung einen festen Platz bekommen. Für Translatoren könnten neue Tätigkeitsfelder, z. B. als Ausbilder der Ausbilder oder als Kulturberater, eröffnet oder erweitert werden. Leider sehen bestehende Institutionen und die Öffentlichkeit als Klientel diese Notwendigkeit (noch?) zu
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selten ein. Selbst (oder gerade) akademische Institutionen schrecken vor Neuerungen zurück. Rhetorik wird oft auf fallweise Sprecherziehung als Therapie für Sprachfehler oder stark dialektale Aussprache beschränkt oder ganz gestrichen. Doch gehören Translate weltweit gesehen zu den teuersten Kulturex- und -importartikeln; einen Titelschutz gibt es nicht. Die Problematik illustrierte schon Ciceros Verhalten in „De optimo genere oratorum“, als er behauptete, er habe zwei berühmte griechische Reden ⫺ heute würde man sagen: kulturspezifisch skoposadäquat ⫺ übersetzt (converti), zugleich aber durchblicken ließ, sie seien nie an die Öffentlichkeit gelangt oder vielleicht nie über das Stadium eines frommen Wunsches hinausgekommen (vgl. Dihle 1955; Tapia Zu´n˜iga 1996). Zahlreiche Themen wären noch zu besprechen: Sprachenimperialismus (Asymmetrie, Voreingenommenheit bei der Evaluierung), feministische Translation (vgl. Wortwahl, Frequenz, Affektausdruck usw.), Gendern (bei dem die Sprachästhetik oft zu kurz kommt, weil Kultursensitivität fehlt), postkoloniale Translation und, als Versuch der Zukunft, die dekonstruktivistische Translation.
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive 118. Die stilistische Charakterisierung von Einzelsprachen: Möglichkeiten und Probleme 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Einleitung Parameter der Stilistik Probleme einer Typologie von Sprachstilen Formale Kriterien der stilistischen Differenzierung von Prosaschrifttum Stilistik im Sprachkontakt Literatur (in Auswahl)
Abstract Stylistic variation is believed by many to be a property of literary language, of poetry in particular. In fact, stylistic registers are found in all domains of language use, spoken and written, common and specialized. This contribution focuses on a comparative view of the relationship of styles (speech level/parole) and the grammatical structures (system level/langue) of individual languages. Issues of style variation are highlighted for a variety of languages in a global perspective, including ancient vehicles of high culture (e.g., Sumerian) as well as modern languages, with samples from the languages of Europe, Asia, Australia and the Americas. A new field of style variation is explored, namely phenomena resulting from language contacts. In this connection, recent fusion processes of English with particular varieties of contact languages (e.g., professional language use in the world of science) are analyzed.
1. Einleitung Umgangssprachlich assoziiert sich mit dem Ausdruck Stil ein breites Spektrum an Bedeutungsnuancen. Die Art und Weise, wie jemand spricht, wird Stil genannt (z. B. Er hat seinen eigenen Stil zu sprechen), ebenso individuelle Gewohnheiten, sich schriftlich auszudrücken (z. B. Das ist ihr typischer Schreibstil). Mit Bezug auf den öffentlichen Sprachgebrauch ist von Amtsstil die Rede, und ein Zeitungsartikel ist in gutem oder schlechtem Stil geschrieben. Ähnlich variantenreich ist die Verwendung des Ausdrucks style im Englischen. Zusätzlich zu Bedeutungsschattierungen des Stilbegriffs, wie sie im Deutschen gängig sind, werden auch die regionalen Varianten des Englischen mit ihren phonetischen, grammatischen und lexikalisch-semantischen Besonderheiten als styles bezeichnet. Dies betrifft nicht nur die Differenzierung zwischen britischem und amerikanischem Englisch (The
1980
XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
Economist style guide 2005), sondern auch die zahlreichen „ethnic styles“ wie das Englische in der Karibik, in Indien, Malaysia usw. (Todd 2001). Zu den „ethnic styles“ gehören auch Varianten wie Hindish (Hindi ⫹ English), Spanglish (Spanish ⫹ English) der Latinos in den USA oder Ebonics (gesprochen und teilweise geschrieben von Afro-Amerikanern). In dieser Spannbreite der Verwendung des Stilbegriffs in der Alltagssprache spiegelt sich eine elementare Dualität, die ebenfalls in der wissenschaftlichen Diskussion über Stilfragen relevant ist, nämlich die Unterscheidung zwischen dem individuellen Sprachgebrauch und der Ausgliederung sozialer Sprachvarianten. Damit eng verknüpft ist auch eine andere Dualität, und zwar der Zugriff des individuellen Sprechers auf stilistische Mittel, die ihm sprachliche Innovationen ermöglichen und das Teilhaben an kollektiven stilistischen Konventionen. Individuelle stilistische Innovationsschübe können interindividuellen Sprachwandel bedingen, wie andererseits kollektive stilistische Konventionen den individuellen Sprachgebrauch überformen und schablonieren können. In der Stilistik kommen demnach zwei Grundphänomene der Sprachfähigkeit des Individuums zur Auswirkung: ⫺ die Fähigkeit zur Teilnahme am kollektiven Sprachbesitz einerseits, ⫺ die Fähigkeit, Sprache entsprechend der individuellen Intentionalität zu formen, andererseits, was interindividuellen Wandel zur Folge haben kann. Das Privileg, einen eigenen Stil zu pflegen, war die längste Zeit Schriftstellern und Dichtern vorbehalten. Diejenigen, die sich nichtliterarischer Sprache bedienten, waren aufgefordert, sich an den durch Konventionen bestimmten Ausdrucksnormen zu orientieren. Diese Trennung der Literatursprache vom übrigen Sprachgebrauch in der europäischen Denktradition geht in ihren Ursprüngen bis auf die römische Antike zurück. Der erste Literat, der auf Stilfragen einging, war Varro Reatinus (116⫺27 v. Chr.), der in seinem Traktat De lingua Latina vier Kriterien für den korrekten lateinischen Sprachgebrauch formuliert: „natura“ [Ausdrucksformen, die als Resultat der natürlichen Sprachentwicklung tradiert werden], „analogia“ [Ausdrucksformen, die sich in Analogie zu bereits bestehenden ausgebildet haben], „consuetudo“ [gewohnheitsmässige Ausdrucksweisen], „auctoritas“ [Einwirkungen der Sprachpflege und stilistischen Selbstkontrolle] (Vainio 1999, 17 ff.). Im Informationszeitalter, d. h. im Zeitalter der globalen kommunikativen Vernetzung, werden die Stilistik und die Strukturen einer jeden Sprache mit Internet-Präsenz vom Englischen beeinflusst. Internet-Präsenz ist eine conditio sine qua non für eine Beteiligung am Aufbau der Network Society. Dieser Ausdruck zur Charakterisierung des Entwicklungsstadiums unserer medial vernetzten Gesellschaft ist von Manuel Castells (1996⫺1998) popularisiert worden. Sämtliche Sprachen, die daran beteiligt sind, stehen im ständigen Kontakt mit der Weltsprache Englisch, und zwar vernetzt in einer modernen Variante funktionaler Zweisprachigkeit, mit einer nationalsprachlichen Komponente (z. B. Deutsch, Italienisch, Schwedisch) und dem Englischen als Medium globaler Interkommunikation (vgl. 5). Kontakte zwischen Sprachen sind nicht notwendigerweise auf Interferenzphänomene wie die Entlehnung von Einzelelementen (z. B. Spezialausdrücke oder phonetische Sprechgewohnheiten) beschränkt. Sie können eine Intensität bis zur Überformung grammatischer Strukturen und zu einem Wandel stilistischer Normen erreichen. Allein diese elementaren Bedingungen englischer Sprachkontakte machen die Stilistik heutzutage zu
118. Die stilistische Charakterisierung von Einzelsprachen: Möglichkeiten u. Probleme 1981 einem Objektbereich der Kontaktlinguistik, von den vielfältigen Sprachenkonstellationen in mehrsprachigen Kontaktregionen ganz zu schweigen (Spillner 1996). Bislang gibt es aber keine übergreifenden Konzeptionen von Stilistik, die die hier angesprochenen Sachverhalte in einer integrierenden Gesamtschau berücksichtigen würden. In diesem Beitrag wird erstmals der Versuch unternommen, komparatistische Aspekte der Stilistik von Einzelsprachen auszuleuchten.
2. Parameter der Stilistik Stilfragen betreffen sämtliche Bereiche des Sprachgebrauchs, sei es ein Ideolekt oder eine spezialisierte Fachsprache. Diese Realität eines breiten Spektrums stilistischer Varianz findet keine gleichgewichtige Beachtung in der Linguistik. In der sprachwissenschaftlichen Forschung spielte die Stilistik lange Zeit keine nennenswerte Rolle. Dies gilt jedenfalls für den Themenkanon des 18. und 19. Jhs.
2.1. Stilistik als Studium der Variation literarischer Sprache (Stilebenen der Literatursprache; Stilistik und Poetik) Stil als Objekt sprachwissenschaftlicher Forschung wurde erst spät populär. Die Grundlagen des Studiums von Sprache unter dem Gesichtspunkt ihrer stilistischen Variation wurden in der ersten Hälfte des 20. Jhs. gelegt, beginnend mit den Werken der russischen Formalisten (Cureton 1992, 81 f.). Die längste Zeit konzentrierte sich die Stilforschung auf das Studium der Variation literarischer und insbesondere poetischer Sprache, und diese selektive Konzeption von sprachlicher Variation bestimmt bis heute die Hauptströmung der Diskussion über Stilfragen (Verdonk 2002). Die weit verbreitete Auffassung, stilistische Varianz sei eine Sache der literarischen Sprache, wurzelt im Kanon der europäischen Betrachtungen über poetische Sprache. Aristoteles (384⫺322 v. Chr.) hebt als erster den metaphorischen Sprachgebrauch als von der Normalsprache abweichende Stilform hervor. In diesem Sinn tradieren auch lateinische Rhetoriker wie Cicero (106⫺43 v. Chr.) und Quintilian (ca. 35⫺96 n. Chr.) den Begriff der stilistischen Metapher. Zu Beginn der Neuzeit gehen Thomas Hobbes (1588⫺1679) und John Locke (1632⫺1704) sogar soweit, Metaphern als störend oder verfälschend zum Zweck der Wahrheitsfindung abzuwerten. Das bis heute gängige Vorurteil von der Isolation der sprachlichen Metapher im Literarischen beruht wohl auf einer Nachwirkung solcher älteren Festlegungen (Stiver 1996, 112 ff.).
2.2. Stilistik als Studium der Beziehungen unktionaler Stile einer Sprache in ihrer soziokulturellen Verankerung (Soziale und unktionale Variation von Sprache) Die Erweiterung der Stilforschung über den engeren Kreis des literarischen Sprachgebrauchs hinaus erfolgte in mehreren Schüben, die unabhängig voneinander wirksam wurden und jeweils in unterschiedlichen Traditionen wurzeln. Die Erforschung funktionaler
1982
XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
Sprachstile wurde wesentlich von den theoretischen Erkenntnissen und praktischen Erfordernissen der sowjetischen Sprachplanung seit den 1920er Jahren gefördert (Jachnow 1999a, 1160 ff.). Die Idee der Differenzierung funktionaler Stile im Sinn einer sozialen Stilistik führt Ansätze der Semiotik zu Stil als semiotisch komplexer Einheit (Fix 2001) fort und ist neuerlich auf die Erfahrungshorizonte sozialer Gruppierungen in der deutschen Gesellschaft projiziert worden (Keim 2006).
2.3. Stilistik als Studium des Registerpotentials einer Sprache (Elementare Opposition von literarischem Stil und Prosastil) Die Bedeutung von Stilfragen für die interne Gliederung der Sprachniveaus im Prosaschrifttum wurde im Zusammenhang mit der Problematik des Ausbaus von Schriftsprachen erkannt. Die Ausbaukomparatistik ist ein ganz eigener, vom Kanon der westlichen Soziolinguistik unabhängiger Bereich (vgl. 4).
2.4. Stilistik als Studium normativ-konventionellen Sprachverhaltens (Sprachliche Ausdrucksormen und ihre Einbindung im normativen Verhalten im Sozialkontakt) Hier öffnet sich das weite Feld des Diskurses über Normprobleme standardsprachlicher Varianten und von Substandards für Fragen der Stilistik (vgl. dazu Diskussionen bei Holtus/Radtke 1986; Mattheier/Radtke 1997; Kretschmer 1999; u. a.).
2.5. Stilistische Sprachvariation und Sprecherbezug (Individueller Stil versus unktionaler Sprachstil als kollektive Konvention) Für diese Ausrichtung der Stilforschung ist die Differenzierung des Sprachgebrauchs nach den Intentionen des Sprechers relevant. Bis heute grundlegend hierfür ist das kategorielle Netzwerk der von Jakobson (Jakobson 1987, 62 ff.) hervorgehobenen Nuancierungen (informativ, emotiv, interjektional, rhetorisch, poetisch usw.).
3. Probleme einer Typologie von Sprachstilen Es bestehen prinzipiell zwei Möglichkeiten für eine stilistische Charakterisierung von Einzelsprachen: ⫺ die Methode der sprachinternen Rekonstruktion; die Stilebenen einer zu untersuchenden Sprache werden sprachintern beschrieben und analysiert, und auf dieser Basis wird ein Stilrepertoire erstellt, dessen Kategorisierungen für die untersuchte ⫺ nicht notwendigerweise aber für andere Sprachen ⫺ relevant sind; ⫺ die kontrastive Methode des Stilvergleichs;
118. Die stilistische Charakterisierung von Einzelsprachen: Möglichkeiten u. Probleme 1983 das stilistische Potential einer zu untersuchenden Sprache wird im Vergleich zu anderen Sprachen analysiert und objektiviert; Feststellungen über stilistische Ähnlichkeiten und/ oder Abweichungen können sich zu Aussagen über die Verschiedenheit stilistischer Variation in verglichenen Sprachen verdichten. Der Vergleich mit anderen Sprachen kann auf der Basis einer kontrastiven Analyse erfolgen, d. h. mit Methoden der Kontrastierung zweier verglichener Sprachen, oder im Rahmen eines multilateralen Vergleichs, wobei die Zahl der untersuchten Sprachen praktisch unbegrenzt sein kann. Die Prinzipien einer stilistischen Komparatistik (d. h. multilateral-komparatistischen Stilforschung) sind noch nicht systematisch erforscht. Überlegungen dazu stellen aber die Grundorientierung im vorliegenden Beitrag dar. Der multilaterale Sprachvergleich kann sich heutzutage auf eine breit gefächerte grammatische Literatur über zahlreiche Sprachen der Welt stützen. Im Zusammenhang mit Fragen der Stilistik, d. h. von Aspekten einer über das rein Grammatische hinausweisenden Sprachbetrachtung, können die potentiellen Vergleichsmöglichkeiten bei weitem nicht alle genutzt werden. Denn empirische Daten zu Stilvariationen stehen nur für eine begrenzte Zahl von Sprachen in der Welt zur Verfügung. Es liegt nahe, die Erkenntnisse aus einem multilateralen Stilvergleich zu einer Typologie von Stilformen und -ebenen zu verdichten, wie dies verschiedentlich unternommen worden ist (z. B. Püschel 1976). Die von Europäern erstellten Typologien kranken zumeist daran, dass stilistische Besonderheiten außereuropäischer Sprachen nicht berücksichtigt werden. Dies sind solche Ausdrucksformen, die in europäischen Sprachen entweder unbekannt oder nicht zu selbständigen Stilvarianten ausgebildet sind. Auf einige dieser Sonderformen wird hier näher eingegangen, um den Kontrastreichtum hervorzuheben, mit dem die stilistische Komparatistik zu tun hat.
3.1. Geschlechterspeziische Sprachstile Die Unterscheidung zwischen Männer- und Frauensprache ist nicht nur ein Charakteristikum moderner Sprachen, wie am Ende dieses Abschnitts ausgeführt wird, sondern ist bereits in einer der ältesten Kultursprachen der Welt nachzuweisen, und zwar im Sumerischen. In der schriftlichen Überlieferung wird zwischen einer Hauptvariante des Sumerischen, emegir, und einer speziellen, von weiblichen Personen verwendeten Stilvariante, emesal, unterschieden (Thomsen 1984, 285 ff.). Emegir [wörtl. Sprache der Prinzen] ist die Basis der allgemeinen Schriftsprache, während emesal [wörtl. verfeinerte Sprechweise] als gehobener literarischer Stil in Kultgesängen, Klageliedern und Mythen auftritt. In diesen Texten wird emesal verwendet, wenn Göttinnen sprechen. Die bedeutendsten Texte in emesal sind die Liebeslieder, in denen die Rede der Göttin Inanna wiedergegeben wird (Krecher 1966, 12 f.). Der emesal-Stil unterscheidet sich formal von den Ausdrucksformen des emegir-Stils in der Phonetik und im Wortschatz, während die grammatischen Strukturen die gleichen sind. Eine auffällige Eigenheit von emesal sind Wiederholungen, wobei die Rede weiblicher Gottheiten den Eindruck ritueller Formelhaftigkeit macht. Die Lautdifferenzen zwischen emesal und emegir manifestieren sich sowohl im Vokalismus als auch im Konsonantismus. Die Lautvariationen sind nicht zufällig, sondern es lassen sich bestimmte Tendenzen ausmachen. Emesal zeigt eine Vorliebe für dunkle Vo-
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
kale (und zwar e und u), wo emegir helle Vokale bevorzugt (und zwar a und i); (z. B. emesal: e.lum [Rehkuh] vs. emegir: alim). Labiale und Dentale (und zwar b, m, n, l, z) herrschen in emesal gegenüber Gutturalen (und zwar g, h) in emegir vor (z. B. emesal: i.bı´ [Auge] vs. emegir: igi). Der emesal-Wortschatz unterscheidet sich zum Teil merklich vom lexikalischen Inventar des emegir. Wortdubletten finden sich in allen Bereichen, einschließlich der Namen von Gottheiten (z. B. emesal: gasan [Göttin Inanna] vs. emegir: nin) und den Wortstämmen von Verben (z. B. emesal: ze´.e`g [geben] vs. emegir: sum). Die Differenzierung geschlechterspezifischer Sprachstile ist insbesondere in solchen Sprachen zu finden, die verschiedene altertümliche Erscheinungen in ihren Strukturen bewahrt haben, wie beispielsweise grammatische Formen zum Ausdruck einer Ergativ-Kategorie und damit assoziierte syntaktische Konstruktionen (zur Verbreitung von Ergativ-Sprachen vgl. Haarmann 2006, 118 f.). Die Sprachenlandschaft Südostasiens bietet einen Reichtum an Ausdrucksformen zur Illustration der Stilrepertoires von Männer- und Frauensprache an (zu den kontaktlinguistischen und genetisch tradierten Eigenheiten in der Strukturtypik der Sprachen Südostasiens vgl. Matisoff 2001). Das Sprachverhalten der Geschlechter ist bis in die elementarsten Sprechakte an registerspezifische Stilkonventionen gebunden. Im Khmer (Kambodschanischen) tritt ebenfalls die Bejahungspartikel als lexikalische Dublette auf: /cah/ [ja] (in der Frauensprache) vs. /ba:t/ [ja] (in der Männersprache). Die in europäischen Sprachen auftretenden Differenzen in der Sprachwahl bei Männern und Frauen sind ⫺ im Gegensatz zu den Verhältnissen in asiatischen Sprachen ⫺ keine konventionell etablierten Register mit grammatisch determinierten Sprachtechniken, sondern Nuancierungen im Bereich sprachlich artikulierter Diskursstrategien (zur Dimension feministischer Stilforschung vgl. Mills 1995).
3.2. Register mit Formen zur Markierung sozialer Distanz (einschließlich hölicher Rede) In den meisten der Sprachen, die geschlechterspezifische Sprachstile ausgebildet haben, sind diese aufs Engste mit Markierungen sozialer Distanz verwoben. Solche Markierungen betreffen in erster Linie Ausdrucksformen höflicher Rede (engl. polite speech). Diese Verwobenheit kann exemplarisch anhand der Sprachstrukturen des Japanischen aufgezeigt werden. Die unterschiedlichen Lebensgewohnheiten und Rollenmuster von Frauen und Männern in der japanischen Gesellschaft ⫺ dies betrifft ebenso die Rollen und Aktivitäten der Geschlechter im Familienverband ⫺ kommen symbolisch in der elementaren Unterscheidung von Sprachstilen für Männer einerseits, und Frauen andererseits zum Ausdruck (Ide 1986). Der allseits bekannte Ausdruck jap. harakiri [wörtl. Bauchschneiden] bezeichnet den rituellen Selbstmord der Männer. Jap. hara ist die Benennung des Körperteils [Bauch] in der Sprache der Männer. Das lexikalische Äquivalent in der Frauensprache ist onaka. Die traditionelle Art des rituellen Selbstmords der Frauen ist das Durchstechen der Kehle mit einem Dolch. Auf die Strukturen der geschlechterspezifischen Sprachstile sind die Differenzierungen der Ausdrucksformen zur Markierung der sozialen Distanz zwischen Sprecher und Ad-
118. Die stilistische Charakterisierung von Einzelsprachen: Möglichkeiten u. Probleme 1985
Abb. 118.1: Ausdrucksformen sozialer Distanz in der Verwandtschaftsterminologie des Japanischen (nach Haarmann 1990a, 126)
ressaten projiziert. Als konkrete Manifestation dieser engen Verflechtung von Sprachstilen wird unter verschiedenartigen Kontextbedingungen ein vierfach differenziertes Ausdruckspotential mobilisiert, beispielsweise im Formeninventar der Personalpronomina:
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
Personalpronomen Männersprache
Frauensprache
1. Person boku [vertraut] watashi [höflich]
watashi [vertraut] atakushi [höflich]
2. Person kimi [vertraut] anata [höflich]
anta [vertraut] anata [höflich]
(a) Personalpronomen im Khmer Äquivalent im Khmer Deiktische Grundfunktion
Varianz des sozialen Status
/khMom/
,ich‘
historische Bezeichnung für den Haussklaven; gebraucht gegenüber Außenstehenden
/khlu:en khMom/
,ich‘
Ausdruck der Individualität ohne Gruppenbildung (,ich selbst‘)
/khMomkaruna:/
,ich‘
sehr höflich, insbesondere gegenüber Mönchen
/khMomba:t/
,ich‘
nur von Mönchen gebraucht
khMommcah/
,ich‘
gegenüber sozial Höherstehenden, besonders von Frauen gebraucht
/aM/
,ich‘
familiäre Sprache; vom Älteren gegenüber dem Jüngeren
/kni:e/
,ich‘
Ausdruck der Zugehörigkeit einer Person zu einer Gemeinschaft
/je: khMom/
,ich‘
offizieller Sprachgebrauch; gebraucht, wenn eine Person als Repräsentant auftritt
(b) Anredeformen im Vietnamesischen con ⫺ Anrede für ein Kind von den Eltern und Großeltern; diese Form der Anrede bleibt für dieselbe Person auch im Erwachsenenstadium in Gebrauch; co ⫺ Anrede für ein Mädchen und eine unverheiratete Frau; chi ⫺ Anrede für eine Frau ab 30 (auch unter Geschwistern verwendet); ba ⫺ Anrede für eine Frau ab 50, außerdem ein weiblicher Ehrentitel (z. B. für die vietnamesischen Freiheitskämpferinnen, die Ba Trung, die im 1. Jahrhundert n. Chr. gegen die chinesische Fremdherrschaft rebellierten); ong ⫺ Anrede für einen Mann ab 50, außerdem ein männlicher Ehrentitel; em ⫺ Anrede für die jüngeren Geschwister durch die älteren; anh ⫺ Anrede für die älteren Geschwister durch die jüngeren. Abb. 118.3: Deiktische Kategorien zur Markierung sozialer Distanz (nach Haarmann 1998, 1934 f.)
Abb. 118.2: Stilebenen im Koreanischen (nach Hwang 1990, 45)
118. Die stilistische Charakterisierung von Einzelsprachen: Möglichkeiten u. Probleme 1987
1988
XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
Höflichkeitsformen sind verantwortlich für Formdubletten im Paradigma der Verbalflexion (z. B. taberu [essen] (vertraut) vs. tabemasu [essen] (höflich)) sowie im Wortschatz. Lexikalische Elemente werden entweder mittels eines Höflichkeitsmarkers o- (bzw. go-) differenziert (z. B. kane [Geld] (vertraut) vs. okane [Geld] (höflich)) oder Grundbegriffe treten in paarigen Ausdrucksdubletten auf (z. B. kuru [kommen] (vertraut) vs. irassharu [kommen] (höflich)). Bestimmte Bezeichnungsbereiche des japanischen Wortschatzes haben entsprechend den Prinzipien der sozialen Distanzmarkierung eigene Paradigmen mit Sprachstildubletten ausgebildet. Dies gilt insbesondere für das Beziehungsnetz der Verwandtschaftsbezeichnungen (Abbildung 118.1). Wenn von der eigenen Mutter die Rede ist, so heißt diese im Japanischen haha, während die Mutter anderer (angeredeter) Personen okasan genannt wird. Entsprechende Differenzierungen gliedern den gesamten Bezeichnungsbereich aus. Dabei kommen verschiedenartige Sprachtechniken für die Unterscheidung der Sprachstile zur Anwendung: Differenzierung der Wortstämme (chichi: otosan), Verwendung von Markern höflicher Rede (-san wie in okusan, go- wie in go-kazoku oder in Kombination wie in meigosan). Die Ausdrucksformen für soziale Distanzmarkierungen sind in manchen Sprachen Ostasiens noch weitaus stärker ausdifferenziert als im Japanischen. Dies gilt für das Koreanische mit drei Stilebenen für höfliche Sprache und drei Stilebenen für nicht-höfliche Sprache. Entsprechend feingliedrig ist das sprachliche Beziehungsnetz der Anredeformen (Abbildung 118.2). In Sprachen wie dem Khmer und dem Vietnamesischen sind die Systeme der Personalpronomina und der Anredeformen besonders komplex strukturiert (Abbildung 118.3).
3.3. Tabusprache Die Motivation für die Ausbildung geschlechterspezifischer Sprachstile ist in Tabuvorschriften, d. h. in Normen exklusiven Sozial- und Sprachverhaltens, gesucht worden (vgl. Renger 1969). Demnach erforderten die Konventionen des Rollenverhaltens der Geschlechter die Markierung unterschiedlicher Rollen auch im Sprachverhalten. Tabus im Sozialverhalten und im Sprachgebrauch gibt es in allen Gesellschaften und Kulturstufen. Ein Beispiel für ein Sprachtabu im modernen deutschsprachigen Kulturmilieu ist die Vermeidung des Ausdrucks Rasse in Verbindung mit menschlichen Populationen. Dieses Tabu begründet sich als Nachwirkung des ideologischen Extremismus und der Massenvernichtung ,nichtarischen Volkstums‘ im Dritten Reich. In der englischsprachigen Tradition ist der Rassebegriff (engl. race) unbelastet, wird in der kulturanthropologischen Terminologie verwendet (z. B. Youngs 1997) und hat sich bis heute in allgemeinen Redewendungen erhalten (z. B. the human race). Ein Beispiel für ein Sozialtabu ist das Verbot des Inzestes, das in modernen Gesellschaften weitgehend auch gesetzlich festgeschrieben ist. In traditionalen Kulturen betrifft das sprachliche Tabuverhalten häufig nicht nur einzelne Ausdrücke, sondern bedingt die Existenz ganzheitlicher Sprachstile (engl. taboo language). Weit verbreitet sind Tabusprachen (d. h. Sprachstile zum Ausdruck des Tabuverhaltens) in Australien. Dies gilt für die Mehrheit der rund 250 Aborigine-Sprachen. Diesbezüglich ist hervorgehoben worden, dass „[…] every Australian language has a special speech style which must be used in the presence of a taboo relative (for a male,
118. Die stilistische Charakterisierung von Einzelsprachen: Möglichkeiten u. Probleme 1989 his mother-in-law)“ (Dixon 1992, 136 f.). Insbesondere in den Sprachen im Osten des Kontinents existiert ein eigener, weit verzweigter Parallelwortschatz mit speziellen Tabuausdrücken (engl. avoidance lexemes), beispielsweise im Dyirbal, einer Sprache im Nordosten von Queensland.
3.4. Ritualsprache Die kommunikativen Bedürfnisse zur Ausbildung spezieller Sprachstile für die Verwendung in rituellen Kontexten (z. B. Taufzeremonie in einer christlichen Gemeinde, Gebetsritual in einer Moschee, buddhistische Segnungszeremonie, schamanistische Heilseancen, liturgische Formeln) sind latent in allen Gemeinschaften wirksam, unabhängig davon, ob es sich um schriftlose Kulturen (wie die lokalen Traditionen des eurasischen Schamanismus im Norden Sibiriens) oder um Schriftkulturen mit ihrer Tradition von Kompilationen heiliger Texte handelt. Die Erkenntnisse vergleichender anthropologischer und ethnographischer Studien verdichten sich zu einem Gesamtbild interkultureller Ähnlichkeiten ritueller Sprachstile im Hinblick auf ihre strukturellen Eigenheiten und sozialen Funktionen. Auffällig ist die Stabilität der Kriterien, wodurch sich eine Ritualsprache von der Normalsprache unterscheidet. Einige der typischen Eigenschaften von Ritualsprachen seien hier erwähnt (nach Du Bois 1987): ⫺ ein Spezialwortschatz, wozu esoterische, fremdartige, archaische und zum Teil ⫺ für Außenstehende ⫺ unverständliche Elemente gehören; ⫺ die Verwendung zahlreicher Sprachmetaphern und formelhaft-konstanter Wendungen; ⫺ eine ausgeprägte Tendenz zur Anwendung einer speziellen Intonation, Prosodie und Stimmlage, exklusiv für den rituellen Sprechakt; ⫺ Verschleierung der Individualität desjenigen, der das Ritual ausführt und Hervorhebung seiner Rolle als Medium, als Vermittler der Rede einer anderen, spirituellen Quelle; ⫺ Objektivierung des rituellen Sprachstils als autorisierte Konstante in den Glaubensvorstellungen der Gemeinde, für die Rituale ausgeführt werden; ⫺ Glaube an die zeitlose Wirksamkeit ritueller Texte, was den traditionsorientierten, nicht veränderlichen Charakter der Ritualsprache bedingt.
Die Unterschiede im Wortschatz zwischen Ritualsprache und Normalsprache sind in manchen Kulturen erheblich. Beispielsweise finden sich folgende Wortdubletten im Kuna, einer Indianersprache Panamas (nach Sherzer 1983): Ritualsprache walepunkwa tala
Normalsprache ome ipya
Bedeutung [Frau] [Auge]
In einigen Kulturmilieus ist zu beobachten, dass rituell motivierte Terminologien ebenfalls die Normalsprache dominieren, und zwar in solchen Fällen, wo bestimmte mythisch-religiöse Vorstellungen die alternative Verwendung einer neutralen Nomenklatur nicht zulassen. Dies ist der Fall mit den Benennungen für den Bären und dessen Lebensbedingungen in den obugrischen Sprachen Westsibiriens, wozu das Mansische (Wogulische) und Chantische (Ostjakische) gehören. Hier gibt es Hunderte von zumeist euphe-
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mistischen Ausdrücken für den Bären, der bis heute als mythischer Urahn der gesamten ethnischen Gruppe gilt, sowie für seine Körperteile und Aktivitäten (Bakro´-Nagy 1979). Ein erwachsener Bär wird als geliebter Alter, der Alte aus dem Wald, der Alte mit der Tatze usw. bezeichnet, ein junger Bär als junger Bruder bzw. kleine Schwester. Für die Augen des Tieres ist der Ausdruck Sterne, für das Fett der Euphemismus Gürtel des Waldbewohners gebräuchlich, usw.
4. Formale Kriterien der stilistischen Dierenzierung von Prosaschrittum (Kategorisierungen der Sachprosa nach Heinz Kloss) In der historischen Retrospektive mutet die für Schriftkulturen gängige Differenzierung zwischen literarischen Textsorten (schöngeistige Literatur ⫽ Belletristik, Dichtung) und Prosaschrifttum in mancher Hinsicht künstlich an, bedenkt man, dass die ältesten oralen Texte mythische Überlieferungen sind (Donald 1991, 201 ff.), und dass sich im mythopoetischen Sprachgebrauch der oralen Tradition die Ursprünglichkeit eines thematisch wie sprachlich ganzheitlichen Textgenres spiegelt (Lotman 1996, 35 ff.). Dagegen ist die Kategorisierung in Belletristik (einschließlich Poesie) einerseits und in Sachprosa (d. h. nicht-erzählende Prosa) andererseits als Gradmesser für die soziokulturelle Leistungsfähigkeit einer modernen Schriftkultur von elementarer Bedeutung. Von diesen beiden Bereichen der schriftsprachlichen Produktion kommt wiederum dem Schrifttum der Sachprosa besonderes Gewicht zu, denn eine moderne Gesellschaft operiert vorrangig in Bereichen sach- oder technologieorientierter Kommunikation, während der literarische Bereich eher eine Nischenfunktion im gesamten Spektrum der Sprachfunktionen besetzt. Entsprechend der Vorrangstellung der Sachprosa in der modernen Sprachkultur kommt deren Differenzierung von Sprachstilen besondere Aufmerksamkeit zu. Der entscheidende Ansatz für die Entwicklung eines methodischen Arbeitsinstruments, die sachlich-informativen und fachspezifischen Sprachstile zu kategorisieren und für einen objektivierenden Vergleich einzusetzen, stammt von Heinz Kloss (1904⫺1987). Im Zusammenhang mit seinen Forschungen zur Problematik von Ausbausprachen, d. h. der Kodifizierung von Schriftstandards für bislang schriftlose Sprachen, konzentrierte sich Kloss auf die Ausarbeitung einer Typologie von Bereichen des Prosaschrifttums. Nach Kloss (Kloss 1976, 307; 1978, 47) gibt es drei hauptsächliche Anwendungsbereiche für die Sachprosa, die sich jeweils in drei Entfaltungsstufen differenzieren (Abbildung 118.4). Gemäß der von Kloss verwendeten Terminologie handelt es sich um folgende Kategorisierungen: ⫺ Anwendungsbereiche V ⫺ volkstümliche Prosa (Grundschulniveau) G ⫺ gehobene Prosa (Niveau der höheren Schulbildung) F ⫺ Fachprosa (⫽ Forscherprosa); (in Kloss 1978, 48) auch W (wissenschaftliche Prosa, Hochschulniveau) genannt
118. Die stilistische Charakterisierung von Einzelsprachen: Möglichkeiten u. Probleme 1991 ⫺ Entfaltungsstufen E ⫺ eigenbezogene Thematik (Themen aus dem Alltagsleben einer Sprachgemeinschaft) K ⫺ kulturkundliche Thematik (Themen aus geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereichen) N ⫺ naturwissenschaftliche Thematik (Themen aus naturwissenschaftlichen sowie technisch-technologischen Bereichen)
Abb. 118.4: Stilebenen der Sachprosa (nach Kloss 1976, 307)
Zu den Initialbedingungen einer neuen Schriftsprache äußert sich Kloss wie folgt: „Es besteht eine starke Vermutung, dass eine neue Schriftsprache sich zuerst den Bereich V ⫻ E, also die linke untere Ecke, erobern wird, und als letzten den Bereich F ⫻ N, also die rechte obere Ecke. Anders ausgedrückt: die Hauptstossrichtung der Entwicklung führt von links unten nach rechts oben“ (Kloss 1978, 48). Im Rahmen ihrer Entwicklung in der angegebenen Richtung durchläuft die Schriftsprache verschiedene Ausbauphasen. Jede dieser Ausbauphasen kreiert ihren eigenen Sprachstil. Mit diesem Raster als Grundlage wird eine Typisierung der Schriftmedien der Welt im Hinblick auf deren funktionale Leistungsfähigkeit und stilistische Flexibilität möglich. Auf diese Weise können beispielsweise Sprachen wie Färingisch, Sorbisch, Kymrisch und Westfriesisch folgenden Ausbauphasen zugeordnet werden: V ⫻ E, G ⫻ E, F ⫻ E, V ⫻ K, G ⫻ K und V ⫻ N. Die ,großen‘ Kultursprachen haben bereits seit langem sämtliche Ausbauphasen durchlaufen. Dies gilt aber auch für etliche Sprachen, deren Leistungsfähigkeit von vielen unterschätzt wird wie das Estnische, Lettische und Litauische. Diese Sprachen haben nicht nur eine Aufwertung ihres soziopolitischen Status als Staatssprachen erlebt, sondern auch eine Vitalisierung ihrer Anwendungsbereiche im Bereich des Prosaschrifttums. Auch Regionalsprachen wie das Katalanische in Spanien oder das Tatarische und Syrjänische (Komi) in Russland gehören zum Kreis der Schriftsprachen mit maximaler stilistischer Flexibilität. Die von Kloss begründete und von seinen Schülern weiterentwickelte Ausbaukomparatistik hat bis heute einige Erweiterungen und methodische Verfeinerungen erlebt (Muljacˇic´ 1986; Auburger 1988; Muljacˇic´/Haarmann 1996; Haarmann 2004a). Das Raster der Ausbauphasen ist nicht nur ein effektives Arbeitsinstrument zur Typisierung von Schriftsprachen im allgemeinen, es bietet auch für komparatistische Zielsetzungen die Möglichkeit, die Differenzierung von Sprachstilen für eine Vielzahl von Einzelsprachen nach objektiven Kriterien zu ermitteln.
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5. Stilistik im Sprachkontakt Die Bedeutung der Stilforschung für die Kontaktlinguistik ist lange Zeit unterschätzt worden. Dies lag wohl vor allem daran, dass das Phänomen Sprachkontakt selbst von vielen einseitig als eine von einer Kontaktsprache ausgehende und auf ein anderes Sprachsystem gerichtete Einflussnahme verstanden wird. Solche Kontaktsituationen sind zwar häufig, es existieren allerdings in vielen Regionen der Welt auch Bedingungen massiver Kontakte, wo zwei ursprünglich selbstständige Sprachsysteme miteinander fusionieren. Potentiell können sich solche intensiven Kontaktprozesse in folgende Richtungen entfalten: ⫺ eine der beteiligten Sprachen wird durch die andere ersetzt; ⫺ beide Sprachsysteme sind miteinander verwoben und werden alternativ in denselben Sprechakten aktiviert (z. B. Code-Switching); ⫺ aus der Fusion der im Kontakt stehenden Sprachsysteme entsteht ein neues System (z. B. Pidginisierung, Kreolisierung). Phänomene von Code-Switching und Kreolisierung lassen Fragestellungen nach stilistischer Innovation in neuem Licht erscheinen (Mufwene 2001, 3 ff.). Diese Varianten von Sprachkontakten produzieren gänzlich neue Stilformen, die Elemente verschiedener Sprachsysteme integrieren, und die Verwendung dieser Elemente wird von verschiedenen Regelsätzen gesteuert. Ein illustratives Beispiel hierfür bieten die Bedingungen massiver Sprachkontakte in Mexiko, an denen das Spanische und lokale Indianersprachen beteiligt sind. Das Spanische hat die lokalen Sprachen tiefgreifend beeinflusst, sie teilweise sogar überformt. Die Sprachkontakte waren vielerorts so intensiv, dass zahlreiche sprachliche Fusionsprodukte entstanden sind. Eines davon ist das in Zentralmexiko (im Tal von Puebla-Tlaxcala) verbreitete Mexicano. Dies ist die Sprache der Nachkommen der Azteken, die bis heute Varianten des Nahuatl bewahrt haben. Mexicano ist eine vom Spanischen überformte einheimische Sprachform, in deren Lautsystem, Grammatik und Syntax spanische Elemente so fest verankert sind, dass sie ohne diese nicht funktionsfähig wäre. „Die Syntax des Malinche-Mexicano ist eine Fusion eingegangen mit der lokalen Variante des Spanischen. Es ist möglich, ein verständliches (wenn auch wenig elegantes) Mexicano zu sprechen, indem Ausdrücke entweder spanischer Herkunft oder aus dem Malinche, die entsprechend der Grammatik des Mexicano flektiert sind, in spanische Satzkonstruktionen eingebettet werden, wobei alles durch spanische Bindewörter zusammengehalten wird“ (Hill/Hill 1986, 233).
5.1. Das Englische als stabile Komponente der globalen Interkommunikation Das Informationszeitalter hat uns einen neuen funktionalen Kommunikationstyp beschert: die nationalsprachlich-englische Zweisprachigkeit (NEZ; zu diesem Konzept vgl. Haarmann 2001, 307 ff.). Die nationalsprachliche Komponente tritt dabei in zahlreichen Spielarten auf, nämlich in Gestalt regionaler Landessprachen mit digital-literaler Kapazität. Hierzu gehören die bekannten Sprachen der ,großen‘ Kulturnationen wie Französisch, Spanisch, Russisch, Chinesisch u. a., außerdem Nationalsprachen mit regional be-
118. Die stilistische Charakterisierung von Einzelsprachen: Möglichkeiten u. Probleme 1993 grenzterem Geltungsbereich wie Katalanisch, Isländisch, Dänisch, Finnisch, Farsi, Türkisch, Thailändisch, Swahili, u. a. Die Zweitsprachenkomponente dieses Kommunikationstyps ist jeweils stabil: das Englische. Da die nationale (d. h. primärsprachliche) Komponente variiert, tritt dieser Kommunikationstyp in immer neuen Konfigurationen auf. Entsprechend lokal-spezifisch geprägt sind die Sprachkontakte. In welcher Weise und wie intensiv die Strukturen der Nationalsprachen vom Englischen beeinflusst werden, hängt von vielerlei Faktoren ab: von der verwandtschaftlichen Nähe der beteiligten Sprachen, ihrer Strukturtypik, vom Potential der beeinflussten Sprache, Fremdeinflüsse zu adaptieren, usw. Eine Besonderheit dieses kommunikativen Haupttyps der Network Society ist sein funktionaler Charakter. Es handelt sich bei den konkreten Sprachenkonfigurationen nicht um Varianten von persönlicher, sondern von unpersönlicher Zweisprachigkeit. Genauer gesagt, konstituiert sich die NEZ in bestimmten, funktional spezialisierten Domänen, und diese sind deutlich getrennt von anderen Domänen wie der Alltagskommunikation oder dem Sprachgebrauch staatlicher Amtsgeschäfte. Die nationalsprachliche Komponente fungiert in den zuletzt genannten Bereichen ohne kommunikative Konkurrenz des Englischen. Nach Meinung der einen gibt es zum Englischen mit seiner Dominanz in der globalen Interkommunikation keine Alternative. Nach Meinung der anderen ist es das Gebot der Stunde, die Übermacht des Englischen einzudämmen und anderen Sprachen mehr kommunikative Geltung zu verschaffen. Diese Einstellungen kranken an ihren extremen Positionen, und auch daran, dass sie unrealistisch sind. Das Englische besitzt nicht die Monopolstellung, die viele auf den ersten Blick zu erkennen glauben. Andererseits ist es heutzutage unrealistisch, einen fruchtlosen Wettbewerb zwischen dem Englischen und anderen Sprachen mit Weltgeltung anstrengen zu wollen. Die Geltung des Englischen als globale Sprache ist nicht exklusiv. Einerseits nehmen andere Sprachen wie das Französische, Arabische, Chinesische, Russische oder Deutsche mehr als nur Nischenplätze ein (Haarmann 2005). Andererseits führt der Zugang zum Englischen beim größten Teil der Sprecher dieser Sprache über ein anderes Kommunikationsmedium mit Primärsprachenstatus. Allein die Zahl derjenigen, für die Englisch Zweitsprache ist (z. B. für Frankokanadier, für Latinos in den USA, für Kenianer), beläuft sich auf 236 Millionen; bezogen auf die Gesamtzahl der Primär- und Zweitsprachler des Englischen sind dies 41 Prozent (Haarmann 2001, 95; 101 f.). Nach Minimalschätzungen besitzen mindestens 1,5 Milliarden Menschen aktive englische Sprachkenntnisse. Im Vergleich dazu nimmt sich die Zahl der englischen Primärsprachler mit rund 337 Millionen gering aus. Im Kommunikationspotential der weitaus meisten Sprecher, die das Englische als Zweitsprache (second language) oder Zusatzsprache (additional language) erworben haben, fungiert also eine andere Sprache als Englisch für die verschiedensten Funktionen. Solche Proportionen sind geeignet, den Sachverhalt zu erhellen, dass die globale Funktion des Englischen eigentlich nur ein dünner Firnis ist, unter dem sich jeweils lokale kommunikative Interaktionsfelder aufbauen. Auch die meisten Konsumenten digitaler Informationen in der Welt, die über das Englische vermittelt werden, verwenden eine andere Sprache als Englisch in ihrer Alltagskommunikation. Häufig ist auch das Berufsleben anderssprachig geprägt, und das Englische besetzt hier lediglich bestimmte professionale Nischenplätze, wie beispielsweise im Wissenschaftsbetrieb (Ammon 2001; 2002). Außerhalb der engeren Gemeinschaft der englischen Primärsprachler wird die Kommunikation in der Alltags- und Berufswelt der Menschen durch funktionale Zweispra-
1994
XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
chigkeit gesteuert. Eine nicht-englische Nationalsprache ist mit dem Englischen funktional vernetzt. Während im Alltag die Nationalsprache dominiert, ist die Kommunikation in der Berufswelt ebenso durch die Nationalsprache wie durch das Englische geprägt. In manchen Berufssparten dominiert das Englische auch. Ein Beispiel ist das Arbeitsmilieu des Elektronikkonzerns Nokia, der in den 1990er Jahren seinen rasanten Aufschwung erlebt hat (Häikiö 2001). In allen Filialen des Konzerns in der Welt ⫺ und das heißt auch in Finnland ⫺ ist das Englische die alleinige Arbeitssprache. Viele Varianten der NEZ fungieren sowohl auf der Ebene der traditionalen Schriftlichkeit als auch auf der der digitalen Literalität (Hawisher/Selfe 2000). In Europa vertreten die meisten Nationalsprachenkomponenten diesen Kommunikationstyp. Die Literalität in den beiden beteiligten Sprachen kann monographisch sein, d. h. auf der gleichen Schriftart basieren, oder sie ist schriftmedial divergent: ⫺ monographisch⫺lateinisch (alphabetisch): deutsch⫺engl., französ.⫺engl., italien.⫺engl., finn.⫺ engl., türk.⫺engl., swahili⫺engl., indones.⫺engl., vietnames.⫺engl., u. a.; ⫺ digraphisch⫺kyrillisch/lateinisch: russ.⫺engl., ukrain.⫺engl., bulgar.⫺engl., serb.⫺engl., bosn.⫺engl., u. a.; ⫺ digraphisch⫺arabisch/lateinisch: arab.⫺engl., Farsi⫺engl., Pashto⫺engl., Urdu⫺engl., u. a.; ⫺ digraphisch⫺lokales Alphabet/lateinisch: griech.⫺engl., armen.⫺engl., georg.⫺engl., Ivrit⫺ engl., amhar.⫺engl., Hindi⫺engl., Thai⫺engl., korean.⫺engl., u. a.; ⫺ digraphisch⫺chinesisch/lateinisch: Mandarin⫺engl., kantones.⫺engl., u. a.; ⫺ polygraphisch-japanisch (chinesische Zeichen ⫹ Hiragana ⫹ Katakana)/lateinisch: japan.⫺engl.
In multilingualen Kontaktgebieten erweitert sich die NEZ zu einem dreisprachigen Komplex: katalan.⫺span.⫺engl. in Katalonien, tatar.⫺russ.⫺engl. in Tatarstan, tahitian.⫺französ.⫺ engl. in Französisch-Polynesien; u. a. Der Sachverhalt, dass die NEZ in zahllosen lokalen Varianten auftritt (deutsch⫺engl., französisch⫺engl., russisch⫺engl., finnisch⫺engl. u. a.), macht diesen Kommunikationstyp zu einer Ikone der modernen Multikulturalität. Während das Englische als Zweitsprache funktional wie auch symbolisch den Globalisierungsprozess repräsentiert (mit Funktionen internationaler Kommunikation in den wissenschaftlichen Disziplinen und im Marketing), weist die nationalsprachliche Komponente jeweils lokale Identität aus. In Zukunft werden wir mehr und mehr gehalten sein, unser Wissen über die Welt über den kommunikativen Kanal der NEZ zu konstruieren (Haarmann 2006, 337 ff.). Die Bildungsstandards in unserer zweisprachigen, digital vernetzten Welt werden sich immer weiter von denen in der Welt der Schriftlosigkeit entfernen, so dass sich immer mehr Kontraste in der globalen Bildungsgeographie auftun werden (Meusburger 1998).
5.2. Der Einluss des Englischen au Stil und Strukturen speziischer Textsorten Generalisierende Feststellungen zum globalen Einfluss des Englischen sind aufgrund der obigen Beobachtungen zu differenzieren, und zwar als Aussagen über englische Elemente und deren Frequenz in bestimmten Textgenres und Sprachvarianten einzelner Kontaktsprachen. Neuere Untersuchungen zum Deutschen haben gezeigt, dass der Anteil engli-
118. Die stilistische Charakterisierung von Einzelsprachen: Möglichkeiten u. Probleme 1995 scher Elemente im Wortschatz je nach Textsorte stark variieren kann: „Anglizismen finden sich in größerer Zahl nur in wenigen Textsorten, vor allem in der Anzeigen- und Werbesprache, in bestimmten Fachsprachen, etwa der Computersprache, in bestimmten Sendungen des Hörfunks und Fernsehens“ (Hoberg 2002a, 174). In manchen Kontaktsprachen des Englischen sind aber bestimmte Sprachstile massiv vom Englischen überformt bzw. von diesem abhängig. Dies trifft beispielsweise auf die verschiedenen Sparten der finnischen Wissenschaftssprache zu. Der Einfluss des Englischen auf diese Variante des Finnischen macht sich in allen Bereichen geltend, von der Phonetik über grammatische Strukturen und die Syntax bis zum Lexikon: ⫺ Erweiterung des Bestands an Konsonantenphonemen (/b/, /g/, /f/ und /z/ als zusätzliche Konstituenten) über die Integration von Entlehnungen; ⫺ Erhaltung von Konsonantenclustern in Lehnwörtern (z. B. plastiikka [Plastik] < engl. plastic), während solche Cluster in Entlehnungen früherer Epochen aufgelöst wurden (z. B. lasi [Glas] < schwed. glas); ⫺ Entlehnung von Wortbildungstechniken wie Kompositionen nach dem Muster von engl. oxygenpoor > finn. happiköyhä [sauerstoffarm] oder engl. user-friendly > finn. käyttäjäystävällinen [benutzerfreundlich]; solche Bildungen haben ältere Termini ersetzt (z. B. modernes bakteerivapaa [bakterienfrei], nach engl. bacteria-free, für älteres bacteeriton mit dem finnischen Suffix -ton [frei von, ohne]); ⫺ Die Interferenz des Passivgebrauchs im Englischen als Kontaktsprache hat die Frequenz ähnlicher Konstruktionen im Finnischen erhöht (z. B. finn. ovi avattiin mieheltä mit dem engl. Äquivalent the door was opened by (virtue of) the man); ⫺ Übernahme von Tausenden von Ausdrücken der verschiedensten Fachterminologien; über den englischen Einfluss hat sich das Inventar von Kulturwörtern mit griechisch-lateinischen Wortstämmen bedeutend erweitert (z. B. finn. analyysi, energia, orgaaninen); ⫺ Übernahme englischer Synonyme für existente finnische Ausdrücke (z. B. engl. plastic > finn. plastiikka wie in finn. plastiikkakirurgia [Plastikchirurgie] vs. einheimisch muovi [Plastik] als Ableitung vom Verb muovata [formen]); ⫺ Aktivierung von Wortstämmen für Ableitungen und Zusammensetzungen nach englischem Muster (z. B. finn. kaksois- [doppelt, zweifach] wie im Neologismus kaksoisklikata [zweifach klicken (Computersprache)]) mit der aus dem Englischen entlehnten Komponente -klikata < click).
„Thus, a page of scientific Finnish, tends to be full of English-inspired words of international origin, which differ radically from the structure and inventory of other genres of texts“ (Haarmann/Holman 2001, 256). Die multilaterale Einflussnahme des Englischen auf den Sprachgebrauch in den verschiedenen Fachdisziplinen vieler Länder hat neue Realitäten für die stilistische Ausgestaltung wissenschaftlicher Textsorten geschaffen. Das Englische wird hier in Zukunft unverzichtbar bleiben. Für eine komparatistisch orientierte Stilforschung stellt sich die anspruchsvolle Aufgabe, Fusionsprozesse englischer und nationalsprachlicher Elemente in ihrer lokal spezifischen Drift zu verfolgen und zu analysieren.
6. Literatur (in Auswahl) Aikhenvald, Alexandra Y./R. M. W. Dixon (eds.) (2001): Areal diffusion and genetic inheritance. Problems in comparative linguistics. Oxford/New York. Ammon, Ulrich (ed.) (2001): The dominance of English as a language of science. Effects on other languages and language communities. Berlin/New York.
1996
XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
Settekorn, Wolfgang (1988): Sprachnorm und Sprachnormierung in Frankreich ⫺ Einführung in die begrifflichen, historischen und materiellen Grundlagen. Tübingen. Sherzer, Joel (1983): Kuna ways of speaking: An ethnographic perspective. Austin. Spillner, Bernd (1974): Linguistik und Literaturwissenschaft. Stilforschung, Rhetorik, Textlinguistik. Stuttgart u. a. Spillner, Bernd (1996): Stilistik. In: Goebl u. a. (1996), 144⫺153. Stiver, Dan R. (1996): The philosophy of religious language. Sign, symbol & story. Cambridge, Massachusetts/Oxford. The Economist Style Guide. The bestselling guide to English usage. London: Profile Books (2005; 9 th ed.). Thomsen, Marie-Louise (1984): The Sumerian language. An introduction to its history and grammatical structure. Kopenhagen. Todd, Loreto (ed.) (2001): What is world Englishes. 2 vls. London. Vainio, Raija (1999): Latinitas and barbarisms according to the Roman grammarians. Attitudes towards language in the light of grammatical examples. Turku. Verdonk, Peter (2002): Stylistics. Oxford. Weber, Heinrich/Harald Weydt (Hrsg.) (1976): Sprachtheorie und Pragmatik. Akten des 10. Linguistischen Kolloquiums Tübingen 1975. Tübingen. Youngs, Tim (ed.) (1997): Writing and race. London/New York.
Harald Haarmann, Helsinki (Finnland)
119. Rhetorik und Stilistik in interkultureller Kommunikation 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Einleitung Der Stilbegriff der Interaktionsforschung Stilistische Irritationspotentiale in der interkulturellen Kommunikation Höflichkeit als Stil Rhetorik in der Interaktionsforschung Die Rhetorik und Stilistik von Dissens als interkulturell different Schluss Literatur (in Auswahl)
Abstract This article focuses on rhetoric and stylistics in intercultural interaction. Style features indexicalize the social meaning of an event and they also prompt inferencing. Face work is seen as one field in which style differences can cause irritations. Favoring a social politics of independence or interdependence has often been shown in the literature to produce significant differences on many stylistic levels. These may relate to the thereby projected “self ”. The author discusses Georgian toast rituals within an interdependence system of acquiring
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
Settekorn, Wolfgang (1988): Sprachnorm und Sprachnormierung in Frankreich ⫺ Einführung in die begrifflichen, historischen und materiellen Grundlagen. Tübingen. Sherzer, Joel (1983): Kuna ways of speaking: An ethnographic perspective. Austin. Spillner, Bernd (1974): Linguistik und Literaturwissenschaft. Stilforschung, Rhetorik, Textlinguistik. Stuttgart u. a. Spillner, Bernd (1996): Stilistik. In: Goebl u. a. (1996), 144⫺153. Stiver, Dan R. (1996): The philosophy of religious language. Sign, symbol & story. Cambridge, Massachusetts/Oxford. The Economist Style Guide. The bestselling guide to English usage. London: Profile Books (2005; 9 th ed.). Thomsen, Marie-Louise (1984): The Sumerian language. An introduction to its history and grammatical structure. Kopenhagen. Todd, Loreto (ed.) (2001): What is world Englishes. 2 vls. London. Vainio, Raija (1999): Latinitas and barbarisms according to the Roman grammarians. Attitudes towards language in the light of grammatical examples. Turku. Verdonk, Peter (2002): Stylistics. Oxford. Weber, Heinrich/Harald Weydt (Hrsg.) (1976): Sprachtheorie und Pragmatik. Akten des 10. Linguistischen Kolloquiums Tübingen 1975. Tübingen. Youngs, Tim (ed.) (1997): Writing and race. London/New York.
Harald Haarmann, Helsinki (Finnland)
119. Rhetorik und Stilistik in interkultureller Kommunikation 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Einleitung Der Stilbegriff der Interaktionsforschung Stilistische Irritationspotentiale in der interkulturellen Kommunikation Höflichkeit als Stil Rhetorik in der Interaktionsforschung Die Rhetorik und Stilistik von Dissens als interkulturell different Schluss Literatur (in Auswahl)
Abstract This article focuses on rhetoric and stylistics in intercultural interaction. Style features indexicalize the social meaning of an event and they also prompt inferencing. Face work is seen as one field in which style differences can cause irritations. Favoring a social politics of independence or interdependence has often been shown in the literature to produce significant differences on many stylistic levels. These may relate to the thereby projected “self ”. The author discusses Georgian toast rituals within an interdependence system of acquiring
119. Rhetorik und Stilistik in interkultureller Kommunikation
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and conferring honor and relates these practices to similar ones in other cultures. Addressing people is another area which the article pays close attention to. Cultural assumptions about conflict, argumentation and aggression also influence rhetoric. Thus, the article finally summarizes research dealing with various ways of communicating disagreement and opposition.
1. Einleitung In der Forschung zur interkulturellen Kommunikation wird Kultur als ein Bestand an Symbolen und Praktiken verstanden, durch den ein zwischen Mitgliedern einer Gruppe geteiltes Wissen um Standards des Glaubens, Deutens und Handelns in der sozialen Interaktion manifest gemacht wird. Sie dient der überindividuellen Konstruktion von Wirklichkeit, stellt Orientierungsmuster bereit und konstituiert soziale Identität. Interkulturalität im engeren wie im weiteren Sinne hat mit Fremdheit und Differenz, mit Gruppenzugehörigkeit und gesellschaftlicher Mitgliedschaft zu tun (Redder/Rehbein 1987; Knapp 2004, 412). Da Kommunikation in der Handlungsgemeinschaft mit ihren Interpretationskonventionen erworben wird und habituell verankert ist, sind Rhetorik und Stilistik relevante Bezugswissenschaften (Kotthoff 1989; Hinnenkamp 1994; Heringer 2004; Kotthoff 2007). Durch das Zusammentreffen von Verhaltensweisen, Denkmustern und Stilen, die durch unterschiedliche Kulturen geprägt sind, kommt es in der interkulturellen Kommunikation vermehrt zu Kommunikationsproblemen. Es gibt viele Studien dazu, wie beispielsweise Amerikaner im geschäftlichen Kontakt mit Japanern scheitern (Yamada 1997, 54 ff.), pakistanisches und indisches Bedienungspersonal die englische Kundschaft am Flughafen Heathrow unabsichtlich durch ungewohnte Intonation brüskierte (Gumperz 1982) oder russische Wissenschaftler(innen) ihre Vorträge nicht so anlegen, wie es in der deutschsprachigen akademischen Welt Usus ist und für kompetent befunden wird (Kotthoff 2002; Breitkopf 2006). Die Amerikaner haben beispielsweise die in Japan übliche mehrtägige Periode des small talk vor einer Geschäftsverhandlung mit zu vielen Versuchen, endlich zum Geschäftlichen zu kommen, gestört; die Intonation der Inderinnen und Pakistaninnen ging bei Fragen nicht so hoch, dass es in britischen Ohren freundlich klang und die Russen präsentieren bei Vorträgen kaum eine Gliederung und zitieren eher große Dichter statt der neuesten Fachliteratur. Die aus solchen rhetorischen und stilistischen Differenzen resultierenden interkulturellen Missverständnisse werden im Alltag meist nicht unterschiedlichen Kommunikationskonventionen angelastet, sondern man attribuiert sich eher gegenseitig ungünstige Eigenschaften (die einen finden die anderen zu gierig oder zu umständlich, zu unhöflich, zu unwissenschaftlich oder zu ungebildet und dergleichen mehr).
2. Der Stilbegri der Interaktionsorschung Für die Forschung zur interkulturellen Kommunikation (IKK) wurde ein Stilbegriff fruchtbar gemacht, der analog zu allen Beiträgen dieses Bandes davon ausgeht, dass Stil mehr ist als „the frosting on a cake“ (Tannen 1984, 8). Stil ist die spezifische Art und
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
Weise der Darbietung von Aktivitäten im Kontext. Innerhalb einer Kultur konventionalisieren sich situative Stilerwartungen. Zum Beispiel ist die erwartbare (In)formalität eines Ereignisses eine seiner bedeutsamen stilistischen Dimensionen. Anders gesagt: Wir kreieren das Niveau der (In)formalität mittels einer Stilistik der Rede und der Situationsgestaltung, wozu z. B. Kulinaria, Raum- und Körpergestaltung und nonverbale Kommunikation gehören. Ein Stil besteht oft aus dem Zusammenspiel verbaler und anderer semiotischer Verfahren (Eckert 2000, 41 f.). Kleidungsstile verweisen zum Beispiel auf das soziale Geschlecht, Schicht, Kulturraum, Situation, Alter und vieles mehr. Seit dem performative turn in Semiotik und Pragmatik rekonstruiert man ko-okkurierende stilistische Merkmale, die zusammen eine Typisierung ergeben (Soeffner 1986; Sandig 2006, 277 ff.). In der Alltagssprache werden Stile mittels verschiedener verbaler Verfahren kategorisiert, z. B. durch Adjektive wie professoral, kindisch, damenhaft, bäuerlich etc. Ein Stil wird so als ein Bündel von Kontextualisierungsverfahren gekennzeichnet (Gumperz 1982; Hinnenkamp/Selting 1989, 6). Sandig und Selting (1987, 142) schreiben, dass stilistische Typisierung prototypisch organisiert sei. Der Prototyp vereinigt alle zentralen Merkmale; weiter vom Prototypen entfernt liegende Stile überlappen sich schon mit denjenigen der angrenzenden Gruppe. Stile sind mehr oder weniger gut identifizierbar. Da Kontextualisierungsverfahren in der Regel unbewusst eingesetzt werden und im Rahmen kultureller Erwartungen interpretiert werden, kann es im interkulturellen Kontakt zu Befremden und besonderem Interpretationsaufwand kommen, wenn Stile nicht adäquat verstanden werden (Günthner 1993, 47 ff.). Interagierende nutzen Stile und ihre Alternation um auf unterschiedlichen Ebenen Bedeutung zu indexikalisieren oder zu symbolisieren: auf der textuellen, interaktionellen, situationellen oder rituellen Ebene (Sandig 2006).
3. Stilistische Irritationspotentiale in der interkulturellen Kommunikation Stil ist in allen Bereichen der Erforschung von IKK eine relevante Dimension (Tannen 1984). Günthner (1993, 2000) berichtet in ihren Untersuchungen deutsch-chinesischer Diskurse über differierende stilistische Konventionen im Bezug auf Rezipienzbekundung im Gespräch mittels mhm und uhu, differente Verwendung von Sprichwörtern, Unterschiede im Grad an Direktheit bei Nichtübereinstimmung und Unterschiede in der Themenentwicklung. In den meisten asiatischen Kulturen wird Dissens sehr indirekt vermittelt (Yamada 1997, 44 ff.). Andere Studien zeigen, dass schon allein unterschiedliches Tempo in der Übernahme von Redezügen beispielsweise für erhebliche Irritation sorgen kann (Tannen 1984, 71; Enninger 1987, 273). Andererseits belegen einige wenige Arbeiten, dass erfolgreiche Interaktionen sehr wohl erreicht werden können, obwohl stilistische Differenzen und sogar gegenseitige Negativstereotypisierung der beteiligten Partner im Prinzip der Fall sind. Rhetorische und stilistische Differenzen sorgen nicht automatisch für Fehleinschätzungen und Distanz. Erickson und Shultz (1981) haben Studienberatungen (counselings) zwischen euroamerikanischen Beratern und euro- und afroamerikanischen Studenten an amerikanischen Universitäten videoaufgezeichnet und interaktionsanalytisch unter Einschluss von Mimik, Gestik und Proxemik ausgewertet. Der Zweck dieser Beratungsgespräche besteht darin, dass counselor und Student (in der Stu-
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die nur männliche Personen) gemeinsam herausfinden, ob der Student sich an der Hochschule weiterqualifizieren sollte. Für die euroamerikanischen und afroamerikanischen Studenten wurden in diesen Gesprächen Weichenstellungen für ihre berufliche Zukunft geleistet. Für die euroamerikanischen fielen die Prognosen und Karrierevorschläge günstiger aus, weil ihr Gesprächsstil mit dem der Berater kompatibler war und sie nicht nur deshalb auf diese kompetenter wirkten. Es geht in den Gesprächen vordergründig nur um objektive Leistungsbeurteilung. Unter der Hand wirkt sich aber aus, wie stark die Beteiligten im Gespräch stilistisch und rhetorisch kooperieren (können). In der Gesellschaft bereits vorhandene Positiv- oder Negativstereotypisierung tut ein Übriges, wenn subtile Übereinstimmungen, z. B. bei Elizitierung von Rezipienz, nicht funktionieren. Trotzdem kam es auch zwischen den euroamerikanischen Beratern und den afroamerikanischen Studierenden dann zu engagierten Gesprächen und in der Folge für die Studierenden zu günstigen Kompetenzdiagnosen und Prognosen, wenn co-membership hergestellt werden konnte, d. h. wenn die beiden Parteien gemeinsame Interessen und Zugehörigkeiten fanden. Diese glichen die gesprächsstilistischen Unterschiede (z. B. im Bereich des turn-taking) immer aus. Während diese Studie zeigt, wie Ethnizität in ihrer Bedeutung entkräftet werden kann, gibt es auch Umgekehrtes. Inzwischen gilt es vor allem für viele Bereiche institutioneller Kommunikation als wichtige Erkenntnis, dass hier soziale Konflikte ethnisiert werden können, d. h. dass sowohl die Beteiligten als auch forschende Beobachter Milieu- oder Ressourcendifferenzen eher ethnischen als politischen oder soziologischen Parametern anlasten (Ehlich 1998, 923; Thielmann 2007, 395 ff.). Nicht jedes interaktionelle Problem hat einen kulturellen Grund. Zu Recht weist Shi-xu (2006, 314 ff.) darauf hin, dass Machtunterschiede, Repressions- und Exklusionspolitik in der Erforschung von interkultureller Kommunikation oft in ihrer Bedeutung unterschätzt wurden. Es ist bislang in der Forschung zur interkulturellen Kommunikation nicht völlig klar, warum mit stilistischer Differenz unterschiedlich umgegangen wird. Manchmal gefährdet sie den Diskurs, manchmal nicht, manchmal bereichert sie ihn gar. Dort, wo zwischen den Kommunikationsstilen und denjenigen, die sie sprechen, ein sozioökonomisches und ein generelles prestigesymbolisches Gefälle herrschen, kommt es vermutlich eher zu Missverständnissen und Diskriminierungen, die dann im Rückgriff auf stilistische Differenzen plausibilisiert werden können. Für die Attribution von Kulturdifferenz als Ursache von Konflikten ist Vorsicht geboten (dazu Studien in Kotthoff 2001). Die Forschung zur interkulturellen Kommunikation geht der Frage nach, wie bestimmte Identitätskategorien in Interaktionen zum Anschlag gebracht werden (Hausendorf 2000, Spreckels/Kotthoff 2007). Auch hier gilt, dass Ethnizität nicht zwangsläufig von hoher Relevanz ist. Unsere moderne Welt ist durch schnelle Veränderung, wachsende geographische und soziale Mobilität, im Westen auch durch Freiheiten sozialer Verbindung, die Pluralisierung von Lebensformen und Weltsichten und hohe Individualisierung gekennzeichnet. Knapp-Potthoff (1997, 182) macht darauf aufmerksam, dass in manchen Teilen der Erde heutige Individuen weniger monokulturell geprägt sind als früher. Sie haben Mehrfachzugehörigkeiten und eine höhere Bereitschaft, etwas Neues entstehen zu lassen, was man als diskursive Interkultur fassen kann. So hat sich auch das mögliche Identitätenspektrum der Individuen erweitert: „While earlier the development of identity was much more strongly marked by the position into which one was born, modern man is forced to choose among many possibilities and this struggle of the youth with the demanded choice of a self-definition is […] referred to as an identity crisis“ (Oerter/ Dreher 1995, 348; zitiert nach Spreckels/Kotthoff 2007, 420).
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
4. Hölichkeit als Stil Verschiedene Handlungen oder Handlungskomponenten können im interpersonellen Bereich sozialindikative Dimensionen enthalten, z. B. die Wortwahl beim Sprechen, Interaktionsstilistik (Rederechtsstrukturen, turn-Längen, Durchsetzungsstrategien), Gesten, Raumverhalten, Körperhaltungen und Intonationskonturen, wodurch die Sprecherin ihre Haltung zum Gesprächsthema und zum Gegenüber zum Ausdruck bringt. Höflichkeitsgrade werden über stilistische Variation vermittelt (Sandig 2006, 281 f.). Die nach Goffman (1967, 47ff.) grundlegenden Komponenten der Interaktion, Ehrerbietung und Benehmen, kommen darin zum Ausdruck. Goffman (1967, 5 ff.) sieht die Wahrung, Schonung und Aufrechterhaltung des eigenen Gesichts und desjenigen von anderen als Grundkomponenten einer Identitätspolitik, die er „face work“ nennt. Vor allem Brown und Levinson (1987) entwickelten um seine Vorstellungen von face work herum eine komplexe, sprachbezogene Höflichkeitstheorie. Innerhalb einer Kultur ist das Höflichkeitsniveau, welches Interagierende kommunizieren, in seiner spezifischen Beziehungsindikation interpretierbar. In der interkulturellen Kommunikation lauert gerade in diesem Feld ein hohes Irritationspotential (Scollon/ Scollon 1995, 74 ff.; Kotthoff 2007, 175). Man kann innerhalb einer Kultur ein normales Alltagsniveau und besondere Zuvorkommenheit unterscheiden (Haferland/Paul 1996, 26 f.). In der Fremdkultur ist gerade dieser Unterschied schwer zu verstehen. Goffman (1967, 32) unterscheidet positive und negative Imagearbeit ( face work), d. h. unterstützende Aktivitäten und abgrenzende. Sprachgebrauch muss als Handlung in sozialen Beziehungen den beiden face-wants der Anerkennung und der Gewährung/Beanspruchung von Handlungsraum gerecht werden. Normalerweise kooperieren Menschen darin, sich in diesen Bedürfnissen nach Imagebestätigung und ⫺schonung zu unterstützen. Es gibt aber auch Zusammenstöße, Turbulenzen und Frustrationen. Das Höflichkeitssystem ist nicht streng, sondern sehr locker genormt. Vor Gericht und in der Psychotherapie, wo es institutionell um Wahrheitsfindung geht, ist Gesichtsschonung kaum mehr relevant (Lakoff 1989, 105). Auch Zeitdruck lässt das Bemühen um Höflichkeit tendenziell gegen Null gehen.
4.1. Distanzwahrung Vom sogenannten negativen Gesicht, also dem Bedürfnis nach Handlungsfreiraum, leiten sich Formen der Indirektheit und Verblümtheit ab und solche Höflichkeitsformen, die damit zu tun haben, Behinderungen des Handlungsspielraums des Hörers/der Hörerin, wie z. B. Drohungen, Aufforderungen und Befehle herunterzuspielen. Dort, wo Befehle frei geäußert werden, ist aus verschiedenen Gründen Rücksichtnahme nicht der Fall, z. B. im Militär. Hier zeigt sich Hierarchie als offene Machtausübung. Im Alltag der meisten von uns ist offen und unverblümt praktizierte Machtausübung selten der Fall. Sätze wie: „Können Sie das wohl bitte mal kurz kopieren?“ ⫺ geäußert von der Chefin zur Sekretärin ⫺ klingen uns vertrauter im Ohr als schlichte Imperative. Wir betreiben diesen verbalen Aufwand, um dem Gegenüber Handlungsspielraum zu suggerieren und damit Respekt und Rücksichtnahme (Langner 1994, 30 ff.). Sozialer Status spielt im Bereich der Höflichkeit eine Rolle. Je statushöher die Person, von der man etwas möchte, umso mehr stilistischer Aufwand wird getrieben, umso stärker werden Techniken der
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Gesichtsschonung in Anschlag gebracht (Lakoff 1973, 299). Natürlich wirkt sich immer auch der Grad an Zumutung aus. Wenn man sich von einem Freund ein Auto ausleiht, ist der verbale Aufwand höher als bei einem Kugelschreiber (Brown/Levinson 1987, 70). Formen von Höflichkeit, die Direktheit und Klarheit vermeiden, sich in Andeutungen ergehen und Handlungen nur verblümt nahe legen, sind in Westeuropa eher typisch für Distanzbeziehungen. Man indiziert Übergänge zu höheren Vertrautheitsstufen durch Veränderungen im verbalen Höflichkeitsstil. Das Missverständnispotential ist in diesem Bereich hoch. In Spencer-Oatey (2000) und in Lüger (2000) wird eine große Bandbreite an interkulturellen Unterschieden und Konflikten diskutiert, die aus kulturell eingespielten Praktiken resultieren.
4.2. Bestätigung und Unterstützung Das so genannte positive Gesicht ist dasjenige, welches eine Person an Bestätigung, Verständnis, Sympathie und Liebesbekundung von einer anderen Person erhält und an sie gibt. Zum positiven Gesicht gehört die Anerkennung von allem, was uns als Persönlichkeit ausmacht. Brown und Levinson (1987) schreiben, dass es in vertrauten Beziehungen mehr Aktivitäten der positiven Höflichkeit gebe, wie z. B. Komplimente, Bestätigungen von Gemeinsamkeit, Interessebekundungen, persönliche Nachfragen, Dank und Erkundigungen. Positive Höflichkeit schaffe Solidarität und Vertrautheit. Hohe Vertrautheitsgrade können signalisiert werden über eine Zurücknahme von negativer Höflichkeit und eine Zunahme an Strategien positiver Höflichkeit und könnten auch so hergestellt werden. Direktheitsstufen und die Art und Weise, wie das negative oder positive Gesicht unterstützt werden, variieren im Kulturvergleich erheblich und wurden häufig als Quelle interkultureller Missverständnisse identifiziert (Foley 1997, Spencer-Oatey 2000). Mit Geertz (1983, 59) können wir westliche Konzeptionen persönlicher Autonomie soziozentrischen Konzeptionen gegenüberstellen: Im Westen sieht man eine Person idealerweise als begrenzt und einzigartig, als ihr eigenes motivationales und kognitives Zentrum, auch als Zentrum ihrer Emotionen, Moralvorstellungen und Handlungsimpulse ⫺ inmitten einer sozialen und natürlichen Umgebung. Diese Vorstellungen gelten in Süd- und Osteuropa und Asien und vielen afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern weniger. Sifianou (1992) beschreibt beispielsweise griechisch-englische Unterschiede im Hinblick auf Imagepolitik. Die Engländer(innen) kommunizieren mehr Wertschätzung für Privatheit und Individualität (negatives Gesicht), während die Griech(inn)en ihre soziale Verbundenheit und Gruppenzugehörigkeit stärker herausstellen (positives Gesicht). Die Grenzen des persönlichen Raums schließen in Griechenland die Mitglieder der ingroup ein. Persönliches Wohlbefinden wird stärker an das Wohlbefinden der Gruppe gekoppelt als in England. Das eigene positive Gesicht ist mit dem der Familie und engen sozialen Umgebung stark verbunden. Der Wunsch nach Sympathie und Anteilnahme bezieht sich nicht nur auf das Individuum selbst, sondern auch auf sein enges, soziales Netzwerk. Das positive Gesicht bezieht sich somit auf eine Gruppe, nicht auf ein isoliertes Individuum.
4.3. Trinksprüche als Gattung einer positiven Gesichtsunterstützung Kotthoff (1999; 2007) zeigt Unterschiede zwischen deutschen und georgischen Ausdrucksformen von Ehre und Respekt, die den englisch-griechischen Unterschieden ver-
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gleichbar sind. Zum Beispiel wurde die Gattung der Trinksprüche als in Georgien omnipräsente Kommunikationsform der Respektbekundung in sozialen Netzwerken analysiert. Günthner (2007) diskutiert für viele kommunikative Gattungen deren kulturelle Varianz. In der kanonischen Kette vieler Trinksprüche, die in Georgien obligatorisch dargeboten werden, wenn Gäste am Tisch sitzen, werden soziale Qualitäten von Personen öffentlich gemacht. Georgische Gäste und Gastgeber erwarten in den Toasts die positive Erwähnung ihrer Familien oder Herkunftsgegenden als Höflichkeitsgeste ihnen gegenüber. Sie erwarten sogar die Erwähnung ihrer Verstorbenen. Dabei zeigt sich in den Trinksprüchen immer wieder die Kulturspezifik moralisierender Inhalte (und der damit verbundenen Gefühlspolitik) und Darbietungen. Den Kern des in dieser kulturellen Praxis zum Ausdruck kommenden georgischen Ehr-Konzeptes (pø atøivi) kann man als Gegenseitigkeits- oder Interdependenzbeziehung definieren. In Georgien wird die Ehre eines Menschen grundsätzlich auf sein familiäres Umfeld ausgedehnt (wie in vielen östlichen und südlichen Kulturen). Wer zu wenig Bestätigung und Huldigung in Form von Komplimenten, Danksagungen und huldigenden Anekdoten zurückgibt, bringt gleichzeitig seine eigene Ehre in Gefahr. Er hat keinen Stil und somit auch keine Ehre. Stil wird insofern mehr oder weniger stark ausgeprägt mit Moral in Zusammenhang gebracht. Im Vergleich zu den durch Toastketten formalisierten Tischkonversationen in Georgien, Russland, Kasachstan und vielen anderen osteuropäischen Ländern, ist die in Westeuropa übliche Tischkonversation sehr informell. Die Themengestaltung bleibt völlig den Individuen überlassen. Im Vergleich von westlich-östlichen Kommunikationsstilen begegnen wir auch im Bereich der Tischkonversation dem unterschiedlichen Wert von Independenz und Interdependenz. In Georgien wird innerhalb der Toast-Gattung ein emotiv aufgeladenes oder gar religiöses Vokabular verwendet. Das zeigt, dass die Interaktionsmodalität des Pathetischen im Kulturvergleich unterschiedlich besetzt ist (Kotthoff 2007, 178 f.). Durch metaphorische und metonymische Verfahren und durch viele dreischrittige Parallelstrukturen sind georgische Toasts auf eine ästhetische und pathetische Wirkung hin angelegt. Zu den textuellen Charakteristika gehören eine deutliche Rahmung, prosodisch und syntaktisch mehr oder weniger stark markierte Zeilenstrukturen, die Repetitivität der verwendeten Formeln, eine nichtalltägliche, exklusive Wortwahl, positive Würdigung der Qualitäten der Angesprochenen, Bildlichkeit im Ausdruck und ein eskalierender und dramatisierender Aufbau. Diese Performanzfaktoren pathetisieren und ästhetisieren die Gattung; sie können variieren. Die Repetitivität der Themen und Formulierungen, die pathetische Modalität und das Verbalisieren von Hoffnungen und gemeinsamen Wünschen erinnern an Gebete. Außerirdische Kräfte und Gott werden im georgischen Trinkspruch direkt angerufen. So nimmt es nicht wunder, dass die Anwesenden manchmal mit amin/amen reagieren. Die hohe Wertschätzung für formelle und pathetische Kommunikation und für die Adressierung der Anwesenden als Vertreter von größeren Gebilden, wie z. B. Clans, ihrer Region, ihrer Großfamilie oder ihrer Institution, markieren sehr auffällige stilistische und rhetorische Unterschiede zur Gattung des Trinkspruchs in Westeuropa oder USA. Erstens wird im Westen nur bei besonderen Anlässen überhaupt ein Trinkspruch geäußert, zweitens sind diese in Thema und Reihenfolge nicht kanonisiert, drittens können sie auch schlicht und kurz oder ironisiert dargeboten werden, viertens spielen religiöse Komponenten keine Rolle. Die pathetische Darbietungsform gilt in Georgien als normal; sie wird von Menschen aus Westeuropa schnell als schwülstig empfunden. Die stilistisch sehr unterschiedliche Realisierung dieser Gattung verweist auf differente Konzeptionen von Individualität und Sozialität.
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Alle uns bekannten Kulturen teilen im Großen und Ganzen das Vorhandensein verschiedener Strategien der Unterstützung und Distanzwahrung. Alle kennen Danksagungen, Komplimente, emphatische Hörersignale vom Typ interessant und was Sie nicht sagen, eingeworfen in den Redefluss des Tischnachbarn und immer geeignet, ihm zu spiegeln, wie spannend seine Themen sind, wie gut er erzählt und wie toll das ist, was er erlebt hat ⫺ somit sein Selbstbild unterstützend. Kulturen unterscheiden sich aber sehr in Art, Anlass und Inhalt von Komplimenten und Danksagungen. In georgischen Trinksprüchen wird z. B. oft das explizite Kompliment geäußert, ein Anwesender sei ein guter Georgier. Georgisch-Sein stellt überhaupt einen omnipräsenten moralischen Wert dar, was zeigt, dass die vor einigen Jahren errungene nationale Selbstständigkeit auf den Ebenen alltäglicher Interaktion in ihrer Relevanz bestätigt wird (Kotthoff 1991b, 238; 1999, 42). In Deutschland beispielsweise stellt Deutsch-Sein keinen anerkannten Wert dar, eher schon Europäisch-Sein. Aber auch dies wird selten explizit kundgetan. Die Proklamation von Deutsch-Sein wird nur rechts außen im politischen Spektrum betrieben. Wer sein gutes Deutsch-Sein proklamiert, symbolisiert eine politische Haltung. Darum ist vielen Deutschen die dauernde Proklamation von Georgisch-Sein bei georgischen Tischgesprächen suspekt. Auch in den Toasts angepriesene Werte wie richtiges Mannsein sorgen in gemischtkulturellen Szenen in Georgien für Gesprächsstoff unter den Ausländern, die das oftmals bewitzeln (Kotthoff 1991b, 238; 1999, 42). Alle Kulturen kennen auch die Verwandlungen von Befehlen in Bitten, das Verblümen von Kritik und das Herunterspielen von Wünschen. Wie stark dies aber in welchem Kontext betrieben wird, variiert zwischen den Kulturen erheblich. Goffman (1967, 4 ff.) beschrieb hauptsächlich US-amerikanische und westliche Gesichtspolitik, die dem Individuum und seiner Handlungsfreiheit huldigt. Andere Anthropologen wie z. B. Shweder/ Bourne (1984) machten deutlich, dass viele Kulturen eine soziozentrische Identitätspolitik pflegen. Der Unterschied zwischen einer egozentrischen oder einer soziozentrischen Identitätskonzeption wird auch stilistisch kommuniziert. Sugitani (1997) und Yamada (1997) kontrastieren amerikanische Ideale der Independenz mit asiatischen der Interdependenz. Innerhalb einer Kultur sind in einem bestimmten Kontext gewisse stilistische Standards als kulturelle Normalität eingespielt und sie treffen auf eine Interpretation, die in der Gemeinschaft geteilt wird. Das Irritationspotential resultiert aus kulturspezifischen Normen und Werten, auch solchen, die schon in der Sprache als solcher grammatikalisch geronnen sind. Die Anredepraxis soll als ein Bereich stilistischer, kultureller Varianz im Folgenden näher betrachtet werden.
4.4. Duzen, Siezen, Anreden Viele Sprachen unterscheiden in der Anrede Distanz- und Solidaritätsformen (Brown/ Gilman 1960, 252 ff.). Im Deutschen wird zwischen Duzen und Siezen unterschieden. Das Siezen wird mit der 3. Person Plural bewerkstelligt, nicht mit der 2. Person Plural wie z. B. im Französischen, Russischen oder Georgischen (Besch 1996, 92). Die einfache Regel lautet, dass man sich im deutschen Sprachraum mit Fremden siezt und mit Familienmitgliedern, Freunden und Freundinnen duzt (Ammon 1972, 75). Nur ist das bei näherem Hinsehen alles andere als einfach. Da sind z. B. die Übergänge. Wer darf wem wann das Du anbieten? Es sollte von den jeweils Höhergestellten ausgehen. Höhergestellt-Sein
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hat mit Status und/oder Alter zu tun. Zwischen Chefin und Untergebener ist klar, von wem das Duzen ausgehen könnte. Wie ist es mit dem Hausbesitzer, der von Beruf Lehrer ist und der Mieterin, die Professorin ist? Man könnte sagen, dass hier das Mietverhältnis ja das relevanteste ist, also müsste das Du vom Hausbesitzer ausgehen. Die Entscheidung, was jetzt im Kontext als das relevanteste Kriterium gilt, ist oft kompliziert (Winchatz 2006). Auch Einheimische kämpfen in diesem Bereich mit Unsicherheiten. Noch dazu gibt es viele Kontexte, in denen inzwischen im deutschen Sprachraum von Beginn an geduzt wird, z. B. im Sport. Im Laufe der Studentenbewegung wurde das Du unter Studierenden an deutschen Hochschulen zur generellen Norm (Clyne et al. 2006, 289). Schwierigkeiten gibt es dort nur noch mit älteren Kommilitonen, Dissertierenden und jungen Assistenten und Assistentinnen. Wollen diese als gleichrangig von den Student(inn)en behandelt werden oder nicht? Man nimmt meist eine allgemeine Einschätzung des Habitus vor. Wird das Gegenüber eher als lockerer Typ eingeschätzt, kann das Du gewagt werden; wird es eher als steif und formell eingeschätzt, kommt einem eher ein Sie über die Lippen. Während im Schwedischen die Solidaritätsformen inzwischen als die unmarkierten angesehen werden können, hat der deutsche Sprachraum koexistierende Systeme (Clyne et. al. 2006, 300 f.). Wer sich duzt, spricht sich auch mit Vornamen an. Diese Verbindung ist beispielsweise in Schweden weniger zwingend. In der Schweiz wird im Allgemeinen schneller geduzt als in Deutschland, vor allem als in Norddeutschland. Werbung, z. B. die von Ikea, sprach die schweizerische Kundschaft schon vor zwanzig Jahren mit Du an, etwa: Wir haben ein tolles Angebot für Dich. In Deutschland heißt es beim um den Habitus der Jugendlichkeit bemühten schwedischen Möbelkonzern Ikea erst seit einigen Jahren: Wir haben ein tolles Angebot für Dich. 2007 wurde in der deutschen Tagespresse kritisch darauf Bezug genommen, dass der gleichfalls schwedische H&M-Konzern seinen Mitarbeitern das Du allgemeinverbindlich abverlangte (z. B. Badische Zeitung 8. 3. 2007). Russen und Russinnen finden, dass man in Deutschland schneller auf eine Du-Basis komme als in Russland auf die entsprechende ty-Basis (Rösch 1996; Kotthoff 1993b). Ty scheint wesentlich mehr Vertrautheit vorauszusetzen als das deutsche Du und noch mehr als das schweizerische Du. In diesem Bereich der Höflichkeit liegen Unterschiede also zum einen in den sprachsystematischen Möglichkeiten und Erfordernissen, zum anderen aber auch in kontextuellen Gebrauchsnormen. Die Namensanrede ist ebenfalls kulturell sehr unterschiedlich geregelt (Braun/Kohz/ Schubert 1986). Im Deutschen unterscheiden wir im Wesentlichen Vornamen, Herr/Frau und die Titel-plus-Familienname-Anrede. An Universitäten ist im Bereich des Mündlichen die Titel-Anrede seit der Studentenbewegung im Rückgang. Im Bereich des Schriftverkehrs hingegen gilt sie unangefochten. Zumindest im Briefkopf muss unbedingt Prof. Dr. XY stehen, so man nicht als respektlos gelten will. Wenn man den Herrn oder die Dame kennt, darf der Brief mit Sehr geehrter Herr/Frau Y eingeleitet werden. Daneben gelten aber unterschiedliche Fachkulturen. Im Bereich der Medizin sind Frau Doktor und Herr Doktor durchaus die übliche Anrede. In den Kultur- und Sozialwissenschaften gilt dies in Deutschland nicht, in Österreich aber sehr wohl. Auch der Magister ist dort in der Anrede hochrelevant. Österreichische Studierende berichten, dass es ihnen Mühe bereite, deutsche Professoren und Professorinnen mit Frau Sommer oder Herr Winter anzusprechen, was einige von diesen sich bei längeren Aufenthalten an österreichischen Hochschulen ausdrücklich wünschen. Die Studierenden sagten in einer persönlich veran-
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stalteten Umfrage, sie kämen sich bei den titellosen Anreden immer ein wenig respektlos vor. Man merkt hier, dass die gewohnte Höflichkeit tief emotional verankert ist. Sich auf ein anderes Höflichkeitssystem einzulassen, verlangt eine Art Überwindung inneren Unwohlseins, das mit der Beachtung/Nichtbeachtung eines habitualisierten Stils zu tun hat. Höflichkeit wird verkörperlicht. Sie ist uns als eine verköperlichte Semiotik (Duranti 1997, 49) auf den Leib geschrieben. Im Russischen ist die Anrede mit Herr/Frau X nicht existent. Zu kommunistischer Zeit gab es starke Bemühungen Genosse ⫺ also tovarisˇ ⫺ mit Nennung des Familiennamens einzuführen, was auch im politischen und öffentlichen Bereich insgesamt gelungen ist, ähnlich in anderen sozialistischen Ländern. Es wird damit deutlich, dass der Anredebereich mit seiner sozialen Expressivität auch ideologisch unterfüttert ist. So gibt es heute gewisse Bemühungen darum, tovarisˇ durch grazˇdanin/grazˇdanka, also Bürger/Bürgerin, zu ersetzen. Am Arbeitsplatz ist das aber nach wie vor vollkommen unüblich. Dort herrschen Vor- und Vatersname als übliche Anrede (Barthel/Zazavitchi-Petco 1998, 107). Mit einer solchen Referenz berichtet auch die Presse über Politiker und so werden sie auch in Interviews angeredet. Wird man mit Vor- und Vatersname angesprochen, ist man auf vy-Basis. Man ihrzt sich. Geht man zum Vornamen über und damit auf die ty-Ebene, ist man praktisch unmittelbar auch dabei, zu Koseformen der Vornamen überzugehen. Eine Elena wird von guten Bekannten nicht Elena genannt, sondern Lena. Für die Eltern und engen Freunde und Freundinnen ist sie Lenotcˇka. Beinahe jeder Name hat eine Kose-Ableitung, die unter guten Bekannten benutzt wird, ein Ivan wird zum Vanja, ein Leonid zum Ljonja, manche haben drei Stufen und mehr. Ähnliche Abstufungen in der Kose-Form praktizieren die Georgier. In Georgien ist das Morphem ikø o als zweite Kosestufe sehr verbreitet: Aus Mixail wird in der Nachbarschaft Misˇa und in sehr nahen Beziehungen Misˇikø o. Man muss natürlich wissen, wann welche Kose-Stufe angebracht ist. Im Deutschen sind Kose-Formen wesentlich weniger verbreitet.
4.5. Formalität Inormalität Die gewählten Höflichkeiten haben damit zu tun, ob Situationen und Beziehungen eher als formell oder eher als informell eingeschätzt werden. Alle Ausdrucksebenen können eingesetzt werden, um den Grad an Formalität oder Informalität zu bestimmen (Irvine 1978; 2001), sofern er frei bestimmbar ist ⫺ und nicht von vornherein festgelegt. Insofern geht Höflichkeit auch immer über das Verbale hinaus. Auch die Semiotik kulinarischer Angebote, der Tischgestaltung, Kleidung, Körpergestaltung, der Zeit, die man jemandem widmet, sind im Rahmen von Höflichkeit interpretierbar (Elias 1976). Dazu muss eingeschätzt werden, ob die Beziehung symmetrisch oder asymmetrisch ist und ob sich dies auf verbaler Ebene spiegeln darf. In Deutschland werden Kinder z. B. geduzt, diese siezen aber die Erwachsenen, z. B. die Lehrer(innen) in der Schule. In Russland gibt es auch an Universitäten asymmetrisch gerahmte Beziehungen, dahingehend, dass die Professorin etwa mit Elena Petrovna und vy angeredet wird, der Student aber mit Kolja (Nikolai). Auch an US-amerikanischen Universitäten ist Asymmetrie der Anrede an Universitäten üblich. Sehr häufig sprechen die Studierenden die Lehrenden als Dr. Wilson oder Prof. Wilson an, diese aber die Studierenden mit Vornamen. In Deutschland sind asymmetrische Anreden seltener und schlechter angesehen.
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Wie geht’s? dient praktisch der Gesprächseröffnung (Coupland/Coupland 1992). Hat ein potentieller Gesprächspartner im Vorbeigehen Wie geht’s? gesagt, ist klar, dass man stehenbleibt und sich ein wenig in Smalltalk ergeht. Es ist absolut normal, auch Beklagenswertes und Missstände zu thematisieren. Man kann erzählen, dass man leider drei Stunden beim Arzt herumsitzen musste, dass die Oma ins Krankenhaus kommt und die Schulnoten des Sohnes zu wünschen übrig lassen. Anders in Amerika, vor allem in Kalifornien. Für Deutsche ist es erstaunlich, wie oft sie dort How are you? gefragt werden, und wie wenig sich die Fragenden für unsere wirkliche Lage zu interessieren scheinen. Kaum fängt man an, einmal nicht nur fine zu antworten, sondern etwas auszuholen darüber, z. B. dass man beispielsweise Probleme mit einer Autowerkstatt hat, erntet man irritierte Blicke und keinesfalls die erwarteten Nachfragen. Der Eindruck steht fest: Die Amerikaner sind ein oberflächliches Volk, denn sie fragen Wie geht’s?, wollen dann aber gar nicht hören, wie es uns geht (Kotthoff 1989). Aus der Perspektive der Konversationsanalyse kann man dazu sagen, dass How are you? nicht wie das deutsche Wie geht’s? eine Erkundigung darstellt, die einen längeren Austausch über die derzeitige Lage einleitet. Die Aktivität hat diesseits und jenseits des Atlantik unterschiedliche sequenzielle Implikationen. How are you? ist als erster oder zweiter Schritt einer Begrüßungssequenz ritualisiert und hat als präferierte Reaktion fine oder die simple Rückfrage How are you? ⫺ ohne Antwort im strengen Sinne. Die reine Rückfrage als Reaktion gibt es im Deutschen überhaupt nicht. Man macht in den USA dann noch dazu die Erfahrung, dass Leute einem im Vorbeigehen ein How are you? zurufen, ohne überhaupt stehen zu bleiben. Sie nehmen sich, so interpretieren wir vorschnell, also nicht mal die Zeit, unser fine entgegenzunehmen. Wir befinden uns jetzt in den Fallstricken der Übersetzung. Das deutsche Wie geht’s? und das amerikanische How are you? sind pragmatisch nicht voll äquivalent. Sie leiten nicht die gleichen Sequenzen ein, machen also nicht das Gleiche als Folgehandlung erwartbar. Wenn Menschen in den USA wirklich wissen wollen, wie es jemandem geht, betreiben sie mehr Aufwand, indem sie z. B. noch eine Nachfrage nachschicken, etwa Is everything okay?
5. Rhetorik in der Interaktionsorschung Für die Erforschung der interkulturellen Kommunikation ist eine Gesprächsrhetorik relevant, die nicht auf individuelle Wirkabsichten beschränkt bleibt, sondern das Individuum in sozial-kommunikativen Prozessen zeigt. Geißner (1981) und vor allem Kallmeyer (1996, 7 ff.) begründen eine interaktionstheoretisch fundierte Rhetorik, die zunächst mit Perelman/Olbrechts-Tyteca (1958) wieder anknüpft an Rhetorik als Instrument gesellschaftlicher Problem- und Konfliktbearbeitung. Argumentation wird als bestimmend angesehen für alle Spielarten der Neuen Rhetorik. Eine interaktionstheoretisch fundierte Rhetorik sieht individuelles Sprachhandeln darüber hinaus grundsätzlich in Kooperation mit anderen, betont damit die Möglichkeiten situationsemergenter Entwicklungen und sieht so auch individuelle Steuerungsmöglichkeiten als begrenzt an (Kallmeyer 1996, 12 f.). Da dem Individuum die ablaufende Interaktion gar nicht in allen Dimensionen bewusst ist, wird es oft erst im Nachhinein gewahr, dass seine Persuasionsund Problemlösungsanstrengungen beim Gegenüber anders ankommen, als aufgrund der eigenen Interaktionsgeschichte erwartet wurde.
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6. Die Rhetorik und Stilistik von Dissens als interkulturell dierent Kulturelle Vorstellungen von Konflikt, Aggression und Argumentation beeinflussen die Rhetorik der Erzielung von Übereinstimmung (van Meurs/Spencer-Oatey 2007, 100 ff.). Ein mündliches Pro und Contra enthält z. B. Sprechhandlungen des Widerspruchs, der Verteidigung, des Nachhakens, Insistierens, Beispielgebens und Verwerfens derselben; es kann mehr oder weniger dialogisch ablaufen, mehr oder weniger modalisiert, mehr oder weniger Streitelemente integrieren (z. B. persönliche Vorwürfe). Besonders bei Argumentation, Ablehnung und Zurückweisung variieren die Direktheitsstufen kulturell erheblich. In einigen asiatischen Kulturen wird Dissens so indirekt zum Ausdruck gebracht, dass Mitglieder westlicher Kulturen ihn gar nicht bemerken. Pomerantz (1984, 90) und Auer/Uhmann (1982, 21) schreiben, dass auch in den USA und im europäischen Sprachraum abgeschwächte Zustimmung (okay, maybe you’re right, wahrscheinlich) tendenziell als Auftakt zu Dissens gehört wird. Aber in Japan bedeutet eine Zustimmung, die nicht euphorisch genug klingt, bereits Nichtübereinstimmung. Günthner (1993, 230 ff.) geht detailliert auf deutsch-chinesische Unterschiede beim Verhandeln von Dissens ein und erwähnt in dem Zusammenhang, dass chinesische Dolmetscher bei deutsch-chinesischen Verhandlungen explizite Metakommentare der Art Das war eine Ablehnung äußern, weil die Deutschen sonst nicht merken würden, dass die Chinesen ihnen widersprochen haben. Wir finden rhetorisch-stilistische Differenzen nicht nur zwischen Mitgliedern sehr differenter Kulturen. Kotthoff (1989, 130 ff.; 1993a) zeigt stilistische Unterschiede im Umgang mit Dissens in deutschen und amerikanischen und interkulturellen Sprechstundengesprächen. Die amerikanischen Lehrenden formulierten Nichtübereinstimmung mit einem studentischen Anliegen viel mehr als Ratschläge, als Deutsche dies taten. Vor allem im argumentativen Teil universitärer Sprechstundengespräche fielen interkulturelle Unterschiede zwischen den Deutschen und den Amerikanern auf. Die deutschen Lehrenden und Studierenden konfrontierten sich untereinander oft mit wenig abgeschwächten kontroversen Positionen. Sie steigerten ihren Widerspruch zur Maximaldifferenz, einem besonderen Oppositionsformat. Die Amerikaner(innen) zeigten diese maximal differenten Oppositionsformate kaum. Sie schwächten ihren Widerspruch stärker ab. Kotthoff (1989, 274 ff.) und House/Kasper (1991) finden bei deutschen Sprechern weniger Modalisierungsstrategien im Ausdruck von Nichtübereinstimmung als bei englischen und amerikanischen. Tannen spricht von Argumentationskulturen, wenn Opposition kontextübergreifend als gute Form der Erprobung einer Idee und als gute Unterhaltung gilt. Sie zählt USA, Frankreich, Italien, Russland und Israel zu den Kulturen, in denen viel und häufig argumentiert wird, flotter Widerspruch als intellektuelle Leistung besonders anerkannt ist und Nichtübereinstimmung nicht immer abgeschwächt wird (Tannen 1999, 208 ff.). Binnendifferenzierungen sind selbstverständlich vonnöten und werden in dem Buch auch unternommen. Noch einmal sei Vorsicht geboten im Bezug auf nationalkulturelle Charakteristika. Es ist oftmals nicht einfach, die Reichweite eines Stils oder einer rhetorischen Konvention anzugeben. Tannen (1984) und Erickson/Shultz (1981) haben z. B. innerhalb der USA beträchliche Differenzen zwischen sozialen Gruppen (ethnisch oder regional) in der Rezeption von Hörersignalen gezeigt. New Yorker interpretieren schnelle, kurze Nachfragen, machine gun questions, als Aufforderung an das Gegenüber, weiterzuerzählen, somit
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als Zeichen für high involvement. Kalifornier interpretierten sie eher als Aufforderung an den Erzähler, bald zum Ende zu kommen. Tannen (1999, 209) bescheinigt jüdischen Gruppen in New York einer besonderen Dissens-Kultur zu huldigen. Pro und Contra werde in den dortigen Nachbarschaften als unterhaltsames Gesellschaftsspiel betrieben. Unterschiede in Rhetorik und Gesprächsstilistik von Deutschen und Franzosen in der deutsch-französischen Geschäftskommunikation beschrieb von Helmolt (1997), z. B. Differenzen in der Organisation der Sprecherwechsel. Deutsche sprechen demnach im Vergleich zu Franzosen weniger überlappend; in Gesprächen zwischen französischen Gesprächspartnern findet man längere Phasen des gleichzeitigen Sprechens und Zuhörens. Wenden also Franzosen in der interkulturellen Kommunikation ihre Regeln des Sprecherwechsels an und beginnen in Überlappung zu sprechen, so brechen viele Deutsche, zum Teil frustriert, ihren Beitrag ab. Diese Reaktion ist unter anderem wiederum dadurch zu erklären, dass im Deutschen Unterbrechungen oft mit Dissens-Markierungen einhergehen („konfrontative Unterbrechungen“; Helmolt 1997, 81 ff.), während im Französischen paralleles Sprechen oft Zustimmung zum Ausdruck bringt. Auch in der Art der Präsentation von Argumenten bestehen z. T. kulturspezifische Regeln. Franzosen fällt etwa auf, dass viele Deutsche bemüht sind, ihre Aussagen durch detaillierte Hintergrundinformationen und Fakten zu stützen. Während sie selbst ungeduldig auf den Kern des Problems oder Schlussfolgerungen aus dem Gesagten warten, formulieren Deutsche in ihren Augen ausführliche Erklärungen für ihre Standpunkte, deren Konsequenzen für den Verhandlungsgegenstand erst am Ende der Redebeiträge deutlich werden. Umgekehrt sind deutsche Gesprächspartner von Argumentationen im französischen Redestil irritiert, zu dem etwa Abweichungen vom Thema, Wortspiele oder auch Verweise auf Personen mit Autorität zählen (Müller-Jacquier 2000, 33). Deutsch-französische Differenzen konnten auch im Formulieren von Ablehnungen, der Explizitheit von Arbeitsanweisungen und der Verbindung von privater und beruflicher Kommunikation festgestellt werden (Müller-Jacquier 2000), um nur einige weitere Beispiele zu nennen.
7. Schluss Abschließend sei erneut auf die Verkürztheit und Unterkomplexität nationalkultureller Zuschreibungen verwiesen. Wenn in der Literatur von deutschen, japanischen usw. Stilen die Rede ist, sind sich die Autoren meist bewusst, dass sie ein simplifiziertes Konstrukt verwenden (so auch in diesem Artikel). Selbstverständlich spielen andere sozialkulturelle Parameter wie Schicht, Generation, gender, Region, Situation usw. mehr oder weniger wichtige Rollen für das Praktizieren von Gesprächsstilen. Außerdem ist der Geltungsbereich einer bestimmten stilistischen Praxis oft nur schwer bestimmbar. Während manche Geltungsbereiche sich auf eine bestimmte Subkultur beschränken, können andere politische Großräume betreffen (wie z. B. Osteuropa oder Asien). Stile sind variable Größen, die sich dafür eignen, bestimmte Identitätsfacetten zu kommunizieren. Diese Vorgänge sind uns nur zum Teil bewusst. Der Faktor Kultur prägt die Normalitätserwartungen. Landläufig sprechen wir von interkultureller und intrakultureller Kommunikation, wohl wissend, dass die Grenzen zwischen dem einen und dem anderen nicht sauber gezogen werden können. Schütz (1972, 54) machte darauf aufmerksam, dass jede Art von Kommunikation Fremderfahrung einschließt. Erfahrungen verschiedener Individuen decken sich nicht und jeder verarbeitet neue Information innerhalb des eigenen Horizonts. Ver-
119. Rhetorik und Stilistik in interkultureller Kommunikation stehen operiert zwar mit der Unterstellung einer Reziprozität der Perspektiven; das heißt aber nicht, dass diese auch der Fall ist. Verstehen ist auf volle Reziprozität auch nicht angewiesen. Es genügt für die Kommunikation, wenn ein gemeinsamer Sinn ausmachbar ist. Unsere Homogenitätsidealisierungen ⫺ um einen weiteren Ausdruck von Schütz zu verwenden ⫺ sind unterschiedlich, je nachdem, mit wem wir uns auf welche Art und Weise im Kontakt befinden. Viele Studien im gesprächsanalytischen Bereich der Erforschung interkultureller Kommunikation haben in den letzten drei Jahrzehnten gezeigt, von welch subtilen Feinheiten der Ausrichtung aneinander im Gespräch es abhängt, ob Menschen sich eher als zur in-group gehörig erleben und definieren oder eher als zur outgroup. Wenn die feine interaktionale Ausrichtung aneinander im Bereich von Prosodie, Gestik, Mimik, Distanz, Sequenzierung der Gesprächsbeiträge, Aushandlung von Interaktionsmodalitäten, Formalitätsniveaus und Direktheitsstufen bei Direktiva und Dissens nicht gelingt, sind wir geneigt, jemanden nicht als eine(n) von uns zu erleben. Das Vertrackte an den interkulturellen Unterschieden ist, dass man das Verhalten aus einer fremden Rhetorik und Stilistik in der Regel zumindest zu Beginn des Kontaktes im Rahmen des eigenen Systems interpretiert. Daraus können Fehldeutungen und Stereotypisierungen resultieren. In der interkulturellen Situation ist die unterstellte Gemeinsamkeit der auf das Verhalten bezogenen Wissensbestände problematisch (Günthner/ Luckmann 2003, 214). In der Regel sind die kulturell unterschiedlichen stilistischen Konventionen in ihrer emotionalen Bedeutung viel gewichtiger als grammatische oder lexikalische Fehlhandlungen, weil sie als Persönlichkeitskomponenten zuungunsten des Sprechers interpretiert werden können. Erschwerend kommt hinzu, dass wir im Bereich von Rhetorik und Stilistik selten nachfragen, wie etwas gemeint war. Man kann eine mögliche Fehlinterpretation manchmal nicht aufklären, weil die Etikette verbietet, der Irritation explizit nachzugehen. Newton (2007, 519 ff.) und Rost-Roth (2007, 491 ff.) diskutieren viele Möglichkeiten der Bewusstmachung gesprächstilistischer und -rhetorischer Differenzen.
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
Shi-xu (2006): Beyond competence: A multiculturalist approach to intercultural communication. In: Kristin Bührig/Jan D. ten Thije (eds.): Beyond Misunderstanding. Amsterdam, 313⫺331. Shweder, Richard A./Edmund Bourne (1984): Does the concept of person vary cross-culturally? In: Richard A. Shweder/Robert A. LeVine (eds.): Culture Theory: Essays on Mind, Self and Emotion. Cambridge, 158⫺199. Sifianou, Maria (1992): Politeness Phenomena in England and Greece: A Cross-Cultural Approach. Oxford. Soeffner, Hans-Georg (1991): Zur Soziologie des Symbols und des Rituals. In: Jürgen Oelkers/ Klaus Wegenast (Hrsg.): Das Symbol ⫺ Brücke des Verstehens, Stuttgart/Berlin/Köln, 63⫺81. Spencer-Oatey, Helen (2000): Culturally Speaking: Managing Rapport through Talk across Cultures. London. Spreckels, Janet/Helga Kotthoff (2007): Communicating identity in intercultural communication. In: Helga Kotthoff/Helen Spencer-Oatey (eds.): Intercultural Communication. Handbooks Applied Linguistics, vol. 7. Berlin/New York, 415⫺441. Sugitani, Masako (1997): Das Selbstkonzept im Sprachverhalten. In: Annelie Knapp-Potthoff/Martina Liedke (Hrsg.): Aspekte interkultureller Kommunikationsfähigkeit. München, 41⫺65. Tannen, Deborah (1984): Conversational Style. Norwood, N.J. Tannen, Deborah (1999): The Argument Culture. New York. Thielmann, Winfried (2007): Power and dominance in intercultural communication. In: Helga Kotthoff/Helen Spencer-Oatey (eds.): Intercultural Communication. Handbook of Applied Linguistics, vol. 7. Berlin/New York, 395⫺415. van Meurs, Natalie/Helen Spencer-Oatey (2007): Multidisciplinary perspectives on intercultural conflict: the ,Bermuda Triangle‘ of conflict, culture and communication. In: Helga Kotthoff/Helen Spencer-Oatey (eds.): Intercultural Communication. Handbooks of Applied Linguistics, vol. 7. Berlin/New York, 99⫺123. Winchatz, Michaela (2006): Kann ich Sie duzen, oder soll ich Dich siezen? PhD. DePaul University, Chicago. Yamada, Haru (1997): Different Games, Different Rules. Oxford.
Helga Kotthoff, Freiburg (Deutschland)
120. Contrastive rhetoric 1. 2. 3. 4. 5.
Introduction Kaplan’s contrastive rhetoric model Contrastive rhetoric research Summary and conclusions Selected bibliography
Abstract Over the past fifty years, the overarching goal of the contrastive rhetoric hypothesis has been to create a pedagogical model of constructing discourse and text and to ease the task of teachers and academically-bound ESL students who need to acquire L2 writing skills. The current model of contrastive rhetoric undertakes to identify the differences among
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
Shi-xu (2006): Beyond competence: A multiculturalist approach to intercultural communication. In: Kristin Bührig/Jan D. ten Thije (eds.): Beyond Misunderstanding. Amsterdam, 313⫺331. Shweder, Richard A./Edmund Bourne (1984): Does the concept of person vary cross-culturally? In: Richard A. Shweder/Robert A. LeVine (eds.): Culture Theory: Essays on Mind, Self and Emotion. Cambridge, 158⫺199. Sifianou, Maria (1992): Politeness Phenomena in England and Greece: A Cross-Cultural Approach. Oxford. Soeffner, Hans-Georg (1991): Zur Soziologie des Symbols und des Rituals. In: Jürgen Oelkers/ Klaus Wegenast (Hrsg.): Das Symbol ⫺ Brücke des Verstehens, Stuttgart/Berlin/Köln, 63⫺81. Spencer-Oatey, Helen (2000): Culturally Speaking: Managing Rapport through Talk across Cultures. London. Spreckels, Janet/Helga Kotthoff (2007): Communicating identity in intercultural communication. In: Helga Kotthoff/Helen Spencer-Oatey (eds.): Intercultural Communication. Handbooks Applied Linguistics, vol. 7. Berlin/New York, 415⫺441. Sugitani, Masako (1997): Das Selbstkonzept im Sprachverhalten. In: Annelie Knapp-Potthoff/Martina Liedke (Hrsg.): Aspekte interkultureller Kommunikationsfähigkeit. München, 41⫺65. Tannen, Deborah (1984): Conversational Style. Norwood, N.J. Tannen, Deborah (1999): The Argument Culture. New York. Thielmann, Winfried (2007): Power and dominance in intercultural communication. In: Helga Kotthoff/Helen Spencer-Oatey (eds.): Intercultural Communication. Handbook of Applied Linguistics, vol. 7. Berlin/New York, 395⫺415. van Meurs, Natalie/Helen Spencer-Oatey (2007): Multidisciplinary perspectives on intercultural conflict: the ,Bermuda Triangle‘ of conflict, culture and communication. In: Helga Kotthoff/Helen Spencer-Oatey (eds.): Intercultural Communication. Handbooks of Applied Linguistics, vol. 7. Berlin/New York, 99⫺123. Winchatz, Michaela (2006): Kann ich Sie duzen, oder soll ich Dich siezen? PhD. DePaul University, Chicago. Yamada, Haru (1997): Different Games, Different Rules. Oxford.
Helga Kotthoff, Freiburg (Deutschland)
120. Contrastive rhetoric 1. 2. 3. 4. 5.
Introduction Kaplan’s contrastive rhetoric model Contrastive rhetoric research Summary and conclusions Selected bibliography
Abstract Over the past fifty years, the overarching goal of the contrastive rhetoric hypothesis has been to create a pedagogical model of constructing discourse and text and to ease the task of teachers and academically-bound ESL students who need to acquire L2 writing skills. The current model of contrastive rhetoric undertakes to identify the differences among
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patterns in written discourse in proximate genres and across different languages and cultures. A vast body of published studies has investigated discourse patterns, rhetorical, cohesive, lexical, and syntactic properties of L1 and L2 writing. To date, research into L2 discourse and text have identified striking differences in how L1 and L2 writing is constructed. In many cases, these differences are rooted in divergent rhetorical conventions and written discourse frameworks valued in various sociocultural milieus and often transferred from L1 to L2. Contrastive rhetoric studies focusing on such global features of writing as discourse organization and information structuring, topic appropriateness, development, and continuity, types and arrangement of evidence, as well as text cohesion, coherence, clarity, and style appear to be greatly influenced by the rhetorical and text construction norms that differ greatly across languages and cultures. This paper provides a brief overview of Kaplan’s contrastive rhetoric model, the findings of contrastive rhetoric research, and recent developments that are likely to affect the future of contrastive rhetoric studies.
1. Introduction Formal investigations of written discourse and text started to gain momentum during the 1950s and 1960s when applied linguistics emerged as a discipline distinct from theoretical linguistics that was popular largely in the United States. Because the study of rhetoric and the organization of ideas in writing represents one of the foundational philosophical endeavors in the Western literary tradition, early analyses of discourse and the linguistic properties of text drew largely on the classical Aristotelian and Greco-Roman rhetorical theory, such as the canonical elements of discourse and stylistics. During that time, the publication of Kaplan’s (1966) paper Cultural thought patterns in intercultural education in Language Learning marked a radically innovative approach to the analysis of rhetoric and discourse. Kaplan’s proposal, later called the “Contrastive Rhetoric Hypothesis”, brought to the foreground the fact that the structure of discourse and ideational paradigms differ greatly in and across languages and cultures. A cross-cultural perspective on rhetoric also implied that discourse analysis would need to identify new or different ways of investigating the structure of written text. Generally, discourse analysis undertakes to study global (macro) features of text, the sequencing of ideas, and the organization of information in writing. The original and primary goal of contrastive rhetoric was to investigate the organization of discourse in the writing of second language (L2) students enrolled in U.S. universities. The overarching objective of Kaplan’s seminal work on contrastive rhetoric, as well as that of early studies in the discipline, was to develop research-based knowledge that could serve as a foundation for the teaching of L2 writing and teacher training. Contrastive rhetoric research carried out in the 1970s was also driven by the exigency of curriculum design to meet the immediate pedagogical needs of academically-bound L2 learners and nonnative students whose educational and professional careers ⫺ predominantly in U.S. universities ⫺ required them to do a great deal of writing. However, contrastive rhetoric studies and publications achieved prominence and began to proliferate only in the 1980s largely as an outcome of a dramatic growth in the enrollments of students who were nonnative speakers of English (NNSs). Since the appearance of Kaplan’s seminal paper (1966) and to this day, contrastive rhetoric, as a domain of research in applied linguistics, has con-
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
tinued to focus on the discourse (macro) properties and the uses of linguistic, rhetorical, and stylistic (micro) features in the L2 writing of NNSs. Enkvist (1997, 190) states that the contrastive rhetoric hypothesis compelled L2 learners and teachers of writing “to look at discoursal macro-patterns in the light of underlying cultural traditions and not only in terms of syntactic features on the linguistic surface”. In the past several decades, an enormous body of work has emerged to elucidate a broad range of properties of L2 discourse and text, as well as regularities in the structure of written prose in various rhetorical traditions and genres. For instance, during the past half century, much has been learned about the structuring of ideas in written prose and the smaller, constitutive elements of discourse, called discourse moves or discourse blocs (e.g., Grabe/Kaplan 1996; Hinds 1987; Kaplan 1983a; 1983b; 1983c). In the 1980s, advances in contrastive rhetoric coincided with the expansion of research in text linguistics in Europe and the U.S. (Coulthard 1985; de Beaugrande/Dressler 1972; Halliday/Hasan 1976; 1989; Sinclair/Coulthard 1975; van Dijk 1985). In a parallel and possibly related development, cross-cultural investigations in the uses of L2 linguistic features in learner writing also began to take a closer look at the micro features of L2 text. These studies have provided important insight into a broad range of connections between L2 discourse and text, such as advance discourse organizers and divisions, topic introductions and shifts, persuasion devices, and lexical and syntactic means of establishing cohesion, e.g., lexical ties, repetitions, and the uses of tenses, pronouns, and sentence adverbials (Aziz 1988; Choi 1988; Field et al. 1992; Kaplan 1978a; 1978b; Mauranen 1993; 1996; Wikborg 1990). Research in contrastive rhetoric and discourse frameworks in diverse rhetorical traditions has also found applications in the analyses of their comparative uses in the first (L1) and L2 writing. These venues in contrastive rhetoric studies have proved to be particularly fruitful in developing descriptions of discourse traditions and practices found in various languages and cultures. While prior to the 1970s and 1980s many discourse analysts continued to believe that it was possible to discover universal characteristics of discourse structuring and processing, a number of influential studies such as those by Clyne (1981; 1987a), Hinds (1975; 1976; 1980; 1984), Hoey (1994), and Kaplan (1983a; 1983b; 1984; 1986; 1988) largely put this idea to rest. These and other publications on cultural variability in discourse and rhetorical conventions have led contrastive rhetoric research in innovative directions, particularly as they applied to the discipline’s original pedagogical purposes. For example, today, most L2 writing guides and student textbooks specify that, in Anglo-American written discourse, the writer is responsible for making the purpose and the message easy to identify and transparent to the reader. Thus, the purpose of writing is often stated explicitly at the outset, i. e. a deductive framework plays a crucial role in how discourse is constructed and understood. On the other hand, in reader-responsible prose, readers are expected to infer the writer’s meaning, ‘read between the lines,’ and fill in the gaps and leaps of logic as needed. The ubiquitous terms reader-responsible or writer-responsible texts, terms referring to the deductive and inductive discourse frameworks, were originally coined by Hinds (1987; 1990), based on his research on Japanese, Korean, Chinese, and Thai written discourse. According to Hinds, discourse frameworks in various cultures adhere to and value different rhetorical conventions. For instance, in many languages, the main idea (or the thesis) is not directly stated at the beginning of writing but is usually implied or alluded to throughout. In this case, it is not the writer
120. Contrastive rhetoric
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who is responsible for making the text’s main point clear to the reader, but rather it is the reader who is responsible for inferring from the context the author’s purpose of writing and the main idea. To date, the pedagogical value of contrastive rhetoric studies have led to a creation of a solid research base reflected in improved methods for teaching L2 writing to literate and educated NNSs. Analyzing written discourse and text properties became the objective of many investigations that focused on the L1 writing of native speakers of English in, for example, Australia, Canada, New Zealand, the U.K., and the U.S. and in the English L2 writing of speakers of many other languages. Numerous contrastive rhetoric studies have undertaken to quantify, measure, and scrutinize the attributes of discourse and text in the L2 writing of speakers of such languages as (in alphabetical order): Arabic, Bengali, Bulgarian, Chinese, Czech, Danish, Dutch, Farsi, Finish, French, Hebrew, Hindi, Hungarian, German, Greek, Italian, Indonesian, Japanese, Korean, Malay, Norwegian, Polish, Portuguese, Romanian, Russian, Spanish, Swedish, Thai, Turkish, and Vietnamese, as well as several varieties of English, such as African-American, Australian Aboriginal, Caribbean, Indian, Philippine, and Singaporean. Much current research continues to build on and refine foundational knowledge about the features of discourse and text produced by L2 writers in different contexts and locations and for divergent communication, social, academic, and interactional purposes. This paper provides a brief overview of Kaplan’s contrastive rhetoric model, the findings of contrastive rhetoric research, and recent developments that are likely to affect the future of contrastive rhetoric studies.
2. Kaplans contrastive rhetoric model A cross-cultural view of how discourse and text are constructed in various languages has drawn on theoretical frameworks and research in other domains in applied linguistics such as discourse analysis, text analysis, sociology, anthropology, ethnography, and cognitive psychology. Today, most applied linguistics theories and research take it for granted that oral or written discourse and language that occur in human interaction is inextricable from the social and cultural contexts in which it is used. Thus, contrastive rhetoric, as a study of regularities in written discourse paradigms, must take into consideration and account for the sociocultural, contextual, genre, and literacy constructs that exert an indelible influence on the norms of writing and discourse construction (Grabe/Kaplan 1996; Kaplan 1986; 1987; 1988; 1991a; 1991b; 2003; 2005; Kaplan/Grabe 1989). For example, how topics are nominated, developed, and changed in written prose differs widely not only across cultures, but also across comparable written genres. Specifically, different discourse organization frameworks, the construction of text, and the sociocultural norms of appropriateness are likely to apply not only to the writing of speakers of different languages and members of different cultures, but also to the divergent genres of writing, such as business letters, academic articles, newspaper editorials and reports, school assignments, or email messages (e.g., Al-Khatib 2001; Jenkins/ Hinds 1987; Kaplan 1986; 1987; 2000; 2001). Kaplan (2000; 2005) explains that discourse pragmatics, as other sociocultural and interactional uses of language, takes into consideration the commonly accepted norms of interactional politeness and pragmatics. In general terms, culturally determined rules of appropriateness and politeness in public
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
discourse and written genres heavily impact what written messages can be delivered, how they are to be delivered in accordance with the sociocultural norms, and how written discourse and text reflect the social contexts in language use. Contrastive rhetoric studies a complex range of discourse and textual phenomena, which, when specifically applied to L2 writing, raise three sets of questions that Kaplan in fact called “overwhelming” (Kaplan 1978a; 1978b; 2000; 2003; 2005): ⫺ Who has the authority to write? - Who may be addressed? ⫺ What may be discussed? - What form may the writing take? ⫺ What constitutes evidence? - How can evidence be convincingly arranged? (Kaplan 2005, 378 f.) In other words, the contrastive rhetoric hypothesis represents a model of discourse and text construction that accounts for the effects of the culture, authorship, audience, purpose, content, rhetorical genres, social contexts, and language features on written prose across different languages and in different discourse communities.
2.1. The authority to write and the audience o writing In many of his publications, Kaplan (1983a; 1983b; 1983c; 1984; 1986; 1987; Connor/ Kaplan 1987) explains that the authority to write and the audience to whom writing is addressed are culturally prescribed in regard to distributions of social power ⫺ what Kaplan (1983) calls “the discourse compact”. For example, in many cultures, the writer must be vested with “age, relative fame, great attributed wisdom […], or gender” (Kaplan 2005, 379). In writer-responsible types of discourse, the writer needs to make clear his or her intent, and the reader must have a sufficient ability to discern this intent, as well as a degree of interest in the topic or a desire to gain information. In addition, the writer is required to adhere to the culturally-bound conventions of written discourse and demonstrate appropriate concern for the text format and presentation, e.g., acceptable layout, spelling, paragraphing, punctuation, and the like. Along similar lines, the reader must be familiar with the discourse and presentation features of writing and be prepared to understand the norms of culturally-appropriate conventionality or be made aware of its intentional violations. In those instances, where the differentials of the social power are great, both the reader and the writer may employ surrogates ⫺ those who work in their stead, as may be the case with legal or fiscal representation, letters to the editor, correspondence from government agencies, political or personal petitions, or formal written invitations.
2.2. The topic and the orm o writing To a large extent what can be discussed and how a particular subject matter can be addressed in writing depends on the writer’s membership in social, cultural, familial, or other types of groups, as well as the discourse and textual features of the genre (see Kaplan 2000; 2003 for a detailed overview). For instance, friends and members of a family or specially designated affiliations, such as churches, hobbyists, or electronic discussion lists, are free to discuss a wide range of personal matters (e.g., financial prob-
120. Contrastive rhetoric
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lems, food preferences, or views on the current fashion) that may be considered inappropriate in other venues for writing. On the other hand, written discourses on academic, scholarly, or professional topics are likely to belong in relevant outlets, such as student assignments in educational institutions, articles in scholarly journals, or book manuscripts in publishing houses. According to Kaplan (2001; 2003; 2005), in some cases, for example, discussions of political or social issues may be constrained in either personal or professional communications. To be sure, as Kaplan states clearly, “genre restricts possible topic. It is important to note that genres are not universal” (Kaplan 2005, 380). Furthermore, some types of genres simply do not occur in all cultures, and when similar genres may occur, they may have different rhetorical purposes. Kaplan explains that genres reflect community-based approaches to discourse organization, that genres are learned in social contexts, and that in different communities ways of representing and presenting knowledge can take various forms. Specifically, different communities value different types of knowledge that can be displayed in many divergent organization patterns, which can be unfamiliar to those outside the community membership.
2.3. Types and arrangement o evidence In practically all communities that employ conventionalized forms of discourse structuring, different types of genres require different types of evidence. For example, even in academic discourse communities in English-speaking countries, evidence may also diverge across such academic genres as lab reports, manuscript and book reviews, journal articles, or grant proposals. In addition to various academic genres with their conventionalized features of presenting evidence in written discourse, the divergences of evidential conventions also apply across different academic disciplines, e.g., what can be seen as strong evidence in philosophy or theology may not be considered as valid academic evidence in social or natural sciences. On the other hand, the selection of appropriate evidential information in proximate scholarly genres in discourse communities other than Anglo-American can be based on criteria that value suggestiveness, allusions, or references to authoritative philosophical or religious sources, rather than citations of specific data or concrete verifiable facts (e.g., Hinds 1990; Mauranen 1996; Murray/Nichols 1992). In sum, according to Kaplan’s contrastive rhetoric model, these three sets of paired questions establish a perspective on the social constructs that impact discourse frameworks and pragmatics in rhetorics and genres across different cultures and communities. Kaplan (2003; 2005) notes that for the basic processes to take place, the writer must be able to convey ideas, information, and feelings through text, and the reader has to be willing and able to receive what is conveyed. To this end, both the writer and the reader must be in agreement to participate in this process when information is conveyed and received. That is, the writer needs to express a perceivable intent, a perceivable stance toward the text and the content, and a grasp of the text’s subject. On the other hand, the reader must be able and enabled to discern the text’s intent and content, and have at least some interest in the subject. According to Kaplan (1983a; 1983b; 1983c; 1988; 1991a; 1991b; 2000; 2003; 2005), in the absence of these basic elements, the processes of writing and of decoding written
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
communication simply cannot take place. In the case of second language writing, for example, writers must attain a certain degree of linguistic proficiency to be able to encode their ideas and information in another language. Then the content must be arranged in a manner that would allow the reader to perceive the writer’s intent and identify the stance and the content. In addition, these features of written discourse and text need to follow a conventional genre-specific form and meet the sociocultural norms of appropriateness typically expected in a particular genre. Mauranen (1993, 1 f.) observes that writing and its attendant genre-specific paradigms follow culturally-determined rhetorical practices that manifest themselves in typical textual features and include both discourse and text construction. She further comments that writers may not be (and often are not) aware of these textual features or the underlying rhetorical practices because they are an integral element of schooling or literacy learning. In cross-cultural settings, the distinctions between writing paradigms “are more than a difference in cultural tastes” because these impact not merely the readers’ expectations of rhetorical elegance and style, but can be seen as a lack of coherence in writing or even in thinking and thus seriously damage “the credibility of nonnative writers”.
3. Contrastive rhetoric research In the 1960s, to some extent, the contrastive rhetoric hypothesis evolved from the researchers’ interest in contrastive/error analysis to account for errors in L2 production and by extension, the processes entailed in L2 learning. Contrastive analysis was based on a supposition that the differences or similarities in L1 and L2 linguistic properties resulted in either positive or negative transfer, and many (if not most) L2 errors are an outcome of a negative transfer (Hinkel 2005; Kirkpatrick 1997). In the case of literate and educated speakers of various languages, L1-specific ways of organizing discourse and information may be transferred to the discourse organization in L2 writing. In their volume on the theory and practice of writing, Grabe and Kaplan (1996) provide extensive evidence that contrastive rhetoric research is rooted in the study of literacy, sociocultural frameworks of language use, and established written genres in many writing traditions. However, despite the divergent social purposes with which texts are written and the variation in their discourse and linguistic features that are employed to attain their communicative goals, it is possible to identify shared characteristics of comparable genres. These features of text stem from their purposes to communicate information in such a way that a reader can understand the writer’s communicative purpose (Connor/ Kaplan 1987; de Beaugrande/Dressler 1972; Kaplan 1997; 2002; 2003; 2005; Kaplan/ Grabe 2002). Contrastive rhetoric (Kaplan 1966; 1970; 1971; 1977) originated and continues to advance the study of global discourse features in the L2 writing of nonnative speakers of English. The types and the scope of investigations in L2 discourse and text have varied considerably in the size of their data samples and genres of writing. Many such inquiries have consisted small-scale studies that included the writing of one to a dozen writers (Arndt 1993; Choi 1988; Kaplan 1968; Ostler 1987; Reid 1992). In comparison, the studies based on large samples produced by dozens or hundreds of L2 writers are relatively rare. As a rule, contrastive rhetoric explorations focus on specific portions of discourse or narrowly defined properties of text, such as research article introductions
120. Contrastive rhetoric
2021
and statements of purpose, or discourse markers, hedges, or modal verbs (e.g., Field/Oi 1992; Johnson 1988; 1992; Hinkel 1995; 2002a; 2002b). Research on L1 and L2 writing established that discourse construction and rhetorical paradigms differ in consistent and important ways. For instance, marked similarities have been identified in the rhetorical development of text written in continental European languages, such as Czech, German, and Swedish, or Asian languages, such as Chinese, Japanese, and Korean. In German and Czech academic writing, as well as in the L2 prose of Swedish and German learners of English and academics, occasional tangents and digressions from the main topic are considered to be acceptable, as are repetitions, recapitulations, and restatements, abstract argumentation, and broad generalizations (Clyne 1981; 1987a; 1987b; Cmejrkova 1996; Ventola 1996). In fact, in German, the quality of the content is considered to be much more important than formal style and streamlined organization. According to Clyne (1981; 1987a), Anglo-American readers often find continental European writing disorganized, pretentious, and difficult to follow, while German scholars view English writing as superficial and constrained. Ventola (1996, 162) comments that “a clash between writing styles: Continental writing vs. Anglo-American writing” has long been noted by European scholars and that when, for example, German academics write their articles in English, Anglo-Americans consider their text to be “reader-unfriendly”. Rhetorical conventions and discourse construction in a wide array of Asian languages have become the mainstays in contrastive rhetoric investigations, and numerous publications have been devoted to Chinese, Japanese, Korean, Thai, and Vietnamese writing, as well as to the L2 prose of speakers of these languages. On the whole, written discourse in such languages as Chinese, Japanese, and Korean, has been shown to include predictable organizational paradigms with the main idea at the end, indirect argumentation, allusions, and references to history and authority as evidence (Hinds 1983; 1987; Park 1988; Scollon 1991; 1993a; 1993b; 1994). The indirectness in the L2 writing of Chinese students was similarly identified by Matalene (1985), who found that the L2 writing of Chinese speakers seem to be rigidly structured and include historical allusions, overgeneralizations, direct appeals to the reader, and proverbs and sayings that are intended to state general truths applicable to practically any audience. The common characteristics of written discourse among speakers of distinctly different languages, such as Chinese, Korean, and Japanese, confirmed Kaplan’s (1966) observations that Asian rhetorical traditions share many discourse and text features that NNSs employ in their L2 writing in English. For instance, Cai (1999, 294) points out that classical Chinese rhetoric and style has an indelible effect on the academic writing of L2 students in U.S. colleges and universities. According to the author, in L2 writing instruction, Anglo-American discourse strategies, topic development, rhetorical and linguistic norms, as well as the “sociocultural contexts in which these norms are embedded” should be explicitly taught. Along these lines, Maynard (1997) notes that while many Japanese discourse conventions represent direct borrowings from Chinese rhetoric with their allusions to history and philosophical works, vagueness, and indirectness, others do not. She comments that although in many types of Japanese discourse structures the conclusion is rarely stated explicitly, in certain written genres, such as newspaper editorials, commentaries, and opinion columns, the writer’s position is expressed directly. According to Maynard, article syndication by international news agencies, and rapid transmission of written texts by modern technological means, the practice of stating the purpose of writing at the outset is likely to become more commonplace in Japanese discourse.
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
Comparative analyses of Thai and English-language essays written by university students in Thailand and the U.S. also showed important distinctions in both informational structure and textual development. The essays of Thai students contained a preponderance of narratives, as well as frequent repetitions, analogies, metaphors, similes, but virtually no conclusions (Grabe/Kaplan 1996; Kaplan 1987). Indrasuta (1988) and Bickner and Peyasantiwong (1988) explain that in Thai culture, narratives have the rhetorical functions of exposition, persuasion, and instruction and that Thai students often transfer this conventionalized discourse structure to their L2 writing. These researchers conclude that “overall, the Thai students’ written compositions in English are more similar to the Thai compositions than they are to the American compositions” (Indrasuta 1988, 221). Other studies examined discourse construction and rhetorical organization in such diverse languages as Arabic and Spanish. In particular, Ostler (1987) found that the L2 writing of Arabic speakers contained greater numbers of discourse moves and rhetorical support elements, as well as significantly higher frequencies of parallel and coordinate constructions, than were found in the writing of NSs. Sa’adeddin (1989) further explains that in argumentation and rhetorical persuasion, colloquial Arabic discourse relies on broad generalizations, parallelism, repetition, and ornate and elaborate descriptions. Thus, according to Sa’adeddin, when writing in English, Arabic speakers may simply transfer from L1 the usage of coordinate and parallel constructions prevalent in interactive rhetorical style and persuasion. In his study of modern Arabic writing, Hatim (1991) similarly observes that interaction with an audience and audience appeal are valued highly in Arabic written discourse, rhetorical argumentation, and cohesion development. In regard to the L2 writing of Spanish speakers, research has consistently demonstrated that Spanish speakers write longer essays and longer, more complex, and elaborated sentences than NSs do (e.g., Carlson 1988; Montano-Harmon 1991). In addition, Spanish speakers use significantly higher rates of coordinate clauses and phrases, long abstract words, broad generalizations, and informal constructions, when compared to those in the writing of NSs of similar age and educational levels. In fact, Reid’s (1992) study of writing of English, Spanish, and Arabic speakers demonstrated that the L2 prose of Spanish speakers exhibits discourse and text coordination patterns similar to those that Ostler (1987) identified in the L2 writing of Arabic-speaking university students. Ever since the publication of Kaplan’s (1966) article, the contrastive rhetoric hypothesis has been surrounded by its fair share of controversy. From the vantage point of a historical retrospective, it is probably safe to say that early contrastive rhetoric research did not attribute sufficient importance to text genre comparability, i. e. comparisons of discourse and text features in the writing of university students and published scholars may be of limited benefit. Furthermore, examining “deviations from the norms of English only, rather than examining the discourse of the L1” may not be the best way to identify the specifics of the rhetorical conventions in various languages and cultures (Grabe/Kaplan 1996, 198). In the past half century, the discipline of contrastive rhetoric has matured, and research in the field has become a great deal more carefully designed and controlled than it was in its early days. More recently, however, the contrastive rhetoric hypothesis has been taken to account for much of what is ideological, hegemonical, and imperialistic about the proliferation of the English language usage and teaching
120. Contrastive rhetoric
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around the world. One outcome of this development is that the field of contrastive rhetoric has diversified and evolved together with the increasingly political and polemical domain of language study that is applied linguistics. The findings of contrastive rhetoric studies have similarly given rise to numerous debates on the connections between, for example, culture, literacy, writing skills, and second language proficiency. Some researchers, such as Mohan and Lo (1985), have maintained that divergences in the discourse and text features in the writing of native and non-native speakers of English can also be an outcome of L2 writers’ developmental constraints and a lack of experience in producing academic prose rather than the transfer of L1 discourse and rhetorical conventions. Empirical investigations of published research articles written by Chinese and English speakers (Taylor/Chen 1991), and university essays written by Korean students in the U.S. (Choi 1988), for instance, found that both differences and similarities can be identified in the discourse organization in L1 and L2 writing. In both studies, the authors point out that the internalization of scientific discourse frameworks and the effects of English writing instruction in many countries can and does lead to reductions in the structural divergences between the Anglo-American and other types of writing. These observations are also akin to those made by Maynard (1997) in regard to the discourse organization patterns in Japanese newspaper reports syndicated by international news agencies. It is not inconceivable that the ongoing advancement of technology, increasingly rapid transmission of written texts, and the expansion of English language instruction around the globe will combine to diminish the disparities between discourse and rhetorical conventions employed in similar genres in various languages. As Kaplan has repeatedly pointed out, the study of contrastive rhetoric seeks to develop a model of discourse and text as socially-conditioned interaction, i. e. a dynamic process of communication between the writer and the reader, “within a phenomenological perception of the community of speakers” (Kaplan 1997, 22).
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
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Eli Hinkel, Seattle (Washington, USA)
121. Rhetoric and stylistics in East Asia
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121. Rhetoric and stylistics in East Asia 1. 2. 3. 4. 5.
Introduction Rhetoric in China Rhetoric in Japan Conclusion Selected bibliography
Abstract This article focuses on rhetoric and stylistics in China and Japan. Both cultures have developed a concept of rhetoric distinct from that prevalent in the European tradition. Rhetoric and stylistics are not considered a distinct domain, but a great many thoughts on how to communicate, how to deliberate and how to cooperate through discourse are contained in works of philosophy, political writings, literary criticism and genre discussions. For centuries, in rhetoric as in other areas, China constituted the most important role model to follow for Japan. This changed in the late 19 th century, when, along with modernization, the role of China was replaced by the West, and Japan (with its translations of Western works) in turn became the model for China. Forms of ‘persuasive’ and ‘ornamental’ rhetoric were developed in both Japan and China. Ornamental rhetoric played a more important role in Japan where it was closely connected to the aesthetics of waka, the thirty-one-syllable Japanese short poem permeating all fields of literature even up to modern times. In China, both ornamental and persuasive forms of rhetoric had been quite substantially fused for a long time: poetry and literature had traditionally served sociopolitical functions and continue to do so to the present day.
1. Introduction James J. Murphy once stated that “Neither Africa nor Asia has to this day produced a rhetoric” (Murphy 1983, 3). It is certainly true that these cultures do not traditionally share the European concept of rhetoric (i. e. the organized study of discourse in general). Instead, they have produced works on how to communicate, how to deliberate and how to cooperate through discourse in philosophical writing, literary criticism and genre discussions (Cai 1998, 11; Kao 1986, 123). Since rhetoric is not universal but an integral part of a given socio-cultural context, different societies will yield different ways of thinking, different norms and attitudes towards rhetoric (Cai 1998, 13). In China and Japan, the development of rhetoric as the art of a/effective expression passed through several stages: it originated with the philosophers’ techniques of public address and gradually came to be applied to literary texts which in turn could become politicized again. Accordingly, there is a close connection between rhetoric, philosophy, poetry and other fields of literature, and politics. Thus, it is difficult to distinguish clearly between persuasive rhetoric and ornamental rhetoric in these two East Asian countries, as some scholars do (Kao 1986), with persuasive rhetoric pertaining exclu-
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
sively to the field of public and political discourse, and ornamental rhetoric to the field of literature. Both in China and Japan, there are important intersections between the two: rhetoric is language put into sociopolitical practice (Cai 1998, 20).
2. Rhetoric in China There are several expressions used to translate the term rhetoric into Chinese. Each of them illustrates a different way of understanding rhetoric. The more common expression is xiucixue [‘theory/study of decorated speech’], reminiscent of the idea of ornamental rhetoric. The second expression could come to stand for persuasive rhetoric which appears either as youshuishu [‘the art of persuasion’] or as bianlunxue [‘the study of argumentation’]. All of these expressions came into being in the late 19th and early 20th centuries, when an articulated and distinct theory of rhetoric was developed under European influence, which entered China via Japan through Japanese translations of European writings. The fact that there was no term for rhetoric in pre-modern China, that no discipline of rhetoric developed in China in scope and systematics comparable to that of an Aristotle, Cicero, or Quintilian (Kao 1986, 122), i. e. that rhetoric was not theoretically defined as a distinct domain, does not mean that there was no rhetoric in practice. Confucius (5512479 BCE) himself taught his students ‘proper speech’ (yanyu, Lunyu 11.3), as well as moral, government, and the arts. But he did not develop a theory of ‘proper speech’. Rhetoric is not contained in the Confucian liu yi, the ‘six arts’ of the traditional Chinese curriculum (which includes ritual, music, archery, chariot-riding, calligraphy and computation), either. Nevertheless, rhetoric existed in China, as a concept and as a practice, even if it had not been, for a very long time, spelled out explicitly as a theory (Cai 1998).
2.1. Pre-modern rhetoric in China (until 1912) Rhetoric in China began, predominantly, as an art of persuasion. The earliest examples are found in the speeches attributed to Shang (170021100 BCE) and Zhou rulers (11002 250 BCE) and their military commanders and are preserved in the Book of Documents (Shujing). During the Warring States period (4752221 BCE), a highly rhetorical form of oratory would be practiced by political counselors; an oral tradition with Confucius as its most prominent practitioner. Thus, persuasion came to constitute one primary model in philosophical (and religious) discourse (Kao 1986, 121). Many early Chinese writings contain examples of what would be regarded as ‘rhetorical exercises’ in the European tradition, the Zhanguoce [‘Stratagems of the Warring States’] being one, the Gongsun Longzi [‘Master Gongsun Long’] another. They provide models of efficient discourse in front of rulers, like the Guoyu, or take up political and psychological problems connected with the art of political persuasion as Han Feizi’s chapter Shuinan [‘Difficulties of persuasion’] which can be said to have first outlined an explicit concept of rhetoric (Cai 1998, chapter 2). According to Han Feizi, words were to be trusted only if they corresponded to deeds and were truthful, and speeches were good only if the adviser knew the heart and mind of his audience (Cai 1998, 52). Somewhat ironically, Han Feizi died tragically as a result of a failure to practice the art of rhetoric (Harbsmeier 1999). After unification of the various states under the Qin emperor in the late 3rd century BCE (2212206 BCE), interstate diplomacy and competition of ideologies was no
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longer vital. Accordingly, oral persuasion fell into disuse, and so-called ‘persuaders’ (shuishi) as political agents disappeared. In the Han (206 BCE2220 AD) and subsequent dynasties, rhetoric as persuasion and argumentation could be found in political counselors’ deliberations over the policies of the state and in ministers’ remonstrations with their emperors. More often than not, it would take the form of ‘criticism by indirection’. Many of the dynastic histories contain such writings (Kao 1986, 1212122). Han rhetoric also found a literary outlet in the fu, a genre of epideictic prose-poetry, displaying (political) eloquence (Knechtges 1976; Kern 2003). Indeed, poetry, generally, could be used for this purpose and Han prefaces to the Shijing, the ‘Book of Poetry’, emphasize the critical function of poetry for the healthy conduct of the body politic. In the so-called Daxu, the ‘Great Preface’, it is stated that “poetry is the product of earnest thought” and that poetry is the best method to “correctly […] set forth the successes and failures” of government (34237). Using “crafty rhetorical flourishes”, poetry could serve to “transform inferiors” and to “satirize superiors”, all “without giving offence” (34237). Thus, ‘ornamental language’ (wen) comes to be used to convey moral and political messages (wen yi zai dao) (Riegel 2001). Discursive genres, most importantly among them the so-called lun (‘discussion’), and official writings are increasingly formalized, constructed and ‘rhetorical’. They argue, deliberate or praise in order to influence the respective recipient’s attitude (Kao 1986, 1212122; for the development of rhetoric in ancient China see further Kroll 1985287; Wagner 1999; Harbsmeier 2001b; Schaberg 2002; Yu 2003; Knechtges/Vance 2005). Taste for ornamentation grew and literary prose evolved into a highly ornamental form known as pianwen which reached its peak in the Six Dynasties (2202589). Archaizing writers of the Tang (6182907) and Song (96021279) periods would spend much of their energy combating the influence of this highly ornamental, ‘baroque’ diction. An intensive debate over the merits of ‘ornate’ vs. ‘plain’ styles and the qualities and merits of wen [‘refined and florid expression’] vs. zhi [‘raw unadorned substance’] arose. The question of whether xiuci [‘ornamental language’] was ‘sincere’ (cheng) or not (as the Yijing, the ‘Book of Changes’ mentioned) and the question of whether polished words (wen) could in fact be truthful (as philosopher Laozi had once queried) was again subject of debate (Kao 1993). At the same time, the Tang dynasty is also characterized by a growing interest in specific rhetorical devices. Rules of parallelism were codified and some poets excelled in the composition of so-called zatishi [i. e. poems of miscellaneous forms], distinguished for their prominent use of particular rhetorical figures. After the Tang, in ci and qu poetry, such figures and rhetorical devices became ever more important. Allotropic variation, for example, the adaptation of and variation on existing expressions (a technique called in Chinese yinyong, i. e. ‘to draw on’), was turned into a chief mode of composition in these genres, especially in the qu. The dramatic lyrical traditions and forms, too, such as zaju and chuanqi plays, which became prominent in the Song and were further developed under the Mongolian Yuan dynasty (127121368), were characterized by elaborate syntactic figuration. A close connection of this thriving literary rhetoric with China’s political tradition continued: rhetorical and literary skills formed a substantial part of the civilservice examinations at least since the Tang (Kao 1986, 122; Cai 1998, 92). Increasingly meticulous instructions on how to compose such examination poetry and examination essays were laid down, a development which peaked in the Ming (136821644) and Qing dynasties (164421912) with the rise of zhilü, literally ‘systematic poetry,’ and zhiyi, i. e. ‘systematic prose’ (the latter better known under its alterna-
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tive name baguwen or ‘eight-legged-prose’). Baguwen can be epitomized as a Chinese model of rhetorical organization that has remained important to discursive writing in China to the present day. Although it was de facto widely used in reformist as well as in conservative writings, baguwen would, in the discussions of reforming the Chinese state and political system, eventually become a term of disdain which epitomized for many the restrictions of the old dynastic order as it was considered to burden the writings with formal decorum (Kao 1986, 122; Cai 1998, chapter 5; Mittler 2004, 552 86; see further Nathan 1977; Lu/Jia/Heisey 2002; Tu 2005). The rhetorical backbone of baguwen which, in this interpretation, is taken as symbolic for academic writing instruction imposed by the state, is prevalent in China even today (Cai 1998). Baguwen is regulated by the four stages of qi inception, cheng continuation, zhuan transition, and he conclusion – concepts taken from the terminology of poetics (Kao 1986, 125). Traditional Chinese rhetoric, then, is spread over many different types of text: philosophical, historical, lyrical, literary and political. It is not a coherent system in the early philosophical writings which implicitly deal with persuasion. With writers such as Han Feizi or Xunzi, an audience-oriented perspective is prevalent, although without any explicit theoretical description. The Mozi may be considered a bit more technical. It consciously uses and discusses rhetorical figures such as metaphor bi or synonym substitution mou as effective helps in argumentation. It is the contact with Buddhism and non-Chinese texts and ideas which, during the Six Dynasties period, instigates the development of phonetic, prosodic style and genre theories. Early texts of primarily literary criticism such as the Lunheng [‘Collected Discourses’] and Liu Xie’s (465–522) Wenxin diaolong [‘The Heart of Writing and the Carving of Dragons’], a discussion of essential tropes in language, would incidentally touch upon ornamental and literary rhetoric and give hints at manipulative use of rhetorical devices. Their primary concern is, however, literary criticism (Harbsmeier 1999; Kao 1993; see further: Owen 1992; Cai 2001). After the Tang and with the official endorsement of state examinations, many more handbooks of prosody and manuals for essay composition were written. Since the Song, devices of prose writing have been discussed, for example in Chen Kui’s (112821203) Wenze [‘Principles of Writing’] which deals with earlier philosophical texts. At the same time the genre of so-called shihua [‘poetry talk’] appears which discusses the rules of verse. Since then, both prose and poetic rhetoric have received increasing attention, examples for which are Yan Yu’s Canglang shihua [‘Canglang’s Remarks on Poetry’] and Chen Yizeng’s Wenshuo [‘On Writing’]. The flourishing of various schools of prose writing throughout the Ming and Qing resulted in treatises and anthologies dealing with prose rhetoric, e.g. Tang Biao’s (late Qing) Dushu Zuowen pu [‘How to read and compose texts’] or Zhang Xuecheng’s (178321801) Wenshi tongyi [‘History, Literature and their General Significance’]. As for material related to the composition of poetry and essays for examinations, they were collected in Liang Zhangju’s (177521849) two compilations of examination poetry and prose, respectively: Shilü conghua and Zhiyi conghua. At the same time, the rhetoric of drama and fiction became increasingly important (Kao 1986, 123). One of the characteristic features of Chinese ornamental and persuasive rhetoric was the use of trope and metaphor which appear widely both in poetry and prose. Chinese rhetoric also incorporated particular schemes in which words would keep their ordinary meaning but are placed in non-ordinary syntactic arrangement. Some rhetori-
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cal figures became distinctive features of certain genres. Repetition of the same phrase at the beginning of successive verses, for example, a figure called lianzhu, is seen as characteristic of the so-called zatishi poetry. The undisputed master figure in Chinese rhetoric, however, to be found in almost all genres of writing, is parallelism: it is dominant in the fu, it is a chief generic feature of so-called ‘parallel prose’ or pianwen, it plays a role in baguwen, as well as in dramatic writing and regulated verse. It is basically a syntactic figure, but it operates simultaneously across various levels of the language (syntax, semantics, and phonology) and may pertain to various syntagmatic segments (phrases, sentences, couplets) (Kao 1986, 124).
2.2. Modern rhetoric in China (since 1912) The last three decades have witnessed a burgeoning development of rhetoric in China (Kao 1993, 143). The main centre of the modern Chinese rhetorical tradition is still located at Fudan University in Shanghai, where Chen Wangdao (189121977), one of the founding fathers of modern Chinese rhetoric, was University President for many years. Today, Fudan University constitutes one of the major centers of rhetorical study worldwide. The special importance of this Shanghai tradition lies in the fact that it is concerned with rhetorical practice in a non-Indo-European language with several millennia of well-documented but under-researched indigenous history (Kao 1993; Harbsmeier 1999). Chen Wangdao produced his classic study of traditional Chinese rhetoric, the first to examine it from a systematic point of view, including a list of some three dozen rhetorical figures, in 1932. Xiuci xue fafan [‘An Introduction to Rhetoric’] was heavily influenced by Western approaches to rhetoric which Chen had become familiar with during his stay at Japan’s Waseda University, a stronghold of Westernized rhetorical studies in Japan at that time (Kao 1986, 123; Harbsmeier 1999). Chen’s book would later be reprinted regularly, in 1950, 1954, 1955, 1962, 1964, 1976, 1979, 1982, and 1987. It has influenced many other standard works, even those dealing with rhetoric of the modern Chinese language, such as Zhang Gong’s Xiandai Hanyu xiucixue (1963) [‘Rhetoric of Modern Chinese’], which received further stimuli from Soviet stylistics and Western linguistics and, accordingly, presents itself as a formalized study of rhetorical figures. Largely based on Japanese sources, which in turn were based on Western ones, Chen Wangdao’s classic formed a stark contrast with earlier works such as Hu Huaichen’s Xiucixue yaolüe [‘A Survey of Rhetoric’], published in Shanghai in 1923, which tried to establish a traditionalist alternative to the Westernized rhetoric introduced by the New Culture Movement since the mid-1910s (Harbsmeier 2001a). Building on this base, Yang Shuda had, just a few years before Chen, in his Zhongguo xiucixue [‘Chinese Rhetoric’] published in Shanghai in 1933 and reprinted in 1955 under a new title Hanwen wenyan xiucixue [‘The Rhetoric of Literary Chinese’], continued this line, and remains intrepid, never recanting on his traditionalist methodology. In his introduction he proudly maintains that rhetoric “is a manifestation of an individual nation.” He opposes “cutting one’s own feet to fit other people’s shoes”, and insists on developing categories of ancient Chinese rhetoric on the basis of the ancient Chinese evidence alone (Kao 1993; Harbsmeier 1999, 119). More recent publications on rhetoric continue
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive Chen Wangdao’s practice, however, now covering the whole field including discussions of Chinese grammar and rhetoric, rhetoric and discourse linguistics, communication theory, structuralism, cybernetics, and the rhetorical analysis of literary texts. Examples are Zheng Ziyu’s Zhongguo xiucixue xiugao [‘A Draft on China’s Rhetorics’] (1984) or Yi Pu and Li Jinling’s Hanyu xiucixue shigang [‘A Draft History of Chinese Rhetoric’] (1989). While one or several theories of rhetoric have developed since the impact of Western rhetoric in the early 20th century, thus constituting a considerable break with the past, the practice of Chinese rhetoric with its involvement in the philosophical, the literary and the political realm, has continued unabated. Chinese rhetoric is a pivotal means of social management that engineers ways of thinking, speaking and writing. In other words, rhetoric continues to be used to put philosophy and language into social action for practical purposes such as managing socio-political relations (Cai 1998, 1442 145). Government ideology, once Confucian, now socialist, functions as one such system of rhetoric (Cai 1998, 86). Ideology prescribes frameworks of thinking, codes of conduct and of managing social relations, it represents the ideas and concepts that were and are deemed appropriate to the Confucian or revolutionary needs and categories of language, it determines what was and is possible and acceptable, what and how it could and can be said. It delimits Confucian ‘proper speech’ (yanyu) or in more contemporary, socialist language, the ‘way of speaking’ (tifa) (Cai 1998, 70271, 16; Schoenhals 1992; Link 1992). To the present day, rhetoric, ornate language, is used by those who govern and those who are governed (and so-called ‘obscure’ or ‘misty poetry’, ambiguous rock song lyrics, experimental theatre, blog writing or even the singing of the Internationale can all be signs thereof), to convince the audience of one’s cause 2 and eventually, to persuade it.
3. Rhetoric in Japan Due to the great variety of sub-codes and registers in use in Japan, it is not possible to define one set of rhetoric rules for Japanese as a whole. Rather, it would be necessary to consider separately the most important linguistic varieties in use. The primary distinction to be made here is that between the Chinese and Japanese language, since classical Chinese used to be the language of education and administration in Japan from the 6th century onwards, at least up to the end of the 19th century. In Chinese texts (so-called kanbun 漢文), the Japanese adopted Chinese norms of rhetoric and stylistics. Japanese as a language of literature, on the other hand, developed gradually during the 7th and 8th centuries and reached a peak in the aristocratic Heian era (7942 1185), considered to be the ‘classical era’ of Japanese language and literature. In terms of ornamental rhetoric, the most influential literary genre was the waka 和歌, i. e. traditional Japanese-language poetry as formalized in kadô 歌道 [‘Way of Poetry’]. The poetics of waka came to permeate all fields of Japanese language literature, i. e. poetry, prose, and even drama (e.g. the texts of nô (能) plays or jôruri 浄瑠璃, Japanese puppet theatre from the 15th/16th century onwards). Only in the second half of the 19th century Western rhetoric was introduced to Japan and advocated as a model to follow. As far as persuasive rhetoric is concerned, Western rules of public speech were adopted in the late 19th century and trained in special ‘speech clubs’.
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3.1. Pre-modern rhetoric in Japan (until 1868) In pre-modern times, esp. during the Heian period, rhetoric cannot be separated from the poetics of waka. The term waka has several meanings. Firstly, it functions as generic term for poetry written in the Japanese language predating the renga 連歌 (so-called ‘linked poetry’ which developed from the 12th century onwards), independent of the specific form this poetry takes (i. e. it designates such disparate forms like chôka 長歌 [‘long poem’], tanka 短歌 [‘short poem’], and sedôka 旋頭歌 [‘head-repeated poem’], as dicussed below). Secondly, it is used to contrast Japanese-language poetry with foreign poetry, and especially poetry written in classical Chinese, so-called kanshi 漢詩, which constituted a highly appreciated form of art practiced extensively at the Heian Imperial Court by the Japanese themselves. Thirdly, waka in the more usual narrower sense is synonymous with tanka, Japanese short poems consisting of thirty-one syllables arranged in the order 5-7-5-7-7, with the first three syllable groups (5-7-5) and the last two syllable groups (7-7) forming one unit, respectively. The initial three groups of syllables is labeled kami no ku 上の句 [‘upper stanza’], the last two groups of syllables shimo no ku 下の句 [‘lower stanza’]. The oldest extant anthology of Japanese poetry is the Man’yôshû 万葉集 ([‘Collection of Ten Thousand Leaves’], compiled around 759 by royal decree), which is characterized by a great variety of lyrical topics and forms. The Man’yôshû comprises 265 chôka, consisting of lines of five and seven syllables in alternation, concluding with a couplet of seven, 4,207 tanka, i. e. short poems, and 62 sedôka, consisting of six lines with 5-7-7, 5-7-7 syllables. Typical rhetorical figures in the chôka are comparisons with phenomena of nature, like birds or flowers, syntactical parallelisms intensifying the enunciation (this is a rhetorical figure imported from China together with Chinese traditional poetry), and so-called makurakotoba 枕詞 [‘pillow words’], i. e. epitheta ornantia, words or phrases conventionally fixed by meaning, association, or sound to one or more words, as chihayaburu kami [‘the mighty gods’] or Yamato Akitsushima [‘Yamato, land of the dragonfly’], where chihayaburu is connected to the ‘gods’ (kami), and ‘Akitsushima’ to ‘Yamato’. Makurakotoba are prolific in the Man’yôshû, but they continued to be coined and used even up to the 20th century. The second important imperial collection of Japanese poetry is the Kokin waka shû 古今和歌集 (in short: Kokinshû, [‘Collection of Ancient and Modern Japanese Poems’], compiled between 905 and 914 by royal decree), which comprises 1,111 poems in tanka form. The conception underlying the collection no doubt reflected contemporary ideas about poetry, realizing them so well that this anthology was to become the model for all subsequent poetry collections up to 1868. Thus, waka aesthetics became synonymous with Kokinshû aesthetics. The Kokinshû has two prefaces, the famous Kanajo 仮名序 written by the poet Ki no Tsurayuki (ca. 8722945) in Japanese, and the Manajo 真名序 by Ki no Yoshimochi (d 919), written in Chinese. These two prefaces are considered to be the oldest extant texts of Japanese poetics. The Kanajo starts with the famous statement, “The seeds of Japanese poetry lie in the human heart and grow into leaves of ten thousand words. Many things happen to the people of this world, and all they think and feel is given expression in the description of things they see and hear” (Rodd 1984, 35). This means that the roots of yamatouta 大和歌, Japanese poetry, lie in the sensitivity and in the feelings of man: writing poetry, human beings express their innermost feelings by describing their sensory perceptions. Thus, already in the oldest
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poetological texts of Japan we find the aesthetics of indirection which was to be cultivated skillfully in the centuries to follow. The Kokinshû is full of witty expressions, full of subtlety and cleverness – a model for the art of allusion. One of the typical stylistic means by which indirect expression is achieved is mitate 見 [‘comparison’], i. e. “For cherry blossoms / to be descending like snow / is sorrow enough. / How do the blowing breezes / purpose that they should scatter?” (Ôshikôchi Mitsune; Kokinshû no. 86; cf. McCullough 1984, 404; the mitate is ‘descending like snow’). Another rhetorical means employed in waka is engo 縁語 [‘verbal association’], designating words thought to associate by meaning, convention, or sound, as yume [‘dream’] and miru [‘see’]. Such association is used to unify the halves of a tanka (i. e. upper and lower stanza), or connect poems in a poetry collection. Another important rhetorical figure is kakekotoba 掛詞 [‘pivot word’], which designates the use of homophones with two different meanings in ‘pivot’ position, e.g. ‘Honobono to / Akashi no ura no’, where “Akashi” refers to the place, Akashi, and at the same time means ‘(to) dawn’, so that the phrase could be translated as ‘Faintly, faintly dawn/breaks Akashi Bay’ (cf. Miner/Odagiri/Morrell 1985, 281). In addition, utamakura 歌枕 [‘lyrical pillow’] is a frequently used literary technique. It refers to the names of famous or beautiful places (meisho 名所) which are mentioned again and again in poetry (cf. Árokay 2002). The river Sumidagawa in the East of Japan, for example, described in Chapter 9 of Ise monogatari (ca. 925), has thereafter been picked up in different literary works and extolled again and again. Often poets visit these meisho in order to sing about them once more and to create another instance of invocation of utamakura. Finally, kigo 季語 [‘seasonal word’] is to be mentioned as perhaps the most important, fundamental literary means of waka. Thirty-one syllabic tanka as well as later forms of Japanese poetry like renga or haiku (the latter consisting of seventeen syllables arranged in the order 5-7-5, a lyrical form which developed mainly from the Edo period, 160021868 onwards) have to have a ‘seasonal topic’ (kidai 季 ), i. e. they must be situated in or allude to a certain season of the year (otherwise they are classified as zô 雑, i. e. ‘miscellaneous’). The function of the kigo is to indicate the season the poem refers to, e.g. kasumi [‘haze’] is a kigo for spring, kiku [‘chrysanthemum’] indicates the ninth month, i. e. early autumn. Many of these techniques of waka poetics were also transferred to the fields of prose or drama and are used up to modern times. The rhetoric of waka, part of ‘ornamental rhetoric’, also had an important social and practical impact, esp. during the Heian period, when waka constituted an important means of communication between man and woman. A courtier, who was interested in a court lady, used to compose a tanka and send it to her. This poem provided the lady with useful information about the gentleman’s level of education and his knowledge of waka aesthetics, his skills and talents, his taste, sensitivity, and cleverness. On the basis of his poem, which had to be presented on paper appropriate in consistence and color for the occasion as well as for the respective season, the lady decided whether she wanted to keep up contact with the courtier, and wrote an answer, also in tanka form, which was brought to the man by a messenger. Anyone who was awkward in composing tanka was considered uncultivated. So knowledge of waka rhetoric was decisive for one’s reputation at court. Besides the field of waka aesthetics, there was also the realm of Chinese aesthetics, for classical Chinese was the official court language for all documents and the bureaucracy. Classical Chinese was not only used by state officials for all acts of administra
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tion, but even official male diaries at court were written in kanbun, i. e. in Classical Chinese prose. The rhetorical standards in this field were completely taken over from China. Up to the late 19th century, kanbun continued to be considered the suitable style for educated people. At the same time, the standards set by Heian aristocratics for waka were also held up with regard to Japanese-language poetry and prose and even drama in the centuries to follow. This did not change even when the warrior class took over political power and slowly gained cultural importance (in 1185, the Kamakura bakufu 幕府 [‘military regime’] was established, which brought the samurai 侍 to power; military regime remained in place until 1868).
3.2. Modern rhetoric in Japan (since 1868) While the rhetoric of waka continued to exist, modern rhetoric was introduced from the West in the Meiji era (186821912), which was the period of Japan’s political, economic, and cultural modernization and of its transformation from a feudal agrarian into a modern state. Rhetoric as the theory and the techniques of efficient, persuasive a/effectice speech was first introduced to Japan in a theoretical article entitled Shûji oyobi kabun [‘Rhetoric and Belles-Lettres’] (1879), which was a translation by Kikuchi Dairoku (185521917) of ‘Rhetoric and Belles-Lettres’ from the short encyclopedia Chamber’s Information for the People (Philadelphia 1867). This article triggered off an interest in Western rhetoric which was to last about twenty-five years, as can be seen in treatises like Bijigaku [‘Rhetoric’] (1889) by Takada Yanae (186021938), Shûjigaku [‘Rhetoric’] (1893) by Ôwada Takeki (185721910), Biji ronkô [‘Studies on Rhetoric’] (1893), Shûjigaku [‘Rhetoric’] (1898) by Takeshima Hagoromo (187221967), Shin bijigaku [‘New Rhetoric’] (1902) by Shimamura Hôgetsu (187121918), and Shin bunshô kôwa [‘New Lecture on Writing’] (1909) by Igarashi Chikara (187421947). Intellectuals and literati studied the Western ‘art of speech’ and recommended the adaption of Western rules of rhetoric. Two technical terms denoting rhetoric were established then: shûjigaku 修辞学 and bijigaku 美辞学, both words referring to ornamental rhetoric. Shûjigaku (which means literally ‘study/theory of decorated speech’) is a term rooted in Chinese tradition (xiucixue goes back to xiuci used for ‘decorated speech’ early on). This is the reason why some theoreticians believed it to be an inadequate translation of the Western word “rhetoric”, which could lead to the misunderstanding that the rhetorician limits himself to criticizing linguistic expression and literary works. Takada Sanae and others chose the term bijigaku instead, meaning ‘theory of how to make speech more beautiful’, an expression which had first been used by the translator and author Kuroiwa Ruikô (186221902) in Yûben bijihô [‘The Art of Speech’] (1882), which takes into consideration the aesthetics of speech and is therefore considered more adequate for the Japanese context by many intellectuals, since in Japan, rhetoric has always been closely linked to the aesthetics of poetry. Today, shûjigaku is the usual expression to designate rhetoric as a concept introduced from the West, together with a third term which is a foreign word taken from the English language: retorikku レトリック (yet another expression used less frequently is yûbenjutsu 雄弁術 [‘technique of eloquent speech’]). Reasons for the deep interest in Western rhetoric during the Meiji era not only lie in the overall orientation towards the West in this period of Japanese history, but in a need to reform the Japanese language which was felt quite
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urgently by many intellectuals of the time. The idea was that the level of Japanese, considered as desolate when compared to that of the Western languages, could be lifted by applying the rules of Western rhetoric, and by following the principle of wakon yôsai (和魂 , ‘Japanese spirit, Western learning’) which served as guideline in the process of modernization. Indeed, promoters of Western rhetoric strove to establish the Western art of expression as compulsory for all of the nation’s speakers. Rhetoric in the Meiji era was closely connected to literature and literary theory, and most of the authors of treatises on rhetoric and stylistics were influential authors of belles-lettres, so that quite a number of works on rhetoric, among them Tsubouchi Shôyô’s Biji ronkô, not only deal with rhetoric in a narrow sense, but develop a modern theory of literature based on principles of Western aesthetics. On the other hand, questions of rhetoric are also dealt with in works dedicated mainly to literary theory, such as the treatise Shôsetsu shinzui [‘The Essence of the Novel’] (1885/86), written also by Tsubouchi Shôyô, a scholar of English Studies. The treatise proved to be path-breaking for the development of modern Japanese narrative prose. Igarashi Chikara’s Shin bunshô kôwa (1909) represented the apex and, at the same time, the last attempt to establish rhetoric in a Western sense as an independent science. In the Taishô era (191221926), no new studies on rhetoric were written. Rhetoric was no longer appreciated as highly as it had been during the Meiji era. This was due mainly to certain historical developments in Japanese literature, such as the advent of naturalism and so-called shaseibun in prose as well as of shintaishi in poetry. Shaseibun 写生文 [‘life-imitating’ or ‘descriptive prose’] is a form of realistic prose inspired by descriptive short poems in haiku-style. The shaseibun movement developed at the beginning of the 20th century under the guidance of the poet Masaoka Shiki (186721902). Naturalism (shizenshugi 自然主義) introduced from Europe at the end of the 19th century and oriented towards authors like Emile Zola and Guy de Maupassant finally asserted itself in Japan in the years 1906 and 1907. It was to constitute the dominant stream of modern Japanese literature thereafter. Both schools of prose narrative – shaseibun as well as shizenshugi – aim at writing realistically, naturally, truthfully, and objectively: a plain style imitating the so-called ‘spoken language’ was used in the narrative instead of traditional literary-style Japanese (bungo 文語), which was still the usual at the time. As a consequence of the introduction of this new style, which became known as genbun itchi 言文一致 [‘unification of written and spoken language’] to narrative, authors tried to avoid all types of ornamental, artificial language, and hence rhetoric. In the field of poetry, there was a similar development with the appearance of shintaishi 新 [‘new-style poetry’] whose supporters spoke out in favor of writing poetry in the style of modern spoken language. Thus, rhetoric lost importance, and critics like Hatano Kanji (190522001) wrote that the Japanese no longer need rhetoric, since through the literature of naturalism, concepts and their verbal expression have become one (in: Bunshô shinrigaku [‘The psychology of writing’] 1935; cf. Hayashi 2003, 43). The heyday of Western-style rhetoric in Japan was very short, a fact traced back by some authors to the lack of a real indigenous rhetorical tradition and to the nonexistence of a norm-setting Japanese standard which was still about to develop (Hayashi 2003). In addition, during the Taishô period, Japanese ceased to believe in Western imports as a key to personal and national success, which also led to a decline of the attractiveness of Western rhetoric. Only in the 1930s, i. e. in the early Shôwa era (19262
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1989), there was a short renaissance of rhetoric in Japan due to the essay Retorikku no seishin [‘The Spirit of Rhetoric’] (1934) by the philosopher Miki Kiyoshi in which Miki criticized forms of ideology-based literature which were mainly concerned with conveying political messages such as the Marxist proletarian literature movement active in Japan mainly from 1921 to 1934. Miki spoke out in favor of doing research on rhetoric and in favor of practicing rhetoric in literature (cf. Hayashi 2003, 44), referring back again to the traditional Japanese link between rhetoric and aesthetics. In another article published in 1938 (Kaishakugaku to shûjigaku [‘Hermeneutics and Rhetoric’]), Miki states that ‘rhetorical thinking’ (retorikkuteki shikô) is subjective and intuitive, and the imaginative and conceptual powers of the artist cannot exist independently from ‘rhetorical thinking’. In addition, Miki sees rhetoric as unifying psychology and logic and hence as a technique which enables man to express not only human reason, but also ethic views as well as pathos (Hayashi 2003, 44). ‘Rhetorical thinking’ takes place where imagination and intuition are realized. Miki’s main concern in the 1938 article is the re-establishment of what he calls ‘primary rhetoric’ (genshi no shûjigaku), referring to the original, ancient Greek rhetoric in which, according to Miki, concept and expression had been closely interconnected. While hermeneutics constitutes a method to understand texts already produced and hence, the past, rhetoric, which in ancient Greece was concerned with the functions and the functioning of verbal expression, is concerned with (verbal) action, i. e. with the production of speech in the present and for the future. So rhetoric in Greece was not limited to decoration of speech, but had an important social and practical function, which Miki would have liked to see reestablished in contemporary Japan (cf. Hayashi 2003, 44). The introduction of rhetoric (shûjigaku or bijigaku) in the Meiji period was the attempt to establish what Miki called ‘primary rhetoric’. However, about 1925, a change of paradigm led to the establishment of hermeneutics as the dominant school of thought in Japanese humanities, and from about 1935 onwards, questions of style and techniques of expression were discussed almost exclusively by the literati themselves, i. e. by those producing literary texts. Thus, rhetoric as a science was, in a way, saved by literature. This phenomenon of the loss of importance can, by the way, equally be observed in the West, due to the advent of realism as well as positivism in art. In spite of the decline of ornamental rhetoric, persuasive rhetoric in Western style still survived in the Taishô and Shôwa periods. The culture of debate and public speech was taken over from the West during the Meiji period, when the democratic Movement for Freedom and People’s Rights (Jiyû minken undo 自由民権運動) arose, which advocated the introduction of parliamentary democracy in Japan. Around the turn of the century, almost every educational institution around the capital founded its own ‘debate department’ (benron-bu 弁論部) in which public speech and debate was trained. In order to make publicly accessible and to conserve the manuscripts produced at the debate departments, Noma Seiji (187821938) founded the Dai Nippon Yûbenkai [‘Great Japan Eloquent Speech Club’] in 1909 and, one year later, the magazine Yûben [‘Eloquent Speech’] in which the manuscripts were published. The Dai Nippon Yûbenkai later developed into the publishing house Kôdansha which still today is Japan’s biggest publishing company. Many Japanese university debate clubs, which were especially popular with students aiming at a political career, exist to the present day, e.g. the Eloquent Speech Club of Waseda University (Tôkyô) founded in 1902, which has counted among its ranks many prominent politicians like the former Prime Ministers Mori Yoshirô, Obuchi Keizô, and Takeshita Noboru.
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
4. Conclusion In view of the limited space as well as the fact that systematic research on East Asian rhetoric has just begun recently, the information provided here is all but comprehensive. The authors have tried to cover a number of major historical developments and to sketch out a few features of rhetorical practice in some of the more prominent fields of discourse in China and Japan, but they have only barely scratched the surface. Many tasks remain, such as sifting through primary material of all East Asian languages as well as through the numerous poetological texts of all centuries in China, Japan, and Korea, a task which is currently undertaken by scholars in China and Japan and in Western Chinese and Japanese Studies. This research would be the pre-condition for providing a more rigorous and thorough analysis and description of the particular uses of Asian figures of speech, for tracing further the development and the particular features of an ‘indigenous Asian rhetoric’ and for establishing a related taxonomy based on the nature of each respective East Asian language.
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Rhetoric and stylistics in China: Barbara Mittler, Heidelberg (Deutschland) Rhetoric and stylistics in Japan: Asa-Bettina Wuthenow, Heidelberg (Deutschland)
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
122. Rhetorik und Stilistik im arabischen Raum 1. Rhetorik und Stilistik der autochthonen arabischen Tradition 2. Rhetorik und Stilistik der griechisch-antiken Tradition 3. Rhetorik und Stilistik seit der Wiedergeburt der arabischen Sprache und Literatur (nahdø a) um die Mitte des 19. Jhs. 4. Literatur (in Auswahl)
Abstract Rhetoric and stylistics in the medieval Arab world developed within two separate traditions: Arabic literary theory and the translation movement in Abbasid times. Arabic literary theory was formed and influenced by diverse groups of experts, i. e. the philologists of early Islamic times, the ‘modern’ poets and literati of the Abbasid era, and, above all, the Koran interpreters, who shaped the dogma of the inimitability of the Koran as its style is concerned. Word order, word use, use of metaphors and figures of speech were considered the highest possible degree of ‘eloquence’ (bala¯gha). Literary theory reached its climax in the two works of ¤Abdalqa¯hir al-Jurja¯nı¯ (d. 471/1078), the Mysteries of eloquence and the Proofs for the inimitability (sc. of the Koran). Al-Jurja¯nı¯’s ingenious theories on the dichotomy of wording and meaning, on the terms metaphor, simile and their mutual relationships, and on rhetorical figures with a phantasmagoric foundation was later systematized and summarized by as-Sakka¯kı¯ and al-Khatø¯ıb al-Qazwı¯nı¯. The latter’s compendium on the ‘science of eloquence’ served as a manual for teaching and has been studied and commented on during the Middle Ages up to modern times. The second tradition of rhetoric and stylistics in the Arab world developed within the framework of the translation movement in Abbasid times. Aristotle’s Rhetoric and Poetics, which in the late Alexandrian era had formed part of the Organon, were translated into Arabic and later studied by the philosophers. Important in this context was the ‘syllogistic’ character of rhetoric and poetics, determined by persuasive (muqni ) propositions (in rhetoric) and evocative (mukhayyil) propositions (in poetics). Both disciplines, however, remained in the domain of philosophy and scarcely influenced autochthonous Arabic literary theory. The increasing Western influence on the Islamic world that was exerted since the beginning of the 19 th century gave impetus to the rebirth of Arabic literature and thought (nahdø a), which started up around 1850. The nahdø a as a cultural phenomenon also caused a transformation of the Arabic language which resulted in the development of modern standard Arabic and the definition of new linguistic and stylistic norms.
1. Rhetorik und Stilistik der autochthonen arabischen Tradition Rhetorik und Stilistik sind innerhalb der autochthonen arabischen Sprachwissenschaft in eine Literaturtheorie eingebaut worden. Dabei bildete die Rhetorik einen selbständigen Zweig, während die Stilistik mehrheitlich der Literaturkritik eingegliedert wurde.
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Eine dritte Disziplin der Literaturtheorie stellte die Poetik dar. Nach einer vorsystematischen Phase nahm die Literaturtheorie um die Wende vom 9. zum 10. Jh. n. Chr. systematische Gestalt an. Diese Systematisierung war, wie Heinrichs (1987, 180) gezeigt hat, beeinflusst von verschiedenen, teilweise außerliterarischen Impulsen. Man begann, die rhetorischen Figuren zu klassifizieren, eine Unterscheidung zwischen Wort- und Sinnfiguren zu treffen und zwischen verschiedenen Arten der Rede zu differenzieren ⫺ dabei ging es zunächst in erster Linie um die Dichtung. Die arabische Rhetorik und Stilistik kann denn auch kaum vom Studium der Dichtung getrennt werden, obwohl sich im arabischen Raum auch Gattungen und Formen der Kunstprosa entwickelten, von denen einige für die Entwicklung stilistischer Normen von zentraler Bedeutung waren. Außerdem lieferte die Interpretation des Korans, eines Prosatextes, bei dem nur einzelne Sequenzen durch Reime gegliedert sind, einen der wichtigsten Impulse für die Entwicklung einer Literaturtheorie. Der arabische Begriff für Beredsamkeit, Eloquenz ist bala¯g˙a, die Wissenschaft der Eloquenz wird ilm al-bala¯g˙a genannt. Innerhalb der autochthonen arabischen Tradition kommt die Wissenschaft der Eloquenz dem Rhetorikbegriff der klassischen Antike am nächsten, obwohl ihre Themen, die syntaktische Stilistik, die Theorie der Metaphorik und die Bestimmung der rhetorischen Figuren sich im wesentlichen nur mit der elocutio decken (Stock 2005, 4). Besonders die auf den mündlichen Vortrag abzielenden Teilbereiche der antiken Rhetorik, das Einprägen (memoria), die Vortragskunst (actio) und die gepflegte Aussprache (pronuntiatio) fanden keine Entsprechung in der arabischen Wissenschaft der Eloquenz. Die Voraussetzung, überhaupt Eloquenz zu erreichen, war die fehlerlose Beherrschung der arabischen Sprache. Die Kunst der vollendeten Meisterung des Arabischen wurde Sprachreinheit (fasø a¯hø a) genannt (zur Entwicklung dieses Begriffs vgl. Ayoub 2007, 84 ff.). Negativ ausgedrückt, bedeutete fasøa¯hø a die Vermeidung von Verstößen gegen die arabische Morphologie, Syntax und Lexik, etwa durch Gebrauch umgangssprachlicher Formulierungen sowie von Neologismen und Fremdwörtern (Stock 2005, 11). Gegenstand der Sprachreinheit waren also Fragen der Grammatik und der Stilistik, weniger solche der Rhetorik. Auf der Sprachreinheit baute dann die Steigerung der sprachlichen Ausdrucksmittel auf, die in Erreichung der Eloquenz, der bala¯g˙a, gipfelte. Obwohl manche Themen sowohl der Wissenschaft der Eloquenz als auch der Sprachreinheit durchaus in das Gebiet der abendländischen Rhetorik und Stilistik fallen, ist festzuhalten, dass weder bala¯g˙a noch fasø a¯hø a mit den letzteren Begriffen deckungsgleich sind. Für stilistische Belange war in der arabischen Sprachkultur ausschließlich die Hochsprache (fusø hø a¯ ) maßgebend; die arabische Hochsprache als Sprachnorm wurde im 8.⫺9. Jh. festgelegt und in abschließend gültiger Weise kodifiziert durch den bedeutenden Philologen Sı¯bawayh (gest. um 796 n. Chr.). Sı¯bawayhs mit dem schlichten Titel Kita¯b [Buch] überschriebene Grammatik des Arabischen blieb in der Folge unbestrittene Autorität und maßgebendes Referenzwerk für die fusø hø a¯ (Mejdell 2006, 8). Der fusø hø a¯ allein galt das Bestreben, Sprachreinheit zu erreichen. Dies ist insofern bemerkenswert, als es bereits in den ersten islamischen Jahrhunderten zu einer klaren Diglossie-Situation des Arabischen gekommen war (Grotzfeld 1982, 119). Der Hochsprache stand der sich in verschiedenen Erscheinungsformen manifestierende Dialekt bzw. die gesprochene Volkssprache gegenüber. Der für sprachlich-stilistische Normierung außer Betracht fallende Dialekt und die Hochsprache blieben aber stets klar voneinander getrennt. Dies hatte auch Konsequenzen für die literarische Kanonbildung: Texte, die sprachlich den strikten
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Kriterien der fusø hø a¯ nicht genügten, galten nicht als ernstzunehmende Literatur. Das klassische Beispiel eines solchen Textes ist die Erzählsammlung Tausendundeine Nacht (Somekh 1991, 66 f.). Um die Mitte des 8. Jhs. n. Chr. begannen Philologen in Basra und Kufa, den beiden Zentren sprachlicher Studien, sich wissenschaftlich vor allem mit der Dichtung, in geringerem Maß auch mit anderen Literaturgattungen zu befassen. Sie verfolgten das Ziel, die altarabische Dichtung zu sichten und zu sammeln, Echtes von Unechtem zu trennen, lexikalische und grammatische Schwierigkeiten zu erklären und die sprachlichen Feinheiten der einzelnen Verse zu definieren. Die Methode, die sie dabei anwandten, war naqd, ein Wort, das in diesem Zusammenhang bald die Bedeutung Literaturkritik annahm, aber ursprünglich zum Vokabular des Geldwechslers gehört und sich auf die Wertprüfung von Münzen bezogen hatte. Im Rahmen der Betrachtung von Dichtung bezeichnete naqd die Methode, das Echte vom Unechten sowie gute Verse von schlechten zu unterscheiden. In dieser Bedeutung wurde der Begriff anscheinend erstmals von Ibn Salla¯m ˇ umahø ¯ı (gest. 845), einem Philologen aus Basra, verwendet (Stock 2005, 3). Das nach al-G Aussage seines Verfassers erste Buch über die Theorie der Literaturkritik, über die „Wisˇ afars (gest. 948) senschaft vom Guten und Schlechten der Dichtung“ war Quda¯ma b. G Abhandlung Die Kritik der Dichtkunst (Naqd asˇ-sˇi r), die einen ersten Versuch darstellte, die Literaturtheorie in ein sauberes System zu bringen (Heinrichs 1987, 182). Bei der Analyse von Dichtung gingen die Philologen in der Regel vom Einzelvers aus; nicht das Gedicht als Ganzes war Gegenstand der Betrachtung. Diese Herangehensweise war im Übrigen ein Charakteristikum der arabischen Literaturtheorie überhaupt, für die Wolfhart Heinrichs (1987, 187) in diesem Zusammenhang die Bezeichnung „molekularistisch“ geprägt hat. Einen größeren Einfluss auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sprache und Stil, vor allem, was die Differenzierung rhetorischer Figuren betraf, hatte die literarische Strömung der Modernen (muhø datßu¯ n), eine typische Erscheinung der abbasidischen Epoche, die durch eine Internationalisierung der Gesellschaft gekennzeichnet war. Die Modernen waren Dichter und Dichtungstheoretiker, oft beides gleichzeitig, und entwickelten eine durch starke Verwendung rhetorischer Mittel (Wort- und Sinnfiguren) gekennzeichnete Sprache, die sie neuen Stil (badı¯ ) nannten. Dies führte zu einer literarischen Kontroverse, da die rhetorisierte Sprache dieses neuen Stils von manchen abgelehnt wurde. Der Haupteinwand war dabei, dass der neue Stil dem altarabischen, am beduinischen Vorbild orientierten sprachlichen Ideal widersprach. Einer der Modernen, der Dichter Ibn al-Mutazz (gest. 908), fasste in seiner Abhandlung Buch des neuen Stils (Kita¯b al-badı¯ ) die rhetorischen Figuren und die Tropen zusammen, wollte aber mit seiner Darstellung beweisen, dass diese eigentlich nicht neuartig, seien, sondern schon in der alten Dichtung, im Koran und in anderen repräsentativen alten Texten gefunden werden konnten, wenn auch nicht in diesem Ausmaß. Ibn al-Mutazz gliederte den badı¯ in folgende fünf Teile: Metapher (isti a¯ra), Paronomasie (tagˇnı¯s), Antithese (mutøa¯baqa), Wiederholung des Reimwortes im ersten Halbvers, oft am Anfang (radd al- agˇuz ala¯ øs-sø adr, wörtlich: Zurückwerfen des Endes an den Anfang) und dialektische Argumentation (madß hab kala¯mı¯ ); von diesen fünf Konstituenten des badı¯ sind die ersten vier im engeren Sinn rhetorische Figuren, während die dialektische Argumentation eher der Stilistik zuzurechnen ist. In einem Anhang seines Werks fügte Ibn al-Mutazz zwölf weitere Verschönerungen (mahø a¯sin) an, deren Verhältnis zu den fünf Teilen des badı¯ er allerdings nicht klar definierte.
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Ein innerhalb der arabischen Literaturtheorie immer wieder diskutiertes Problem war die Frage nach der Wahrheit (sø idq) bzw. Unwahrheit (kadß ib) von Dichtung. Diese Frage hatte schon die klassische Antike beschäftigt ⫺ man vergleiche Platons negative Haltung zur Dichtung (Göttert/Jungen 2004, 72). Der Anspruch, die Dichtung habe durch Beschreibung (wasø f ) eines poetischen Sachverhaltes eine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu erstreben, fand sich, was die altarabische Poesie betraf, weithin bestätigt. Da aber die von den Modernen exzessiv eingesetzte Hyperbel, die wichtigste rhetorische Figur der Panegyrik, gegen dieses Prinzip verstieß, war sie als Lüge in der Dichtung zeitweise heftig umstritten. Sie setzte sich aber weithin durch und wurde von einigen Theoretikern schließlich geradezu als Wesensmerkmal von Dichtung akzeptiert (Heinrichs 1987, 186). Den vielleicht wichtigsten Anstoß zur endgültigen Ausbildung einer arabischen Literaturtheorie lieferte die Koraninterpretation, die im 10. Jh. die Tropen- und Figurenlehre für ihre Zwecke nutzbar machte. Man ging dabei aus vom Begriff des i gˇa¯z, wörtlich des Unfähigmachens. In koranischem Zusammenhang war damit gemeint, dass der Koran als Bestätigungswunder der Prophetie Mohammeds jeden möglichen Herausforderer unfähig machte, etwas Ähnliches oder Vergleichbares hervorzubringen. Der Koran war, als Offenbarungstext und Wort Gottes ohnehin, aber auch in sprachlich-stilistischer Hinsicht, unnachahmbar und hob überdies Mohammed über alle früheren Propheten hinaus, die zwar ebenfalls Wunder getan hatten ⫺ Jesus zum Beispiel war heilkundig, Moses zauberkundig gewesen ⫺, deren Wunder aber mit ihnen verschwunden waren. Die Tatsache, dass die Wunder dieser beiden Propheten auf einer anderen Ebene lagen und nicht ihre Offenbarungsschriften (Evangelium, Tora) betrafen, enthob die Befürworter der sprachlich-stilistischen Unnachahmbarkeit des Korans von vornherein der Aufgabe, den Koran konkret mit den älteren Offenbarungsschriften zu vergleichen (Neuwirth 1983, 174). Dass der Koran in allem, was die Bedeutungsebene, das Gemeinte oder den Sinngehalt (ma na¯ ), betraf, die Autorität von Gottes Wort besaß, die nicht hinterfragt wurde, hatte Konsequenzen für die Theorie des i gˇa¯z: Den Kern des koranischen Wunders suchte ø ). Dadurch man gar nicht in den Sinngehalten, sondern im sprachlichen Ausdruck (lafz erhielt die Sprache der Offenbarungsschrift eine Art absoluter Bedeutung für die literarische Ästhetik (Reinert 1990, 384). Der Akzent bei der Diskussion über die Einzigartigkeit des Korans lag dabei hauptsächlich im Bereich des Stils: Wortfolge, Gebrauch der Wörter, Gebrauch von Metaphern und Redefiguren ⫺ all dies wurde, so wie es sich im Koran darstellte, als unübertroffen und unübertrefflich in seinem Grad der Eloquenz (bala¯g˙a) betrachtet. Dieses Prinzip der sprachlich-stilistischen Unnachahmbarkeit des Korans entwickelte sich bald zu einem Dogma und geriet mit der Zeit derart in den Vordergrund, dass es oft als der eigentliche Zweck der Literaturtheorie empfunden wurde. Ihren Höhepunkt erreichte die autochthone arabische Literaturtheorie in den beiden einschlägigen Werken des persischen Rechtsgelehrten und Philologen Abdalqa¯hir alˇ urgˇa¯nı¯ (gest. 1078). Das eine mit dem Titel Die Beweise der Unnachahmbarkeit (Dala¯ il G al-i gˇa¯z) setzt sich mit dem Dogma der Unnachahmbarkeit des Korans auseinander. Von ˇ urgˇa¯nı¯s Analyse der gegensätzligrundlegender Wichtigkeit in dieser Abhandlung ist al-G chen Begriffe Sinngehalt, Gedanke (ma na¯ ) und sprachlicher Ausdruck, Wort (lafzø ) sowie ihrer wechselseitigen Beziehung. Dabei galt die Dichotomie zwischen dem Sinngehalt und dem sprachlichen Ausdruck nicht nur für den Koran, sondern insgesamt für die Sprache. Der Sinngehalt wurde allgemein als das ungeformte Material betrachtet, als der jedermann zugängliche Gedanke, der an sich noch nichts mit Kunst zu tun hatte. Der
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sprachliche Ausdruck dagegen stellte die erstrebte Form dar und war somit das Maßgebende und zu Bewertende. Um Eloquenz (bala¯g˙a) zu erreichen, war das eine allerdings nicht ohne das andere denkbar; das Wesensmerkmal der Eloquenz bestand gerade in der Kunst, einen Gedanken in adäquater Weise möglichst wirkungsvoll auszudrücken. Nun ergab sich namentlich im Fall des Korans, dass manche Wendung nicht im wörtlichen, sondern in einem übertragenen (tropischen, enthymematischen) Sinn zu verstehen war, dass sich also der Sinngehalt eines Begriffs nicht durch seine sprachliche Einkleidung ˇ urgˇa¯nı¯ dazu, einen unter ergab, sondern erst durch eine Interpretation. Dies führte al-G der Oberfläche liegenden und eigentlichen Sinngehalt als Sinngehalt des Sinngehalts (ma na¯ l-ma na¯) zu postulieren, während der bloße ma na¯ sich auf den oberflächlichen, wörtlichen Sinn beschränkt. Der Verständnisprozess bei einer sprachlichen Wendung mit ˇ urgˇa¯nı¯ somit in der Weise, dass man zunächst übertragenem Sinn vollzieht sich nach al-G den wörtlichen Sinn wahrnimmt und dann vermittels der Übertragung zum eigentlich Gemeinten vordringt (Reinert 1990, 385). Im Laufe seiner Entwicklung hat der arabische Begriff ma na¯ übrigens ähnliche Stationen durchlaufen wie sein mittellateinisches Gegenstück conceptus (daraus italienisch concetto). Zunächst bezeichnete ma na¯ als das Gemeinte nur das Thema, den Gegenstand der Rede, später die sprachliche Darstellung eines Themas unter Zuhilfenahme einer Redefigur, und schließlich einen geistreichen, durch die gedankliche Entwicklung eines Motivs bedingten Einfall (Reinert 1990, 366). ˇ urgˇa¯nı¯s, Die Geheimnisse der Wortkunst (Asra¯r al-bala¯g˙a), beDas andere Werk al-G ˇ urgˇa¯nı¯ klärte darin die bis anhin mehrdeutigen handelt vor allem die Bildersprache. Al-G Begriffe Vergleich (tasˇbı¯h), Gleichnis (tamt߯ıl) und Metapher (isti a¯ra). Bemerkenswert war ˇ urgˇa¯nı¯ untersuchte, auf welchen seelischen auch sein psychologischer Ansatz; al-G Voraussetzungen die Wirkung von Literatur beruht, bezog also ausdrücklich den Rezipienten in seine Analyse ein. Eine weitere Innovation war seine Erfassung und Beschreibung der von den Modernen häufig verwendeten phantastischen Vorspiegelung (tah˚ yı¯l). ˇ urgˇa¯nı¯, darin, „dass der Dichter etwas als vorhanden hinstellt, was Sie besteht, so al-G überhaupt nicht vorhanden ist, und eine Behauptung aufstellt, die sich schlechterdings nicht erweisen lässt, und etwas sagt, womit er sich selber täuscht, und sich selber vorˇ urgˇa¯nı¯ 1959, 295 f.). Eine andere, macht, dass er etwas sähe, was er gar nicht sieht“ (al-G ˇ urgˇa¯nı¯ als literariebenfalls in der ,modernen‘ Dichtung verwendete Redefigur, die al-G sches Phänomen erkannte und erforschte, war die phantastische Ätiologie (hø usn at-ta lı¯l), zu der er als Beispiel u. a. folgende Gedichtzeile zitiert: „Wäre nicht die Absicht des Orion, ihm zu dienen, so sähest du ihn nicht einen Gürtel (zum Dienste) um sich knüpˇ urgˇa¯nı¯ 1959, 299). Bezeichnend für diese Redefigur ist nach al-G ˇ urgˇa¯nı¯, dass fen“ (al-G die Existenz eines am Himmel für jedermann sichtbaren Phänomens (die Gürtelsterne des Orion) phantastisch begründet wird, durch eine Begründung, die der Dichter erfinˇ urgˇa¯nı¯ zitierten Beispiels hat sich der Orion einen Gürtel umgedet. Im Fall des von al-G legt einzig aus dem Grund, um dem Belobigten zu dienen (der Gürtel war ganz allgemein das Symbol des Dienens, was auch ohne weitere Erklärung verstanden wurde). Das Beispiel zeigt auch, dass die phantastische Ätiologie der Kausalhyperbel verwandt ist, zu der sie eine Art strukturelles Gegenstück bildet (Reinert 1990, 376 f.). Weder die phantastische Vorspiegelung noch die phantastische Ätiologie ist in der antiken und in der späteren europäischen Literaturtheorie als Phänomen wahrgenommen und als rhetorische Figur klassifiziert worden. Dasselbe scheint für die indische Literaturtheorie zu gelten. ˇ urgˇa¯nı¯s Werke zur Literaturtheorie waren zwar innovativ und spiegeln das BeAl-G mühen ihres Verfassers wider, literaturtheoretische Probleme immer wieder von neuem
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anzugehen und von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Dieses Ringen mit einem bis auf ˇ urgˇa¯nı¯ noch wenig inhaltlich durchdachten Stoff ging auf Kosten der Systematik; alal-G ˇ urgˇa¯nı¯s Werke waren zum Gebrauch als Handbuch ungeeignet. Diesem Mangel halfen G ˇ urgˇa¯nı¯s geniale Fah˚ raddı¯n ar-Ra¯zı¯ (gest. 1210) und as-Sakka¯kı¯ (gest. 1229) ab, die al-G Beobachtungen in ein kohärentes System brachten. Große Wirkung auf die Folgezeit hatte insbesondere as-Sakka¯kı¯s Schlüssel der Wissenschaften (Mifta¯hø al- ulu¯m). Im dritten ˇ urgˇa¯nı¯s behanTeil dieses Handbuchs werden die Hauptthemen der beiden Werke al-G delt. Das zentrale Thema der Beweise der Unnachahmbarkeit stellte die Lehre von den Bedeutungen (ma a¯nı¯ ) dar, in der es hauptsächlich um stilistische Fragen, insbesondere Satzverknüpfung, Wortstellung und Ellipsen ging. Dies scheint auf den ersten Blick paradox, aber der Hauptzweck der Lehre von den Bedeutungen bestand eben darin, einen Gedanken mit treffenden Worten zur Geltung zu bringen ⫺ mit den ma a¯nı¯ untrennbar ˇ urgˇa¯nı¯ in den Geheimnissen der Wortkunst verbunden war der lafzø . Das zweite, von al-G behandelte Thema war die Bildersprache, die as-Sakka¯kı¯ unter den Oberbegriff baya¯n [wörtl.: ,Klarheit‘] fasste. Ein späterer Kompilator, al-H ˚ atø¯ıb al-Qazwı¯nı¯ (gest. 1338), bearbeitete diesen dritten Teil von as-Sakka¯kı¯s Handbuch unter dem Titel Zusammenfassung des ,Schlüssels‘ (Talh˚ ¯ıøs al-Mifta¯hø ) und fügte der Stilistik und der Bildersprache die rhetorischen Figuren (badı¯ ) hinzu. Das Ganze nannte er Wissenschaft der Eloquenz ( ilm al-bala¯g˙a). Diese Dreiteilung wurde in der Folge normativ für eine Vielzahl weiterer Bearbeitungen und Darstellungen der bala¯g˙a. In den älteren literaturtheoretischen Darstellungen waren die tropischen Figuren (Vergleiche und Metaphern), d. h. jene Figuren, die der Bildersprache galten, und die as-Sakka¯kı¯ als baya¯n [Klarheit] bezeichnete, noch zu den rhetorischen Figuren im engeren Sinn gezählt worden. Seit al-Qazwı¯nı¯ bildeten die Tropen unter der Bezeichnung Wissenschaft von der Klarheit ( ilm al-baya¯n) einen eigenen Zweig der Wissenschaft von der Redekunst. Die verschiedenen Impulse bei der Ausbildung einer Literaturtheorie wirkten sich auch auf die rhetorischen Figuren aus: Die Dichter und Literaturtheoretiker griffen auf einen bestimmten Satz von Figuren zurück und entwickelten für sie eine eigene Terminologie. Dasselbe taten, auf ihre Weise, die Schreiber und Epistolographen, und, wieder anders, die Korangelehrten. Daraus erklärt sich, dass später, als alle diese Traditionen in eine umfassende Literaturtheorie flossen, manche Fachausdrücke mehrere Bedeutungen haben konnten, oder dass ein und dieselbe rhetorische Figur unter verschiedenen Namen bekannt war (Heinrichs 1998a, 657). Als die Wissenschaft der Redekunst systematisiert ˇ urgˇa¯nı¯s also ⫺ teilte man die rhetorischen Figuren im wurde ⫺ nach der Epoche al-G engeren Sinn in zwei Gruppen ein; maßgebend war, ob sie bedeutungsbezogen (ma nawı¯ ) oder auf den sprachlichen Ausdruck bezogen (lafzø¯ı ) waren. Unter den bedeutungsbezogenen Figuren wurden zum Beispiel die phantastische Ätiologie (hø usn at-ta lı¯l), die Hyperbel (muba¯lag˙a), die ,harmonische Bildwahl‘ (mura¯ a¯t an-nazø¯ır, wörtlich: Berücksichtigung des Ähnlichen), die Antithese (mutøa¯baqa) und die Doppeldeutigkeit (tawriya) klassifiziert, als auf den sprachlichen Ausdruck bezogene Figuren galten dagegen etwa die Paronomasie (tagˇnı¯s, auch gˇina¯s), das Isokolon (muwa¯zana) und das Palindrom (qalb). Eine ausführliche Liste der rhetorischen Figuren und Tropen mit Beispielen findet sich bei Heinrichs (1998a, 656⫺662). Besonders klar tritt die terminologische Mehrdeutigkeit, die auf der unterschiedlichen Herkunft der literaturtheoretischen Impulse beruht, bei der Lehre von den Tropen in Erscheinung, wobei einige Begriffe im Laufe ihrer Entwicklung auch Bedeutungsverschiebungen unterlagen. Bei den Vergleichen unterschied man zwischen der Analogie
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(tamt߯ıl), einem Vergleich zwischen zwei Sätzen, und dem eigentlichen Vergleich (tasˇbı¯h) zwischen zwei Begriffen. Schon aus der altarabischen Dichtung bekannt war die Genitivmetapher, bei der zwischen der identifizierenden und der attributiven unterschieden wurde. Vor allem die attributive Genitivmetapher ⫺ bekannte und immer wieder zitierte Beispiele für sie waren die Hand des Nordwinds oder die Klauen des Todes ⫺ zog schon früh literaturtheoretisches Interesse auf sich. Für diese Art der Metapher wurde urˇ urgˇa¯nı¯ unterschied Mesprünglich der Begriff isti a¯ra [wörtl.: Entlehnung] geprägt. Al-G taphern, die auf Vergleich und solche, die auf Analogie zurückgehen, bezeichnete aber beide als isti a¯ra. Metaphern, die von wohlbekannten einfachen Vergleichen abgeleitet waren (z. B. Narzisse für Auge) wurden lange dem Vergleich (tasˇbı¯h) zugerechnet, auch wenn das Vergleichssubjekt nicht genannt war ⫺ was in der europäischen Tropenlehre bekanntlich den entscheidenden Unterschied zwischen Metapher und Vergleich darstellt. Später wurde der Begriff isti a¯ra auch auf sie ausgedehnt. Die sprachliche Übertragung, der Tropus, wurde ganz allgemein magˇa¯z [Übergang] genannt, wobei dieser Begriff auch andere sprachliche Phänomene wie Ellipsen und Pleonasmen bezeichnete. Er wurde späˇ urgˇa¯nı¯ aufgenommen, der zwei Arten des magˇa¯z unterschied. Als Merkmal ter von al-G der einen Art definierte er die Ähnlichkeit ⫺ sie entsprach also der Metapher ⫺ als Merkmal der anderen die Nachbarschaft bzw. sachliche Zusammengehörigkeit von Begriffen ⫺ sie entsprach somit der Metonymie. In der frühen Phase der arabischen Literaturtheorie hatte das Hauptgewicht auf der Dichtung gelegen. Bald kam jedoch der Koran als Gegenstand sprachlich-stilistischer Analyse hinzu, und mit der Zeit wurden auch bestimmte Arten der Prosa in die Literaturtheorie einbezogen. Der Anstoß dazu kam von der Gesellschaftsschicht der in der staatlichen Verwaltung tätigen Sekretäre (kutta¯b). Sie schufen eine neue literarische Gattung, die Epistolographie, für die sie eine eigene Begrifflichkeit entwickelten. Genannt wurde diese neue Gattung insˇa¯ [Herstellung, Stil], ihr Ziel war die elegante Abfassung von amtlichen Schriftstücken sowie die Schaffung von Mustern von Dokumenten und Briefen für Beamte und Sekretäre (Stock 2005, 3). In den Kreisen der Sekretäre wurden Stilmodelle festgelegt, die sich an den Reden und Predigten berühmter Persönlichkeiten der frühen islamischen Geschichte orientierten. Durch die Sekretäre angeregt, kam es mit der Zeit zu einer Gleichsetzung von Dichtung und Prosa als Gegenstand der Literaturtheorie, indem beiden Disziplinen gleichermaßen Anteil an der Eloquenz (bala¯g˙a) zugesprochen wurde. In diesem Rahmen wurde es, namentlich in den Kreisen der Sekretäre, zu einer beliebten Übung, Verse in Prosa und umgekehrt zu übertragen. Die materielle Gleichwertigkeit von Poesie und Prosa reflektiert das theoretische Grundlagenwerk ø asan b. Sahl al-Askarı¯ (gest. 1005) mit dem geradezu programmativon Abu¯ Hila¯l al-H schen Titel Buch der beiden Künste: Prosa und Dichtung (Kita¯b asø -sø ina¯ atayn: al-kita¯ba wa-sˇ-sˇi r), in dem Dichtung (sˇi r) und Prosa (natßr) einander zur Seite gestellt und in ihrem gegenseitigen Verhältnis bewertet werden. Eine weitere für die Entwicklung stilistischer Normen relevante Literaturgattung, die ebenfalls in den Kreisen der Sekretäre entstand, war der Adab. Dieser arabische Begriff bezeichnete sowohl gutes Benehmen als auch feine Bildung, schließlich, vom 8. Jh. an, im übertragenen Sinn, (schöne) Literatur. Zum größeren Teil ist die Adab-Literatur denn auch belletristisch: Sie soll einer gebildeten Leserschaft Kenntnisse sprachlich-philologischer Art, Rhetorik, Poesie, Anekdoten, geschichtliche Überlieferungen, Musik und vieles andere mehr vermitteln, aber auch Verhaltensnormen ethischer Natur, oft in der Form von Sprichwörtern, Maximen und Mahnworten. Schließlich vermittelte der Adab, und
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hierin kam der Begriff der ursprünglichen Bedeutung des Wortes adab wieder nahe, Umgangsformen und gutes Auftreten bis hin zur eleganten Kleidung und feinen Küche, und dies auf eine amüsante und unterhaltende, nie langweilige Art. In dieser Art der Literatur, die Nützlichkeit mit Unterhaltung verband, hat sich in arabischem Kontext wohl am ehesten die Prodesse-delectare-Doktrin verwirklicht, die in der europäischen Literaturtheorie, bezogen auf die Dichtung, eine so wichtige Rolle spielen sollte (Till 2005, 130), während in der arabischen Literaturtheorie, was die Dichtung betraf, die Debatte eher über die Kriterien Wahrheit und Lüge geführt wurde. Neben der belletristischen gab es auch eine mehr didaktisch geprägte Form der Adab-Literatur, die vor allem Lebensregeln vermittelte und das moralisch richtige Verhalten lehrte. Dies konnten auch Ratschläge an den Herrschenden sein. In dieser Form näherte sich der Adab der Weisheitsliteratur und ist dem Fürstenspiegel verwandt, jener literarischen Gattung, in deren Zentrum die Beratung und (geschickt vermittelte) Belehrung des Herrschers stand.
2. Rhetorik und Stilistik der griechisch-antiken Tradition Neben der autochthonen arabischen Rhetorik und Stilistik, die untrennbar mit der Literaturtheorie verbunden war, wurden in der arabischen Welt im Rahmen der Rezeption der aristotelischen Rhetorik und Poetik auch Elemente der griechisch-antiken Rhetorik und Stilistik rezipiert. Dabei ist festzuhalten, dass die Rezeption auf die literaturtheoretischen Schriften des Aristoteles beschränkt blieb ⫺ weder die rhetorische Ethik des Isokrates noch Platons Rhetorik-Kritik, noch die einschlägigen Abhandlungen Ciceros und Quintilians sind im Rahmen jener von den abbasidischen Kalifen und Notablen geförderten Übersetzungstätigkeit, die das antike Erbe an die islamische Welt vermittelte, ins Arabische übertragen worden. Mit der aristotelischen Rhetorik und Poetik haben sich fast ausschließlich die Philosophen befasst; die beiden Disziplinen wurden, wie die griechischen Wissenschaften überhaupt, im Rahmen der islamischen Kultur als ,fremde‘ Wissenschaften wahrgenommen und fanden keinen Platz innerhalb der islamischen Lehrüberlieferung. Die autochthone arabische Literaturtheorie blieb von dieser explizit philosophischen Tradition nahezu unberührt. Bereits Aristoteles hatte die Rhetorik formal in enge Verwandtschaft zur Dialektik (also zur Disputations- bzw. Argumentationskunst) und damit zur Logik gestellt. Im ersten Satz seiner Rhetorica bezeichnet Aristoteles die Rhetorik als Gegenstück (antı´strophos) zur Dialektik. Als Kernstück der rhetorischen Argumentation und Grundlage der Glaubhaftmachung (soma tes pı´steos) definierte Aristoteles das Enthymem, ein (syllogistisches) Schlussverfahren, das auf der Wahrscheinlichkeit und/oder auf Zeichen beruht. Die zentrale Stellung des Enthymems als rhetorischen Syllogismus ⫺ eine Bezeichnung, die Aristoteles selbst verwendete ⫺ rückte die Rhetorik in unmittelbare Nähe zum Organon, und in der Spätantike wurde die Zuordnung der Rhetorik zum Organon auch formal vollzogen. Bereits bei Ammonios (5. Jh. n. Chr.) figuriert die Rhetorik als asyllogistischer Teil der Logik. Andere Logiker der spätalexandrinischen Zeit gingen noch einen Schritt weiter und ordneten der Rhetorik einen eigenen Syllogismus zu, der sich in der Modalität seiner Prämissen von den Syllogismen der anderen logischen Disziplinen unterschied. Dass die Rhetorik durch ihre nahe Verwandtschaft zur Dialektik dem Organon zugeschlagen wurde, war unmittelbar einsichtig. Weniger klar war der Fall der Poetik,
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die mit einer syllogistischen Disziplin wenig gemein hatte. Da sie aber der Rhetorik so nahe verwandt war, dürfte sie ihr durch eine Art von ,Systemzwang‘ angegliedert worden sein. Konsequenterweise versah man sie, ebenfalls in spätalexandrinischer Zeit, mit einem eigenen Syllogismus, dessen Prämissen in ihrer Modalität spezifisch auf die Poetik passten, und erhöhte so die Zahl der syllogistischen Disziplinen auf fünf (Black 1990, 38⫺49). Rhetorik und Poetik als Teil der Logik ⫺ dies war ein Erbe Alexandrias, das an die arabische Welt vermittelt wurde. Auch in den arabischen Bearbeitungen der aristotelischen Rhetorik und Poetik ist die Syllogistik zentral. Rhetorische und poetische Schlussverfahren werden ausführlich behandelt. Die Unterschiede liegen, wie bei den alexandrinischen Vorgängern, in der Modalität der Prämissen: Die rhetorischen Prämissen wurden definiert als Überzeugung bewirkend (muqni ), die poetischen als vorstellungsevozierend (muh˚ ayyil). Dass auch der poetische Syllogismus in exakt ausgearbeiteter Form bereits bei al-Fa¯ra¯bı¯ (gest. 950) auftritt, und zwar in einer kleinen Schrift Über das ausgeglichene Verhältnis und die (literarische) Komposition (Fı¯ t-tana¯sub wa-t-ta lı¯f ), konnte kürzlich von der Forschung gezeigt werden (Aouad/Schoeler 2002, 189 ff.). Die zentrale Bedeutung der syllogistischen Schlussverfahren in den arabischen Bearbeitungen der Rhetorik und Poetik ist wohl auf die Überlieferungsgeschichte zurückzuführen. Gegenüber der reich differenzierten Syllogistik treten andere wichtige Themen der aristotelischen Grundtexte in der arabischen Überlieferung in den Hintergrund. Im Fall der Rhetorik bedeutete dies etwa, dass die in der Analyse von Affekten und Charakteren bestehende Psychologie der Rede, die bei Aristoteles für die Argumentation ebenso wichtig ist wie der logische Aufbau (Göttert/ Jungen 2004, 58), in den arabischen Bearbeitungen zwar berücksichtigt wurde, den logischen Aspekten der Rhetorik aber nicht gleichwertig war. Dies heißt nicht, dass die arabischen Bearbeiter der Rhetorik nicht über das psychologische Moment beim Überzeugungsvorgang nachgedacht hätten; insbesondere al-Fa¯ra¯bı¯ entwickelte eine Theorie, nach der die Anerkanntheit eines Satzes auf den ersten Blick ( f ¯ı ba¯di ar-ra y) über das Gelingen des Überzeugens entschied, doch war auch dieses Konzept an die Syllogistik gebunden. Entscheidend für die Rezeption der aristotelischen Rhetorik und Poetik (wie überhaupt des griechisch-antiken Erbes) in der islamischen Welt war die Tätigkeit der Übersetzer, die meist aus den hellenisierten syrisch-christlichen Gemeinschaften im Irak stammten. Oft wurden die griechischen Texte zuerst ins Syrische übersetzt, so auch vermutlich im 7. Jh. n. Chr. die aristotelische Rhetorik. Diese syrische Übersetzung ist verloren, die nach ihr angefertigte arabische Übersetzung jedoch ist in einer Handschrift (Paris, BN, Ms. arabe 2346) erhalten und liegt in der kritischen Edition von Malcolm C. Lyons vor. Im Verzeichnis des Bagdader Buchhändlers Ibn an-Nadı¯m, das im 10. Jh. n. Chr. entstand, wird diese Rhetorik-Übersetzung als alte Übersetzung (naql qadı¯m) bezeichnet. Ihr Verfasser ist unbekannt, aber sie stellt ohne Frage jenen Text dar, auf den sich später sowohl Ibn Sı¯na¯ ,Avicenna‘ (gest. 1037) als auch Ibn Rusˇd ,Averroes‘ (gest. 1198) für ihre Bearbeitungen der aristotelischen Rhetorik gestützt haben. Auch Ibn Sı¯na¯s ˚ atøa¯ba) diese Vorgänger al-Fa¯ra¯bı¯ hat als Vorlage für sein Buch der Redekunst (Kita¯b al-H Übersetzung benutzt, obwohl sein Werk vom griechischen Urtext noch weiter entfernt ist. Von den sonstigen, von den arabischen Bibliographen erwähnten Abhandlungen alFa¯ra¯bı¯s zur Rhetorik ⫺ er soll u. a. ein zwanzigteiliges Werk zu diesem Thema verfasst haben ⫺ ist nur die Einleitung zum Großen Kommentar in der lateinischen Übersetzung von Hermannus Alemannus (gest. 1272) unter dem Titel Didascalia in rhetoricam Aristo-
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telis erhalten (Aouad/Rashed 1999, 92). Neben al-Fa¯ra¯bı¯, Ibn Sı¯na¯ und Ibn Rusˇd scheinen sich nach biobibliographischen Zeugnissen auch andere arabische Gelehrte, die sämtlich aus Philosophenkreisen stammten, mit der aristotelischen Rhetorik befasst zu haben. Zwar haben sich von ihnen keine der Rhetorik geltenden Abhandlungen erhalten, doch ist nicht auszuschließen, dass eines Tages noch Handschriften dieser verlorenen Kommentare auftauchen. So sollen al-Kindı¯, Muhø ammad b. Mu¯sa¯, Ibn Badr, Ibn alHaytßam, Ibn atø-Tøayyib und Abdallatø¯ıf al-Bag˙da¯dı¯, z. T. im Rahmen ihrer Schriften zur Logik, auch die Rhetorik kommentiert haben (Aouad 1989, 60⫺462). Ibn Sı¯na¯ hat sich in zwei Schriften mit der aristotelischen Rhetorik befasst, einerseits in einem Kapitel seiner frühen Abhandlung Philosophie für al-Aru¯dø ¯ı (al-H ø ikma al- aru¯ dø iyya), die auch unter dem Titel Kompendium (Kita¯b al-Magˇmu¯ ) bekannt ist. Das Kapitel über die Redekunst behandelt nicht die gesamte aristotelische Rhetorik (für Einzelheiten vgl. Würsch 1991, 11), wohl aber Avicennas spätere Paraphrase, die unter dem Titel ˚ atøa¯ba) den achten Teil der Abteilung Logik seiner EnzykBuch der Redekunst (Kita¯b al-H lopädie Buch der Heilung (Kita¯b asˇ-Sˇifa¯ ) bildet. Wie im Rahmen der Überlieferung vorgegeben, stellte Ibn Sı¯na¯ die Syllogistik in den Vordergrund. Fortschritte erzielte er vor allem in der Enthymemlehre, die er differenzierte und systematisierte (vgl. Würsch 2005, 160⫺162). Ebenfalls zwei Abhandlungen zur aristotelischen Rhetorik schrieb Ibn Rusˇd: einen stark von al-Fa¯ra¯bı¯ abhängigen Kurzen Kommentar (Epitome) und einen später verfassten Mittleren Kommentar (Talh˚ ¯ıøs), der ganz im Zeichen einer bei Ibn Rusˇd auch sonst zu beobachtenden Rückwendung zu Aristoteles steht. Der Mittlere Kommentar wurde im Jahr 1337 von Todros Todrosi ins Hebräische übersetzt, und diese Übersetzung diente dann Abraham von Balmes (gest. 1523) als Grundlage für seine mehrfach nachgedruckte lateinische Übersetzung (Aouad 1989, 471). Die Bezeichnung für die aus griechisch-antiker, im engeren Sinn aristotelischer Quelle rezipierte Rhetorik wurde im Arabischen zunächst wohl nach syrischem Vorbild als Rı¯tøu¯rı¯qa¯ transkribiert. Später wählte man ein genuin arabisches Wort, um den Begriff zu umschreiben: h˚ atøa¯ba (oder h˚ itøa¯ba), abgeleitet von einem Verbum mit der Grundbedeutung eine Ansprache halten, predigen. Das übliche Wort für Redekunst oder Eloquenz wäre eigentlich bala¯g˙a gewesen, doch bezeichnete dieser Begriff bereits die Redekunst der autochthonen arabischen Literaturtheorie. Zwar wurde nun h˚ atøa¯ba zum Fachbegriff für die aus dem Erbe der Antike stammende ,fremde‘ Rhetorik griechischer Herkunft, ˚ Tø B auch auf eine spezifisch islamidoch verweisen die arabischen Wurzelbuchstaben H sche Tradition: auf die öffentliche Freitagspredigt (h˚ utøba) in der Moschee, bei der es sich ebenfalls oft um praktisch geübte Redekunst handelte, die auf entsprechende Wirkung beim Publikum abzielte. Der Begriff h˚ atøa¯ba kann daher nicht als von seinen islamischen Konnotationen vollkommen unabhängig betrachtet werden, und umgekehrt entstand auch die als arabisch autochthon geltende bala¯g˙a nicht in einem Umfeld, das vollkommen frei von griechischen Einflüssen gewesen wäre (dazu vgl. Hallde´n 2005, 33 f.). Die philosophische Rhetorik und Poetik blieb sozusagen ohne Wirkung auf die autochthone arabische Literaturtheorie. Dafür gibt es mehrere Gründe. Von Bedeutung war bestimmt die Tatsache, dass die griechisch-antiken Wissenschaften von den arabischislamischen grundsätzlich strikt getrennt waren. Die Eigentümlichkeiten der aus alexandrinischer Schultradition ererbten Überlieferung von Rhetorik und Poetik im Rahmen der Logik waren zudem kaum geeignet für die literaturtheoretische Betrachtung der arabischen Dichtung (und Kunstprosa). Besonders ins Gewicht fiel auch, dass die Kenntnis vieler griechischer Realien, wie sie die aristotelische Rhetorik und Poetik als selbstver-
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ständlich voraussetzen, der arabischen Gesellschaft der abbasidischen Zeit verschlossen war. Schier unlösbare Probleme bereiteten den Übersetzern etwa die von Aristoteles oft eingestreuten aus ihrem Zusammenhang gerissenen Zitate aus der griechischen Literatur. Es kam zu Fehldeutungen, mitunter grotesker Art, nicht nur durch die Übersetzer selbst, sondern auch durch die kommentierenden Philosophen. Die Relevanz eines Textes, dessen klarer Sinn sich an manchen Stellen nicht entschlüsseln ließ, war der autochthonen arabischen Literaturtheorie kaum zu vermitteln. Eine letzte Schwierigkeit ergab sich, vor allem, was die Stilistik betraf, aus der vom Griechischen stark abweichenden Sprachstruktur des Arabischen. Dies gilt insbesondere für das dritte Buch der aristotelischen Rhetorik, eine ursprünglich vermutlich selbständige Abhandlung mit dem Titel Perı` le´xeos [Über den Stil], die erst im 1. Jh. v. Chr. von Andronikos von Rhodos, dem Herausgeber der aristotelischen Schriften, mit der Rhetorica vereinigt worden war (Göttert/ Jungen 2004, 60). Weil Wortstellung und Satzstruktur im Arabischen vollkommen anders sind als im Griechischen, ließ sich manches, was dort über die Syntax gesagt wird, von vornherein nicht auf arabische Verhältnisse übertragen. Erst spät und nur im Westen der islamischen Welt ist der Versuch unternommen worden, die rhetorischen und poetischen Schriften der Philosophen für die Formulierung einer Poetiktheorie, die ebenso auf der autochthonen Tradition fußte, nutzbar zu machen. Der bedeutendste Vertreter dieser Richtung, H ø a¯zim al-Qartøa¯gˇannı¯ (gest. 684/1285), setzte sich eine Synthese zwischen autochthoner arabischer und aristotelisch geprägter Literaturtheorie zum Ziel, doch blieb die Nachwirkung seiner Bestrebungen gering.
3. Rhetorik und Stilistik seit der Wiedergeburt der arabischen Sprache und Literatur (nahdø a) um die Mitte des 19. Jhs. Die Handbücher von as-Sakka¯kı¯ und al-H ˚ atø¯ıb al-Qazwı¯nı¯ blieben bis weit in die Neuzeit hinein normativ für die Definition der arabischen Rhetorik und Stilistik. Zu einem Umbruch kam es erst durch den politischen und kulturellen Einfluss des Westens, der sich im 19. Jh. mehr und mehr geltend machte. Während dessen Folgen auf der politischen Ebene für die arabische Welt weitgehend negativ waren, leitete er als kulturelle Herausforderung ein Wiedererwachen bzw. eine Wiedergeburt der arabischen Sprache und Literatur ein. Diese Wiedergeburt ⫺ der arabische Begriff nahdø a wird oft, nicht zutreffend, als „Renaissance“ übersetzt (Tomiche 1993, 900) ⫺ bewirkte einen tiefgreifenden Strukturwandel des Arabischen hin zur modernen Standardsprache, was auch zur Entwicklung neuer Stilnormen führte. Drei Faktoren waren für das Entstehen dieser nationalen Wiedergeburt maßgebend: die Druckereien, das Presse- und das Erziehungswesen (Landau 1987, 243). Die arabische Buchkultur war bis ins 19. Jh. hinein eine durch Handschriften dokumentierte Tradition gewesen. Erst danach setzte sich der Buchdruck allmählich durch. Ein Eckdatum dieser Entwicklung bedeutete 1822 die Gründung der Bu¯la¯q-Druckerei in Kairo. Bei der Modernisierung des Arabischen im Rahmen der nahdø a kam dem libanesischen Literaten Ahø mad Fa¯ris asˇ-Sˇidya¯q (gest. 1887) eine führende Rolle zu. Fa¯ris asˇ-Sˇidya¯q, der seit 1860 in Istanbul die Zeitschrift al-Gˇawa¯ ib [Neuigkeiten] herausgab, setzte sich für eine einfachere, die Gedanken direkt und ohne viel rhetorischen Schmuck vermittelnde arabische Prosa ein; auch prägte er zahlreiche neue Wörter für Begriffe der modernen Welt,
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die in der klassischen arabischen Sprache keine Entsprechung hatten (Roper 1995, 217 ff.). Der Prozess des stilistischen Wandels im Arabischen, der zur Herausbildung der modernen Standardsprache führte, setzte mit der nahdø a ein und dauert bis heute an. Er ist durch mehrere Merkmale gekennzeichnet: Die Bildung von Neologismen, insbesondere für Begriffe aus Naturwissenschaft und Technik, schreitet weiter voran. Genuin arabische Wörter, die dem angestammten Wortschatz angehören, werden in neuer Bedeutung verwendet, zahlreiche Wörter werden aus westlichen Sprachen entlehnt, hauptsächlich aus dem Englischen und Französischen. Der Einfluss der westlichen Sprachen erstreckt sich über die Lexik hinaus auch auf die Grammatik, insbesondere auf die Syntax; Satzkonstruktionen nach westlichem Muster dringen ins Arabische ein und beeinflussen dessen syntaktische Struktur. Ein besonders wichtiges stilistisches Merkmal des modernen Standardarabischen ist die starke Einschränkung des Gebrauchs von Reimprosa und der Parallelisierung von Sätzen bzw. Satzgliedern (bei der oft Synonyme eingesetzt werden) ⫺ in der fusø hø a¯ [Hochsprache] der vormodernen Zeit hatte beides als Inbegriff des gehobenen Stils gegolten. Zu spezifisch rhetorischen Zwecken (etwa in Ansprachen) und dort, wo es besonders auf die rhythmische Gliederung von Texten ankommt (Briefeinleitungen, stehende Wendungen, Losungen, Buchtitel, zuweilen auch Presseüberschriften) werden diese beiden Stilelemente jedoch bis heute verwendet (Stock 1997, 287 f.). Das Phänomen der Diglossie ist auch für das Arabische der Gegenwart von Bedeutung. Dialektale Elemente dringen in die Schriftsprache ein, zugleich herrscht aber auch die Tendenz, die Schriftsprache durch Vermeidung von Eigenheiten, die spezifisch für die Dialekte sind, von diesen abzugrenzen (Somekh 1991, 11⫺19). Auf der literarischen Ebene kam es durch den westlichen kulturellen Einfluss zur Einführung neuer Gattungen in die arabische Literatur, die auch für stilistische Belange nicht folgenlos blieb. Ohne Vorbild in der klassischen arabischen Literatur war das Drama, das um die Mitte des 19. Jhs. in der arabischen Kultur Fuß fasste, während der Roman und die Kurzgeschichte, die ebenfalls aus Europa übernommen wurden, gattungstheoretisch und stilistisch vergleichbare arabische Vorläufer hatten. In diesen neuen literarischen Gattungen zeigt sich besonders, dass die arabische Diglossie seit der nahdø a eine neue Gewichtung erfahren hat: Während in der vormodernen Zeit ausschließlich die Hochsprache als Vorbedingung für die Produktion ernstzunehmender Literatur gegolten hatte, begann nun die Umgangssprache als literarisches Ausdrucksmittel an Bedeutung zu gewinnen. Einige der Theaterstücke des bedeutenden ägyptischen Autors Mahø mu¯d Taymu¯r (gest. 1973) erschienen in zwei verschiedenen Fassungen, in Hochsprache und Dialekt (Landau 1987, 246). In standardsprachlichen literarischen Texten wurde und wird die Umgangssprache oft als Stilelement eingesetzt, um das gesellschaftliche Milieu oder soziale Unterschiede, die für die Handlung relevant sind, zu kennzeichnen. Die arabische Diglossie als Kontinuum beherrscht auch die Welt der modernen Medien, insbesondere Rundfunk und Fernsehen. Lesungen klassisch-arabischer Gedichte und Koranrezitationen bilden das eine, die Umgangssprache der Strasse, des Marktes oder ländlicher Gebiete in Unterhaltungssendungen und TV-Serien das andere Ende des sprachlich-stilistischen Spektrums (Mejdell 2006, 33).
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123. Rhetorik und Stilistik in Lateinamerika
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Roper, Geoffrey (1995): Fa¯ris al-Shidya¯q and the transition from scribal to print culture in the Middle East. In: George N. Atiyeh (Hrsg.): The Book in the Islamic World. The Written Word and Communication in the Middle East. Albany, 209⫺231. Schoeler, Gregor (1975): Einige Grundprobleme der autochthonen und der aristotelischen arabiø a¯zim al-Qartøa¯gˇannı¯’s Kapitel über die Zielsetzungen der Dichtung und schen Literaturtheorie. H die Vorgeschichte der in ihm dargelegten Gedanken. Wiesbaden. Schoeler, Gregor (1976): Berichtigungen und Nachträge [zu Schoeler (1975)]. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 126, 78⫺81. Somekh, Sasson (1991): Genre and Language in Modern Arabic Literature. Wiesbaden. Stock, Kristina (2005): Arabische Stilistik. Wiesbaden. Stock, Kristina (1997): Warum so viele Worte? Ein Annäherungsversuch an arabische Stilnormen. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 147, 266⫺302. Till, Dietmar (2005): Prodesse-delectare-Doktrin. In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 7. Tübingen, 130⫺140. Tomiche, Nada (1993): Nahdø a. In: The Encyclopaedia of Islam. Bd. 7. 2. Aufl. Leiden, 900⫺903. Vagelpohl, Uwe (2008): Aristotle’s Rhetoric in the East. The Syriac and Arabic translation and commentary tradition. Leiden/Boston. Würsch, Renate (1991): Avicennas Bearbeitungen der aristotelischen Rhetorik. Ein Beitrag zum Fortleben antiken Bildungsgutes in der islamischen Welt. Berlin. Würsch, Renate (2005): Die arabische Tradition der aristotelischen Rhetorik. In: Joachim Knape/ Thomas Schirren (Hrsg.): Aristotelische Rhetorik-Tradition. Akten der 5. Tagung der Karl und Gertrud Abel-Stiftung vom 5.⫺6. Oktober 2001 in Tübingen. Stuttgart, 153⫺163.
Renate Würsch, Basel (Schweiz)
123. Rhetorik und Stilistik in Lateinamerika 1. Einleitung und Forschungsstand 2. Die Rhetorik der Kolonisierung 3. Bekehrungsberedsamkeit und indianische Rhetorik 4. Kolonialbarock als Rhetorik und Stil 5. Rhetorik und Stilistik des unabhängigen Lateinamerika 6. Freiheit, Ordnung, Fortschritt ⫺ Die Dichotomie Barbarei ⫺ Zivilisation 7. Indigene, indigenistische und mestizaje-Rhetorik 8. Oralität und Schriftlichkeit der Rhetorik im 19. und 20. Jahrhundert 9. Die Rhetorik der mexikanischen Revolution 10. Die Rhetorik des Populismus 11. Die Rhetorik der Militärregimes ⫺ das Beispiel Argentinien 12. Einhundert Jahre Modernisierungsrhetorik 13. Die Modernisierung von Stil und Rhetorik in der Literatur des 20. Jahrhunderts 14. Globalisierungsrhetorik der Jahrtausendwende 15. Literatur (in Auswahl)
Abstract Rhetoric and stylistics in Latin America have a diverse history, mainly due to the colonization and Christianization of the area. The conversion of the native people there has been
123. Rhetorik und Stilistik in Lateinamerika
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Roper, Geoffrey (1995): Fa¯ris al-Shidya¯q and the transition from scribal to print culture in the Middle East. In: George N. Atiyeh (Hrsg.): The Book in the Islamic World. The Written Word and Communication in the Middle East. Albany, 209⫺231. Schoeler, Gregor (1975): Einige Grundprobleme der autochthonen und der aristotelischen arabiø a¯zim al-Qartøa¯gˇannı¯’s Kapitel über die Zielsetzungen der Dichtung und schen Literaturtheorie. H die Vorgeschichte der in ihm dargelegten Gedanken. Wiesbaden. Schoeler, Gregor (1976): Berichtigungen und Nachträge [zu Schoeler (1975)]. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 126, 78⫺81. Somekh, Sasson (1991): Genre and Language in Modern Arabic Literature. Wiesbaden. Stock, Kristina (2005): Arabische Stilistik. Wiesbaden. Stock, Kristina (1997): Warum so viele Worte? Ein Annäherungsversuch an arabische Stilnormen. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 147, 266⫺302. Till, Dietmar (2005): Prodesse-delectare-Doktrin. In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 7. Tübingen, 130⫺140. Tomiche, Nada (1993): Nahdø a. In: The Encyclopaedia of Islam. Bd. 7. 2. Aufl. Leiden, 900⫺903. Vagelpohl, Uwe (2008): Aristotle’s Rhetoric in the East. The Syriac and Arabic translation and commentary tradition. Leiden/Boston. Würsch, Renate (1991): Avicennas Bearbeitungen der aristotelischen Rhetorik. Ein Beitrag zum Fortleben antiken Bildungsgutes in der islamischen Welt. Berlin. Würsch, Renate (2005): Die arabische Tradition der aristotelischen Rhetorik. In: Joachim Knape/ Thomas Schirren (Hrsg.): Aristotelische Rhetorik-Tradition. Akten der 5. Tagung der Karl und Gertrud Abel-Stiftung vom 5.⫺6. Oktober 2001 in Tübingen. Stuttgart, 153⫺163.
Renate Würsch, Basel (Schweiz)
123. Rhetorik und Stilistik in Lateinamerika 1. Einleitung und Forschungsstand 2. Die Rhetorik der Kolonisierung 3. Bekehrungsberedsamkeit und indianische Rhetorik 4. Kolonialbarock als Rhetorik und Stil 5. Rhetorik und Stilistik des unabhängigen Lateinamerika 6. Freiheit, Ordnung, Fortschritt ⫺ Die Dichotomie Barbarei ⫺ Zivilisation 7. Indigene, indigenistische und mestizaje-Rhetorik 8. Oralität und Schriftlichkeit der Rhetorik im 19. und 20. Jahrhundert 9. Die Rhetorik der mexikanischen Revolution 10. Die Rhetorik des Populismus 11. Die Rhetorik der Militärregimes ⫺ das Beispiel Argentinien 12. Einhundert Jahre Modernisierungsrhetorik 13. Die Modernisierung von Stil und Rhetorik in der Literatur des 20. Jahrhunderts 14. Globalisierungsrhetorik der Jahrtausendwende 15. Literatur (in Auswahl)
Abstract Rhetoric and stylistics in Latin America have a diverse history, mainly due to the colonization and Christianization of the area. The conversion of the native people there has been
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
carried out by means of classical rhetoric, using medieval and Christian allegories and targeting polytheist peoples with other linguistic systems and rhetoric which are often based on animistic thinking, magic symbolism and dual metaphoric systems. Moreover, crucial differences exist between the speech of Christian preachers and Indian theocrats, and the democratic tribal communication. In addition, differences exist between written and spoken Spanish, as well as between Spanish and the oral languages of the native inhabitants. During the Colonial period, Baroque was the predominant style, with tropes, topoi and typical aspects common to Spanish Culteranism. The Independence (1810) period ushered in the patriotic war oratory of generals and leaders as well as the beginning of parliamentary speech based on classical rhetoric, ancient mythology tropes and Enlightenment slogans. Neoclassical poetry of the era combines antique tropes with New World nature-oriented topoi. Civilization vs. barbarism became the dichotomic slogan of the nationalistic liberals’ fight for progress and democracy. The racial issue is a leading one, with ethnically-based rhetoric relevant for Latin America’s unity as a multiethnic subcontinent becoming commonplace. In the 20 th century, major differences arise between the rhetoric of authoritarianism, populism and military dictatorship, and the liberal, left-wing and Marxist counterdiscourse. At the end of the century, modernization discourse is supplemented by the rhetoric of continental integration and worldwide globalization. In poetry, Modernism introduces a cosmopolitan, symbolic style, contradicting regionalism and Romanticism, while Vanguardism imposes an anti-literary and anti-rhetorical style of everyday language by applying technical and modern urban life metaphors. In the 1950s, the period of New Romance stands for modernization, Latino-Americanization and individualization of prose style, including the Central American and Caribbean Magic Realism, based on native and negro myths; the fantastic, more cosmopolitan style of the Platawriters, and the Cuban Neobaroque. A unique rhetoric arises in the mass media, in literature and everyday speech of the mega-cities, while Indians and peasants maintain their oral and regional rhetoric.
1. Einleitung und Forschungsstand Die Redekunst ist in Lateinamerika hochgeschätzt und weit verbreitet. Der Rhetoriktheoretiker Martı´ hob die Anschaulichkeit, Bildhaftigkeit, Rhythmik und Leidenschaft hervor, die selbst die Rhetorik mexikanischer Marktweiber oder schwarzer kubanischer Schuhmacher auszeichne. Expressive orale und Körper- und Gestensprache ist für Ausländer oft klischeehaftes Identitätsmerkmal der Lateinamerikaner. Reden und Schreiben auf dem Subkontinent sind durch Heterogenität und Eklektizismus charakterisiert. Diese resultieren aus der polyethnischen, multikulturellen und multinationalen Zusammensetzung der Bevölkerung, die aus autochthonen Indios, iberostämmigen Kreolen, Nachkommen afrikanischer Sklaven sowie rezenten Einwanderern aus Europa und Asien mit je unterschiedlichen Sprech- und Schreibpraktiken besteht. Die zuweilen scharfe polemische Austragung der politischen, ethnischen und kulturellen Gegensätze: (Kontinent vs. Nation, Ethnos vs. Staat, Unabhängigkeit vs. Kolonie, Demokratie vs. Diktatur, Moderne vs. Tradition) hat zu Dichotomisierung, aber auch zu Synkretismus der Rhetoriken geführt. Es gibt keine Gesamtdarstellungen der Rhetorik und Stilistik des Subkontinents oder einzelner Länder und Epochen, lediglich Diskurs-, Struktur-, und linguistische Analysen
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zu Rhetorikgenres und Literaturströmungen (Conquistachronik, Kanzelberedsamkeit, Magischer Realismus, Parlamentsreden) sowie zu Personalstilen einzelner Redner (Bartolome´ de las Casas, Simo´n Bolı´var, Jose´ Martı´) und Schriftsteller (Juana Ine´s de la Cruz, Jose´ Lezama Lima, Pablo Neruda). Zur Alltagsrhetorik und zum Stil von Massenmedien und Reklame existieren nur Fallbeispiele.
2. Die Rhetorik der Kolonisierung Mit der sogenannten Entdeckung Amerikas 1492 begannen die Eroberungen des heutigen Lateinamerika und die Unterwerfung der indigenen Bevölkerung durch die spanischen Conquistadoren, die diese Prozesse im Kolonisierungsdiskurs begründeten und rechtfertigten. Dieser äußerte sich in der Hispanisierung der Topographie („Amerika“, „Indio“, „Neuspanien“), juristischen Dokumenten (Indiengesetze) und im Staatsrecht (Corte´s’ Reichsidee). Eine besondere Form der Kolonisierungsrhetorik stellt die Ethnostereotypik dar. Einerseits entstand unter Rekurs auf den antiken Mythos vom Goldenen Zeitalter das Klischee vom naiven, von Habgier unverdorbenen Indio inmitten unberührter Natur, den die Aufklärer Rousseau und Voltaire zum weltliterarischen Topos des „guten Wilden“ machten. Amerika wurde zum Eldorado, ,Irdischen Paradies‘, Garten Eden, zur Utopia des Thomas Morus und zum locus amoenus. Andererseits dienten antike Schreckensbilder von Barbaren und Ungeheuern zur Prägung des konträren negativen Ethnostereotyps des Indio als Barbaren, als Monster (vgl. Gewecke 1986, 60 ff.), als „Kannibale“ (Deformierung des Stammesnamens der Kariben in Shakespeares Sturm, vgl. Ferna´ndez Retamar 1981, 226) und als Personifikation des „Bösen“ (vgl. Todorov 1985, 185 ff.). Dieses Stereotyp wurde zentraler Topos der Conquista-Rhetorik zur Rechtfertigung des Genozids unter den Indios. Laut Bischof Sepu´lveda dürfe eine zivilisierte Nation eine unzivilisierte bekriegen, wenn letztere keine Schrift, kein Geld, keine Kleidung, kein Christentum kenne und Menschen opfere. Gegen diesen Rechtfertigungsdiskurs entwickelte Bartolome´ de Las Casas, Bischof von Chiapas, in der Kontroverse mit Sepu´lveda vor Karl V. und in seinen Geschichtswerken eine polemische, von seinen Kontrahenten als „Schwarze Legende“ denunzierte humanistische Gegenrhetorik. Er schrieb Chroniken und eine Kolumbusbiographie im Stil der Viten Plutarchs, mittelalterlicher Exempelliteratur und des Fürstenspiegels als Ratschläge zum guten Regieren. Seine rhetorischen Mittel sind fiktive Dialoge, Argumentation und Gegenargumentation, Faktenbeweise, Augenzeugenberichte, Autoritäten-Zitate aus Antike, Bibel und Patristik. Seinen Stil prägt die Kumulation von Hyperbeln und Superlativen. In Polemik gegen die Conquista-Hagiographie führte er, wie auch der Chronist Bernal Dı´az del Castillo in Wahrhaftige Geschichte der Eroberung Neu-Spaniens, die Topoi „Wahrhaftigkeit“ und des „Gesehenen und Erlebten“ ein. Entsprechend Las Casas’ Gleichheitspostulat entwickelte der Mestize Inca Garcilaso de la Vega in den Comentarios reales (korrigierende „Kommentare“ zum Conquista-Diskurs) eine gegen die christlich-mittelalterliche, eurozentristische Missionars-Allegorese gerichtete Vergleichs- und Analogierhetorik zur Behauptung der Gleichwertigkeit von Indios und Europäern. Er vergleicht das Inkareich mit dem Imperium Romanum, Cuzco mit Rom, erklärt indianischen Sonnenkult zum Christentum avant la lettre. In Mexiko werden der
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Aztekengott Quetzalcoatl mit dem Messias, Montezuma mit Macchiavelli, indianische Menschenopferpraxis mit der Eucharistie, und in der Karibik katholische Heilige mit afrikanischen Göttern gleichgesetzt.
3. Bekehrungsberedsamkeit und indianische Rhetorik Die Bekehrung der Indios als Hauptziel der Conquista vollzog sich unter Anwendung der in der Renaissance weitverbreiteten antiken Rhetoriken, besonders von De oratore und De inventione, in denen Cicero die spezielle Eignung der Beredsamkeit für die Zivilisierung von Barbaren hervorhebt. Da man die Indios als heidnische Barbaren betrachtete, wurde die Rhetorik als geeignetstes Mittel zu ihrer Zivilisierung qua Christianisierung angesehen. So wurden zwei parallele Rhetoriken entwickelt: eine im gegenreformatorischen Geist des Tridentiner Konzils für Alt-Katholiken, und eine vereinfachte, meist mit dem Zusatz „kurz“ versehene, für indianische Neuchristen, denn „the native andine required only the most abbreviated and simplified techniques“ (Abbot 1996, 67). Luis de Granada schrieb eine Ecclesiasticae rhetoricae für erstere und einen Breve tratado [Kurzer Traktat] für letztere, Diego Valade`s eine klassische Rhetorik sowie die erste Neue-Welt-Rhetorik Reto´rica cristiana, der Rhetorikprofessor Jose´ de Arriagas eine Rhetoris Christiani für das Jesuitenkolleg in Lima und eine Extirpacio´n de la idolatrı´a en el Peru´ [Ausrottung der Bildervergottung in Peru] zur Katechisierung Bekehrungsunwilliger; der Reto´rica des Rhetoriktheoretikers Francisco de Salazar steht die Breve instruccio´n des Kanzelredners Domingo Vela´zquez gegenüber. Die Missionare fokussierten ihre Predigten auf christlichen Monotheismus und Polemik gegen indianischen Polytheismus. Ihrer katholischen stand eine fundamental andere indigene Rhetorik gegenüber, so dass permanentes gegenseitiges Missverstehen die Folge war. Christliche Rhetorik gründete auf Allegorese, Bibelexegese und Exempel, indianisch-animistische auf Naturinterpretation, Naturmetaphorik und Natursymbolik. Die Azteken pflegten eine Blumen-, Vogel- und Schmetterlingsmetaphorik, die im paarigen tautologischen, sinnverstärkenden Zusammenschluss je zweier synonymer Metaphern bestand, sowie die Nahuasymbolik, demzufolge Tiere die Person symbolisieren, deren Totem sie sind. Aztekische Rhetorik umfasste neben politischer und religiöser eine epideiktische, kodifiziert in den huehuetlahtolli ([Reden der Alten] ⫽ pädagogische Ermahnungen an Kinder, Regeln guten Benehmens und Sprechens, Ratschläge für Geburt, Jugend, Heirat, Tod). Rhetorik war Unterrichtsfach am Calme´cac, der höchsten Bildungsstätte des indianischen Mesoamerika. Sieg im Rednerwettbewerb war Voraussetzung für ein Amt. Verbalinjurien und kontraproduktive Besserwisserei waren verpönt, sanfte Rede und Dialogizität ⫺ von der Gegenseite als „palaver“ (spanisch „palabra“) verunglimpft ⫺ vorgeschrieben. An die Volksversammlung als entscheidende Instanz der Dorfdemokratien wandten sich geschulte Redner (n˜e¨e iya bei den Guaranı´ Boliviens). Die dialogische Stammes-Rhetorik stand im Gegensatz zum monologisch-unidirektionalen, autoritativen Wort sowohl der indianischen Stadtstaaten-Theokraten als auch der christlichen Missionare. Diesem Gegensatz entsprachen unterschiedliche Grammatiken. Statt okzidentaler Subjekt-Objekt-Grammatik sind etwa im heutigen Maya-Tojolabal Aktiv und Passiv identisch: „Reden“ ist „Zuhören“, „Zuhören“ gleich „mitreden“ (Lenkersdorf 2002, 197 ff.). Okzidentale und indigene Rhetoriken und Stile unterschieden
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sich auch qua oral und skriptural. In Cajamarca begriff der analphabetische letzte Inka Atahualpa nicht, dass das Buch, das ihm die Conquistadoren zwecks Bekehrung vorhielten, eine Heilige Schrift war, und warf es fort. Diese wiederum vermeinten, er wolle mit dieser Geste die Heilige Schrift als christliches Symbol missachten, und brachten ihn dafür um. Die Unterschiedlichkeit der Rhetoriken der Zapatisten und der hispanoamerikanischen Regierung Mexikos bei ihren Verhandlungen ausgangs des 20. Jhs. trug zu deren gegenseitigem Missverstehen bei.
4. Kolonialbarock als Rhetorik und Stil Nach Abschluss der Bekehrung und Stabilisierung der Machtverhältnisse sahen sich in der zweiten Hälfte des 17. Jhs. die Kanzelredner genötigt, das infolge des prachtliebenden Lebensstils der Kolonie verweltlichte kreolische Publikum intellektuell zu fordern, emotional zu beeinflussen und den „Unterhaltungswert“ ihrer Predigten, das delectare, auf Kosten des docere und der Persuasion zu erhöhen (Moore 2000, 14), was eine Visualisierung und Theatralisierung der Liturgie mit dem Prediger als Hauptdarsteller zur Folge hatte (Moore 2000, 98). Deshalb flocht letzterer viele Abschweifungen sowie meist heidnisch-antike Anekdoten und Exempel ein, wodurch die profane Welt gegenüber der göttlichen überwog. Die Predigt wurde um das ganze tradierte Register antiker Tropen und Redefiguren erweitert, die Topoi verweltlicht und anstelle jenseitsorientierter Allegorese eine reiche diesseitige Metaphorik entfaltet. Damit geriet die Kanzleirhetorik in den Sog des die Kolonialkultur beherrschenden Barock, wie das Beispiel des Peruaners Juan de Espinosa Medrano, berühmtester Kanzelredner seiner Zeit in der ganzen Hispania, zeigt. Er publizierte sowohl eine Apologie für den spanischen Barockdichter Go´ngora als auch eine Sammlung seiner panegyrischen Predigten La novena maravilla (Das neunte Wunder, 1695). Dieser prunkvolle spanische Stil äußerte sich in der sinnlich-verschwenderischen Lebensweise der Oberschichten, im volutenreichen, ornamentalen Churriguerismo und ornamentalen Plateresco der Sakral- und Profanbauten und im kulteranen Stil von Epik, Lyrik und Dramatik. Auch die barocke Dichtung pflegte christliche Allegorisierung mittels antiker Mythologie. Sor Juana Ines de la Cruz’ „Göttlicher Narziss“ ist Jesus, der sich in die Welt als seinen Spiegel verliebt. In einer „Loa“ Juanas treten enttheologisierte mittelalterliche und neuweltliche Allegorien: „Abendland“, „Amerika“, „der Eifer“, „die Religion“ auf. Die peruanischen und mexikanischen Autoren kontrastieren die Lebenslust der vizeköniglichen Residenzstädte mit den barocktypischen Topoi des carpe diem, der Vergänglichkeit alles Irdischen und des metaphysischen Verdrusses (desengan˜o). Ihre hermetische Metaphorik und Symbolik ist antiker Mythologie entnommen. Ihren Stil charakterisieren komplizierte Perioden und Kumulation schwieriger Tropen und Figuren (Hyperbaton, Zeugma, Hyperbel, Asyndeton, Periphrase, Parenthese, Antithese, panegyrische Aufzählung), Verselbständigung des Bildes gegenüber dem Begriff und des Beschreibens gegenüber dem Erzählen. Nach Meinung des Romanciers Carpentier sind auch die ornamentale indigene Architektur und die üppig-lianenhafte Natur Lateinamerikas barock. Schließlich betrachten sich die in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. tonangebenden karibischen Autoren Lezama Lima, Cabrera Infante, Sarduy, Carpentier und Garcı´a Ma´rquez auf Grund ihres Stils als Vertreter des Neobarock. Wegen dieses behaupteten epochenübergreifenden Charakters wird Barock aus einem historischen Stil zur lateinamerikanischen Rhetorik
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
schlechthin. Der genannte Carpentier (Carpentier 1981, 126) versteht unter Barock auch die im multikulturellen Lateinamerika stark verbreitete, im Historismus und Jugendstil gipfelnde Stilmischung als „dritten Stil“, als stilistischen Mestizismus. In dieser Lesart werden Barock und Eklektizismus zu Hauptcharakteristika lateinamerikanischen Stils.
5. Rhetorik und Stilistik des unabhängigen Lateinamerika Patriotismus, Nationalismus und Amerikanismus sind ab der Unabhängigkeit die Haupttopoi der politischen Rhetorik. Die Revolution 1810⫺1830, die den Übergang von sakraler zu profaner Beredsamkeit markiert, kombinierte europäische Aufklärungstopik mit Revolutions-Oratorik. Die patriotische Lyrik feierte die Siege der Revolutionsheere sowie die literarische Unabhängigkeit von Europa in antibarockem, klassizistischem Stil in einfacher Syntax und Lexik. Sie mischte synkretisch antike mythologische Tropen mit den neuen lateinamerikanischen Identitätstopoi der ,typischen‘ Landschaften (Anden, Amazonas, Vulkane, Urwälder) und Früchte (Mais, Ananas, Papaya). Der mexikanische Romancier Lizardi übertrug die europäischen Aufklärungstopoi (Arbeitsethik, Sparsamkeit, Redlichkeit, Toleranz) unter polemischer Negierung der Barocktopoi (Sinnlichkeit, Üppigkeit, Überfluss) moralisierend-didaktisch auf Neu-Spanien. Bolı´var entwickelte eine argumentativ-essayistische Epistularrhetorik, während Lizardis Flugblattjournalismus sich mit vereinfachtem Schlagwortregister an die ungebildeten Volksmassen wandte. Die Kongressrhetorik richtete sich an die gebildeten Notabeln, die Feldberedsamkeit an die analphabetischen Soldaten. Da Amerika eine Fiktion war, musste das Zusammengehörigkeitsgefühl durch eine intensive Propaganda erzeugt werden. Zwecks Weckung lateinamerikanischen Einheitspatriotismus wurden noch bis Ende des 20. Jhs. geltende Identitätstopoi geprägt: gemeinsame Kolonialgeschichte, polykultureller und multiethnischer Charakter, Stolz auf indigene Vergangenheit und Kultur, Identifikation mit der Widerstandstradition und Opferrolle der Indios gegenüber den mit der spanischen Kolonialsoldateska gleichgesetzten Conquistadoren, Erinnerung an Leid und Rechtlosigkeit unter dem Kolonialregime. Die Ansprachen der Generäle vor den Entscheidungsschlachten (Junı´n, Ayacucho, Carabobo) galten über taktische Information hinaus der Motivierung und Überzeugung der Truppe, die nicht reguläre Armee, sondern ein Freiwilligen-Corps war. Patriotisch-revolutionäre Schlagworte (Freiheit, Vaterland, Erde) wurden durch Appelle an den militärischen Ehrenkodex (Mut, Tapferkeit, Ruhm) und durch moralische Disqualifizierung des Feindes („Abscheu“, „Knechtschaft“, „finstere Vorhölle“, „Entwürdigung“, „Verworfenheit“, „ungezähmte Barbarei“) ergänzt. Bolı´vars Kongressreden mit ihren klassischen Perioden und Metaphern („Genießt die Freude, einer großen Familie anzugehören, die bereits im Schatten der Lorbeerwälder ruht!“) sind Modell für die pathetische, zuweilen schwülstige Parlamentsrhetorik bis Mitte des 20. Jhs.
6. Freiheit, Ordnung, Fortschritt Die Dichotomie Barbarei-Zivilisation Die in zwanzig Staaten zerfallenden Kolonien wurden Schauplatz rhetorischer wie bewaffneter Kämpfe zwischen probürgerlichen Liberalen und den aus der Kolonialoligar-
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chie hervorgegangenen anarchischen Konservativen. Letztere verteidigten traditionelle Werte mit den Schlagworten Religion, Vaterland, Familie, erstere propagierten Freiheit, Ordnung und Fortschritt. Hauptlosung der Liberalen war das vom argentinischen Ideologen Domingo F. Sarmiento geprägte Binom Zivilisation vs. Barbarei, Profanierung der einstmals vom Bekehrungs- und Conquista-Diskurs geprägten Dichotomie christlichabendländische Zivilisierte vs. heidnisch-indianische Barbaren (vgl. 3). Sarmiento bezeichnete damit den Gegensatz von demokratischer, kapitalistisch wirtschaftender Zivilgesellschaft und ,barbarischen‘, subsistenzwirtschaftenden, von Caudillos beherrschten Indios und Gauchos (Mestizen) andererseits. Dies war keine bloße Rhetorik: Als Präsident rottete er die ,barbarischen‘ Indianer und Gauchos weitgehend aus und forcierte die ,Zivilisierung‘ durch europäische Einwanderung. Das Binom Sarmientos prägt noch Ideologie und Literatur des 20. Jhs. (Don˜a Ba´rbara, 1929, von Gallegos). Der konservative Gegendiskurs argumentierte nicht, sondern beschimpfte die Gegner mit den neuen Schlagworten „unpatriotisch“, „vom Ausland gekauft“, „korrupt“ und „heimtückisch“. Der Stil beider Rhetoriken beruhte auf rituellen Beschwörungsformeln, Akkumulation von Synonyma, vereinseitigenden Übertreibungen und hämmernden Wiederholungen. Der romantische Roman in der Nachfolge von Sarmientos Buch Facundo o civilizacio´n y barbarie en la Repu´blica Argentina (1845) denunzierte nicht nur naturalistisch beschreibend die Gräuel der Caudillos, sondern auch deren demagogische Rhetorik durch Wiedergabe in direkter Rede. In Amalia von Jose´ Ma´rmol heißt der Diktator Rosas „Held der Pampa, illustrer Wiederhersteller der Gesetze, unser Vater und Vater der Bundesrepublik Argentinien“. Seine Anhänger rufen Beschimpfungs-Slogans gegen die „verräterische Rotte der Unseligen“ wie „Tod den dreckigen, wilden, ekligen Unitariern (Liberalen)“. Der Diktatorenroman des 20. Jhs. von Asturias bis Garcı´a Ma´rquez ersetzte diese Direktdenunziation durch literarisierende Stilisierung mittels esperpento-(Schauer)Technik: Horrorszenen werden mit schwarzem Humor und Ironie dargeboten, der rhetorische Stil der Diktatoren (Akkumulation, Wiederholung, Hyperbel) durch Häufung und Übertreibung parodiert, Sarmientos Caudillo-Metonymien (Pferdehuf, Reitsporen, Säbel) übernommen. Eine nostalgische Epik verklärte später den von Sarmiento zur Inkarnation des Barbaren erklärten Gaucho zur Personifikation des Argentiniers schlechthin. Die Formel „Barbarei vs. Zivilisation“ war in fast allen Ländern Chiffre der Antagonismen Liberale vs. Konservative, Demokratie vs. Diktatur, Moderneprojekt vs. Rückständigkeit. In Kolumbien wurde dieser polemische Antagonismus infolge absoluter Nichtbereitschaft zu Vergessen und Kompromiss zu exterminatorischen Bürgerkriegen, die kolumbianischen Forschern zufolge (Lo´pez Lopero 2002, 33) im Clausewitzschen Sinne Fortsetzung der politischen Rhetorikgefechte mit anderen Mitteln waren. Sie verselbständigten sich im 20. Jh. zum Endlos-Krieg zwischen Armee, Guerilla, GrundbesitzerPrivatarmee und Drogenkartell-Milizen. Ihr literarischer Ausdruck ist die nüchterne, testimonial-dokumentarische, auf der Kontrapunktik „Hölle bzw. Apokalypse vs. Paradies“, „Chaos vs. Ordnung“ und „Henker vs. Opfer“ aufbauende Rhetorik von über hundert Violencia-Romanen.
7. Indigene, indigenistische und mestizaje-Rhetorik Der andine Indianismus weißer Kreolen Ende des 19. Jhs. denunzierte die Marginalisierung des Indio und wollte ihn unter Vernichtung seiner kulturellen Alterität in die Nation
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integrieren, während der ebenfalls ,weiße‘ Indigenismus des 20. Jhs. ⫺ eine politische und soziale andine Bewegung ⫺ mit marxistischer Rhetorik für die soziale Emanzipation des Indio eintrat. Doch erst der mesoamerikanische magische Realismus der Jahrhundertmitte fokussierte auf die kulturelle Identität der Indios. Folgten Indianismus und Indigenismus dem Formenkanon des realistischen und sozialen Protestromans, so übertrug er die Rhetorik des indianischen Mythos, dessen metaphorischen Stil und Nahuasymbolismus (vgl. 3) auf Roman und Lyrik und machte die magische Weltsicht zur Perspektive des Erzählers und lyrischen Ich. Der indianisch-mestizische Neoindigenismus übersetzte indigene Sprachmagie ins Spanische oder schrieb in indianischen Sprachen. In der Karibik ersetzte die afrokaribische Literatur des 20. Jhs. den Formenkanon der Romantik durch den des europäischen und US-amerikanischen sozialkritischen Realismus, fügte die Rhetorik von Bürgerrechtsbewegung und Marxismus hinzu und gab dieser Mischung mittels der Rhythmik und Repetitionsstruktur afrokaribischer Musik und des Vokabulars der Wodu´ritualien synkretischen Ausdruck. Mit der politischen und literarischen Dignifikation der indigenen, schwarzamerikanischen und Mischbevölkerung entwickelte sich ein Diskurs, der wie der Inca Garcilaso de la Vega (vgl. 2) das Mestizische als identitätsstiftendes Spezifikum Lateinamerikas propagierte. Schon Bolı´var hatte die Existenz dreier Hauptrassen der Erde und das Mestizentum als Besonderheit Lateinamerikas zu Topoi erhoben, die der kubanische Revolutionär Martı´ als Widerrede zu Sarmiento und zu europäischen Lehren von weißer Rassenreinheit übernahm. Sein Landsmann Fernando Ortiz prägte in der Gegenrhetorik zum angelsächsischen Konzept der Akkulturation qua Assimilation den Terminus „Transkulturation“, wofür er die kulinarischen Metaphern ajiacio [Eintopf] und morros y cristianos [weißer Reis mit schwarzen Bohnen] prägte. Auf afrokaribische folgte dementsprechend mulattische Dichtung. Die kulturtheoretische Rhetorik propagierte Ende des 20. Jhs. statt rassischer homogenisierender mestizaje ethnische Hybridität als kulturellen Pluralismus. Die ethnozentristische Rhetorik des Mestizismus wandelt sich so zur Behauptung kultureller Heterogenität als lateinamerikanischer Identität.
8. Oralität und Schritlichkeit der Rhetorik im 19. und 20. Jahrhundert Martı´ verfolgte wie Bolı´var eine doppelte Rhetorikstrategie: orale Persuasion und skripturale Propaganda. Seine Versammlungs- und Kundgebungs-Agitation unter den kubanischen Exilanten und Gastarbeitern in den USA sollte diese zur Unterstützung des revolutionären kubanischen Befreiungskriegs bewegen. Er modernisierte die Rhetoriken von Cicero und Cornelius Tacitus durch Kombination mit der ihm aus eigenem Anhören bekannten zeitgenössischen Rhetorik Spaniens (Castelar, Ca´novas), Frankreichs (Gambetta, Thiers, Cle´menceau) und der USA (Wendell Philipps, Lincoln), wobei er seine Reden weniger nach aristotelischen Kompositionsprinzipien als nach Intonationsgrup´ lvarez 1995, 105 ff.). Seine Rhetorik pen zwecks erhöhter Stimmwirkung strukturierte (A bestand in kühner Metaphorik, ungewohnter Syntax mit verschachtelten Parenthesen, unerwarteten Brüchen und Kontrasten sowie abrupten Tempowechseln. Er ging von artikellosen Kurz-Aphorismen (tal paga, tal manda, [so bezahlt, so befohlen]; honrar honra [ehren ehrt]) abrupt zu langen Perioden und zu Nerudas Lyrikstil antizipierenden chaoti-
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schen Enumerationen über. Seine emphatische patriotisch-nationale Tropik vereint synkretisch traditionelle sakralisierende Metaphern („Altar des Vaterlands“) mit solchen aztekischer Opferrituale. Gleichzeitig führte er eine lateinamerikaweite argumentative, theoretisierende, journalistisch-essayistische Kampagne für die Einheit und Solidarität des Subkontinents angesichts von Partikularismus und gemeinsamer Bedrohung durch USA-Expansion. Seine programmatische Benennung des Kontinents als Unser Amerika (Nuestra Ame´rica) polemisierte implizit gegen Bezeichnungen, die die indigene und afroamerikanische Bevölkerung ausschließen (Hispano-, Ibero-, Lateinamerika), und gegen die Reduktion der Bezeichnung Amerika auf die USA. Seine Überzeugungskampagne führte er in vielen kontinentalen Zeitungen, so dass Lateinamerika kraft seiner Rhetorik zu einer verbreiteten Bewusstseinstatsache wurde.
9. Die Rhetorik der mexikanischen Revolution Die oft pathetisch klingenden Schlagworte der mexikanischen Revolution von 1910⫺ 1952 ⫺ „vollständige und absolute soziale Gerechtigkeit“, „Würde des Menschen“, „Selbstlosigkeit“, „Interesse der Nation“, „Wohl des Volkes“ ⫺ entsprachen den sozialen Interessen der Mittelschichten, Bauern und Indios. Die spätere autoritäre Herrschaft der PRI-Partei spiegelte sich in unidirektionaler, paternalistisch-patriarchalischer Metaphorik wider: Die Führer hießen „Väter des Vaterlandes“, die für das „Wohl unserer Söhne und unseres Vaterlandes“ sorgten, die Bevölkerung war die „Familie der Nation“ bzw. die „revolutionäre Familie“. Revolution und Nation wurden durch permanente Adjektivierung der Institutionen, Handlungen und Personen mit „national und revolutionär“ rhetorisch mythisiert. In Öffentlichkeit, Parlament und Medien wurde statt argumentativer meist Rechtfertigungs- und Legitimationsrhetorik betrieben (Jitrik 1993, 157). Mehr als von der unbedeutenden politischen Opposition wurde die Gegenrhetorik vom Revolutionsroman entwickelt. Dieser denunzierte kritisch-didaktisch in traditionellem Realismus das Rauben, Morden, Plündern, In-Brand-Setzen, Vergewaltigen der Bauerntruppen, den Opportunismus, die Heuchelei und den Verrat von Intellektuellen und die Korruption sowie die apologetische, demagogische Revolutionsrhetorik der Caudillos. Dahingegen kritisierte der postrevolutionäre Roman nicht mehr nur die Revolution, sondern ihre Ergebnisse, die Armut der Massen und den Reichtum der neuen Herrschenden, vor allem aber die populistische Rhetorik des primären Revolutionsromans, der diesen Aspekt ignoriert hatte. Von dessen traditionellem Realismus setzte sich ersterer durch stark symbolisierenden und metaphorisierenden, auf europäische Antike und indianische Mythologie rekurrierenden Stil ab. Parallel ging die revolutionäre Wandmalerei, die auf autochthoner indianischer und kolonialer Tradition in Malerei und Literatur aufbaute und sich didaktisch an die analphabetischen Massen wandte, zurück bzw. löste sich in die private Unverbindlichkeit des avantgardistischen Stils Tamayos auf.
10. Die Rhetorik des Populismus Eine populistische Politik im Interesse des Mittelstands vertraten in den 30er und 40er Jahren des 20. Jhs. die mexikanische Revolutionsführung in ihrer letzten Phase, ferner die APRA-Partei in Peru, das movimiento trabalhista in Brasilien und der argentinische
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
Peronismus. Mit populistischer Rhetorik wollten sie die analphabetischen bzw. ungebildeten Massen von ihrer klassenneutralen und klassenkooperativen Politik überzeugen. Sie waren die ersten, die in großem Stil Propagandareden auf lautsprecherübertragenen Großkundgebungen, dann in Radioansprachen und später in Fernsehauftritten inszenierten. Die mexikanischen Revolutionsführer versprachen in einer Mischung von nationalistischer und sozialistisch-marxistischer Rhetorik Wohlstand und soziale Sicherheit für alle mittels Nutzung eigener Ressourcen, so durch Vergenossenschaftlichung der Ländereien und Nationalisierung der Erdölindustrie. Der peruanische APRA-Chef Rau´l Haya de la Torre entfaltete eine sowohl oral-populistische als auch skriptural-intellektualistische, theoretisch untersetzte Propaganda. Er ersetzte die patriotische durch eine lateinamerikaorientierte, marxistische, antiimperialistische und antioligarchische Rhetorik, mit der er sich dezidiert an ein neues Publikum richtete: Arbeiter, Studenten und die Jugend. Er erweiterte Bolı´vars und Martı´s Pathos und Kontraststil für seine öffentlichen Redeauftritte durch Hell-Dunkel-Malerei und forcierten Gebrauch von Analogien und Paradoxa. Gegen paternalistische Schlagworte setzte er die populistische Losung Gerechtigkeit, gegen den bislang eher ideologischen Begriff der lateinamerikanischen „Einheit“ den modernen, wirtschaftsuntersetzten Terminus „Integration“. Seine weiteren neuen Schlagworte: „Staatskapitalismus“, „nicht-sozialistische Sozialrevolution“, „Klasseneinheitsfront“, „Industrialisierung mit kontrollierten Auslandsinvestitionen“ (vgl. Nieto Montesinos 2000, 5). Gegenüber der unidirektionalen Unser-Amerika-Rhetorik Martı´s erlaubten ihm die technischen Mittel des 20. Jhs. einen pluralen, subkontinentweiten wechselseitigen Dialog über die Zukunft Lateinamerikas mit seinem Landsmann Maria´tegui, dem Kubaner Julio Antonio Mella und dem Argentinier Jose´ Ingenieros. Weltpolitisch waren die Lateinamerikaner, wie er am antikolonialistischen Komintern-Kongress Brüssel 1927 kritisierte, dagegen keine gleichberechtigten Dialogpartner. Der Militär Pero´n begründete als Führer des Justitialismus und Nachkriegspräsident Argentiniens eine nationalistische, sowohl antikapitalistische als auch antikommunistische Rhetorik der „Kooperation und Harmonie der Klassen“ mit besonderem Nachdruck auf „Gerechtigkeit“, wobei er sich in sozialpatriarchalischem, personalistischem Stil als „Werktätiger Nummer eins“ feiern ließ und auf vielen Versammlungen und in zunehmendem Masse in den neuen Massenmedien, besonders in Rundfunk und Wochenschau, propagandistische Auftritte hatte. Seine Frau Evita, Exschauspielerin, wurde als wohltätige „Mutter der Armen“ und Führerin der Frauenemanzipation in inszenierten öffentlichen Performancen mythisiert, ähnlich wie der kubanische Diktator Batista seine Ehefrau publizistisch ausnutzte. Damit wurde die „primera dama“, die Staatschefsgattin, in der populistischen Liturgie etabliert. Überhaupt hielt mit dem Populismus in ganz Lateinamerika die Trivialrhetorik in die Rundfunk- und später Fernsehprogramme Einzug. In Kuba betrieb der Führer der „Orthodoxen“, Eddy Chibas, ebenfalls eine populistische Rhetorik, wobei er sich als Klimax seiner letzten, von moralischem Rigorismus getragenen Rundfunkrede gegen Korruption und Diktatur vor dem Mikrophon erschoss. Aus Chibas’ Partei und Tradition entstammt Fidel Castro mit seinen langen, emphatischen, gestenreichen, sowohl argumentativen als auch rechtfertigenden und denunzierenden Reden vor Millionenmassen auf dem Platz der Revolution bzw. im Fernsehen.
11. Die Rhetorik der Militärregimes das Beispiel Argentinien In der zweiten Hälfte des 20. Jhs. etablierten sich in vielen Ländern Militärdiktaturen, die die autoritäre Caudillotradition mit neuer Programmatik und Rhetorik fortsetzten.
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Die argentinischen Militärs rechtfertigten ihren Terror mit dem Kampf gegen Populismus, Kommunismus, Guerilla und Terrorismus. Sie führten eine Rhetorik des Euphemismus ein, indem sie jede Anspielung auf Pero´n kriminalisierten, statt von „Diktatur“ von „Tyrannei“ sprachen und den von ihnen propagierten Umbau anstelle der üblichen Benennung „Revolution“ als „Proceso“ bezeichneten. Sie vermieden euphemistisch die tradierte bellizistische Metaphorik für ihre Ermordung von 30 000 Verdächtigen, mythisierten hingegen den Guerillakrieg als „schmutzigen Krieg“ bzw. „nichtklassischen Krieg der Ubiquität“. Zur Rechtfertigung ihrer Gewaltpolitik entwickelten sie eine euphemistische medizinisch-chirurgische Rhetorik zur Heilung von den „Krankheiten“ des Peronismus, Kommunismus und Terrorismus, die als „Mikroben“ den Gesellschaftskörper „infizieren“, wohingegen rechte Gewalttäter „Antikörper“ seien, die nach „Behandlung“ durch regierungsamtlichen Antiterror wieder verschwänden (Barros 2002, 59). Man verteidige die abendländisch-christliche „Zivilisation“ gegen die „Barbarei“ von „Unordnung“ und „Promiskuität der unteren Volksklassen“. Das traditionelle Register programmatischer Schlagworte („Ordnung“, „Demokratie“, „Progress“) modernisierten sie durch die Losungen von „Stabilität“ und „freier Markt“, d. h. Privatisierung und Öffnung zum Weltmarkt (Barros 2000, 62). Da die Zensur offene Polemik verhinderte, konnte die Gegenrhetorik nur von der Literatur entwickelt werden. Der Diktatorenroman denunzierte die Diktatur nicht konventionell realistisch, sondern parodierte ihren liturgischen Zeremonialstil durch Akkumulation, Repetition und Hyperbolisierung ihrer apologisierenden, hagiographischen und pathetischen Sprache, z. B. mittels ironisierender interpunktionsloser panegyrischer Enumeration (Der grosse Burundu´ n-burunda´ ist tot, von Jorge Zalamea; Der Herbst des Patriarchen, von Garcı´a Ma´rquez; Ich der Allerhöchste, von Roa Bastos).
12. Einhundert Jahre Modernisierungsrhetorik An Stelle des gescheiterten kreolischen Projekts der Überwindung der Rückständigkeit durch Eigenentwicklung wurden Innovation und Wachstum der Wirtschaft propagiert. Die mexikanischen Nachkriegsregierungen predigten Wirtschaftswachstum bei „zeitweiliger Aufopferung der Errungenschaften der Volks- und marginalen Massen“ (Carbo´ 1995, 279), wie überhaupt im letzten Drittel des 20. Jhs. die Sprache der Ökonomie überall die rhetorische Hegemonie übernahm. Hauptvertreter neoliberaler Rhetorik ist der argentinische Neoperonist Menem, der messianisch auf Wahlkampagnen in spektakulärem USA-Stil Peronschen Populismus unter der Losung „eine bessere Welt ist möglich“ (1988) mit Privatisierungs- und Deregulierungspropaganda unter dem Schlagwort „Stabilität“ verband. In Mexiko setzte sich am Jahrtausendende, weniger von Politologen und Soziologen als von Journalisten, Politikern und Wirtschaftsmanagern geführt, die Rhetorik einer neuen internationalen politischen Kultur mit folgenden Haupttopoi durch: 1) Zivilgesellschaft im Gramscischen Sinne als nicht staatlich reglementierte, sondern sich selbst organisierende Gesellschaft, 2) repräsentative parlamentarische Demokratie anstelle von Autoritarismus, 3) Rechtsstaat statt Staat des Paternalismus und der sozialen Dienstleistungen,
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
4) Pluralismus der Individuen und Parteien statt Einheitsparteiensystem, nationaler Einheit und revolutionärem Fundamentalismus, und 5) gobiernabilidad als Regieren unter demokratisch-pluralistischen Bedingungen. Angesichts der durch Demokratisierung und Massenmedialisierung gewachsenen Öffentlichkeitsabhängigkeit der Politik wächst der Hang der Politiker, in Interviews und Reden sinnentleerte gängige Schlagwörter aneinander zu reihen, wie eine bolivianische Beispielsammlung zeigt (Pen˜a Cazas 1991, 99 ff.). Die durch Publikumsabhängigkeit zunehmende Tendenz zu Demagogisierung hatte die chilenische Literatur-Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral schon im Nachkrieg konstatiert: Das Publikum verlange dem Redner Schmeicheleien und Konzessionen ab, so dass er Überzeugungen mittels Lügengebäuden ´ lvarez A ´ lvarez 1995, 25). zusammenzimmere (zitiert nach A
13. Die Modernisierung von Stil und Rhetorik in der Literatur des 20. Jahrhunderts Die Literatur modernisierte sich in Rhetorik und Stil parallel zum politischen Diskurs. Der Modernismo um die Wende vom 19. zum 20. Jh. propagierte und praktizierte kompensatorisch eine angesichts fehlender realer Modernisierung rein literarisch-kulturelle, formal-ästhetische Modernität durch Adaptation des modernen Stils des französischen Symbolismus (Metaphorisierung, Symbolgebrauch, Musikalisierung, Erotisierung, Versinnlichung, Synästhesie), durch Sakralisierung des Künstlers und Übernahme der hauptsächlichen Personaltopoi der europäischen Fin-de-sie`cle-Literatur: des elitären Einzelgängers, des präraffaelitischen Frauentyps, der femme fatale, des de´cadent und des Bohemien. Die um den 1. Weltkrieg einsetzende historische Avantgarde säuberte radikal Lexik, Formensprache, Tropologie und Topoi-Register der Lyrik von romantischer Rhetorik. Traditionalistisch-akademische Strophik und Versifikation wurden durch die creationistische, realitätsentbundene Poetik des Chilenen Huidobro und den Freivers, die chaotische Enumeration und kumulative Metaphorik seines Landsmanns Neruda ersetzt. Beliebte romantische Musik-Metaphern wie Kammermusik, Lied und Folklore wurden durch moderne wie Jazzsaxofon, afrokubanischen Rhythmus, Tango argentino und brasilianischen Karnevals- und bossa-nova-Stil ersetzt. Die „vatermörderischen“ Avantgardisten riefen zum Kampf gegen Museen, Statuen und Kathedralen als Horte des Traditionalismus auf. Das literarische Manifest wurde in Brasilien mit Pau Brasil und dem Anthropophagischen Manifest zu einem spezifischem literarischen Genre und einer besonderen literarischen Rhetoriktradition: der „Antirhetorik“ (Stegagno Picchio 1995, 963). Modernistische Fin-de-sie`cle-Tropen und Figuren wurden durch Neologismen aus Wissenschaft, Technik, Sport, Industrie, Verkehr und Alltag, Pathos durch Nüchternheit, Schriftsprache durch Oralität, Normsprache durch Vulgär- und Fachsprache, Ideologie und Bewusstsein durch Unterbewusstsein und Triebhaftigkeit, Realität durch Traum verdrängt. Der Neue Roman der 60er und 70er Jahre brachte neue, heterogene Rhetoriken und Stile: den magischen Realismus Garcı´a Ma´rquez’ mit zyklischen Zeitstrukturen und Authentizitätstopoi; das „Real Wunderbare“ Carpentiers mit der zentralen Kontrapunktik Europa-Amerika; die metaphysische Phantastik des Südkegels von Borges, Sa´bato und Corta´zar, und den karibischen Neobarock (vgl. 4). Bevorzugte Stilmittel sind: Oxy-
123. Rhetorik und Stilistik in Lateinamerika
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moron, Paradox, chaotische Reihung, Abschweifung, Ironie, Intertextualität, Parodie, Metaliterarisierung, Allegorisierung (durch die kubanischen Originisten in Nachfolge der Bibelexegese des Origenes), Mischung von Phantastik und Dokument.
14. Globalisierungsrhetorik der Jahrtausendwende Die nationalistischen, populistischen und marxistischen Rhetoriken wurden durch den Nachkriegs-Diskurs der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Integration und Modernisierung Lateinamerikas ersetzt, der seinerseits gegen Jahrtausendende von der Globalisierungsrhetorik überrollt wurde. Der brasilianische Präsident Henrique Cardoso proklamierte in seiner programmatischen Rede in der UNAM-Universität von MexikoStadt 1996 die Ablösung der populistischen, marxistischen und nationalistischen Entwicklungs- und Wohlfahrtsstaats-Rhetorik mitsamt der dazugehörigen Topoi „Dependenz“, „Tricontinentalismus“ und „Sozialismus“ und verkündete stattdessen Globalisierung unter der Vorherrschaft der Finanzwirtschaft mit dem neuen Zentraltopos „Währungsstabilität“, eine Perspektive, die er in traditioneller lateinamerikanischer Hyperbolik als „Ära der Prosperität ohne Vorbild in der Geschichte der Menschheit“ und „neue Renaissance“ bezeichnete (zitiert nach Novy/Mattl 1999, 156 ff.). Die Übernahme der massen- und trivialmedialen Rhetorik von Radio, Film und Fernsehen spiegeln Literatur (Vargas Llosa, Manuel Puig, Fuentes) und Film (Solana) in kritischer Gegenrhetorik. Die „Onda“, eine mexikanische Literaturströmung der 60er Jahre, reproduzierte den „Pepsicoatl-Stil“ der „Antikultur“ der grosstädtischen Jugend mit ihrer eigenen Rhetorik von Jargon, Jeans-Kleidung und antifolkloristischer, universaler US-Pop- und Rock-Musik. Neben den Rhetoriken der politischen und kulturellen Eliten existiert eine Konversationsrhetorik des Alltags der Mittelschichten der Megastädte wie Buenos Aires, Mexiko, Säo Paulo und Caracas, die als Ergebnis politischökonomischer Integration und Beeinflussung durch die gleichen Massenmedien kaum noch nationale Unterschiede aufweist. Haupttopoi sind neue Generations-, Geschlechter- und Familienbeziehungen, Fernsehen, Filme, Konsumverhalten, Kaufrausch, Reklameslogans (Jordan 1997, 45 ff.). Früher übliche Frauenthemen wie Kindererziehung, Mode, Kochrezepte u. ä. sind stark zurückgegangen. In empirischen Untersuchungen zeigen sich globaler Lebensstil und globalisiertes Kommunikationsverhalten von Besitzern von Internetanschluss, Mobiltelefon und Videorecorder sowie die gleichen Schlagworte aus Politik, Medien und Unterhaltungselektronik wie in den Industrieländern. Als spezifisch lateinamerikanisch erscheint die häufige Verselbständigung der Rhetorik gegenüber dem Inhalt, die Freude am Reden und Kommunizieren mit starker Redundanz, variierender Wiederholung, Reihung von Synonyma und syntaktischen Parallelismen sowie das Überwiegen der Ausdrucks- gegenüber der Informations- und Persuasionsfunktion. Eine Mischung globaler mit regionaler Gesprächsrhetorik existiert auf dem Lande sowie unter der ärmeren, indigenen und indigensprachigen Bevölkerung. Deren traditionelles Redeverständnis und -vermögen demonstrieren Faltblätter der Bolivianischen Gewerkschaft indigen-mestizischer Dienstmädchen Fenatrahob von 1999 mit Verhaltensempfehlungen für Hausangestellte gegenüber ihrer weißen Dienstherrschaft. Diese handgezeichneten Comics mit Sprechblasen und geringem Textanteil sind in ihrer halbindige-
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XI. Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive
nen Rhetorik, der fast kindlichen Demut und dem Synkretismus von Bild und Schrift nahezu identisch mit der Beschwerdeschrift, die der peruanische Indio Huama´n Poma de Ayala vierhundert Jahre zuvor in Mischung von Quechua und Spanisch, handgemalter Bilderschrift und spärlichem Schrifttext an Philipp III. mit Vorschlägen für gutes Regieren im Stil von Cicero und Las Casas gesandt hatte. Die heutigen Redner (n˜e¨e iya) der Izocen˜o-Guaranı´ Boliviens (vgl. 3) als Bewahrer historischen Gedächtnisses verwenden angesichts der durch Moderne und Globalisierung veränderten Lebensumstände eine dualistische nostalgische Heute-Gestern-Rhetorik: Heute kleidet man sich, früher ging man nackt, heute hungert man, früher wurde man satt, heute arbeitet man für den Unternehmer, früher für sich selbst (Hirsch 1993, 354). Die Dorfgemeinden haben spezielle Redner für nationale und internationale Indigenenkongresse und -organisationen ernannt, was eine Anpassung ihrer Rhetorik an die wachsende nationale und internationale Integration zeigt.
15. Literatur (in Auswahl) Abbott, Don Paul (1996): Rhetoric in the New World. Rhetorical Theory and Practice in Colonial Spanish America. Columbia, South Carolina. ´ lvarez, Luis (1995): Estrofa, Imagen, Fundacio´n: La oratoria de Jose´ Martı´. La Habana. A Arias, Santa (2001): Bartolome´ de las Casas y la tradicio´n intelectual renacentista (Reto´rica, Historia y Pole´mica). Lanham/New York/Oxford. Ba´ez, Julia (1976): Panorama de la situacio´n indı´gena en el Paraguay. In: Casa de las Americas XVI, no. 95, 66⫺74. Barros, Sebastia´n (2002): Orden, Democracia y Estabilidad. Discurso y polı´tica en la Argentina entre 1976 y 1991. Co´rdoba (Arg.). Carbo´, Teresa (1995): El discurso parlamentario mexicano entre 1920 y 1950. Me´xico. Carpentier, Alejo (1981): La novela latinoamericana en vı´speras de un nuevo siglo. Me´xico. Castro, Julio (1883): Bolivar como orador. Quito. Garibay, Angel Marı´a K. (1953): Historia de la literatura nahuatl. Me´xico. Ferna´ndez Retamar, Roberto (1981): Para el perfil definitivo del hombre. La Habana. Gewecke, Frauke (1986): Wie die neue Welt in die alte kam. Stuttgart. Hirsch, Silvia Marı´a (1993): La oratoria entre los izocen˜o-guaranı´ de Bolivia, continuidad, innovacio´n y resistencia. In: Suplemento antropolo´gico, Asuncio´n, vol. 28, 1⫺2, 349⫺363. Jordan, Isolde J. (1997): Cohesio´n y reto´rica en la conversacio´n. Wilhelmsfeld. Jitrik, Noe´ (ed.) (1993): Las variables y el continuo. El discurso polı´tico en Me´xico. Me´xico. Lenkersdorf, Carlos (2002): Filosofar en clave tojolabal. Me´xico. Leo´n-Portilla, Miguel (1969): La filosofı´a nahuatl. Me´xico. Lienhard, Martin (1989): La voz y su huella. La Habana. Lo´pez Lopero, Liliana (2002): El Republicanismo y la Nacio´n. Un mapa reto´rico de las guerras civiles del siglo XIX colombiano. In: Estudios Polı´ticos, Medellı´n No. 21, 31⫺52. Moore, Charles B. (2000): El arte de predicar de Juan de Espinosa Medrano en „La novena maravilla“. Lima. Nieto Montesinos, Jorge (2000): Estudio Introductorio y seleccio´n zu Haya de la Torre o la politica como obra civilizatoria. Me´xico, 9⫺46. Novy, Andreas/Christine Mattl (1999): Globalisierung als diskursive Strategie und Struktur ⫺ das Beispiel Brasilien. In: Parnreiter, Christof/Andreas Novy/Fischer, Karin (Hrsg.): Globalisierung und Peripherie Umstrukturierung in Lateinamerika, Afrika und Asien. Frankfurt a. M., 151⫺ 167.
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Pen˜a Cazas, Waldo (1991): El lenguaje polı´tico en Bolivia. Guı´a para entender al oficialismo y a la oposicio´n. Cochabamba. Pe´rez Collados, Jose´ Marı´a (1998): Los discursos polı´ticos del Me´xico originario. Me´xico. Ricard, Robert (1966): The Spiritual Conquest of Mexico. An Essay on the Apostolate and the Evangelizing Methods of the Mendicant Orders of New Spain, 1523⫺1572. Berkeley. Rodrı´guez Rivera, Guillermo (1999): La otra imagen (Sobre la historia del tropo poe´tico). La Habana. Stegagno Picchio, Luciana (1995): O manifesto como ge´nero litera´rio: A tradic¸äo reto´rica ds manifestos modernistas brasileiros. In: Miscelaˆnea de estudos lingüı´stivo-filolo´gicos e litera´rios. In memoriam Celso Cunha. Rio de Janeiro, 963⫺973. Sullivan, Thelma (1974): The Rhetorical Orations, or Huehuetlahtolli, Collected by Sahagu´n. In: Munro S. Edmundson (ed.) (1974): Sexteenth Century Mexico: The Work of Sahagu´n. Albuquerque, 111⫺149. Todorov, Svetan (1985): Die Eroberung Amerikas Das Problem des Anderen. Frankfurt a. M. Französische Erstausgabe: (1982): La conqueˆte de l’Ame´rique. Le proble`me de l’autre. Paris: Editions du Seuil.
Hans-Otto Dill, Berlin und Hamburg (Deutschland)
XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I: zeitgenössische Lebens- und Diskursbereiche im Spiegel ihrer Äußerungen und Texte 124. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Erzählliteratur der Gegenwart 1. 2. 3. 4.
Stellenwert des Themas aus der Beobachterperspektive Die Historizität des Stils in der Erzählliteratur der Gegenwart Die Korrelation zwischen Erzählstrategie und Stilpraxis Literatur (in Auswahl)
Abstract The role of stylistic and rhetorical aspects in German narrative literature has been widely underestimated by contemporary narratology, in particular for the period from 1945 to the present (1) although studies on authors’ individual styles can be considered as an indirect reaction to the socio-cultural conditions and reflect the contemporary history of ideas (2). Since 1945, there has been a pluralisation in the choice of stylistic means for literary genres which make it difficult to speak of consistent and representative poetics. Depending on aspects such as generation and/or political issue, one can differentiate three main periods of development: (1) During the first period, the stylistic programs tried to define new kinds of writing for a new reality, either by imitating the laconic style of Hemingway or by experimenting with a dissociated “absolute prose” proposed by Gottfried Benn (3.1). (2) In the second period, which began in the 1960s, the concept of “litte´rature engage´e” lead to a documentary style which integrated political jargon, but also subjective reflections. At the same time, some writers took up a critical perspective on language: They accused language of being corrupted by an affirmative spirit and thus developed a kind of ‘negative’ stylistics of de(con)struction (3.2.2.1), while other writers (re-)discovered the richness of language patterns which they combined to form a hybrid and so-called “post modernistic” style (3.2.2.2). (3) After 1989, there has been a boom of journalistic style in narrative texts, but there were also tendencies to celebrate the autonomy of an artificial, elitist writing (3.3). Finally, the provocative role of literary rhetoric in the public intellectual discourse is illustrated by the work of Martin Walser dating from 1998 (3.4).
1.
Stellenwert des Themas aus der Beobachterperspektive
1.1. Narratologie Bei der literaturwissenschaftlichen Analyse der Erzählliteratur der Gegenwart spielt die Beschäftigung mit Fragen des Stils und der Rhetorik eine untergeordnete, mitunter gar
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verschwindend geringe Rolle. Die gängige Interpretationspraxis setzt ihre Schwerpunkte ebenso wie die einschlägigen Handbücher auf Erzählperspektiven und Diskurse; auf die Bedeutung stilistischer Merkmale für die Deutung eines Textes wird in Einführungen nur gelegentlich und pauschal verwiesen. Unter unscharfen Bezeichnungen wie „besondere Art der Sprachverwendung“ werden „außergewöhnliche Begriffe, Rekurrenzen, klangliche Strukturen, Satzbau“ zwar genannt (Corbineau-Hoffmann 2002, 170), aber nicht auf ihre rhetorischen Traditionen bezogen. Diese Symptomatik resultiert aus philologischen, soziologischen und nicht zuletzt literarischen Entwicklungen, die insbesondere den Zeitraum von 1945 bis heute betreffen. Nachdem die Germanistik in den beiden ersten Jahrzehnten nach dem Krieg dominiert wurde von der werkimmanenten, die Stilanalyse stark betonenden Methode eines Wolfgang Kayser (Das sprachliche Kunstwerk, 1948) oder Emil Staiger (Die Kunst der Interpretation, 1955), hat die Literaturwissenschaft den Stilbegriff in der Folgezeit wahlweise als zu subjektivistisch oder als zu normativ problematisiert und zugleich die Stilanalyse zunehmend der Linguistik überlassen. Hinzu kommt, dass eine Expansion des Stilbegriffs auf allgemeine Erscheinungen des Alltags stattgefunden und seine exklusive Kategorialität für (sprachliche) Kunstwerke aufgehoben hat (Gumbrecht 1986, 777). Für die Zeit nach 1945 gilt zudem in verschärfter Form, was die Literaturgeschichte bereits seit dem Sturm und Drang kennzeichnet: Die dichterische Sprache hat sich individualisiert und damit pluralisiert. Die Stilbeobachtung kann also nur auf die formalen Entscheidungen einzelner Autoren eingehen und deren persönliche Poetik zu einem bestimmten Zeitpunkt beschreiben. So ergeben sich für denselben Autoren mitunter Zugehörigkeiten zu unterschiedlichen Stilregistern. Gleichwohl sind in der Zusammenschau durchaus auch für die Gegenwart autorenübergreifende Tendenzen oder gar Schulen auszumachen. Sie lassen sich gemeinhin, wenn auch nicht durchgängig, als Reaktion auf bestimmte epochale Bedingtheiten, seien sie politischer, sozialer, kultureller oder auch religiöser Art, erfassen. Ein diesbezügliches Stilbewusstsein manifestiert sich gelegentlich in Überblicksdarstellungen zur Gegenwartsprosa, vor allem aber in Selbstauskünften der Schriftsteller; Peter Schneiders pointiertes Diktum, die „Erzählweise“ eines Romans verrate mehr über die Zeitgenossenschaft eines Autors als das Erzählte selbst (Schneider 1988, 55), bedürfte einer neuen Resonanz seitens der Germanistik. Das gilt selbst für Phänomene, die als „Stil der Stillosigkeit“ bezeichnet worden sind (Riha 1991, 176) und erst recht vor dem Hintergrund der zu beobachtenden Ausweitung des Stilbegriffs auf intermediale Ausdrucksformen, wie sie die elektronischen Medien fördern und fordern.
1.2. Literaturkritik Für den Stellenwert der Stilistik und der Rhetorik in der Literaturkritik der Gegenwart gelten ähnliche Verhältnisse und es ist durchaus anzunehmen, dass dies entsprechende Rückwirkungen auf die Rangordnung stilistischer und rhetorischer Fragen in der Produktionsästhetik hat. In einer wissenschaftlichen Handreichung zur Wertung von Literatur kommt die „ästhetisch/rhetorische Gestaltung der Sprache“, zu der Kategorien wie „Deutlichkeit“ versus „Verrätselung“, „Musikalität“ versus „Rhythmisierung“ und „Versifikation“ oder „Schlichtheit“ versus „Schmuck“ gezählt werden, lediglich in einem Schaubild vor und findet ansonsten keinerlei Erwähnung (Heydebrand/Winko 1996). Hier trifft die ansonsten zu pauschale Diagnose von einem „Rhetorikverbot der späten
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
Moderne“ zu, derzufolge der Ornatus als Kennzeichen bloßer Oberflächlichkeit in einer „Derhetorisierungs“-Bewegung seit 1900 stigmatisiert wurde (Spinnen 2001, 217 f.). Die Literaturkritik vermochte allerdings durchaus große Stilisten als solche zu benennen, nicht zuletzt in der Literatur der Jahrtausendwende, als Rückgriffe auf traditionelle Topoi nicht mehr unter ideologischen Verdacht gerieten. Implizit fließen stilistische Merkmale freilich nach wie vor in die Urteile der Rezensenten ein, zumal die Gegenwartsliteratur noch immer unter dem Erwartungsdruck der Moderne steht, innovativ zu sein und von der Alltagssprache abzuweichen, sei es durch besondere Simplizität oder durch besondere Komplexität. Signale ironischer Distanz werden positiv, Anzeichen effektheischenden Pathos’ als Kitsch negativ registriert (Gelfert 2004, 78; 82). In der jüngsten Generation der Schriftsteller wie der Kritiker zeichnen sich dabei widersprüchliche Veränderungen ab: Wird in Schreibschulen zunehmend ein marktorientierter Stil trainiert, der aus Kalkül heraus „leichte sprachliche Irritationen“ einsetzt (Kronauer 2003, 253), gerät der Stil ihrer Beobachter immer subjektiver und emotionaler. Darüber hinaus lässt sich für beide Bereiche eine Technisierung der Metaphorik konstatieren, in der von „Textaggregaten“ die Rede ist, von „dicht verschalteten“ Kunstwerken und „interventionsoffenen“ Kommunikationskanälen (Winkels 1995, 233).
2. Die Historizität des Stils in der Erzählliteratur der Gegenwart Die Zeitspanne, die hier als Gegenwart bezeichnet wird, beginnt mit der politischen Zäsur von 1945. Die Relevanz einschneidender historischer Daten wie das des Kriegsendes oder des Mauerfalls von 1989 lässt sich in den poetologischen Schriften unschwer bis in die stilistischen Entscheidungen der Autoren nachweisen. Etwas diffuser und meist nur implizit verhandelt werden dort die Auswirkungen soziokulturellen Wandels auf die Schreibweisen; dazu zählen vor allem die gesellschaftlichen Entwicklungen um 1968, die sich nicht zuletzt in einem neuen Umgang mit Sprache niederschlugen. Das dialektische Verhältnis zwischen Zeit- und Gattungsstil einerseits und dem Personal- und Werkstil andererseits ist dabei ebenso zu beachten (Weissenberger 1986, 44) wie die Bandbreite der Gattung selbst: Im Zuge der Postmoderne werden die Grenzen zwischen Erzählliteratur und Essayistik, zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen oftmals aufgehoben. Die Form des essayistischen Romans etwa galt als Ausweis einer reflektierten Wahrnehmung von Geschichte und Geschichten (Schneider 1988, 60).
2.1. Politische Bedingungen Der kulturelle Verbund der demokratisch verfassten Länder Österreich, Schweiz und Bundesrepublik, der durch Überschneidungen im Verlags- und Pressewesen über eine letztlich gemeinsame deutschsprachige Literatur verfügt, weist im berücksichtigten Zeitraum keine schwerwiegenden Verwerfungen seines literarischen Feldes auf. Einen Sonderfall stellt die Literatur der ehemaligen DDR dar, die bis 1989 einer restriktiven Literaturpolitik ausgeliefert war. Dazu gehörte auch die Vorgabe stilistischer Prinzipien, die aus dem ideologischen Wirkungsziel abgeleitet wurden. Mit der Zeit brachte dieser Druck jedoch gerade auch Strategien hervor, die über die Art und Weise der Sprachver-
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wendung subversiv zu wirken beabsichtigten. Ähnliche Ansätze gab es auch auf westlicher Seite, wo Stil von Beginn an als Medium der Kritik eingesetzt wurde. Nach Phasen der Politisierung war dann eine Privatisierung des Stils als Manifestation literarischer Autonomie zu beobachten. Dass mentalitätsbedingte Unterschiede zwischen den betreffenden Ländern bestehen, die sich zusätzlich auf die Schreibweisen auswirken können, liegt auf der Hand, kann in den Darstellungen von Abschnitt 3 allerdings nur am Rande berücksichtigt werden.
2.2. Soziokulturelle Bedingungen Die Präsenz stilistischer und rhetorischer Überlegungen und Traditionen in der Erzählliteratur der Gegenwart zeichnet sich zum einen durch die Koexistenz der vielfältigen und prinzipiell gleichrangigen Möglichkeiten aus. Zum Anderen aber sind Konjunkturen des Sprachgebrauchs festzustellen, in denen einzelne Stilrichtungen dominant, mitunter gar schulbildend werden. Oft ist diese Dynamik gekoppelt an einen generellen Sprachwandel, wie er sich in gesellschaftlichen Moden und habituellen Distinktionsinteressen zeigt. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist diesbezüglich geprägt vom sprachlichen Modernisierungswillen: Im Bereich der westdeutschen Literatur sind hier vor allem die stilistische Orientierung an amerikanischer und französischer Literatur, die Integration des populären bis vulgären Sprachgebrauchs und die Aneignung hybrider Textkonstruktionen der spezifisch westlichen Postmoderne zu nennen.
3. Die Korrelation zwischen Erzählstrategie und Stilpraxis Die Motivierungen und Ausprägungen stilistischer und rhetorischer Elemente in der Erzählliteratur der Gegenwart sind mannigfach. Die hier vorgenommene Gliederung kombiniert eine historische Phaseneinteilung mit thematischer Schwerpunktsetzung. Die Phasengrenzen sind fließend und sollen nicht den Eindruck erwecken, an ihnen fänden irreversible Paradigmenwechel statt. Es darf zudem nicht übersehen werden, dass über die Jahrzehnte hinweg auch ein konventioneller Erzählstil fortgeführt wurde, der den Großteil der Prosa beherrschte, aber programmatisch nicht in Erscheinung trat.
3.1. Nachkriegszeit 3.1.1. Transzendierender Stil Für die Nachkriegszeit ist insbesondere festzuhalten, dass neben den programmatischen Neuerungen durch die jüngere Generation eine Literatur existierte, deren Form im Vergleich als konservativ galt, wie etwa bei Heimito von Doderer oder Thomas Mann, dessen herausragendes Merkmal die Ironie war. Zum Teil waren die Texte zur Zeit des „Dritten Reichs“ entstanden und konnten erst nach der Befreiung erscheinen, waren also keine direkten Reaktionen auf die neue Schreibsituation. Gemessen an der Präsenz auf dem Buchmarkt spricht man für die Jahre nach 1945 von der „Vorherrschaft“ des ge-
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wählten Stils (Gelfert 2004, 79) mit dem Hang zur surrealen Überhöhung der Realität (Brenner 1997, 35). Um das gesamte Panorama zu umreißen ist der Vorschlag gemacht worden, die literarischen Verhaltens- und Schreibformen der Zeit auf zwei Tendenzen zu reduzieren und zu unterscheiden zwischen „Texten des Beschreibens“ und „Texte des Transzendierens“, was sich grob auch auf den Unterschied zwischen jüngerer und älterer Autorengeneration übertragen ließ: Das transzendierende Schreiben der älteren lässt sich stilistisch charakterisieren über seine allegorischen Züge, eine Sprache, die „reich durchgegliedert, absichtsvoll geistreich, ironisch gebrochen“ ist (Barner 1994, 38). Elisabeth Langgässer nannte ihre Art der Darstellung „Supranaturalismus“ (Kiesel 2004, 67; 90) und bezeichnete damit einen schwierigen Stil, der visionäre Elemente mit räsonnierenden kombinierte und einen religiös, ja manichäisch bestimmten Duktus pflegte. Von ihm setzten sich die nachstehenden poetologischen Programme unter anderem ab.
3.1.2. Programme des Nullpunkts In Westdeutschland firmieren die Jahre unmittelbar nach Kriegsende unter dem Schlagwort des „Kahlschlags“, das Wolfgang Weyrauch am Beispiel eines Gedichts von Günter Eich festgemacht hatte (in der von ihm herausgegebenen Anthologie Tausend Gramm, 1949). Auch junge Erzähler machten es sich zur Aufgabe, den Aufbau mit einer neuen Literatursprache zu begleiten und bei der Herausbildung eines kritischen Habitus mitzuwirken. Die Literatur „in der Entscheidung“ (Alfred Andersch) wurde emphatisch als „Trümmerliteratur“ (Heinrich Böll) bezeichnet und als Medium der Erneuerung aufgewertet. Die zentrale Herausforderung bestand darin, den Sprachgebrauch der Nationalsozialisten zu überwinden, wie er in den sprachkritischen Darstellungen Dolf Sternbergers (seine Serie Aus dem Wörterbuch des Unmenschen aus den Jahrgängen 1946⫺1949 der Zeitschrift Die Wandlung erschien als Buch 1957, weitere Verfasser waren Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind) oder Victor Klemperers (LTI [Lingua tertii imperii ], Notizbuch eines Philologen, 1947) festgehalten wurde. Unter dem Zeitdruck der Aufbaujahre wurden keine regelrechten Poetiken ausgearbeitet, sondern Programme, die vor allem in der Zeitschrift Der Ruf publiziert wurden: Gustav Rene´ Hocke forderte in Heft Nr. 7/1946 ein Schreiben, das die „reine Übereinstimmung von Aussage und Wirklichkeit“ einlöste und gegen jeden Verdacht, bloße „Kalligraphie“ zu sein, erhaben sei, sich also nicht in Symbolismen und Idyllen zurückziehe. Wolfgang Borcherts Kurzgeschichten setzten Maßstäbe, seine stilistischen Bekenntnisse wurden zum Vorbild: Borchert bevorzugte eine „iterative, knappe Parataxe“, forderte dazu auf, einen Baum Baum zu nennen und Signale des gehobeneren Stils wie den Konjunktiv oder Semikolons (aus ,Zeitgründen‘) zu vermeiden (Wehdeking/Blamberger 1990, 46 ff.). In den Werkstattgesprächen der frühen Gruppe 47 wurden diese Ansätze aufgegriffen und unter dem Aspekt der ,Sprachreinigung‘ angewendet. Ihr Gründer Hans Werner Richter insistierte aber darauf, dass die Gruppe 47 „keine Stilgruppe“ sei und keine eigene, einheitliche Produktionsästhetik vorlegen wolle. Mit der puristischen Abkehr von herkömmlichen Erzählmustern ging die Hinwendung zur internationalen Moderne einher, bei der insbesondere Hemingway und Faulkner stilprägend waren (Wehdeking 1988, 24), aber auch die deutsche Moderne des frühen 20. Jahrhunderts (Kiesel 2004).
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3.1.3. Programme des Realismus In West und Ost wurde die Nachkriegsliteratur von einem Realismus-Gebot dominiert: Im Westen war es Ausdruck einer Hinwendung zur Wirklichkeit der unmittelbaren Vergangenheit, im Osten als staatlich verordnetes Programm einer Hinwendung zum Aufbau des Sozialismus. Während der sozialistische Realismus als sowjetische Doktrin aus den dreißiger Jahren stammte und auf die Themenwahl aus der Arbeitswelt sowie auf einen volkstümlichen, identifikatorischen Stil mit schablonenhaften Schwarzweißmalereien zielte, differenzierte sich der Realismusbegriff im Westen ab den fünfziger Jahren stark aus. Zunächst leitete er sich aus Bölls Überlegungen zu einer „Ästhetik des Humanen“ ab, die sich auf das amerikanische Vorbild der Short Story konzentrierte und in der Sprache des Alltags ausschnitthafte Situationen aus der tatsächlichen oder metaphorischen Trümmerlandschaft der Nachkriegszeit vermitteln sollte. 1947 brachten die Autoren Alfred Andersch, Hans Werner Richter und Wolfdietrich Schnurre den Begriff des „Magischen Realismus“ in Umlauf, der sich vom Prinzip der „Wirklichkeitswiederholung“ distanzierte und ins Parabelhafte oder Lyrische (wie in Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung) tendierte (Barner 1994, 55 f.). Die Bandbreite der Konzepte realistischen Schreibens reichte dann von Autoren wie Siegfried Lenz oder Max Frisch, die an den „mittleren Prosastil“ der Neuen Sachlichkeit anschlossen (Trommler 1984, 194), bis zu den anspruchsvollen Programmen eines „Sprachrealismus“ bei Heinrich Vormweg und Helmut Heißenbüttel, die damit eher zur experimentellen Prosa (3.1.4) zu rechnen sind. Dazwischen standen die Konzepte von Martin Walser und Dieter Wellershoff. Walser griff 1965 in die Realismusdebatte mit einem Beitrag zum „Realismus X“ ein, der sich bevorzugt dem Theater zuwandte und für die Überwindung von Idealismen und Ideologismen warb. Unter dem Etikett eines „Neuen Realismus“ plädierte Wellershoff ab Mitte der sechziger Jahre für die Zersprengung linearen Erzählens und eine „Technik der Dissoziation“: Die Verteilung der Erzählperspektive auf mehrere Sprechrollen empfahl er als stilistische Reaktionsmöglichkeiten auf die besondere Beanspruchung der Sprachlichkeit menschlicher Existenz in einer „Bewusstseins- und Informationsindustrie“; die minuziöse Beschreibung des alltäglichen Lebens galt ihm ⫺ und seinem Zögling Rolf Dieter Brinkmann ⫺ als Möglichkeit, zur „Penetration der täuschenden Oberflächlichkeit“ (Bullivant 1990, 119). Solche Überlegungen standen unter dem Eindruck des französischen Nouveau Roman, der von Nathalie Sarraute und Alain Robbe-Grillet 1958 auch in einer deutschen Zeitschrift (Akzente) vorgestellt wurde und der realistische Konzepte nachhaltig irritieren sollte in seiner Absage an Linearität und Objektivität.
3.1.4. Experimentelle Prosa Anders als Wellershoff, dessen „Neuer Realismus“ (3.1.3) letztlich auf die Wirklichkeit und ihre Veränderung zielte, experimentierten Heinrich Vormweg und Helmut Heißenbüttel als „Sprachrealisten“ mit der Destruktion sprachlicher Konventionen. Sie standen damit in der Nachfolge des expressionistisch geschulten Gottfried Benn und seines Programms der „Absoluten Prosa“; darunter verstand Benn eine Prosa aus zusammenhanglosen Reflexionen und selbstbezüglichen Gedankensegmenten, die weder durch eine inhaltliche Kausalität noch durch formale Kohäsion das Innere darstellen sollten. „Momentan“ und „flächig“ lauten die impressionistischen Umschreibungen des entsprechen-
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den Stils. Neben Heißenbüttel ist Oswald Wiener zu seinen wichtigsten Rezipienten zu zählen, der die Sprache zu „verselbständigen“ suchte und grammatikalisch-syntaktische Ungenauigkeiten zum Prinzip erklärte, das den Leser zur Wahrnehmung des Chaos als Chaos veranlasse (Petersen 1988, 71 ff.). Sprachspiele prägen auch das Werk von Arno Schmidt, der ab den fünfziger Jahren eine phonetische Schreibweise entwickelt und über eine individuelle Art der Interpunktion die etymologischen Bestandteile der Wörter hervorhebt oder solche vortäuscht („Etym-Technik“). Bei ihm oder Ror Wolf ist zu beobachten, wie ein betont artifzieller Stil komische Effekte zeitigen kann, die sich aus der Dominanz der Form über den Inhalt ergeben. Peter Weiss münzt das kritisch um, indem er in überlangen Sätzen eine funktionslose Exaktheit vorführt und mit der akzentuierten Überdeterminiertheit dieses Sprechens das Objektivitätsstreben des ,bürgerlichen‘ Subjekts demontiert. Hermann Kinder hat über die innovative Prosa der fünfziger bis siebziger Jahre treffend bemerkt, dass sie bewusst gegen die Mimesis-Konvention verstoße und zentrale Kompetenzen aufgebe: darunter die „linguistische“ durch Abweichung von der Normalsprache bis zur Verweigerung der Verstehbarkeit sowie die „literarische“ durch Unterminierung der Kategorien „Werk“, „Gattung“ und „Handlung“ (Kinder 1994, 249 ff.).
3.2. Literatur der sechziger bis achtziger Jahre Die stilistische Programmatik der deutschsprachigen Autoren entwickelte sich in den Folgejahren vor einer doppelten Herausforderung: Zum einen wurde der Wirklichkeitsbegriff problematisiert, zum anderen empfand man aber die Notwendigkeit, sich als Schriftsteller in eben dieser Wirklichkeit zu engagieren. Daraus ergaben sich zwei Schreibhaltungen, die hier unter den Schlagworten Authentizität versus Artifizialität abgehandelt werden sollen.
3.2.1.
Programme der Authentizität
3.2.1.1. Dokumentarischer Stil Die Selbstverpflichtung einiger Schriftsteller auf kritische Stellungnahmen zum politischen Geschehen war häufig gekoppelt an Überlegungen, wie der sprachliche Ausdruck am geeignetesten in den Dienst des Engagements zu stellen wäre. 10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt legte Peter Weiss 1965 vor und promovierte dabei die Form des „Rapports“ zum Paradigma gegenwärtigen, über sich selbst und den politischen Standpunkt Auskunft gebenden Schreibens. Sein Stil zeichnet sich durch apodiktische Strenge und karge Rhetorik aus; „größtmögliche Präzision“ sei zu erreichen, um mit der eigenen Meinung durchzudringen. Der Ton führte bereits auf die politisierte Literatur um 1968 hin, deren Profil auch der an Adornos Diktion geschulte Hans Magnus Enzensberger mitbestimmte. Er betrachtete die dokumentarische Literatur als Gebot der Stunde, warb in seinem Essay Gemeinplätze die Neueste Literatur betreffend gleichwohl für die Verwendung eines heterogenen Stils, der sich sowohl lyrischer Bildersprache als auch plattem Alltagsjargon bedienen könne. Er integrierte marxistische Begrifflichkeiten und verwendete eine aggressive Rhetorik, unterschied sich dabei aber von der eindimensionalen „revolutionären Gebrauchsliteratur“ (Balzer u. a. 1988, 329 ff.). Sein Roman über
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das Leben des Anarchisten Durutti markierte 1972 den Höhe- und Endpunkt des dokumentarischen Ansatzes in der Prosa. Er versammelt Spuren eines Lebens im sprachlichen Material aus der schriftlichen wie mündlichen Überlieferung; daraus entsteht eine Collage von Reportagen und Reden, Briefen und Flugblättern etc. mit den jeweils textsortenspezifischen Stilen, denen der Leser in harter Fügung ausgesetzt ist. Wo sich die politisierte Literatur als sprachliche Sackgasse erwies und in leerem Pathos der Losungen zu erstarren schien, entwickelte sich eine dokumentarische Literatur, die ihren Gegenstand aus der konkreten Anschauung persönlicher Erfahrung schöpfte. Es entstanden eine Reihe von Chroniken des Alltags, aber auch Berichte über das Schreiben selbst. Markante Beispiele dafür sind Peter Handkes Arbeitsjournale (Die Geschichte des Bleistifts, 1982), die spontane Aufzeichnungen zweckfreier Wahrnehmungen versammeln und mit poetologischen Reflexionen kombinieren. Schon 1964 hatte Jürgen Becker in einem Angriff auf den literarischen Status quo das Journal als Möglichkeit ins Spiel gebracht, um den Roman zu verabschieden (Hensing 1988).
3.2.1.2. Subjektiver Stil Über das Notieren hinaus gewann die Erzählliteratur neues Interesse an der Darstellung der Subjektivität und des Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft. Stilistisch wirkte sich das sowohl in der Bevorzugung der ersten Person Singular als auch in einer stärkeren Akzentuierung individueller Stile aus, die ⫺ wie etwa in Christa Wolfs paradigmatischem Text Nachdenken über Christa T. (1975) ⫺ als Signal des Authentischen eingesetzt wurden. Was zeitgleich auch in der Bundesrepublik zu einem vorherrschenden Schreibmuster wurde, war in der DDR im Hinblick auf die Doktrin des sozialistischen Realismus von einer erhöhten Brisanz. So standen auch Ulrich Plenzdorfs saloppe Formulierungen oder formale Strategien wie Polyperspektivismus oder Rückzug der Autorinstanz im Widerspruch zur politischen Vorgabe. Gerade Plenzdorf arbeitete in kein runter, kein fern (1978) den Kontrast von Propaganda und Realität als sprachliche Differenz heraus. Er stellte provokativ fünferlei Idiolekte nebeneinander: Zunächst die sozialistische Propagandasprache, charaktisiert durch formale Perfektion, einen großen Wortschatz, schmückende Beiwörter und zielsichere Slogans und Appelle, daneben eine primitive Jugendsprache des Ich-Erzählers, die sich durch verkürzte Endsilben im Berliner Dialekt, unvollständige und agrammatische Sätze sowie die Wiederholung von Werbesprüchen oder Fäkalausdrücke ausweist, dazu die Sprache der Eltern, die Fachterminologie des Schulleiters sowie schließlich die allgegenwärtigen Aufschriften und Anweisungen (Scheitler 2001, 307). Die Konterkarierung der offiziellen und affirmativen Sprache war auch Thema in Martin Walsers Frankfurter Poetikvorlesungen 1980 unter dem Titel Selbstbewußtsein und Ironie, in der er den subjektiven und subversiven Faktor der Ironie akzentuierte und sie als „Negationsinstrument“ zum schriftstellerischen Mittel kritischer Partizipation in der Demokratie erklärte (Luckscheiter 2004).
3.2.2.
Programme der Artiizialität
3.2.2.1. Destruktiver Stil Während einerseits die stilistischen Möglichkeiten für die Rekonstruktion individueller Realitäten ausgelotet werden, liegt andererseits der Schwerpunkt der Gegenwartsliteratur auf der Entlarvung des Uneigentlichen. Bei Ingeborg Bachmann geht die Suche nach
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einer authentischen Sprache einher mit der Dekonstruktion des Erzählens. Die UndineErzählung ist ein Musterbeispiel dafür, wie der Alltagsstil in seinen leeren Phraseologismen und Ideologemen vorgeführt wird ⫺ hier als „Gaunersprache“ ⫺, um auf der Ebene der Erzählung durch einen märchenhaften Ton oder eine ausgeprägte eigene, „private“ Metaphorik die Sprache als Widerstandskraft bewusst zu machen. In Bachmanns Roman Fall Franza (1978) geschieht das durch eine Lichtmetaphorik, die den Hell/Dunkel-Kontrast in seinen positiv/negativ-Konnotationen umwertet. Das zentrale Dilemma und Thema dieser Literatur ist der Zwang, dieselbe Sprache wie die gehasste Zivilisation benutzen zu müssen, um sie zu entlarven. Fragmentarische Sätze, erratische Monologe oder scheiternde Briefentwürfe stehen dabei für eine tiefgehende Sprachskepsis und die Gefahr des Schweigens (Göttsche 1987, 186 ff.). Ein radikaleres Verfahren der Sprachkritik hat Bachmanns Landsmann Thomas Bernhard entwickelt, der in seinen Erzähltexten einen unverwechselbaren Stil der Destruktion anwendet. Auf der lexikalischen Ebene fallen Destruktionskomposita wie „Zugrunderichtung“ oder „Absterbenslandschaft“ (in Der Untergeher) auf. Auf der syntaktischen herrscht das Prinzip der Repetition vor, mit dem durch sukzessive Substitution des Vorangehenden bei gleichzeitiger Repetition und Reiteration seiner Elemente die Auslöschung und Ablösung von Sprache durch ihre Varianten betrieben wird (Gleber 1991, 90). Im Titel seines Romans Korrektur verbirgt sich die dem entsprechende rhetorische Figur der correctio, mit der antithetisch auf Gesagtes reagiert wird (Hoesterey 1988, 170).
3.2.2.2. Hybridstil Im Bemühen, den herkömmlichen Sprachgebrauch zu überwinden, ergeben sich ab den sechziger Jahren komplexe Textgebilde, die sich vom Anspruch, eine vertraute Wirklichkeit möglichst genau abzubilden, dezidiert entfernen und stattdessen die eigene Wirklichkeit der Sprache und Phantasie ausloten. Das führt zu einem neuen Interesse am Surrealen und Absurden wie etwa bei Alfred Kolleritsch, dessen Stilmerkmal in der Aufhebung von Kohärenz liegt. Günter Grass steht für einen barocken Erzählgestus, der auch als „Sprachinszenierung“ bezeichnet worden ist (Jurgensen 1992, 54). Auffallend ist seine überbordende Bildlichkeit, die bereits in den Tiernamen seiner Romantitel zum Ausdruck kommt. Das Spiel mit Stilelementen des Märchens soll den kritischen Blick für die Bilderwelten des Medienalltags schärfen, die Verknüpfung mehrerer Erzählebenen das Gedankenspiel einer „Vergegenkunft“ umsetzen. Ist Grass von der aufklärerischen Funktion des literarischen Stils überzeugt, so betont Peter Handke auf dem Fundament romantischer Traditionen die Gegenwart des Mythos. Ab den siebziger Jahren weisen seine Erzähltexte neben den Merkmalen der Subjektivität eine das Gewöhnliche transzendierende Sprache auf, die sich syntaktisch wie lexikalisch manifestiert: in Sätzen von bis zu 15 Zeilen Länge und in religiösen Assoziationen über mythisch-mystische Pathosformeln oder biblische Anklänge. Stilprägend ist in Handkes Lehre der Sainte-Victoire die lauretanische Litanei der katholischen Kirche, der die häufig auftretenden metaphorischen Anrufungen („Erzählung, mein Allerheiligstes“) entsprechen (Scheitler 2001, 198). Unter der Prämisse, dass komplexe Verhältnisse komplexe Darstellungen verlangen, stehen die Texte des aus der DDR stammenden Erzählers Uwe Johnson in einer Spannung zwischen mimetischer und artifizieller Sprache. Seine Texte speichern eine Vielfalt der Töne und Stimmen, verfügen über einen hohen Grad an Dialogizität und Intertextualität und arbeiten mit Andeutungen und Aussparungen, Schnitten und Sprüngen. John-
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sons Prosa pendelt zwischen dem Lakonismus einer durchgängigen Parataxe und den Verfremdungseffekten einer eigenwilligen Metaphorik. Das gilt selbst für seine im Stil einer Chronik und eines Tagebuchs abgefassten Jahrestage, die durch die Montage von Dokumentmaterial einerseits Authentizität signalisiert, andererseits diese aber durch eine artifzielle Mündlichkeit durchbricht. Stil- und Strukturanalysen weisen Johnson als rhetorisch überaus sensiblen Sprachkünstler aus (Mecklenburg 1997). Vor dem Hintergrund der DDR-Erfahrungen und des verordeneten Realismus bekamen Stilüberlegungen einen existenziellen Charakter. Daher sind hybride Texte wie Leben und Abenteuer der Trobadora Beatrix (1974) von Irmtraud Morgner oder Flugasche (1981) von Monika Maron nicht nur im diskursiven Horizont der weiblichen Subjektivität von Bedeutung, sondern auch in ihrer Dimension einer freiheitlichen Textpraxis: Pastiches von zitierten Sprechweisen und Textsorten, ironische Ambivalenzen, Rückgriffe auf groteske und phantastische Elemente aus der romantischen Tradition stellen stilistische Ordnungen in Frage und sind sogleich Herausforderungen an die politischen Ordnungen. Im Westen bedeutete die stilistische Hybridisierung der Erzähltexte weniger ein politisches als ein geschichtsphilosophisches Zeugnis. Der Postmoderne-Diskurs, in dessen Wirkungsradius die neuen Poetologien zu verorten sind, ging von einem kulturellen Zustand aus, der sich nicht mehr linear fortentwickeln würde, sondern dem alle Traditionen, eben auch stilistische, gleichzeitig zur Verfügung stünden. Die moderne Technik der Intertextualität wurde auf die Spitze getrieben; stilistische Übernahmen und Anspielungen aus der klassischen Erzählkunst, die Koexistenz altertümlicher und moderner Begriffe und der forcierte Einsatz rhetorischer Mittel (wie Alliterationen, Adjektivhäufungen, Synästhesien, Superlative, Vergleiche, neue Wortzusammensetzungen) oder rhetorischer Figuren der Ordnung (Anaphern, Parallelismen, parataktische Asyndeta, Wiederholungen) gerieten wie etwa im Fall von Patrick Süskind geradezu zum Markenzeichen eines neuen literarischen Epochenbewusstseins, das auch als „Wiederkehr des Erzählens“ bezeichnet worden ist (Förster 1999). Dabei ging es vor allem darum, die Authentizitätsansprüche des Realismus in Frage zu stellen. Vor allem gegenüber der Geschichtsschreibung brachten die postmodernen Autoren ihre Skepsis zum Ausdruck und imitierten historiographisches Schreiben in fiktiven Biographien, wie Wolfgang Hildesheimers Marbot-Roman belegt. Diese Romane greifen „durch ihre (hyper-)realistischen Beschreibungen auf illusionistische Tendenzen zurück, desillusionieren diese aber zugleich, indem sie durch stilistische Mittel ⫺ etwa eine manieristische Bildlichkeit, einen parodistischen Gebrauch von Hyperbeln ⫺ Distanz schaffen (Förster 1999, 166).
3.2.2.3. Filmstil Die Thematisierung der Medialität von Weltwahrnehmung macht sich ab den sechziger Jahren verstärkt in den Experimenten intermedialen Erzählens bemerkbar. Die Tagebücher Rolf Dieter Brinkmanns repräsentieren die Ausweitung des Konzepts einer „visuellen Prosa“ in der Nachfolge Arno Schmidts durch Montage von Bildmaterial (Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Träume, Aufstände/Gewalt/Morde. Reise Zeit Magazin. Die Story ist schnell erzählt (Tagebuch), postum erschienen 1987). Seine auffälligsten Stilmittel sind lexikalischer Natur: Brinkmann integriert Produktnamen und Fachtermini in die Literatursprache; Grenzen zur Umgangssprache oder zu vulgärem Sprechen werden konsequent überwunden, weshalb man ihm eine „hohe Amplitude der Stilfärbung“ attestiert hat (Breuer 2003). Der Schweizer Reto Hänny vollzieht auf der Ebene der Syntax die Bewegung einer Kamera nach: der Satzbau übernimmt die
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Rolle der bewegten Kamera, die als wahrnehmendes Auge durch die Räume führt, seine Interpunktion ist „filmisch“, weil Kommas Ecken im Raum bezeichnen, an denen der Blick die Richtung wechselt, und Strichpunkte für „Schwenks“ stehen (Weber 1997, 111). Ähnliches gilt auch für den DDR-Autor Fritz Rudolf Fries, der in seinem Roman Die Väter im Kino Begriffe wie „nah“, „halbtotal“ etc. für die Wiedergabe von Wahrnehmungen des Beobachters gebraucht. Der angestrebte Effekt ist die Distanzierung von identifikatorischem Erzählen (Weber 1997, 121).
3.3. Literatur der Jahrtausendwende 3.3.1. Journalistischer Stil Unter dem Druck der historischen Veränderungen dominierte im Wendejahr zunächst der dokumentarische Stil (Reimann 2001). Zu beobachten war eine neue Konjunktur protokollarisch und essayistisch gehaltener Texte, die vor dem offenen Horizont der weiteren Entwicklung die darstellerischen Vorteile der offenen Form nutzten. Die gesellschaftliche Funktion des Schriftstellers als Intellektueller brachte zudem eine Vielzahl von Interviews und öffentlicher Reden hervor, in denen sich einige Autoren insbesondere ostdeutscher Provenienz auch als politische Rhetoren hervortaten. Insgesamt kann man die stilistischen Erscheinungsformen dieser Zeit unter dem Aspekt des „journalistischen“ Stils subsumieren, der auch im Westen bedient wurde. Literarische Texte von Publizisten wie Matthias Matussek oder Matthias Horx wiesen Elemente des sogenannten „SpiegelStils“ auf, also eines anspruchsvollen Journalismus in Orientierung am Wochenmagazin Der Spiegel, der teilweise eine ironische Distanz pflegt. Die Kritik wertete das mitunter als Manko und warf den Autoren eine allzu „glatte, routinierte Schreibe“ vor (Schütz 1997, 64). Stilistisch auffallend sind vor dem journalistischen Hintergrund auch die Kolumnisten Maxim Biller und Max Goldt. Hat sich der erste einen Namen gemacht durch sarkastische und zynische Texte, die zwar „dialog- und prädikationsintensiv“ sind, deren rhetorisches Repertoire aber „beschränkt“ ist, so steht der zweite Name für Chroniken des grotesken Alltags, deren Stil die Register des Plaudertons ebenso beherrscht wie die der Reflexion und daher sowohl assoziative als auch aphoristische Passagen aufweist (Schütz 1997, 69 ff.).
3.3.2. Rhetorik der Euphorie und archivarische Nüchternheit Indem die Darstellung von Zeitgeschichte verstärkt in die Literatur nach 1989 gelangte, wurde stilistischen Fragen eine neue Bedeutung beigemessen: Es galt, sich neu mit Sprache auseinanderzusetzen, was ihre diktatorische Instrumentalisierung in der Vergangenheit der DDR einerseits und den unterschiedlichen Sprachgebrauch in Ost und West andererseits betraf. Friedrich Christian Delius erzählt in Die Birnen von Ribbeck (1991) die Geschichte einer Sprachfindung und führt vor, wie aus dem unter der Herrschaft der Zensur eingeübten inneren Monolog öffentliche Rede wird. Das sich im ungewohnten öffentlichen Sprechakt neu konstituierende Selbstbewusstsein wird dargeboten in einer „rhetorischen Euphorie“ des Erzählers, der keine Punkte kennt und unersättliche Objektreihungen mit einem skeptisch-prophetischen Ton im Hinblick auf kommende Verän-
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derungen kontrastiert (Fischer 2001, 151 f.). Burkhard Spinnen hat in einer Besprechung von Georg Kleins Roman Libidissi (1998) konstatiert, dass der „Lakonismus als lingua infranca der späten Moderne“ überwunden sei. Er kündigt Kleins Roman geradezu bekenntnishaft als ein „durch und durch rhetorisches Buch“ an, das sich um den Reichtum sprachlicher Gestaltung verdient mache und zu einer „Repatriierung“ vergessener Topoi und Vokabeln beitrage (Spinnen 2001, 217 ff.). Dabei handelt es sich jedoch eher um auffällige Einzelleistungen als um einen Trend. Einen partikularen Sprachpatriotismus vertritt Botho Strauß, der seit den achtziger Jahren für die Rückbesinnung auf das stilistische Potential eines Hölderlin oder Rudolf Borchardt hinweist. Mit der Rückbesinnung auf ihre widerspenstige Sprache verfolgt er die Idee von der Kunst als „Zentrum der Gegenkommunikation“ (Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, 2004). Jüngere Autoren pflegen dagegen um die Jahrtausendwende einen Stil, der gerade die Lakonie melancholischer Beobachtung zum existenziellen Habitus erhebt. In der Pop-Literatur der zweiten Generation herrscht ein nüchtern-registrierender Stil vor: Man spricht von einem katalogisierenden Realismus, von den „Archivisten“ der Warenwelt.
3.3.3. Der Schritsteller als Rhetor Eine rhetorische Sonderrolle kommt der Funktion des Schriftstellers als Intellektuellem zu. Sie ist bisher ausgeblendet worden, weil es sich hierbei nicht mehr um den genuinen Gegenstandsbereich der Erzähltextanalyse handelt und eine Vielzahl von Autoren von Heinrich Böll über Christa Wolf bis Peter Handke und Adolf Muschg noch einmal unter ganz anderen Koordinaten zu berücksichtigen wären. Für die Jahrtausendwende ist jedoch ein Name hervorzuheben, der gerade im Beharren auf dem spezifisch dichterischen Ausdruck im Rahmen der öffentlichen Rede für Aufmerksamkeit bis hin zum Skandal gesorgt hat: Martin Walser. Nachdem er in dem Roman Ein springender Brunnen (1998) das erfolgreiche Experiment unternommen hat, die Erinnerung einer fiktiven Figur an das Dritten Reich in einer Sprache zu entwickeln, die nicht bereits vom historischen Wissen des danach Schreibenden ,verfälscht‘ ist, problematisierte Walser in seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998 die Idee eines kollektiven Gedächtnisses. Die provokante Verwendung tabuisierter Begriffe legitimierte er im Nachhinein als subjektive Mitteilung. Die ambivalente Rhetorik, mit der er die „Schwierigkeiten beim Verfassen einer Sonntagsrede“ zu rechtfertigen suchte, war diejenige eines öffentlichen Selbstgesprächs (Nölle 2004). Die sich daran anschließende „Walser-Debatte“ machte die Abhängigkeit rhetorisch-stilistischer Entscheidungen auch der dichterischen Rede von den Regeln der medialen Resonanz geradezu lehrstückhaft deutlich.
4. Literatur (in Auswahl) Balzer, Bernd/Horst Denkler/Hartmut Eggert/Günter Holtz (1988): Die deutschsprachige Literatur in der Bundesrepublik Deutschland. München. Barner, Wilfried (Hrsg.) (1994): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München. Brenner, Peter J. (1997): Nachkriegsliteratur. In: Horst A. Glaser (Hrsg.): Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte. Bern/Stuttgart/Wien, 33⫺57.
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Roman Luckscheiter, Heidelberg (Deutschland)
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125. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Lyrik der Gegenwart 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Allgemeines Vorgeschichte bis 1945 Rhetorische und stilistische Verfahren und Elemente im Gedichttext Rhetorische und stilistische Strategien der Gedichtpräsentation Rhetorik und Stilistik als Thema und Methode in Autorenpoetiken und Lyrik-Ratgebern Rhetorik und Stilistik in der literaturwissenschaftlichen und literaturkritischen Auseinandersetzung mit Lyrik 7. Forschungslage 8. Literatur (in Auswahl)
Abstract Until the 18 th century, poetry and poetics depended on the system of rhetoric. There have also been significant influences of rhetoric on poetry in the past 250 years, but the attention of literary criticism has neglected them up to now. In their reconstructions of the methods of producing a poem, authors like Poe, Vale´ry, Majakowski, Brecht, Enzensberger, and Rühmkorf have re-invented the principles of rhetoric. German poets of today, as far as they keep up the form of poems, use a lot of rhetorical figures and methods. Rhetorical and stylistic techniques can also be found in the modes of publishing poems and of presenting them in public, e.g. in readings or poetry slams.
1. Allgemeines Das Verhältnis von Lyrik, Rhetorik und Stilistik ist von der Antike bis heute geprägt von Inkongruenzen und Ungleichzeitigkeiten. Die Rhetorik und die Stilistik (welche lange Zeit vor allem als deren für den Bereich der Elocutio zuständiger Teilbereich angesehen wurde) waren für die Versdichtung sowie für die Verständigung über diese nur konstitutiv, solange es noch keinen einheitlichen Gattungsbegriff ,Lyrik‘ gab, also bis ins späte 18. Jahrhundert. Sobald man jedoch einen emphatischen, die Produktion wie die Rezeption von Verstexten lenkenden Begriff von Lyrik entwickelt hatte, trat die Bedeutung der Rhetorik für poetische Texte und für die Rede über sie stark zurück zugunsten der neuen Disziplinen Ästhetik, spekulative Poetik, allgemeine Hermeneutik sowie Literaturwissenschaft. Unter ,Lyrik‘ wird hier dem heutigen Sprachgebrauch gemäß die literarische Gattung verstanden, die alle Gedichte umfasst. Ein Gedicht ist eine mündliche oder schriftliche Rede in Versen, also ein Text, der durch zusätzliche Sprechpausen oder Zeilenbrüche von der normalen rhythmischen oder graphischen Erscheinungsform der Alltagssprache abgehoben ist; darüber hinaus ist ein Gedicht kein Rollenspiel, also nicht auf szenische Aufführung hin angelegt (vgl. Burdorf 1997, 20 f.; etwas abweichend Lamping 1993, 23). Das Definiens ,Rede in Versen‘ zeigt bereits die Nähe der Lyrik zur Rhetorik an. Dage-
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gen ist der Einfluss der Stilistik auf die Produktion und Rezeption von Lyrik gering. Das liegt vor allem daran, dass seit der Emanzipation der Poetik und der Stilistik von der Rhetorik im Verlauf der Frühen Neuzeit (vgl. Asmuth 1991) die Stilistik fast ausschließlich als Lehre zum Verfassen und Beurteilen kunstgerechter Prosa verstanden wird. Bis heute gilt daher: Lyrik orientiert sich entweder an der Rhetorik, oder sie wendet sich von dieser zugunsten eigener Maßstäbe oder des Ideals völliger Regelfreiheit ab; eine Orientierung der Lyrikproduktion an der Stilistik, einzelnen Stillehren oder Stilidealen ist während ihrer ganzen Geschichte nicht festzustellen (zu Ausnahmen s. 4.1 und 6.1).
2. Vorgeschichte bis 1945 2.1. Antike, Mittelalter und Frühe Neuzeit (bis 1750) Die Lyrik vor 1750 weist eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit der Rede im engeren Sinne auf (vgl. Asmuth 2001, Sp. 694): In beiden Sprachformen artikuliert sich meist ein einzelner Sprecher, der sich häufig an ein direktes Gegenüber, ein Du, richtet, und zwar in der Regel in kunstvoll gestalteter Sprache. Weniger die unmittelbare Handlungsfolgen anstrebende politische und gerichtliche Rede als vielmehr der Bereich der Epideixis kann als Schnittmenge zwischen beiden Bereichen angesehen werden: Gottes- und Herrscherlob, die Feier von Geburten und Hochzeiten, der Ausdruck von Trauer sowie individuelles, familiäres, berufliches und gesellschaftliches Gedenken an Personen und Ereignisse sind typische Funktionen sowohl der epideiktischen Rede als auch von Gedichtformen wie Hymne, Enkomion oder Epitaph. Aristoteles, von dem sowohl eine Poetik als auch eine Rhetorik überliefert ist, betrachtet beide Disziplinen als komplementär (vgl. Fuhrmann 1992, 7⫺15): Fragen der „Gedankenführung“ (dia´noia) würden in der Rhetorik abgehandelt, heißt es lapidar in der Poetik (1456a; Übers. Fuhrmann, 61). Das schon bei Aristoteles begegnende Nebeneinander verschiedener, entweder formal oder inhaltlich definierter Genres ist für das in den Poetiken entfaltete Verständnis dessen, was wir heute zusammenfassend ,Lyrik‘ nennen, bis zum 18. Jahrhundert charakteristisch (vgl. Behrens 1940; Scherpe 1968); dennoch wird im Folgenden vereinfachend auch für diese Jahrhunderte von ,Lyrik‘ gesprochen. Erst bei römischen Autoren findet sich die Engführung von Lyrik und Rhetorik, so von Seiten der Poesie bei Ovid (vgl. Curtius 1984, 75), von Seiten der Rhetorik bei Cicero: „Der Dichter […] steht dem Redner nahe, etwas gebundener im Rhythmus, aber freier in der Ungebundenheit der Sprache; in vielen Formen schmückender Gestaltung ist er gar sein Gefährte und ihm fast gleich“ (De oratore [55 v. Chr.] I 70; Übers. Merklin, 81 ff.). Umgekehrt stellt Quintilian im 10. Buch seiner Institutio Oratoria (95 n. Chr.) „praktische Ratschläge“ zusammen, „wie der zukünftige Redner durch die Lektüre ausgewählter Poesie und Prosa einen guten, eigenen Stil erlangen kann“ (Behrens 1940, 23). Im Verlauf des Mittelalters werden Rede, Gedicht und Gesang christlichen Zwecken untergeordnet; dabei schöpfen die Autoren weiterhin aus dem in der Antike ausgebildeten Repertoire von Sprach- und Ausdrucksformen, Bildern und Topoi, modifizieren es aber und differenzieren es weiter aus (vgl. Curtius 1984, 158⫺168; Asmuth 2001, Sp. 708⫺711).
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In der Frühen Neuzeit knüpfen die Poetiken wieder direkter an die antiken Vorbilder an. Zuweilen treten sie explizit als Verteidigungsreden auf (Joachim Du Bellay: Deffence et illustration de la langue Franc¸oyse, 1549; Philip Sidney: Defence of Poesie, 1595; vgl. noch Vormweg 1990). Georg Philipp Harsdörffer (1653, Vorrede) sieht „Poeterey und Redkunst“ als Schwesterkünste an, von denen „keine sonder die andre gelehret / erlernet / getrieben und geübet werden“ könne. Bereits Martin Opitz (1624, Kap. 5, 26⫺ 34) überträgt Ciceros These, jede Rede setze sich aus einem Gegenstand und dessen Formulierung (aus res und verba) zusammen (De oratore III 19), sowie die daraus abgeleiteten rhetorischen Arbeitsschritte Inventio, Dispositio und Elocutio auf die Dichtung. Diese Überzeugungen werden konsequent in die poetische Praxis umgesetzt, so dass die Barocklyrik in jeder Hinsicht rhetorischen Vorgaben und Mustern folgt: durch Aneinanderreihung von Topoi, antithetische Technik, emblematische Struktur sowie extensive Anwendung von Tropen und Figuren (vgl. Meid 1986, 30⫺41). Das Ideal der Lyrik ist weiterhin die gelungene Nachahmung von Vorbildern; damit gilt sie uneingeschränkt als lehr- und lernbar. Zugleich ist sie jedoch der Gefahr ausgesetzt, die Ausdrucksseite zu überfrachten und so gegen das Ideal der Angemessenheit zu verstoßen. Aus diesem Grund wird die Dichtung des späten Barock schon von Zeitgenossen als „Schwulst“ abgewertet; Friedrich (1964, 545; vgl. auch 598⫺619) spricht in Bezug auf die italienische Barocklyrik des Manierismus von einer „Überfunktion des Stiles“. Dem Vorwurf des Manierismus sieht sich bis heute jede Form der Lyrik ausgesetzt, die sich an rhetorischen Mustern orientiert.
2.2. 17501945 Stark von rhetorischen Maßstäben geprägte Lyrik wird noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts produziert (Barthold Hinrich Brockes, Johann Christian Günther). Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache (Schneider 1965) gelingt Friedrich Gottlieb Klopstock durch den Ausdruck ungezügelter Emotionen in freirhythmischen Hymnen. Klopstock und seinen Anhängern wird von der gegnerischen Seite (Johann Christoph Gottsched) „Rückfall in den Barockschwulst“ (Schneider 1965, 35) vorgeworfen. Das Leitbild der 1760⫺1773 veröffentlichten Ossian-Dichtungen James Macphersons markiert für die Autoren des Sturm und Drang (Johann Gottfried Herder, Gottfried August Bürger, Johann Wolfgang Goethe) eine vermeintlich authentische, nordeuropäisch-,germanische‘ Dichtung, die sich von der griechisch-römischen, auch mit der zeitgenössischen kulturellen Dominanz Frankreichs assoziierten Rhetorik weit entfernt. Die seit Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelten Disziplinen Ästhetik (Alexander Gottlieb Baumgarten; Georg Wilhelm Friedrich Hegel), spekulative Poetik (Friedrich Schlegel), allgemeine Hermeneutik (Friedrich Schleiermacher) sowie Literaturwissenschaft (August Wilhelm Schlegel) stellen neue Paradigmen bereit, welche die überkommene Orientierung an der Rhetorik als überflüssig, ja der Entwicklung der Poesie hinderlich erscheinen lassen. Johann Adolf Schlegel vertritt die These, Lyrik sei ein „Ausdruck nicht nachgemachter, sondern wirklicher Empfindungen“ (Batteux/Schlegel 1751, Bd. 1, 368, Anmerkung), und verabschiedet damit jede Orientierung der Lyrik an Nachahmungsästhetiken, Regelpoetiken und der Rhetorik. Die Gefühlsästhetik als vermeintlich der Lyrik allein angemessenes Paradigma behält im deutschen Sprachraum bis hin zu Emil Staigers Theorie des Lyrischen ihre dominante Position. Verbunden ist sie mit der Aufwertung
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des formal einfachen ,Volksliedes‘ gegenüber allen komplexeren Gedichtformen. Selbst Immanuel Kant (1790, B 217) bewegt sich in diesem kategorialen Rahmen, wenn er die Dichtung als höchste Kunst auszeichnet und die Rhetorik als sekundär und parasitär abtut: „Ich muß gestehen: daß ein schönes Gedicht mir immer ein reines Vergnügen gemacht hat, anstatt daß die Lesung der besten Rede eines römischen Volks- oder jetzigen Parlaments- oder Kanzelredners jederzeit mit dem unangenehmen Gefühl der Mißbilligung einer hinterlistigen Kunst vermengt war“. Allerdings gibt es zugleich Gegentendenzen wie den an der antiken Logik und Rhetorik geschulten Rationalismus der Frühromantik (Friedrich Schlegel, Novalis) oder die Entdeckung und Etablierung des Genres der populären, rhetorisch wie ästhetisch geschliffenen Vorlesung über Kunst (August Wilhelm Schlegel, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Hegel, Schleiermacher). Literaturwissenschaftlich noch unerschlossen ist die Vorlesung über das Verhältnis der Beredsamkeit zur Poesie von Adam Müller (1816, 337⫺350). Während des 19. Jahrhunderts wird die Orientierung der Lyrik an Verfahrensweisen der Rhetorik vor allem außerhalb des deutschen Sprachraums aufrechterhalten. Edgar Allan Poe erläutert in seinem Essay The Philosophy of Composition (1846) den vorgeblichen Herstellungsprozess seines Gedichts The Raven anhand rhetorischer Kategorien: Ausgangspunkt sind Überlegungen zur auf die Wirkung beim Leser zielenden Funktion des Gedichts; es schließen sich Gedankengänge zur Textentstehung an, die an den Arbeitsschritten Inventio, Dispositio und Elocutio orientiert sind. Diese technizistische Poetik wirkt über ihre emphatische Rezeption bei Charles Baudelaire auf die europäische Diskussion zurück. In der Literaturwissenschaft erweitert Wilhelm Scherer den Begriff der Poesie um kunstvolle Formen ungebundener, gewöhnlich als prosaisch angesehener Rede wie Briefe und Reiseberichte. Gegenstandsbereich der von ihm skizzierten Wissenschaft „Rhetorik Poetik Stilistik“ ist ganz allgemein die „Kunst der Rede“ (Scherer 1888, 27). Ein entscheidendes Moment ist für ihn die mündliche Realisierbarkeit aller Rede (also auch aller Poesie), wodurch die rhetorischen Arbeitsschritte Memoria und Actio zu konstitutiven Bestandteilen der Poetik gemacht werden. Der Lyriker Arno Holz fordert, die poetische Produktion als technischen Vorgang zu verstehen: „Man revolutioniert eine Kunst […] nur, indem man ihre Mittel revolutioniert. Oder vielmehr, da ja auch diese Mittel stets die gleichen bleiben, indem man ganz bescheiden nur deren Handhabung revolutioniert.“ (Holz 1899, 23) Die auffälligste Neuerung bei Holz ist die Anordnung der Gedichtzeilen um eine „unsichtbare Mittelachse“ (Holz 1899, 29), also die Zentrierung der Verse, die wahrnehmungsphysiologisch begründet wird. In seinem Werk Dafnis (1904), der Parodie auf eine barocke Gedichtsammlung, lässt sich Holz ganz auf die am stärksten rhetorisch geprägte Phase der deutschen Lyrik ein. Gleichzeitig mit Holz stilisiert Stefan George seine Gedichte durch eigenwillige Interpunktion und weitgehende Kleinschreibung zu Kleinodien, die nur einem exklusiven Publikum zugänglich sind. Die wirkungsästhetische Ausrichtung der Produktion von Poesie und Prosa verstärkt sich dagegen in den Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, für die das Manifest zu einem der wichtigsten Genres und die Deklamation und oftmals auch die szenische Lesung von Gedichten zu zentralen Artikulationsmedien werden (Else Lasker-Schüler, Dadaismus). Paul Vale´ry entwickelt unter Rückgriff auf Poe und etwa gleichzeitig mit Ezra Pound ein differenziertes Konzept von Poesie, die als ein zu erzeugender Zustand der „poeti-
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schen Erregung“ (Vale´ry 1928, 45) verstanden wird und zugleich als eine höchst rational zu handhabende Technik, als „eine Art Maschine“ (Vale´ry 1939, 169), diesen Zustand herbeizuführen. Schroff setzt sich Vale´ry von Versuchen ab, Form und Inhalt der Poesie voneinander zu trennen und damit die Poesie auf eine nur durch eine Art musikalisches Beiwerk verzierte Variation der Prosarede zu reduzieren (vgl. Vale´ry 1935, 80). Die Mittel, welche die antike Rhetorik zur Analyse der Tropen und Figuren bereithält, kritisiert er als zu grob, als „die völlig verlassenen Spuren“ einer „sehr unvollkommenen Analyse“ (Vale´ry 1935, 86). Eine andere Form der Wiederannäherung von Lyrik und Rhetorik findet sich in Gedichten und in der publizistischen Praxis marxistischer Schriftsteller zwischen den Weltkriegen. Wladimir Majakowski begründet und beschreibt in seinem Essay Wie macht man Verse? (russisch 1926) zunächst allgemein die Praxis seiner poetischen Produktion, um sich dann auf den Entstehungsprozess seines Gedichtes An Sergej Jessenin zu konzentrieren. Ziel des Autors ist es, „die Dichtung nicht als Müllabladeplatz für Antiquitäten ⫺ Jamben, Trochäen, Sonette usw. zu traktieren, sondern als lebendigen Produktionsprozeß“ (Majakowski 1926, 146). Angesichts der bei Autoren seit dem späten 19. Jahrhundert geradezu topischen Abgrenzung gegen die rhetorische und formorientierte Tradition der Lyrik verblüffen die Parallelen, die der Essay zu rhetorisch orientierten Poetiken aufweist. Insbesondere die Funktionsorientierung ist bei Majakowski, für den der „gesellschaftliche Auftrag“ (Majakowski 1926, 44) am Anfang jeder Gedichtproduktion steht, viel konkreter ausgeprägt als bei Poe. Der Arbeitsschritt der Inventio wird als Erstellung eines poetischen „Notizbuchs“ (Majakowski 1926, 50) vorgeführt, die Dispositio als „architektonischer Plan“ (Majakowski 1926, 78) des Gedichts veranschaulicht und visualisiert sowie die Elocutio unter durchgehender Polemik gegen hergebrachte Versmaße am Leitbegriff des Rhythmus vorgeführt (Majakowski 1926, 66 ff.). Im deutschen Sprachraum entwickelt Bertolt Brecht ebenfalls eine zugleich technisch und gesellschaftskritisch orientierte Konzeption von Lyrik. Er fordert, bei der Untersuchung von Lyrik deren „Gebrauchswert“ (Brecht 1927, 191) in den Mittelpunkt zu stellen. In dem Aufsatz Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen begründet er, warum viele seiner Gedichte „keinen regelmäßigen, aber doch einen (wechselnden, synkopierten, gestischen) Rhythmus haben“ (Brecht 1939, 358). Brechts aus der Theaterpraxis gewonnener Begriff des Gestus wird auch für die Lyrik produktiv gemacht, die damit stets in ihrer performativen Dimension vorgestellt wird. Dass die Präferenz für „unregelmäßige Rhythmen“ für Brecht nicht wie für Majakowski die Ablehnung aller Traditionen der Lyrik bedeutet, erhellt nicht nur aus der Formenvielfalt seiner lyrischen Produktion, sondern auch aus einem um 1953 entstandenen Text, in dem Brecht den Verlust der „Beschäftigung mit den Alten“ und den Verfall des „Wissen[s] von den Gattungen“ beklagt (Brecht 1964, 270).
3. Rhetorische und stilistische Verahren und Elemente im Gedichttext Auch in der Lyrik seit 1945 lassen sich rhetorische und stilistische Verfahren nachweisen, allerdings in sehr unterschiedlichem Maße und großenteils ohne expliziten Bezug auf rhetorische Traditionen und Theorien.
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Besonders auffällig ist die rhetorische Orientierung von jeher in der politischen und gesellschaftskritischen Lyrik. Hier kann das ganze Gedicht als eine Art versifizierte Gerichts- oder Parlamentsrede gestaltet werden. So lassen sich in Hans Magnus Enzensbergers Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer (1957) etliche Merkmale einer Rede ausmachen (rhetorische Fragen, Apostrophen und Imperative, Anaphern und Antithesen). Erich Frieds An einen lyrischen Dichter gerichtetes Gedicht (1977) trägt die Redestruktur nicht nur im Titel, sondern ist sogar redeähnlich aufgebaut, mit einem die Redesituation konkretisierenden Exordium und einem Hauptteil, in dem sich Passagen der Narratio (Leiden der Unschuldigen) und der Argumentatio (Vorwurf an den keinen Widerstand gegen Unrecht leistenden Dichter) zweimal abwechseln, bis der Text in einer der Peroratio vergleichbaren Pointe kulminiert. Außerhalb der politischen Lyrik spielen rhetorische Tendenzen und Bezüge zwischen 1945 und 1980 meist nur eine untergeordnete Rolle. Das gilt jedoch nicht für Ernst Jandl, dessen Lyrik durchgehend rhetorisch geprägt ist. Manche seiner Bände lassen sich geradezu ⫺ dem praktizierenden Englisch- und Deutschlehrer Jandl angemessen ⫺ wie rhetorische Lehrbücher lesen, in denen besonders Wortfiguren wie Anapher, Parallelismus, Ellipse, Paronomasie und Polyptoton systematisch erprobt werden. Dass diese Texte als Partituren angelegt sind, die auf die Aufführungspraxis durch den Autor hindrängen (man denke besonders an Gedichte wie ode auf N oder wien : heldenplatz; Jandl 1966, 31⫺33, 37), verstärkt die Nähe zur Rhetorik. Ein hohes Maß an rhetorischer Reflektiertheit ist auch in den meist komischen Gedichten Robert Gernhardts zu beobachten. Ein poetologisches Gedicht wie Komm, erstes Wort (1981) thematisiert die frühen Stadien jeder Textproduktion, den Übergang von Inventio und Dispositio zu Elocutio. Die Anredesituation und die Tendenz zum mündlichen Vortrag prägen zahlreiche von Gernhardts Texten. Das Gedicht Nachdem er durch Metzingen gegangen war (1987), das schon im Titel durch den narrativen Gestus und die Selbstbezeichnung des Sprechers in der dritten Person Singular an barocke Traditionen anknüpft, weist außer zahlreichen rhetorischen Figuren die Struktur eines Emblems aus Inscriptio, Pictura und Subscriptio auf. Seit den 1980er Jahren wird eine Rückwendung zur Formtradition (Bormann 1984; vgl. auch Hartung 1984) in der deutschsprachigen Lyrik konstatiert, während im französischen Sprachraum ⫺ man denke an die Alexandrinersonette Michel Houellebecqs (La Poursuite du Bonheur, 1997; dt.: Houellebecq 2000) ⫺ die Formtradition nie abreißt. Damit einher geht die Wiederkehr der Figur des Poeta doctus (Barner 1981; Leeder 2002), etwa bei Marcel Beyer, Thomas Kling, Michael Lentz, Joachim Sartorius und Raoul Schrott oder bei gelehrten Dichterinnen wie Ulrike Draesner, Barbara Köhler und Brigitte Oleschinski. Wohl keiner dieser Autoren stellt seit Mitte der 1990er Jahre einen so expliziten Bezug auf antike und damit auch auf rhetorische Traditionen her wie Durs Grünbein (Nach den Satiren, 1999). Korte (2004, 120⫺123; 210⫺214) hat gezeigt, dass Grünbeins Gedichte dieser Phase keineswegs eine platte Nachahmung des antiken Formenrepertoires versuchen, sondern sich ⫺ Brecht und Heiner Müller folgend ⫺ die hergebrachten Formen flexibel aneignen, dass aber diese „Rhetorik des Wissens“ (Korte 2004, 120) bei aller Virtuosität in Manierismus, artifizielle Vergleiche und Effekthascherei abzugleiten droht. Rhetorische Strukturen finden sich auch bei Lyrikern der Gegenwart, die weniger im Mittelpunkt der kritischen Rezeption stehen. So kann der Band Jahrhundert der Ruhe (2003) des Schweizer Autors Armin Senser als eine Sammlung lyrischer Reden und Nach-
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rufe gelesen werden. Der an Gernhardt geschulte Thomas Gsella konstruiert als polemische Volte gegen die Popliteratur eine Generation Reim (2004) und stellt die Leistungsfähigkeit der Topik bei der Inventio des Gedichtzyklus Mein Schreibtisch (Gsella 2004, 70⫺74) unter Beweis, ebenso wie Jan Wagner in seinen achtzehn pasteten (2007), die in ebenso vielen Gedichten zubereitet werden. Ann Cottens Fremdwörterbuchsonette (2007) sind durch den frühneuzeitlichen Petrarkismus inspiriert, aber nicht weniger durch die heutige populäre Kultur sowie die Erfahrung der Fremdheit der deutschen und der englischen Sprache; Ausdrucksmittel wie eine schwer durchschaubare konzentrische Anordnung, die mehrfache Doppelung und Spiegelung jedes Sonetts sowie die Übersteigerung der rhetorischen Fragen in Shakespeares Sonnet XVIII („Shall I compare thee to a summer’s day?“) durch eine argumentierende Reihe führen vor Augen, wie rhetorische Ordnung und sprachexperimentelle Verwirrungstechniken konvergieren und überraschende Effekte hervorbringen können. Rhetorisch geschulte Lyrik findet sich ferner bei Urs Allemann, Ulrich Johannes Beil, Franz Josef Czernin, Oswald Egger, Gerhard Falkner, Katharina Hacker oder Ulf Stolterfoth.
4. Rhetorische und stilistische Strategien der Gedichtpräsentation 4.1. Kontexte und Paratexte Ein Gedicht ist wie eine Rede, eine Kurzgeschichte oder ein Aphorismus in vielen Fällen ein eher kurzer Text, der in sich zumeist relativ abgeschlossen ist. Dennoch steht es nie ganz für sich allein, sondern ist in Kontexten und Paratexten situiert, die vom Autor oder anderen Personen und Institutionen (Lektor, Redaktion, Verlag) gezielt arrangiert wurden und die Rezeption des einzelnen Textes lenken. Diese Techniken der produktionsästhetischen und distributiven Kontextualisierung konzentrieren sich meist auf das schriftliche Medium in allen seinen sinnlichen Dimensionen; man kann sie Stilisierungstechniken nennen. Entscheidende Bedeutung kommt bereits der gewählten Schriftform zu, die entweder als Handschrift (Manuskript), als Schreibmaschinenschrift (Typoskript) oder als Druckschrift realisiert sein kann; hinzu kommen heute durch Lichttechnik ermöglichte temporäre Projektionen sowie elektronische Entsprechungen von Schrift. In der Regel werden Gedichte zunächst mit der Hand, seit dem späten 19. Jahrhundert (z. B. bei Friedrich Nietzsche) auch mit der Schreibmaschine geschrieben und danach separat, in Periodika und Anthologien, oder in Gedichtbänden eines Autors gedruckt. Stefan George und Rainer Maria Rilke fertigen parallel zu den Drucken Reinschriften ganzer Gedichtbände oder einer Auswahl aus ihren gesammelten Gedichten an, die sie entweder als ein Original mit dem Anspruch besonderer Dignität selbst verwahren oder einer herausgehobenen Adressatin überreichen. Solche Handschriften können dann wieder in Faksimile-Ausgaben gedruckt werden. Dieser Vorgang kann als Stilisierung des Bandes und seiner einzelnen Gedichte interpretiert werden, die offenbar voraussetzt, dass die Abbildung der Handschrift, in der sich (je nach Qualität der Reproduktion) Papierwahl, Schreibgerät (stilus) und Linienführung erkennen lassen, dem Leser eine größere Nähe zum Autor und zum Produktionsprozess ermöglicht als der gedruckte Text. Stilisierung ist jedoch auch durch Drucktypen möglich. Am bekanntesten ist die im Auftrag Georges entwickelte, seine Handschrift nachahmende Schrift, die in vereinfachter Form
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heute noch in jeder Nachdruckausgabe seiner Gedichte verwendet wird. Wird dagegen das Typoskript, womöglich sogar mit Korrekturen, abgedruckt, so wird das Provisorische des entstandenen Gedichttextes hervorgehoben. In seltenen Fällen erscheint ein Gedicht völlig oder weitgehend separat, z. B. Mommsens Block von Heiner Müller (1993), und wird dadurch, sofern es wie das genannte Beispiel eine gewisse Länge hat, selbst als eine Art Monument präsentiert. Abdrucke im Feuilleton von Zeitungen heben dagegen die Aktualität und Alltagstauglichkeit, zugleich auch das Transitorische von Gedichten hervor, ebenso wie Experimente mit Gedichten auf Plakatwänden und Gratispostkarten oder Gedichtbüchlein in Süßwarenautomaten. Gerade die zuletzt genannten Versuche setzen ein hohes Maß rhetorischer Reflexion auf die Funktion, Distribution und Wirkung von Gedichten voraus. Häufiger ist die Zusammenstellung von Gedichten zu Gruppen, meist durch die Autoren selbst, zuweilen auch durch Herausgeber, Lektoren und Redakteure von Zeitschriften und Anthologien. Zu unterscheiden sind einerseits die lockere Gruppierung zu einem Ensemble von Texten, das leicht wieder aufgelöst werden kann und dessen Bestandteile neu kombiniert werden können, und andererseits die Komposition von (oft durchnummerierten) Zyklen und ganzen Gedichtbänden. Anspruchsvolle Formen der Zyklenbildung stammen meist aus Zeiten, in denen Lyrik noch unbezweifelt rhetorisch geprägt war. Eine der komplexesten ist der Sonettenkranz, der von Gegenwartsautoren auf strenge, ironische oder experimentelle Weise realisiert wird (Jan Wagner: görlitz, 2004; Antonio Fian: Rondo, 2005; Anne Carson: Possessive Used As Drink (Me), 2007). Anthologien und Lyrik-Zeitschriften (Park, Das Gedicht) versuchen durch thematische Schwerpunktsetzungen, durch Auswahl und Anordnung der Gedichte festzulegen, was in der Gegenwartslyrik wichtig ist; die Zeitschrift Bella triste (2007) forciert das durch Beigabe eines goldenen Leporellos, auf dem die Auswahl der im Heft vertretenen Lyriker durch deren gezeichnete Porträts kanonisiert wird. Der eigene Gedichtband ist heute das Telos der Gedichtproduktion eines Autors, während die spätere Publikation Gesammelter Gedichte schon ein vorweggenommenes Ende (etwa aus Anlass des 60. Geburtstages oder eines frühen Todes wie bei Thomas Kling) signalisiert. Eine vorzeitige Selbstmonumentalisierung durch einen Band mit dem Titel Gedichte. Bücher I⫺III (2006) ist symptomatisch für einen Autor wie Grünbein. Wichtig ist, in welchem Kontext der Gedichtband erscheint: im Selbstverlag, in einem Kleinverlag oder in einem der großen literarischen Verlage. Alle Verlage versuchen mit verschiedenen Mitteln, den oft mäßigen Verkauf von Lyrikbänden zu verbessern. Es kann viel Lyrik zum kleinen Preis in einen Band gesteckt werden (so Wolf Wondratschek und Robert Gernhardt bei Zweitausendeins); Lyrik kann als selbstverständlicher Teil in die Hardcover- und Taschenbuchreihen eingebunden sein; sie kann aber auch eigene, meist programmatisch und gestalterisch ambitionierte Reihen bilden. Diese Reihen und Formate ⫺ so wird die noch ausstehende Forschung zu diesem Komplex nachzuweisen haben ⫺ prägen die Präsenz von Lyrik in der Gegenwart, und zwar nicht nur durch ihre Buchhandelspräsentation in der Wahrnehmung der Rezipienten. Sie beeinflussen vielmehr auch die inhaltliche Gestaltung der Bände bis in die Länge der Gedichte und Verse hinein: Während überdurchschnittlich lange Verse in der edition suhrkamp bis zur Unlesbarkeit zerteilt werden, wird für sie bei anderen Verlagen das Format verbreitert. Fordert die Reihe Dumont Lyrik durch ihre Monumentalität (aufwendig gebundene Bände im ebenso das Buch schützenden wie den Leser abweisenden Pappschuber) Lyrikbände grö-
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ßeren Umfangs, so wird mit den kleinformatigen, schmalen Lyrikreihen der Verlage kookbooks und zu Klampen suggeriert, Lyrik sei die kleine Form schlechthin. Mit dieser Produktions- und Rezeptionslenkung üben die Verlagsformate ⫺ wenn auch meist nur für begrenzte Zeit ⫺ eine Funktion aus, wie sie etwa im 17. Jahrhundert den Ordnungssystemen der Rhetorik, Emblematik und Topik zukam. Als Vorläufer und damit als Bindeglied zu den alten Systemen können die buchhändlerischen Strategien des späten 18. Jahrhunderts mit ihren verschiedenen Formaten und Ausstattungsqualitäten angesehen werden. Wichtig ist ferner, ob die Gedichttexte für sich allein stehen oder ob sie durch Paratexte (Erläuterungen, Kommentare, Vor- oder Nachworte des Autors oder eines anderen) und Abbildungen ergänzt sind. In der Gegenwart ist dem Buch zuweilen eine Audio-CD mit vom Autor gelesenen Gedichten beigegeben ⫺ so bei Thomas Kling, Albert Ostermaier oder Steffen Jacobs. Diese Doppelung der medialen Präsentationsformen ist von der unabhängigen (nachträglichen oder auch parallelen) Erstellung von Hörbüchern zu unterscheiden. Man kann in ihr einerseits ein Vertrauen in die adäquate akustische Umsetzung des gedruckten Textes durch den Autor erkennen, andererseits aber auch ein Misstrauen gegenüber der Leistungsfähigkeit der bloßen Schrift. In jedem Fall ist der Vorgang nicht nur medientheoretisch, sondern auch rhetorisch (als Beitrag zur Frage nach der Wirkung und den zu deren Erzielung notwendigen Mitteln) aufschlussreich.
4.2. Präsentationsormen und mediale Einbindungen Die seit 1945 wichtigste nichtschriftliche Präsentationsform von Lyrik ist die Dichterlesung, häufig mit anschließendem Publikumsgespräch (vgl. Böhm 2003). Wie die Rede über Lyrik (s. 5.1) erfordert die Lesung vom Lyriker rhetorische Kompetenzen. Allerdings werden fast immer bereits vorliegende (veröffentlichte oder noch unveröffentlichte) Gedichte vorgelesen, so dass die drei schriftlichen Stadien der Redeherstellung stark zurücktreten, nämlich sich auf eine reduzierte Dispositio im Sinne der Textauswahl beschränken. Auch die Memoria ist nicht zentral, da die Gedichte in der Regel nicht frei vorgetragen werden. Vielmehr kommt hier alles auf die Actio oder Pronunciatio an, die Kunst, Texte effektvoll vorzutragen. Denn was für den Lyriker nur eine Lesung unter vielen auf einer langen Tournee sein mag, ist für den Zuschauer das ⫺ je nachdem euphorisierende oder enttäuschende ⫺ Erlebnis dieses Dichters schlechthin, gilt doch der öffentliche Vortrag eigener Werke gerade bei Lyrik mehr noch als das eigene Buch als wichtigste Präsentationsform von Literatur. Eine in Bezug auf Gegenwartslyrik eher seltene, meist auf kanonisierte Autoren (Hölderlin; Rilke) beschränkte Form der Präsentation ist das öffentliche Vorlesen oder freie Rezitieren (,Sprechen‘ im emphatischen Sinne) von Gedichten anderer, das durch professionelle Schauspieler oder enthusiasmierte Laien praktiziert wird. Hier fällt der Aspekt weg, der Autorenlesungen mit den meisten Reden verbindet: dass der Autor zugleich Actor ist; es gelten allein die Regeln der Schauspielkunst. Über die Lesung eines einzelnen Lyrikers hinausgehende öffentliche, halböffentliche oder geschlossene Veranstaltungen kombinieren häufig die Lesungen mehrerer Autoren mit Kritik und Diskussion. Die früheste institutionelle Form solcher größeren Veranstaltungen waren die Tagungen der Gruppe 47, auf denen unpublizierte Texte aller Gattungen vorgetragen und ⫺ von anderen Autoren sowie von professionellen Kritikern ⫺ bewertet wurden (mit der Maßgabe, dass der Autor nicht zu der Kritik Stellung nehmen
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durfte). Dabei fand die Lyrik ⫺ man denke an die medienwirksame Verleihung des Preises der Gruppe an Ingeborg Bachmann 1953 ⫺ immer wieder starke Beachtung. Die teilweise in Wort- und Bildaufzeichnungen überlieferten Diskussionen der Gruppe dokumentieren eine enge Verzahnung von Dichtungspräsentation und kritischer Rhetorik. Impulse der Gruppe 47 trug Walter Höllerer durch die Organisation von ⫺ auch über Rundfunk und Fernsehen verbreiteten ⫺ Lesungen und Diskussionen sowie die Gründung von Publikationsreihen in die Westberliner und bundesdeutsche Öffentlichkeit der 1960er Jahre; man hat darin die Erfindung des Literaturbetriebs gesehen (Böttiger 2005). Waren die Tagungen der Gruppe 47 Agon und Event zugleich, so fallen diese Formen heute meist auseinander: Harmlosen Eventcharakter haben die meisten Poesiefestivals, Lyriktage oder Lyriksommer, für welche die Kombination von Lesungen (manchmal verteilt auf verschiedene Standorte, bis hin zu ,Dichtern auf den Bäumen‘), Lyrikkritik, meist in Form von Podiumsdiskussionen, und Reden über Lyrik charakteristisch ist. Einen viel stärker ausgeprägten agonalen Charakter (und damit größere Parallelen zu Grundsituationen der öffentlichen Rede, etwa im Parlament oder vor Gericht) haben die sich seit einigen Jahren in zahlreichen Städten und bis hin zu eigenen Fernsehsendungen verbreitenden Poetry Slams, auf denen der Bezeichnung zum Trotz zwar auch Prosatexte vorgetragen werden, für die aber lyrische Texte mit ausgeprägten rhythmischen Strukturen besonders geeignet sind, da es darum geht, in einem kurzen Auftritt die Aufmerksamkeit und die Gunst des Publikums für sich zu gewinnen, das gerade nicht auf einen bestimmten Autor gewartet hat. Eine wichtige Funktion kommt neben den festen Regeln dieser Veranstaltungen dem Versammlungsleiter zu. In vielerlei Hinsicht lässt sich der Poetry Slam als heutige Form des Dichterwettstreits ansehen, wie er bis auf die Meistersinger zurückzuführen ist. Daneben tritt Lyrik in der Gegenwart häufig in Kombination mit Musik auf, die zuweilen der Begleitung oder Ergänzung von Lesungen dient. In Popsongs und Raptexten lässt sich die gesungene oder rhythmisch gesprochene Lyrik nicht mehr aus der Kombination mit der Musik herauslösen. In diesen aktuellen, meist nicht mit einem Kunstanspruch, sondern überwiegend zu kommerziellen Zwecken oder aus einer in der Jugendkultur oder einzelnen Subkulturen verankerten Protesthaltung heraus produzierten Texten kommen Mittel der lyrischen Sprache gehäuft zum Einsatz, denen in der Sprechund Leselyrik der Gegenwart nur noch eine untergeordnete Bedeutung zukommt: insbesondere Figuren der Wort- und Lautwiederholung und -variation wie Reim, Alliteration, Assonanz, Paronomasie oder Figura etymologica. Alle genannten Präsentationsformen von Lyrik können heute auch in auditiven (Radiosendungen und Hörbücher von Lesungen), audiovisuellen (Lyrikfestivals und Poetry Slams im Fernsehen) sowie elektronischen und interaktiven Medien (Lyriksites im Internet) wiedergegeben und weitergeführt werden. Inwieweit sich durch die neuen medialen Entwicklungen die Formen der Interaktion zwischen Lyrik und Rhetorik verändern, lässt sich noch nicht absehen.
5.
Rhetorik und Stilistik als Thema und Methode in Autorenpoetiken und Lyrik-Ratgebern
5.1. Reden über Lyrik Fast alle Lyriker ⫺ jedenfalls die mehr oder weniger erfolgreichen unter ihnen ⫺ treten auch als Redner auf, schon aus dem pragmatischen Grund, dass Lob- und Dankreden
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zum unabdingbaren Ritual anlässlich der Verleihung literarischer Preise gehören und Literaturpreise eine wichtige Einnahmequelle von Lyrikern sind. Ähnliches trifft für Vorträge und Vorlesungen zu, die im Zusammenhang literarischer Stipendien oder Poet-inResidence-Aufenthalten gehalten werden; erst recht gilt es für die Vorlesungen, die im Mittelpunkt der Poetik-Dozenturen stehen. In den meisten Fällen wird die Lyrik selbst in diesen Texten zum Thema. Der Ausgangspunkt fast aller öffentlichen Reden über Lyrik im deutschen Sprachraum nach 1945 ist Gottfried Benns Rede Probleme der Lyrik (Benn 1951a; zu Benn als epideiktischem Redner vgl. Burdorf 2007). In einem rhetorisch effektvollen, keineswegs besonders originellen, sondern eigene mit übernommenen Gedankengängen geschickt collagierenden Text entwickelt Benn ein antiromantisches, rationales, an der abendländischen Moderne geschultes Verständnis von Lyrik als einer monologischen Kunst, mit dem es ihm gelingt, sich bis weit über seinen Tod hinaus als maßgeblicher Lyriker der Nachkriegsjahrzehnte zu positionieren. Ingeborg Bachmanns Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1959/60) sowie Paul Celans Büchner-Preis-Rede Der Meridian (1960) nehmen polemisch auf Benn Bezug, indem sie das Modell einer gesellschaftlich verantwortungsvollen, das ⫺ wenn auch prekäre ⫺ Gespräch mit dem Leser suchenden Lyrik entwerfen. Seither sind die Medien der öffentlichen Vorlesung (Peter Rühmkorf, Hilde Domin, Ernst Jandl) sowie der Lob- und Dankrede (Peter Hamm, Arnold Stadler) von Lyrikern vielfach genutzt worden, um die Spezifika ihrer Gedichte (oder derjenigen der Gelobten) vorzustellen, die Mechanismen von deren Entstehung zu schildern und ihr Werk in größere literaturgeschichtliche Zusammenhänge zu stellen. Häufiges Thema ist dabei die Fremdheit des Lyrikers, dessen angemessener Platz ein Raum zurückgezogener Produktion und Überarbeitung von komplexen Texten sei, im Raum der öffentlichen Rede (so schon Bachmann 1972). Bei routinierten Lyriker-Rhetoren der Gegenwart wie Grünbein (2003) dagegen wird die Unsicherheit in einer umfassenden Begründung der eigenen Schriftsteller-Existenz aufgehoben.
5.2. Essays über Lyrik Auch in schriftlichen Äußerungen von Lyrikern über die Entstehung ihrer Gedichte oder über das Schreiben von Lyrik überhaupt können, wie sich schon bei Poe, Majakowski und Brecht zeigte, rhetorische Gesichtspunkte eine zentrale Rolle spielen. Auf diesem Gebiet ist Benn ebenfalls ein wichtiger Bezugspunkt für die deutschsprachige Diskussion nach 1945. In einem Rundfunkgespräch betont er: „Ich möchte […] bemerken, daß ich als das spezifisch Moderne überhaupt die Kombination von Lyrik und Essay empfinde. Es beginnt bei Nietzsche, Sie finden es bei Vale´ry, und Sie finden es bei Eliot. Ich glaube, daß Lyrik ohne Theorie der Lyrik überhaupt bei einem größeren Lyriker nicht mehr möglich ist.“ (Benn 1951b, 267) Tatsächlich haben sich zahlreiche Lyriker in Essays, Feuilletons und Skizzen über ihre eigene Lyrik geäußert und dabei meist nicht nur Selbstinterpretationen geliefert, sondern mindestens ansatzweise ihre eigene Autorenpoetik entwickelt. Enzensbergers Essay Die Entstehung eines Gedichts (1962) nimmt selbstreflexiv Bezug auf die von Poe, Vale´ry und Majakowski gezogene Linie einer technischen Poetik, die Denk- und Verfahrensweisen der Rhetorik für die Moderne neu entwickelt hat. Mit dem Gedicht An alle Fernsprechteilnehmer (1960) wird ein selbst stark rhetorisch geprägter Text zum paradigmatischen Gegenstand des Essays. Enzensberger hat in der
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Folge immer wieder über die Produktions- und Wirkungsbedingungen von Lyrik reflektiert und sogar die Einladung zu einem Poesie-Automaten (2000) ausgesprochen. Peter Rühmkorf (1979), Robert Gernhardt (1990) und Brigitte Oleschinski (2002) setzen die zugleich selbstreflexiv und handwerklich orientierten Autorenpoetiken fort. Gegenüber solchen Dokumenten einer Konzentration auf das eigene Werk entfalten die Bände, in denen auf die Aufforderung der Herausgeber hin Gegenwartslyriker erläuternd, wertend und interpretierend zu eigenen Gedichten und/oder zu Gedichten von Vorläufern oder Zeitgenossen Stellung beziehen, ihren Reiz durch den Kontrast zwischen Selbst- und Fremdinterpretationen (Bender 1961; Höllerer 1969; Domin 1969; Sartorius 1999; Enzensperger 2005; Bella triste 2007). Davon zu unterscheiden sind nachträglich, ohne Beteiligung der Autoren zusammengestellte Sammlungen poetologischer Äußerungen von Lyrikern (Allemann 1966; Schuhmann 1995; Höllerer 2003) oder poetologischer Gedichte (zu deren Interpretation vgl. Hinck 1994; Hildebrand 2003).
5.3. Lyrik-Ratgeber und -Lehrbücher Ratgeber und Lehrbücher zum Verfassen, zuweilen auch zum Lesen von Lyrik weisen eine besonders große Nähe zu schriftlich verbreiteten Rhetoriken und Stilistiken auf, in denen Ratschläge zur Produktion und wirkungsvollen Präsentation ihrem Anlass angemessener Reden oder zum Verfassen guter Prosatexte gegeben werden. Obwohl sich Lyrik schlecht verkauft und zur Bestreitung des Lebensunterhalts für die allermeisten Textproduzenten so gut wie ungeeignet ist, wurde in den letzten Jahren im Gefolge der Flut von Ratgebern des Creative Writing, die meist zum Schreiben von Romanen und Drehbüchern anleiten, auch eine Reihe von Lyrik-Lehrbüchern publiziert (vgl. Weber 2004; Wieke 2004; Nitzberg 2006). Weitere Bücher auf diesem Gebiet lehren das Schreiben von Gedichten entweder mit literaturdidaktischer Zielsetzung als Teil der „produktiven Erfahrung“ von Lyrik im institutionellen Kontext von Schule und Hochschule (Waldmann 1988), oder sie führen in die Macharten von Gedichten (wie auch von Prosatexten) ein und helfen so, einen desautomatisierten literaturwissenschaftlichen Blick auf Texte in ihrer Produziertheit zu entwickeln (Kurz 1999), oder sie schulen die „Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen“, entweder auf spielerische (Thalmayr 1990) oder auf etwas angestrengt pädagogische Weise (Thalmayr 2004).
6. Rhetorik und Stilistik in der literaturwissenschatlichen und literaturkritischen Auseinandersetzung mit Lyrik 6.1. Stilistik statt Rhetorik: Literaturwissenschatliche Zugänge zur Lyrik In der deutschsprachigen Literaturwissenschaft der ersten beiden Jahrzehnte nach 1945 entspricht einer deutlichen Abwehr der Rhetorik, die durch den unheilvollen Gebrauch öffentlicher Rede in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft erklärbar ist, eine auffällige Hochschätzung der Stilistik, vor allem im Kontext text- und werkimmanent orientierter Ansätze. So dekretiert Staiger (1975, 37): „Die Idee des Lyrischen schließt
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alle rhetorische Wirkung aus.“ Dagegen fordert er von der Literaturwissenschaft, „dem Wesen des Stils dadurch gerecht“ zu werden, „daß sie mit höchster Evidenz die Einheit im Mannigfaltigen eines Werks oder einer Epoche nachweist“ (Staiger 1963, 14). Kayser (1978, 271; vgl. auch 282 f.) hält den Stil, und zwar nur denjenigen des einzelnen Werks, nicht den eines Dichters oder einer Epoche, für „den innersten Kreis […] der ganzen Literaturgeschichte“; als probates Mittel der Stilforschung sieht er den Stilvergleich zwischen zwei motivgleichen Gedichten an. Demgegenüber lehnt er die an der antiken Rhetorik orientierte Richtung der Stilistik mit ihrer „Auffassung von der Dichtung als einem bewußt ,gemachten‘ und mit bestimmten Mitteln aufgeputzten Stück Sprache“ (Kayser 1978, 272) als veraltete Position des 19. Jahrhunderts ab ⫺ und verkennt dabei, dass die Gemachtheit auch ein wichtiges Kennzeichen der modernen Lyrik ist.
6.2. Literaturkritische Auseinandersetzungen mit Lyrik In der Literaturkritik der Gegenwart finden sich dagegen vielfältige Formen des rhetorisch geschulten Umgangs mit Lyrik. Das liegt auch daran, dass Lyrikkritik ein Bereich ist, in dem besonders viele Autoren tätig sind, die selbst Gedichte schreiben ⫺ ein Phänomen, das in der literaturkritischen Auseinandersetzung mit Romanen und Theaterstücken nicht zu beobachten ist. Der 2006 verstorbene Lyriker Robert Gernhardt etwa rief seit Ende der 1980er Jahre dazu auf, „Dichter [zu] verbessern“, und suchte nach den „Lyrik-Hämmer[n] der Saison“ (Gernhardt 1990, 37⫺74; 75⫺124); gegen Ende der 1990er Jahre kreierte er ⫺ nur bedingt ironisch ⫺ als Rahmen seiner in verschiedenen Periodika publizierten Lyrik-Rezensionen die Figur des „Lyrikwarts“, mit der er die normativen Maßstäbe von Lyrik als Handwerk zu restituieren versuchte: „Eine Lyrikhandwerkskammer gibt es nicht, also bleibt es selbsternannten Lyrikwarten überlassen, nicht nur die Wirkung eines Gedichts zu referieren, sondern es auch als Werkstück zu kritisieren“ (Gernhardt 1999). Gernhardts letzter zu Lebzeiten publizierter Text ist eine Abrechnung mit Höllerers Lyrikanthologie Transit von 1956, die das Genre der Würdigung aus Anlass des fünfzigsten Jahrestages gezielt durchbricht (Gernhardt 2006). Noch konsequenter als Gernhardt hat Steffen Jacobs Kunstfiguren der Lyrikkritik geschaffen: Unter dem Pseudonym Jakob Stephan (2000) diagnostiziert er als pensionierter Arzt und Hobby-Lyriker in sechzehn „lyrischen Visiten“ die Gedichtproduktion der späten 1990er Jahre; in einem späteren Band werden zehn der bekanntesten Lyriker des 20. Jahrhunderts mit oft desaströsem Ergebnis einem Lyrik-TÜV unterzogen. Jacobs (2007, 334 ff.) spießt dabei auch die rhetorischen Kniffe anderer Literaturkritiker auf, etwa die Eloge Gustav Seibts auf Grünbein, in welcher dieser zum „hinreißenden Götterliebling“ in den Fußstapfen nicht allein des jungen Enzensberger, sondern sogar des jungen Hugo von Hofmannsthal ausgerufen wird. Weniger polemisch, sondern eher „schüchtern“ wird die Rückbesinnung auf das Handwerkliche von Harald Hartung (1999) gefordert. Durch einen agonalen, an der Rhetorik geschulten Blick ist oft auch die Präsentation von Lyrik in Literaturzeitschriften gekennzeichnet: So ließ Text ⫹ Kritik im Sonderband Lyrik des 20. Jahrhunderts (1999, 5⫺62) durch fünf Gegenwartslyriker Fünfzig Gedichte des 20. Jahrhunderts zusammenstellen. Die Zeitschrift Das Gedicht (1999⫺2000, 3; 99⫺ 102) ging noch einen Schritt weiter und präsentierte eine Hitliste der Jahrhundertlyriker, die TOP 100 der deutschen und der internationalen Lyrik, die auf dem Votum von hundert Juroren beruhte (und die interessanterweise durch die lange Zeit politisch umstritte-
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nen Autoren Gottfried Benn bzw. Ezra Pound angeführt wurde). Solche respektlosen, durch Popkultur und Poetry Slams inspirierten Formen der Präsentation und Wertung von Lyrik können als Transformation eines rhetorischen Umgangs mit der Gattung interpretiert werden; so stellt Kling (2001, 51 f.) die Rankings kontrastierend in den Kontext der „Spracharbeit“ des 17. Jahrhunderts. Es steht zu vermuten, dass sich diese Tendenzen im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts verstärken, dabei aber auch zur weiteren Vitalität der Lyrik beitragen werden.
7. Forschungslage Das Verhältnis von Rhetorik, Poetik und Lyrik in Antike (Fuhrmann 1992), Mittelalter (Curtius 1984; Brandt 1986) und Früher Neuzeit (Buck 1972; Gaede 1978; Grimm 1983; Campe 1990; Plett 1993; Plett 1994) ist hervorragend erforscht; eine Zusammenfassung bietet Asmuth (2001). Besonders zur Bedeutung der Rhetorik und der antiken Tradition für die Poetik und Dichtung des Barock liegen einige ausgezeichnete Studien vor (Conrady 1962; Fischer 1968; Dyck 1991; Barner 2002). Die „Transformation der Rhetorik“ (Schanze 1994, 339) um 1800, besonders in der Romantik, hat weitaus weniger Interesse in der Forschung gefunden, ihre Auswirkung auf die Lyrik so gut wie keines mehr (vgl. jedoch zur „Technikästhetik“ Pudelek 2000). In aktuellen Untersuchungen zur Lyrik, Poetik und Ästhetik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kommt Rhetorik zumeist nicht einmal vor (Hildebrand 2003; Pott 2004; Martus/Scherer/Stockinger 2005). Die Prägung der Avantgardeästhetiken durch die Rhetorik ist ebenfalls noch unzulänglich erforscht. Über das Verhältnis der Gegenwartslyrik zu Rhetorik und Stilistik liegt bislang kaum relevante Forschung vor. Desiderat ist ferner eine Gesamtdarstellung des Verhältnisses von Lyrik, Rhetorik und Stilistik.
8. Literatur (in Auswahl) 8.1. Quellen Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982. Bachmann, Ingeborg (1959/60): Frankfurter Vorlesungen. In: Ingeborg Bachmann: Kritische Schriften. Hrsg. v. Monika Albrecht/Dirk Göttsche. München/Zürich, 253⫺349. Bachmann, Ingeborg (1972): [Rede zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises]. In: Ingeborg Bachmann: Kritische Schriften. Hrsg. v. Monika Albrecht/Dirk Göttsche. München/Zürich, 486⫺ 491. Batteux, Charles (1751): Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Übers. und mit eigenen Abhandlungen begleitet v. Johann Adolf Schlegel. 3. Aufl. Leipzig 1770. Repr. Hildesheim/New York 1976. Benn, Gottfried (1951a): Probleme der Lyrik. In: Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verbindung mit Ilse Benn hrsg. v. Gerhard Schuster/Holger Hof. Bd. 6. Stuttgart 2001, 9⫺44. Benn, Gottfried (1951b): Der Verleger und sein Autor. Rundfunkgespräch mit Max Niedermayer und Karl Schwedhelm. In: Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verbindung mit Ilse Benn hrsg. v. Gerhard Schuster/Holger Hof. Bd. 7/1. Stuttgart 2003, 260⫺267.
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
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Dieter Burdorf, Leipzig (Deutschland)
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
126. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten des Dramas der Gegenwart 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Theater und Literatur Stiluneinheitlichkeit und Stilkritik Sprachkrise und Rhetorikkritik Gattungsstilistik Aufführungsrhetorik Literatur (in Auswahl)
Abstract The hybrid character of drama, which is meant to be put on stage, can only partly be conceived by the historic models of production that a rhetoric of speech provides. The communication in drama as an interaction of the participants (e.g. author, dramatic advisor, director, actor or spectator) is much more complex than the oratory situation. While the orator usually seeks to convince (persuadere), the various voices of the dramatic characters cannot be adequately understood as expressions of intention and persuasiveness. But, there is a relation between the multiple phases of simulated orality and phrased texts. Thus, e. g. school theatre in early modern times is a place to practice Memoria and Actio. The rhetoric of theatre and theatrality of speech interact in a cultural historic correlation. But, the relation between drama and rhetoric is not sufficiently looked into, general rhetoric of drama is still missing. The spontaneity of the theatrical play (Mimus)and the dramatic word (Logos) collide increasingly in modernism. While theatre reforms in the 17th and 18th century aimed to promote literary aspects (Diderot, Gottsched, Lessing, Schiller u. a.) modern theatre often relies on the theatrical act. Since the turn to the 20th century manifold forms of theatrical play that turn away from the written word have evolved. Nevertheless, literary theatre is also pursued, showing great stylistic diversity. At the same time the rhetorical system looses its significance as well in general as in drama. Together with modern language criticism also rhetoric is critically revised. Yet, rhetorical means of presentation (like aesthetic speech, performance and presence of voice) gain in importance.
1.
Theater und Literatur
1.1. Entliterarisierung Seit dem 18. Jahrhundert zeigt die Etablierung des bürgerlichen Literaturtheaters die Tendenz einer „Überforderung des Theaters durch das Theaterstück“ (Rühle 1982, 55). Für die „Geschmacks-, Gefühls- und Gedankenerziehung durch die Literatur“ hat man auch von einer „Indienststellung“ des „Kulturinstruments“ Theater gesprochen (ebd., 61). Zwar fordert noch der Naturalismus das Primat des Dramentextes (programmatisch: Hart, Etwas über Theaterreform, 1887), doch gerät das Literaturdrama bereits
126. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften des Dramas der Gegenwart
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mit Wagners Idee des Gesamtkunstwerks (Oper und Drama, 1851) in die Kritik. Die Theaterreformen seit der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart stehen mithin unter den Zeichen von „Entliterarisierung, Dominanz des Visuellen und überhaupt Non-verbalen, Symbolismus statt (naturalistischer) Mimesis, Demokratisierung des Zuschauerraums und Einbeziehung des Publikums“, welche sich schließlich auf den „Nenner der Theatralisierung“ bringen lassen (Borchmeyer 21994, 422; Hervorh. i. Orig.). Einzug hält damit das moderne Regietheater, dessen Akteure mit berühmten Vertretern wie Max Reinhardt oder Erwin Piscator auch auf die Ästhetik des Gesamtkunstwerks zurückgreifen (z. B. Appia, Die Musik und die Inszenierung, 1899). Gleichwohl ist das „entfesselte Theater“ ⫺ so der Titel einer 1923 in Deutschland veröffentlichten Schrift des russischen Reformers Tairov ⫺ von Beginn an umkämpft. Bereits Frisch (Von der Kunst des Theaters, 1910) oder Hasenclever (Das Theater von morgen, 1916) verteidigen den Vorrang des literarischen Dramentextes gegenüber dem Regietheater. In der Folge dreht sich die ästhetische Diskussion mit ihren jeweiligen Phasen der Retheatralisierung und -literarisierung bis heute immer wieder um den Angelpunkt von Werktreue und Regietheater. Der Entliterarisierungstendenz des Gegenwartstheaters herausfordernd entgegen arbeiten dabei etwa die formal und sprachlich dichten Dramentexte Bernhards (z. B. die Schauspielerstücke Minetti, 1977 und Der Theatermacher, 1984). Langatmige Monologe entfalten ⫺ häufig als wüste Schimpftiraden ⫺ eine groteske Rhetorik des unverhandelbar Absoluten, die stilistisch durch den polemischen Gebrauch von Mitteln der Steigerung, Übertreibung oder Wiederholung geprägt sind (Ochs 2006).
1.2. Theater des Absurden Die Retheatralisierungstendenz wurzelt in der Theatermoderne wesentlich im Theater des Absurden (Esslin 1991). Angestoßen durch Autoren wie Jarry (Ubu Roi, 1896), Pirandello (Sei personaggi in cerca d’autore, 1921) oder Artaud mit seinem Theater der Grausamkeit ist die verbale Sprache zugunsten der Körpersprache (Gebärde, Pantomime, Schreien usw.) zurückgenommen; das Vorrecht des Autors weicht der Gestaltungsfreiheit des Regisseurs. Die Sprachstilistik des absurden Theater arbeitet dabei mit Mitteln der Häufung, Stereotypisierung oder Wiederholung, welche die Unheimlichkeit und Entfremdung automatischer Sprache aufzeigen sollen. Ist die Bewegung auch nach 1945 wesentlich durch den franko- und anglophonen Sprachraum geprägt (Beckett, Genet, Ionesco, Pinter u. a.), wird das Theater des Absurden von deutschsprachigen Autoren weniger rezipiert (wichtig jedoch Weiss, Die Versicherung, 1952 sowie etwa Grass, Die bösen Köche, 1961; Dorst, Die Kurve, 1960 oder Hildesheimer, Die Verspätung, 1961).
1.3. Postdramatik Die Theaterwissenschaft fasst die Tendenzen der Ablösung von der Vorrangigkeit des Dramentextes und Selbstbefreiung des Theaters unter dem Stichwort des postdramatischen Theaters zusammen. Eingeführt ist der Begriff vor allem durch Lehmann (1999), nachdem ihn Andrzej Wirth bereits 1987 in einem Aufsatz verwendet hatte. Als Faktoren, die das postdramatische Theater mitbedingen, werden u. a. Sprachkrise, Medienkon-
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
kurrenz (z. B. Film, Hörspiel) oder Internationalisierung (Rezeption außereuropäischer Spielformen wie des No¯-Theaters) genannt. Das theaterwissenschaftliche Verständnis steht in bewusster Abgrenzung zur Postmoderne als Epochenbezeichnung. Im postdramatischen Theater geht es dabei nicht um die radikale Verabschiedung des (dramatischen) Textes, sondern vielmehr um die Gleichstellung des Wortes mit anderen theatralen Mitteln (Körper, Stimme, Raum, Licht usw.). Dieses Konzept eines enthierarchisierten Zeichengebrauchs führt somit auch über das epische Theater Brechts hinaus, da dieses als logozentrisches „Fabel-Theater“ trotz seiner illusionsdurchbrechenden Stoßrichtung letztlich wieder in der aristotelischen Dramentradition zu verorten sei (Lehmann 1999, 47). Die Postdramatik der Gegenwart betont dagegen nicht mehr die Repräsentationsfunktion von Sprache, sondern zielt auf ereignishafte Präsenz, Assoziation und Selbstreflexivität im Theater. Techniken uneindeutigen Zeichengebrauchs führen den Zuschauer dabei auf Grundprobleme der Wahrnehmung und Sinnstiftung. Methodisch orientiert sich die Analyse des postdramatischen Theaters weniger an der Trennung von Drama und Aufführung; statt dessen richtet sich der Blick auch auf die Theatralität der Texte selbst. Daher stehen nicht mehr rhetorische oder dramenpoetische Grundstrukturen wie Dialogführung, Handlungs- oder Figurenkonstruktion im Mittelpunkt, sondern die theatralen bzw. performativen Qualitäten, die den Texten eingeschrieben sind. Insofern bringt postdramatisches Theater grundsätzlich auch den nicht mehr dramatischen Text zur Aufführung (Poschmann 1997).
2. Stiluneinheitlichkeit und Stilkritik 2.1. Stiluneinheitlichkeit Auf Grund der ausgeprägten „Mannigfaltigkeit und Stilunheitlichkeit“ lässt sich die moderne Dramatik systematisch kaum angemessen erfassen (Dietrich 1974, 9). Wendt (1974, 7) hält die Beschreibung einer Dramaturgie seit den 50er Jahren gar für „unmöglich“. Der wirkungsmächtige Bestimmungsversuch von Szondi (1963) stellt die Dramatik zwischen 1880 und 1950 unter das Schlagwort der Krise. Als Abgrenzungsparadigma dient dabei eine (historisch nicht haltbare) Gattungskonstruktion, die den Idealtypus eines als absolut empfundenen Dramas klassisch-aristotelischer Prägung zum Maßstab setzt. Diesen normativen Gattungspurismus lehnt Andreotti (1996) wiederum ab. Sein strukturalistisch und semiotisch fundiertes Beschreibungsmodell weitet Brechts Begriff des epischen Theaters aus und betont die „gestisch-montageartige“ Ästhetik moderner Dramatik (ebd., 258); nicht Individualität im Sinn des bürgerlich-idealistischen Theaters, sondern die kollektive Repräsentationsfunktion der dramatischen Figur stehe hierbei im Zentrum. Diese Stoßrichtung verfolgt bereits Hinck (1973), der die als antibürgerlich eingestufte Dramatik der Moderne dadurch charakterisiert sieht, dass sie wenig Interesse „an den psychologischen Problemen des Individuums“ zeige (ebd., 20). Auch FischerLichte (1990) begreift die Theatermoderne als Befreiung vom bürgerlichen Literaturdrama des 18. und 19. Jahrhunderts. Für Schalk (2004, 13) sind dabei „Provokation und Verstörung von Sehgewohnheiten“ ein zentrales Element moderner Dramaturgie; damit einher gehe im offenen Drama eine Aufwertung der Einzelszene, die anstelle motivierter Handlung die „Momentaufnahme“ in den Mittelpunkt stelle (ebd., 14). Stücke wie Mül-
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lers Bildbeschreibung (1984), Handkes Das Spiel vom Fragen (1989) oder Strauß’ Schlußchor (1991) operieren mit einer „Rhetorik des Augenblicks“ (so der Titel von Grieshop 1998). Angesichts der Vielfalt moderner Theaterformen verfolgt Schalk indessen vier Entwicklungslinien: „die moderne Variante des von Lessing herrührenden Charakterdramas; die politisch-soziale Dramatik […]; die absurde Schule; schließlich das Theaterexperiment, dessen ästhetische Verfahren die dramatische Form als solche mehr oder minder hinterfragen“ (Schalk 2004, 18).
2.2. Stilkritik Kulturwissenschaftlich wird der Stilbegriff in der Moderne mit der dekonstruktivistischen Betonung der Diffe´rance einer grundlegenden Kritik unterzogen (vgl. Derrida 1986). Auch in der Theaterwissenschaft ist er als ästhetischer Maßstab, der Einheitlichkeit betont, besonders umstritten. Ein Grundproblem bei der Stilbildung sind die verschiedenen Akteure, die an der Inszenierung beteiligt sind. Reflektiert wird dies bereits in der Stilbühnen-Bewegung um 1900 (z. B. bei Peter Behrens; Edward Gordon Craig oder Vsevolod E. Meyerhold). Als künstlerisch unkalkulierbare Größe erscheint der menschliche Körper programmatisch in Craigs Essay Der Schauspieler und die Übermarionette (1908). Das Ideal des stilisierten Theaters ist die frei kontrollierbare Übermarionette, die den kontingenten Faktor des Schauspielers in einem zukünftig einheitlichen Theater ersetzen soll. In Deutschland reflektiert die Idee eines puppenartig durchstilisierten Schauspielers etwa Schlemmer (Mensch und Kunstfigur, 1925), die er mit seinem Triadischen Ballet am Bauhaus auch realisiert (Wesemann 1999). Im Gegenwartstheater entfaltet der Stilbegriff allerdings kaum noch Anziehungskraft. Spielformen des postdramatischen Theaters verweigern geradezu die Unterordnung unter stilistische Vorgaben und setzen Einheitlichkeit oder Eindeutigkeit Vielfalt und Mehrdeutigkeit entgegen.
3. Sprachkrise und Rhetorikkritik 3.1. Sprachkrise Die Philosophie, Psychologie, Kunst oder Literatur erfassende Sprachskepsis um 1900 (z. B. Nietzsche, Mauthner, Hofmannsthal, Kraus, Wittgenstein) eröffnet einen Kampf ums Wort (Fähnders 2004), der sich auch dramengeschichtlich niederschlägt. Alternativ zur fragwürdig gewordenen Repräsentationsfunktion von Sprache treten wortlose Spielformen wie Pantomime, Tanztheater oder Schattenspiel in Konkurrenz zum reinen Literaturdrama. Besonders die Visualität dieser Medien verheißt der Epoche Ausdrucksmöglichkeiten epiphanischer Authentizität (Schneider 2006). In Hofmannsthals Elektra (1903) etwa kann sich die Identität der Titelheldin nicht im Wort, sondern schließlich nur in der reinen „Präsenz des Tanzes“ im Augenblick erfüllter Rache enthüllen (Mayer 1993, 61). In dieser Linie stellt Hofmannsthals Aufsatz Über die Pantomime (1911) die generische Sprache der Worte der persönlichen des Körpers gegenüber. Gerade in der plurimedialen Kunstform des Theaters werden solche Medienkonkurrenzen bis zum Ge-
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genwartstheater reflektiert. So gibt sich etwa noch Handkes pantomimischer Einakter Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992) als Befreiung des Theaters von der Last der Sprachzeichen.
3.2. Rhetorikkritik Die fundamentale Sprachskepis der Moderne bezieht auch die Rhetorik und deren Überzeugungs- bzw. Überredungsmechanismen ein. Bereits Hauptmanns Komödie Schluck und Jau (1900) karikiert im Blankvers die geschwollene Rede der „gnädigen Herren“; und auch der Schauspielschüler Spitta in Hauptmanns Tragikomödie Die Ratten (1911) ekelt sich vor dem Gestelzten alles Rhetorischen. Ablehnung gegenüber der Rhetorik artikuliert zudem Brecht, da sie an die Stelle der Argumente trete (Asmuth 1994, 921). Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe (entst. 1929/30) behält den Blankvers beispielsweise den skrupellosen Fleischhändlern vor; dabei erscheint das Metrum als Symbol der rhetorisch verstellten Stimme, welche die wahren Absichten der Händler verhüllt. In Brechts Parabel Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (1941 verfasst) wird schließlich auch die Theatralik nationalsozialistischer Propagandarhetorik parodiert. Beklagt Dürrenmatt (Theaterprobleme, 1955) zwar durchaus auch den Verlust des Rhetorischen im Drama, da die Rede wie „kein anderes Kunstmittel über die Rampe zu dringen vermag“ (Dürrenmatt 1988, 49), thematisiert nach Kriegsende vor allem Frischs Parabelstück Andorra (1961) die faschistische Korruption der Sprache und brutale, vorverurteilende Gewalt antisemitischer Rhetorik. Die Publikumsanreden der Schuldigen, die zwischen den Bildern des Stücks an eine Zeugenschranke treten, entlarven dabei den Selbstbetrug ihrer Rechtfertigungsrhetorik. Auch in den 90er Jahren entfalten die Stücke von Jelinek (z. B. Totenauberg, 1991; Stecken, Stab und Stangl, 1996), Goetz (z. B. Festung, 1993) oder Streeruwitz (z. B. New York, New York, 1993) ihre Sprachkritik noch im Kontext der Gedächtniskultur nach 1945. Rhetorik und Sprache erscheinen im Erinnerungsdiskurs als Verdrängungsinstrumente der Nazivergangenheit und des Austro-Faschismus (Schößler 2004). Im Drama Die Unvernünftigen sterben aus (1973) inszeniert dagegen Handke im monologischen Redefluß der ruinierten Unternehmer-Gestalt Quitt „rhetorischen Weltekel und Kapitalismuskritik“ (Mennemeier 2006, 237), welche sogleich die Selbstzufriedenheit der „Sprachspiel-Posen“ enthüllt (ebd., 246). Kommerzielle Vereinnahmung und Wirklichkeitsverlust der Gebrauchsrhetorik für Manager reflektiert beispielsweise die Figur eines virusbefallenen Börsenmaklers in Ostermaiers Monodrama Erreger (2002). Gegen die hohle und inhumane Rhetorik in der Unternehmungsberatung polemisiert zuletzt Hochhuths ästhetisch umstrittenes Stück McKinsey kommt (2004).
4. Gattungsstilistik Ein großer Teil moderner Dramenformen geht zwar von schriftlich fixierten Spielvorlagen aus, weicht jedoch vom geschlossenen Gattungsmodell der aristotelischen Dramentradition ab (Trennung von Stilus tragicus und comicus, Einheiten, Ständeklausel, Aktbzw. Szeneneinteilung, Folgerichtigkeit, Aufgipfelungsschema, hoher Sprachstil usw.), wie sie Gustav Freytag in seiner Technik des Dramas (1863) beschreibt. Moderne Dramen
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tendieren nach Klotz (1960) dagegen zur offenen Form (u. a. Orientierung an der Alltagssprache, Mischung verschiedener Stilebenen, Vielfalt der Orte und Personen, mehrsträngige Handlungsführung, keine kausale Szenenverknüpfung). Gemäß der Offenheit des Dramenverständnisses ist die moderne Gattungsgeschichte entscheidend durch Formexperimente geprägt. Der „Stilwandel“ seit der Jahrhundertwende (Szondi 1963, 78) leitet dabei nicht zu einem Stilideal über, sondern bringt eine hier nur in Ausschnitten anzusprechende Fülle von Dramenmodellen hervor. Die hochgradige Diversifikation der Gattungsstile ist ein wesentliches Charakteristikum der modernen Dramengeschichte, wobei die entwickelten Gattungsmuster sich historisch zum Teil überlagern und zumeist bis in die Gegenwartsdramatik weitergeführt werden (das Thingspiel der NS-Zeit etwa ist jedoch auszunehmen, s. 4.5).
4.1. Sozialdrama des Naturalismus, modernes Volkstück Mit Dramen wie Hauptmanns Fuhrmann Henschel (1898) oder Rose Bernd (1903) etabliert sich um 1900 zunächst das naturalistische Sozialdrama als neue Großform (Hoefert 1994). Grundanliegen sind hier das Aufzeigen der durch Milieu und Vererbung bedingten Determination des Charakters sowie die ungeschönte Wiedergabe empirischer Wirklichkeit. Stilbildend sind daher Mittel zur Nachahmung möglichst exakter Gesprächsrhetorik (Dialekt, Soziolekt, Stottern, Exklamation, Aposiopese u. a.) Mit den Spielorten nach dem Vereinsmodell der Freien Bühne (in Berlin 1889 von Otto Brahm mitbegegründet) ist der naturalistischen Avantgarde dabei ein wichtiges Forum in Großstädten geschaffen (vgl. The´aˆtre libre in Paris, 1887, Independent Theatre in London, 1891, oder das Künstlertheater in Moskau, 1898). Durch „unöffentliche“ Vorstellungen wird die Zensur umgangen, so dass auch Themen wie Sexualität oder Alkoholismus offen angesprochen und freizügig dargestellt werden. Die Berliner Uraufführung von Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) etwa löst dennoch einen Theaterskandal aus. Gegen die Unterdrückungsmechanismen wilhelminischer Sexualmoral gerichtet ist zeitgleich z. B. auch Wedekinds satirische Kindertragödie Frühlings Erwachen (1891), die sich mit Mitteln überzeichnender Expressivität und Groteske stilistisch jedoch bewusst von der als unkünstlerisch empfundenen Dramenästhetik Hauptmanns absetzt. Mit naturalistischen Techniken arbeitet im 20. Jahrhundert zudem das moderne Volksstück, das Autoren wie Horva´th (z. B. Die Bergbahn, 1929; Geschichten aus dem Wiener Wald, 1931) oder Fleißer (z. B. Die Pioniere in Ingolstadt, 1929) bis hin zu Kroetz (z. B. Stallerhof, 1971) von romantischer Volksidyllik befreien, indem sie sozialpolitische Konflikte verhandeln, Spießbürgertum demaskieren, Tabubrüche inszenieren oder Konservatismuskritik üben.
4.2. Einakter, Monodrama, lyrisches Drama Nicht zuletzt erprobt der Naturalismus auch die moderne Kurzform des Einakters (Beispiele bei Rothe 1973). Eingeführt ist sie besonders durch Strindberg (z. B. Fräulein Julie, 1888; Der Einakter, 1889). Die Form bildet indessen zahlreiche Varianten (z. B. als Monodrama) und ist bis in das Drama der Gegenwart produktiv (Höllerer 1961). Das durch Techniken der Reduktion und Abstraktion charakterisierte Modell ersetzt die Einheit
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der Handlung im drei- oder fünfaktigen Großdrama durch eine auf den Augenblick konzentrierte Einheit der Situation (Bayerdörfer 1984). Mit der Sprachskepsis um 1900 gerät dabei auch der dramatischen Dialog in die Kritik. Die gegennaturalistischen Einakter Rilkes (etwa Die weiße Fürstin, 1898) oder Hofmannsthals (z. B. Der Tod des Tizian, 1892; Der Tor und der Tod, 1898) übernehmen den auf Monolog und Musikalität gerichteten hohen Stil des lyrischen Drama nach dem Modell Mallarme´s (He´rodiade, 1869). Die Sprachästhetik ist am französischen Symbolismus orientiert (Schels 1990). Hofmannsthals Das kleine Welttheater oder die Glücklichen (1897) beispielsweise inszeniert im hochartifiziellen Wechsel überlieferter Versmaße (u. a. Blankvers, iambischer Trimeter, Chevy-Chase-Strophe, Terzine) eine lyrische Rollenrevuen, die nicht mehr auf die unmittelbare Gegenwärtigkeit dramatischer Handlung, sondern auf die monologisch erinnernde Reflexion der vereinzelten Figuren gerichtet ist. Kennzeichnend ist für viele Einakter zudem die Überblendung verschiedener Medien wie Malerei, Monolog, Musik, Tanz und Pantomime (z. B. Kandinskys Der gelbe Klang, 1909⫺10; Döblins Lydia und Mäxchen, 1906, Schwitters’ Schattenspiel, 1925 oder Horva´ths Stunde der Liebe, 1929). Als musikalische Sonderform entsteht in Abgrenzung zu Wagners Gesamtkunstwerk zudem der Operneinakter (z. B. Hofmannsthal/Strauss, Ariadne auf Naxos, 1912, überarbeitete Fassung 1916). Die Möglichkeit abendfüllender Darstellung bieten sodann EinakterZyklen (von Schnitzlers Anatol, 1893 oder Reigen, 1900 bis zu Strauß’ Schlußchor, 1991).
4.3. Stationendrama Als Alternative zur pyramidalen Großform des Dramas etabliert die Moderne zudem das wiederum wesentlich durch Strindberg geprägte Stationendrama. Statt eines kausalen Handlungskontinuums steht dabei eine Szenenfolge, die durch eine „Einheit des Ich“ verbunden ist (Szondi 1963, 47). Das oft überzeichnend typisierte Ich erscheint dabei in weltentfremdeter Isolation. In Deutschland wird dieses Modell vor allem im Expressionismus stilbildend (Viviani 1970). Als modellhaftes Verkündigungsstück eines neuen Menschen gilt etwa Tollers Stationendrama Die Wandlung (1919). Auch das Überwindungs- und Erneuerungspathos in Hasenclevers Generationenstück Der Sohn (1914) bietet das gesamte Inventar expressionistischer Bühnenstilistik paradigmatisch auf (u. a. ekstatische Metaphorik, deklamatorische Rhetorik, assoziative Gedankenführung, kontrastive Wechsel zwischen Vers und Prosa). Durch Übertreibungen satirisch gebrochen erscheint die Erneuerungsutopie indessen bereits in Kaisers desillusionierendem Drama Von morgens bis mitternachts (1916); die zwischen medizinischer Terminologie und hermetischer Bildlichkeit schwankenden Formulierungen in Benns erkenntnistheoretischem Drama Der Vermessungsdirigent (1919) präsentieren sodann einen radikal zweifelnden Relativismus; auch die direkte Nüchternheit der Sprache in Tollers Kriegsheimkehrertragödie Hinkemann (1921/22) ist von bitterer Resignation geprägt und löst die expressionistischen Töne im früheren Werk des Autors ab. Nicht zuletzt gestaltet in diesem zeitlichen Horizont der junge Brecht im Drama Baal (1922) eine Provokationsrhetorik, die als Gegenentwurf zum idealistischen Erlösungspathos der Expressionisten angelegt ist.
4.4. Dialektisches Theater Mit dem Typus des dialektischen bzw. epischen Theaters entwickelt Brecht schließlich eines der weltweit wirksamsten Theatermodelle des 20. Jahrhunderts (Grimm 1966), des-
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sen Techniken sich zum Teil weit in der Theatergeschichte zurückverfolgen lassen (Bayerdörfer 1994) und zugleich bis in die Gegenwart ausstrahlen (Raddatz 2007). In Abgrenzung zur Einfühlungsästhetik des als aristotelisch aufgefassten Illusionstheaters basiert das dialektische Theater Brechts auf ästhetischer Verfremdung. Die auch theoretisch stufenweise ausgearbeitete Theaterauffassung Brechts (etwa Anmerkungen zur Oper „Mahagonny“, 1930; Die Straßenszene, 1938; Kleines Organon für das Theater, 1949) betont dabei den Gestus des Zeigens als Mittel der Illusionsstörung. Vermieden werden soll die Identifikation zwischen Figur und Zuschauer oder Schauspieler. Die geforderte ästhetische Distanz will damit eine Dialektik des Erkennens in Gang setzen, die bei der Wahrnehmung des Vertrauten in kritische Reflexion umschlägt. Stilbildend sind dabei Techniken der Illusionsbrechung, die zum Teil erst durch bühnentechnische Neuerungen ermöglicht werden, wie sie vor allem Piscator in Berlin entwickelt (programmatisch: Das politische Theater, 1929). Hierzu zählen der Einsatz verschiedener Medien (z. B. Musik, Songs, Film, Projektionen), Möglichkeiten sprachlicher Verfremdung (z. B. Versgebrauch, Chor, Parabasis) oder auch die gezielte Offenlegung des Konstruktionscharakters von Bühne und Requisite. Dem neuen politischen Theater der 20er Jahre ist mit der Machtübernahme 1933 ein Ende gesetzt. Hauptakteure wie Brecht gehen ins Exil (Piscator war 1931 bereits in die Sowjetunion emigriert, vom Stalinismus enttäuscht jedoch nach Frankreich und Nordamerika gegangen). Nach dem Weltkrieg wird das dialektische Theater zunächst in der DDR wieder musterbildend. Andreotti (1996) subsumiert auf der Grundlage eines gegenüber Brecht erweiterten Gestuskonzepts schließlich die gesamte moderne Dramatik unter dem Oberbegriff des epischen Theaters und differenziert drei Hauptvarianten: formale und formalinhaltliche Spielart der modernen Tragikomödie sowie totale Verfremdung im Theater des Absurden. Jenseits dieser Typologie sind indessen etwa die Sprechstücke Handkes zu verorten, deren illusionsverweigernde Anti-Dramatik sich bewusst vom dialektischen Lehrtheater Brechts absetzt. Mit der Form radikaler Publikumsansrede (Parabasis) experimentiert dabei beispielsweise Handkes Publikumsbeschimpfung (1966 unter der Regie von Claus Peymann uraufgeführt). Unter der Maxime „Wir sprechen nur“ verzichtet das Stück auf dramatische Grundelemente wie Kostüm, Kulisse, Handlung oder Rolle und stellt die Rede wieder in den Mittelpunkt. Im Kontext der politischen Theaterästhetik Brechts exponieren sich in der deutschen Gegenwartsdramatik wiederum etwa die Dramen Lohers (z. B. Klaras Verhältnisse, 2000), welche sich den Gesten postmodernen Orientierungsverlusts bewusst entgegenstellen (Haas 2006).
4.5. Drama im Faschismus, Thingspiel Die problematische Wende vom Expressionismus zum Nationalsozialismus vollzieht Johst, der ⫺ seit 1935 Präsident der Reichsschrifttumskammer ⫺ schließlich zum prominentesten Dramatiker des Dritten Reichs wird (Düsterberg 2004). Mit dem Hitler gewidmeten Schauspiel Schlageter (1933) überführt Johst das messianisch übersteigerte Revolutionspathos seiner expressionistischen Jahre (z. B. Der Einsame, 1917) in eine faschistische Propagandarhetorik, die den während der französischen Ruhrbesetzung 1923 verurteilten Freikorpskämpfer Albert Leo Schlageter zum heroischen Märtyrer der völkischen Idee stilisiert und in die wesentlich durch Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts (1930) geprägte antisemitische Nazi-Mythologie einschreibt. Zum dramatischen Stilpara-
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digma der NS-Zeit wird indessen das Thingspiel (Reichl 1988). Die auf Massenwirkung bedachte Theaterform, an der sich Autoren wie Eberhard Wolfgang Möller, Rainer Schlösser, Richard Euringer oder Kurt Heynicke beteiligen, propagiert die völkische Nazi-Ideologie auch auf der Bühne. Überdimensionierte, zehntausende Zuschauer und Schauspieler aufnehmende Freilichtarenen (z. B. die 1936 eröffnete Dietrich-Eckart Bühne in Berlin) erzeugen eine irrationale Gemeinschaftsmystik, die durch Volksansprachen (häufig über Lautsprecher verstärkt), Riesenchöre, getragene Versmaße oder aktive Publikumsteilnahme an Massenszenen angeheizt wird. Das nach 1933 auch offiziell durch die Reichskulturkammer geförderte Thingspiel weicht seit 1936 jedoch den massenwirksameren Medien Radio und Film.
4.6. Nullpunktdramatik, Parabelstück, Tragikomödie, Dokumentartheater In der Stunde Null nach dem Zweiten Weltkrieg entsteht in der zertrümmerten deutschen Theaterlandschaft zunächst Borcherts wichtiges Heimkehrerstück Draußen vor der Tür (1947). Stilistisch nimmt das Drama die Stationentechnik und dämonische Bildlichkeit (vgl. z. B. Heyms Gedichtsammlung Umbra vitae, 1912) des Expressionismus auf. In der Gestalt des Heimkehrers Beckmann fordert das Stück gegen die einsetzenden Verdrängungsmechanismen nach Kriegsende eine schonungslose Rhetorik des Fragens, die im verzweifelten Schlussmonolog der Hauptfigur in die anklagende Formel „Gibt denn keiner, keiner Antwort???“ einmündet. Auch Zuckmayers metaphysisches Drama Des Teufels General (1945 im Exil entstanden) greift auf den spätexpressionistischen Stil zurück und wird ⫺ den Wehrmachtssoldaten in der Hauptfigur Harras gleichwohl verharmlosend ⫺ zum Erfolgsstück der unmittelbaren Nachkriegszeit. Vor allem Dürrenmatt (z. B. Der Besuch der alten Damen, 1956) und Frisch (z. B. Biedermann und die Brandstifter, 1958) erproben sodann den Typus des Parabelstücks. Gegenüber den Lehrparabeln Brechts zielen besonders die Tragikomödien Dürrenmatts dabei weniger auf gesellschaftliche Veränderung, sondern entfalten mit den Mitteln der Groteske vielmehr eine Widersprüchlichkeit und Sinnlosigkeit betonende pessimistische Weltsicht. In den 60er Jahren etabliert sich in Westdeutschland zudem das Dokumentartheater mit weltweit beachteten Erfolgsstücken wie Hochhuths Der Stellvertreter (1963), Kipphardts In der Sache Robert J. Oppenheimer (1964) oder Weiss’ Die Ermittlung (1965). Stilbildend ist dabei, dass Geschichte oder Zeitgeschichte mit dokumentarischen Mitteln (Verwendung authentischer Materialien wie Reportage oder Interview) politisch aufgearbeitet werden (Barton 1987). Dabei geht es nicht um wirklichkeitsgetreue Rekonstruktion, sondern um ästhetische Konzentration auf das Wesentliche. Bei Hochhuth fordert die Unsagbarkeit des Dargestellten (vgl. im Stellvertreter die Massenvernichtung in Auschwitz) den Umbruch der Sprache in freirhythmische Verse. Die Prosa sucht dabei „Halt im Vers, der vor Überschwemmung schützt, gerade dort, wo das Gefühl ⫺ oft unvermeidbar im Drama ⫺ in Katarakte gerät“ (Hochhuth 1972, 297). Gegenwartsautoren wie Veiel, Der Kick (2005) oder das Autorenkollektiv Rimini Protokoll (Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel) haben das Dokumentartheater wiederentdeckt und zu einem Experten-Theater entwickelt, das auf Materialrecherche oder professionelle Schauspieler verzichtet und statt dessen die beteiligten Akteure selbst auf die Bühne bringt.
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4.7. Blankversdrama Neben dem Stilpluralismus im Westen formiert sich im Klima der sozialistischen Übergangsgesellschaft der DDR nach 1945 zunächst eine antifaschistische Aufbauliteratur, die sich in weiten Teilen einer relativ eng gefassten Programmatik unterstellt (vgl. sozialistischer Realismus, Formalismus-Kampagne oder Bitterfelder Weg). Gibt es freilich nicht die DDR-Literatur, entwickelt sich nur eine vermeintliche Stileinheitlichkeit (Stuber 2000). Aus Sicht der Sprachstilistik ist gleichwohl die besondere Kontinuität des Blankversdramas auf ostdeutschen Bühnen hervorzuheben. Das Stilparadigma erstreckt sich dabei von Strittmatters linientreuer, noch durch Brecht inszenierter Bauernkomödie Katzgraben (1953) bis zu Müllers Philoktet (1965), dessen antithetische Rhetorik den Mythos in der Konfliktspannung von Moral, Staat und Individuum hält. Die durchaus auch kritische Sicht auf den DDR-Sozialismus ⫺ wie etwa in Müllers Die Lohndrücker, Hacks’ Moritz Tassow (1961) oder Brauns Die Kipper (1972) ⫺ weckt schließlich Parteikritik und führt zu Aufführungsverhinderungen oder -verboten. Unter dem Druck der Zensur gehen z. B. Hartmut Lange, Stefan Schütz oder Thomas Brasch in den Westen, fassen dort allerdings wenig Fuß.
5. Auührungsrhetorik Unterliegt das Primat des Textes bzw. Autors im modernen Schauspiel einer Relativierung, gewinnt im Gegenzug die Performanz des Theaters an gesamtkultureller Bedeutung (Fischer-Lichte 2000). Aus Sicht der Rhetorik betont aufführungsorientiertes Theater dabei den Bereich der Actio. Im Feld der Aufführungsrhetorik verankert ist wiederum der Einsatz der Stimme, der ebenso wie in der Rede zumeist auch auf der Bühne (als Theatron und Auditorium) gefordert ist. Stimme und Sprechkünste werden dabei gerade im 20. Jahrhundert zu einem wichtigen Experimentierfeld (Meyer-Kalkus 2001). Postdramatische Theaterformen (z. B. Inszenierungen Edith Clevers, Heiner Goebbels, Jutta Lampes oder Christoph Marthalers) gehen dabei gezielt über die bedeutungstragende Funktion der Stimme im traditionellen Sprechtheater hinaus, indem sie ihre Akustik, Körperlichkeit oder Metaphorik erproben. Solche Experimente bleiben indessen nicht an rhetorische oder dramenpoetische Vorstellungen gebunden, welche das psychophysische Ausdruckspotential der Stimme (Überzeugungskraft, Unsicherheit, Überraschung, Verstellung usw.) oder deren Authentizität (vgl. personare als Durchklingen der Maske) hervorheben. Das solistische oder chorische Spiel mit Artikulationstechniken (Atmung, Intonation, Lage, Flüstern, Schreien usw.) soll statt dessen eigene Klangerlebnisse schaffen, die über die Repräsentationsfunktion von Sprache hinausführen. Die moderne „Klangtheatralik“ der Stimme (Finter 1982) arbeitet dabei häufig mit Stilmitteln der technischen Reproduktion durch Mikrofon, Voice-over, Off u. a. (z. B. bei Rene´ Pollesch), die zugleich episierende Möglichkeiten der Rückblende, Teichoskopie, Parallelführung von Handlungssträngen oder des Audiokommentars eröffnen. Als eigene stimmexperimentelle Dramenform erscheint Jandls metadramatisch angelegte Sprechoper Aus der Fremde (1979). Die Schreibblockade der autobiographisch gestalteten Schriftstellerfigur löst sich hier durch das Erfinden eines sprachlichen „Motors“ (durchnummerierte Dreizeiler in der dritten Person und im Konjunktiv), der eine Rhetorik des Indirekten stiftet (Schmidt-
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I Dengler 1999). Die vorgesehene Sprechweise ist dabei ein rezitativischer Sprechgesang, der von den Schauspielern frei improvisiert wird. Dieser besondere Stimmeinsatz in der Schwebe von Singen und Sagen hält das Stück dabei auf der Schwelle zur Oper, deren synästhetische Zielvorstellung als „kulinarische“ Kunstform (Brecht) nicht mehr erreicht werden kann. Ostermaiers Monodrama Radio Noir (1999) erprobt dagegen die Körperlichkeit der weiblichen Stimme (Wagner-Egelhaaf 2003, 401). Im Medium des auf die Bühne gestellten Radios wird die lasziv-hysterische Stimme der sirenenhaften Nighttalkerin Parthenope, die sich formal in den paradoxen Modus eines versifizierten stream of consciousness einkleidet, zur akustischen Grenzerfahrung zwischen Betörung und Betäubung. Als radikal entliterarisierte Form erscheint schließlich die Theater-Performance. Performance-Kunst bezeichnet ebenso wie Happening oder Fluxus eine in den 60er Jahren aus der Bildenden Kunst hervorgegangene Form von Aktionskunst (Carlson 2004). In der Theaterwissenschaft wird der Begriff gelegentlich auch als Synonym zur Aufführung verwendet. Als wichtige Merkmale der Performance gelten Unwiederholbarkeit, die unverkäufliche Präsenz des ephemeren Ereignisses im Gegensatz zur ästhetischen Repräsentation sowie die interaktive Publikumskonzeption, die den Zuschauer aus der Beobachterdistanz zu holen versucht. Die bedeutungstragende Verweisfunktion von Theaterzeichen wird dabei bewusst aufgegeben. Somit ist auch der Einsatz rhetorischer Stilmittel obsolet geworden. Charakteristisch ist dagegen die Kombination verschiedener Materialien, Medien und Kunstformen sowie das Experimentieren mit dem eigenen Körper (Body Art), bei dem Handlungen vom Essen bis hin zur Selbstverstümmelung nicht mehr simuliert, sondern real erfahren werden. Abgelehnt wird dabei die kommerzielle Trennung von Künstler und Kunstwerk oder Schauspieler und Rolle. Performance bleibt daher an die sich jeweils neu ereignende Gegenwärtigkeit des Künstlers gebunden. Mit dem Selbstverständnis des Schauspielers als Performer profilieren sich gestische, mimische und stimmliche Darstellungsstile, die geradezu als Markenzeichen an Einzelpersonen gebunden sind. Der vor allem amerikanisch geprägte Performance-Begriff tendiert dabei zur Ausweitung auf kulturelle Praktiken mit Aufführungscharakter (z. B. Lesungen, Hochzeiten, Gottesdienste, Konzerte) und erstreckt sich schließlich in Bereiche der Medien, Wirtschaft oder Politik (cultural performance). McKenzie (2001) erblickt darin gar einen kulturellen, sozialen und ökonomischen Schlüsselbegriff des 21. Jahrhunderts, der das Paradigma der Disziplinierung abgelöst habe und an die Stelle eigentlicher Produktivität getreten sei. Theatrale Präsentationsformen wie die Lecture-Performance (modellbildend: Le Roy, Product of Circumstances, 1999) speisen sich dabei nicht mehr aus dem System der Rhetorik, sondern kombinieren ästhetische und wissenschaftliche Ausdrucksformen zum Vortragsevent.
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Jörg Wesche, Augsburg (Deutschland)
127. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Sprache der Politik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Rahmen politischer Sprachverwendung: Diskurse, Verfahren, Kampagnen Der persuasive Grundzug Strukturebenen der Sprachverwendung Konzeptualisierung Wettbewerb Adressaten- und Medienorientierung Nicht-persuasive Formen und Grenzfälle Literatur (in Auswahl)
Abstract In modern democracies, political decision-making is mainly dependent on the agreement of the others. This is why language use in politics is basically characterized by persuasiveness. This will be illustrated in this contribution on the word, speech act, text and interaction levels. Then, a specification into three dimensions is applied which follows the traditional rhetorical setting ⫺ speaker, opponent, audience (both as addressee and decision-maker), however, considered in their complex interrelation and under the conditions of modern democracy: Political orators or text producers as representatives of groups, e.g. political parties, base on conceptualizations of the political and social world that allow for the identi-
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I Schmidt-Dengler, Wendelin (1999): Von der Verbindlichkeit des Unverbindlichen. Zum Konjunktiv in Ernst Jandls Sprechoper Aus der Fremde. In: Alexander Honold/Manuel Köppen (Hrsg.): „Die andere Stimme“. Das Fremde in der Kultur der Moderne. Köln/Weimar/Wien (Literatur ⫺ Kultur ⫺ Geschlecht, 7), 219⫺229. Schneider, Sabine (2006): Verheißung der Bilder: Das andere Medium in der Literatur um 1900. Tübingen (Studien zur deutschen Literatur, 180). Schößler, Franziska (2004): Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre. Tübingen (Forum Modernes Theater, 33). Stuber, Petra (22000): Spielräume und Grenzen. Studien zum DDR-Theater. Berlin. Szondi, Peter (1963): Theorie des modernen Dramas. 1880⫺1950. Frankfurt a. M. Viviani, Annalisa (1970): Dramaturgische Elemente im expressionistischen Drama. Bonn (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur, 21). Wagner-Egelhaaf, Martina (2003): Sirenengesänge. Mythos und Medialität der weiblichen Stimme. In: Annette Simonis/Linda Simonis (Hrsg.): Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation. Köln/Weimar/Wien, 383⫺403. Wendt, Ernst (1974): Moderne Dramaturgie. Frankfurt a. M. Wesemann, Arnd (1999): Die Bauhausbühne. In: Jeannine Fiedler/Peter Feierabend (Hrsg.): Bauhaus. Köln, 532⫺547
Jörg Wesche, Augsburg (Deutschland)
127. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Sprache der Politik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Rahmen politischer Sprachverwendung: Diskurse, Verfahren, Kampagnen Der persuasive Grundzug Strukturebenen der Sprachverwendung Konzeptualisierung Wettbewerb Adressaten- und Medienorientierung Nicht-persuasive Formen und Grenzfälle Literatur (in Auswahl)
Abstract In modern democracies, political decision-making is mainly dependent on the agreement of the others. This is why language use in politics is basically characterized by persuasiveness. This will be illustrated in this contribution on the word, speech act, text and interaction levels. Then, a specification into three dimensions is applied which follows the traditional rhetorical setting ⫺ speaker, opponent, audience (both as addressee and decision-maker), however, considered in their complex interrelation and under the conditions of modern democracy: Political orators or text producers as representatives of groups, e.g. political parties, base on conceptualizations of the political and social world that allow for the identi-
127. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache der Politik fication and group cohesion. This is why conceptualization as a political and communicative act always presents a persuasiveness phenomenon. In democracies, the relation to the political opponent is characterized by competition. The relation to the addressees is characterized by multiple addressing and the media. Accordingly, the basic features of political language use are presented using the dimensions of conceptualization, competition, addressee and media orientation. Finally, formats will be discussed, the function of which is non-persuasive. However, even here a close relationship to persuasive aspects can be revealed.
1. Rahmen politischer Sprachverwendung: Diskurse, Verahren, Kampagnen Gegenstand dieses Beitrags ist politische Sprachverwendung unter den Bedingungen moderner Demokratie mit politischem, gesellschaftlichem und medialem Pluralismus. Sie findet vorrangig statt im Rahmen von Diskursen, Verfahren und Kampagnen. Deren prägende Eigenschaften sind Prozessualität und Intertextualität. In Diskursen konstituieren sich themenbezogene Sichten und Handlungskonzepte ⫺ sei es im Sinne des Foucaultsche Diskursbegriffs als gemeinsame, sei es im Sinne des bildungs- bzw. gemeinsprachlichen Verständnisses von Diskurs als kontroversengeprägte, konkurrierende Konzeptualisierungen. Daher sind z. B. Schlagwortnetze nicht sprachsystem-bedingt, sondern veränderbare Ergebnisse diskursiver Prozesse. Die Institutionalität von Politik manifestiert sich in Verfahren, z. B. Gesetzgebungsverfahren mit fester Schrittfolge und geregelten Relationen zwischen Textsorten (Gesetzentwurf, Ausschussbericht, Experten-Gutachten etc.) und Interaktionsformaten (Plenardebatte, Ausschusssitzung, Hearing etc.). Kampagnen sind strategisch angelegt und zentral gesteuert. Sie begegnen vor allem als Wahlkampagnen. Ihre Einheitlichkeit wird durch Schwerpunkthema, Spitzenkandidat/-in, Slogan und Design gewährleistet.
2. Der persuasive Grundzug In den typologisch orientierten Überblicken über politische „languages“ (Edelman 1964, 130 ff.), „Sprachstile“ (Dieckmann 1969, 86 ff.), „Sprachspiele“ (Grünert 1984; Strauß 1986), „Textsorten“ (Klein 2000b) und „Typen mündlicher Interaktion“, sog. „Interaktionsformaten“ (Klein 2001), ist nie die Frage danach gestellt worden, inwieweit es ⫺ quer durch die jeweiligen Typen ⫺ durchgängige Charakteristiken politischer Sprachverwendung gibt. Geht man dieser Frage nach, so zeigt sich: Die Abhängigkeit politischer Entscheidungen von der Zustimmungsbereitschaft anderer hat auf allen Ebenen der Politik eine Präferenz für Persuasivität zur Folge. Sie dominiert die meisten politischen Interaktionstypen und Textsorten und prägt deren Lexik und Sprechhandlungsstruktur. Diese ⫺ mit Ausnahmen (siehe 7) ⫺ durchgängige Prägung bedeutet allerdings keine stilistische Einheitlichkeit. In politische Sprachverwendung wird die Angemessenheit ⫺ das „aptum“ der klassischen Rhetorik ⫺ durch zahlreiche „Adäquatheitskriterien“ (Fix 1995, 65 ff.) bestimmt, deren Priorität je nach Interaktionsrahmen, Textsorte und Thema wechselt ⫺ vielfach bedingt durch institutionelle und intermediale „Transkriptivität“ (Jäger 2004).
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I Persuasiv sind Kommunikationspraktiken, die darauf zielen, Adressaten zu überzeugen und Vertrauen in die Richtigkeit des Gesagten, aber auch in den Emittenten zu schaffen (Emittent wird zur Bezeichnung der für einen Text verantwortlichen Person(enguppe) oder Institution verwendet, vgl. Glinz 1977, 17). Innerhalb politischer Gruppierungen bedeutet das u. a., die politisch-soziale Welt sprachlich so zu konzeptualisieren, dass Identifikation ermöglicht und Zusammenhalt gestärkt wird. Die aristotelische Modellkonstellation politischer Rhetorik ⫺ Redner, Kontrahent, Dritte als Entscheider (und daher als Hauptadressaten) ⫺ ist auch in der modernen Demokratie grundlegend, allerdings in komplexerer Ausprägung: Interaktion mit Kontrahenten bedeutet heute Wettbewerb, und der Adressatenbezug ist durch Mehrfachadressierung und Medien bestimmt.
3. Strukturebenen der Sprachverwendung 3.1. Lexik Im Wortschatz der Politik mischen sich ⫺ je nach Thema und Situation mit unterschiedlichen Anteilen ⫺ Wörter mit Bezug ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
auf die politischen Grundüberzeugungen (Ideologievokabular), auf die politischen Institutionen selbst (Institutionsvokabular), auf die zu regelnden Sachbereiche (Ressortvokabular), auf eine Vielzahl unspezifischer Handlungszusammenhänge (allgemeinsprachliches Interaktionsvokabular). (Vgl. Dieckmann 1969, 50 ff.; Klein 1989, 4 ff.)
Persuasives Potential manifestiert sich lexikalisch vor allem in Schlagwörtern (vgl. Niehr 2007). Sie enthalten kognitive, emotionale und normative Aspekte (vgl. Hermanns 1995; 2002) und zielen darauf Denken, Fühlen und Verhalten zu steuern. Als lexikalische Konzentrate verweisen sie auf häufig hoch komplexe Sachverhalte und bringen gleichzeitig ostentativ und appellierend die Einstellung zu diesen zum Ausdruck. Dabei fließen die emotionalen, evaluativen und normativen Bedeutungselemente vielfach ineinander (sog. „deontische Bedeutung“, Hermanns 1986). Zum Schlagwort gehören hohe Gebrauchsfrequenz und Verwendung an hervorgehobener Stelle (Überschriften etc.). Vielfach sind die ,Schlüsselwörter‘ eines Diskurses, d. h. Wörter, die sein konzeptuelles Zentrum markieren, gleichzeitig Schlagwörter. Sie sind häufig miteinander zu diskursspezifischen Schlagwortnetzen verknüpft (siehe 4.1).
3.2. Sprechhandlungen/Argumentation Die rhetorisch relevanten Dimensionen prägen sich in zahlreichen Sprechhandlungen aus. Bei INFORMIEREN, BEHAUPTEN, BEGRÜNDEN, ERKLÄREN und FRAGEN dominiert die kognitive Dimension. Allerdings: „Die Sätze politischer Rede […] haben schon als behauptende Aktionscharakter. […] Handlungsprädispositionen sollen stabilisiert, geändert oder zersetzt, Handlungen oder Unterlassungen bewirkt, Zustimmungsbereitschaft erzeugt werden.“ (Lübbe 1982, 52) Emotional geprägt sind BETROFFENHEIT ÄUSSERN, JUBELN, DANKEN u. Ä., willensbetont-normativ sind FOR-
127. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache der Politik DERN, APPELLIEREN, SICH BEKENNEN ZU, RATEN u. Ä. Beides mischt sich in Sprechhandlungen wie VORWERFEN, SICH EMPÖREN ÜBER, PROTESTIEREN und SICH IDENTIFIZIEREN MIT. Die wichtigste komplexe Sprechhandlung in politischer Kommunikation ist ARGUMENTIEREN (LEGITIMIEREN, DELEGITIMIEREN). Beim LEGITIMIEREN politischen Handelns dominiert ein universelles topisches Muster (Klein 2000a; 2003): Man stützt die positive Bewertung des (meist eigenen) Handelns, indem man ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
auf Situationsdaten verweist (Datentopos), handlungsmotivierende Situationsbewertungen vornimmt (Motivationstopos), sich auf leitende Prinzipien, Normen oder Werte beruft (Prinzipientopos), Ziele anführt (Finaltopos).
Vielfach treten zu dieser Konstellation von Argumenttypen (⫽ Topoi) noch der Konsequenztopos als Hinweis auf Folgen des Handelns oder Nicht-Handelns, der Autoritätstopos als Berufung z. B. auf Experten oder ⫺ bei religiös-fundamentalistischer Orientierung ⫺ auf Gott, der Exemplumtopos als Verweis auf Beispiele und/oder der Relevanztopos als Hinweis auf die (Un-)Wichtigkeit eines Gesichtspunktes (Kindt 1994, 472 ff.). Weitere Topoi (Kienpointner 1992) spielen eine untergeordnete Rolle oder sind Ausdifferenzierungen der Topoi des dargestellten Musters (so das Gros der Topoi in Wengeler 2003). In Parlamentsdebatten enthält die einzelne Rede nicht immer alle Topoi; doch wenn man die Reden einer Fraktion zur Rechtfertigung ihrer politischen Position zusammennimmt, bleibt das Muster selten unvollständig (vgl. Klein 1995, 33 ff.). Lediglich Fragmente des Musters finden sich in Statements. In TV-Nachrichten und der Berichterstattung regionaler Tageszeitungen werden zwar politische Positionen, doch selten ihre argumentative Stützung benannt. So erscheinen argumentationsreiche Parlamentsdebatten dem Publikum vielfach als argumentationsloser Schlagabtausch (ebd., 51 ff.). Demgegenüber sichert bei Volksabstimmungen in der Schweiz das Medium der „Abstimmungserläuterungen“ die breite öffentliche Präsenz aller wichtigen Pro- und Kontra-Argumente (vgl. Klein 2006).
3.3. Texte und Interaktionsormate In der politischen Kommunikation begegnen wir einer großen Zahl von Textsorten und Interaktionsformaten mit institutions-, aufgaben- und adressatenspezifischer Ausrichtung. Typenprägend wird das ganze Spektrum der klassischen rhetorischen Strategien mobilisiert: Informieren und Erklären von Zusammenhängen (docere), insbesondere Argumentieren (probare), zielt auf die kognitive Dimension (logos), Emotionalisieren (movere) auf Erregung starker Affekte (pathos) und Unterhalten (delectare) auf das Erzeugen einer positiven Stimmung. Angesichts dieser Vielfalt sollen wenige Hinweise genügen: ⫺ In Texten öffentlicher Auseinandersetzungen (Parlamentsreden, Parteitagsdebatten, Protestresolutionen u. Ä.), aber auch in nicht-öffentlichen Interaktionen (z. B. Fraktionssitzungen) begegnet man unterschiedlichen Mischungen aus rationalen, emotionalen und moralisch-normativen Persuasionsstrategien. ⫺ In der Expertenkommunikation (Gutachten, Sachverständigenanhörungen u. Ä.) ruhen die Persuasionshoffnungen vor allem auf der Überzeugungskraft von Analyse,
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I fachlicher Argumentation und der Symbolkraft von „Sachlichkeit“ ⫺ ob bzw. welche Interessen auch immer dahinter stehen. ⫺ In den Formaten der unterhaltungsorientierten Medien Fernsehen und BoulevardPresse, über die das Gros der Bevölkerung politische Kommunikation erfährt, hängen Persuasionschancen nicht zuletzt von der Erfüllung von Entertainment-Ansprüchen ab ⫺ auch in Formaten, die unter der Rubrik „Information“ firmieren (vgl. Postman 1985; Meyer 2001; Saxer 2007). ⫺ Auch der für die politische Binnenkommunikation besonders wichtige Interaktionstyp Verhandeln ist ⫺ anders als Dieckmanns (1969, 87 ff.) Unterscheidung zwischen „Sprache der Überredung“ und „Sprache des Verhandelns“ nahe legt ⫺ keineswegs persuasionsfrei (vgl. Osterkamp/Kindt/Albers 2000; Klein 2001, 1595 ff.). Persuasive Handlungen sind konstitutive Elemente des Verhandelns: Argumentieren für die eigene Position, Werben um Verständnis, Locken mit Angeboten, Vorbringen von Einwänden, gemeinsames Überlegen und herantastendes Argumentieren zugunsten von Kompromisslösungen. Auch Drohen für den Fall des Scheiterns ist als Ausprägung des Konsequenztopos persuasiv.
4. Konzeptualisierung 4.1. Wörter und Schlagwortnetze Die Konzeptualisierung der Welt ist eine zentrale Leistung der Sprache. Sie findet vornehmlich auf lexikalischer Ebene statt. Neue Begriffe lassen die Welt vielfach aus anderer Perspektive betrachten als zuvor ⫺ seit einigen Jahren etwa das Schlag- und Schlüsselwort Globalisierung (vgl. Klein/Meißner 1999, 10 ff.; Hermanns 2003; Liebert 2003). Grundlegende politische Konzepte entfalten sich in strukturierten Mengen von Schlagwörtern. Exemplarisch dafür steht ein (hier nur in seinen wichtigsten Bestandteilen wiedergegebenes) Schlagwortnetz, das seit Ende der 1940er Jahren in Deutschland eine prägende Rolle spielt und dessen Zentrum der Begriff Soziale Marktwirtschaft bildet. Eine solche Struktur lässt sich als „Frame“ übersichtlich abbilden. In Frames werden lexikalisierte Bestände kollektiver Überzeugungen auf zwei Ebenen repräsentiert: der Ebene der übergeordneten inhaltlichen Kategorien, die den Frame strukturieren („Slots“), und der Ebene der Lexeme des jeweiligen Schlagwortnetzes als den Konkretisierungen der Kategorien (Fillers). (Zur Begründung von Kategorien bzw. Slots: Konerding 1993, 141 ff.; Klein 1999, 159 ff.). Beispiel: Schlagwortnetz Soziale Marktwirtschaft (repräsentiert im Frame-Format, Slots: Fillers): rahmensetzender Zentralbegriff: Funktionsprinzip: zentraler Wert: Hauptbeteiligte: Relationen zw. Hauptbeteilgten: Ergebnis:
Soziale Marktwirtschaft Wettbewerb Freiheit Unternehmer, Verbraucher, Arbeitnehmer Markt, (Sozial-)Partnerschaft Wohlstand, soziale Sicherheit
Schlagwortnetze werden nicht nur zusammengehalten durch die im Frame repräsentierten sachbezogenen Zusammenhänge. Sie werden auch „konnotativ integriert“ durch die
127. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache der Politik zum Ausdruck kommende Grundeinstellung und den dominanten Kommunikationsgestus (Klein 1989, 31 ff.). Im Falle Soziale Markwirtschaft war das im ersten Nachkriegjahrzehnt der Optimismus eines entschlossenen Neuanfangs, dann über Jahrzehnte die Selbstgewissheit des Erfolgs und seit Ende der 1990er Jahre die Entschlossenheit zu ihrer Verteidigung gegen die Stürme der Globalisierung (Gerhard Schröder: Regierungserklärung v. 14. 3. 2003, Protokoll Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 32. Sitzung, 2480 D).
4.2. Polare Strukturen Die mobilisierende Kraft politischer Ideologien und Konzepte speist sich nicht zuletzt aus Abgrenzung und Kampfbereitschaft. Aufwertenden Begriffen für eigene Positionen stehen abwertende Begriffe für die des Gegners antonymisch gegenüber. Diese Struktur besteht unabhängig davon, ob Gegner als legitime Konkurrenten, politische Kriminelle oder vernichtenswerte Feinde konzeptualisiert sind. Sie gilt insbesondere für ⫺ Gruppenbezeichnungen: von der harmlosen Antithese wir (lexikalisch neutrale, aber prosodisch selbstbewusst akzentuierte Selbstbezeichnung) ⫺ die anderen (lexikalisch neutrale, in empörtem oder verachtendem Ton artikulierte Fremdbezeichnung) bis zur mörderischen Kontrastierung Arische Herrenrasse (NS-Bezeichnung für die als „Rasse“ konzeptualisierte Eigengruppe) ⫺ Parasiten/Schädlinge/Ungeziefer (NSFremdbezeichnungen insbesondere für die als minderwertige „Feindrasse“ konzeptualisierten Juden) ⫺ Hochwertbegriffe: z. B. die eigene Hochschätzung sozialer Gerechtigkeit im Kontrast zur sozialen Kälte des Gegners ⫺ Bezeichnungen für institutionelle Zustände: eigener Rechtsstaat vs. Unrechtsregime des Gegners ⫺ Ziele und Zustandsbeschreibungen: eigene Ziele im Kontrast zu Zuständen in gegnerischer Verantwortung, z. B. aus wirtschaftsliberaler Perspektive: Deregulierung vs. Regulierungswut. Positiv-Begriffe, die einer Gruppierung als Identifikationsmarken dienen, werden als „Fahnenwörter“, Negativbegriffe zur Stigmatisierung politischer Gegner als „Stigmawörter“ bezeichnet (Hermanns 1982, 91 f.) Zur Polarisierung werden lexematisch, morphologisch oder kontextuell bedingte deontische Potentiale genutzt: ⫺ Kompositumbildung: „Friedenspolitik“ (aufwertend), „Aufrüstungspolitik“ (abwertend) ⫺ Derivation: „Demokratisierung“ (aufwertend), „Reformitis“ (abwertend) ⫺ feste Kollokation: „Soziale Marktwirtschaft“ (aufwertend), „soziale Kälte“ (abwertend) ⫺ Synonymisierende Prädikation: So wurde in den Auseinandersetzungen um die Änderung des § 218 die Fristenlösung in aufwertender Perspektive mit Selbstbestimmung der Frau, in abwertender Perspektive mit Tötung ungeborenen Lebens synonymisiert. ⫺ Metaphorik: „Aufschwung Ost“ (aufwertend), „Sozialabbau“ (abwertend) ⫺ Hyperbolik: „Wirtschaftswunder“ (aufwertend), „Bildungskatastrophe“ (abwertend)
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I ⫺ Wortspiel (meist abwertend): „sozialistische Murkswirtschaft“ als Doppel-Paronomasie zum Eigennamen Marx und zum kontrastierenden Systemnamen Soziale Marktwirtschaft. Schlagwortnetze enthalten neben Positivbegriffen („⫹“) für die eigenen Konzepte oft abwertendes Vokabular („⫺“) für gegnerische. Exemplarisch lässt sich das am wirtschaftsliberalen Diskurs etwa ab Ende der 90er Jahre in Deutschland zeigen. Im Zentrum steht der Begriff Reform bzw. Reformpolitik. Dieses Netz, von dessen Schlagwörtern hier eine relevante Teilmenge präsentiert wird, ist beispielhaft auch für ein weiteres Phänomen: Schlagwörter fungieren häufig als auf Kurzform gebrachte Argumente. Darum folgt die Ordnung der Wörter in Schlagwortnetzen, die ein politisches Handlungskonzept repräsentieren, vielfach dem komplexen topischen Muster der Legitimierung politischen Handelns (siehe 3.2). Beispiel: Wirtschaftsliberales Schlagwortnetz Reformpolitik (repräsentiert im FrameFormat, Slots: Filler) Arbeitslosenzahlen, Globalisierung, der deutsche Sozialstaat Massenarbeitslosigkeit (⫺), Überregulierung (⫺), Versorgungsstaat (⫺), Globalisierung als Chance (⫹) Prinzipien: Freiheit (⫹), Wettbewerb (⫹), Eigenverantwortung (⫹), Gleichmacherei (⫺), Neidkultur (⫺) Ziele: Wettbewerbsfähigkeit (⫹) (Sicherung des) Standort(s) Deutschland (⫹), (mehr) Arbeitsplätze (⫹) geforderte Massnahmen: Reformen (⫹), Flexibilisierung (⫹), Deregulierung (⫹), Privatisierung (⫹), schlanker Staat (⫹) Situationsdaten: Situationsbewertung:
4.3. Metaphern Komplexe politische Sachverhalte werden vielfach in Form von Metaphernverbänden konzeptualisiert: Unter suggestiver Ausnutzung assoziativer Analogien strukturiert ein (meist sinnlich-anschauliches) Spenderkonzept weitgehend ein (meist abstraktes) Empfängerkonzept (Lakoff/Johnson 1980). Für den Staat gibt es seit der Antike unterschiedliche metaphorische Konzepte wie Schiff, Organismus und Person. Vor allem das Konzept Person kann man, wenn man über den Staat redet, kaum umgehen, es sei denn man hört auf, dem Staat als „juristischer Person“ zuzusprechen, was eine Person ausmacht: zu handeln, verantwortlich zu sein, zu haften u. Ä. Wie Böke (2002) für den Zuwanderungsdiskurs der letzten Jahrzehnte in Deutschland und Österreich gezeigt hat, erfolgt kognitive Steuerung durch metaphorische Konzepte auch in der deontischen Dimension. Böke, die methodisch auf die Frame-Theorie zurückgreift, kommt zu dem Ergebnis: Im Zuwanderungsdiskurs „dominiert die Bewegungs-Metaphorik nach dem Konzept ,fließendes Gewässer‘. Dieses Konzept eines ,naturhaften‘ Verlaufs wird zeitweise ergänzt durch den Aspekt ,kultivierender‘ Regulierungsmaßnahmen.“ So ergibt sich ein Frame mit folgenden Slots und Fillers: „Anfang (Reservoir, Nachschubquelle etc.) ⫺ Weg (Strom, Zustrom, Welle, Flut, überfluten, überschwemmen) ⫺ Hindernis/Regulator (Damm, eindämmen, kanalisieren, Schleuse, einschleusen) ⫺ Ende (Ausländerschwemme)“. (Böke 2002, 270) Die Lexeme werden über-
127. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache der Politik wiegend in den Dienst einer deontisch negativen Konzeptualisierung der Zuwanderung gestellt ⫺ unter Ausblendung der prinzipiellen Differenz der Sphäre des Menschen (Individualität, Menschenrechte etc.) zu physikalischen Phänomenen.
4.4. Political Correctness/Euphemismus „Political Correctness“ und „Euphemismus“ sind Kategorien sprachkritischer Reflexion. Political Correctness ist eine bewusste Sprachpraxis, in der als diskriminierend geltende Bezeichnungen für Personengruppen (Asylant, Unterschicht) stigmatisiert und durch Bezeichnungen ersetzt werden, in denen die jeweilige Gruppe diskriminierungsfrei konzeptualisiert wird (z. B. Asylbewerber, Arme). In Deutschland und Österreich sind vor allem Wörter, die als NS-infiziert gelten, im Ruch politischer Unkorrektheit. Auch der Euphemismus stellt den Versuch dar, einen Sachverhalt so zu konzeptualisieren, dass positive oder zumindest neutrale Deontik impliziert ist. Im Unterschied zu ,politisch korrekten‘ Bezeichnungen, deren Korrektheit darin besteht, als ehrenwert betrachtete Referenzobjekte vor sprachlicher Diskriminierung zu schützen, wendet man sich mit dem Begriff Euphemismus kritisch gegen sprachliches Kaschieren negativ bewerteter Sachverhalte. Das Spektrum reicht vom Euphemismus Sonderbehandlung als zynische Nazi-Bezeichnung für politisch oder rassistisch motivierten Mord bis zu verharmlosenden Allerweltsbegriffen wie Diskussionen zur Bezeichnung harter innerparteilicher Personalauseinandersetzungen.
4.5. Texte und Interaktionsormate Programmorientierte Textsorten konzeptualisieren Politik als Katalog von Gestaltungsoptionen: ⫺ Grundsatzprogramme im Gestus des Bekenntnisses zu politischen Ideen und Prinzipien, ⫺ Wahlprogramme kämpferisch und/oder vollmundig als Füllhorn erwünschter Maßnahmen, ⫺ Regierungserklärungen ⫺ eingerahmt von ideologischen Akzentsetzungen am Anfang und am Schluss ⫺ als entschlossen, aber nüchtern vorgetragenes Spektrum der Vorhaben in der kommenden Regierungsperiode. Boulevard-Presse, politische Magazine und die meisten TV-Formate konzeptualisieren Politik primär als personenbestimmte Konfrontation. In Beiträgen von Interessengruppen, Verbänden, Bürgerinitiativen oder NGO’s, etwa zu parlamentarischen Hearings, erscheint Politik als hürdenreiches Feld der Durchsetzung von ⫺ jeweils als berechtigt behaupteten ⫺ Interessen. Protestformate und -texte gerieren sich als moralisch gebotenes Aufbegehren gegen die ,Herrschenden‘ und ihre als willkürlich und/oder unverantwortlich angeprangerten Maßnahmen. In Wahlkämpfen überlagern sich diese ,Bilder‘ von Politik, häufig mit dramatisierter Zuspitzung auf die Konfrontation zwischen Spitzenkandidaten.
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In den epideiktischen Textsorten, insbesondere Reden, wird dagegen eine konsensuale Welt der Werte, der Erinnerung, der Anerkennung oder des Feierns modelliert. Das Spektrum reicht von der (in Deutschland und Österreich wegen der NS-Vergangenheit und in Deutschland auch wegen der DDR-Diktatur heiklen) Gedenkrede über die TVWeihnachtsansprache des Bundespräsidenten bis zu Eröffnungsreden von Messen u. Ä. Allerdings verkneifen Redner es sich dabei nicht immer, per Andeutung oder Implikatur indirekt und daher schwer angreifbar zu strittigen Fragen Stellung zu beziehen (vgl. Liedtke 1996). Das Interaktionsformat ,Debatte‘, das im Mittelpunkt der zentralen politischen Institution, des Parlaments, steht, konzeptualisiert Politik nicht nur als Wettbewerb, sondern konstituiert sie als solchen.
5. Wettbewerb Wie totalitäre Ideologien mit Monopolanspruch auf Macht zeigen, läuft polarisierende Konzeptualisierung von Welt nicht eo ipso auf institutionell geregelten Wettbewerb hinaus. Sich dem Wettbewerb mit politischen Gegnern zu stellen hat Folgen auf allen Ebenen der Sprachverwendung. Im Nebeneinander und Gegeneinander von Regierenden und Regierten, Parteien, Verbänden, Medien, Experten und Nicht-Experten, Einzelpersonen und Gruppen versuchen vor allem die Machtinteressierten, ihre Sprache und damit ihre Sicht der politisch-sozialen Welt durchzusetzen.
5.1. Wettbewerbskonstellationen Politischer Wettbewerb wird öffentlich überwiegend in verbaler Konfrontation ausgetragen, die auch das linguistische Interesse stark anzieht. Darüber darf nicht aus dem Blick geraten, dass es unterschiedliche Wettbewerbkonstellationen ⫺ offene politische Gegnerschaft, Koalition, Flügel innerhalb einer Partei ⫺ mit jeweils eigenen (ungeschriebenen) Regeln der öffentlichen Beziehungskommunikation gibt: ⫺ Gegenüber dem politischen Gegner sind im Regelfall die Differenzen zu betonen ⫺ bei Konzeptionen wie bei Einzelheiten. Dahinter steht die demokratietheoretische Auffassung, dass eine lebendige Demokratie vom Streit als Ausprägung von Meinungsfreiheit, gegenseitiger Kontrolle und ernsthaftem Ringen um die beste politische Lösung lebt. ⫺ Unterschiedliche politische Konzepte von Koalitionsparteien dürfen als solche markiert werden, doch ohne den Koalitionspartner polemisch anzugreifen. ⫺ Zwischen innerparteilichen Flügeln und Rivalen sind inhaltliche Differenzen möglichst nicht als unterschiedliche Grundpositionen, sondern als unterschiedliche Akzente auf gemeinsamer Grundlage darzustellen.
5.2. Lexikalische Konkurrenzen Lexikalische Konkurrenzen sind ein wesentlicher Teil demokratischer Auseinandersetzung (Wengeler 2005, 191 f.). Bei ihrer Analyse müssen sämtliche Konstituenten des ,sprachlichen Zeichens‘ beachtet werden:
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⫺ der Ausdruck (vor allem bei Substantiven, Adjektiven und Verben meist ,Bezeichnung‘ genannt), ⫺ das Konzept mit seinen kognitiven, deontischen und konnotativen Aspekten sowie ⫺ der auf diese Weise konzeptualisierte Sachverhalt, das sog. ,Referenzobjekt‘. (Das hier zugrunde gelegte triadische Zeichenmodell ist erkenntnistheoretisch nicht unproblematisch, sprachanalytisch aber unverzichtbar.) Es lassen sich fünf Haupttypen unterschieden (Klein 1991): (1) Konzeptkonkurrenz Hier konkurrieren Konzepte, die mit unterschiedlichen Bezeichnungen auf unterschiedliche Sachverhalte referieren, aber denselben Regelungsbereich betreffen. Beispiel: die Auseinandersetzung über die sog. ,Gesundheitsreform‘, die in Deutschland etwa ab 2003 als Konflikt Gesundheitsprämie (CDU) vs. Bürgerversicherung (SPD, Grüne) geführt wird. Im Falle der Konzeptkonkurrenz gibt es keinen innerlexematischen Aspekt, der zwischen den Konkurrenzbegriffen übereinstimmt ⫺ mit einer Ausnahme: Sie fallen unter denselben Oberbegriff: ,Finanzierung des Gesundheitswesens‘. (2) Bezeichnungskonkurrenz Anders als im vorherigen Typus konkurrieren hier unterschiedliche Bezeichnungen für denselben Sachverhalt bzw. dasselbe Referenzobjekt. Aus parteilicher Perspektive werden an ihm jeweils solche Aspekte hervorgehoben, die im einen Falle die gewünschte positive und im anderen die negative Deontik motivieren. Beispiel: Selbstmordattentäter. In weitesten Teilen vor allem der ,westlichen‘ Welt werden sie mit dem Stigmawort Terroristen, von militanten Islamisten dagegen mit dem Fahnenwort Märtyrer bezeichnet. Im einen Falle wird darauf abgehoben, dass es sich um Personen handelt, die unter Missachtung des internationalen Kriegsrechts in spektakulären Gewaltaktionen mit möglichst vielen Toten Angst und Schrecken verbreiten, im anderen, dass sie ihr Leben für Gott opfern. Bezeichnungskonkurrenz kann sich auf ganze Begriffsnetze erstrecken. So schlug sich der ideologische Wettbewerb zwischen der Bundesrepublik und der DDR u. a. darin nieder, dass die wichtigsten Begriffe des Schlagwortnetzes „Soziale Marktwirtschaft“ (s. 4.1) durch ihre marxistischen Kritiker in allen wichtigen Kategorien (⫽ Slots der Frame-Repräsentation) konterkariert wurden: im Slot rahmensetzender Zentralbegriff Soziale Marktwirtschaft durch Kapitalismus, im Slot Funktionsprinzip Wettbewerb durch Profitmaximierung, im Slot zentraler Wert Freiheit durch die Unwertbegriffe Ausbeutung und Entfremdung, im Slot Hauptbeteiligte Unternehmer durch Kapitalist, Arbeitnehmer durch Arbeiterklasse, im Slot Relationen zwischen den Hauptbeteiligten (Sozial-)Partnerschaft durch Klassenkampf und im Slot Ergebnis Wohlstand, soziale Sicherheit durch Arbeitslosigkeit. Es ist kein Zufall, dass in den Slot-Kategorien ,Hauptbeteiligte‘ und ,Relationen zwischen den Hauptbeteiligten‘ für die Begriffe Verbraucher und Markt griffige Kontrastbegriffe fehlen; denn diese (für das kritisierte System zentrale) Seite bleibt in der marxistisch-leninistischen Ideologie weitgehend außerhalb des konzeptuellen Fokus. (3) Bedeutungskonkurrenz (deskriptiv) Bedeutungskonkurrenz, auch als „ideologische Polysemie“ bezeichnet (Dieckmann 1969, 70 ff.), liegt vor, wenn unterschiedliche Gruppierungen denselben Ausdruck in unterschiedlichen Bedeutungen verwenden, z. B. Hochwertwörter wie Freiheit, auf die nie-
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mand verzichten möchte. Die Hochwertigkeit wird nicht angetastet, doch die inhaltliche („deskriptive“) Seite des Konzepts wird je spezifisch gefasst. Während Freiheit in der Programmtradition der SPD primär bedeutet, nicht bedrückt zu sein von entwürdigenden Abhängigkeiten, von Not und Furcht ⫺ wofür vor allem der Staat zu sorgen hat ⫺ (vgl. Hamburger Programm. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 2007, 15), steht im Zentrum des liberalen Freiheitsbegriffs ein starker Impetus gegen staatliche Begrenzungen des Handelns der Bürger und darum die Forderung nach weniger Staat (vgl. F.D.P. Die Liberalen: Wiesbadener Grundsätze. Für die liberale Bürgergesellschaft. 1997, 9 ff.). Im SPD-Verständnis ist (soziale) Gerechtigkeit der wichtigste ,Grundwert‘ und notwendige Bedingung für Freiheit. Demgegenüber ist für die FDP Freiheit der zentrale Wert, der alle anderen Werte, einschließlich der Gerechtigkeit, ermöglicht. Kontrahenten pflegen die gegnerische Bedeutung negativ zu interpretieren. So unterstellen Sozialdemokaten der FDP gerne, dass diese ,in Wahrheit‘ Wettbewerbsfreiheit und unternehmerische Freiheit auf Kosten der Arbeitnehmer, der Umwelt etc. meine, während die FDP der SPD zu unterstellen pflegt, es mit der Freiheit ,in Wahrheit‘ nicht sehr ernst zu meinen, weil sie diese von einer sozialen Gerechtigkeit abhängig mache, die durch den Begriff der Gleichheit definiert werde, was mit dem Begriff der Freiheit unvereinbar sei. (4) Bedeutungskonkurrenz (deontisch) Kämpfe um die deontische Bedeutung entstehen mit dem Umwerten eines vom Gegner benutzten Wortes. Dazu bedarf es günstiger Bedingungen. So gelang es den sog. ,bürgerlichen‘ Kräften in der Bundesrepublik, das zuvor überwiegend positiv besetzte Wort sozialistisch ⫺ das, wie die Parteibezeichnung „nationalsozialistisch“ zeigt, nicht nur auf der linken Seite des politischen Spektrums beliebt war ⫺ erst dann beim Gros der Bevölkerung zum Stigmawort umzuwerten, als der real existierende Sozialismus in der DDR immer mehr als abschreckend und prototypisch für Sozialismus empfunden wurde. (5) Konkurrenz um konnotativen Glanz Ähnlich der Wirtschaftswerbung wird versucht, sich Positiv-Begriffen so fest zu assoziieren, dass diese zu Konnotaten des eigenen Politik- oder Personenkonzeptes werden ⫺ etwa wenn Politiker aller Couleurs mit dem hochfrequenten Gebrauch des Adjektivs nachhaltig darum wetteifern, als jemand zu gelten, der ,über den Tag hinaus‘ denkt. Ein ganzes Wortfeld war betroffen, als die rot-grüne Bundesregierung es 2002/2003 unternahm, anlässlich einer Organisationsreform der Arbeitsverwaltung Bezeichnungen, denen der Ruch bürokratischer Schwerfälligkeit anhing, durch solche zu ersetzen, die das Flair modernen Managements mitbrachten: Aus „Bundesanstalt für Arbeit“ wurde „Bundesagentur für Arbeit“, aus „Arbeitsämtern“ „Agenturen für Arbeit“, aus „Arbeitsvermittlern“ „Fallmanager“, aus „Leistungsempfängern“ „Kunden“ etc. Hier steht der Austausch der einzelnen Bezeichnungen im Dienst einer übergreifenden Konnotationsstrategie.
5.3. Sprechhandlungen/Argumentation Die Spanne zwischen kompetitiver und kooperativer Interaktion politischer Wettbewerber schlägt sich nieder in dem Spektrum SICH EMPÖREN ÜBER, VORWERFEN, ANGREIFEN, KRITISIEREN, WARNEN, SICH BESORGT ZEIGEN, RATEN, ZUSTIMMEN, ÜBEREINSTIMMUNG ERKLÄREN MIT, LOBEN.
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Die Art der Konkurrenzbeziehung lässt sich auch an den Varianten des komplexen Sprechhandlungstyps KONTRA-ARGUMENTIEREN erkennen. In scharfen Auseinandersetzungen werden die Regeln fairen Argumentierens (Groeben/Schreier/Christmann 1993) vielfach nicht eingehalten: Man ignoriert die Argumente der Gegenseite, entstellt sie in negativer Lesart (Kindt 2000, 329 ff.) oder verwendet Pseudo-Argumente, z. B. Evidenz suggerieren, Quantität gegen Quantität ausspielen, unzulässig verallgemeinern (Klein 1996, 7 ff.). Einen entgegenkommenderen Umgang mit Kontrahenten markiert KONZESSIVES ARGUMENTIEREN. Es folgt dem Schema Obwohl X, plädiere ich für Y; denn Z. Per Verwendung einer Konzessiv-Konjunktion wie obwohl konzediert man der Gegenseite immerhin, dass X an sich nicht falsch sei ⫺ nur sei es angesichts des relevanteren ProArguments Z nicht geeignet, die eigene Position zu entkräften.
5.4. Interaktionsormate/Texte Interaktionsformate, in denen politischer Wettbewerb als öffentliches Aufeinandertreffen der Konkurrenten in Face-to-face-Kommunikation stattfindet, sind: ⫺ die Parlamentsdebatte als Institution von Verfassungsrang, ⫺ die Fernseh- und Hörfunkdiskussion als massenmediales Programmelement, ⫺ Podiumsdiskussionen u. Ä. als freie Veranstaltungstypen. Oberhalb dieser Ebene stellen Wahlkampf und (in der Schweiz) Referendum-Kampagnen Makro-Formen strukturierter wettbewerblicher Interaktion dar. In nicht-öffentlichen Interaktionsformaten gelten trotz häufig gleicher KonkurrentenKonstellation andere Kommunikationsregeln als in öffentlichen. So ist in nicht-öffentlichen parlamentarischen Ausschusssitzungen der scharfe, polemische Ton im Umgang mit dem politischen Gegner verpönt. In Fraktion- und Parteitagsdebatten treffen konkurrierende Meinungen innerhalb einer politischen Gruppierung aufeinander ⫺ häufig getragen von Parteiflügeln (vgl. Klein/Steyer 2000, 302 ff.). Bemerkenswert ist der Unterschied zu parlamentarischen Plenardebatten. Plenardebatten sind Legitimationsdebatten. Da vorher in den Fraktionen entschieden ist, wie abgestimmt wird, gibt es normalerweise keine Chance, im Plenum noch Stimmen zu gewinnen, und daher keinen Grund, den Gegner vor der Öffentlichkeit zu schonen. Demgegenüber sind Fraktions- und Parteitagsdebatten Entscheidungsdebatten. Dort können vor der Abstimmung durch Argumentation Stimmen gewonnen werden. Dazu kommt ⫺ trotz Vorhandensein von Flügeln ⫺ die Prätention, eine politische Einheit zu sein. Beides begünstigt kooperativen Stil ohne persönliche Schärfen. Wettbewerb innerhalb von Schrifttexten ist auf institutioneller Ebene die Ausnahme ⫺ etwa die Textsorte Parlamentarischer Ausschussbericht, die obligatorisch die Positionen von Ausschussmehrheit und -minderheit enthält. Ansonsten wird fairer Wettbewerb z. B. durch Regeln über das Recht politischer Konkurrenten, jeweils eigene Texte einzubringen, gewährleistet. In der Presse gibt es mehrere Formen, politischen Wettbewerb in Schrifttextform zu arrangieren ⫺ vom Text-Cluster mit Pro- und Contra-Stellungnahme über das abgedruckte Streitgespräch, das Doppelinterview mit politischen Kontrahenten, die Synopse konkurrierender Wahlprogramme bis zu Berichten über konkurrierende Positionen und dem ,ausgewogenen‘ Abdruck von Leserbriefen.
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6. Adressaten- und Medienorientierung 6.1. Adressatenspektrum und sprachstilistische Hauptorientierung Das Adressatenspektrum von Politik ist breit. Es umfasst Anhänger, Gegner und Indifferente, Betroffene und Nicht-Betroffene, Experten und Laien, Menschen unterschiedlicher Interessen, Überzeugungen, Gruppen- und Schichtzugehörigkeit und, wenn es um internationale Themen geht, andere Staaten und internationale Organisationen. Mehrfachadressierung ⫺ offen oder implizit ⫺ ist der Normalfall (vgl. Kühn 1995). Der Druck, vielen gleichzeitig gerecht zu werden, verführt leicht zu einer Sprache, in der möglichst viele Kanten, an denen Adressaten Anstoß nehmen könnten, abgeschliffen sind. Bei aller Breite und Vielfalt gilt: Die Adressaten öffentlicher politischer Kommunikation sind überwiegend Bürger/-innen, deren Verhältnis zur Politik unprofessionell und mediengeprägt ist. Adressatenorientierte politische Sprachverwendung ist darauf in hohem Maße eingerichtet. In den Massenmedien konkurrieren politische Themen mit anderen Themen um Aufmerksamkeit. Sofern nicht spektakuläre politische Ereignisse vorliegen, die eo ipso kollektive Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nötigt das zur Verwendung sprachlicher Operationen, die Wahrnehmbarkeit, Interessantheit, Eingängigkeit und Erinnerbarkeit steigern. Auf lexikalischer Ebene führt das zur Favorisierung attraktiver Themenstichwörter und deontisch aufgeladener Schlagwörter, auf Sprechaktebene zur Formulierung knapper Thesen, Appelle und Positionsbestimmungen auf der Basis weniger, möglichst eingängig formulierter Argumente, gegebenenfalls verknappt zu Slogans und Parolen. Bei der Textstrukturierung dienen diesem Zweck rhetorische Mittel der Dramatisierung und Zuspitzung (Antithese, Hyperbel, Klimax, Sarkasmus), der Anschaulichkeit (Metapher, Vergleich, Metonymie, Synekdoche), des einfachen Aufbaus (Reihung, Top Down, Drei-Schritt) und der Auflockerung (Witz, Ironie, Registerwechsel). Als Textsorten kommen Kurzformen wie Statement, Presseerklärung, Anzeige, Spot u. Ä. dem entgegen. Wo visuelle Mittel eine Rolle spielen ⫺ vom Plakat über den TVSpot bis zum Cover der Parteiprogramm-Broschüre ⫺ bestimmt werbliches Design die Bemühungen um ein einheitliches, markantes und sympathisches Bild der Partei. Auch anspruchsvollere Textsorten unterliegen der Vereinfachung. So sind Grundsatzprogramme von Parteien im Vergleich zu den philosophischen und ideologischen Basistexten, die den ideengeschichtlichen Hintergrund bilden, eher populär formuliert.
6.2. Kommunikationsprinzipien 6.2.1. Kommunikationsethik Innerhalb und außerhalb des Massenpublikums ist das Spektrum der Interessen, der Forderungen und Erwartungen an Politik sehr uneinheitlich. Dennoch scheint es eine normative Konstante zu geben: die konstitutiven und gleichzeitig ethischen Prinzipien ernsthafter Kommunikation (vgl. Grice 1975/1968; Habermas 1971), die aus Adressatenperspektive gleichbedeutend sind mit den Ansprüchen auf ⫺ Wahrhaftigkeit des Emittenten, ⫺ epistemische Fundiertheit („Wahrheit“) des Gesagten,
127. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache der Politik ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
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deontische Fundiertheit (normative „Richtigkeit“) des Gesagten, Verständlichkeit des Gesagten, Relevanz des Gesagten, Informativität des Gesagten.
Trotz der universellen Geltung dieser Ansprüche fehlt im Bereich der Politik ein verbindlicher Maßstab für ihre Erfüllung. Politiker/-innen müssen auch dann, wenn sie aus ihrer Sicht den kommunikationsethischen Ansprüchen genügen, damit rechnen, dass Rezipienten ihnen mit gleicher ehrlicher Überzeugung Unglaubwürdigkeit, Entstellung von Tatsachen, mangelndes Verantwortungsbewusstsein etc. vorwerfen.
6.2.2. Strategische Maximen Hinzu kommt: Politiker/-innen sind Vertreter von Parteien, für die auch strategische Maximen des Eigeninteresses gelten, insbesondere: (1) (2) (3) (4)
Stelle die eigene Position positiv dar! Stelle die gegnerische Position als ablehnenswert dar! Demonstriere Leistungsfähigkeit und Durchsetzungskraft! Mache dir durch deine Rede in relevanten Gruppen möglichst viele geneigt, vor allem aber möglichst wenige zu Gegnern! (5) Halte dir Operationsspielräume offen ⫺ auch wenn du dich festlegen musst! Das sprachliche Handeln nach jeder der Maximen mobilisiert bei der eigenen Gruppierung, bei Gegnern und bei umworbenen Dritten unterschiedliche Wirkungspotentiale: Die vehemente eigene Positivdarstellung (1), verknüpft mit verbaler Geißelung von Gegnern (2) stärkt den Gruppenzusammenhalt, z. B. wenn zentrale Parteitagsreden zu kollektiven Erlebnissen von Gruppenidentität werden (vgl. zur Kategorie „Text als Erlebnis“ Hermanns 2006). Gegenüber Gegnern ist der Kommunikationsmodus provokativ ⫺ allerdings sind persuasive Effekte mit Verzögerung nicht ausgeschlossen; denn beharrlich hart attackiert zu werden, kann zu Positionsänderungen führen. Maxime (3) motiviert zu ,Alles-im-Griff‘-Attitüden und zu ,Symbolischer Politik‘ (Sarcinelli 1987). Verhalten nach dieser Maxime soll das Selbstbewusstsein der eigenen Seite stärken, die Gegner verunsichern und beim breiten Publikum Vertrauen schaffen. Maxime (4) führt einerseits zu affirmativem Bezug auf Konsenspotentiale, z. B. durch Abstimmung von Sprachstil, kognitivem Niveau und inhaltlicher Akzentuierung auf den Adressatenkreis, etwa im Gebrauch von Schlüsselwörtern und Stereotypen. Die andere Folge sind vorsichtige Formulierungen im Hinblick auf unliebsame Maßnahmen für potentielle Wählergruppen. Bei breitem Adressatenspektrum ermöglichen illokutionäre Undeutlichkeit und lexikalische Vagheit vor allem bei Verwendung der im Wortschatz der Politik reichlich vorhandenen Abstrakta eine größere, mehr Adressaten erfassende „Integrationsleistung“ (Bergsdorf 1985, 189). Darüber hinaus eröffnen sie ⫺ im Sinne von Maxime (5) ⫺ Operationsspielräume für künftiges Handeln. Auch die außenpolitische Sprachverwendung wird ⫺ in Deutschland vor allem seit der Vereinigung 1990 ⫺ sehr durch die Maximen (4) und (5) bestimmt.
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6.2.3. Maximenkonlikte und Kaschierverahren Nach den strategischen Maximen zu verfahren bedeutet nicht selten, gegen die kommunikationsethischen Prinzipien zu verstoßen. Strategien, dies möglichst zu kaschieren, sind z. B. ⫺ bei Verstoß gegen das Wahrhaftigkeitsgebot: Konzentration auf Teilwahrheiten, Unwahres suggerieren statt explizit behaupten, Erinnerungslücken vorgeben etc. ⫺ bei Verstoß gegen das Gebot fundiert zu reden: an Stereotype anknüpfen, Evidenz behaupten, Beweislast verschieben etc. ⫺ bei Verstoß gegen die Gebote, sich informativ und relevant zu äußern: Bekanntes oder Unbedeutendes mittels bedeutsam klingendem Vokabular oder anderen Gewichtigkeitsattitüden als relevante Neuigkeit suggerieren, unbemerkt vom Thema ablenken, etc. (Klein 1996, 12 ff.) Der Erfolg von Kaschierstrategien wird begünstigt durch die Flüchtigkeit audio-visueller Rezeption, etwa bei Saal- oder Fernsehpublikum, aber auch durch Entertainment-Ansprüche, die ⫺ ebenfalls primär unter audio-visuellen Rezeptionsbedingungen ⫺ an Politiker/-innen gestellt werden: Lebendigkeit, Gags, Provokation, konfliktbezogene Spannung, Ausspielen sympathischer Imagequalitäten u. Ä. (Klein 1997; Saxer 2007).
6.3. Medienorientierung 6.3.1. Schritmedien Adressatenorientierte Sprachstrategien sind vielfach medienbedingt. In den Schriftmedien sind sie meist textsortenspezifisch: Wahlplakat und -annonce zwingen zur Zuspitzung auf Slogan-Format. Der Aufsatz in einer Elite-Zeitung nötigt zu reflektierend-argumentativem Stil. Im Interview versucht man, sich in Aussage und Stil auf die Erwartungen der jeweiligen Leserschaft einzustellen.
6.3.2. Fernsehen Bildlichkeit, Flüchtigkeit und Unterhaltungsorientierung des Fernsehens begünstigen Personalisierung mit Vorrang von Ausstrahlung vor Sachkompetenz. Als sprachliche Merkmale sind ausstrahlungsrelevant: ⫺ markante verbale Identität mit überwiegend positiven Anmutungsqualitäten von Stimmlage, Sprechfluss, Lautstärke, Artikulation, Regionalakzent und Redetemperament; ⫺ Interessantheit, Anschaulichkeit und Lebendigkeit der sprachlichen Darstellung; ⫺ Situationsangemessenheit im sprachlichen Ausdruck von Emotionen: je nach den Umständen Gelassenheit, Heiterkeit, Ernst, Betroffenheit, Entrüstung etc. ⫺ Souveränität und Situationsangemessenheit im Umgang mit dem Gegenüber: je nach Situation Schlagfertigkeit, verbale Härte, Sachlichkeit, Fairness, Solidaritätsbekundung etc.
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Ein Beispiel für formatspezifisches Kommunikationsverhalten im Fernsehen liefern Politische Fernsehdiskussionen und Talkshows. Die eigentlichen Adressaten sind die TV-Zuschauer. Dennoch inszenieren die Akteure die Sendung weitgehend so, als ob sie eine von den Zuschauern unabhängige Diskussion untereinander durchführten (vgl. Dieckmann 1985). Wechselseitiges Provozieren und Abarbeiten der Provokationen hat hier vielfach Vorrang vor sachlogischer Ausrichtung der Argumentation (Holly/Kühn/Püschel 1986).
6.3.3. Internet Seit kurzem wird das Internet als Medium für politische Kommunikation immer interessanter. Es ermöglicht Ansprache der Adressaten unabhängig von Sendern, Verlagen und Redaktionen. Das gilt seit der Wahlkampagne 2007/2008 des späteren US-Präsidenten Barack Obama insbesondere für die E-Mail-Kommunikation zwischen Kandidat(enteam) und Anhängern sowie für die Selbstorganisation von Anhängergruppen per elektronischen ,sozialen Netzwerken‘. Die älteste Form unspezifischer Adressatenansprache per Internet ist die Homepage, meist eine Mischung aus Daten zur Person, Terminen und thematischen Statements. Ein spezifischer sprachlicher Stil politischer InternetKommunikation ist bisher nicht zu erkennen, eher eine Tendenz zur Format-Spezifik. So zeigen die Beiträge von Politikern in Chats Merkmale einer an Mündlichkeit orientierten dialogischen, besser: polylogischen Schriftlichkeit mit ⫺ gemessen an TV-Formaten ⫺ gesteigertem Einsatz von Unterhaltungselementen (Diekmannshenke 2001, 250 f.). Gemessen an privater Chat-Kommunikation enthalten Politikerbeiträge allerdings ein geringeres Maß an Abweichung von förmlicher Schriftlichkeit, und die sprachlichen Indikatoren von Spontaneität sind geringer ausgeprägt. Das gilt verstärkt für Politiker-Blogs. Internet-spezifisches ,Negative Campaigning‘ leistet das Format Rapid Response ⫺ eine unmittelbare Erwiderung auf den politischen Gegner in Form pointierter Kontra-Argumentation, die den Eindruck von Sachlichkeit und Fakten-Orientierung zu vermitteln sucht und daher überwiegend mit dem Datentopos (s. o.) arbeitet (Girnth 2005). (Noch) in der Tradition von Spitzenkandidaten-TV-Spots steht das audio-visuelle Internet-Format Podcast. Medien- und Interaktionsspezifik weisen die Formen des politischen Protestes auf. Ihr typisches Interaktionsformat ist die Protestdemonstration, charakteristisches Medium das Transparent, beschriftet mit Protestsprüchen, eine Kurztextsorte mit Vorliebe für drastische, manchmal witzige Formulierungen. Fernsehen bietet Protestformen ihrer visuellen Merkmale wegen gute Chancen auf breite Resonanz. Mehr und mehr wird das Internet zur Propagierung und Organisation von Protest genutzt.
7. Nicht-persuasive Formen und Grenzälle Nicht-persuasiv sind reine Informationstexte und direktive Texte, die den Adressaten keine Entscheidungsfreiheit über Annahme oder Ablehnung lassen. Nicht-persuasive Textsorten, die politischen Akteuren als informatorischer Input dienen, sind
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I Synopsen von Pressestellen oder Presseämtern über die Medienberichterstattung, Berichte von Botschaften, Geheimdiensten u. Ä. demoskopische Umfragen Statistiken, Dokumentationen, empirische Forschungsarbeiten.
Nicht alles, was nach Informationsorientierung klingt, gehört zu den nicht-persuasiven Formen. So enthalten die Textsorte Parlamentarische Anfrage und das Interaktionsformat Parlamentarische Fragestunde persuasive Brisanz, obwohl die Fragen ,sachlich‘ formuliert sein müssen: Fragen aus den Oppositionsreihen zielen gern auf Bloßstellung, Fragen aus Regierungsfraktionen auf positive Selbstdarstellung der Regierung. Auf direktive Textsorten trifft man in der politischen Kommunikation beim Output (Gesetz), beim Input (Verfassungsgerichtsurteil) und in der Binnenkommunikation (Parlamentarische Geschäftsordnung). Allerdings: Solange ein Gesetz Gegenstand parlamentarischer Beratung ist, stellt es keinen selbständigen Text dar, sondern bildet mit der Begründung den Gesetzentwurf. Der Begründungsteil ist persuasiv. Er enthält die Argumente für das Gesetz und wendet sich ⫺ für die Annahme werbend ⫺ an das Parlament als Gesetzgeber. Erst mit der Verabschiedung löst sich das Gesetz mit seiner Direktionsmacht als direktiver Teil aus der Kombination mit der Begründung und tritt gleichzeitig aus der Sphäre der Politik über in die Sphäre des Rechts. Gesetze sollen möglichst präzis (und gleichzeitig deutungsoffen für unvorhersehbare Fälle) formuliert sein. Stilistische Merkmale sind: Ressortund Rechtsterminologie, „Synonymenscheu und Variationsarmut“ (Diekmann 1969, 92), Substantivstil und Attributketten, Indikativ in konstatierend-präskriptiver Doppelfunktion, viele Konditionalgefüge und insgesamt „eine entpersönlichte Form, um ein Höchstmaß an Objektivität, Problemoffenheit und Allgemeinheit sicherzustellen“ (Kirchhof 2002, 119). Stilistisch verwandt mit dem Gesetz ist der Staatsvertrag. Zentral für das parlamentarische Prozedere ist die Geschäftsordnung, stilistisch geprägt durch Institutionsvokabular und normative Modalität, häufig in Form des präskriptiven Indikativs. Verfassungsgerichtsurteile sind ⫺ als Urteile ⫺ direktiv. Da ein Urteil jedoch nur in Kombination mit seiner Begründung gilt, eignet dieser Textsorte sekundär ein persuasiver Zug: In der Begründung wird versucht, das Urteil plausibel zu machen. Während auf die präskriptiven und normsetzenden Feststellungen des Urteils selbst nur wenig Textquantität entfällt, ist der Teil Gründe meist umfangreich. Dort dominiert lexikalisch eine Kombination aus Allgemeinsprache, verfassungsrechtlicher Terminologie und jeweiligem Ressortvokabular, während in der Argumentation Auslegung der Verfassung, Deutung des beurteilten Gesetzes und juristische Topik miteinander verknüpft sind. Ein Grenzfall ist auch die Verfassung selbst. Der Verfassungsgeber konstituiert die politische Ordnung, auf deren Einhaltung er Staat und Bürger verpflichtet. Insofern sind Verfassungen primär keine persuasiven Texte. Dementsprechend gleichen die stilistischen Charakteristika weiter Teile von Verfassungen denen von Gesetzen. Der pragmatische Charakter moderner Verfassungen erschöpft sich allerdings nicht in Direktivität. Mit Grund- und Menschenrechtskapiteln, auch ⫺ wie das deutsche Grundgesetz ⫺ mit Präambeln, enthalten sie hervorgehoben platzierte Teile, die lexikalisch dominiert werden durch politisch-ethische Hochwertbegriffe und deren zentrale Normgehalte in einer lakonischen Sprache formuliert sind, die den Appell impliziert, ihnen zuzustimmen (Die Würde des Menschen ist unantastbar. / Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.) ⫺ ein persuasiver Grundzug, der nicht zuletzt die symbolische und integrative Funktion von Verfassungen stützt (vgl. Kilian 1997; Göhler 2007).
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127. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache der Politik
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Josef Klein, Berlin (Deutschland)
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
128. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Sprache des Rechtswesens 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Differenzierungen und Abgrenzungen Merkmale: Institutionen-/Fachtexte, Musterorientierung, Intertextualität, Arbeitsteilung Gesetzestexte Plädoyer Gerichtsurteil Sprachkritik und Sprachanleitung Literatur (in Auswahl)
Abstract Legal texts vary depending on the legal system, language and culture domains as well as on the legal sub-disciplines. Law comprises of a variety of fairly different genres. In addition, the legal domain presents with seamless transitions to the domains of administration and politics (1). Following these differentiations, this contribution outlines the similarities of legal texts: institutionalization, professional discourse, patterning, and distinct intertextuality between the legal genres (2). Three genres will be examined in detail: the legal act with its traditional style ideal and plenty of linguistic peculiarities that strongly affect other genres (3); the completely different summation, a masterpiece of an argumentative-rhetorical genre, with its typical structure and an entire repertoire of argumentative and rhetorical figures of speech (4); the judgment, which comprises of text parts that are apodictic in character such as laws (sentence, tenor), narrative passages and passages that are close to the argumentative contents of the summation (5). Finally, the contribution considers aspects of language evaluation and language improvement. Legal texts have always been subject to linguistic and stylistic efforts, sometimes praised, but more often dressed down. Apart from the more critical literature there exists a rich amount of publications on teaching style combined with the serious effort to both better understand and improve the “language of the law” from the perspective of functionality (6).
1. Dierenzierungen und Abgrenzungen Die Welt kennt verschiedenartige Rechtssysteme. Diese prägen die Art der Texte, die in ihnen vorkommen. In Europa stehen das kontinentaleuropäische und das angelsächsische System nebeneinander, mit großen (auch sprachlichen) Unterschieden in Rechtsetzung und Rechtsprechung. Zudem kennen das Recht und seine Sprache in jedem Sprachund Kulturkreis besondere Ausprägungen („Rechtsstile“). Selbst innerhalb einer Sprache wie dem Deutschen ist das Recht stark national(sprachlich) geprägt, kennt also unterschiedliche Ausformungen in Deutschland (und hier früher Unterschiede zw. BRD und DDR), in Österreich, in der Schweiz (und hier teilweise starke Unterschiede von Kanton zu Kanton). Mit der EU wächst in Europa ein eigenes supranationales Rechtssystem mit
128. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Rechtswesens
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seinen sprachlichen Eigenheiten heran (Müller/Burr 2004). Die Tendenz der internationalen Rechtsvereinheitlichung ist groß. Dieser Beitrag konzentriert sich auf deutschsprachige Rechtssysteme und macht Querverweise auf andere. Verwiesen sei auf die Reihe „Einführung in die (französische/italienische/anglo-amerikanische/spanische etc.) Rechtssprache“ (Verlag C.H. Beck, München, zusammen mit andern Verlagen), zu französischen Rechtstexten auf Cornu (22000) mit Ausführungen zum juristischen Wortschatz, zu den Rechtstextsorten und ihren Eigenheiten und zu Rechtssprichwörtern; vgl. auch Ge´mar (1982), Ge´mar/Kasirer (2005). Zu angelsächsischen Rechtstexten ist hinzuweisen auf Mellinkoff (1963), Danet (1985), Goodrich (1987; 1990), Gibbons (1994; 2003), Trosborg (1997) und Tiersma (1999). Innerhalb eines Rechtssystems gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen öffentlichem Recht (Staats- u. Verwaltungsrecht), Strafrecht und Privatrecht, mit (auch sprachlichen) Unterschieden in der entsprechenden Rechtsetzung und Rechtsprechung. Das Recht stellt eine Domäne mit sehr verschiedenen Textsorten dar. Immer wieder zitiert wird das Schichtungsmodell der Rechtssprache von Otto (1981): (1) Gesetzessprache, (2) Urteils- und Bescheidsprache, (3) Wissenschafts- und Gutachtensprache, (4) Sprache des behördlichen Schriftverkehrs, (5) Verwaltungsjargon. Die ausführlichste Textsortengliederung der Rechtsdomäne hat Busse (2000) vorgelegt. Schon die Benennung der Textsorten differiert bereits wieder von Land zu Land, so ist „Erlass“ in der Schweiz Überbegriff für juristische Normtexte (Verfassung, Gesetz, Verordnung), in Deutschland hingegen meint „Erlass“ eine ganz besondere juristische Textsorte. Man kann an schriftlichen Textsorten mindestens folgende unterscheiden: ⫺ Recht setzende (normative) Texte. Dazu gehören Verfassung, Gesetz, Verordnung, Reglement, Weisung etc. (zudem Selle 1998 zu den besonderen Formen Erlass, Verordnung, Dekret) als vom Staat gesetztes Recht; von Privaten gesetzte Normen in Statuten, Satzungen etc.; privatrechtliche Verträge (Hoffmann 1998/99; Trosborg 1997 zu engl. Contracts); völkerrechtliche Verträge (Standardformulierungen 2004). ⫺ Recht fordernde Texte. Dazu gehören Klageschrift und Klageantwort im Zivilprozess; Anklageschrift, Plädoyer u. a. im Strafprozess; Eingaben bei Gerichten und Strafverfolgungsbehörden. ⫺ Gutachten von Experten (Sachverständigen) zu Tat- oder Rechtsfragen. ⫺ Recht sprechende Texte. Besonders zu nennen sind Gerichtsurteile (Entscheide) und Verwaltungsverfügungen/Bescheide (Becker-Mrotzek/Scherner 2000). ⫺ Texte, die rechtserhebliche Tatsachen festschreiben. Dazu gehören Protokolle von Verhandlungen, Befragungen („Einvernahme“, „Verhör“, Becker 2005), Formulare („Vordrucke“, Grosse/Mentrup 1980; Die Sprache des Rechts und der Verwaltung 1981; Becker-Mrotzek/Scherner 2000), Urkunden (Mohl 1998/99 zu Geburtsurkunden), Register (Personen, Grundstücke, „Grundbuch“). ⫺ Texte, in denen Recht erörtert und kommentiert wird. Dazu zählen Gesetzeskommentare (zur Überlagerung des Gesetzestextes durch Kommentartexte in der Arbeit der Auslegung und Rechtsanwendung vgl. Busse 1992; 2002), Urteilsbesprechungen, rechtswissenschaftliche Abhandlungen in juristischen Zeitschriften (Frilling 1995) und juristische Lehrbücher (Seibert 1977; Struck 2002). Hinzu kommen spezifische mündliche Textsorten im Recht, beispielsweise: ⫺ Recht suchende, verhandelnde mündliche Texte. Dazu zählen Befragungen der Parteien und Zeugen (die in Protokollen auf spezifische Weise verschriftlicht werden)
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I (Hoffmann 1989; Gibbons 1994; 2003), die mündliche (manchmal öffentliche) Urteilsberatung des Gerichts oder die Rechtsberatung durch Anwälte.
Für das heutige kontinentaleuropäische Rechtssystem ist typisch, dass es diese Textsorten hauptsächlich oder nur schriftlich gibt (mit Ausnahmen, z. B. mündliche Verhandlungen vor Gericht) ⫺ unser Recht ist extrem schriftsprachlich geprägt. Einzelne Textsorten werden zwar mündlich vorgetragen (z. B. Plädoyer, Urteilsverkündung), sind aber stark schriftsprachlich konzipiert und „vor“-geschrieben (zur gegenseitigen Bedingtheit von Recht in moderner Form und Schriftlichkeit vgl. Warnke 1997). Für die Forschung ist relevant, dass die Textsorten sehr unterschiedlich zugänglich sind: Gesetze und viele Gerichtsurteile sind heute leicht (auch elektronisch) zugänglich, Klageschriften, Plädoyers oder mündliche Verhandlungen sind sehr viel schwieriger zu bekommen. Die Wortlastigkeit und Bilderfeindlichkeit des Rechts wäre ein Thema für sich (vgl. versch. Beiträge in Recht vermitteln 2005). Das Rechtswesen ist ein Bereich mit unscharfen Rändern und starken Bezügen zu andern Domänen: Zu nennen ist die Verwaltung (Verwaltungssprache), die in einem Rechtsstaat in ihrer Tätigkeit stark rechtlich geprägt ist, in spezifischer Weise Recht anwendet und Gesetze und Verordnungen vorbereitet und für sich selber macht. Spezielle Textsorten der Verwaltung sind etwa Formular („Vordruck“), Bescheid/Verfügung, Bekanntmachung oder Vorladung (vgl. Rehbein/Hohenstein zur Sprache der Verwaltung in diesem Handbuch; Wagner 1970; Fuchs-Khakar 1987; Die Sprache des Rechts und der Verwaltung 1981; Heinrich 1994; Rehbein 1998/99; Knoop 1998/99; Becker-Mrotzek 1998/99; Becker-Mrotzek/Scherner 2000; Sowinski 1998 zum „Kanzleistil“; Wiesinger 1988 zum österreichischen Amtsdeutsch). Zu nennen ist die Politik, insbesondere mit dem parlamentarischen Verfahren, das juristische Normtexte hervorbringt (Haß-Zumkehr 1998; J. Klein 2000; 2002; Nussbaumer 2002b). Allgemein prägt das Recht viele gesellschaftliche Domänen und Lebensbereiche, und so fließt Rechtssprache in die Alltagssprache ein und nimmt umgekehrt laufend Alltagssprache in sich auf. Während Art. 107 in diesem Handbuch sich mit der Frage beschäftigt, welche konstitutive Rolle etwa die Rhetorik für die Rechtswissenschaft spielt (vgl. Viehweg 1954/ 5 1974; Juristische Rhetorik 1996), geht es im vorliegenden Artikel darum, über welche rhetorisch-stilistischen Eigenschaften die Texte des Rechtswesens tatsächlich verfügen. Weiterführende Literatur zum gesamten weiten Schnittbereich von Recht und Sprache findet sich in folgenden Bibliografien: Nussbaumer (1997) und Bungarten/Engberg (2003) sowie für den angloamerikanischen Raum Levy (1994). Hingewiesen sei auch auf die Internet-Dokumentation DORES (s. Lit.verz.).
2. Merkmale: Institutionen-/Fachtexte, Musterorientierung, Intertextualität, Arbeitsteilung Rechtstexte sind Institutionentexte, zumeist von Institutionenvertretern verfasst, deren berufliche Tätigkeit in erheblichem Maße darin besteht, solche Texte zu verfassen. In diesen Texten sprechen nicht Individuen, sondern Träger institutionell vorgegebener Rollen, spricht mithin die Institution. Das macht die Texte im Allgemeinen unpersönlich. Ihre Funktion ⫺ gesetztes Recht, Urteilsrecht, die Verkörperung rechtsverbindlicher
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Handlungen oder die Aufbewahrung rechtserheblicher Tatsachen zu sein ⫺ macht die Texte zudem selbst zur Institution (Rehbein 1998/99). Die Domäne des Rechts ist zweifellos von Fachtexten bevölkert, in ihr findet Fachkommunikation statt: Fachleute (und nur sie können das) produzieren und rezipieren domänenspezifische, die Domäne charakterisierende Textsorten mit spezifischen Funktionen und einer besonderen Sprachmittelkonfiguration. Der Institution Recht eigen ist ganz allgemein eine große Strenge in der Einhaltung von Verfahrensregeln und in der Wahrung von Formen. Texte der Rechtsdomäne sind entsprechend hochgradig musterorientiert. Die Muster der Textsorten sind z. T. sogar eigens geregelt: Wie ein Gesetz, ein Gerichtsurteil, eine Verfügung, ein Verhörprotokoll auszusehen haben, dafür gibt es Vorschriften. Der große Formzwang geht bis hin zur Ritualisierungen: Wer die Form, den Stil bricht, läuft Gefahr, die Rechtshandlung nicht gültig zu vollziehen (Ebel 1975). Das galt lange Zeit (und in Schwundform bis heute) nicht nur für die Institutionenvertreter, sondern auch für die „Kunden“ der Institution, die Rechtsuchenden: War die Klage nicht im richtigen Stil gehalten, wurde sie nicht beachtet. Die Einhaltung fester Stilformen war früher ein Sicherungsmittel gegen Fälschungen (Strätz 1986 zum Stilus curiae/Kurialstil). Ist dieser rigide Formzwang heute auch aufgeweicht, so sind dennoch alle Rechtstextsorten starken formalen Normen unterworfen; die Freiheit der Textgestaltung ist im Recht mithin generell sehr eingeschränkt. Deshalb erkennt man umgekehrt einen Text in der Regel sofort als Rechtstext, weil das Muster dominiert, und die Institutionenvertreter sind aufs Höchste irritiert, wenn vom Muster abgewichen wird. Die Stilformen des Rechts sind nicht in erster Linie sachlich-funktional begründet, sondern der Tradition geschuldet. Musterhaftigkeit signalisiert institutionelle Zugehörigkeit, dient der Selbstdarstellung der Institution. Juristinnen und Juristen denken und handeln ausgesprochen „ständisch“, man ist Herr oder Frau Kollega oder ist es eben nicht. Da rechtliches Handeln (etwa die Rechtsprechung durch ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde) zunächst einfach sprachliches Handeln ist, braucht dieses sprachliche Handeln äußerliche Zeichen der Autorität; die Musterhaftigkeit der Texte trägt bei zu ihrer Geltung, sichert ihnen Durchsetzung, verkörpert Macht. Den einzelnen Institutionenvertreter, etwa den Beamten, der Verfügungen (Bescheide) schreibt, schützt die rigide Einhaltung der Formen davor, sich kommunikativ einem Risiko auszusetzen, dem individuellen Adressaten gegenüber selber als Individuum erkennbar zu werden. So reproduziert sich die typische Verwaltungssprache fort und fort (Heinrich 1994). Zwischen Texten unterschiedlicher Sorte herrscht im Recht sehr starke Intertextualität: Der Gesetzeswortlaut und feste Formulierungen in der Kommentarliteratur gehen ein in Klageschriften, in Plädoyers und Urteile, in amtliche Verfügungen. Die Sachverhaltsdarstellung in der Klageschrift und im Plädoyer wird im Urteil teilweise wörtlich wiederholt. Die Urteile höherer Instanzen nehmen den Wortlaut der vorinstanzlichen Urteile auf. Mit ihren Standardformeln inspirieren höherinstanzliche Urteile oft die Rechtsetzung: Die Gerichtsformeln fließen ein in gesetztes Recht ⫺ der Kreis schließt sich. Zwischen den Textsorten des Rechtswesens ⫺ und zum Teil innerhalb einer Textsorte ⫺ herrscht eindrückliche Arbeitsteilung (Nussbaumer 2002b). Man kann unterscheiden: ⫺ Rein „setzende“, „befehlende“, Geltung voraussetzende Texte/Textteile: Sie sind ohne erkennbaren Autor und Adressaten, argumentationslos, rhetorikfeindlich, knapp,
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
karg, unpersönlich, abstrakt. Prototyp: die normativen Texte (Gesetze, Verträge); aber auch die rein setzenden Teile von Gerichtsurteilen (Tenor oder Dispositiv) oder von Verwaltungsverfügungen. ⫺ Erörternde, begründende, Geltung suchende, für Geltung arbeitende Texte: Sie sind persönlicher, konkreter, anschaulicher, rhetorischer als die rechtsetzenden Texte, Autor und Adressat sind erkennbar. Prototyp: die Parteirede (Klage oder Verteidigung) vor Gericht; aber auch ⫺ wenngleich anders ⫺ die erörternden und begründenden Teile von Urteilen und Verwaltungsverfügungen; oder die begründenden Begleittexte der Regierung zu einem Gesetzesentwurf zuhanden des Parlaments (in der Schweiz „Botschaften“ genannt).
3. Gesetzestexte Der Gesetzestext ist im kontinentaleuropäischen Rechtssystem der prototypische Rechtstext, gewissermaßen der Leittext. Auf ihn sind alle weiteren Texte bezogen, sie zitieren ihn, besprechen ihn, legen ihn aus, arbeiten sich an ihm ab. Im angelsächsischen Recht steht hingegen die Rechtsprechung im Vordergrund (Common Law); das Gesetz (statute; neben law, act, bill) spielt eine kleinere und andere Rolle. Im kontinentaleuropäischen Recht werden die rechtlich zu regelnden Bereiche vom Gesetz möglichst lückenlos erfasst, jedoch generell-abstrakt und so, dass das Gesetz erst in der vernünftigen Anwendung durch den Rechtsstab auf den konkreten Fall konkretisiert wird; kontinentaleuropäisches Gesetzesrecht ist tendenziell abstrakt, offen (Bhatia 2005), lenkt hin auf die Lösung konkreter Rechtsfälle und nimmt sie keineswegs in jedem Fall vorweg. Angelsächsische „Gesetze“ hingegen haben die Funktion, die Allmacht der Richter zu beschränken: Das macht sie engmaschig, ja kleinlich, pedantisch, übergenau, ängstlich, der Sprache misstrauend. Kontinentaleuropäisches Recht ist gestuftes Recht ⫺ Verfassung, Gesetz, Verordnung stehen übereinander ⫺ das Grundsätzliche, Allgemeine, Hochabstrakte auf der einen Seite (Verfassung; allgemeinere Bestimmungen in Gesetzen), Detailregelungen auf der anderen Seite (v. a. Verordnungen). Diese Stufung ist dem angelsächsischen Recht fremd (zu englischen „statutes“ vgl. Trosborg 1997). Im Folgenden werden Charakteristika von (kontinentaleuropäischen) Gesetzestexten aufgeführt; je nach Stufe des Gesetzesrechts wären diese im Einzelnen zu differenzieren (vgl. etwa zu Besonderheiten von Verfassungstexten Haß-Zumkehr 1998; Nussbaumer 2002b). Auf der anderen Seite gelten diese Charakteristika ⫺ wegen der starken Intertextualität ⫺ in Teilen auch für andere Rechtstextsorten und für benachbarte Texte, namentlich Verwaltungstexte. Es gibt eine Reihe von Idealen guter Rechtsetzung, die sich in juristischen Metatexten bis in die Antike zurückverfolgen lassen (Fleiner 2004; Mertens 2004 für das 18. und 19. Jh.): Kürze (brevitas) und Prägnanz, Konzisheit und Redundanzfreiheit (stilus concisus ⫽ stilus iudiciosus); Klarheit (clarte´), Präzision und Bestimmtheit. Daneben aber wird manchmal auch gezielt Offenheit, Unbestimmtheit gesucht, etwa mit unbestimmten Rechtsbegriffen ⫺ öffentliches Interesse ⫺ oder Generalklauseln ⫺ Das Produkt muss dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen (vgl. Bhatia 2005). Gesetze sollen rein normativ sein, nicht begründend und erörternd (argumentativ), nicht deskriptiv, nicht deklaratorisch (lex iubeat, non doceat/non disputet). Sie sollen generell-abstrakt
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sein, nicht Einzelfälle regelnd, ohne Beispiele (keine evidentia). Das war allerdings nicht immer so: Solange der Wind weht sagte man früher für „unbefristet“, Den Dieb soll man hängen heißt heute Wer eine fremde bewegliche Sache einem andern in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen, … Oder man fasste Recht in Sprichwörter: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, was das schweizerische Recht heute etwa so sagt: Der Schenker hat dem Beschenkten für die geschenkte Sache (…) nur die Gewähr zu leisten, die er ihm versprochen hat (zur Rolle der Rechtssprichwörter im älteren Recht vgl. Janz 1992). Hier nun einige Eigenheiten von Gesetzestexten: ⫺ Gesetze sind nach festen Mustern aufgebaut: Titel ⫺ Ingress/Präambel („Erwägungsgründe“ in EU-Texten) ⫺ Einleitungsteil (Gegenstand, Zweck, Begriffe, Grundsätze) ⫺ Hauptteil mit den eigentlichen Bestimmungen ⫺ Schlussteil (Übergangsbestimmungen, Aufhebung und Änderung geltenden Rechts, Inkrafttreten) ⫺ Anhänge. ⫺ Gesetze sind schon an ihrer äußerlichen Erscheinung erkennbar: Sie sind streng gegliedert mit Zwischentiteln, nummerierten Artikeln oder Paragrafen, die Überschriften tragen (in älteren Texten Randtitel/Marginalien); die Artikel bestehen wiederum aus nummerierten Absätzen, diese aus weiteren Untergliedern mit Buchstaben, Ziffern. Der ganze Text ist in kurze Textblöcke gegliedert. ⫺ Gesetze enthalten sehr oft Aufzählungen (mit Buchstaben, Ziffern). Diese sind gerne im „graphischen Stil“ gehalten (Adamzik 1995), ähnlich wie Zutaten und Handlungsschritte in Kochbüchern: Wir finden Makrosätze, die mit Flächenstrukturierung und grafischer Gliederung operieren, syntaktisch oft nur rudimentär ausgeformt sind (zwischen Satzformulierung und Stichwortsyntax); die grafische Darstellung wird zum Hilfsmittel, um extrem komplexe sprachliche Sachverhaltsfassungen so zu präsentieren, dass Verständlichkeit noch möglich ist. ⫺ Typisch für Gesetze sind aufzählende Reihen innerhalb einfacherer Sätze: Wer Lebensmittel herstellt, einführt, lagert, verarbeitet oder abgibt, … Oft sind die Aufzählungen nach dem Muster „nebengeordnete Begriffe, dann Hyperonym“ ausgestaltet: Wer ein Handels-, ein Fabrikations- oder ein anderes nach kaufmännischer Art geführtes Gewerbe betreibt, ist verpflichtet … ⫺ Der prototypische Rechtssatz ist ein Konditionalgefüge, bestehend aus Tatbestand und Rechtsfolge. Transparent und explizit ist das etwa in folgendem Muster: Wer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt wird, kann gegen jeden, der an der Verletzung mitwirkt, das Gericht anrufen. Zu dieser Grundstruktur gibt es sehr viele sprachliche Variationen; oft ist das Tatbestand-Rechtsfolge-Gefüge auf den ersten Blick gar nicht erkennbar, etwa im folgenden Fall einer Nominalisierung: Der Verkäufer einer Forderung oder eines sonstigen Rechts (Tatbestand) haftet für den rechtlichen Bestand der Forderung oder des Rechts (Rechtsfolge). ⫺ Tatbestand-Rechtsfolge-Figuren werden in aller Regel im zeitlosen Präsens vorgetragen. Andere Tempusformen spielen nur eine sehr untergeordnete Spezialrolle (zu Tempuseigenheiten W. Klein 2000). ⫺ Typisch ist das Fehlen des grammatischen Artikels wie in Kläger und Beklagter haben das Recht, … (aus dem Humanistenlatein, vgl. Schmidt-Wiegand 2004b). Die Verwendung von bestimmtem und unbestimmtem Artikel folgt anderen Regeln als denjenigen, die in der Textgrammatik auf der Basis anderer Textsorten beschrieben sind (W. Klein 2000).
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
⫺ Die Modalität spielt eine sehr wichtige Rolle. Es gibt eine breite Palette von sprachlichen Möglichkeiten zum Ausdruck der beiden Grundmodalitäten: normativ Zwingendes vs. Möglichkeit. Zwingendes wird in der Regel im Indikativ, wie eine Beschreibung der Welt, vorgetragen (Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich; vgl. W. Klein 2000), wird aber oft auch variationsreich explizit ausgedrückt (muss, darf nicht, ist zu, ist nicht … bar). Möglichkeiten, Befugnisse, Permissive müssen als solche markiert werden (kann, darf, ist … bar). Der Konjunktiv kommt in Gesetzestexten selten vor. ⫺ Oft sind sehr komplexe semantische Verhältnisse zwischen Teilpropositionen auszudrücken. Damit der Satzbau nicht zu komplex wird (brevitas), kennt die Gesetzessprache zahlreiche Formen der Verdichtung, Komprimierung, Kondensierung (Polenz 2 1988). Dazu gehören die Variationen des sog. „Nominalstils“ (Nominalphrasen mit komplexen Attribuierungen; genitivisch und präpositional verknüpfte Substantivketten) oder Mittel der Wortbildung (Adjektivbildungen wie kindergeldgerechte Berücksichtigung). Solche Bildungen sind besonders typisch für Verwaltungstexte: in randvermerkter/titelerwähnter Angelegenheit. Typisch sind kondensierende Bildungen mit …freundlich, …feindlich, …fähig, …pflichtig (gebührenpflichtiger Strand ist ein Strand, dessen Benützung etwas kostet). ⫺ Der sog. „Nominalstil“ hat in der Ausprägung der sog. Funktionsverbgefüge auch andere Gründe (Polenz 1963; 21988; Oksaar 1967; 1978; Sanders 2003; Seifert 2004): Typisch für das Recht ist das Denken nicht in Vorgängen, sondern in Ergebnissen; dies fördert ein Reden in Begriffen, nicht in Verben (von einer Sache Kenntnis haben; von einer Sache Vormerk nehmen; eine Erklärung abgeben; seine Einwilligung geben; etwas käuflich erwerben; etwas in Abzug bringen). ⫺ Die Verdichtung im nominalen Bereich führt zu falschen Beziehungen zwischen attributivem Adjektiv und dem Bezugswort des substantivischen Kompositums: vorläufige Vollstreckbarkeitserklärung (statt Erklärung, dass etwas vorläufig vollstreckt werden kann), begleitetes Besuchsrecht (Recht Getrennter oder Geschiedener, die eigenen Kinder in Begleitung von Drittpersonen zu besuchen). ⫺ Semantische Rollen von Verben sind manchmal nicht besetzt, weil ihre Besetzung rechtlich irrelevant ist. Besonders oft ist das Agens ausgeblendet („Agensschwund“), was Passiv und Passiv-Alternativen fördert (Die Leibrente ist im voraus zu entrichten). Typisch agenslos ist oft auch die Verwaltungssprache (Es wird darauf hingewiesen/es kann davon ausgegangen werden/es wird um Rücksendung gebeten). Auch in Gerichtsurteilen oder in der juristischen Literatur sind agenslose Formen typisch (Das ist abzulehnen. Dem ist zuzustimmen). ⫺ Ausdrucksvariationen (angebliche Synonyme) sind in Gesetzestexten verpönt, weil sie zu Auslegungsunsicherheit führen. Textkohäsion durch Rekurrenz wird deshalb durch identische Ausdrücke (Wortwiederholungen) hergestellt, nur so ist begriffliche Identität sichergestellt. Das Motto ist: Gleiches gleich und Ungleiches ungleich formulieren! ⫺ Der Gesetzestext ist eine Aneinanderreihung von textgrammatisch autonomen Minitexten; Kontextualisierung (mittels Deiktika) über die Artikelgrenze hinaus ist unüblich (Harweg 1983; Werlen 1994). ⫺ Gesetze kennen eigenartige metatextuelle Sprachhandlungen wie z. B. Legaldefinitionen (Im Sinne dieses Gesetzes bedeutet Angehöriger …) oder Verweise (Im Übrigen ist Artikel 23 anwendbar. Art. 44 Abs. 3 gilt sinngemäss.). ⫺ Präambeln in völkerrechtlichen Verträgen oder in Verfassungen, Erwägungsgründe in EU-Rechtsakten sind als Rahmensatzkonstruktionen mit eingeschobener Reihung
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von abhängigen Nebensätzen gebaut (Das Schweizervolk und die Kantone, in der Absicht …, eingedenk …, im Willen …, wissend, dass …, geben sich folgende Verfassung). Gesetze enthalten juristische Fachlexik: Erblasser, Ansprecher, Gesuchsteller, Inkrafttreten, Rechtsmittel, Einrede, Nichtigkeitsbeschwerde, Nichtanhandnahmeverfügung, geltend machen, für anwendbar erklären … Sie findet sich jedoch seltener, als oft behauptet wird. Die Rechtswissenschaft hingegen ist voll von juristischer Fachlexik, die Rechtsprechung teilweise auch, wofür folgende Regesten (Leitsätze eines Leitentscheids) ein Beispiel sind: Der Litisdenunziat ist berechtigt, dem Prozess als Nebenintervenient beizutreten, ohne dass er ein Interesse am Prozessausgang darzutun hat. Es ist Sache des Streitverkünders, den Litisdenunziaten über den Stand des Prozesses zu unterrichten. Eine solche Häufung von Fachlexik findet man in Gesetzen kaum. Innerhalb der juristischen Fachlexik kann man die allgemein-juristische von derjenigen für besondere Rechtsgebiete ⫺ z. B. Prozessrecht, Zollrecht, Strafrecht ⫺ unterscheiden. Neben der juristischen Fachlexik findet sich in Gesetzestexten je nach Gegenstand auch außerjuristische Fachlexik, so etwa im Chemikalienrecht chemische Fachlexik, im Baurecht die Fachlexik des Baugewerbes und der Ingenieurwissenschaften. Ein besonderer Fall von Fachlexik sind Archaismen (veraltete Formen oder Formen mit veralteter Bedeutung): Anstände, wohlfeil, Leibesfrucht, Nießbrauch. Ein besonderer Fall juristischer Fachlexik sind Latinismen. In Gesetzen sind sie allerdings kaum zu finden, vielmehr in der rechtswissenschaftlichen Literatur und teilweise in der Rechtsprechung (vgl. obiges Beispiel aus den Regesten eines prozessrechtlichen Entscheids). Mit der Rezeption des römischen Rechts im Spätmittelalter wurden sehr viele Latinismen übernommen. Später wurden sie durch Eindeutschungen zurückgedrängt. Sie stellen Traditionsanschlüsse dar, stehen oft für extreme begriffliche Verdichtungen bis hin zur Fassung ganzer komplexer Rechtsgrundsätze in lateinischen Merksätzen (dolus, dolus malus, dolus eventualis, ex tunc, ex nunc, lex rei sitae, lex specialis derogat legi generali, ne bis in idem, nulla poena sine lege). Äußerlich nicht direkt sichtbar, außer durch eine auffällige Häufung der betreffenden Wörter, ist Fachsprachlichkeit, die in der fachsemantischen Verwendung gemeinsprachlicher Lexik liegt. So haben Wörter wie Person, Besitz, Eigentum, Vertrag, Firma, Recht, Anspruch, erklären im Recht eine spezifisch rechtliche Bedeutung und können sehr gehäuft auftreten. Typisch sind mehrgliedrige Komposita (Chemikalienrisikoreduktionsverordnung, Güterausfuhrkontrollgesetz) und fachspezifische Ableitungen (die beklagtische Seite, die klägerische Seite) sowie typische mehrwortige Ausdrücke (rauhfutterverzehrende Grossvieheinheit, sachverständiges Gutachten). Insgesamt zeigt sich eine Tendenz zu längeren Wörtern (Brandt 1988b). Lange Komposita fördern ihrerseits die Bildung von Kurzwörtern und Abkürzungen: aus dem Bundesausbildungsförderungsgesetz wird das BaföG (Steinhauer 2000). Gesetzestexte sind reich an festen Wortverbindungen (idiomatische Wendungen, Phraseologismen) bis hin zu eigentlichen Formeln (Der Entscheid ist endgültig. Gegen den Entscheid steht die Beschwerde an die Beschwerdeinstanz offen. Dieses Gesetz untersteht dem fakultativen Referendum. Der Bundesrat bestimmt das Inkrafttreten.) Rhetorisch-Figürliches findet sich in moderner Gesetzgebung nur noch sehr vereinzelt ⫺ ältere Formen wie Reim (Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, Rat und Tat, Schalten und Walten), Stabreim, Paarformeln (Haus und Hof, Land und Leute, Kind und Kegel, Nacht und Nebel) und Metrisches sind kaum mehr zu finden
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(vgl. Jacob Grimms berühmte Schrift „Von der Poesie im Recht“, Grimm 1816). In älterem, noch weniger verschriftlichtem Recht hatten diese Formen die Funktion, Rechtssätze einprägsam und gegen Abwandlungen resistent zu machen. Besonders in Verfassungen und in Grundsatzartikeln von Gesetzen findet sich ab und zu sentenzenhaft Verdichtetes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Heirat macht mündig. Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht. Alle Menschen sind vor dem Gesetze gleich. Hier findet gewichtiger Inhalt zu einer ihn tragenden, stützenden Form (vgl. Schreckenberger 1978 zu Art. 1 und 2 GG; Hauck/Nussbaumer 2006 zur neuen Zürcher Kantonsverfassung). ⫺ Gesetzessprache kennt zahlreiche konventionalisierte Metaphern und ganze Metaphernfelder: ein Recht erwächst, entsteht, geht unter, erlischt, erschöpft sich, lebt wieder auf, gibt Schutz, kollidiert; ein Gesetz tritt in Kraft und außer Kraft; ein Mangel wird geheilt; im Prozessrecht findet sich Kampfmetaphorik: Streitwert; etwas anfechten; Waffengleichheit, Verteidigung. Weitere Charakterisierungen der Gesetzessprache finden sich etwa in Dölle (1949), Oksaar (1967; 1978; 1989), Fuchs-Khakar (1987), Hoffmann (1992; 1998/99), Forstmoser/ Schluepp (32002, 1. Teil, § 3). Lötscher (2005) zeigt v. a. textuelle Eigenheiten von Gesetzestexten. Zu stilistischen Unterschieden zwischen dem deutschen BGB („Gesetz für Juristen“) und dem schweizerischen ZGB („volkstümliche Gesetzesredaktion“) vgl. Oplatka-Steinlin (1971), zwischen dem bundesdeutschen BGB und dem ZGB der DDR Lasser (2000); zur „Volkstümlichkeit“ des preußischen Allgemeinen Landrechts 1794 mit seinem Stilideal von jeweils nur einem Satz mit höchstens einem Nebensatz pro Bestimmung Hattenhauer (1987). Zur Verwaltungssprache, die Eigenheiten der Gesetzessprache übernimmt, aber auch ihre besonderen Eigenheiten hat, vgl. die in 1. genannte Literatur sowie Art. 129 dieses Handbuchs. Zur Geschichte der deutschen Gesetzessprache zusammenfassend Polenz (1994/99) und Schmidt-Wiegand (2004a, 2004b); grundlegend Ebel (1958) und Hattenhauer (1987); Görgen (2002) zur frühen Neuzeit; Recht und Sprache in der deutschen Aufklärung (2001); Kiefner (1995) zum Preussischen Allgemeinen Landrecht; Heller (1992) zum 18. Jh. Zahlreiche Reihenuntersuchungen an einem umfangreichen Corpus deutscher Gesetzestexte vom 18. bis zum 20. Jh. ⫺ zu Satzlänge, Satzkomplexität, Nominalstil, lexikalischen Tendenzen, Wortlänge, Modalverben und Ersatzkonstruktionen ⫺ hat Brandt vorgelegt (1988a; 1988b; 1991a; 1991b; 1996); Seifert (2004) zu Funktionsverbgefügen im selben Corpus. Roessler (1994) zur österreichischen Rechtssprache seit dem ausgehenden 18. Jh. (Satzbau, Stilistisches, Lexikalisches); zur besonderen Textsorte parlamentarischer Geschäftsordnungen Holly (1996); zu Diskussionen über die Gesetzgebungskunst seit dem 18. Jh. Mertens (2004), auch Hattenhauer (1987). Verträge haben sehr weitgehend die Eigenschaften von Gesetzestexten; sie sind das „Recht zwischen den Privaten“; zu Verträgen Hoffmann (1998/99); zu englischen Contracts Trosborg (1997).
4. Plädoyer Das Plädoyer (auch „Schlussvortrag“ oder „Parteivortrag“) hat in der Prozessordnung (je nach Prozessrecht gibt es beträchtliche Unterschiede) eine bestimmte Position gegen
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Ende der Verhandlung, nach der langen Phase der durch Frage und Antwort geprägten Beweisaufnahme. Im Plädoyer soll der Standpunkt einer Partei im Lichte der zurückliegenden Befragung und eventuell in Reaktion auf das Plädoyer der Gegenpartei zusammenfassend dargestellt werden. Das Plädoyer ist seit alters Inbegriff der Parteirede (Hohmann 1996), ist Prototyp der rhetorischen Aktion, steht paradigmatisch für Rhetorik überhaupt. Die Weltliteratur kennt berühmte literarische Vorbilder, die Filmgeschichte auch. Das Plädoyer ist geprägt von der Situation der Auseinandersetzung (controversia), des Kampfs ums Recht; es ist Kampfrede. Im Plädoyer geht es um Anklage (im Strafprozess; accusatio) oder Klage (im Zivilprozess; actio, petitio) auf der einen Seite und um Verteidigung (defensio oder depulsio) auf der anderen. Alles ist zwar vordergründig auf das iustum, die objektive Gerechtigkeit ausgerichtet, zielt aber im Kern darauf ab, für die eigene Partei Recht zu bekommen. Hier gibt es bei genauem Hinsehen keine Arbeitsteilung zwischen objektiver Beschreibung der Sachverhalte und Zustimmung heischender Argumentation. Vielmehr steht alles im Dienste der Durchsetzung von Ansprüchen auf Geltung des eigenen Standpunktes. Die antike Rhetorik hat etwa folgende Teile der Gerichtsrede herausgearbeitet: das prooemium (Einleitung; auch exordium, principium), die narratio (Sachverhaltsschilderung), die probatio (Führung des Beweises für den eigenen Standpunkt), die refutatio (Widerlegung des gegnerischen Standpunktes) und schließlich die peroratio (Schluss). Im Mittelteil gibt es Variationen. Beweis und Widerlegung haben keine fixe Abfolge, sind eher Aspekte dessen, was hier zu tun ist. Einleitung und Schluss sind ganz besonders auf die Erregung von Affekten bei der Zuhörerschaft gerichtet (pathos). Die argumentatio dreht sich einerseits um Sachverhalte, deren begriffliche Charakterisierung und rechtliche Qualifizierung, anderseits um Rechtsfragen, Fragen etwa, wie Gesetze auszulegen sind. Für die Sachverhaltsschilderung hat sich in der Rechtslinguistik das Konzept des Legal storytelling herausgebildet. Es konzipiert die Auseinandersetzung vor Gericht als Streit um die bessere, plausiblere Geschichte: Es werden unterschiedliche Geschichten erzählt. Eine Geschichte hat umso mehr Erfolg, je mehr sie Anleihen bei kulturellen Topoi (z. B. Geschichte vom verlorenen Sohn) macht (Bennet/Feldman 1981; Papke 1991; Sauer 1997; 2002). Zu Tradition, Aufbau, Rhetorik, stilistischen Ausprägungen der Gerichtsrede sei etwa auf Seibert (2004) verwiesen sowie auf die Hinweise im Teil über das Gerichtsurteil. Das Plädoyer wird zwar mündlich gehalten, ist aber von Planung und Realisierung her ein schriftlicher Text (zu mündlichen Textformen vor Gericht vgl. etwa Hoffmann 1989).
5. Gerichtsurteil Das Gerichtsurteil (auch „Entscheid“) ist ein hoheitlicher Akt, mit dem ein Rechtsstreit (zwischen Privaten, zwischen Staat und Privaten oder zwischen staatlichen Institutionen) entschieden und somit der Rechtsfrieden wieder hergestellt wird. Im angelsächsischen Recht ist die Gerichtssprache sehr viel persönlicher und individueller als im kontinentaleuropäischen Recht: Nicht selten ist der Text in der 1. Person gehalten. Die Richterin oder der Richter bekundet offen, wenn ein Fall schwierig, die Präjudizien unbefriedigend oder besonders überzeugend sind. Einzelne Richter sind bekannt für ihren Individualstil. Der Stil ist generell farbiger, bunter als im kontinentaleu-
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ropäischen Urteil, angefüllt mit Lebenserfahrung; er ist „rhetorischer“, mündlicher, diskursiver. Im Text wird erkennbar, dass die rechtsprechende Person ein Mensch aus Fleisch und Blut ist. Bei Kollegialgerichten werden Minderheitenmeinungen (dissenting opinions) zum Ausdruck gebracht. Urteilen ist hauptsächlich Orientierung am Fallrecht (reasoning from case to case), Auseinandersetzung mit Präjudizien, die angefüllt sind mit Lebenswirklichkeit. Die kontinentaleuropäischen Gerichte hingegen sind zumeist Kollegialgerichte, der einzelne Richter verbirgt sich hinter dem abstrakten Spruchkörper. Die Rechtsprechung orientiert sich an der abstrakten rechtlichen Norm, wird als Subsumtion des konkreten Sachverhalts unter einen abstrakten, schematischen Tatbestand verstanden. Das Urteil trägt stark apodiktisch-syllogistische Züge, Züge der kühl-distanzierten wissenschaftlichen Abhandlung über abstrakte Rechtsfragen (Kötz 1973; Pescatore 2004). Der Urteilstext verrät höchstens ganz subtil die Individualität der Schreibenden. Er ist das Produkt eines komplexen Zusammenspiels zwischen Richterinnen und Richtern, Gerichtspersonal, Gerichtsschreibern und Redaktionskommission; das nimmt ihm die individuellen Noten. Das deutsche Urteil unterscheidet sich vom französischen: Das französische will absolut konzis, knapp sein. Idealiter ist es in einem Satz gehalten: attendu/conside´rant/vu que … que … que … ⫺ pour ces raisons … Diese syntaktische Kunstform (der Gehalt eines komplexen Textes in einem schematischen Kunstsatz) kennen zum Teil auch schweizerische Gerichte unterer Instanz (da … da … da … ⫺ Entscheid). Südwestdeutsche Staatsanwaltschaften verfassen ihre Anklageschrift in analoger Weise in einem „Anklagesatz“ (indem … indem … etc.). Solche künstlichen Einsatzgebilde gibt es in andern Rechtstexten, in Patentschriften etwa oder in Präambeln von Verfassungen, völkerrechtlichen Verträgen, als „Erwägungsgründe“ am Anfang von Rechtsakten der EU (vgl. auch 3). Gegenüber dem französischen Urteil ist das deutsche Urteil viel länger, weitschweifiger, nimmt stellenweise Züge der wissenschaftlichen Abhandlung an, setzt sich immer mehr auch mit Präjudizien auseinander, was in französischen Urteilen verpönt ist (vgl. Kötz (1973), Pescatore (2004); Strätz (1986) geht auch dem Stilbegriff in der Rechtsgeschichte nach, z. B. dem stilus curiae, mos italicus, mos gallicus etc.; vgl. auch Triepel (1947), der nach der grundsätzlichen Zugänglichkeit des Rechts für die Kategorie Stil fragt). Wie in der Rechtsetzung gibt es auch im Stil der Urteile Unterschiede nach der Stufe (untere oder obere Instanz): Untere Gerichte behandeln eher Tatfragen und haben den Einzelfall im Blick, obere wälzen in aller Regel nur noch Rechtsfragen und schielen bei der Entscheidung des Einzelfalls immer auch auf das Allgemeine (Leitentscheide). Der klassische Aufbau eines Urteils ist gesetzlich vorgegeben: Auf das Rubrum (auch „Kopf“: Nennung der Parteien, des Gerichts, der verhandelten Sache, des Datums) folgen Tenor (in der Schweiz „Dispositiv“; der eigentliche Urteilsspruch), Sachverhalt (narratio) und die Entscheidungsgründe (sachliche und rechtliche Erwägungen). Das Dispositiv (das eigentliche Urteil) kann auch am Schluss stehen. Strikte Arbeitsteilung zieht sich durch diese Textsorte: Der Tenor/das Dispositiv setzt apodiktisch die Entscheidung (nicht unähnlich dem Gesetz, jedoch individuell-konkret). Hier ist die Sprache der Richter (wie diejenige des Gesetzgebers) ganz unangefochten die Sprache der Macht, die es nicht nötig hat zu begründen. Die Sachverhaltsdarstellung erzählt. Dabei findet eine Zurichtung des konkreten Lebenssachverhalts statt, damit er in das Schema des Tatbestandes passt oder nicht passt. Dem entspricht die Anonymisierungspraxis in publizierten (Leit-)Entscheiden und die Tatsache, dass in den Geschichten juristische Rollen (Klägerin, Berufungsbeklagter) handeln und nicht konkrete Menschen mit Eigennamen. Ver-
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steckt kann die Erzählung sehr argumentativ sein, wenn der Sachverhalt zugerichtet wird auf einen bestimmten rechtlich vorgegebenen Tatbestand. Feste Gerichtsformeln (Textbausteine, die in Urteilen regelmäßig wiederkehren) sind wie Marken, die einem Produkt zur Durchsetzung verhelfen. In den Erwägungen wird das ganze Arsenal an argumentativen Mitteln aufgefahren ⫺ das Folgende gilt natürlich ebenso für das Plädoyer (vgl. 4). Man unterscheidet von alters her eine sehr große Zahl von mehr oder weniger rechtstypischen Argumentationsmustern inhaltlich-materialer und formaler Art. Die Topik der klassischen Rhetorik, also die Lehre von den „Orten“, wo die Argumente zu holen sind, die den Text zustimmungsfähig machen, ihm Geltung verschaffen können, ist nicht zuletzt an der juristischen Argumentation in der Gerichtsrede entwickelt worden (Viehweg 1954/51974; Struck 1971; Haft 1978/61999; Perelman 1979; Neumann 1986; Gast 1988/31997; Hilgendorf 1991). Topoi sind: ⫺ Die Rechtsquellen: geschriebenes und ungeschriebenes Recht; die Rechtsprechung (Präjudizien); die Dogmatik oder „herrschende Lehre“. Sie werden mit Autoritätsargumenten ins Feld geführt (argumentum ex auctoritate bzw. ad verecundiam). Angerufen werden Regeln für den Umgang mit Rechtsquellen (z. B. lex posterior derogat legi priori; lex specialis derogat legi generali; Völkerrecht vor Landesrecht etc.). Angerufen werden allgemeine Rechts- und Verfahrensprinzipien (et audiatur altera pars; in dubio pro reo; nemo plus iuris transferre potest quam ipso haberet, jura novit curia, da mihi facta ⫺ dabo tibi ius). ⫺ Beim geschriebenen Recht gibt es im Speziellen das Argumentarium der Gesetzesauslegung: Wortlautargumente („gramm. Auslegung“) stehen neben der Berufung auf die Ratio Legis, auf den „Willen des Gesetzgebers“, auf die Auslegung im Einklang mit Verfassung, Völkerrecht, EU-Recht etc. ⫺ Wichtige Argumente sind die Berufung auf das Rechtsgefühl, die Billigkeit und die Gerechtigkeit. ⫺ Die Argumentation bevölkern Durchschnittsfiguren mit ihrem Common Sense (argumentum ex consensu omnium; argumentum ad absurdum etc.): der Durchschnittsleser, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der Erfahrung des Lebens; alle billig und gerecht Denkenden. ⫺ Typisch sind Schlüsse a maiore ad minus, a minore ad maius (a fortiori), a pari, a simili, a contrario, ab exemplo; Analogieschlüsse; E-contrario-Schlüsse usw. An weiterführender Literatur sind zu nennen: Altehenger (1983) zur Textsorte Gerichtsurteil; Engberg (1997) zu deutschen und dänischen Landgerichtsurteilen kontrastiv. Vgl. auch Art. 107 dieses Handbuchs (für einen guten Überblick vgl. Juristische Rhetorik 1996; Recht verhandeln 2005). Schreckenberger (1978) hat rhetorische Grundstrukturen der Argumentation des BVerfG herausgearbeitet. Sobota (1992; 1996) alias Schlieffen (2005) hat ein Instrument zur Erstellung eines „rhetorischen Seismogramms“ von Entscheiden entwickelt (demonstriert an Entscheiden des BVerfG): Sie zählt rhetorische Figuren (gemäß der rhetorischen Figurenlehre) und stellt ihre Dichte über den Verlauf eines BVerfG-Entscheids dar. Das ergibt eine Kurve mit Ausschlägen zwischen Stellen hoher Figurendichte und Stellen großer Figurenarmut. Ihr Befund: Entscheide des BVerfG haben eine im Vergleich etwa zu Texten in Tageszeitungen sehr hohe mittlere Figurendichte. Sie zeigen auch eine vergleichsweise hohe Spannbreite zwischen figuraler Intensität und Figurenarmut. Die Figurendichte ist regel-
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mäßig an den Stellen am höchsten, an denen es nach Meinung der juristischen Lehre um die entscheidenden argumentativen Passagen eines Entscheids geht. Sobota meint damit zeigen zu können, dass das höchste deutsche Gericht nicht einfach eine Instanz nüchterner Sachlichkeit ist, sondern dass seine Entscheide sich ganz wesentlich „irrationaler“ Überzeugungsmittel bedienen (für eine Kritik an Sobota vgl. Wohlrapp in Recht verhandeln 2005, 549⫺592).
6. Sprachkritik und Sprachanleitung Die Rechts- und Verwaltungssprache ist zum einen Vorbild. So hat Luther den Kanzleistil ausdrücklich gelobt. Um 1800 finden sich zahlreiche sehr lobende Stimmen (z. B. von Achim v. Arnim) zum preußischen Allgemeinen Landrecht (ALR) von 1794; bei Kleist lassen sich deutliche Einflüsse der Rechtssprache seiner Zeit, des ALR, ausmachen. Stendhal wird nachgesagt, er habe den Stilus concisus des französischen Code civil (Code Napole´on) so geschätzt, dass er täglich darin las, pour prendre le ton/le style; für Vale´ry kulminierte die literarische Perfektion im ⫺ heute aufgehobenen ⫺ Artikel 12 des französischen StGB von 1810: Tout condamne´ a` mort aura la teˆte tranche´e. Seit dem Barock (Opitz, Logau, Gryphius, Schottelius) und bis in unsere Tage kennt die Geschichte zahlreiche „Dichterjuristen“. Zum andern ist die Rechts- und Verwaltungssprache aber auch Prügelknabe: Die Schelte über die Juristensprache ist so alt wie die Juristerei selbst. Sie kommt wellenartig immer wieder. Ende des 19. Jahrhunderts etwa gab es in Deutschland eine solche Welle im Zusammenhang mit der Entstehung des BGB. Nicht zuletzt mischte sich damals der Allgemeine deutsche Sprachverein lautstark ein; die Kritik war eine ästhetische, an literarischen Stilnormen orientierte Stilkritik (Günther 1898 fasst die Stimmen zusammen; Verstreutes findet sich in bekannten Stilkritiken wie Wustmanns „Sprachdummheiten“ oder Reiners „Stilfibel“). Nach dem 2. Weltkrieg folgte eine Fundamentalkritik an der Verwaltungssprache als „Sprache in der verwalteten Welt“ durch Korn (1962). Sie wurde abgelöst durch verständnisvollere Arbeiten im Rahmen einer funktionalen Stilistik, sehr früh schon Dölle (1949), dann in den 1960er Jahren vor allem Polenz (1963 u. a.) und Oksaar (1967), später Polenz (21988) mit exemplarischen Analysen eines Ausschnitts aus dem Grundgesetz und eines Behördenbriefs. Seit den 1970er Jahren erschallt der Ruf nach „bürgerfreundlichen“ Gesetzen und Verwaltungstexten (exemplarisch zu Gesetzessprache, Verwaltungssprache und Formularen Die Sprache des Rechts und der Verwaltung 1981; vgl. auch Geyl 1972; Oksaar 1978, 1989; Dobnig-Jülich 1985; Rehbein 1998/ 99; Knoop 1998/99; Becker-Mrotzek 1998/99; Stemmler 2002; zur Verständlichkeitsdiskussion Recht verstehen 2004; vgl. auch Art. 129 in diesem Handbuch). Dieser Ruf hat bislang wenig bewirkt. Immerhin aber gab es in Österreich Ende der 1980er Jahre ein viel beachtetes Projekt zur Gesetzesoptimierung (Pfeiffer/Strouhal/Wodak 1987), und in der Schweizerischen Bundeskanzlei wird seit jener Zeit viel Aufwand betrieben für eine gute Gesetzesredaktion (Hauck 1986; 2000; 2002; Nussbaumer 2002a; 2003; 2005; Lötscher/Nussbaumer 2007). Für die Kritik an der Rechts- und Verwaltungssprache kann man als eine Grundsatzfrage formulieren: Geht es ⫺ namentlich dort, wo die Texte rechtsetzend sind (Gesetz, Vertrag, Verwaltungsverfügung, Urteil), aber auch in den argumentativen Texten ⫺ le-
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diglich darum, dass der Wortlaut einfach festgeschrieben ist, mithin einen Rechtsakt, einen Staatsakt verkörpert und allenfalls vor oberer Instanz besteht, oder geht es auch darum, dass er verstanden wird? Ist der Text bloß eine Institution oder ist er auch ein kommunikativer Akt? Damit verknüpft ist auch das Problem der Mehrfachadressierung vieler dieser Texte: Ein Urteil richtet sich nicht nur an Parteien, sondern auch an höhere Instanzen, ist also zum einen ein domänentranszendierender Text, wo es zu den Parteien spricht, zum andern ein domäneninterner, institutioneninterner Text, wo es zur „Zunft“ spricht. Dass die (gelobte und geprügelte) Juristenzunft ihre eigene Sprache seit jeher sehr wohl reflektiert und zu optimieren sucht, zeigt Mertens (2004), der die gesetzgebungstheoretischen Diskussionen zwischen dem Ende des 18. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts darstellt. Darin geht es um Fragen wie: Verallgemeinerung oder Kasuistik? Abstraktion oder Anschaulichkeit? Sollen Gesetze nur befehlen oder auch belehren? Sollen sie lückenlos, vollständig sein oder das Typische, Wichtigste regeln und ansonsten auf Analogie vertrauen? Wann ist eine Bestimmung bestimmt? Für wen sollen Gesetze verständlich sein und wie ist Verständlichkeit zu erreichen? Wie baut man ein Gesetz sinnvoll auf? Wozu Legaldefinitionen? Darf man auf andere Gesetze verweisen? Stilratgeber für Juristen und v. a. Verwaltungsleute haben Tradition (von außerhalb der „Zunft“ oder von Juristen selber). Eine große Verbreitung fanden sie besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Vorbereitung der großen Kodifikationen (preußisches Allgemeines Landrecht 1794 etc.), z. B. v. Sonnenfels’ „Über den Geschäftsstil“ (2. Aufl. 1785; „Geschäfts-“ hat die Bedeutung von Verwaltung). Bald nach dem Zweiten Weltkrieg erschien Wolff (1952), später Otto (1978) und die bekannten „Fingerzeige“ (111998). Zu einer Kritik an dieser Art linguistischer Pflege der Sprache des Rechts vgl. Grewendorf (2000). Verstreutes ⫺ zumeist wenig Hilfreiches, weil viel zu allgemein gehalten ⫺ findet sich in Weisungen zur Rechtsetzung („Handbuch der Rechtsförmlichkeit“ in Deutschland, „Gesetzgebungsleitfaden des Bundesamtes für Justiz“ in der Schweiz), in allgemeinen Lehrbüchern zum Recht (z. B. Forstmoser/Schluepp 32002) und natürlich in Gesetzgebungslehren (z. B. Müller 22006). Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Juristenausbildung nach wie vor eine ganz spezifische Sprachschulung darstellt (vgl. schon Seibert 1977 oder Struck 2002, der von eigentlicher sprachlicher „Dressur“ spricht). Die Ausbildung fremdsprachiger Jurastudenten ist eine Sprachschulung noch einmal anderer Art (vgl. Sander 2004). Da und dort ist im Juristenstudium der Unterschied zwischen „Gutachtenstil“ und „Urteilsstil“ konstitutiv: Gutachtenstil ist der Stil der Fallbearbeitung, bei der es darum geht zu zeigen, dass man alle möglichen Gesichtspunkte in Betracht gezogen und abgewogen hat, während der Urteilsstil streng setzend, apodiktisch ist und Signale des Zweifels vermeidet. „Rhetorik für Juristen“ ist eine reichhaltige Sparte auf dem Buch- und Weiterbildungsmarkt. Neuerdings erfreut sich die angelsächsische Erfindung der Moot Courts (man spielt Gerichtsfälle) wachsender Beliebtheit; dabei werden Gerichtsreden eingeübt. Sprachlich-redaktionelle Aspekte von Gesetzgebung und Vertragsgestaltung spielen im Rechtsstudium hingegen nach wie vor eine eher untergeordnete Rolle.
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Markus Nussbaumer, Bern und Zürich (Schweiz)
129. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache der Verwaltung
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129. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Sprache der Verwaltung 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Rhetorik und Stil in der Verwaltungssprache Rhetorisch-stilistische Aspekte mündlicher Verwaltungskommunikation Zweckbezogene Rhetorik in ausgewählten Verwaltungs-Textarten Sprachliche Dimensionen Kritische Aspekte der verwaltungssprachlichen Rhetorik Literatur (in Auswahl)
Abstract Unlike the languages of law/jurisdiction and political debate, the rhetorical and stylistic features of the language of administration have not been examined in detail so far. Thus, the state-of-the-art is characterized by concerns about impolite, unintelligible and undemocratic language use in (German) administrative texts/discourse as well as a growing demand for language coaching and consulting in public administration. Thus, a look at empirical data will uncover rhetorical instantiations of genus deliberativus, genus iudicialis, and argumentative structures of refutatio and probatio. From a pragmatic angle, most of these rhetorical devices are dysfunctional, especially when communicating with citizens, where maintaining cooperation is an important, yet often underestimated aim. Moreover, the style of administrative language is mostly gained by operating within the symbol field, in particular by using allegorical transformations. Since the agents working in public administration often are unaware of and untrained in rhetoric and stylistics, unpremeditated language use creates even more communicative problems.
1. Rhetorik und Stil in der Verwaltungssprache Die Sprache der Verwaltung steht als ein Typus der Institutionensprache fachsprachlich der Rechtssprache nahe (Becker-Mrotzek 1999, 1394 ff.; 2001, 1505 ff.; Rehbein 1998a, 660 ff.; Fuchs-Khakar 1987; Gläser 2002). Sie spiegelt wiederkehrende gesellschaftliche Zweckbezüge und situationsbezogene sowie sprecher- und hörerseitige Zielsetzungen wider (Becker-Mrotzek 1999, 1398 ff.), insbesondere als Sprache der öffentlichen Verwaltung in staatlichen Institutionen. Um diese gesellschaftlichen Bedürfnisse in standardisierter und effizienter Form bearbeiten zu können, hat sich eine große Anzahl von Textarten (Anträge, Bescheide, Protokolle, Gutachten, Sachstandvermerke u. a.) und Diskursarten (Datenerhebungs-, Beratungs-, Anhörungsdiskurse u. a.) herausgebildet. Während aber zahlreiche Untersuchungen auch jüngeren Datums zu rhetorischen Fragen für die Sprache des Rechts und des judikativen Handelns vorliegen (Solbach 2003; Weirauch 2005; Gast 2006) und ebenso die Sprache der Legislative und des politischen Handelns intensiv beforscht wird (Pörksen 2002; 2004; Geißner 2005; Kramer 2006), ist die Verwaltungssprache der Exekutive bislang nicht auf ihre rhetorisch-stilistischen Aus-
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
drucksmittel untersucht worden. Ihre Erforschung dürfte der kritischen Diskussion um sprachliche Effizienz und Bürgernähe neue Impulse geben. Seit langem wird der Verwaltungssprache vorgeworfen, dass sie schwer verständlich und daher für die Bürger/innen nicht im demokratischen Sinne zugänglich und handhabbar sei (Korn 1962; Radtke 1981; Knoop 1998; Lambertz 1990; 1999; Sechi 2003; Grönert 2000; 2004). Dafür wird ⫺ direkt oder mittelbar ⫺ ihr ,Amtsstil‘ verantwortlich gemacht, der durch dichte Nominalkonstruktionen, unpersönliche Formulierungen sowie Fachbegriffe von rechtlicher und verwaltungsspezifischer Bedeutung gekennzeichnet ist (Überblick s. Rehbein 1998, 668⫺670; Becker-Mrotzek 1999, 1396 f.). Zwar sind mangelnde Höflichkeit und ungenügende Verständlichkeit der Verwaltungssprache zunehmend Gegenstand von Untersuchungen (s. Blaha u. a. 2001; Grönert 2000; 2004; Sechi 2003). Doch was Bürger/innen oft kritisch als ,Amtsstil‘ bzw. ,Behördenstil‘ wahrnehmen, stellt aus institutionsinterner Sicht funktionale rhetorisch-stilistische Strukturen dar, die dazu dienen, Vorgänge und Zusammenhänge fachsprachlich prägnant und zweckbezogen zu kennzeichnen (Wagner 1972; Fuchs-Khakar 1987) und die überdies der Verwaltungsinstitution eine stilistisch einheitliche, repräsentative sprachliche Oberfläche geben (s. Ebert 2006, 105⫺116). Diese Doppelfunktion rhetorisch-stilistischer Strukturen wird in der linguistischen Pragmatik zumeist so aufgefasst, dass ,Rhetorik‘ sich auf die Autorenseite bzw. Sprecherperspektive des kommunikativen Anliegens beziehe; in der jüngeren Tradition der ,Neuen Rhetorik‘ (Perelman 1980; Perelman/Olbrecht-Tyteca 2004) stehen dabei persuasive Zwecke und die Ethik des Argumentierens im Vordergrund. ,Stil‘ und ,Stilistik‘ gelten dem gegenüber als deskriptiv-analytische Kategorie bzw. Disziplin, die die sprachlichen Gestaltungsmittel rezeptionsseitig, also aus der Leser- bzw. Hörerperspektive charakterisieren. Für die Verwaltungssprache könnte so mit Blick auf die agentenseitige Sprecherrolle und Textproduktion von ,rhetorischen‘ Mitteln gesprochen werden, mit Blick auf die klientenseitige Rezeption der Verwaltungssprache von ,stilistischen‘ Mitteln. Obwohl damit kritische Aspekte der Verwaltungssprache erfasst werden können, greift eine solche Differenzierung handlungstheoretisch zu kurz. Zudem wird auch in der Linguistik die Differenzierung von ,Rhetorik‘ und ,Stil‘ zunehmend problematisiert (Gardt 2003; Sandig 2006, 1⫺7). Der ,Stil‘-Begriff selbst wird in Zusammenhang mit der Sprache der Verwaltung nicht infrage gestellt. In der Fachsprachenforschung allerdings, die in den 1960er-Jahren unter Bezug auf Arbeiten der Prager Schule eine Klassifizierung von ,Funktionalstilen‘ in den „Gebrauchssprachen“ anstrebte, wurde der Stilbegriff für die Beschreibung und Analyse fachsprachlicher Funktionalität bald als ungenügend angesehen (Hoffmann 1976; v. Hahn 2001). Der Begriff ,Amtsstil‘ unterstellt demnach keine Funktionalität, sondern ,Stil‘ im Sinne einer das Verständnis behindernden Ornamentalität. Eine sprachwissenschaftliche Aufwertung der Kategorie des Stils findet sich in einer wachsenden Zahl text- und gesprächsstilistischer Arbeiten, die u. a. Fachtexte, insbesondere die Medienkommunikation, thematisieren (Spillner 1996; Stickel 1996; Selting/Sandig 1997; Sandig 2006). Dabei werden in einen weiten, pragmatischen Stilbegriff nunmehr ⫺ über den stilisierenden Redeschmuck (elocutio) hinaus ⫺ Bereiche der klassischen Rhetorik, nämlich Situationseinbettung und die Hörer-/Leser-Orientierung (inventio, dispositio; aptum) integriert (Fix 1992; Sandig 2006). Dieser pragmatische Blick auf Rhetorik und Stilistik eröffnet neue Möglichkeiten einer zweckbezogenen, systematischen Analyse (philosophiegeschichtlich: Knape 2000; sprachwissenschaftlich:
129. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache der Verwaltung
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Gardt 2003; Fix 2004). Unter Rückgriff auf die Rhetorik-Tradition werden so ,rhetorische‘ und ,stilistische‘ Perspektiven auf die Sprache der Verwaltung unterschieden. Während das antike System der Rhetorik den ,Stil‘ noch als eines ihrer Teilgebiete auffasste und die Stilqualitäten (Sprachrichtigkeit, Deutlichkeit, Angemessenheit, Redeschmuck, Kürze) von den Stilarten (schlichter, mittlerer, erhabener Stil) unterschied, entwickelte sich ,Stil‘ bereits seit dem 17. Jahrhundert zu einem eigenen rezeptionsästhetischen Begriff. Das moderne Verständnis von Stil, seine Übertragung auf die bildenden Künste und die Musik, wurden maßgeblich durch G.W.F. Hegels Ästhetik geprägt (s. Gerhardus 2004). Demnach bezieht ,Stil‘ sich einerseits auf eine ,Symptom‘-Qualität an dem stilistisch ausgewiesenen Gegenstand, andererseits auf eine ⫺ symbolhafte ⫺ Ausdrucks- und Gestaltungsweise durch das Subjekt. Das Erzeugen von ,Stil‘ kann somit als eine spezielle Kunstfertigkeit beim Bearbeiten eines Gegenstands verstanden werden; rezeptionsästhetisch tritt diese Bearbeitung als wiedererkennbare Gestalt am ,stilisierten‘ Gegenstand zutage. Die soziolinguistische und ethnographische Analyse fasst ,Stil‘ daher in Form alltagssprachlicher und intertextueller Merkmalbündel mit identitätsstiftender bzw. gruppenkonstituierender Funktion (s. Selting/Sandig 1997; Jakobs/Rothkegel 2001; Keim 2002). Auch die Behördensprache ist unter diesem Stilbegriff als eine Einheit stiftende „Wahrnehmungsgestalt“ verstehbar (s. Ebert 2006, 105⫺116). Textlinguistisch können Gestaltmerkmale von Textmustern analysiert und kategorisiert werden (s. Fix 1996; Sandig 2006, 51; 53⫺84). Der stilistische Aspekt der Verwaltungssprache besteht demnach in ihren aus Bürger- und Klientensicht wiedererkennbaren Merkmalen, die einen gestalthaften Gesamteindruck vermitteln. Wo diese der Argumentation, der Persuasion und der öffentlichen Meinungs- bzw. politischen Willensbildung dienen, sind sie unter dem Aspekt ihrer rhetorischen Struktur der handlungs- und entscheidungsvorbereitenden Kommunikation erfassbar. In dieser Funktionalität war bereits die antike Rhetorik eine gesellschaftlich ausgearbeitete Disziplin der Fachkommunikation, insbesondere der juristischen und Verwaltungssprache (s. Knape 2000). Denn rhetorische Mittel können in der verwaltungssprachlichen Fachkommunikation Überzeugungen herstellen, die als Basis für das weitere institutionelle Handeln fungieren. Stilphänomene ermöglichen durch eine übergreifende Gestaltung das Konstituieren und Erkennen von Gruppenzugehörigkeit bzw. Identität, auch einer Verwaltungsinstitution.
2. Rhetorisch-stilistische Aspekte mündlicher Verwaltungskommunikation Empirische Untersuchungen der mündlichen Verwaltungskommunikation liegen in Anbetracht eines zunehmenden Beratungs- und Schulungsbedarfs noch immer nicht in ausreichendem Maß vor (s. Becker-Mrotzek 2001; Sechi 2003; Grönert 2004; Ebert 2006). Speziell zu rhetorisch-stilistischen Eigenschaften der Behördenkommunikation gibt es u.W. keine Untersuchungen. Exemplarisch illustrieren die Transkriptausschnitte B1 und B2 aus einer Anhörung in einem Asylverfahren (Abb. 129.1 und 129.2) stilistische und rhetorische Aspekte der mündlichen Behördenkommunikation. Die Antragstellerin OUM, eine junge afrikanische Frau, spricht Dilou und wird von DOL gedolmetscht. Auf die Frage der Sachbearbeiterin SON nach dem Hergang ihrer Flucht sagte OUM
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
Abb. 129.1: Auszug aus einer Anhörung (nach Rehbein et al. 2001, 10)
unmittelbar zuvor aus, dass auf Initiative eines Bekannten ihr dessen Bekannter geholfen habe zu fliehen. SON erfragt nun im Auszug 129.1 dessen Motive. Die Nachfrage SONs, „Warum hat er Ihnen geholfen?“ (Partiturfläche 90), ist durch einen gleichförmigen Tonfall gekennzeichnet, der als „genervt“ annotiert wurde. SON wartet die Übersetzung der Antwort nicht ab, sondern setzt mehrere ebenso intonierte Fragen nach, die zugleich schneller gesprochen sind. Die dabei emphatisch betonten Ausdrücke (PFn 92⫺94: „Geld“, „kannten“, „Freund“) treffen eine Vorauswahl mutmaßlicher Motive des Helfers. Eine solche ,Fragebatterie‘ schränkt die hörerseitige Suche nach passenden Wissenselementen für die Antwort ein und dirigiert auf institutionell bewertbare Antwortalternativen. Auch bewirkt das abschließende „oder was?“ weniger eine Einräumung eigener Alternativen, als vielmehr eine Unterstellung, dass OUM und DOL entscheidungsrelevantes Wissen zurückhalten. Solchermaßen inkriminiert dient die Hörerrolle OUMs nicht allein dem Erheben von institutionell entscheidungsrelevantem Wissen, sondern die Sprechsituation wird in ein Zur-Rede-Stellen der Hörerseite transformiert (s. Rehbein 1977, 304 ff.). Handlungssystematisch unterstellt SON demnach bereits eine Fehlhandlung seitens der Asylsuchenden. Die sprachlichen Verfahren der gleichförmig listenden, „genervten“ Intonation und die Einschränkung des Hörerhandelns durch Fragebatterien schaffen den Eindruck eines Verhörstils, der sich auch bei den anderen Fragen der Sachbearbeiterin als durchgängige Struktur zeigt, u. a. im völligen Fehlen von Hörersignalen SONs, die Verstehen und Mitkonstruktion anzeigen würden. So dienen die sprachlichen Mittel des Fragemusters der Beschränkung des mentalen Handlungsraums der Verhörten und bewirken einen gestalthaften Gesamteindruck, der es erlaubt, von einem Stilphänomen zu sprechen. Ein Protokollstil liegt im Auszug 129.2 vor, wenn SON den Anhörungsverlauf für die schriftliche Begründung des Asylgesuchs diktiert (Pfn 267⫺277).
129. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache der Verwaltung
Abb. 129.2: Auszug aus einer Anhörung (nach Rehbein et al. 2001, 20 f.)
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
Abb. 129.2: Fortsetzung
Für den Stil dieses Verlaufsprotokolls ist charakteristisch, dass es insgesamt die Wiedergabe einer diskursiven Sequenz fingiert, z. B. in Form von Zitaten OUMs mit der Sprecherdeixis „ich“ und der Fragen SONs mit der Hörerdeixis „Sie“. Tatsächlich werden im diktierten Verlaufsprotokoll die Äußerungen OUMs nicht nur ins Deutsche übersetzt, sondern auch das, was OUM schilderte, wird zusammengefasst und so aus den Schilderungen OUMs ein bearbeitbarer Fall gemacht. Obgleich derartige institutionelle Adaptationen bereits bei der Verdolmetschung stattfinden (z. B. PFn 265, 266, „dotoro lafleˆli“: „ärztliche Untersuchung“), finden sich beim Übergang der Wiedergabe auf die Agentenseite sozial relevant werdende Stilbrüche: SON macht im Diktat aus „ärztliche Untersuchung“ die Antwort „Beim Doktor“ (PF 277). Dabei verwendet sie die Figur der Metalepse (s. Lausberg 1990, 147 f.; Burkhardt 2001), mit der der prägnante, fachsprachlich angemessene Begriff durch einen nur teilsynonymen Begriff ersetzt wird, der die Klientin zu einem naiv-ungebildeten Wesen stilisiert. Die Beispiele zeigen, dass insbesondere das unwillkürliche und unreflektierte Erzeugen von Stil/en und Einsetzen von rhetorischen Mitteln in der mündlichen Verwaltungssprache problematisch sein kann. In 129.1 und 129.2 ist der Stil nicht allein Ausdruck der Gruppenzugehörigkeit SONs als Agentin der Institution, sondern er transformiert auch die Diskursart ,Anhörung‘ tendentiell in die eines ,Verhöres‘ und macht für die Klientin aus der demokratisch legitimierten Berechtigung des Asylgesuchs eine Verpflichtung zur Rechtfertigung. Für eine kooperative Kommunikation kann dies unzweckmäßig sein (Kooperationsbegriff: s. Ehlich 1987). Zudem kann es klientenseitig bei geringen Deutschkenntnissen bzw. Verdolmetschung zu einer zweckmäßigen, persuasiven Rhetorisierung, die dem Anliegen dient, gar nicht kommen. Umso stärker hängt der Erfolg des klientenseitigen Anliegens von der Stilisierung qua Protokoll durch die sachbearbeitenden Agent/inn/en ab.
3. Zweckbezogene Rhetorik in ausgewählten Verwaltungs-Textarten Rhetorisch-stilistische Eigenschaften variieren mit zugrundeliegenden Text- und Diskursarten, da sie deren Zwecke sprachlich umsetzen. Im folgenden behandeln wir exempla-
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risch drei verwaltungssprachliche Textarten aus unserem Korpusi und in ihnen auftretende rhetorisch-stilistische Elemente: Sachstandvermerk, Gutachten und Bescheid (s. auch Becker-Mrotzek 1997, Becker-Mrotzek/Scherner 2000; Linhart 1996; 2007; Rehbein 1998a).
3.1. Sachstandvermerke Als eine spezielle Form der Aktennotiz ist der Sachstandvermerk eine in der Verwaltung ubiquitäre Textart. Er stellt einen systematischen Bestandteil der Verwaltungsakte dar und findet im Vorfeld einer verwaltungsinternen Entscheidung statt. Er betrifft alle Schnittstellen des institutionellen Handelns bei der institutionsinternen und inter-institutionellen Übergabe/Übernahme einer Fallbearbeitung (s. Praxeogramm der Arbeitsabläufe in Verwaltungsinstitutionen in Rehbein 1998a, 663). Trotz seiner zentralen Stellung ist er jedoch bislang offenbar noch nicht eigens untersucht worden. Der Sachstandvermerk dient der entscheidungsreifen Darstellung des Sachstandes für die übernehmende Instanz innerhalb der Verwaltungsabläufe und umfasst folgende Komponenten: (i) den Dokumentkopf mit Kürzel der Absender- und der EmpfängerFachstelle, Datum und Betreff; (ii) den ,Sachverhalt‘, eine knappe Darstellung des Ausgangspunktes, der ein behördliches Handeln erzwingt, für das mindestens zwei Alternativen bestehen; (iii) die ,Stellungnahme‘, in der der mit dem Fall betraute Agent der nächst übergeordneten Instanz eine bestimmte Entscheidung argumentativ nahelegt; (iv) die ,Empfehlung‘, die abschließend eigens eine Konsequenz aus der Stellungnahme formuliert. Er ist daher keine beschreibende, berichtende bzw. zusammenfassende Textart, sondern enthält argumentative Elemente, die den versprachlichten Sachverhalt auf die empfehlenswerte Entscheidung hin engführen. Wenn der entscheidungsrelevante Gegenstand eine zeitnahe Umsetzung von politisch begründeten Maßnahmen ist und dafür Gelder bereitgestellt werden müssen, ist es z. B. für die Absender-Fachstelle sinnvoll, ihre präferierte Alternative bereits im ,Sachverhalt‘ kenntlich zu machen. Die ,Stellungnahme‘ dient deren argumentativer Herausstellung als zweckmäßig und nützlich. Rhetorisch besteht deshalb eine Nähe zur ,deliberativen Gattung‘ (s. Lausberg 1990), die eine Entscheidung im Sinne des Gemeinwohls beratend herbeiführen soll. Im Korpus fällt eine große Varianz an Realisierungsformen auf, besonders betreffs einer berichtenden vs. argumentativen Ausgestaltung von Sachverhalt und Stellungnahme. Bei der Platzierung von Argumenten und Schlussfolgerungen fällt auf, dass sie teilweise bereits unter ,Sachverhalt‘ erscheinen. Insgesamt wird der in der Bürgerkommunikation oft kritisierte „Amtsstil“ auch verwaltungsintern eingesetzt. Beispiel: Auszug aus einem Sachstandvermerk, ,Sachverhalt‘: „Nach § X des Ausführungsgesetzes zum SGB VIII legt der Senat in jeder Legislaturperiode einen Kinder- und Jugendbericht vor. Für die Vorlage eines Berichtes in der xx. Legislaturperiode müssen alsbald die Vorbereitungsarbeiten beginnen. Dafür ist es erforderlich, den wesentlichen Schwerpunkt des Berichts festzulegen.“
Gegenstand der Entscheidungsempfehlung ist der „Schwerpunkt des Berichts“, der mit dem zusammengesetzten Verweiswort „dafür“ syntaktisch nachgeordnet und so erst spät
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erkennbar wird. Der Einstieg mit einer Umstandsbestimmung („Nach…“) bettet den propositionalen Kern „Kinder- und Jugendbericht“ rhematisch tief ein, ist aber als institutioneller Sachverhalt Thema. Propositional und illokutiv überflüssige Ausdrücke wie „alsbald“ und syntaktische Matrixkonstruktionen wie „ist es erforderlich“ (statt Modalverbkonstruktion) sind mit Ornatus-Funktion eingesetzt. (Der Sachverhalt ist in einem Satz ausdrückbar: „Der in jeder Legislaturperiode fällige Kinder- und Jugendbericht (s. §, Gesetz) muss vorbereitet werden, ein Schwerpunkt dafür muss festgelegt werden.“) Formulierungen wie „zeitgleich wird … abgestimmt“ fungieren, wenn zuvor kein Zeitpunkt genannt wurde, nur ornamental, nicht präzisierend. Daneben fallen Präsenskonstruktionen mit „werden“ (,Vorgangspassiv‘) und Expletive wie „Es wird vorgeschlagen“ auf, die das Nennen eines Agens der Handlung vermeiden. Diese Formen zitieren fachsprachliche Ausdrucksweisen. Im Sachstandvermerk sind sie aber pragmatisch funktionslos, da der sprachlich verschleierte Autor als Agent/in der Institution durch das Kürzel im Dokumentkopf identifizierbar ist und dem Zweck der Textart entsprechend Verantwortung für die vorgetragene Entscheidungsempfehlung trägt. Die fachsprachliche Anleihe ist somit gerade nicht rhetorisch funktional, sondern dient lediglich einer Oberflächen-Stilisierung, d. h. einem Duktus, der einen fachsprachlichen und amtsmäßigen Eindruck erzeugt, ohne sachlich präzise zu sein. Stilistische Erwägungen spielen also bei verwaltungsinternen Texten offenbar eine Rolle, werden jedoch völlig losgelöst von rhetorischen Funktionen und pragmatischen Zwecken gesehen. Am Sachstandvermerk zeigt sich exemplarisch, dass ein mangelndes Bewusstsein der deliberativen rhetorischen Qualität der Textart bei den mit ihr befassten Agent/inn/en besteht. Eine umfassende Untersuchung dieser Textart ist daher ein Desiderat.
3.2 Gutachten Gutachten werden von der Verwaltung für Entscheidungen über ein Gebiet der Realität angefordert, für das ihr/e Agent/in, obwohl Entscheidungsträger, selbst kein Experte ist. Umgekehrt werden von Behörden, die in ihrem eigenen Bereich professionalisiert sind, Gutachten für rechtliche Institutionen verfaßt (z. B. für das Familiengericht bei anstehenden Entscheidungen für das Sorgerecht). Solche Gutachten stehen exemplarisch für die gutachterliche Tätigkeit innerhalb der Institution, die für eine weitere Institution auf dem Bearbeitungsweg notwendig wird. Dabei sind die Sachbearbeitenden zugleich die Experten ⫺ des Falles und in ihrer beruflichen Qualifikation. Im Praxeogramm behördlicher Institutionen (Rehbein 1998a, 663) wird das Gutachten als „institutionsinterne Textart“ und im Fall inter-agentieller Kommunikation (Rehbein 1998b) vor der Entscheidung der behördlichen Agenten positioniert. Aufgrund der zunehmenden Diversifizierung des Wissens werden Entscheidungen im Verwaltungshandeln aber häufig nicht innerhalb einer Behörde abgefaßt, sondern von „unabhängigen“ Experten außerhalb, und zwar wenn (i)
eine Entscheidung konfliktär und nicht einseitig durch die Verwaltungsinstitution zu leisten ist; (ii) die erforderliche Expertise nicht durch die Ressourcen der Institution selbst erbracht werden kann; (iii) eine mögliche Befangenheit juristisch unterbunden werden muss.
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Die Gesamtillokution des Gutachtens ist eine positive oder negative sprachliche Handlung vom Typ Aufforderung (Empfehlung, Rat, Warnung usw.). Diese wird zumeist in den Endabschnitten des Gutachtens formuliert. Gutachten sind nach drei, in sich weiter gegliederten Abschnitten (Sektionen) aufgebaut: (i) Fragestellung, Adressat/Auftraggeber, Auftragsrahmen (meist standardisiert); (ii) deskriptiv-interpretativer Teil mit (1) Rekonstruktion des Sachverhalts, Reformulierung der Fragestellung (vgl. Bührig 1996); (2) Wissenskonsultation nach expertenbezogenen/professionellen Kategorien; (3) Wissensvermittlung (hinsichtlich (2)) vom Typ Bewertung des rekonstruierten Sachverhalts mit Einschätzung; (iii) Resümee: (1) Zusammenfassung des deskriptiv-interpretativen Teils mit (2) sprachlichen Handlungen aus dem Bereich des Aufforderns wie Empfehlung, Rat, Vorschlag oder Warnung, die auf die anstehende Entscheidung und deren Konsequenzen gerichtet sind (zumeist komprimiert am Ende eines Gutachtens). (iv) Ubiquitär und nicht an einen spezifischen Ablauf geknüpft kommen Begründungen bzw. Rechtfertigungen sowie Erläuterungen vor. Die Architektur des Gutachtens ist in großen Abschnitten dem Muster des Ratgebens analog (s. Hartog 1996; tabellarisch: Hudec/Lieber, 1997, 121; s. auch Rehbein 1972; Ehlich/Rehbein 1986; Bührig 1996; Hohenstein 2006). Während im deskriptiv-interpretativen Teil (ii) Kategorien und Bewertungen auf die Fragestellung gerichtet sind, werden in Teil (iii) die sprachlichen Handlungen speziell auf den Auftraggeber (hier die Verwaltungsinstanz) als Rezipienten hin formuliert. Gutachten zeichnen sich stilistisch dadurch aus, dass die als Ergebnis erlangte Entscheidung den gesamten Text strukturiert, was in der Gesamtgestalt als stilistischer Tenor erkennbar wird. Dieser Tenor eines Gutachtens ist davon abhängig, ob die Stellungnahme insgesamt negativ oder positiv ausfällt, also eine Refutatio oder eine Probatio (s. Staab 2005; Veit 2005) hinsichtlich der anstehenden Entscheidung ist. ⫺ Einzelne sprachliche Mittel beeinflussen die konstellationsbedingten subjektiven Kategorien des Handlungsraums beim Rezipienten (Adressaten) unter dem jeweiligen Tenor Refutatio vs. Probatio entscheidend (vgl. Rehbein 1983): Stilistisch-rhetorische Aspekte im deskriptiv-interpretativen Teil (ii): (a) Verfahren der Themenprozessierung, z. B. durchgehende Relevanz-Markierungen nach VordergrundHintergrund-Wissen bei der Sachverhaltsrekonstruktion. Hinsichtlich der Verbalisierung der Fragestellung werden themenbezogene Verfahren angewendet, die mit der Hervorhebung, Insinuierung oder Hintanstellung (Neutralisierung) von Bewertungen der anstehenden Entscheidungsalternativen und deren Konsequenzen zu tun haben, wie Akzentuierung, Reliefierung, Verdeutlichung, Verharmlosung, Übertreibung etc. Rhetorisch sind diese Verfahren leserbezogene Persuasionsperationen (Knape 2001, 875 ff.), die die Einschätzung plausibel machen bzw. begründen. (b) Verfahren der Autorisierung des Bezugswissens wie Absicherung, Zitat, Kriterienangabe, Urteilszitate, Belege, Exempla usw. dienen vor allem der Kompetenzsicherung des Gutachters. Was stilistisch als autoritärer Gestus erscheint, gründet auf rhetorischen Verfahren der Beglaubigung der Unabhängigkeit der gutachtenden Person. Stilistisch-rhetorische Aspekte des letzten Absatzes (iii): In den folgenden Beispielen zielen sprachliche Mittel auf die Überzeugung (Persuasion) der Rezipienten des Gutachtens: Beispiel für Probatio-Tenor eines Gutachtens aus der Stellungnahme eines Jugendamtes:
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I „Gutachterliche Empfehlung: Aus den eben genannten Gründen entspricht es aus hiesiger Sicht dem Kindeswohl“ (Matrixkonstruktion bekräftigt die Wissensbasierung; Perspektivierung auf die institutionelle Verwaltungsinstanz), „dem Antrag von Frau X auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge zuzustimmen. Jedoch sollte eine feste Umgangsregelung vor Gericht erörtert und festgelegt werden.“ (Unpersönliche Formulierung und Modalisierung erhöht die Illokution).
Beispiel für Refutatio-Tenor eines Gutachtens aus einer Mitteilung eines Jugendamtes: „Diagnostische Einschätzung des Jugendamtes: A. ist ein traumatisiertes Kind und zeigt in seinem Verhalten die frühkindliche Störung.“ (Negativ gezeichnetes Bild des Kindes als nicht institutionsangepasstes Wesen realisiert eine Litotes-Struktur der institutionellen Selbstbewertung als Negation der Negation; das ,Bild‘ ist ein Wissensstrukturtyp, vgl. Ehlich/Rehbein 1977).
3.3. Bescheide Der Bescheid ist eine zentrale Textart in der Behörden-Bürger-Kommunikation (s. Ebert 2006, 138⫺145; Linhart 2007), die das amtlich-rechtskräftige Ergebnis eines Verwaltungsverfahrens mitteilt. Die Vorgeschichte eines Bescheids umfasst i. d. R. Sachstandvermerke, Formulare und mindestens ein Gutachten, z. B. eine ärztliche oder psychologische Expertise, wenn es um die Feststellung eines Grades der Behinderung oder einer Berufsunfähigkeit geht. Im Unterschied zum Beschluss hat der Bescheid Briefform und ist an die Klient/inn/en persönlich adressiert. Der institutionell autorisierte Bescheid schließt die verwaltungsinternen, dem Amtsgeheimnis unterliegenden Verwaltungsabläufe ab (Rehbein 1998a, 663). Als rechtskräftige Mitteilung ist er an die juristische Fachsprache gekoppelt. Sein Aufbau reflektiert den doppelten Zweck, eine rechtskräftige Entscheidung juristisch korrekt mitzuteilen und klientenseitig deren Akzeptanz herbeizuführen. Die Notwendigkeit gleichzeitiger Umsetzung des juristischen wie des kooperativen Zweckes gelingt oft nicht und führt bei den Verwaltungsangestellten zu einem hohen Beratungsbedarf (Linhart 1996; 2007; Ebert 2006; Fisch/Margies 2007). Die Problematik ist fundamental mit rhetorisch-stilistischen Eigenschaften verknüpft. Im folgenden Beispiel hat die Klientin eine Gehbehinderung, die bereits mit einem Grad der Behinderung von 80 („GdB von 80“) anerkannt ist. Aufgrund zusätzlicher gesundheitlicher Beschwerden beantragte sie eine Höhereinstufung, die abgelehnt wurde. Sie machte ihr Recht auf Widerspruch geltend; dieser wurde seinerseits mit folgender Begründung abgelehnt. „Die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens sind als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB um wenigstens 50 bedingen. Diese Voraussetzung liegt bei Ihnen nicht vor. Eine erhebliche Gehbehinderung kann daher nicht festgestellt werden.“
Der komplexe erste Satz könnte bis zum ersten Komma zunächst als positiver Bescheid gelesen werden, weil die logische Abfolge von Protasis (dem „wenn“-Teilsatz) und Apodosis (dem Folgeteilsatz) für rhetorische Zwecke vertauscht wurde: So kann an das Nen-
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nen der Bedingung unmittelbar die Aussage ihres Nichtzutreffens angeschlossen werden. Sie dient dann als Prämisse für die negative Schlussfolgerung. Mit diesem rhetorischen Argumentationsschema des Epicheirems, das auf der logischen Struktur des Syllogismus basiert, kann zwar eine Schlussfolgerung gezogen werden (s. Lausberg 1990, 200; Klein 1994), eine Akzeptanz lässt sich so aber schwer herstellen. Da die rhetorische Form einem Glaubwürdigkeitsbeweis im Sinne einer Refutatio dient (Staab 2005), wird die Antragstellerin sprachlich als abzuschmetternde juristische Gegnerin behandelt, nicht aber in ihrem Anliegen ernst genommen. Dies entspricht der Beweisführung gegen den Angeklagten vor Gericht, also der ,judizialen Gattung‘ des Argumentierens in der aristotelischen Rhetorik (s. Lausberg 1990, 85⫺123). Der Text des Widerspruchsbescheids ist auf diese Weise stilistisch nach dem Muster einer Textart strukturiert, die gerade nicht der Kooperation dient. In besonderem Maße unterminiert ein Widerspruchsbescheid das Kooperationsprinzip der Kommunikation, wenn der/die Empfänger/in des Bescheids rhetorisch angegriffen wird und so die bestehende materiale Kooperation tendenziell zugunsten eines Kampfmodells aufgegeben wird (s. Ehlich 1987). Hier werden oft Mittel der Herabsetzung und der Reiecto (s. Bildstein 2005), der Abqualifizierung vorgebrachter Gründe als irrelevant, nicht gescheut. Die Mittel der Reiectio und der Herabsetzung zeigen deutlich eine höhere Gewichtung des juristischen Zwecks durch die Verwaltungsangestellten als der klientenbezogenen Kooperation. Beim Verfassen des Bescheids führt dies zu einem juristischen Stil, der mit rhetorischen Mitteln im Sinne einer Refutatio arbeitet. Die am judizialen Argumentationsstil orientierte Begründung kann jedoch die Abhängigkeit der klientenseitigen Lebenssituation von der Entscheidung nicht angemessen würdigen. Eine nur “bürgernähere“ stilistische Gestaltung durch höfliche persönliche Adressierung und eingefügte Erläuterungen von Fachbegriffen kann diesem grundlegenden rhetorisch-stilistischen Problem nicht abhelfen.
4. Sprachliche Dimensionen Bereits die Textarten-Benennung in der Sprache der Verwaltung weist rhetorisch-stilistische Strukturen des Nominalstils auf (Korn 1962; Ehrich 1977). Zwei Formen sind zentral: (i) Wortbildung aus einem Verb, indem der Handlungsausdruck auf sein Symbolfeld (i. S. Bühlers 1934) reduziert wird (,Bescheid‘, ,Beschluss‘, ,Gutachten‘, ,Stellungnahme‘); (ii) Komposition aus nominalen Bestandteilen (,Sachstandvermerk‘, ,Beschlussprotokoll‘, ,Widerspruchbescheid‘). Der verbale Handlungsbezug, der etwa in „dem Bescheiden“ als Verlaufsform bzw. resultativ in einer Nominalbildung auf „-ung“ noch gegeben ist, wird dabei getilgt. Eine Komposition nach (ii) spezifiziert die Zuordnung zu einer Instanz des verwaltungsinternen Ablaufs im ersten Bestandteil, während der zweite Bestandteil die Textart benennt. Gemeinsam ist den Textartbenennungen, dass die Nominalisierung der im Text niedergelegten Handlung den jeweiligen Sprechhandlungszweck der Textart neutralisiert: er wird propositional genannt, eine aus der Textart systematisch folgende Anschlusshandlung,
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d. h. eine Basisillokution des Textes wird jedoch nicht vorstrukturiert. Diese ,Rhetorik der Verallgemeinerung‘ sieht von der Partizipation konkreter Hörer und Sprecher in einem gemeinsamen Handlungsprozess ab und leistet eine Abstraktion von den je spezifischen Kommunikationszwecken. In dieser Ent-Partikularisierung ist ein Desinteresse am Einzelfall versprachlicht, das zugleich gerade die demokratische Ausrichtung auf das „Gemeinwohl“ widerspiegelt, an dem Klient/inn/en wie Agent/inn/en der Institution partizipieren. Das Symbolfeld der Sprache, das nach Bühler (1934) durch nennende sprachliche Prozeduren gekennzeichnet ist, ist für den Stil der Verwaltungssprache wesentlich verantwortlich. Denn in den nennenden Prozeduren des Symbolfeldkerns z. B. in Nomen, Verben, Adjektiven, Präpositionen (bzw. in deren lexikalischen Bestandteilen) wird ein Element der Wirklichkeit versprachlicht, das dadurch aus seiner situationellen Bindung ablösbar und durch andere Aktanten, die über die Benennung verfügen, identifizierbar wird. Wenn also in einem Diskurs oder Text eine nennende Prozedur verwendet wird, werden Hörer/Leser dadurch normalerweise in die Lage gesetzt, aufgrund ihres Wissens das benannte Element der Wirklichkeit zu finden (Rehbein 1998b; Rehbein/Kameyama 2004). Die Symbolfeldausdrücke der Verwaltungssprache zeichnen sich durch einen Bezug auf vorgängige juristische oder Verwaltungstexte aus, in denen die Realität typenhaft erfasst und als institutionsspezifisches Wissen kanonisch-normativ an Phrasen, Wortgruppen, Ausdrücke, kurz, an eine Sprachform gebunden wird. In diesem Sinn werden die meisten Symbolfeldausdrücke der Verwaltungssprache (lediglich) re-instantiiert (applikative Vertextung, s. Rehbein 1998a). Diese Bindung des Wissens an die Formseite der Sprache drückt sich u. a. in einer reichen Morphologie aus, in der systematische Qualitäten des Deutschen (wie die Aspekte in Vor- und Endsilben) sowohl sprachgeschichtlich reaktiviert als auch innovativ geprägt (Wortbildung) und für den jeweiligen Texteinbau funktionalisiert werden. Der eigentliche Symbolfeldkern gewinnt in der applikativen Vertextung eine Konzeptqualität höherer Stufe. Morphosyntaktische Veränderungen am Symbolfeld sind: (1) Nominalisierung, bei der operative Prozeduren, wie z. B. die Vorsilben Ver-, Be- bzw. die Endsilben -ung, -nahme auf den Symbolfeldkern zugreifen, ihn aspektuell qualifizieren und das typenhafte Wissen an ihm markieren (Bezuschussung, Inangriffnahme), sowie Attribuierung/Adverbialisierung; (2) Komposition, d. h. Komprimierung komplexer Sachverhalte durch Zusammensetzung von Nomina, indem Ausdrücke aus mehreren Wissensbereichen zu einem neuen komplexen Ganzen komponiert werden (Zusammensetzungen mit nominalisierten zu-Supinum-Konstruktionen wie Betriebskostenvorauszahlungsbetrag (,ein Betrag der Betriebskosten, der vorauszuzahlen ist‘), nominalisierte passivähnliche Konstruktionen: Erwerbsminderungsgrad (,Grad, um den der Erwerb gemindert wurde‘ etc.). (3) Funktionsverbgefüge (,Funktionsverben‘, s. Polenz 1963), die einen nominal benannten Handlungsaspekt enthalten (zu Protokoll nehmen, in Kraft treten, in Kenntnis setzen, Genehmigung erteilen, Antrag stellen usw.); (4) formelhafte Präpositionalphrasen wie die Skalierung in Höhe von 100 g, die 100 g nicht mit direktem Bezug auf eine außersprachliche Nummerierung, sondern nach einer Normskala klassifiziert und mit in Höhe von applikativ vertextet; komplexe Präpositionalphrasen wie mit Bezug auf, hinsichtlich ⫹ N.Gen., aufgrund ⫹ N.Gen., angesichts ⫹ N.Gen. haben, vor diesem Hintergrund, in diesem Zusammenhang u. ä.
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fungieren als ein Typ von Konnektivität (vgl. Rehbein/Hohenstein/Pietsch 2007; Bührig/House 2007); (5) Ketten von Nomina, Präpositionalphrasen und Genitiv-Attribute (s. Schmidt 1993) ersetzen Nebensatzkonstruktionen, die im Finitum deiktische Prozeduren enthalten; so wird ein komplexer propositionaler Gehalt weniger durch komplexe Prädikationen, als durch Attribution realisiert; (6) adjektivische bzw. adverbiale Verwendung zeitlicher, örtlicher, relationaler oder sonstiger u. U. wieder komponierter Bestimmungen, etwa in die seinerzeitige Genehmigung, die einzelarbeitsvertraglich vereinbarten Vergütungen, usw.; (7) Symbolfeldausdrücke, die in sprachliche Formeln eingebaut sind bzw. den Charakter fester sprachlicher Formeln gewinnen und operative Prozeduren in sprachlichen Formeln wie unpersönliche Reflexiva in es empfiehlt sich bzw. der Konjunktiv in sollte berücksichtigt werden. In formelhaften Konstruktionen werden attributive Partizipiale (Gerundiva) mit teilweise vielfältiger Rektion verwendet: Die zu beantragende Ermäßigung usw. Für viele Symbolfeldausdrücke ergibt sich so eine Entwicklungsline, die von allgemeiner Rezipierbarkeit zu einer agentenseitig-professionalisierten Verständlichkeit führt. Ein solcher Prozess ist funktional-pragmatisch als eine stufenweise Verschiebung innerhalb des Symbolfeldes (als feldinterne Feldtransposition, s. Ehlich 1994) anzusehen: Locus communis (Stufe I): Symbolfeldausdrücke mit nennenden Prozeduren werden im Rahmen sprachlicher Formeln gebraucht, ihre Verkettungen und formelhafte Konstruktionen sind als loci communes, themengebundene Fügungen (Lausberg 1979, 130) auch den Klienten der Verwaltung verständlich (s. Coulmas 1981; Peters 1983; Feilke 1996; Wray 2002). Verschiebung zum Kollektivbegriff (Stufe II): Die Symbolfeldausdrücke werden durch eine applikative Vertextung einem Prozess intertextueller Konzeptualisierung unterworfen, durch den die Symbolfeldkerne zu generalisierenden Konzepten bzw. zu Kollektivbegriffen „angehoben“ werden. Allegorese (Stufe III): die in den Symbolfeldausdrücken steckenden Kollektivbegriffe verselbständigen sich als sprachliche Form eines Gedanken; dabei wird der (Fach-)Begriff selbst zum Objekt; hier wirken die skizzierten morphosyntaktisch basierten operativen Teilprozeduren auf die Verfestigung des Begriffs zu einer in sich geschlossenen, durch Paraphrase kaum akzessiblen Größe. Dieser Vorgang läßt sich näherungsweise als ,Allegorese‘ von Symbolfeldausdrücken bezeichnen. Allegorische Symbolfelder sind keine Metaphern im Sinne Lakoff/Johnsons (1981). Die Allegorese verleiht dem Verwaltungsstil etwas Kognitives und führt zu einer „Neuerzeugung realer Sachverhalte“ aufgrund einer paradoxen Abschottung des Wissensbereichs gegenüber der Realität. So entwickeln die abstrakt gewordenen Kollektivbegriffe der zweiten Verschiebungsstufe mehr und mehr die stilistische Kraft, das im textapplikativen Bezug formelhaft gebundene Wissen anderen Konstellationen des Handelns zu implementieren und diese neu zu organisieren (vgl. Wray 2002, 89 f.). Auf diese Weise stellt die Verwaltungssprache einen Stil eigener Qualität dar, der auch von anderen gesellschaftlichen Bereichen importiert werden kann (Rehbein 1983) und erklärt partiell, was oft pauschal ,Register‘ genannt wird. Es ergibt sich ein Agent-Klient-Stil-Gefälle: Für die Agent/inn/en der Institutionen fungieren die Symbolfeldausdrücke als intertextuelle Kollektivbegriffe auf Stufe II. Für die nicht-professionellen Klient/inn/en dagegen haben die komplexen Symbolfeldausdrü-
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cke die stilistische Funktion einer Allegorese (Stufe III): Sie können das mit den nennenden Prozeduren verbundene Wissen nicht auffinden, es erscheint als undurchdringlich, weil die Symbolfeldausdrücke einen großen Interpretationsspielraum haben (zum traditionellen Interpretationsaufwand bei der Allegorie s. RGG 1957).
5. Kritische Aspekte der Stilistik und Rhetorik der Verwaltungssprache Die exemplarisch analysierten stilistisch-rhetorischen Eigenschaften der Verwaltungssprache werfen ein neues Licht auf den Problembereich der Kommunikation zwischen Bürgern und Behörden. Obgleich eine wachsende Zahl wissenschaftlicher Publikationen, oft in enger Zusammenarbeit mit einzelnen Behörden diesen bearbeitet (Grönert 2000; 2004; Fluck/Blaha 2004; Ebert 2006), lässt sich unter stilistisch-rhetorischer Perspektive das Fazit ziehen, dass die wahrnehmbare stilistische Gestalt nicht automatisch eine auch rhetorisch zweckmäßige Textstruktur nach sich zieht. In der Textart ,Bescheid‘ ist die Kommunikation mit Bürger/inne/n als Klient/inn/en stilistisch (noch immer) stark von der ,judizialen Gattung‘ der Rhetorik (s. Lausberg 1990, 85⫺123) geprägt. Die Agent/inn/en der Verwaltungsinstitutionen zitieren Formen der Rechtssprache, ohne in einem judikativen Handlungszusammenhang zu stehen und erzeugen einen juristischen Stil, der dem Zweck der Vermittlung von Informationen nicht mehr gerecht wird. Sprachlich werden so die Empfänger/innen des Bescheids tendenziell zu Angeklagten und Gegnern der Behörde. In der ,Anhörung‘ im Asylverfahren verschärft sich dies zu einem Verhörstil. Im Verlaufsprotokoll kann stilistisch und rhetorisch ein Eindruck von der/dem Asylsuchenden erzeugt werden, der deren Anliegen diminuitiv versprachlicht und ihnen daher nicht dient. Die Textarten ,Sachstandvermerk‘ und ,Gutachten‘ beziehen sich unterstützend auf Entscheidungsprozesse innerhalb der Verwaltung. Insofern gehören sie rhetorisch der ,deliberativen Gattung‘ an (s. Lausberg 1990, 123⫺129). Sie arbeiten stark mit rhetorischen Mitteln, die eine Persuasionsoperation (s. Knape 2003) im hörer-/leserseitigen Wissen auslösen. Das Problem in diesen beiden Textarten ist vor allem das argumentative Betreiben einer umsetzbaren und dem Gemeinwohl entsprechenden Entscheidung. Die großen formalen und rhetorisch-stilistischen Unterschiede in Sachstandvermerken machen deutlich, dass hier ein Schulungs- und Reflektionsbedarf neben dem grundständigen Forschungsbedarf besteht. Formulierungsdatenbanken mit Textbausteinen sind dafür keine Lösung, denn sie führen nicht zu einer Umorientierung auf die Handlungserfordernisse. Eine pragmatisch verstandene Rhetorik jenseits sophistischer Patentrezepte könnte eine solche Umorientierung und Reflektion der sprachlich umzusetzenden Zwecke ermöglichen und die agentenseitigen und klientenseitigen sprachlichen Handlungsmöglichkeiten entscheidend erweitern. Wir danken der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz der Hansestadt Hamburg, Herrn Jürgen Bock und Herrn Amtsleiter Uwe Riez für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und die Überlassung eines umfangreichen Textkorpus.
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Christiane Hohenstein, Winterthur (Schweiz) und Jochen Rehbein, Ankara (Türkei)
130. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Werbung und Public Relations 2167
130. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Sprache von Werbung und Public Relations 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Begriffsklärungen Rhetorik und Stilistik in der Anwendung ⫺ Problemaufriss und Forschungsüberblick Rhetorik in Werbung und PR Die Rolle des Stils in Werbung und PR Rhetorische und stilistische Textgestaltung in der Werbung Literatur (in Auswahl)
Abstract Style and rhetoric are essential principles of advertising and public relations (PR) but are typically not reflected upon by the professional author in a scientific sense. Nevertheless, it is possible to analyze texts of advertising and PR to show typical rhetoric structures, types of argumentation and stylistic phenomena. One result is that texts offer more than one conception of style: style in advertising and PR can be a functional category, a pragmaticsocial category and a pragmatic-semiotic category.
1.
Begrisklärungen
1.1. Werbung 1.1.1. Werbung kann als „geplante, öffentliche Übermittlung von Nachrichten“ definiert werden, wenn „die Nachricht das Urteilen und/oder Handeln bestimmter Gruppen beeinflussen und damit einer Güter, Leistungen oder Ideen produzierenden oder absetzenden Gruppe oder Institution (vergrößernd, erhaltend oder bei der Verwirklichung ihrer Aufgaben) dienen soll“ (Hoffmann 1981, 10). Sie stellt demnach eine intentionale, zweckrationale und zwangfreie Form der Kommunikation dar, die beim Adressaten eine mehr oder weniger langfristige Verhaltensbeeinflussung bezweckt und dafür die verschiedensten Massenkommunikationsmittel (wie Fernsehen, Hörfunk, Presse, öffentliche Plakatflächen, Internet) nutzt. In Abgrenzung zu weiteren Werbeformen wie Direkt-Marketing und Verkaufsförderung wird daher auch von Mediawerbung gesprochen (Bruhn 2003, 273, 276 ff.; Meffert 2000, 684 f.). 1.1.2. Bei einer Begriffsbestimmung von Werbung lässt sich erstens nach unterschiedlichen Absendern (und davon abhängig: nach dem Beworbenen) unterscheiden in (1) Wirtschaftswerbung, d. h. der Werbetreibende ist ein Wirtschaftsunternehmen, das (1a) für das Unternehmen als Ganzes (hier ergeben sich Überschneidungen zu Public Relations, siehe 1.3), (1b) für ein Produkt, (1c) für eine Dienstleistung, (1d) um Mitarbeiter oder (1e) um Ressourcen, d. h. Material oder Kapital, wirbt; (2) Werbung für außerwirtschaftliche Zwecke wie (2a) politische Werbung von Parteien oder Verbänden (z. B. im Wahl-
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
kampf), (2b) religiöse Werbung von Glaubensgemeinschaften, (2c) kulturelle Werbung von Städten, Museen oder Theatern, (2d) karitative Werbung sozialer oder kirchlicher Institutionen oder Initiativen (z. B. Aktion Mensch, Brot für die Welt) oder (2e) Zwischenformen wie die um Teilnahme oder Unterstützung werbende Volksaufklärung über öffentliche Einrichtungen oder das Gesundheitswesen (z. B. für kostenlose Impfaktionen, Kondomwerbung, Anti-Drogen-Werbung). Zweitens ist eine Unterscheidung nach Medium/Werbeträger bzw. Werbemittel angebracht, da jedes Werbemittel seine spezifischen Ausdrucksformen und unterschiedlichen Gestaltungsspielräume hat, d. h. in Plakat-, Anzeigen-, Fernseh-, Hörfunk-, Kino- und Internetwerbung. Drittens kann (allerdings nur idealtypisch; Schweiger/Schrattenecker 1995, 55 ff.) nach Werbezielen unterschieden werden in (1) Einführungswerbung, (2) Erhaltungs- oder Erinnerungswerbung, (3) Stabilisierungswerbung oder (4) Expansionswerbung. Ein mit jeder Werbung verfolgtes übergreifendes Werbeziel bleibt das der langfristigen Imagebildung, bezogen sowohl auf Marken als auch auf das Unternehmen als Ganzes.
1.2. Public Relations 1.2.1. Was unter Public Relations (PR; vielfach synonym dazu: Öffentlichkeitsarbeit) genau zu verstehen ist, ist weit weniger klar als bei (Media-)Werbung, da sich zahlreiche Überschneidungen zu Werbung, Sponsoring, Direkt-Marketing usw. ergeben (siehe 1.3). Kunczik (1997, 4) schlägt als Definition vor, unter Öffentlichkeitsarbeit bzw. PR diejenigen Bemühungen zu fassen, die der Interessensdarstellung und Interessensdurchsetzung eines Unternehmens in der Öffentlichkeit dienen mit dem Ziel, „ein positives Image generell oder bei bestimmten Teilöffentlichkeiten aufzubauen oder zu stabilisieren bzw. ein negatives Image abzubauen“ (vgl. auch Bruhn 2003, 341). 1.2.2. Bruhn (2003, 343 f.) unterscheidet grundsätzlich drei Erscheinungsformen der PR, (1) die leistungsbezogene PR, die Merkmale bestimmter Produkte oder Leistungen in den Vordergrund stellt, (2) die unternehmensbezogene PR, die das gesamte Unternehmen in den Vordergrund stellt, und (3) die gesellschaftsbezogene PR, mit der sich das Unternehmen unabhängig von konkreten Unternehmensinteressen oder -leistungen als „verantwortungsvoll handelndes Mitglied der Gesellschaft“ darstellt, um sich Geltung und Anerkennung zu schaffen (z. B. durch Wohltätigkeitsinitiativen oder Stellungnahmen zu gesellschaftlich relevanten Themen). Neben dieser inhaltsbezogenen Differenzierung lässt sich mit Kunczik (1997, 11) auch eine zielgruppenspezifisch-funktionale Unterscheidung treffen in (1) externe Öffentlichkeitsarbeit, definiert als „Bemühungen um Umweltkontrolle“, die (1a) eine Output-Funktion (Beeinflussung der Öffentlichkeit), (1b) eine InputFunktion (Informationsbeschaffung) und (1c) eine Feedback-Funktion (Annäherung zwischen Soll- und Ist-Zustand) aufweist, und in (2) interne Öffentlichkeitsarbeit zur „Sicherung der Identifikation von Mitarbeitern mit der Organisation“ im Sinne einer Integrations- und Mobilisierungsfunktion. Die Zielgruppen (Teilöffentlichkeiten, Anspruchsgruppen) der Öffentlichkeitsarbeit sind allerdings ausgesprochen vielfältig, was eine genaue Definition erschwert. Zu ihnen zählen letztlich alle Personen und Personengruppen, mit denen ein Unternehmen direkte oder indirekte Beziehungen auf den Ebenen des Absatzes, der Beschaffung, des Finanz- oder Arbeitsmarktes unterhält (also interne Gruppen wie Mitarbeiter oder Aktionäre und externe Gruppen wie Kunden, Liefe-
130. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Werbung und Public Relations 2169 ranten, Medienvertreter, Vertreter staatlicher Stellen, Interessensvertretungen). Der PRMaßnahmenkatalog reicht daher auch von Pressearbeit und persönlichem Dialog über Aktivitäten für ausgewählte Zielgruppen und Mediawerbung bis hin zu unternehmensinternen Maßnahmen (Bruhn 2003, 346⫺349). Wie vielschichtig (und verschwommen) PR in der Praxis gesehen wird, zeigt die Prägung zahlreicher Unterbegriffe, die sich auf Adressaten, Themen oder Instrumente beziehen können (z. B. Adressaten: Governmental Relations, Media Relations, Interne PR; Instrumente: Online Relations, Event PR; Themen: Environmental Relations, Personality PR, Product PR).
1.3. Abgrenzungsprobleme 1.3.1. (Media-)Werbung und Public Relations werden in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur gleichermaßen zu den Kommunikationsinstrumenten des Marketings gezählt (neben anderen wie Verkaufsförderung, Direkt-Kommunikation/Direct Marketing, Sponsoring, Messen/Ausstellungen, Event-Marketing, Multimedia-Kommunikation) (Bruhn 2003, 273⫺276; Meffert 2000, 684 f.). Damit sind beide Arbeits- und Kommunikationsbereiche zentrale Bestandteile der Wirtschaftskommunikation (vgl. Art. 140). Ein auffälliger Unterschied ergibt sich allerdings daraus, dass Public Relations ⫺ anders als Werbung, Sponsoring etc. ⫺ organisatorisch in der Regel nicht innerhalb der Marketingabteilung angesiedelt, sondern als Stabsstelle direkt der Unternehmensleitung zugeordnet ist (Meffert 2000, 729). Meffert (2000, 726) versucht eine Trennung zwischen Werbung und PR auf der inhaltlich-funktionalen Ebene: PR beziehe sich auf das Unternehmen als Ganzes, Werbung auf die Produkte und Leistungen des Unternehmens. Dass sich diese Trennung nicht ohne weiteres halten lässt, zeigen sowohl die Differenzierungen in der werbewirtschaftlichen Literatur, in der die Imagewerbung für Unternehmen durchaus eine wichtige Rolle spielt, als auch diejenigen der Literatur zu Public Relations, in denen Werbung als PR-Maßnahme ebenso erwähnt wird wie eine mögliche inhaltliche Ausrichtung von PR auf Produkte und Leistungen eines Unternehmens (siehe 1.1 und 1.2). Unterschiede lassen sich demnach nur tendenziell festhalten: Das Spektrum an Kommunikationsinhalten, Textsorten und Kommunikationsinstrumenten/-maßnahmen ist bei PR wesentlich weiter und offener, und es müssen vielfältigere Zielgruppen durch teilweise unterschiedliche Maßnahmen angesprochen werden. Der zentrale Überschneidungsbereich liegt in der Kommunikationsfunktion, d. h. PR wie Werbung dienen dem Versuch einer positiven und langfristigen Einstellungs- und Verhaltensbeeinflussung gegenüber dem Unternehmen sowie seinen Produkten und Leistungen. 1.3.2. Dieser Befund führt zu der Schwierigkeit, PR als solche unter rhetorisch-stilistischem Aspekt zu beschreiben. Zwar stellen PR wie Werbung aufgrund ihrer Kommunikationsfunktion Anwendungsgebiete der Rhetorik dar. Was jedoch in der Mediawerbung durch eine klarere Kontur von Inhalten, Funktionen und Medien noch einigermaßen möglich erscheint, nämlich einen Überblick über typische sprachliche Formen zu geben, ist angesichts der fast unbegrenzten Möglichkeiten der als PR verstandenen Kommunikation für den Bereich Öffentlichkeitsarbeit kaum mehr zu bewältigen. Aus diesem Grund wird die Mediawerbung in den folgenden Ausführungen stärker als PR im Vordergrund stehen, und zwar vor allem in Bezug auf die sprachlich-stilistischen Eigenschaften der Werbebotschaften (siehe 4 und 5).
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
2. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung - Problemauriss und Forschungsüberblick 2.1. Proessionelle Textproduktion in Werbung und PR 2.1.1. In der Betriebswirtschaftslehre, deren Studium den klassischen Zugang zu Marketingberufen darstellt, spielen Rhetorik- und Stillehre eine marginale Rolle im Vergleich zu Fragen der Kostenberechnung, strategischen Planung und marktpsychologischen Wirkungsforschung. So nimmt beispielsweise im Marketing-Handbuch von Heribert Meffert (2000) das Unterkapitel „Gestaltung der kommunikativen Botschaft“ nur elf Seiten (799⫺810) im etwa 150 Seiten umfassenden Kapitel „Kommunikationspolitische Entscheidungen“ in Anspruch ⫺ dementsprechend oberflächlich bleiben die dort angeführten Differenzierungen: Als anzustrebende Funktionen der Botschaft werden die Herstellung von Glaubwürdigkeit, Aufmerksamkeitserzeugung und Informationsübermittlung genannt. Bei der Form der Botschaft spielt die Sprache neben Bildern, Musik, Typographie, Farbwahl und Anzeigengröße bzw. Spotlänge nur eine Rolle unter anderen. Für den Inhalt wird unscharf nach argumentativer, informativer, rhetorischer und psychologischer Gestaltung unterschieden und unter Wirkungsaspekten die Unterstützung durch Humor, Erotik und Verbraucherzeugnisse diskutiert. Eine explizite Auseinandersetzung mit Rhetorik und Stiltheorie findet daher allenfalls in Praxisratgebern statt, dort aber nicht selten simplizistisch auf Formulierungsrezepte, Wortlisten und erfolgreiche Beispiele reduziert. 2.1.2. Zu berücksichtigen ist also, dass sich die entsprechenden Textproduzenten in aller Regel nicht aktiv mit Rhetoriklehre und Stilistik auseinander gesetzt haben bzw. bei der täglichen Arbeit nicht reflektiert auf sie zurückgreifen. Nach Auskunft von Werbe- und PR-Agenturen entstehen Texte in einem längeren dialogischen Auswahl- und Formulierungsprozess, an dem nicht nur der Werbetexter selbst, sondern auch Fachleute aus anderen Kreativbereichen (z. B. der visuellen Umsetzung) und nicht zuletzt die auftraggebenden Unternehmen beteiligt sind. Die Textgestalt ist dabei in der Regel zwar rhetorisch (im Sinn von: auf Wirkung abzielend) durchdacht, doch nicht linguistisch reflektiert oder rationalisiert. Eine Untersuchung von Werbe- und PR-Texten kann demnach nur stilistische und rhetorische Muster (und damit Sprachbewusstsein bei den Textemittenten) rekonstruieren, darf daraus aber nicht auf den Stellenwert von Rhetorik- und Stillehre für das berufliche Handeln (und damit auch nicht auf explizites metasprachliches Wissen bei den Emittenten) schließen.
2.2. Rhetorik und Stilistik in der Werbesprachenorschung 2.2.1. Auch wenn Werbung unbestritten als persuasive Form der Kommunikation gilt, kann der Zusammenhang zwischen klassischer Rhetoriklehre und Werbetexten erst als in Ansätzen untersucht gelten. So gibt es nur wenige Studien, die den Aufbau von Anzeigentexten mit dem rhetorischen Redeschema vergleichen (z. B. Fischer 1968, 7 f.; Spang 1987, 76), entsprechende Übertragungen auf den Fernseh- und Hörfunkspot oder andere Werbemittel fehlen ganz. Häufiger standen dagegen Argumentationsstrategien (z. B. Heiz
130. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Werbung und Public Relations 2171 1978; Dietrich/Peter 1996; Wehner 1996) und rhetorische Figuren (z. B. Fischer 1968, 8 f.; Förster 1982/1995; Spang 1987, 91⫺239; Sowinski 1998, 76⫺79) als semantischstilistische Strategien der Werbung im Mittelpunkt sprachwissenschaftlicher Betrachtungen. Ausgedehnt wurde der Zusammenhang von Rhetorik und Werbung vereinzelt auch auf Bilder und visuelle Argumentation (z. B. praxisorientiert bei Gaede 1992; Urban 1995), auf ethische und moralische Fragen der Persuasion durch Werbung (z. B. Reichertz 1998) sowie auf die perlokutiven, d. h. wirkungsbezogenen Aspekte von Werbesprache (z. B. Sauer 1998). Was jedoch noch weitgehend fehlt, sind Erkenntnisse über produkt- und branchenspezifische rhetorische Strategien sowie Darstellungen, die den Zusammenhang zwischen Rhetorik und Werbung unter einem pragmatisch-ganzheitlichen Blickwinkel untersuchen (siehe auch Stöckl 1998, 307). 2.2.2. Die Stilistik spielt in der Werbesprachenforschung bislang überraschenderweise kaum eine Rolle, zumindest nicht unter einem entsprechenden terminologischen Etikett. Zwar ist durchaus vereinzelt von „Stilwandel“ (z. B. bei Stark 1992) oder „Stilkomplexität“ (z. B. bei Spillner 1982) in der Werbung die Rede, doch die Betrachtung der Werbesprache unter explizit stiltheoretischem Blickwinkel ist noch weitgehend Desiderat (siehe auch Hoffmann 2002, 413). Hingewiesen werden muss allerdings auf die zahlreichen Arbeiten zur sprachlichen Gestaltung von Werbetexten, zu Sprachspielen, Syntax und Phraseologie, zur Nutzung und Inszenierung sprachlicher Varietäten sowie zur Verwendung fremdsprachlicher Elemente, die einen Überblick über typische Stilelemente von Werbetexten vermitteln (siehe 5.2) ⫺ nur eben ohne dabei explizit auf einen Stilbegriff zu rekurrieren.
3. Rhetorik in Werbung und PR 3.1. Redegattungen 3.1.1. Da Werbetexte grundsätzlich umstrittene Werturteile über die beworbenen Produkte abgeben und damit die Entscheidungen des Rezipienten in der Zukunft beeinflussen wollen, sind sie aus Sicht der rhetorischen Gattungslehre der Beratungsrede (genus deliberativum) zuzuordnen. Die Grenzen zur Fest- und Lobrede (genus demonstrativum) sind dabei fließend. Gemeinsam ist Werbetexten und diesen rhetorischen Redegattungen die Parteilichkeit des Redners und die noch zu leistende Überzeugungsarbeit mit Blick auf die Qualität, Nützlichkeit, Schönheit, Wünschbarkeit usw. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass sich Werbetexte auf Fürsprache bzw. Lob beschränken und keinen Raum für Tadel oder Abraten (und damit auch nicht für eine zweiseitige Argumentation, siehe 3.4) bieten. Die quaestio- und status-Lehre (Fachwissensbezug und juristischer Status des Streitfalles) spielt dagegen angesichts des von vornherein festgelegten Kommunikationsgegenstandes und -zieles und des Aktualitätsbezuges von Werbetexten keine Rolle (Fischer 1968, 6). 3.1.2. Eine Einordnung von Texten der Öffentlichkeitsarbeit in die Trias der klassischen Redegattungen fällt dagegen weniger leicht. Sofern die Texte eine in erster Linie Image fördernde Funktion haben und sich auf Leistungen oder das Unternehmen als Ganzes
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beziehen, können sie ähnlich wie zuvor Werbetexte eingeordnet werden. Im Fall der internen wie externen Krisenkommunikation oder der allgemein gesellschaftsbezogenen PR jedoch können das Abraten und der Tadel (neben Zuraten und Lob), eine zweiseitige Argumentation sowie die Frage der Urteilsfindung (neben Meinungs- und Entscheidungsfindung) durchaus ebenfalls eine Rolle spielen. Die rhetorische Anlage von PRTexten ist daher stark von der konkreten Kommunikationssituation abhängig, wenn auch Fragen der Offenheit, Ehrlichkeit und Berücksichtigung von Gegenpositionen letztendlich unter dem Aspekt der positiven Gesamtwirkung für das Image des Unternehmens entschieden werden können (vgl. Bentele 1994).
3.2. Aektenlehre 3.2.1. Die Affektenlehre wird in der Werbung ganz unterschiedlich genutzt; hier zeichnen sich branchenspezifische und mediale Unterschiede ab. (1) Das sachlogische Beweisverfahren, bei dem über den Gegenstand informiert wird (docere) und seine Qualitäten bewiesen werden ( probare), eignet sich für langlebige, insbesondere technische Produkte und längere Werbetexte, die ein sog. high involvement der Rezipienten voraussetzen (⫽ längerfristiges bzw. aufgrund von Preisniveau und Langlebigkeit tiefer gehendes Interesse an Information). Sachlogische Beweisverfahren werden in Werbung jedoch niemals in Reinform eingesetzt, da auch bei einer solchen Textanlage die mittlere Affekterregung ⫺ das Erfreuen (delectare) und Für-sich-gewinnen (conciliare) ⫺ eine notwendige Begleitfunktion ist. (2) Emotional argumentierende Werbung ist dagegen zwischen mittlerer und starker Affekterregung angesiedelt, sie soll immer auch emotional bewegen (movere) und zum Handeln (⫽ Kaufen) anstacheln (concitare). Emotionale Werbung eignet sich für Konsum- wie für Gebrauchsgüter, die beispielsweise unter Aspekten wie Image, Komfort und Lebensstil beworben werden (z. B. Parfum, Mode, aber auch Autos, Unterhaltungselektronik), und wird in Werbeformen mit kurzen Texten und vorausgesetztem low involvement der Rezipienten bevorzugt. Medienspezifische Unterschiede lassen sich z. B. bei der Automobilwerbung nachweisen: Im Gegensatz zur eher rational-sachlich argumentierenden Anzeigen- und Prospektwerbung, die Informationen über Produkteigenschaften enthält, ist die Fernsehwerbung stärker emotional und affektorientiert angelegt und argumentiert mit „Fahrgefühl“, „Fahrspaß“, dem „Prinzip Freude“ u. Ä. Entscheidend für die gewählte Affektstrategie sind demnach Produkt, Medium und unmittelbares Werbeziel sowie ⫺ damit zusammenhängend ⫺ der Umfang der verbalsprachlichen Anteile an der Werbebotschaft. 3.2.2. Für die Öffentlichkeitsarbeit lässt sich eine Verschiebung vermuten: Spielt bei Werbetexten die mittlere und starke Affekterregung insofern eine herausragende Rolle, als Bildern (und damit Stimmungen, Emotionen und Assoziationen) in der derzeitigen Werbelehre Vorrang mit Blick auf effektive (emotionale) Werbewirkung eingeräumt wird (Kroeber-Riel 1993, z. B. 86), so muss Öffentlichkeitsarbeit aufgrund ihrer breiter angelegten Kommunikationsziele und Adressatenkreise Sprache ausgiebiger nutzen. Zu erwarten ist daher ⫺ insbesondere in sensiblen Kommunikationssituationen ⫺ eine bedeutendere Rolle des sachlogischen Beweisverfahrens, des Informierens, Argumentierens und Beweisens. Übergreifendes Ziel bleibt allerdings auch hier das Für-sich-Einnehmen, das
130. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Werbung und Public Relations 2173 conciliare, das je nach Thema und Kontext mit verschiedenen Strategien erreicht werden kann. Zu überprüfen wäre demnach, ob sich für PR-Texte die von der lateinischen Rhetorik vorgeschlagene Dreistufigkeit der Affekterregung, wie sie für Werbetexte aufgrund ihrer Kürze einigermaßen vertretbar ist, noch halten lässt, oder ob nicht die rhetorischen Affekttypen virtuos miteinander verbunden sind und allenfalls einzelnen Textbestandteilen eindeutig zugesprochen werden können.
3.3. Dispositionsschema 3.3.1. Das Redeschema der dispositio, d. h. die Anleitung zu einem optimalen Aufbau eines persuasiven Textes, lässt sich ebenfalls bedingt auf Werbung übertragen (Spang 1987, 76; Fischer 1968, 7 f.): (1) Die Funktion des exordiums und damit der Aufmerksamkeitserregung übernimmt in der Werbeanzeige zumeist die Schlagzeile, oft in Kombination mit dem Bild. (2) narratio und argumentatio lassen sich in Werbetexten nur dann trennen, wenn der Fließtext in eine Produktvorstellung und -beschreibung sowie in eine Aufzählung von Kaufargumenten (wie z. B. Anwendungsmöglichkeiten) zerfällt. Häufig wechseln sich jedoch beschreibende und argumentative Textteile ab bzw. sind wirksam ineinander verwoben. (3) Der peroratio, dem wirksam zusammenfassenden Redeschluss, entspricht in der Werbung als Textbaustein am ehesten der Slogan, auch wenn er zumeist nicht als inhaltliche Zusammenfassung einer einzelnen Werbeanzeige, sondern eher als eine prägnante Formulierung der Anzeigen und Medien übergreifenden Werbebotschaft mit Erinnerungs- und Identifizierungsfunktion angesehen werden muss. Werbespots in Hörfunk und Fernsehen zerfallen nicht wie die Anzeige schon optisch in verschiedene „Redeteile“ (Ausnahmen sind ab und zu eingeblendete Textteile in Fernsehspots wie Slogan oder Produktname), sondern müssten im Einzelnen entsprechend nach inhaltlich-funktionalen Kriterien analysiert werden. Aufgrund der Kürze der Spots (15⫺30 Sekunden) ist aber davon auszugehen, dass die einzelnen Redeteile sehr eng ineinander greifen und oft nur noch idealtypisch getrennt werden können. Auch kann die filmische Umsetzung im Fernsehspot, die möglicherweise fast ganz ohne verbale Anteile auskommt, eine dispositorische Analyse erschweren. Die dem Dispositionsschema zugrunde liegenden zentralen Funktionen der Aufmerksamkeitserregung, der positiven Argumentation für das Produkt und der wirksamen Wiederholung zentraler Argumente gelten trotz dieser analytischen Schwierigkeiten jedoch auch für Werbespots. 3.3.2. Bei Texten aus dem Bereich PR dürften aufgrund ihres in der Regel größeren Umfangs dispositorische Analysen leichter fallen ⫺ hierzu wäre insbesondere die praxisbezogene Ratgeberliteratur zu befragen, die teilweise auf praktische Stilistik und Rhetorik zurückgreift und zu diesem Thema diverse Vorschläge macht. Die Vielfalt möglicher PR-Textsorten verhindert an dieser Stelle jedoch konkretere Befunde.
3.4. Argumentationsstrategien 3.4.1. Werbetreibende befinden sich hinsichtlich der Argumentation in einem Dilemma. Aufgrund des Kommunikationsziels von Werbung können sie nicht an einer rationalen
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und zweiseitigen Argumentation, die pro und contra berücksichtigen würde, interessiert sein (siehe 3.1.1) ⫺ andererseits steigt natürlich auch die Glaubwürdigkeit von Werbetexten, wenn sie argumentativ-überzeugend und nicht offensichtlich manipulativ-überredend angelegt sind. Argumentationsstrategien in der Werbung können demnach nur entsprechend den zugrunde liegenden besonderen kommunikativen Bedingungen bewertet werden (Persuasion vor Information), auch wenn die Schlüssigkeit der Argumentation durchaus Gegenstand der Kritik sein kann und sollte. Ziel der Werbeargumentation ist die „Begründung“ der strittigen Ausgangsthese, dass das Angebotene besser/schöner/praktischer/prestigeträchtiger ist als das der Konkurrenz bzw. dass das Angebotene brauchbar/wünschenswert/notwendig etc. ist. Die Argumentation ist aufgrund der Kommunikationsformen der Mediawerbung monologisch und kann daher ⫺ mangels der Möglichkeit von Rede und Gegenrede ⫺ mögliche Einwände allenfalls prophylaktisch ausräumen (wenn dies auch häufig nur über Scheinbegründungen erfolgt). Bei der Untersuchung von Werbetexten sind Form (3.4.2 und 3.4.3) und Inhalt (3.4.4) der Argumentation zu unterscheiden. 3.4.2. An Argumentationsverfahren bevorzugt die Werbung als eine besondere und inszenierte Form der Alltagsargumentation die auf Plausibilität abzielende Enthymem- und die Beispielargumentation. Erstere bietet sich für Werbung an, weil sie auf zumeist allseits anerkannten Schlussregeln beruht; diese können wie die Konklusion implizit bleiben und erscheinen dadurch wie Selbstverständlichkeiten. Zudem erlaubt die formale Offenheit des Verfahrens auch eine Häufung von Argumenten bzw. eine Kombination und Vermischung mehrerer Argumentationsfolgen. Die Beispielargumentation, die für Werbung ein breites Feld an Möglichkeiten (z. B. vorgeführte Produktanwendung, bezeugter Produktnutzen etc.) bietet, kann induktiv (als verallgemeinernder Schluss) oder illustrativ (als Veranschaulichung eines Enthymems) erfolgen (Janich 2005b, 87⫺90). 3.4.3. Bezüglich der Topik arbeitet Werbung zwar durchaus häufig mit alltagslogischen Schlussverfahren (wie Kausal-, Vergleichs- oder Einordnungsschlüssen, seit der rechtlichen Zulassung der vergleichenden Werbung in Deutschland 1997 auch mit Gegensatzschlüssen), nutzt aber in besonderem Maße konventionalisierte Schlussverfahren, die in der Regel weniger kontextabstrakt sind, ihre Überzeugungskraft also aus ihrer inhaltlichen Füllung schöpfen, und unmittelbarer an das aktuelle gesellschaftliche Meinungsund Erfahrungswissen anknüpfen. Zentral sind dabei die Topoi (1) der Analogie (z. B. Vergleich technischer Innovationen beim Auto mit evolutionär erfolgreichen Eigenschaften von Tieren), (2) der Person (z. B. Imageübertragung von gesellschaftlichen Vorbildern auf die Marke/das Produkt) und ⫺ als Spezialfall des Topos der Person bei weitem am häufigsten ⫺ (3) der Autorität (von der Werbung im sog. „Testimonial“ perfektioniert). Der Glaubwürdigkeitsgewinn durch Autoritäten ist offensichtlich so groß, dass mitunter darauf verzichtet wird, der Autorität noch inhaltliche Argumente in den Mund zu legen: Die Autorität selbst wird durch ihre bloße Präsenz zum Argument, formale und inhaltliche Seite der Argumentation verschmelzen. Typische Autoritäten in der Werbung sind (1) der Firmengründer/-besitzer als haftbar zu machender Garant für Herkunft und Qualität, (2) firmenexterne Experten (z. B. Wissenschaftler, Ärzte, Warenteststiftungen u. Ä.), (3) firmeninterne Experten (z. B. aus Entwicklungsabteilungen und Labors), (4) der pro-
130. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Werbung und Public Relations 2175 minente und zufriedene Verbraucher mit fachlichem Hintergrundwissen (⫽ prominenter Experte oder Halbexperte, wie z. B. Sportler für gesunde Ernährung, Schauspielerinnen für Kosmetik, Rennfahrer für Autos), (5) der prominente und zufriedene Verbraucher ohne Hintergrundwissen oder Produktbezug, (6) der „normale“ zufriedene Verbraucher (⫽ klassisches Testimonial, Interviewszenen) (Janich 2005b, 90⫺95). 3.4.4. An inhaltlichen Strategien lassen sich für Werbetexte grob (1) der Senderbezug (z. B. Tradition, Firmengeschichte), (2) der Produktbezug (z. B. Produkteigenschaften, Nutzungssituationen) und (3) der Empfängerbezug (z. B. Komfort, Sicherheit, Alltagsnutzen, Prestige und Lebensstil) unterscheiden, die jedoch sehr häufig in Kombination auftreten (vgl. Sowinski 1998, 32⫺40; Janich 2005b, 95⫺99). 3.4.5. Hinsichtlich der Argumentationsstrategien unterscheidet sich Öffentlichkeitsarbeit teilweise von Werbung (siehe auch 3.1). Sie wird aufgrund ihres komplexeren Anliegens und der vielfältigeren Kommunikationsformen seltener auf eine einseitige Argumentation setzen, sondern ⫺ insbesondere in der Krisenkommunikation ⫺ dialogisch auch auf Gegenargumente eingehen und „ehrlich“ kommunizieren müssen (Bentele 1994, 152 ff.). Langfristig wirksamer ist zweiseitige Argumentation im Marketing z. B. dann, wenn damit gerechnet werden kann, dass es einer starken Überzeugungsleistung bedarf, weil die Rezipienten von vornherein eine negative oder gegnerische Position zum Unternehmen oder seinen Leistungen einnehmen oder durch Gegenpropaganda beeinflusst sind. Daher bieten alltagslogische Schlussverfahren, die kontextabstrakt sind, für die unterschiedlichen Kommunikationsanlässe der PR mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Autoritäten (z. B. der Geschäftsführer als Garant und offizieller Absender) dürften jedoch auch hier durchaus eine wichtige Rolle spielen; zu ihnen zählen für die PR auch Journalisten, wenn sie das Unternehmen und seine Leistungen in ein positives Licht rücken. PR kann demnach auch darin bestehen, nicht selbst zu argumentieren (was nämlich oft zum Dilemma des gesellschaftlich tabuisierten Eigenlobs führt), sondern eine positive Thematisierung in den Medien, also durch „objektive“ Dritte zu erreichen.
3.5. Rhetorische Stilprinzipien 3.5.1. Die Stilprinzipien der Rhetorik stellen für Werbesprache unterschiedlich zu gewichtende Orientierungsmaßstäbe bereit. (1) Die Angemessenheit (aptum) kann, versteht man sie als Zielgruppenadäquatheit, als zentraler Maßstab für alle Werbetexte gelten. Mit zunehmender Bedeutung der Marke als Orientierungsgröße für die gesamte Unternehmenskommunikation (Sasserath 2005) wird jedoch auch die thematische, d. h. produktbezogene Angemessenheit im Sinne einer kohärenten und stimmigen Markenkommunikation immer wichtiger werden. (2) Klarheit und Verständlichkeit (perspicuitas) spielen zwar mit Blick auf den Erfolg der Werbebotschaft eine wichtige Rolle (z. B. konnte in einer empirischen Studie der ENDMARK International Namefinding AG von 2003 zum Schrecken der Werbetreibenden eine erstaunlich geringe Verständlichkeit englischsprachiger Slogans nachgewiesen werden), doch muss perspicuitas nicht dadurch erreicht werden, dass alle Elemente des Textes klar und verständlich sind: Mehrdeutigkeit, Vagheit und Verrät-
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selung sind beliebte Effekte der Werbetextgestaltung, die z. B. mit Hilfe von Sprachspielen, rhetorischen Figuren und intertextuellen Anspielungen erreicht werden. Auch der Einsatz fachsprachlicher und pseudofachsprachlicher Elemente z. B. in Kosmetik- und Technikwerbung dient keinesfalls immer der sachlichen und nachvollziehbaren Information, sondern häufig eher der Inszenierung von Wissenschaftlichkeit, Glaubwürdigkeit oder technischem Knowhow (Janich 2005b, 161 ff.). (3) Sprachliche Richtigkeit und „Reinheit“ ( puritas) sind für Werbetexte ebenfalls kein Idealziel ⫺ ganz im Gegenteil kann Aufmerksamkeit (wenn auch nicht immer Zustimmung, wie die Reaktionen vieler Alltagssprecher beweisen, vgl. Janich 2005b, 229) gerade durch Ungrammatizität und sprachlichen Normenverstoß erreicht werden (z. B. Da werden Sie geholfen; Das König der Biere; Deutschlands meiste Kreditkarte). (4) Redeschmuck (ornatus) in Form von rhetorischen Figuren wird dagegen sehr häufig genutzt, um Werbetexte sprachlich attraktiv und wirksam-funktional zu gestalten (siehe 5.1). Es ist geradezu eine Grundeigenschaft von Werbesprache, dass sie in höchstem Maße gestaltet ist und nicht mit natürlicher, spontaner Rede verglichen werden kann, selbst wenn sie ⫺ z. B. in Interviews mit Konsumenten ⫺ den Eindruck solcher Spontaneität erweckt (Janich 2005b, 36 f.). 3.5.2. Für die Sprache der PR gilt Angemessenheit in einem noch weit strengeren Maß, nämlich prinzipiell bezogen auf Adressaten und Redegegenstand. Das Erfordernis der Mehrfachadressierung spielt für die Öffentlichkeitsarbeit dabei eine noch wesentlich größere Rolle für die Textgestaltung als bei der Werbung: So müssen z. B. die inhaltlich freien Teile eines Geschäftsberichts so abgefasst sein, dass sie ihren Zweck bei Aktionären, Mitarbeitern, Kunden, potenziellen Kunden und Interessierten gleichermaßen erfüllen können. Auch in Bezug auf Klarheit, Verständlichkeit und Sprachrichtigkeit besteht aufgrund der anderen Kommunikationsfunktionen und -zwecke längst kein so großer „Spiel“-Raum wie in der Werbung ⫺ die Forderungen der Rhetorik an „gute“ Texte sind hier wesentlich ernster zu nehmen. Bezüglich des ornatus sind daher wohl auch eher argumentative Figuren als beispielsweise eine Häufung der für die Werbung typischen Amplifikationsfiguren zu erwarten. Was die Möglichkeiten und Freiräume der Textgestaltung betrifft, gelten jedoch auch für PR die Abhängigkeit vom Thema und der Kommunikationssituation sowie normative Vorgaben im Rahmen von Corporate Identity und Unternehmenskultur.
4. Die Rolle des Stils in Werbung und PR 4.1. Nutzung verschiedener Stilbegrie In der Stilistik wurden verschiedenste Stilbegriffe entwickelt. Für Werbung bietet es sich an, die Vielfalt möglicher Sichtweisen auf Stil konstruktiv zu verbinden, statt sich nur an eine Stiltheorie zu binden. Nutzt man also einen pragmatischen, einen semiotischen und einen strukturalistisch-funktionalistischen Stilbegriff, so kann der Fokus je nach Erkenntnisinteresse auf die Form (Ausdrucksseite), auf die Botschaft (Inhaltsseite) oder auf den außersprachlichen Bezugspunkt (Referenz) von Werbetexten gerichtet werden. Werden diese drei semiotisch relevanten Perspektiven auf den Zeichengebrauch in einen
130. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Werbung und Public Relations 2177 Zusammenhang gebracht und auf das Spannungsfeld zwischen Emittent ⫺ Rezipient ⫺ Kommunikationszweck bezogen, lässt sich für Werbung eine weitreichende soziale Bedeutungshaltigkeit von Stil ermitteln (ausführlicher mit Beispielanalysen bei Janich 2005a).
4.2. Drei Ebenen von Stil in der Werbung 4.2.1. Stil als sprachliches Register (Stil als ⫺ funktional begründete ⫺ Wahl sprachlicher Mittel): Werbesprache ist, wie aus den vorigen Kapiteln deutlich wurde, eine in höchstem Maße gestaltete Sprachform, d. h. es erfolgt unter Maßgabe der vermuteten Wirkung eine gezielte Auswahl der sprachlichen und nichtsprachlichen Mittel (siehe 5). Stil als Form dient vor allem dazu, Aufmerksamkeit und Interesse zu aktivieren und die Verständlichkeit der Botschaft sicherzustellen. Im Sinne sprachlicher Ästhetik ist auch die Attraktivitätsfunktion hier relevant (vgl. Stöckl 1997, 71⫺77). Ein Werbetext kann also auf einer zielgruppenspezifischen Sprachauswahl beruhen: So verwendet z. B. eine Haargel-Anzeige in der Jugendzeitschrift „Bravo“ (2005) Anglizismen (Style to connect!, Stylomaniacs, supereasy), Hyperbolismen (XXL-Portion, ultrastark, extra viel) oder syntaktische Ellipsen (Das neue XXL Power Gel. Ultrastark im Haar, extra viel im Topf, supereasy anzuwenden ⫺ bis zum letzten Rest.) als Ausdruck eines jugendlichen Sprachstils. 4.2.2. Stil als Botschaft (Stil als sozial bedeutsame Gestalt): Pragmatische und soziolinguistische Stilbegriffe können genutzt werden, um über die soziale Bedeutung, die durch die sprachliche Form mitvermittelt wird, die Werbebotschaft auf ihr (soziales) Identifikationsangebot hin zu analysieren. Denn die Entscheidung für eine bestimmte Form, in der die sprachliche Handlung ausgeführt wird, hängt davon ab, was an Identifikationsmöglichkeiten angeboten und an zentralen Inhalten und Botschaften vermittelt werden soll. Die unter diesem Gesichtspunkt analysierten Stilwirkungen haben die Funktion, die Botschaft für eine bestimmte Zielgruppe akzeptabel zu machen und sie ihr in Erinnerung zu halten. Da das Identifikationsangebot im Vordergrund steht, verdeckt dieses die eigentliche Absicht, vor allem eine Ware oder Dienstleistung zu verkaufen ⫺ hinzu kommen also die Ablenkungs- und Verschleierungsfunktion. So entsteht bei der zitierten Haargel-Anzeige durch den knappen und doch ausdrucksstarken Text und die jugendsprachlichen Stilmerkmale ein sozialer Zweitsinn, der durch Unkonventionalität, eine kulturelle Orientierung am modern empfundenen Anglo-Amerikanischen und eine für Jugendliche reizvolle semantische Offenheit geprägt ist: So wird die Kenntnis des Englischen (und z. B. der amerikanischen Kleidergröße XXL) ebenso vorausgesetzt wie die Fähigkeit zur Auflösung des Rätselspiels der Schlagzeile: Is your … XXL enough?. 4.2.3. Stil als „Ware“ (die Marke als Manifestation und Symbol eines Lebensstils): Mit einem semiotischen Stilbegriff lässt sich Stil in der Werbung schließlich als symbolische Manifestation eines Lebensstils verstehen, der an die Marke gebunden ist und gleichsam miterworben werden kann ⫺ Stil prägt und erweitert damit nicht nur als sozialer Zweitsinn die Botschaft, sondern wird selbst zur Marke, zur Ware oder Dienstleistung. Die Funktionen des semiotisch ganzheitlichen Stils sind vor allem, die Vorstellung (vom angebotenen Lebensstil) zu aktivieren und die Marke auf diese Weise mit einer ganz besonderen Attraktivität und eigenen Identität zu verbinden. Im Beispiel der Haargel-Anzeige lassen sich die beiden zuvor genannten Stilperspektiven semiotisch zusammenführen zu
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einem jugendlichen Lifestyle, der ,Stylishsein‘ zum Wert an sich macht: Angesprochen sind die Stylo-Maniacs, die erkannt haben, dass der richtige Style notwendig ist, um die richtigen Leute kennen zu lernen: Style to connect! Weitere Wertorientierungen richten sich auf das Produkt, das ergiebig (extra viel, bis zum letzten Rest) und wirkungsvoll ohne großen Aufwand (supereasy) sein sollte. Semiotisch unterstützt wird dieses Markenimage durch eine handschriftlich anmutende Typographie, einen unruhig wirkenden Anzeigenaufbau und die Abbildung eines prototypischen „stylishen“ Konsumenten. 4.2.4. Wichtig ist, dass die drei dargestellten Ansätze nicht Alternativen in der Interpretation von Werbetexten darstellen, sondern eng ineinander greifen und sich aufeinander beziehen: Die sprachliche Gestaltung (⫽ Ausdrucksseite und ihre Konnotationen), die über bestimmte Stilzüge oder Stilschichten (oder nach Hoffmann 2002: Stilregister) charakterisiert werden kann, ist die Grundlage dafür, dass ein sozialer Zweitsinn als Teil der Werbebotschaft entsteht. Dieser Zweitsinn kann durch weitere Sprachelemente (z. B. Inszenierung bestimmter Varietäten), durch Intertextualität oder Sprachspiele unterstützt werden. Durch zusätzliche Ausdrücke, die eine bestimmte Bedeutung und Referenz aufweisen und damit die Marke als kognitives Konzept unterstützen, entsteht der angebotene und beworbene Lebensstil, der vermeintlich mit der Marke zusammen erworben werden kann.
4.3 Übertragung: Stil in der PR 4.3.1. Auch für PR-Texte ist eine multiperspektivische Herangehensweise, wie sie zuvor für Werbetexte vorgeschlagen wurde, sinnvoll. Aus funktionalstilistischer Perspektive müssen auch für PR-Texte möglicherweise folgenreiche sprachliche Entscheidungen getroffen werden: Für Selbstdarstellungstexte spielen beispielsweise die Art der Referenz auf das Unternehmen (wir, das Unternehmen, unser Unternehmen) oder die sprachliche Verbrämung von Eigenlob eine wichtige Rolle; für Texte in Krisensituationen muss ganz besonders auf die Sprach- und Wortwahl geachtet werden, z. B. um unbeabsichtigte Konnotationen zu vermeiden oder einen Kompromissbereitschaft signalisierenden Mittelweg zwischen Zugeständnis und Schuldzurückweisung zu finden. 4.3.2. Durch die Sprachwahl werden PR-Texte jedoch zugleich sozial bedeutungshaltig: Der Anteil an Fachsprachlichkeit, an regionalen Bezügen oder allgemein die Wort- und Perspektivenwahl sagen etwas über die Einstellung und wirtschaftliche/gesellschaftliche Positionierung eines Unternehmens aus und können daher auch gezielt dazu genutzt werden, die Unternehmensidentität durch eine Art ,Corporate Language‘ zu unterstützen. 4.3.3. Die dritte, semiotische Ebene wird für PR-Texte relevant, wenn z. B. auch Elemente des Corporate Design (wie Typographie, Schriftfarbe, Logo etc.) einbezogen werden. Je ganzheitlicher ein Kommunikationskonzept angelegt ist und je mehr Kommunikationssituationen und Textsorten der PR es umfasst, umso eher verdichtet sich der Stil zur Repräsentation von Lebensstil und Werthaltungen, die zwar nicht im selben Sinn wie in der Werbung zur „Ware“ werden, aber sich doch fest mit dem Image des Unternehmens verbinden. Auf solchen Unternehmensimages kann Werbung dann wiederum aufbauen.
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5. Rhetorische und stilistische Textgestaltung in der Werbung An dieser Stelle wird nur noch auf Werbetexte Bezug genommen, da die angesprochene Vielfalt an Textsorten, -funktionen und -themen der Öffentlichkeitsarbeit konkrete Aussagen über die sprachliche Gestaltung unmöglich macht.
5.1. Rhetorische Figuren 5.1.1. Rhetorische Figuren sind nicht nur wegen ihrer rhetorischen Wirkung ein beliebtes Stilmittel in Werbetexten, sondern auch, weil sie vom Normalen abweichen und dadurch ⫺ in zunehmender Abweichung und Musterbrechung ⫺ zu Sprachspielen erweitert werden können. Sie erhöhen ⫺ je nach Positionierung im Werbetext und ihrer Form ⫺ die Aufmerksamkeitswirkung (besonders in der Schlagzeile) und/oder die Erinnerungswirkung (besonders im Slogan). Es lassen sich bestimmte Bevorzugungen einzelner rhetorischer Figuren erkennen (Ironie wird in Werbetexten z. B. aufgrund der Gefahr von nicht-ausräumbaren Missverständnissen eher vermieden), so dass im Folgenden ein exemplarischer Überblick über die häufigsten Redefiguren gegeben wird (Beispiele von 2004/2005). Auch die Argumentationsfiguren im Einzelnen zu nennen, würde zu weit führen, sie decken sich teilweise mit den unten angeführten Redefiguren, teilweise mit den bereits besprochenen Argumentationsstrategien (siehe 3.4). 5.1.2. Beispiele (in Auswahl) für (1) Amplifikationsfiguren: Anastrophe (Besser, wir backen das Brot), Parallelismus (Unsichtbarer Beitrag. Sichtbarer Erfolg), Repetitio (Nur der Duden ist ein Duden), Anapher (Was Sie sehen. Was Sie fühlen), Epipher (Idylle pur ⫺ Asien pur), Alliteration (Wissen, was wichtig wird), Endreim (Es gibt nur eine Kraft, die beides schafft), Paronomasie (Wir lieben Fliegen), Diaphora (Ihre Augen werden Augen machen), Gradation/Klimax (Information. Inspiration. Faszination), Antithese (Der Himmel wird dunkler ⫺ das Lächeln heller), Oxymoron (Auf Innovation programmiert), Ellipse (Mittendrin statt nur dabei), rhetorische Frage (Was bringt Sie weiter: Ein Standardprodukt oder eine maßgeschneiderte Lösung?), Akklamation (Das lohnt sich!), Apostrophe (Tu nicht so erwachsen); (2) Substitutionsfiguren (Tropen): Metapher (Ihr Potenzial. Unser Antrieb), Synästhesie (Hören Sie die Welt mit anderen Augen), Metonymie (Erblast oder Erbgut? Schwachstellen beim letzten Willen), Synekdoche (Geld entsteht im Kopf ), Litotes (Nichts ist unmöglich), Hyperbel (Einfach magisch), Euphemismus (Aus Geld wird Vermögen), Personifikation (Kräftiger Dornfelder zum Anlehnen gesucht …), Entkonkretisierung (Substanz entscheidet), Hypostasierung (Freiheit zum Anfassen).
5.2. Weitere Stilmittel 5.2.1. Außer rhetorischen Figuren nutzen Werbetexter noch zahlreiche weitere Stilmittel zur sprachlichen Gestaltung ihrer Werbetexte (vgl. ausführlich Janich 2005b, 101⫺182, mit zahlreichen Literaturverweisen). Wenn diese aus Platzgründen auch nicht im Einzelnen ausgeführt werden können, so ist doch zu verweisen insbesondere auf
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(1) Hochwert- und Schlüsselwörter, die positiv bewertenden und argumentativen Charakter haben (z. B. Hochwertwörter wie neu, verbessert, samtweich oder Schlüsselwörter wie natürlich, jugendlich, Sicherheit, Geschmack); (2) Fremdsprachiges, das in der Regel imageunterstützend oder herkunftsverweisend verwendet wird und ⫺ mit Ausnahme der Universalsprache Englisch ⫺ meist produktspezifisch eingesetzt wird (z. B. bei Nahrungs- und Genussmitteln bes. Italienisch und Französisch, bei Kosmetik Französisch und Englisch); (3) Inszenierung sprachlicher Varietäten wie Jugendsprache (z. B. in der Werbung für entsprechende Mode-, Kosmetik-, Körperpflegeprodukte oder Unterhaltungselektronik), Fachsprache (z. B. in der Werbung für Kosmetik, Functional Food, Computer/ EDV oder Autos) oder Dialekt (z. B. in der Werbung für lokal geprägte Nahrungsund Genussmittel wie Milchprodukte, Bier u. Ä.); (4) Sprachspiele aller Art, die mit Lautung und Schrift, Morphologie und Grammatik, Semantik, Referenz oder intertextuellem Bezug spielen. Neben diesen „besonderen“, weil besonders auffälligen Stilmitteln spielen für die stilistische Gesamtwirkung des Textes aber natürlich auch die Syntax (bevorzugt werden i. d. R. Ellipsen, Setzungen und Ausklammerungen) sowie die Wortbildung (z. B. Neologismen wie durchschnupfsicher, unkaputtbar) und Wortartenverteilung (i. d. R. Dominanz von Substantiven und Adjektiven) eine wichtige Rolle in der Werbesprache. 5.2.2. Berücksichtigt man die wichtige Bedeutung von Bild und Textdesign (Layout, Typographie etc.) und nutzt damit einen pragmatisch-semiotischen Stilbegriff, dann kann man auch Bilder und Typographie als stilistisch wirksame Zeichen interpretieren und auf ihre argumentative Funktion hin untersuchen (siehe hierzu z. B. die Arbeiten von Stöckl 2004 und 2008).
6. Literatur (in Auswahl) Bentele, Günter (1994): Öffentliches Vertrauen ⫺ normative und soziale Grundlage für Public Relations. In: Wolfgang Armbrecht/Ulf Zabel (Hrsg.): Normative Aspekte der Public Relations. Grundlegende Fragen und Perspektiven. Eine Einführung. Opladen, 131⫺158. Bruhn, Manfred (2003): Kommunikationspolitik. Systematischer Einsatz der Kommunikation für Unternehmen. 2., völlig überarb. Aufl. München. Dietrich, Rainer/Peter, Kerstin (1996): Zum Aufbau von argumentativen Texten ⫺ am Beispiel Werbung. In: Linguistische Berichte 161, 3⫺36. Fischer, Ludwig (1968): Alte und neue Rhetorik. Überlegungen zur rhetorischen Analyse von Werbetexten. In: Format. Zeitschrift für verbale und visuelle Kommunikation 17, 2⫺10. Förster, Uwe (1982/1995): Moderne Werbung und antike Rhetorik. In: Sprache im technischen Zeitalter 81 (1982), 59⫺73. Nachdruck in: Sprachdienst 5 (1995), 154⫺167. Gaede, Werner (1992): Vom Wort zum Bild. Kreativ-Methoden der Visualisierung. 2., verbess. Aufl. München. Heiz, Andre´ (1978): Wie argumentiert Werbung? Zur verbalen und imaginalen Konzeption von Werbebotschaften. Rhetorik des Codes, Analyse und Methodendiskussion. München. Hoffmann, Hans (1981): Psychologie der Werbekommunikation. 2., neubearb. Aufl. Berlin/New York (Sammlung Göschen, 2093). Hoffmann, Michael (2002): Werbesprache als Gefüge aus Stilregistern. In: Inge Pohl (Hrsg.): Semantische Aspekte öffentlicher Kommunikation. Frankfurt am Main u. a., 413⫺437.
130. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Werbung und Public Relations 2181 Janich, Nina (2005a): Stil als Ware. Variation in der Werbung. In: Eva Neuland (Hrsg.): Variation im heutigen Deutsch. Perspektiven für den Sprachunterricht. Frankfurt am Main u. a. (Sprache ⫺ Kommunikation ⫺ Kultur, 4), 189⫺202. Janich, Nina (2005b): Werbesprache. Ein Arbeitsbuch. 4. Aufl. Tübingen. Kroeber-Riel, Werner (1993): Bildkommunikation. Imagerystrategien für die Werbung. München. Kunczik, Michael (1997): Geschichte der Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland. Köln u. a. (Public Relations, 4). Meffert, Heribert (2000): Marketing. Grundlagen marktorientierter Unternehmensführung. Konzepte ⫺ Instrumente ⫺ Praxisbeispiele. Mit neuer Fallstudie VW Golf. 9., überarb. und erw. Aufl. Wiesbaden. Reichertz, Jo (1998): Werbung als moralische Unternehmung. In: Michael Jäckel (Hrsg.): Die umworbene Gesellschaft. Analysen zur Entwicklung der Werbekommunikation. Opladen, 273⫺299. Sasserath, Marc (2005): Die Rolle eines neuen und erweiterten Verständnisses von Marken für Unternehmen und deren Erfolg. In: Nina Janich (Hrsg.): Unternehmenskultur und Unternehmensidentität. Wirklichkeit und Konstruktion. Wiesbaden (Europäische Kulturen in der Wirtschaftskommunikation, 5), 143⫺152. Sauer, Nicole (1998): Werbung ⫺ wenn Worte wirken. Ein Konzept der Perlokution, entwickelt an Werbeanzeigen. Münster u. a. (Internationale Hochschulschriften, 274). Schweiger, Günter/Gertraud Schrattenecker (1995): Werbung. Eine Einführung. 4., völlig neu bearb. und erw. Aufl. Stuttgart/Jena. Sowinski, Bernhard (1998): Werbung. Tübingen (Grundlagen der Medienkommunikation, 4). Spang, Kurt (1987): Grundlagen der Literatur- und Werberhetorik. Kassel (Problemata Semiotica, 11). Spillner, Bernd (1982): Stilanalyse semiotisch komplexer Texte. Zum Verhältnis von sprachlicher und bildlicher Information in Werbeanzeigen. In: Kodikas/Code. Ars Semeiotica 4/5. Heft 1, 91⫺106. Stark, Susanne (1992): Stilwandel von Zeitschriften und Zeitschriftenwerbung. Analyse zur Anpassung des Medienstils an geänderte Kommunikationsbedingungen. Heidelberg (Konsum und Verhalten, 31). Stöckl, Hartmut (1997): Werbung in Wort und Bild. Textstil und Semiotik englischsprachiger Anzeigenwerbung. Frankfurt am Main u. a. (Europäische Hochschulschriften. Reihe XIV: Angelsächsische Sprache und Literatur, 336). Stöckl, Hartmut (1998): Alles Müller oder was? ⫺ Nicht immer, aber immer öfter. Werbliche Persuasion als Vermittler zwischen öffentlichem und privatem Diskurs. In: Michael Hoffmann/ Christine Keßler (Hrsg.): Beiträge zur Persuasionsforschung unter besonderer Berücksichtigung textlinguistischer und stilistischer Aspekte. Frankfurt am Main (Sprache. System und Tätigkeit, 26), 293⫺310. Stöckl, Hartmut (2004): Die Sprache im Bild ⫺ Das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text. Konzept ⫺ Theorie ⫺ Analysemethoden. Berlin (Linguistik ⫺ Impulse & Tendenzen, 3). Stöckl, Hartmut (2008): Werbetypographie. Formen und Funktionen. In: Sylvia Bendel/Gudrun Held (Hrsg.): Werbung ⫺ grenzenlos. Interkultureller Blick auf multimodale Gestaltungsstrategien aktueller Werbetexte. Frankfurt am Main/Wien (Sprache im Kontext), 13⫺36. Urban, Dieter (1995): Kauf mich! Visuelle Rhetorik in der Werbung. Stuttgart. Wehner, Christa (1996): Überzeugungsstrategien in der Werbung. Eine Längsschnittanalyse von Zeitschriftenanzeigen des 20. Jahrhunderts. Opladen (Studien zur Kommunikationswissenschaft, 14).
Nina Janich (Darmstadt, Deutschland)
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131. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Sprache des Journalismus in den Printmedien 1. 2. 3. 4. 5.
Einführung Textsorten und Textbausteine Regeln und Normen Trends Literatur (in Auswahl)
Abstract Newspaper language is defined by typical rules, standards and principles which have developed in the 400 years’ history of German press. A first set of rules refers to the newspaper texts, their elements and their design. The article works as the basic unit of textual organization in newspapers. Its typical elements are headlines, lead text and body text, each of them assigned to specific functions in the communication process. Based on typical speech acts the articles can be assigned to different types of text well known as journalistic genres. A second set of rules and standards refers to typical problems of press communication. Important examples are the problem of reporting based on different sources of information, the discussion on objectivity and bias and the difficulties of perspicuity. In all these questions it is clearly visible that rules for newspaper language are considerably stricter than rules for everyday language. New forms of text design stand for the newspapers’ ambivalent efforts to face the press crisis emerging in the last decade. The priciples of modularization and visualization e.g. may lead to optimized forms of information reception as well as to “fast food journalism”.
1. Einührung Im Vergleich zu anderen Kommunikationsfeldern ist die Textgestaltung in den Printmedien in einem besonders hohen Maße durch Muster, Regeln und Normen geprägt. Das gilt vor allem für die Zeitung, die in ihrer mittlerweile mehr als 400-jährigen Geschichte ein breites Spektrum typischer Gestaltungsformen entwickelt hat. Ihre Beschreibung steht im Zentrum dieses Artikels, denn obwohl der Begriff der Printmedien in Abgrenzung zu den audio-visuellen Medien (Fernsehen, Hörfunk, Film) und zu den neuen Medien (Onlinemedien, digitale Medien) auch weiter gefasst wird und dann beispielsweise auch Bücher, Plakate oder Flugblätter einschließt, wird er im Kern doch meist auf die klassischen Massenmedien der Zeitung und der Zeitschrift bezogen. Als prototypisch für die Zeitung gilt heute die Tageszeitung ⫺ definiert als Druckerzeugnis, in dem aktuell, periodisch und öffentlich über Nachrichten aus aller Welt und allen Gegenstandsbereichen berichtet wird (vgl. z. B. Wilke 2002, 460). Als wichtigste Varianten mit abweichenden Mustern und Regeln sind die Wochenzeitungen und die Boulevardpresse zu nennen.
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Zwei Gruppen von pressespezifischen Gestaltungsformen sollen im Folgenden betrachtet werden. In der ersten sind Gestaltungsformen zusammengefasst, die in engem Zusammenhang mit den kommunikativen Grundfunktionen der Presse zu sehen sind. Im Zentrum stehen der Artikel als kommunikative Grundeinheit der Zeitungsstruktur (2.1), seine visuell und funktional bestimmten Bausteine (2.2⫺2.4) und seine typischen Erscheinungsformen, die das Repertoire der journalistischen Textsorten ausmachen (2.5). In all diesen Aspekten haben sich im Prozess der historischen Entwicklung typische Gestaltungsmuster herausgebildet, die das heutige Bild der Textgestaltung in der Presse maßgeblich prägen. Andere Aspekte, die ebenfalls wesentlich zur Ausprägung einer pressespezifischen Textgestaltung beitragen, stehen eher im Zusammenhang mit den kommunikativen Prinzipien und Maximen der journalistischen Berichterstattung, also vor allem mit dem Anspruch, wahrheitsgetreu, verständlich und informativ zu berichten. In der zweiten Gruppe der pressespezifischen Gestaltungsformen geht es deshalb um Regeln und Normen, die die Qualität der Berichterstattung sichern sollen. Drei zentrale Problembereiche sind der Umgang mit Quellen (3.1), die Objektivitäts- bzw. Unparteilichkeitsfrage (3.2) und das Verständlichkeitsproblem (3.3). Neue Gestaltungsformen entwickeln sich derzeit im Zusammenhang mit der Krise der Tageszeitung, die wesentlich durch zurückgehende Leser- und Abonnentenzahlen gekennzeichnet ist (vgl. 4). Bei dem Versuch, diesen Trend aufzuhalten und die Zeitung besser auf die veränderten Wünsche ihrer Rezipienten einzustellen, kommt es einerseits zu einer Boulevardisierung der Berichterstattung. Andererseits haben sich aber auch neue Gestaltungsformen etabliert, die zu verbesserten Rezeptionsmöglichkeiten führen können. Besonders auffällig sind die Veränderungen im Erscheinungsbild der Zeitung (4.1), der Trend zu modularen und visuellen Formen der Informationsvermittlung (4.2) und die Erweiterung des Angebots, die für die Entwicklung der Presselandschaft insgesamt kennzeichnend zu sein scheint (4.3).
2. Textsorten und Textbausteine Dass die Textgestaltung in der Zeitung vergleichsweise klar geregelt zu sein scheint, liegt zu allererst in den typischen Gestaltungsmustern begründet, die die Presse im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat. In den zahlreichen Handbüchern zur medienpraktischen Ausbildung werden diese Regeln tradiert. Einen zentralen Punkt bilden dabei die journalistischen Textsorten wie Meldung, Bericht oder Kommentar, in deren Regeln sich die bewährten Lösungen für wiederkehrende Aufgaben der textlichen Gestaltung verfestigt und kondensiert haben. Andere Aspekte der pressespezifischen Textgestaltung scheinen selbstverständlich, weil sie sich längst als alternativlose Muster etabliert haben. Das gilt insbesondere für die Artikelstruktur der Zeitung, auf der alle individuellen Ausprägungen basieren. Aber auch der Artikel und seine typischen Elemente sind das Ergebnis historischer Entwicklungsprozesse. In den Regeln für ihre Gestaltung zeigt sich die kommunikative Funktion der einzelnen Elemente.
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2.1. Der Artikel Die zentrale kommunikative Einheit in der Zeitung ist der Artikel. Er kann als in sich abgeschlossener Text betrachtet werden, der sich auf einen bestimmten Gegenstand bezieht und eine dominierende Funktion hat. Bei der Mehrzahl der Artikel in der Zeitung ist das die informierende Funktion; thematischer Bezugspunkt ist meist ein aktuelles Ereignis (zum Textbegriff vgl. Schröder 2003; Püschel 1997; zur Differenzierung nach Textsorten vgl. 2.5). Der inneren Einheit des Artikels entspricht die äußere Form: So sind die Artikel durch Abstände oder auch Linien voneinander abgegrenzt; jeder Artikel hat eine eigene Überschrift. Seit sich im Lauf des letzten Jahrzehnts in den meisten Zeitungen der Blockumbruch als dominierendes Gestaltungsprinzip durchgesetzt hat, ist diese Abgrenzung noch deutlicher geworden: Artikel werden nicht mehr ineinander verschachtelt, sondern als klar erkennbare visuelle Einheiten präsentiert (Meissner 2007). Dass unterschiedliche Nachrichten in getrennten Artikeln behandelt werden, scheint heute selbstverständlich, hat sich im Lauf der Zeitungsgeschichte aber erst relativ spät durchgesetzt. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war die Korrespondenz die textliche Grundeinheit der Zeitung; in ihr waren Nachrichten zusammengefasst, die von Korrespondenten gesammelt und an die Zeitung übermittelt wurden. Die Korrespondenz war also ⫺ anders als der Artikel heute ⫺ in der Regel keine thematische Einheit, sondern enthielt meist unterschiedliche Nachrichten. Andererseits war die Korrespondenz aber auch keine bloße Sammlung von Artikeln, da die in ihr enthaltenen Nachrichten selbst oft nicht die Form von abgegrenzten Texten hatten. Auch die heute übliche Form der nachrichtenbezogenen Überschrift war zwar in anderen Medien wie beispielsweise Messrelationen bekannt, wurde in der Zeitung aber lange kaum verwendet (Schröder 1995, 21; 51 ff.). Dass sich die moderne Form der Artikelstruktur gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzt, verweist auf einen grundlegenden Zusammenhang. In dieser Zeit, in der der Zeitungsumfang gravierend zunimmt, wird der Journalist zum Gatekeeper, der Leser wird zum selektiven Leser (Wilke 1984). Dabei entdeckt die Zeitung die Bedeutung und die Möglichkeiten der visuellen Gestaltung in einem Printmedium. Im Seitenumbruch und in der Aufmachung der einzelnen Artikel strukturiert der Redakteur den Nachrichtenstoff. Textgestaltung in der Presse ist heute immer sprachliche und visuelle Textgestaltung.
2.2. Die Überschrit Die Überschrift ist heute ein obligatorischer Baustein von Artikeln. Sie hat nicht nur die Aufgabe, den Artikel als Einheit zu markieren, sondern sie soll auch die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf den Artikel lenken. Die meisten Zeitungen verwenden ein abgestuftes System von Überschriftengrößen, mit dem die Wichtigkeit von Artikeln angezeigt und die Rezeption gesteuert werden soll (Schneider/Esslinger 2007; Reiter 2006). Über ihre weitergehende Funktion herrschen differierende Auffassungen. Der älteren Auffassung entsprechend sollen Überschriften für den selektiven Leser vor allem als Kurzinformation dienen; sie sollen demnach die Kernaussage des Artikels beinhalten.
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Neueren Konzeptionen zufolge wird mehr Wert darauf gelegt, dem Rezipienten eine grobe Orientierung zu geben, damit er entscheiden kann, ob er den Artikel lesen will. Nach dieser Konzeption ist es wichtiger, attraktive Überschriften zu machen, die das Interesse der Leser wecken und zum Lesen des Artikels motivieren (Blum/Bucher 1998; Häusermann 2005, 172 ff.). Nach inhaltlichen und sprachlichen Kriterien kann man zwei Grundtypen der Überschrift unterscheiden: die Schlagzeile und die Themenangabe. Im ersten Fall wird entweder die Kernaussage des Texts oder eine besonders wichtige/spektakuläre Aussage herausgegriffen. Einen Sonderfall hiervon bildet die beliebte Zitatüberschrift. Im zweiten Fall wird lediglich der Textgegenstand genannt: beispielsweise das Ereignis oder die Person. Diese Form findet sich häufiger bei kommentierenden Texten, die sich auf ein bereits bekanntes Geschehen beziehen. Nachrichtentexte werden dagegen mehrheitlich mit Schlagzeilenüberschriften versehen (vgl. Hellwig 1984). Kombinierte Formen ergeben sich daraus, dass mehrspaltige Texte meist eine mehrteilige Überschrift bekommen. Die Hauptzeile wird durch eine Unterzeile und/oder eine Dachzeile ergänzt. Im Sinne einer funktionalen Aufteilung wird in neueren Lehrbüchern (z. B. Blum/Bucher 1998, 32) empfohlen, dass Dachzeilen eher orientierende Funktion haben sollen (im Sportressort werden beispielsweise häufig Sportarten in der Dachzeile angegeben); Unterzeilen sollen die Hauptzeile spezifizieren und ergänzen, deshalb bestehen sie häufig aus einer oder mehreren Schlagzeilen zu unterschiedlichen Teilaspekten des Themas (Küpper 1989).
2.3. Der Leadtext Im Bereich der nachrichtlichen Texte ist es heute weithin üblich, bei mehrspaltigen Artikeln einen Vorspann- oder Leadtext vor den Fließtext zu stellen (Reiter 2006). Meist ist er durch Fettauszeichnung auch visuell deutlich markiert. Ähnlich wie bei den Überschriften gibt es zwei unterschiedliche Konzeptionen, die dem Leadtext unterschiedliche Grundfunktionen zuweisen. Der älteren Auffassung entsprechend soll der Leadtext eine Zusammenfassung der wichtigsten Artikelinhalte beinhalten und dem Leser damit vor allem die Möglichkeit der schnellen Information bieten. In diesem Sinne steht der Leadtext in engem Zusammenhang mit dem Grundmodell des Nachrichtenaufbaus, dem so genannten Pyramidenmodell. Ihm zufolge soll am Anfang eines Nachrichtentextes die Information über die wichtigsten Fakten stehen. Erst im weiteren Verlauf des Textes werden diese Kernaussagen spezifiziert und durch weitere, weniger wichtige Details und Zusatzinformationen ergänzt (La Roche 2008; Weischenberg 2001). In neueren Überlegungen wird die Funktion des Leadtexts eher darin gesehen, dass er die Leser zum Lesen des Gesamtartikels motivieren soll (Blum/Bucher 1998). Anstatt bereits alle wichtigen Fragen zu beantworten, soll der Leadtext sich demnach eher auf die Fragen selber konzentrieren. Der neugierig gewordene Leser wird sich dann ⫺ so die Idee ⫺ dem Artikel widmen. Obwohl der Leadtext auch nach dieser Konzeption orientierende Grundinformationen bieten muss, verschiebt sich damit der Akzent. An die Stelle der nüchternen Faktenmitteilung treten attraktivere Texteinstiege, die den Leser stärker ansprechen sollen (Häusermann 2005, 189 ff.). Im Extremfall bekommen Leadtexte damit einen dramaturgischen Aufbau nach dem Teaser-Modell (Heijnk 2002, 54 ff.).
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2.4. Fließtext Der Fließtext, also der eigentliche Haupttext der Artikel, wird in der Grundschrift der Zeitung gesetzt und bietet unter visuellen Gesichtspunkten nur wenig Gestaltungsmöglichkeiten. Aufbauend auf den Ergebnissen der Lesbarkeitsforschung wird in den meisten Zeitungen eine Antiqua-Schrift (mit Serifen) in einer Größe zwischen 8 und 10 Punkt gewählt. Abweichende Schriftarten oder eine Kursivschrift werden in manchen Zeitungen verwendet, um Kommentare abzugrenzen. Hervorhebungen können durch Fettdruck markiert werden. Für die Untergliederung des Fließtextes kommen Absätze und Zwischentitel in Frage (Rehe 1986). Um die verschiedenen Bausteine zu beschreiben, die im Fließtext von Zeitungsartikeln typischerweise verwendet werden, empfiehlt sich eine Unterscheidung nach sprachlichen Handlungen ⫺ von Mitteilungshandlungen über Erläuterungen und Bewertungen bis hin zum Schildern und Beschreiben (Schröder 2003, 201 ff.). Ihr Vorkommen steht in engem Zusammenhang mit der Unterscheidung von Textsorten. So dominieren in informierenden Texten in der Regel Mitteilungshandlungen (Lüger 1995, 89 ff.; vgl. dazu auch Bucher 1986; Motsch 1987). Da diese Texte sich meist auf aktuelle Ereignisse beziehen, stehen zunächst Mitteilungen zu den wichtigsten Fakten im Vordergrund. In der journalistischen Praxisliteratur hat diese Grundform der Faktenmeldung immer schon besondere Aufmerksamkeit gefunden. Als vollständig gilt sie, wenn die wichtigsten w-Fragen beantwortet werden: wer, was, wann, wo, warum, wie, woher (⫽ aus welcher Quelle) (Weischenberg 2001, 22). Ergänzt wird diese Faktenmitteilung typischerweise durch Spezifizierungen zu einzelnen Ereignisaspekten, also durch Mitteilungen zum Ereignisverlauf oder zur Vorgeschichte. Zu den häufig vorkommenden fakultativen Bausteinen gehört die Wiedergabe von Stellungnahmen Betroffener oder Beteiligter. In Abhängigkeit vom Berichtgegenstand können weitere Bausteine dazu kommen: etwa eine Ankündigung oder ein Ausblick. Auf Textsorten mit einer erweiterten oder nicht primär informierenden Funktion weisen dagegen andere Bausteine hin. Erläuterungen und Deutungen sind häufig Teil von Argumentationshandlungen und finden sich in Texten mit einer vertiefenden Hintergrundinformation. In Kombination mit Bewertungen und Beurteilungen sind sie typisch für Meinungstexte. Schilderungen und Beschreibungen haben attraktivitätssteigernde Funktion, können aber auch zur Veranschaulichung dienen. Da sie sich mit der Darstellung aus einem bestimmten Blickwinkel verbinden, sind sie oft Ausdruck einer beobachtenden Vor-Ort-Perspektive, die für Korrespondentenberichte oder Reportagen typisch ist.
2.5. Textsorten Im letzten Abschnitt wurde schon eine Vielzahl von Bezeichnungen wie Meldung, Kommentar oder Reportage verwendet, mit denen auf das Repertoire der heute etablierten journalistischen Textsorten Bezug genommen wird. In der journalistischen Praxis haben diese Bezeichnungen einen festen Platz, obwohl sie einige Probleme aufwerfen. So muss man feststellen, dass sie weder einheitlich verwendet werden noch wirklich trennscharf
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sind. Viele der real vorzufindenden Texte erweisen sich in der Analyse als Misch- oder Übergangsformen (zur Problematik des Textsortenbegriffs vgl. Schröder 2003, 254 ff.). Für einen Überblick über die wichtigsten Zeitungstextsorten hat es sich bewährt, zwischen informations- und meinungsbetonten Texten zu unterscheiden. Im Bereich der primär informierenden Texte wird zunächst nach dem Mitteilungsumfang differenziert (Lüger 1995, 89 ff.). Die (Kurz-)Meldung ist im Wesentlichen auf die Mitteilung der Ereignisfakten beschränkt. In der etwas längeren Nachricht wird diese durch andere Mitteilungsbausteine ergänzt. Beide sind in ihrem Aufbau relativ streng am Modell der „Inverted Pyramid“ orientiert (vgl. 2.3). In der Langform des Berichts herrscht wesentlich mehr Freiheit, was die möglichen Bausteine und ihre Anordnung betrifft. Eine sinnvolle Differenzierung könnte an den verschiedenen Gegenstandstypen ansetzen. So unterscheiden sich Berichte über Redeereignisse in ihren Bausteinen und ihrer Struktur deutlich von Texten, in denen es um Entwicklungen oder Probleme geht. Bei den komplexeren informationsbetonten Texten ist vor allem die Reportage hervorzuheben (Haller 2006). Rhetorisch und stilistisch gilt sie als anspruchsvollste und schwierigste Textsorte, was einerseits in ihrer auch literarisch geprägten Tradition begründet ist, andererseits aber auch in ihrer Bauform. Ihr wichtigstes Merkmal liegt darin, dass sie zusätzlich zu allen anderen Ebenen der Informationsvermittlung auch die Ebene der Vor-Ort-Berichterstattung einbezieht ⫺ und zwar explizit aus dem Blickwinkel des Berichterstatters. Typisch für Reportagen ist deshalb der Wechsel zwischen unterschiedlichen Darstellungsebenen: von der Beobachtungsebene, die sich durch ihre Nähe zum Berichtgegenstand auszeichnet, bis hin zur Ebene der Hintergrundberichterstattung, in der das Gesehene, Erlebte oder Recherchierte eingeordnet und möglicherweise auch erklärt wird. Eine Textsorte mit spezifischen Regeln ist das (geformte) Interview, in dessen klassischer Form das Gespräch in Form eines Wortlautprotokolls im Wechsel von Frage und Antwort wiedergegeben wird (Haller 2001; Schröder 2001a). Nach dem Inhalt unterscheidet man als Haupttypen das Interview zur Sache, zur Person und das Meinungsinterview. Streitgespräche, in denen auch der Interviewer Stellung bezieht, sind in der Tageszeitung kaum zu finden. Wichtigste Textsorte im Bereich der meinungsbetonten Texte ist der Kommentar, in dem der Verfasser Ereignisse oder Themen aus der Berichterstattung einordnet, beurteilt oder auch bewertet (Nowag/Schalkowski 1998). Sein wichtigstes Kennzeichen ist der argumentative Aufbau. Nach der Art der Argumentation wird grob zwischen GeradeausKommentar und Einerseits-andererseits-Kommentar unterschieden. Eine Sonderform des Kommentars ist der Leitartikel, der häufig auf der Titelseite der Zeitung zu finden ist und als „Aushängeschild“ der Zeitung gilt. Eine andere Variante ist die Glosse, die ein Thema, das nicht aktuell sein muss, mit humoristischen Mitteln bearbeitet. Mit den hier genannten Textsorten sind nur die wichtigsten Grundformen angesprochen. Dazu kommen vor allem noch ressortspezifische Ausprägungen wie beispielsweise die Rezension, mit der im Feuilleton Filme, Theaterstücke, Musikveranstaltungen oder Bücher kritisch bewertet werden (Schalkowski 2005).
3. Regeln und Normen Die Qualität der Zeitungsberichterstattung ist seit den Anfängen des Mediums immer wieder Gegenstand kritischer Beobachtung. So gab es bereits im 17. Jahrhundert eine
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angeregte Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern des neuen Mediums, in der es beispielsweise um die Verständlichkeit der Berichterstattung, um die Unparteilichkeit oder um den Wahrheitsanspruch der Zeitung ging (Kurth 1944; vgl. dazu Schröder 2001b). Dass gerade diese Fragen immer wieder diskutiert werden, verweist darauf, dass es sich um strukturell bedingte Problembereiche der Pressekommunikation handelt, die eng mit den Kommunikationsprinzipien und den Maximen des Informierens zusammenhängen (Muckenhaupt 1986). Im Laufe der Jahrhunderte hat die Zeitung unterschiedliche Lösungen für diese Probleme entwickelt. Als Regeln und Normen, die die Qualität der Berichterstattung sichern sollen, leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Ausprägung einer pressespezifischen Sprache.
3.1. Umgang mit Quellen Unterscheidet man die Informationsbausteine in Zeitungstexten nach ihrer Informationsgrundlage, so sieht man, dass nur ein kleiner Bruchteil der Informationen aus eigener Beobachtung durch den Berichterstatter stammt. Informationsvermittlung in der Presse ist vielmehr mehrheitlich Vermittlung vermittelter Information; die Berichterstatter greifen auf unterschiedlichste Quellen zurück, die sie in ihren Texten verarbeiten. Weil die jeweilige Quellengrundlage wiederum eng mit dem Wahrheits- und Informationswert der Nachrichten zusammenhängt, gilt ein hoher Grad an Quellentransparenz als eines der wichtigsten Qualitätskriterien für einen seriösen und glaubwürdigen Informationsjournalismus. Entscheidend sind die Quellenauswahl, die Offenlegung der Quellenabhängigkeit und die Korrektheit der Quellenwiedergabe (Muckenhaupt 1987). Eine Sonderrolle spielen in diesem Zusammenhang die Nachrichtenagenturen. Ihre Texte basieren selbst wieder auf unterschiedlichen Quellen. Daraus ergibt sich der typische mehrstufige Vermittlungsprozess der Pressekommunikation. Während die Verwendung von Agenturquellen mittels Agenturkürzeln oder Autorenzeile angegeben wird, muss auf alle anderen Quellen innerhalb des Textes Bezug genommen werden (Wilke 2000; Muckenhaupt 1990). Für die Wiedergabe von Informationen bietet die deutsche Sprache eine Vielzahl fein abgestufter Möglichkeiten (Kurz 1966; Kaufmann 1976). Für die Verwendung dieser Formen gibt es Regeln, die eng mit ihren kommunikativen Eigenschaften zusammenhängen (Häusermann 2005, 85 ff.). Die Quellenwiedergabe in direkter Rede bedeutet für den Berichterstatter den größtmöglichen Grad an Distanzierung (Muckenhaupt 1987). Die Quelle kommt selber zu Wort; Wahrheitsbehauptung und einseitige Sichtweisen sind eindeutig der Quelle zugeordnet. Die Verantwortung des Journalisten beschränkt sich auf die Auswahl der Quelle, auf die Korrektheit der Wiedergabe und auf die Angemessenheit der Redekennzeichnung. Ein besonderes Problem ist die Übersetzung von mündlichen Äußerungen in die schriftliche Form (vgl. Burger 2005, 59 ff.). Wegen ihrer Distanzierungsfunktion wird die Wortlautwiedergabe empfohlen, wenn es sich um strittige, unsichere oder nicht überprüfbare Informationen handelt oder wenn es um Meinungsäußerungen geht. Gleichzeitig bedeutet direkte Rede aber auch einen hohen Grad an Authentizität, weil sie mit den Originalformulierungen eines Sprechers auch viel von seiner persönlichen Perspektive vermittelt. Zentrale Aussagen werden also
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nicht nur aus Vorsicht in Zitatform wiedergegeben, sondern auch, weil damit die Wortwahl der Quelle exakt erhalten bleibt. Ein drittes Motiv für die Wahl von direkter Rede kann in ihrer Anschaulichkeit und Nähe liegen. Zitate dienen in diesem Sinn der Auflockerung und der Attraktivitätssteigerung und werden deshalb häufig auch als Texteinstieg gewählt. Das extreme Gegenstück zur direkten Rede ist die faktizierende Mitteilung, bei der die Quellenabhängigkeit der Information für den Rezipienten nicht mehr erkennbar ist. Der Berichterstatter übernimmt die Aussagen einer Quelle als eigene Aussage und trägt damit auch die Verantwortung für ihren Wahrheitsgehalt. Diese Form soll immer dann verwendet werden, wenn Informationen unstrittig oder überprüft sind. Dagegen zeichnen sich die verschiedenen Formen der eingeleiteten und uneingeleiteten indirekten Rede dadurch aus, dass sie dem Berichterstatter eine stärker geraffte und akzentuierte Wiedergabe als bei der direkten Rede erlauben. Die Möglichkeit, Äußerungen teilweise in eigenen Worten wiederzugeben, bedeutet gleichzeitig aber auch eine geringere Distanzierung von der Quelle; Teilzitate für einzelne Formulierungen sind ein beliebter Ausweg. Auch Mischformen sind häufig anzutreffen. Beliebt sind vor allem die Kombinationen von Zitat und anschließender freier indirekter Rede. Um eine klare Unterscheidung zwischen indirekter Rede und Faktizierung zu ziehen, wird großer Wert auf die eindeutige Markierung des Redewiedergabemodus durch Konjunktivverwendung gelegt. Während die indirekte Rede im Grundsatz noch auf dem Wortlaut der Quelle beruht, steht beim Redebericht die Formulierung mit eigenen Worten im Vordergrund. Zum Einsatz kommt er immer dann, wenn Komprimierung gefragt wird. In den Extremformen kann sich ein Redebericht auf Redekennzeichnung und/oder Themenangaben beschränken („erhob Vorwürfe“, „äußerte sich zur Frage X“). Anders als beim Redebericht steht bei der Faktizierung mit Quellenbezug die Sachperspektive im Vordergrund. Faktizierungen mit einer Quellenangabe erlauben dem Leser ansatzweise eine eigene Einschätzung zur Zuverlässigkeit der Mitteilung. Der Hinweis auf vage Quellen („angeblich“, „soll“) hat eine bloße Distanzierungsfunktion.
3.2. Inormation und Meinung Die Regeln, die im letzten Abschnitt für den journalistischen Umgang mit Quellen formuliert wurden, sind keine Regeln, die ausschließlich im Bereich der journalistischen Textgestaltung gültig sind. Es handelt sich vielmehr um allgemeinsprachlich gültige Regeln; von Journalisten erwartet man lediglich, dass sie sie bewusster und exakter anwenden, als dies in der Alltagskommunikation üblich ist. Anders verhält sich dies bei der Frage, wie Journalisten mit Information und Meinung umgehen sollen. Hier haben sich im Laufe der Zeit spezifische Regeln herausgebildet, die außerhalb der Medien in dieser Form keine Gültigkeit haben. Den Kern bildet die so genannte Trennungsnorm, die besagt, dass informierende Texte frei von Meinungsäußerungen durch den Berichterstatter sein sollen (vgl. Schönbach 1977). Der zugrunde liegende Grundsatz „Comment is free, but facts are sacred“ (Scott 1921) verweist auf den angelsächsischen Ursprung der Norm. Tatsächlich war die Einführung und Durchsetzung der Trennungsnorm Teil der Umerziehungsmaßnahmen, mit denen die Alliierten
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nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Entstehung einer demokratischen Presse in Deutschland gewährleisten wollten (Matthäus 1963). Im Bereich des politischen Nachrichtenjournalismus und ganz besonders in den Texten der Nachrichtenagenturen hat die Trennungsnorm bis heute uneingeschränkte Gültigkeit. Während in Leitartikeln und Kommentaren die Meinung von Journalisten und die redaktionelle Linie einer Zeitung zum Ausdruck kommen, sollen informierende Texte nicht nur wahrheitsgetreu, sondern auch meinungsfrei verfasst sein. In anderen Ressorts, vor allem in der Sportberichterstattung, sind die Grenzen heute wesentlich weniger scharf gezogen (Eich 2005). Im Bereich des Lokaljournalismus haben sich zahlreiche Zwischenformen entwickelt (Lüger 1995, 152). Aber auch wenn die Trennungsnorm eingehalten wird, bedeutet das noch lange nicht, dass die Berichterstattung damit auch automatisch unparteilich oder gar „objektiv“ ist. In der Publizistik und in der medienwissenschaftlichen Forschung wird diese Problematik mehrheitlich im Zusammenhang mit der Frage der Nachrichtenauswahl und unter dem Stichwort „Medienrealität“ diskutiert (Kunczik/Zipfel 2005, 276⫺284; vgl. Schulz 1976; Wilke 1984). Auch wenn ältere Positionen, die von der Möglichkeit einer objektiven Berichterstattung ausgingen, heute als naive Abbildtheorien abgelehnt werden und durch konstruktivistisch geprägte Modelle abgelöst sind, bleibt das Problem einer möglicherweise einseitigen oder verfälschenden, in diesem Sinne also nicht-objektiven Berichterstattung doch virulent. So wird als Befund zahlreicher empirischer Studien immer wieder deutlich, dass die Medien das Bild der Wirklichkeit bei den Rezipienten prägen und dass dieses Bild häufig stark kulturell und ideologisch geprägte Züge aufweist. Eine einseitige und nicht ausgewogene Auswahl von Nachrichten und Positionen ist aber nicht der einzige Aspekt, der zu Problemen mit der Unparteilichkeitsmaxime führen kann. So werden in ideologiekritischen Arbeiten zur Sprache der Zeitung vielfältige Aspekte herausgearbeitet, in denen einseitige Perspektiven in der Berichterstattung greifbar werden (Good 1985; Bucher/Straßner 1991; Häusermann 2005, 24 ff.). Das Spektrum reicht von der Semantik kennzeichnender Ausdrücke, mit denen auf Personen und Ereignisse Bezug genommen wird, bis hin zur „täterfreien“ Darstellung durch Passivkonstruktionen. Die daraus resultierende Forderung nach einem besonders reflektierten und kontrollierten Umgang mit Sprache verdeutlicht auch hier den besonderen Anspruch an den journalistischen Sprachgebrauch. In diesem Punkt trifft sich die ideologiekritisch begründete Sprachkritik mit den eher sprachpflegerisch motivierten Ansätzen, in denen eine anspruchsvolle sprachliche Gestaltung in der Presse vor allem unter Bildungsaspekten gefordert wird.
3.3. Verständlichkeit Ein dritter Problembereich, der die Diskussion über journalistische Qualität von den Anfängen der Zeitung bis heute immer beschäftigt hat, ergibt sich aus der Leitmaxime der Verständlichkeit (Muckenhaupt 1986, 275 f.; Schröder 1995, 217 ff.). In der eher medienpraktisch ausgerichteten Literatur (vgl. La Roche 2008; Weischenberg 2001) wird dieser Begriff meist ohne große Differenzierung verwendet. Gemeint sind alle Aspekte der sprachlichen Gestaltung, die das Verstehen von Texten betreffen: von der Erleichterung und Beschleunigung des Textverstehensprozesses bis hin zur Frage der Verständnissicherung. Die Problematik einer empirischen Überprüfung und Messung
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von Verständlichkeit wird dabei ebenso wenig diskutiert wie die Frage der theoretischen Fundierung (vgl. Heinemann/Viehweger 1991; Biere 1989; Spillner 1995). Im Zentrum steht stattdessen die praktische Frage, mit welchen Maßnahmen die sprachliche Gestaltung von Texten so verbessert werden kann, dass das Verstehen möglichst wenig behindert wird (vgl. Heijnk 1997). So wird etwa im Hinblick auf die Wortwahl vor allem betont, dass gebräuchliche Ausdrücke bevorzugt werden sollen. In sprachpflegerisch motivierten Arbeiten verbindet sich diese Forderung meist mit der Warnung vor Fremdwörtern (z. B. Schneider 2001). In Arbeiten aus dem Bereich der Verständlichkeitsforschung wird stärker auf das Problem von fachsprachlichem Wortschatz verwiesen. Zur Begründung werden die Ergebnisse der kognitionspsychologischen Textverstehensforschung angeführt. Medienpraktisch ausgerichtete Arbeiten formulieren in diesem Zusammenhang das Ziel einer rezipientengerechten Sprache und leiten daraus die Forderung ab, dass der Journalist als Übersetzer von der Sprache der Quellen in die Sprache der Rezipienten fungieren soll (Stichwort „Behördendeutsch“ oder „Wissenschaftsslang“). Dabei geht es nicht nur um eine größere Verständlichkeit, sondern auch um die Gefahr, dass ohne „Übersetzung“ häufig auch perspektivbedingt einseitige Sichtweisen in den journalistischen Text übernommen werden (Häusermann 2005, 131 ff.). Ein zweites Problemfeld betrifft vor allem die syntaktische Ebene und liegt in den typischen Verdichtungsformen einer um Kürze bemühten Nachrichtensprache begründet. Problematisch sind Nominalisierungen sowie Partizipialkonstruktionen und stark ausgebaute Adjektivphrasen, wenn sie als verkürzte Aussagen in die Proposition des Satzes eingebaut werden und so zu einer gedanklichen Verschachtelung führen (Lüger 1995, 22 ff.). Kognitionspsychologische Modelle zum Prozess der Textverarbeitung bestätigen diese Diagnose (vgl. Christmann 1989, 65; Heijnk 1997, 68 ff.). Als Gegenmodell wird unter dem Stichwort der „gedanklichen Portionierung“ gefordert, dass für jede wichtige Aussage ein eigener Satz verwendet werden soll (Häusermann 2005, 13 ff.). Wichtiger als die Kürze der Sätze ist dabei, dass sich ein einfach strukturierter, linearer Aussagenaufbau ergibt (vgl. Danesˇ 1970 zum Modell der thematischen Progression). Das in den Lesbarkeitsformeln (kritische Zusammenfassung bei Heijnk 1997, 86 ff.) immer wieder herangezogene Kriterium der Satzlänge erweist sich dagegen als Sekundärkriterium. Problematisch sind nicht lange Sätze, sondern Sätze mit komplexer Satzstruktur und Sätze mit übermäßig ausgebauten Angaben oder Attributen ⫺ vor allem Präpositionalphrasen verbinden sich häufig mit Substantivierungsformen. Als Ideal der Zeitungssprache gilt also eine einfache, klar strukturierte und damit auf leichte Verständlichkeit ausgerichtete Sprachform. In diesem Ziel herrscht Einigkeit, auch in den vorgeschlagenen Mitteln ist weitgehende Übereinstimmung zu konstatieren (Heijnk 1997, 258 ff.). Keine der vorgeschlagenen Maßnahmen bewegt sich außerhalb der alltagssprachlichen Regeln. Nicht die Abgrenzung von der Alltagssprache ist das Ziel, sondern die Annäherung. Das Ideal der pressespezifischen Sprache ist der Verzicht auf eine pressespezifische Sprache.
4. Trends Dass die Textgestaltung in der Presse heute in hohem Maße geregelt und normiert ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie andererseits doch auch im Wandel begriffen
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ist. Angesichts des erreichten Entwicklungsstands erscheinen viele der Veränderungen als Regelverstöße, als Aufweichung, als Qualitätsverlust. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ein seit der Mitte der 90er Jahre immer wieder medienübergreifend konstatierter und kritisierter Trend zur Boulevardisierung (Holly/Biere 1998). Gemeint ist damit die Übernahme von Formen und Strategien der Berichterstattung, die sich in der Boulevardpresse als erfolgreich erwiesen haben: So wird nicht nur den Softnews über Verbrechen, Katastrophen und Gesellschaftsklatsch immer mehr Raum gegeben, auch die Berichterstattung über die „harten“ Themen wird dramatisiert, emotionalisiert und personalisiert. Fragt man nach den Hintergründen dieser Entwicklungen, so wird im Bereich der Presse vor allem auf die Krise der Tageszeitung verwiesen, die etwa im gleichen Zeitraum immer deutlicher wurde (Schröder/Schwanebeck 2005; BDZV 2005). Die Krise der Zeitung hat einerseits gesamtwirtschaftliche Ursachen, die sich vor allem in einem drastischen Rückgang der Werbeeinnahmen niedergeschlagen haben. Sie liegt aber auch im Medienverhalten der Rezipienten begründet, die trotz eines insgesamt wachsenden Medienkonsums immer weniger Zeit für die Zeitungslektüre aufwenden. Besonders problematisch sind die Verluste der Zeitung bei den jüngeren Lesern, die immer seltener bereit sind, eine Zeitung zu abonnieren. Ein wichtiger Faktor in diesem Prozess ist auch die Konkurrenz, die der Zeitung nach Hörfunk und Fernsehen jetzt zunehmend auch durch das Internet erwächst (Glotz/Meyer-Lucht 2004). Konsequenz aus dieser Krise sind aber nicht nur Boulevardisierungstendenzen, mit denen die Zeitung versucht, den Vorsprung der unterhaltsameren Konkurrenzmedien wettzumachen, sondern auch vielfältige Reformbemühungen, die das Ziel verfolgen, sich besser auf die gewandelten Bedürfnisse und Ansprüche der Rezipienten einzustellen. Die größere Nähe zum Rezipienten, die damit angestrebt wird, erweist sich dabei in vielen Punkten als ambivalentes Ziel.
4.1. Modernisierung des Erscheinungsbilds Seit es Zeitungen gibt, hat sich auch ihr äußeres Erscheinungsbild immer wieder geändert. Wichtigster Faktor sind dabei die technischen Entwicklungen (Meissner 2007). Meilensteine waren beispielsweise die Erfindung der Linotype-Setzmaschine, die Einführung des Offsetdrucks und zuletzt die Digitalisierung der Zeitungsproduktion. Seit der Mitte der 90er Jahre ist dieser eher naturwüchsige Prozess der visuellen Erneuerung als wichtiges strategisches Mittel zur Modernisierung und „Verjüngung“ der Presse erkannt worden. Äußerlich sichtbar ist diese Veränderung darin, dass das Erscheinungsbild bei den meisten deutschen Tageszeitungen seither in immer kürzeren Abständen systematisch überarbeitet wird. Immer wichtiger werden dabei Zeitungsdesigner, die Konzepte für das Redesign oder den Relaunch von Zeitungen entwickeln und die visuelle Gestaltung der Zeitung zum Teil einer Kommunikationsstrategie machen (Blum/Blum 2001; Pürer 2000). Viele der Veränderungen dienen primär der Verschönerung und Modernisierung; sie lassen die Zeitungen jünger und dynamischer aussehen und haben somit primär kosmetischen Charakter (Rehe 1986). Eine wichtige Rolle spielen aber auch Konzepte eines funktionalen Designs, das auf eine Verbesserung der Zeitungsrezeption abzielt (Küpper 1989). Ihr Grundgedanke liegt darin, dass die visuelle Gestaltung von Artikeln und Artikelelementen deren jeweilige kommunikative Funktion anzeigen und vermitteln soll. So soll
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beispielsweise die Verwendung von graphischen Gestaltungsmitteln wie Kästen oder Linien eindeutigen und einheitlichen Regeln folgen, damit der Leser schon vor der eigentlichen Lektüre sehen kann, ob er etwa einen Nachrichten- oder einen Meinungstext vor sich hat. Übergeordnetes Ziel dieser Bemühungen ist die Erleichterung von selektiven Formen der Rezeption. Grundlage sind die Ergebnisse von Blickfelduntersuchungen, die gezeigt haben, dass die Leser sich durch die visuelle Gestaltung einer Seite zwar leiten und beeinflussen lassen, dass sie andererseits aber sehr autonom entscheiden, welchen Artikeln sie ihre Aufmerksamkeit zuwenden. In diesem Sinne zielen viele der Veränderungsmaßnahmen darauf ab, die Orientierung auf der Seite zu erleichtern und einen gezielten Zugriff auf gewünschte Informationen zu ermöglichen. Dazu werden beispielsweise die Inhaltsverzeichnisse ausgebaut, die Leadtexte werden gestrafft, die Text-Bild-Zuordnung wird verdeutlicht (Garcia/Stark 1991; Küpper 1989).
4.2. Modularisierung und Visualisierung Unter dem Oberbegriff des „Textdesigns“ werden konzeptionelle Überlegungen zusammengefasst, die auch auf der Artikelebene auf eine ganzheitliche Betrachtung der sprachlichen und der visuellen Gestaltungsaspekte zielen. Deutlich wird das vor allem in zwei Trends, die in den letzten Jahren sichtbar an Bedeutung gewonnen haben: dem Modularisierungs- und dem Visualisierungstrend (Blum/Bucher 1998; Bucher 1998; Lilienthal 1998). Unter Modularisierung versteht man, dass Artikel in Anlehnung an die HypertextIdee durch Cluster ersetzt werden; verlinkte und vernetzte Module treten damit an die Stelle des linear gebauten traditionellen Langtexts. Hintergrund ist die Beobachtung, dass die Leser heute immer weniger bereit sind, sich in der Tageszeitung auch längeren Texten zuzuwenden. Durch die Zerlegung in Module können auch komplexere Themen in einer optisch attraktiven Form behandelt werden. Dazu kommt noch der Vorteil, dass die modulare Aufbereitung den Wünschen eines gezielten, selektiven Lesens entgegen kommt. Parallel zur Zerlegung von Texten in Module wird verstärkt auf die Möglichkeiten der visuellen Informationsvermittlung gesetzt. Im traditionellen Einsatz werden Bilder in der Tageszeitung meist verwendet, um einen Artikel zu illustrieren oder um Teilinformationen aus dem Text zu veranschaulichen. Im Rahmen eines modularen Konzepts können sie aber auch als eigenständige Module auftreten; sie haben dann selber Informationsfunktion. Es geht beim Visualisierungstrend also nicht nur um eine quantitative Ausweitung des Bildanteils, sondern auch um eine qualitative. Grundlegend ist der Gedanke der mehrkanaligen Informationsvermittlung: Der bildliche Kanal für die Informationsvermittlung hat im Vergleich zum sprachlichen spezifische Stärken und Schwächen. Ihn sinnvoll und gezielt zu nutzen heißt, dass man Bilder genau da einsetzen soll, wo sie sprachlichen Mitteln überlegen sind. Besondere Bedeutung kommt deshalb den verschiedenen Typen von Infografiken zu (Knieper 1995). Bei einem gezielten und reflektierten Umgang eröffnen Modularisierung und Visualisierung erweiterte kommunikative Spielräume. Das wird im Textdesign-Konzept besonders hervorgehoben. Als bloße Modeerscheinung können sie aber auch die gegenteilige
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Wirkung haben. Aus Modulen werden Bruchstücke, aus visueller Information wird Augenkitzel. Skeptiker befürchten, dass Zerlegung und Bebilderung letztlich zu Informationsverlust, zu Oberflächlichkeit, zu „Fastfoodjournalismus“ führen.
4.3. Diversiikation Betrachtet man die Entwicklung der deutschen Presselandschaft insgesamt, so muss zunächst festgestellt werden, dass die Konzentrationsprozesse immer noch andauern. In weiten Teilen Deutschlands können die Rezipienten heute nur noch auf eine Zeitung zurückgreifen. Zahlreiche Formen der Kooperation zwischen Einzelzeitungen führen dazu, dass auch in der überregionalen Berichterstattung die Vielfalt immer weiter abnimmt (Schütz 2005, 215 ff.). Andererseits lässt sich im Presseangebot aber auch ⫺ parallel zur Entwicklung neuer Darstellungs- und Präsentationsformen ⫺ ein Trend zur Diversifikation erkennen. So wird den Veränderungen im Rezeptionsverhalten nicht nur durch Modularisierungs- und Visualisierungsstrategien Rechnung getragen, sondern auch durch Experimente mit neuen Zeitungstypen. Am vielversprechendsten scheinen derzeit Varianten im kleineren Tabloid-Format. Als preiswerte Kompaktausgaben zielen sie vorwiegend auf die jüngere Leserschaft (Vogel 2001). Aber auch im Rahmen der traditionellen Zeitung lassen sich Erweiterungs- und Differenzierungstrends erkennen. Um vor allem jüngere Rezipientengruppen anzusprechen, sind beispielsweise in vielen Zeitungen Kinder- und Jugendseiten oder feste Rubriken zum Thema Computer und Internet eingeführt worden. Eine thematische Ausweitung ergibt sich auch durch den Ausbau von Randthemen der klassischen Zeitungsberichterstattung wie etwa Gesundheitsthemen, Freizeitthemen, Reiseseiten. Gestärkt wird dabei durchgängig vor allem die Servicefunktion der Zeitung (vgl. Schönbach 2000). Eine andere Strategie zur Erweiterung des Angebotsspektrums ergibt sich aus den Online-Angeboten, die die Printzeitung ergänzen (Glotz/Meyer-Lucht 2004). In vielen Fällen wird die Online-Zeitung dabei vor allem als neuer Distributionsweg für die Zeitung aufgefasst. Die Möglichkeiten einer funktionalen Erweiterung werden dagegen nur begrenzt genutzt; sie setzen eine eigene Online-Redaktion voraus und sind deshalb auf wenige große Zeitungen beschränkt. Im redaktionellen Bereich bieten deshalb heute nur wenige Online-Zeitungen einen spezifischen Zugewinn ⫺ etwa durch multimedial aufbereitete Angebote zu Themenschwerpunkten oder durch den Zugriff auf Archive. Auch die Möglichkeiten einer sehr viel aktuelleren Berichterstattung werden meist nur durch die Einbindung von permanent aktualisierten Schlagzeilen (News-Tickern) realisiert, während die Eigenberichterstattung als Zweitverwertung der Printausgabe häufig an den Tagesrhythmus der klassischen Zeitung gebunden bleibt. Der größte Zusatznutzen liegt außerhalb des redaktionellen Bereichs: in interaktiven Angeboten wie Foren, Gästebuch oder Chat, im Anzeigenbereich und in den Servicefunktionen wie Veranstaltungshinweisen. Ob die Online-Zeitung sich aus diesen Ansätzen heraus zu einem eigenständigen Medium entwickeln wird und ob sie dann als Konkurrent oder als Weiterentwicklung der traditionellen Zeitung anzusehen sein wird, wird heute noch diskutiert (Schröder/ Schwanebeck 2005).
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5. Literatur (in Auswahl) BDZV ⫽ Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (Hrsg.): Zeitungen 2005. Berlin 2005. Biere, Bernd Ulrich (1989): Verständlich-Machen. Hermeneutische Tradition ⫺ historische Praxis ⫺ sprachtheoretische Begründung. Tübingen. Blum, Claudia/Joachim Blum (2001): Vom Textmedium zum Multimedium. Deutsche Tageszeitungen im Wandel. In: Hans-Jürgen Bucher/Ulrich Püschel (Hrsg.): Die Zeitung zwischen Print und Digitalisierung. Wiesbaden, 19⫺43. Blum, Joachim/Hans-Jürgen Bucher (1998): Die Zeitung, ein Multimedium. Textdesign, ein Gestaltungskonzept für Text, Bild und Grafik. Konstanz. Bucher, Hans-Jürgen (1986): Pressekommunikation. Grundstrukturen einer öffentlichen Form der Kommunikation aus linguistischer Sicht. Tübingen. Bucher, Hans-Jürgen (1998): Vom Textdesign zum Hypertext. Gedruckte und elektronische Zeitungen als nicht-lineare Medien. In: Holly/Biere (1998), 63⫺102. Bucher, Hans-Jürgen/Erich Straßner (1991): Mediensprache, Medienkommunikation, Medienkritik. Tübingen. Burger, Harald (2005): Mediensprache. Eine Einführung in Sprache und Kommunikation von Massenmedien. Mit einem Beitrag von Martin Luginbühl. 3., völlig neu bearb. Aufl. Berlin/New York. Christmann, Ursula (1989): Modelle der Textverarbeitung: Textbeschreibung und Textverstehen. Münster. Danesˇ, Frantisek (1970): Zur linguistischen Analyse der Satzstruktur. In: Folia Linguistica 4, 72⫺78. Eich, Patrick (2005). Dekaden unter der Lupe. Empirische Untersuchung zur Entwicklung und Veränderung des Hauptsports im SÜDKURIER von 1945 bis 2002. Diss. (Mskr.). Konstanz. Garcia, Mario R./Pegie Stark (1991): Eyes on the News. St. Petersburg (The Poynter Institute for Media Studies). Glotz, Peter/Robin Meyer-Lucht (Hrsg.) (2004): Online gegen Print. Zeitung und Zeitschrift im Wandel. Konstanz. Good, Colin H. (1985): Presse und soziale Wirklichkeit. Ein Beitrag zur „kritischen Sprachwissenschaft“. Düsseldorf. Haller, Michael (2001): Das Interview. Ein Handbuch für Journalisten. 3., überarb. Aufl. Konstanz. Haller, Michael (Hrsg.) (2006): Die Reportage. 5., überarb. Aufl. Konstanz. Heinemann, Wolfgang/Dieter Viehweger (1991): Textlinguistik. Eine Einführung. Tübingen. Häusermann, Jürg (2005): Journalistisches Texten. Sprachliche Grundlagen für professionelles Informieren. 2., akt. Aufl. Konstanz. Heijnk, Stefan (1997): Textoptimierung für Printmedien. Theorie und Praxis journalistischer Textproduktion. Opladen. Heijnk, Stefan (2002): Texten fürs Web. Grundlagen und Praxiswissen für Online-Redakteure. Heidelberg. Hellwig, Peter (1984): Titulus oder Über den Zusammenhang von Titeln und Texten. Titel sind ein Schlüssel zur Textkonstitution. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 12, 1⫺20. Holly, Werner/Bernd Ulrich Biere (Hrsg.) (1998): Medien im Wandel. Opladen. Kaufmann, Gerhard (1976): Die indirekte Rede und mit ihr konkurrierende Formen der Redeerwähnung. München. Knieper, Thomas (1995): Infographiken. Das visuelle Informationspotential der Tageszeitung. München. Kunczik, Michael/Astrid Zipfel (2005): Publizistik. Ein Studienhandbuch. 2. Aufl. Köln/Weimar/ Wien. Küpper, Norbert (1989): Blickaufzeichnung. Erforschung des Leserverhaltens beim Zeitungslesen. In: Deutscher Drucker 31. Online abrufbar unter: www.editorial-design.com/leseforschung/ Blickaufzeichnung_1989_D.pdf (gesehen am 23. 1. 2009).
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132. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Hörfunk und Fernsehen
2197
Schütz, Walter J. (2005): Deutsche Tagespresse 2004. In: Media Perspektiven 5, 205⫺232. Schulz, Winfried (1976): Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung. Freiburg/München. Scott, Charles Prestwich (1921): A Hundred Years. In: Manchester Guardian. Manchester/London. Online abrufbar unter: www.guardian.co.uk/commentisfree/2002/nov/29/1 (gesehen am 23. 1. 2009). Spillner, Bernd (Hrsg.) (1995): Sprache: Verstehen und Verständlichkeit. Frankfurt am Main/Wien. Straßner, Erich (1999): Zeitung. 2. Aufl. Tübingen. Vogel, Andreas (2001): Die tägliche Gratispresse. Ein neues Geschäftsmodell für Zeitungen in Europa. In: Media Perspektiven 11, 576⫺584. Weischenberg, Siegfried (2001): Nachrichten-Journalismus. Anleitungen und Qualitäts-Standards für die Medienpraxis. Wiesbaden. Wilke, Jürgen (1984): Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft. Berlin/New York. Wilke, Jürgen (Hrsg.) (2000): Von der Agentur zur Redaktion. Wie Nachrichten gemacht, bewertet und verwendet werden. Köln/Weimar/Wien. Wilke, Jürgen (2002): Pressegeschichte. In: Elisabeth Noelle-Neumann u. a. (Hrsg.): Das Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation. Akt., vollst. überarb. u. erg. Aufl. Frankfurt am Main, 460⫺493.
Thomas Schröder, Innsbruck (Österreich)
132. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Sprache von Hörunk und Fernsehen 1. 2. 3. 4. 5.
Hörfunk und Fernsehen als Kommunikationsformen (Medien) Zur medialen Spezifik von Sprache in Hörfunk und Fernsehen Politisch-institutionelle und sozial-kulturelle Faktoren Gattungen Literatur (in Auswahl)
Abstract Both radio and television are not only considered as social domains, but as very important and successful forms of communication (Kommunikationsformen). These two media structure and modify the use of language and other signs in their products. Their rhetorical success is the result of essential technical, as well as more flexible institutional, and sociocultural features, all of which are of a very dynamic character. At the same time, these features form the basis for the production and reception of radio and television texts, and thus are inherent in various stylistic features of the texts themselves. Then this contribution discusses how these basic characteristics, by means of their dispositive forces, constitute the specific ‘secondary orality’ of radio and television, or the interplay of language with other signs (especially music and images). Moreover, the impact of institutional factors
132. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Hörfunk und Fernsehen
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Schütz, Walter J. (2005): Deutsche Tagespresse 2004. In: Media Perspektiven 5, 205⫺232. Schulz, Winfried (1976): Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung. Freiburg/München. Scott, Charles Prestwich (1921): A Hundred Years. In: Manchester Guardian. Manchester/London. Online abrufbar unter: www.guardian.co.uk/commentisfree/2002/nov/29/1 (gesehen am 23. 1. 2009). Spillner, Bernd (Hrsg.) (1995): Sprache: Verstehen und Verständlichkeit. Frankfurt am Main/Wien. Straßner, Erich (1999): Zeitung. 2. Aufl. Tübingen. Vogel, Andreas (2001): Die tägliche Gratispresse. Ein neues Geschäftsmodell für Zeitungen in Europa. In: Media Perspektiven 11, 576⫺584. Weischenberg, Siegfried (2001): Nachrichten-Journalismus. Anleitungen und Qualitäts-Standards für die Medienpraxis. Wiesbaden. Wilke, Jürgen (1984): Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft. Berlin/New York. Wilke, Jürgen (Hrsg.) (2000): Von der Agentur zur Redaktion. Wie Nachrichten gemacht, bewertet und verwendet werden. Köln/Weimar/Wien. Wilke, Jürgen (2002): Pressegeschichte. In: Elisabeth Noelle-Neumann u. a. (Hrsg.): Das Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation. Akt., vollst. überarb. u. erg. Aufl. Frankfurt am Main, 460⫺493.
Thomas Schröder, Innsbruck (Österreich)
132. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Sprache von Hörunk und Fernsehen 1. 2. 3. 4. 5.
Hörfunk und Fernsehen als Kommunikationsformen (Medien) Zur medialen Spezifik von Sprache in Hörfunk und Fernsehen Politisch-institutionelle und sozial-kulturelle Faktoren Gattungen Literatur (in Auswahl)
Abstract Both radio and television are not only considered as social domains, but as very important and successful forms of communication (Kommunikationsformen). These two media structure and modify the use of language and other signs in their products. Their rhetorical success is the result of essential technical, as well as more flexible institutional, and sociocultural features, all of which are of a very dynamic character. At the same time, these features form the basis for the production and reception of radio and television texts, and thus are inherent in various stylistic features of the texts themselves. Then this contribution discusses how these basic characteristics, by means of their dispositive forces, constitute the specific ‘secondary orality’ of radio and television, or the interplay of language with other signs (especially music and images). Moreover, the impact of institutional factors
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
(mainly in the production) and the impact of socio-cultural factors (mainly in the reception) of radio and television programs is examined. Because of the fundamental “programmatic” flow in both media, which leads to a more holistic way of their perception, the concept of ‘genre’ as a “first order category”, used by researchers and users alike, is a main orientation device for production and reception processes. This, in fact, prompts a short survey of the most important genres used in radio and television.
1.
Hörunk und Fernsehen als Kommunikationsormen (Medien)
1.1. Medientypologische Einordnung Als nach wie vor wichtige moderne Massenmedien sind Hörfunk (oder Radio) und Fernsehen nicht nur weit ausgreifende gesellschaftliche Kommunikations- oder Diskursbereiche mit typischen thematischen und formalen Vertextungskonventionen; sie sind selbst ihrem Sinn nach und dann durch ihre technische, institutionelle und soziale Verankerung vor allem kommunikative Dispositive oder Kommunikationsformen (im Sinn von Ermert 1979, 50 ff.; Brinker 2005, 147 f.; Dürscheid 2005, 5 ff.; Holly 2006a, 62 ff.), deren Potenziale und Beschränkungen den Gebrauch von Sprache und anderen Zeichen in je eigentümlicher Weise prägen und überformen. In diesem dispositiven Rahmen bewegen sich in Radio- und Fernsehtexten auch die rhetorisch-stilistischen Möglichkeiten und Eigenschaften von Sprache, die hier im Einzelnen darzustellen sind. Es soll zunächst näher erläutert werden, wie das Konzept der Kommunikationsform für Hörfunk und Fernsehen entfaltet werden kann (1), dann werden ihre medialen Spezifika beschrieben, und zwar besonders auf zwei Feldern: für die jeweilige „sekundäre Oralität“, die beide ausbilden (2.1), und für die jeweilige Einbettung von Sprache in multikodale bzw. multimodale Bedeutungskomplexe (vor allem im Zusammenspiel mit Musik bzw. Bildern) (2.2). Danach werden für die Verwendung von Sprache die Implikationen von politisch-institutionellen (3.1) und von sozial-kulturellen Faktoren (3.2) skizziert. Obwohl für beide Kommunikationsformen der „Programmfluss“ konstitutiv ist, bleibt die Zuordnung einzelner Sendungen zu Gattungen unverzichtbar, nicht nur und in erster Linie für die wissenschaftliche Beschreibung, sondern zunächst für die Nutzer selbst, gleichermaßen auf der Produktions- und der Rezeptionsseite; deshalb wird abschließend ein kurzer Überblick über die wichtigsten Hörfunk- und Fernseh-Gattungen (4) gegeben. Kommunikationsformen sind zu beschreiben, indem man berücksichtigt, dass sie auf der Basis bestimmter technischer Medien operieren (bei Hörfunk und Fernsehen: Aufnahme-, Sende- und Empfangstechnik), die für die Kommunikation wiederum bestimmte Kanäle oder ,Modes‘ vorsehen und bestimmte Zeichen oder ,Codes‘ zulassen. Außerdem haben sie bestimmte mediale Funktionsweisen, die entweder der Speicherung oder Übermittlung von Zeichen bzw. beidem dienen; aus Letzterem ergeben sich auch verschiedene Zeitstrukturen: Speichermedien operieren in der Regel zeitversetzt, Übermittlungsmedien dagegen zeitgleich. Je nach Zahl der beteiligten Kommunikationspartner kann man 1 : 1Formen, die dialogisch vorgehen (wie Briefe oder Telefon), unterscheiden von 1 : nFormen, die ⫺ z. B. als Massenmedien ⫺ unidirektional oder ausstrahlend sind; möglich sind auch n : n-Formen wie Chats oder Foren. Schließlich kann man Formen, die prototypisch privat genutzt werden (wie Brief oder Telefon), von öffentlichen/institutionellen (wie Massenmedien) unterscheiden. An deren Beispiel zeigt sich, dass es sinnvoll sein
132. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Hörfunk und Fernsehen
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kann, begrifflich die Kommunikationsformen als strukturelle Arrangements bestimmter kommunikativer Potenziale und Beschränkungen von Medien zu unterscheiden (Holly 1997, 65 ff.; Habscheid 2000, 136), damit man den Medienbegriff erstens für die technischen Substrate, zweitens aber für die institutionellen Ausprägungen der komplexeren Formen reservieren kann. Hörfunk und Fernsehen weisen beide eine extreme Asymmetrie von Produktion und Rezeption auf. Einerseits sind sie technisch relativ anspruchsvolle „elektronische Massenmedien“, die sich unidirektional („Einweg“) und ausstrahlend (1 : n) an ein massenhaftes, heterogenes und disperses Publikum richten, wobei einzelne Sender oder Sendungen versuchen, bestimmte Zielgruppen zu adressieren; sie werden deshalb öffentlich bzw. institutionell produziert. Andererseits sind sie ziemlich voraussetzungslos und (in vielen Ländern) preiswert zu rezipieren und werden ganz überwiegend privat genutzt (sieht man von den Nutzungen in öffentlichen Räumen, in Läden, Praxen, Restaurants usw. einmal ab; nicht berücksichtigt ist hier auch die professionelle Nutzung der Radiound Fernsehtechnik in speziellen Berufsfeldern, etwa in der Spionage oder in der Medizin). Ihre Reichweite für zentral zu versendende Botschaften ist deshalb nach wie vor unübertroffen. Sie überschreiten als vorrangige Mittel der medialen Globalisierung (McLuhan 1964, 5) nicht nur physische Grenzen, sondern ⫺ wie Meyrowitz in seinem Buch mit dem bezeichnenden englischen Titel „No sense of place“ (1987, 59 ff.) gezeigt hat ⫺ durch ihre leichte Zugänglichkeit und Verfügbarkeit auch kulturelle und soziale Grenzen. Sie speichern im Zuge ihrer Produktionsprozesse zwar auch Zeichen oder senden von Anderen gespeicherte Zeichen (Konserven), aber sie sind eigentlich Übermittlungsmedien mit einer Programmstruktur, die durch „Segmentierung“ (Ellis 1982, 112) und den „flow of broadcasting“ (Williams 1974, 89 f.) gekennzeichnet ist, als „Kontinuum, das sich durch ein Gitter von Trennungen gliedert“ (Hickethier 1993, 175). Dabei erfolgt die Sendung typischerweise zeitgleich mit der Rezeption, ist also aktuell für „live“-Botschaften zu nutzen ⫺ eine zweite immer noch beachtliche Wirkungsqualität: Es sind Medien „des Jetzt“ (Faulstich 1981, 36, für das Radio), die „eine gemeinsame Gegenwart“ herstellen (Keppler 2006, 39 ff., für das Fernsehen). Ihre Rezeption kann allerdings durch angekoppelte Speichermedien (mit Ton- oder Videoaufzeichnungen) auch zeitversetzt erfolgen. Beide sind ⫺ wenn auch in unterschiedlichen Funktionen ⫺ weitgehend in den Alltag der Rezipienten integriert, so dass Alltagsnähe ein auffälliges Merkmal ihrer Texte geworden ist. Die entscheidende Differenz zwischen beiden Kommunikationsformen liegt ⫺ wie jeder weiß ⫺ in ihrer unterschiedlichen Modalität und dem, was semiotisch und darüber hinaus kulturell aus ihr folgt: Hörfunk ist rein akustisch bzw. auditiv, Fernsehen ist akustisch-optisch bzw. audiovisuell. Entsprechend verarbeitet Hörfunk als Zeichen gesprochene Sprache, Musik und Geräusche, Fernsehen dagegen gesprochene (und auch geschriebene) Sprache, Musik und Geräusche, aber vor allem Bilder, statische Bilder verschiedener Art und natürlich und hauptsächlich bewegte Bilder, fotografische und andere. Nach dieser groben medialen, kommunikationsstrukturellen und semiotischen Einordnung sollen Hörfunk und Fernsehen im Einzelnen kontrastiv charakterisiert werden.
1.2. Hörunk: auditiv, einach, schnell Als ausschließlich auditive Kommunikationsform scheint Hörfunk zunächst beschränkt gegenüber mehrkanaligen Medien-Optionen (wie Tonfilm, Fernsehen, Video). Man kann
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
in der Beschränkung aber auch ein Potenzial für die Intensivierung der Kommunikation sehen, das allerdings nur selten, z. B. in Hörspielen und anspruchsvollen Features, und dann suggestiv genutzt wird (Arnheim 1979, 102; Herrmann 1999, 181 f.; Faulstich 1981, 60; dazu Häusermann 1998, 5), auf jeden Fall aber Vorteile, die Häusermann (1998, 7 ff.) mit den Attributen ,schnell‘ und ,einfach‘ umschreibt. Zwar können auch andere Medien für Aktualität sorgen und sogar ,live‘ übertragen, aber durch die (relative) Einfachheit der Produktion wie der Rezeption behält der Hörfunk auch im Hinblick auf Schnelligkeit einen Vorsprung. Einfach ist der Hörfunk im Hinblick auf seine Mobilität und die kostengünstige Herstellung von Sendungen (ebd., 9 ff.). Einfach ist aber auch die Rezeption, die keiner aufwändigen Apparaturen mehr bedarf, keiner elaborierten Kulturtechniken und eben nur einen Sinn, den Hörsinn, beansprucht, und das nicht einmal exklusiv. So kann Hörfunk heute nahezu überall rasch produziert und problemlos rezipiert werden und die Rezeption kann nebenbei erfolgen, was die Verfügbarkeit des „Begleitmediums“ enorm steigert. Nur so ist zu erklären, dass der Hörfunk ⫺ trotz Fernsehen und Internet ⫺ immer noch hohe Nutzungsraten hat.
1.3. Fernsehen: audiovisuell, perormativ, anschlussähig Mit dem audiovisuellen Modus des Fernsehens scheint endlich die semiotische Fülle der face-to-face-Kommunikation räumlich versetzt und doch zeitgleich technisch verfügbar, darin liegt ⫺ im Kontrast zu Printmedien (zeitversetzt), Hörfunk (nur akustisch) und Kino (zeitversetzt) ⫺ seine unerhörte Attraktivität und anhaltende Faszination, auch wenn es sich im Vergleich zu direkter Kommunikation nur um eine „sekundäre Audiovisualität“ handelt (Holly 2004, 4 ff.). Dennoch kann es durch die Integration dynamischer Zeichenarten (Sprechsprache/Musik und Laufbilder; Holly 2009), welche die beiden wichtigsten Sinne vor allem durch Vielfalt und Bewegung binden (Schmitz 2004, 71), mehr als andere auch im Alltag Aufmerksamkeit erlangen (Ludwig 2005, 177). Es verknüpft umfassend und direkt die private Sphäre der Rezeption mit der öffentlichen Sphäre des gesellschaftlichen Diskurses, den es als Leitmedium immer noch dominiert. Dabei hat es sich in die häusliche Rezeptionssituation immer besser eingepasst, strukturiert vielfach den Alltag, in den es nicht nur in intimer Nähe hineinsendet, sondern den es auch häufig durch stilistische Annäherung an Alltagsformen in seine Produkte aufzunehmen versucht. Zwar zeigt das Fernsehen durchweg inszenierte Kommunikation, aber es versucht meist, diese Inszenierung zu „naturalisieren“, indem es in immer mehr Formaten so erscheint, als ob es uns einfach „dabei sein“ lasse, wenn Kommunikation sich quasi-natürlich vollzieht und zeitgleich performiert wird (Keppler 1994, 7 ff.). Auch durch diesen performativen Gestus, der es vom „narrativen“ Kino unterscheidet, sieht es aus wie ein Spiegel der alltäglichen Verhaltensweisen, in die seine Rezeption eingebettet ist und die den Prozess der Fernsehkommunikation erst vervollständigen: Indem die Zuschauer sich durch Anschlusskommunikation ⫺ und sei sie noch so rudimentär (Baldauf 2002, 39 ff.) ⫺ über die Fernsehtexte verständigen, nutzen sie das reichhaltig angebotene semiotische Material, um sich wechselseitig über die Welt zu orientieren (Klemm 2000, 168 ff.; Holly 2001, 11 ff.). Performativität und Anschlussfähigkeit sind deshalb zu zentralen Merkmalen modernen Fernsehens geworden. Es ist mit seiner fast durchgängigen Unterhaltungsorientierung, die vor allem Kulturkritiker beschäftigt hat (Postman 1985, 89; differenzierter Meyer 2001, 54), der zentrale Ort „populärer Kultur“ (Fiske 1987, 37).
132. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Hörfunk und Fernsehen
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2. Zur medialen Speziik von Sprache in Hörunk und Fernsehen 2.1. Überblick Natürlich gibt es keine eigene Hörfunk- oder Fernsehsprache im Sinne eines Subsystems oder einer klassischen Varietät (Burger 1984, 3; Holly/Püschel 1993, 139), auch wenn Löffler (2005, 80 ff.) von „Mediolekten“ spricht. Gemeint sind zunächst die pragmatischen „Sonderbedingungen“, die oben beschrieben wurden (1). Die stilistischen Merkmale ⫺ in der pragmatisch-kommunikativen wie in der sprachstrukturellen Dimension ⫺ variieren vor allem mit den Textsorten oder Gattungen, die weiter unten (5) skizziert werden sollen. Dennoch lassen sich einige allgemeine textsortenübergreifende Eigenschaften festhalten, die hier zunächst unter zwei Gesichtspunkten thematisiert werden sollen: als radio- und fernsehtypische Formen von Mündlichkeit (,sekundäre Oralitäten‘) und als Aspekte unterschiedlicher Formen von Multikodalität bzw. Multimodalität.
2.2. Radio- und Fernsehmündlichkeit Sprache ist im Radio ausschließlich, im Fernsehen ganz überwiegend ,gesprochene Sprache‘. Hierin liegt der größte Unterschied zu so genannten „Schriftmedien“ (wie Buch, Flugblatt, Zeitung, Brief, E-Mail); die Rückkehr zu Stimme und Oralität in den elektronischen Medien hat die seit Jahrhunderten schriftgeprägte Kultur wesentlich verändert. Es kommen damit gleich zwei performative Merkmalsdimensionen zur Geltung, die Lautsprache von Schriftsprache unterscheiden (Sachs-Hombach 2003, 96): Körperlichkeit und Zeitlichkeit. Lautsprache ist ,körpernah‘ und ,temporär‘, Schriftsprache ,körperunabhängig‘ und ,fixiert‘. Stimme und Klang sind damit für beide Medien konstitutiv. Man kann aber vermuten, dass die Körperlichkeit (Barthes (1990, 270 ff.) spricht von „Rauheit“) und Fluidität bzw. Flüchtigkeit der Stimme wegen der modalen Reduktion im Radio besonders zur Geltung kommt, was zugleich Nutzen und Kosten bringt. Wie eine Stimme den gesprochenen Text gestaltet, ist als wesentlicher grammatischer und auch rhetorisch-stilistischer Bestandteil der Textbedeutung anzusehen. Es werden alle phonetischen und prosodischen Merkmale wichtig (vgl. Häusermann 1998, 60 ff.): Artikulation, temporale Mittel (Längen- und Kürzenverhältnisse, Tempovariationen, Rhythmus), melodische Mittel (Intonation, Tonhöhenverlauf), Akzent, Stimmqualität, Timbre, Stimmgebung, Lautstärke. Als Dimensionen von Stimmqualität und Timbre werden z. B. bei van Leeuwen (1999, 129 ff.) aufgeführt: tense/lax, rough/smooth, breathiness, soft/loud, high/low, vibrato/plain, nasality. Lautliches hat in der Sprache also nicht nur syntaktische und textgliedernde Funktionen, sondern kann weit darüber hinaus vielfältige stilistische Züge tragen wie: Sachlichkeit, Emotionen, Bewertungen, Interaktionsmodalitäten, Beziehungsqualitäten. Deshalb werden professionelle Sprecher einer Sprechausbildung unterzogen, die Atmung, Stimmbildung, Artikulation und stimmliche Textinterpretation zu Instrumenten einer kontrollierten lautlichen Gestaltung machen sollen; zugleich darf oder soll sie sogar Natürlichkeit und Eigentümlichkeit ausstrahlen (Wachtel 1994; Häusermann/Käppeli 1994, 128⫺143). Andererseits gehört zur Performativität von Sprechsprache (nicht nur bei Medienlaien), dass sie als „Spur“ des Leibs
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
immer einen „Überschuß“ enthalten kann, etwas Symptomhaftes, das nicht vollständig kontrollierbar ist und das in der Lage ist, das Gesagte zu verändern und sogar zu „unterminieren“ (vgl. Krämer 2002, 340; 345; 2005, 159 ff.). Die Stimme kann Qualitäten enthalten, die „noch etwas Anderes sagen“, als das, was der Sprecher gemeint haben will, was aber dennoch mitverstanden wird. Diese z. T. sehr persönlichen Merkmale tragen dazu bei, dass der Sprechtext individualisiert wird, er wird einer bestimmten Person zugeordnet und schafft damit auch eine gewisse Beziehung zum Rezipienten (vgl. Häusermann 1998, 60) ⫺ wie überhaupt Mündlichkeit als „Sprache der Nähe“ gilt (Koch/Österreicher 1985) bzw. mit „involvement“ verbunden wird (Chafe 1982). Zugleich muss man aber bedenken, dass die Mündlichkeit der elektronischen Medien nicht mit alltäglicher oder gar präliteraler Mündlichkeit verwechselt werden darf. Es handelt sich vielmehr um eine „sekundäre Oralität“ ⫺ so der Terminus von Ong (1982, 135 ff.) ⫺, die selbst im Fall von spontaner Sprachproduktion auch von Laien allein schon durch ihre technische Verarbeitung und Verbreitung überformt ist. So ist z. B. der Abstand zum Mikrofon und die vermittelte Raumwirkung ein technisch generierter Faktor (Arnheim 2004, 351 ff.), der aber die Performanz der Mündlichkeit auch stilistisch beeinflusst. Vor allem ist professionelle mündliche Performanz (mehr oder weniger) vorbereitet und inszeniert (vgl. Holly 1995, 341 ff.; 1996, 31 ff.). So ist es durchaus nicht selten, dass die zu hörenden Texte vorher geschrieben wurden, nicht nur die Drehbücher der fiktionalen Genres, sondern auch die meisten Moderationen, Kommentare, Interviewfragen, ohnehin alle Berichtstexte, die Filmen unterlegt werden. Das Geschriebene ist im besten Fall im Stil konzeptioneller Mündlichkeit verfasst, die auf akustische Rezeption hin bedacht ist. Wenn solche Texte dann (offen oder verdeckt) von Telepromptern oder Spickzetteln abgelesen bzw. auswendig vorgetragen werden, kommt es vor, dass Produktion und Performanz vollständig voneinander gelöst sind. Die Beteiligungsrollen, wie sie Goffman (1981, 144 ff.) für das „Footing“ in Gesprächen unterschieden hat, können auseinander fallen, so dass man jeweils bei einem zu hörenden (und zu sehenden) Sprecher fragen muss: Ist er nur performierender animator (wie ein Tagesschausprecher) oder auch formulierender author (wie ein Nachrichten-Anchorman) oder sogar verantwortlicher principal (wie ein spontan sprechender Interviewter)? Nicht immer gibt es darauf auch prosodische Hinweise. Unabhängig davon kann der Stil eines Sprechertextes eher gesprochensprachlich sein (prototypisch mit kurzen, einfachen Sätzen, Parataxen, Ellipsen, Anakoluthen, Herausstellungen, Modalpartikeln, Sprechersignalen, Selbstreferenzen, Einstellungsbekundungen, Alltagslexik, Vagheit, direkter Rede, Verzögerungsphänomenen, Selbstkorrekturen) oder geschriebensprachlich (mit Variation und Komplexität, Hypotaxe und kompakten Strukturen, Einbettungen in Nominalgruppen, abstrakten Formulierungen mit Passiv und Nominalisierungen). Manchmal wird der mündliche Charakter fingiert, um besser verständlich zu bleiben (etwa in der Nachrichtenpräsentation durch Anchorpersonen) oder um den Eindruck der Spontaneität zu erwecken, um die lebendige Dynamik gesprochener Performanz im Sinne einer gesteigerten Expressivität und Persuasivität zu nutzen, auch wenn man z. B. als geübter politischer Redner gewohnt und in der Lage ist, „druckreif “ zu sprechen (vgl. Holly 1995, 349 ff.; 1996, 36 f.). Der grundsätzlich mündliche Charakter hat im Lauf der Entwicklung von Radio und Fernsehen eine verstärkte dialogische Orientierung gefördert: sei es zum Rezipienten hin, der in „para-sozialer Interaktion“ (Horton/Wohl 1956, 215) angesprochen wird ⫺ und
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sogar manchmal antwortet, spontan zu Hause (Baldauf 2001, 70 ff.) oder stellvertretend als Studiopublikum bzw. in verschiedenen Beteiligungsformen (Kandidaten, Laien in Diskussionen, Phone-Ins, Telefonabstimmungen); sei es durch gesprächshafte Genres (Interviews, Talkshows, Seifenopern usw.). Beides soll den Einweg-Charakter des Mediums kompensieren helfen und dessen Potenziale und Beschränkungen unsichtbar oder „durchsichtig“ machen, so dass „das durchsichtige Medium in seiner inhaltskonstitutiven Leistung aufgeht, und so die rezeptive Aufmerksamkeit von der Mediation auf das Mediierte verschiebt“ (Jäger 2004, 49). Damit schließen beide Medien optimal an Alltagformen an. Die Mündlichkeit der performativen Inszenierungen ist eine wichtige Brücke zur Anschlusskommunikation, die mediale Texte in den Alltag einpasst.
2.3. Multikodalität und Multimodalität Das zweite wichtige Bestimmungsmerkmal für die rhetorisch-stilistischen Eigenschaften der Sprache von Hörfunk und Fernsehen ist ihre Einbettung in multikodale und multimodale Bedeutungskomplexe. Neben gesprochener Sprache verarbeiten beide Musik und Geräusche, das Fernsehen außerdem geschriebene Sprache, statische und bewegte Bilder. Radio- und Fernsehtexte sind also (wie vielleicht alle Texte, aber eben in besonderer Weise) multikodal (verschiedene Zeichenarten enthaltend) bzw. multimodal (mehrkanalig, verschiedene Sinne ansprechend). Man kann die verschiedenen Zeichenarten und Modalitäten gesondert betrachten, wie im vorigen Abschnitt gesprochene Sprache. Hier sollen andere Zeichenarten aber nur unter dem Aspekt des Zusammenspiels mit gesprochener Sprache thematisiert werden. Für eine theoretische Modellierung dieses Zusammenspiels sei auf den Begriff der ,Transkriptivität‘ verwiesen, den Jäger (2002, 33 f.; 2004a, 72 ff) in gewollt skripturaler Metaphorik entwickelt hat: ,Intermediale‘ Transkriptivität, um die es hier geht, liegt vor, wenn man „mindestens ein zweites mediales Kommunikationssystem zur Kommentierung, Erläuterung, Explikation und Übersetzung (der Semantik) eines ersten Systems heranzieht“ (Jäger 2002, 29), um es „lesbar zu machen“, d. h. seine Bedeutung zu erschließen oder überhaupt erst zu konstitutieren (ebd.). Es wird davon ausgegangen, dass solche Transkriptivität regelhaft wechselseitig ist, so dass die Bedeutungskonstitution in einem Prozess des „Oszillierens“ zwischen „symbolischen Texturen“ erfolgt (Jäger 2004a, 74). Demnach lässt sich der Prozess der multikodalen/ multimodalen Bedeutungskonstitution verstehen als das „mäandernde“ Durchlaufen eines Parcours wechselseitiger Transkriptionen, wobei erst die Transkripte die Bedeutungen der Ausgangsskripte erstellen, gewissermaßen im Nachhinein, ,metaleptisch‘, wie schon das Sprechen selbst ,metaleptisch‘ verfährt (s. Jäger 2007; Linz 2007).
2.3.1. Sprache und Musik, Geräusche Im monomodalen Hörfunk beschränken sich die Transkriptionsmöglichkeiten auf andere ,Töne‘: Musik und/oder Geräusche, wobei die gemeinsame modale Basis („Ton als Grundmaterial“, Häusermann 1998, 57 f.) die Verbindung einerseits enger macht, im Hinblick auf Verarbeitungskapazität („cognitive load“) aber auch begrenzt. Wie nah Sprache und Musik sich kommen können, wird am deutlichsten in der Vokalmusik, im Lied, aber auch schon im rhythmisch gesprochenen Text, dem Gedicht (Barthes 1990,
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275 f.). Bei aller Nähe der Zeichenarten zueinander, die van Leeuwen (1999, 1 ff.) veranlasst, sie in ein gemeinsames Beschreibungssystem zu integrieren, gibt es aber doch erhebliche Unterschiede, die für starke Transkriptivitätseffekte sorgen können. Dies wird schon am Streit darum deutlich, ob Musik nach dem Vorbild der Sprache „als ein semiotisches System“ (Nöth 2000, 433 ff.) angesehen werden kann, mit der „Gefahr, das Musikalische dadurch gerade zu verfehlen“ (Krämer 2005, 160); Zweifel bestehen nicht so sehr daran, dass sie überhaupt Bedeutungen haben kann, eher daran, welcher Art diese Bedeutungen sein können (Nöth 2000, 434 ff.). Häusermann (1998, 56) zählt sie zwar zu den Ausdrucksmitteln des Hörfunks, behandelt sie aber nicht als Zeichenmaterial, sondern erst später im Zusammenhang mit den Sendeformen als Basis für die meisten Programme (ebd., 83 ff.). Hier interessieren nicht die eigenständigen Verwendungen von Musik in Hörfunk und Fernsehen, wo gesprochene Sprache übrigens ,Musik transkribierend‘ vorkommt, im Radio allerdings nur noch „als Ausnahme“ (ebd.); im Zusammenhang mit Sprache kann sie aber auch eine „dienende Funktion“ haben, dann ähnlich wie auch Geräusche: als Rahmen, Gliederung (vor allem Titelmusik, Titelsong und Jingles), Verknüpfung (durch Leitmotive) oder Unterstützung anderer Elemente, vor allem zur emotionalen Steuerung (Schmidt 1982, 108), aber auch beschreibend, etwa zur Imitation von Natur, Erzeugung musikalischer Tableaus, Markierung von Zugehörigkeit zu Nationen, Regionen oder auch Genres (de la Motte/Emons 1980, 115 ff.). Bei den anderen nicht-verbalen akustischen Stilmitteln, den Geräuschen, hat man zwischen ,Atmo‘, also den charakteristischen Geräuschen eines Aufnahmeortes, und ,Effekten‘, also gezielten Einzelgeräuschen, unterschieden. Sie können schon mit knappen Mitteln und in kurzer Dauer Sprachtexte situieren, wobei die trickhaft hergestellten besser funktionieren können als echte (vgl. Häusermann 1998, 66).
2.3.2. Sprache und Bilder, Schrit Im Fernsehen ist die bimodale Verschmelzung von Sprache (plus Musik/Geräuschen) und Bildern textkonstitutiv. Wichtiger als die Frage des Vorrangs ⫺ Theoretiker und Macher geben der Bildkomponente mehr Bedeutung und sprechen von einem „Bildmedium“ oder „Bild-Wort-Medium“ (Straßner 2002, 76) ⫺ ist die Frage, wie das Zusammenspiel im Einzelnen beschrieben werden kann. In der Medienwissenschaft hat sich das Interesse traditionell auf sehr grobe Typen von Sprach-Bild-Beziehungen beschränkt, die sich in einfachen Schemata wie ,On-/Off-Sprechen‘ oder Passungs-Fragen nach Mustern wie ,Potenzierung‘ (gegenseitige Steigerung), ,Modifikation‘ (gegenseitige Einschränkung), ,Parallelität‘ (bloße Verdoppelung) und ,Divergenz‘ (nur metaphorische Zuordnung) (Rauh 2002, 1834 f.) erschöpfen. Für die Nachrichtenberichterstattung des Fernsehens hat man zeitweilig Verständlichkeitshürden in allzu starkem Auseinanderklaffen von Bild und Sprachtext („Text-Bild-Schere“) gesehen (Wember 1976). Überzeugender erscheinen Versuche, Bilder durch die Zuweisung bestimmter pragmatischer Funktionen zu typisieren, was zunächst von Huth (1985, 216 ff.) unternommen wurde (zu anderen Holly 2004, 41 f.). Am Weitesten in der Beschreibung von „Text-Bild-Relationen“ kommt Burger (2005, 389⫺424), der auch Funktionen des Sprachtextes für das Bild behandelt. Die Spezifika der (primären wie der) sekundären Audiovisualität des Fernsehens resultieren vor allem aus den komplementären und ähnlichen Eigenschaften von Sprech-
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sprache und bewegten Bildern. Sie können durch ihre Potenziale und Beschränkungen verschiedene Typen einer transkriptiven Logik plausibilisieren, die auch in den Fernsehtexten konventionalisiert sind. Während gesprochene Sprache als prinzipiell arbiträres System die Kenntnis des Codes voraussetzt, sind Bilder ,wahrnehmungsnah‘ (SachsHombach 2003, 73 ff.). Soweit sie wie Mimik und Gestik oder beliebige Wahrnehmungsgegenstände quasi universal „lesbar“ sind, können sie schon auf der Basis „nicht vorkodierter Zeicheneigenschaften“ (Sachs-Hombach 2003, 98) verstanden werden, was ihr Adressierungspotenzial beträchtlich erhöht, zumindest im Sinne eines rudimentären Verstehens, das allerdings weitergehende kulturelle Kodierungen verpasst. Ähnlich sind sich Sprechsprache und Fernsehbilder als (de facto) temporäre Zeichen, die fluktuieren. Letztere simulieren zumindest Bewegung, so dass beide Zeichenarten miteinander synchronisiert werden können. Entscheidend für das Zusammenspiel ist also ihre gemeinsame zeitliche Dynamik, ihre charakteristische Fluidität, die ganz auf die augenblickliche Wirkung ausgerichtet ist und die ihre Attraktivität und Lebendigkeit ausmacht. Ähnlich sind sich beide auch durch die Tendenz, ihre technische Gemachtheit zu „naturalisieren“. Fernsehbilder können als fotografische Bilder ⫺ trotz aller Inszeniertheit ⫺ als rein indexikalisch entstanden gelesen werden, so dass ihre Medialität transparent wird und sie als bloß dokumentarisch erscheinen. Analog dazu kann auch die sekundäre Qualität der gesprochenen Sprache ausgeblendet werden, so dass der Rezipient sie für spontan hält. Die Parallelen und Differenzen strukturieren ein Feld von Mustern audiovisueller Transkriptivität, das hier an einigen Beispielen veranschaulicht werden soll. In Nachrichtenfilmen weist der Sprechertext nicht selten mit expliziten Mitteln auf etwas hin, was man angeblich auf den Bildern „sieht“ ⫺ offensichtlich aber nicht deutlich genug. Dieses Muster, das man ,Mit Worten sehen‘ nennen kann (s. Holly 2006b) erklärt sich aus der semantischen Fülle und Gedrängtheit von Bildzeichen, die z. B. auch unkontrollierbare Elemente enthalten können (ein ,punctum‘ im Sinne von Barthes 1989, 36). Alle diese Eigenschaften können dazu führen, dass ein Bild nicht (ganz) selbsterklärend ist, so dass Worte ,sagen‘ müssen, was wir dann auch auf dem Bild ,sehen‘. Diesem entsprechen komplementäre Muster, in denen Bilder Referenzobjekte, Aussagen oder Ereignisse, deren Existenz der Sprechertext nur behaupten, aber nicht belegen oder veranschaulichen kann, durch ihren präsentativen Modus ,authentisieren‘ bzw. konkreter und detaillierter ,vorstellbar machen‘. Andere Muster liegen vor, wenn man mit Bildern einen Sprachtext ,autorisiert‘, indem man ihn einem Sprecher (z. B. einem Nachrichtenverleser oder einem prominenten Werbepresenter) unterschiebt, der ihm dann ein persönliches Gesicht verleiht und ihn dadurch mit Seriosität, Sympathie und anderen persuasiv wichtigen Eigenschaften neu und anders lesbar macht. Ähnlich kann man auch die ,adressierende‘ Funktion von Bildern sehen, die (z. B. in der Werbung) auf bestimmte Zielgruppen gerichtet sind; Bilder können den Sprachtext auch mit zusätzlichen nur gezeigten Inhalten ,grundieren‘ oder mit Emotionen ,übermalen‘, wenn der Sprachtext argumentative Unterstützung braucht (dazu Holly 2007). Auch die anderen, eigentlich dauerhaft verfügbaren visuellen Zeichen, also Standbilder, Grafiken und Schrift, werden im Fernsehen dynamisiert, indem sie nur zeitweilig sichtbar sind, besonders anschaulich in Form von schriftlichen „Laufbändern“, aber auch durch Einblendungen, die beide immer stärker verständnissichernd eingesetzt werden (ausführlich Burger 2005, 149⫺161). Auch Fotografien, Zeichnungen und Grafiken
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werden verwendet, oft in Verbindung mit Schrift, z. T. mit ähnlichen Transkriptivitätspotenzialen. Grafiken, auch dynamisiert als Trickfilme, seit einiger Zeit als Computeranimationen, finden sich vor allem in unterstützenden Funktionen.
3. Politisch-institutionelle und sozial-kulturelle Faktoren 3.1. Überblick Wie Sprache in Texten von Radio und Fernsehen rhetorisch-stilistisch gestaltet wird, hängt zu einem nicht geringen Teil damit zusammen, wie die Medieninstitutionen, aus denen diese Texte hervorgehen, politisch-institutionell verfasst sind und wie das sozialkulturelle Umfeld aussieht, für das die Texte produziert werden und von dem sie rezipiert werden.
3.2. Institutionelle Strukturen Hier kann nur pauschal darauf verwiesen und exemplarisch angedeutet werden, dass und wie institutionelle Strukturen Auswirkungen auf die Medienprodukte und damit auch auf deren Sprache haben; Knape (2005, 31) spricht in diesem Zusammenhang von einem „zusätzlichen Widerstandsfaktor neuer Qualität“ für den Kommunikator bzw. Rhetor; sie sind für ihn „ein zentraler Gegenstand des rhetorischen Kalküls“ (ebd., 35). So ist bekannt, dass die Zwänge staatlicher Rundfunksysteme, wie sie in Deutschland während der NS-Zeit und in der DDR bestanden, explizite Zensurmaßnahmen hervorgebracht haben, während sich im früheren öffentlich-rechtlichen System der BRD durch die parteipolitische „Unterwanderung“ der Steuer- und Kontrollgremien eher mehr oder weniger implizite Formen der Zensur etabliert haben, die auf „Ausgewogenheit“ bedacht waren, z. B. in Form einer „Schere im Kopf “. Die Umwandlung zu einem dualen System, das auch privat-kommerziellen Rundfunk erlaubt, hat für alle Anbieter unstreitig zu mehr Orientierung an Einschaltquoten und einer enormen Ausweitung und umfassenden Umstrukturierung des Angebots geführt, hin zu mehr Unterhaltung und leicht konsumierbarer Information (Holly 2008). Viel allgemeiner ist zu bedenken, dass die grundsätzlich institutionelle Struktur der elektronischen Medien kaum irgendwo einen einzelnen personalen Kommunikator vorsieht, sondern immer (mehr oder weniger) ausdifferenzierte Akteursrollen (Autoren, Redakteure, Regisseure, Techniker, Sprecher, Schauspieler u.v.m.), die (mehr oder weniger) kooperativ zusammenwirken.
3.3. Sozial-kulturelles Umeld Wie jeder Kommunikator Situationsfaktoren einbeziehen muss, so sind auch die Texte von Hörfunk und Fernsehen auf das Publikum gerichtet und enthalten ein ⫺ mehr oder weniger erfolgreiches ⫺ „recipient design“. Sie verwenden deshalb rhetorisch-stilistische
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Elemente, die an der spezifischen Rezeptionshaltung bzw. der kulturellen und sozialen Situierung ihres jeweiligen Zielpublikums orientiert sind. Soweit sie sich an ein „breites“ Publikum richten, sind es sehr generelle Züge der ,Intimität‘ bzw. ,Textoffenheit‘ (vgl. Holly 2004, 21 ff.): Einerseits sollen sie die Kluft überbrücken zwischen öffentlicher Sphäre, aus der sie kommen, und privater Sphäre, in die sie in jeweiligen primären Gruppen (Familien, Freunde) hineinwirken müssen; andererseits sollen sie Spielräume schaffen, um diesen unterschiedlichen Rezipientengruppen Optionen der Aneignung und Anschlusskommunikation zu eröffnen. Beide, das Radio viel mehr noch als das Fernsehen, werden häufig „nebenbei“ genutzt, als ,Begleitmedium‘, weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit, aber umso besser in den Alltag eingefügt. Sie gehören damit zur modernen Populärkultur, in der Massenmedien Foren für die Aushandlung und Weiterleitung von symbolischen Realitätsangeboten sind ⫺ im ständigen Austauschprozess mit der sie umgebenden Gesellschaft. Texte in Spartensendern, Spartenkanälen und einzelnen Genres sind dann deutlicher im Hinblick auf spezifische Gruppen adressiert.
4. Gattungen 4.1. Gattungsbegri Rhetorisch-stilistische Eigenschaften in Hörfunk- bzw. Fernsehtexten variieren vor allem mit Textsorten oder ,Gattungen‘ (in manchen Disziplinen spricht man auch von Genres, Präsentations-, Sende- oder Darstellungsformen, mit begrifflichen Nuancen). Die Lehre von Gattungen ist über die Dreistillehre mit der rhetorischen Tradition verbunden, wo die drei Wirkungsarten (docere, delectare, movere) ein Gliederungsschema vorgeben, das sich ⫺ zumindest partiell ⫺ nicht nur in den Programmaufträgen der deutschen Rundfunkanstalten wieder finden lässt (Information, Unterhaltung, Bildung), sondern auch in den Organisationsstrukturen der Sendeanstalten (vgl. Holly 1996a, 244); darüber hinaus findet sich das Dreierschema dann in groben Typologien von Gattungen, die in vielen Varianten vorliegen und meist an der Praxis angelehnt sind (s. auch Burger 2000, 616 ff.; 2005, 205 ff.). Sie alle müssen damit rechnen, dass Gattungen sich nicht einheitlich klassifizieren lassen, weil sie eher nach dem Wittgensteinschen Modell der „Familienähnlichkeiten“ miteinander verbunden sind. Auch daran sieht man, dass Gattungen keineswegs originäre Kategorien wissenschaftlicher Beschreibungen sind, sondern in erster Linie empirische Handlungsschemata, die im Bereich der Produktion ebenso gebraucht werden wie in der Rezeption, die aber kulturell (immer weniger) variieren und ständigem historischen Wandel unterliegen. Rusch (1993, 297 f.) nennt als „dominante Funktionen von Gattungskonzepten“: Identifikation und Klassifikation von Objekten, Orientierung, Selektion, Evaluation, Organisation, Regulation.
4.2. Hörunkgattungen Für den Hörfunk differenziert Fluck (2002, 2080 ff.) nur den journalistischen Bereich (ähnlich Häusermann 1998, 67 ff.; Burger (2005, 240 ff.) beschränkt sich auf Nachrichten und Moderation). Unterhaltungs- und Kultursendungen (Hörspiele, Musiksendungen
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usw.) bleiben unberücksichtigt (zu einzelnen Gattungen und ihrer Geschichte s. Leonhard u. a. 2001, 1460⫺1513; 2002, 2006⫺2071). Fluck unterscheidet einen Informationsund Dokumentationsbereich mit Nachrichten, Berichtsformen, O-Ton, Reportage und Feature von Formen der ,Meinungsäußerungen und Kritik‘ (Interview, Diskussion, Kommentar, Glosse, Rezension); außerdem werden Formatierungs- und Verpackungselemente behandelt (bei Häusermann 1998, 79 ff. sind das Elemente von Präsentation, Moderation und Eigenwerbung). Hinzu kommen Mischformen (Magazine und Journale) und vor allem Servicebeiträge und Werbung (ebd., 82 ff.).
4.3. Fernsehgattungen Das Spektrum von Fernsehgattungen ist viel weiter gespannt. Rusch (1993, 299 ff.) bildet auf der Grundlage von Zuschauer-Klassifikationen 23 „Cluster“ wie ,Talk‘, ,News‘ oder ,Entertainment‘. Hier sollen (wie in Holly 2004, 54 ff.) fünf große Gattungsbereiche unterschieden werden (zu einzelnen Bereichen s. auch Leonhard 2002, 2286⫺2452): (1) Informative Gattungen: Nachrichtensendungen, Politische Magazine und Wirtschaftsmagazine, Dokumentation und Reportage, Kulturmagazine, Wissenschaftssendungen und Ratgebersendungen. (2) Performative Gattungen: Gesprächssendungen/Interviews, Diskussionen, Talkshows, Reality-TV (z. B. Flirtshows, Casting-Shows, Gerichtsshows, Therapieshows), Quizund Gameshows, Kabarett- und Comedysendungen (3) Fiktionale Gattungen: Fernsehspiele, Fernsehfilme (Krimis, Familiengeschichten usw.), Seifenopern, Sitcoms, Kinofilme, Theaterinszenierungen (4) Sparten (nach Themenbereichen und Zielgruppen): Musiksendungen (E-/U-Musik), Videoclips, Sportsendungen, kirchlich-religiöse Sendungen, Bildungsprogramme, Sendungen für Kinder und Jugendliche. (5) Werbung: Werbespots unterschiedlicher Typen, Dauerwerbesendungen. Diese Auflistung einzelner Gattungen soll aber nicht den Blick verstellen für zahlreiche Mischformen (z. B. Dokusoaps), ständige Innovationen und fundamentale Programmstrukturierungen, z. B. in Form fester Sendeplätze und Abläufe, die den „audience flow“ steuern wollen und Kontinuität und Serialität betonen.
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Werner Holly, Chemnitz (Deutschland)
133. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Internets
133. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Sprache des Internets 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Gegenstandsbestimmung Rhetorisch-stilistisch relevante Merkmale der Internet-Technologie Rhetorisch-stilistische Aspekte der Hypertextproduktion Rhetorisch-stilistische Besonderheiten in der internetbasierten Kommunikation Fazit und Forschungsperspektiven Literatur (in Auswahl)
Abstract This article deals with rhetorical and stylistic aspects of internet language, in particular focusing on research on the German language. In Section 1, the language on the internet is characterized as a generic term applied for specific features of internet-based computer-mediated communication, i. e. it is understood like netspeak in the English reference literature. Section 2 investigates the features of internet technology that have an impact both on language and communication and it discusses general requirements for their rhetorical and stylistic analyses. In the following sections, these issues are illustrated with the help of examples taken from two fields of application: Section 3 discusses rhetorical and stylistic aspects that are relating to the design and creation of interactive hypertext applications for the web. In this context, major focus is put (1) on strategies of structuring the content of a website and of making this structure transparent to the users and (2) on strategies and options for designing effective links and linking patterns. Section 4 describes the linguistic features of written language as used both in synchronous (e.g. chat groups, instant messaging) and asynchronous (e.g. e-mail, discussion groups, weblogs) computer-mediated communication. Special attention is devoted to graphematic and stylistic features (like emoticons) and to the relationship between spoken and written language induced by specific speech-like writing modes to be found in internet-based communication.
1. Gegenstandsbestimmung Wenn man die rhetorisch-stilistischen Aspekte der Sprache des Internets untersucht, stellt sich zunächst die Frage, was unter dem Gegenstand Sprache des Internets verstanden werden soll. Aus technischer Perspektive ist das Internet ein Netzwerk von Computern, die über eine bestimmte Familie von Protokollsprachen digitale Daten austauschen (Scheller u. a. 1994, 23 ff.). Maßgeblich beteiligt am Erfolg des Internets war der Hypertextdienst World Wide Web, auch als WWW oder Web bezeichnet, der es den Nutzern ermöglicht, über einen als Browser bezeichneten Softwaretyp Informationen abzurufen und miteinander zu kommunizieren. Aus kommunikativ-sozialer Perspektive entstand dabei ein Informations- und Kommunikationsmedium, in dem sich einerseits traditio-
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nelle Text- und Gesprächsarten in digitalisierter Form wiederfinden, in dem sich andererseits neue Text- und Gesprächsarten mit neuen sprachlichen Gepflogenheiten herausbilden. Die Sprach- und Kommunikationsformen des Internets sind entsprechend vielfältig: Auf der medial schriftlichen Seite reicht die Bandbreite von retrospektiv digitalisierten historischen Sprachdokumenten über digitale Sammlungen literarischer Texte und online publizierte wissenschaftliche Fachtexte bis hin zu neuen schriftlich konstituierten Publikations- und Kommunikationsformen wie Homepages, Sites, Weblogs, Chats und Foren. Auf der medial mündlichen Seite finden sich digitales Radio und Fernsehen und InternetTelefonie; daneben bilden sich auch hier neue Formen heraus, z. B. Audio-Chats oder Tausch- und Publikationsbörsen für selbst hergestellte Video- und Audiodateien. Wenn man den Gegenstand dieses Artikels als Gesamtheit der im Internet zugänglichen Sprachdaten verstehen wollte, dann ließen sich angesichts der vielfältigen Text- und Gesprächsformen schwerlich übergreifende stilistische und rhetorische Aspekte herausarbeiten. Die Bezeichnung Sprache des Internets soll deshalb in diesem Artikel als Etikett für ein Bündel von sprachlichen und kommunikativen Besonderheiten verstanden werden, die sich in den verschiedenen Informations- und Kommunikationsdiensten des Internets beobachten und unter verschiedenen Aspekten beschreiben lassen, wobei in diesem Artikel die rhetorisch-stilistischen Aspekte im Vordergrund stehen. Im Forschungsfeld der computervermittelten Kommunikation (computer-mediated communication, vgl. Herring 1996), das die neuen internetbasierten Kommunikationsformen aus interdisziplinärer Perspektive untersucht, werden diese auch mit Etikettierungen wie Netspeak (Crystal 2001, 17 ff.) oder Websprache (Siever/Schlobinski/Runkehl 2005) bezeichnet. Dabei wird allerdings immer wieder betont, dass die unter diesen Etiketten diskutierten sprachlichen und kommunikativen Merkmale in den verschiedenen Formen internetbasierter Kommunikation in Abhängigkeit von sozialen Rollen, Handlungszielen und den technischen Randbedingungen der jeweils benutzten Software sehr verschieden ausgeprägt sind (z. B. Dürscheid 2004; Schmitz 2004a, 82 f.; Schlobinski 2006, 32 f.). In diesem Artikel werden zunächst drei Charakteristika der Internet-Technologie beschrieben, auf die sich viele Besonderheiten der Sprach- und Textgestaltung im Internet zurückführen lassen (2). Die beiden darauf folgenden Abschnitte geben einen vertiefenden Einblick in rhetorisch-stilistische Aspekte der Hypertextproduktion (3) und einen Überblick über sprachliche Besonderheiten in der internetbasierten Kommunikation (4). Abschließend werden Perspektiven für weitere Forschungen in diesem Anwendungsbereich erörtert (5).
2. Rhetorisch-stilistisch relevante Merkmale der Internet-Technologie Viele Besonderheiten der Sprache des Internets hängen mit den folgenden Charakteristika der Internet-Technologie zusammen: (1) Das Internet unterscheidet sich als digitales Medium von Printmedien durch die fehlende Inskription der Texte auf einem stabilen und greifbaren Trägermedium. Während der für Printmedien typische Publikationsprozess mit der Herstellung der Druckvorlage und deren Vervielfältigung in identischen Kopien einen eindeutig datierbaren Abschluss findet, können digitale Dokumente immer wieder inhaltlich und
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strukturell modifiziert und an neue Anwendungsszenarien oder Nutzerbedürfnisse angepasst werden. Diese Eigenschaft ist die Voraussetzung für neue Textsorten, z. B. personalisierte Web-Seiten, deren Erscheinungsbild an individuelle Einstellungen oder frühere Aktionen eines Nutzers angepasst werden, laufend aktualisierte Nachrichtenticker oder kollaborativ aufgebaute Wiki-Hypertexte (wie z. B. die OnlineEnzyklopädie Wikipedia). Weiterhin können digitale Daten in Sekundenschnelle über weite Entfernungen transportiert werden; dies ist die Basis für internetbasierte Kommunikationsformen wie Chat, Instant Messaging oder Internet-Telefonie. Die Modellierung digitaler Daten auf einem Speichermedium ist grundsätzlich prädifferent gegenüber der Art und Weise, wie die Daten auf einem Anzeigemedium (z. B. dem Computerbildschirm) visualisiert werden. Prädifferent heißt in diesem Zusammenhang, dass für dieselben Dokumente verschiedene Präsentationen erzeugt werden können: Beispielsweise werden viele Seiten im World Wide Web sowohl in einer bildschirmgerechten Fassung als auch in einer Druckversion angeboten. Ein digital transkribiertes Gespräch kann nach unterschiedlichen Transkriptionsstandards visualisiert werden (Schmidt 2005, 256 ff.). In sogenannten adaptiven Hypermedien werden ganze Web-Sites in ihrer Darstellung an die Vorgaben individueller Nutzer oder an die Profile für bestimmte Nutzergruppen angepasst (Hammwöhner 1997, 190 ff.; Brusilowsky 2001). (2) Das World Wide Web ist nach dem Hypertext-Konzept organisiert. Die als Seiten (auch Module, Knoten) bezeichneten Hypertext-Einheiten sind über computerverwaltete Verweise, die Links (auch Verknüpfungen, Kanten genannt), verknüpft. Dabei können nicht nur Textsegmente, sondern auch Bild-, Audio- und Videodateien durch Links verbunden sein. Ein derartiges Ensemble aus unterschiedlichen Medientypen wurde in der frühen Hypertextforschung als Hypermedia (Hypertext ⫹ Multimedia) bezeichnet und damit von rein textbasierten Hypertexten abgesetzt. Da inzwischen alle aktuellen Hypertextsysteme auch Bild-, Ton- und Videoobjekte verwalten können, werden die Ausdrücke Hypertext und Hypermedia inzwischen nahezu synonym verwendet (Nielsen 1995, 3). In Hypertexten gewinnen Texte und Bilder eine neue Funktion: Text- und Graphikobjekte können mit einer Aktion verbunden und durch einen Mausklick des Nutzers aktiviert werden. Typische Aktionen sind der Wechsel auf eine andere Web-Seite, der Aufruf eines E-Mail-Formulars oder der Start einer Suchfunktion. Durch das Aktivieren von Bildschirmobjekten, durch Eingabe von Suchbegriffen und durch andere Steuerungsinstrumente wählen Nutzer ihren individuellen Weg durch das Informationsangebot; diese Rezeptionsform wird in der Hypertextforschung als Browsing (von engl. to browse ⫽ stöbern, vgl. Kuhlen 1991, 126 ff.) bezeichnet; die für den Zugriff auf Web-Sites konzipierte Software nennt man entsprechend Browser. (3) Viele Web-Angebote enthalten Schnittstellen zu Werkzeugen der internetbasierten Kommunikation, z. B. E-Mail, Diskussionsforen, Chats, Instant Messaging, WebLogs, Wikis und virtuelle Spiel- und Kommunikationsumgebungen. In der Literatur zur Sprache des Internets haben dabei insbesondere die schriftbasierten Kommunikationsdienste große Aufmerksamkeit erregt. Durch den schnellen Austausch digitalschriftlicher Beiträge übernimmt medial schriftliche Sprache Funktionen, die bislang eher zur Domäne medialer Mündlichkeit gehörten: Sie dient dem kurzen, unverbindlichen Informationsaustausch und der direkten, dialogisch organisierten Kommunikation. Dabei entstehen neue Ausdrucksformen und Konventionen im Umgang mit
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I Schrift, die an die Anforderungen der dialogisch organisierten Distanzkommunikation angepasst sind. Weiterhin entwickeln sich virtuelle Kommunikationsgemeinschaften mit spezifischen sprachlichen Konventionen und Gepflogenheiten, die unter kommunikativ-stilistischer und soziolinguistischer Perspektive untersucht werden können (Thimm 2000; Schütte 2002; Androutsopoulos 2004).
Es ist sicher unstrittig, dass Medium und Kanal die Optionen für die Planung und Gestaltung sprachlicher Äußerungen beeinflussen und somit stilistisch und rhetorisch relevante Parameter sind (vgl. z. B. Sandig 1986, 268 ff.; Jakobs 1998; Pankow 2000; Sandig 2006, 424 ff.). Wenn ich mich im Folgenden unter rhetorisch-stilistischer Perspektive mit der Sprache des Internets beschäftige, so konzentriere ich mich dabei auf folgende Leitfragen: (1) Inwiefern beeinflussen die oben genannten Charakteristika des Internets die Art der Durchführung sprachlichen Handelns? Welche neuen Wahlmöglichkeiten bei der Handlungsdurchführung gibt es? (2) Welche neuen medienspezifischen Mittel der Sprach- und Textgestaltung bilden sich unter diesen medialen Rahmenbedingungen heraus? Wie lassen sie sich beschreiben und ggf. erklären? Diese Leitfragen werden exemplarisch an zwei Untersuchungsfeldern untersucht: Abschnitt 3 beschäftigt sich mit der Strukturierung und Gestaltung von Hypertexten im World Wide Web. Abschnitt 4 beschreibt neue sprachliche Formen und Konventionen, die sich in der internetbasierten Schriftkommunikation herausbilden, und diskutiert deren Funktionen. Es gibt bislang keine Monographien, die die Sprache des Internets dezidiert unter rhetorischer oder stilistischer Perspektive betrachten. Allerdings sind in der Textstilistik von Sandig 2006 Spezifika internetbasierter Sprach- und Textformen systematisch berücksichtigt worden; die dort beschriebenen Methoden und Kategorien können damit auch für die Analyse digitaler Text- und Gesprächsformen genutzt werden. Die im Folgenden genannten Monographien und Sammelbände beschäftigen sich unter verschiedenen Aspekten mit den sprachlichen Besonderheiten der Sprache des Internets, greifen dabei teilweise auch stilistische und rhetorische Fragestellungen auf und enthalten weiterführende Literaturhinweise zu Einzelaspekten: Runkehl/Schlobinski/Siever 1998; Crystal 2001; Beißwenger/Hoffmann/Storrer 2004; Schmitz 2004; Siever/Schlobinski/Runkehl 2005; Schlobinski 2006; Androutsopoulos u. a. 2006. Weiterhin gibt es in der interdisziplinär angelegten Forschung zur computervermittelten Kommunikation eine wachsende Zahl von Arbeiten, die sich entweder explizit oder implizit mit stilistischen und rhetorischen Aspekten befassen. Hieraus habe ich im Hinblick auf die in den Kapiteln vertieften Aspekte jeweils eine Auswahl getroffen.
3. Rhetorisch-stilistische Aspekte der Hypertextproduktion Wenn im Internet publizierte digitale Dokumente nach dem Hypertext-Konzept organisiert sind, sind alle Seiten durch computerverwaltete Verweise (Links) mit anderen Seiten und Kommunikationsfunktionen verknüpft. Die Idee dabei ist, dass sich in dem dabei entstehenden Netzwerk jeder Nutzer seinen eigenen, auf die aktuelle Kommunikationssi-
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tuation zugeschnittenen Weg suchen kann, indem er die Link- und Kommunikationsangebote aktiviert. Charakteristisch ist die Mehrfachrezeption von Modulen im Zuge des sogenannten Backtracking oder durch den wiederholten Aufruf zentraler Strukturknoten, z. B. von Leitseiten, Portalen oder Suchdiensten (vgl. Bucher 2001, 158 ff.). Auch wenn derartige Rezeptionsprozesse weiterhin in zeitlicher Abfolge verlaufen, ist diese Abfolge bei jedem Nutzer anders und vom Autor einer Web-Seite oder einer als Site bezeichneten funktional und thematisch zusammengehörigen Seitensammlung nicht vorhersehbar. Bei der Konzeption und Planung einer nach dem Hypertextprinzip angelegten Seitensammlung geht es also darum, die darin präsentierten Inhalte so zu strukturieren, dass sie auf unterschiedlichen, vom Nutzer selbst gewählten Pfaden rezipiert werden können. In diesem Zusammenhang entstehen medienspezifische stilistische Handlungsmuster (i. S. von Sandig 2006, 147 ff.), bei denen mehrere Alternativen für die Durchführung stilrelevanter Teilhandlungen zur Wahl stehen. Neue Gestaltungsoptionen ergeben sich einerseits im Hinblick auf die modulare Präsentation der Inhalte, andererseits im Hinblick auf das zentrale Strukturierungsmittel von Hypertexten, den Link. Für die folgenden grundlegenden Strukturierungsschritte bei der Hypertextproduktion werden neue Strategien benötigt: (1) die Zerlegung des Stoffes in kleine, autonom rezipierbare Einheiten (⫽ Modularisierung) und (2) die Verknüpfung der Einheiten durch Hyperlinks (⫽ Linking). Die Strategien für diese beiden Strukturierungsschritte werden auch unter dem Etikett Hypertextrhetorik diskutiert (Whalley 1993; Wichert 1997, Hammwöhner 1997, 36). Dieses Teilkapitel gibt einen Überblick über Vorschläge zum Vorgehen bei der Modularisierung und beim Linking und diskutiert die dabei relevanten Gestaltungsoptionen. Für die Modularisierung bilden die von Blum/Bucher (1998, 25 ff.) für gedruckte Zeitungen entwickelten Prinzipien der thematischen, perspektivische und funktionalen Zerlegung einen guten Ausgangspunkt: Bei der thematischen Zerlegung wird ein komplexes Thema in thematische Teilaspekte untergliedert. Die perspektivische Zerlegung betrachtet dasselbe Thema aus unterschiedlichen Perspektiven. Bei der funktionalen Zerlegung wird dieselbe kommunikative Zielsetzung mit unterschiedlichen Mitteln (z. B. durch den Einsatz unterschiedlicher Textsorten oder verschiedener Medienobjekte) verfolgt. Die Prinzipien schließen sich nicht aus, sondern lassen sich kombinieren: In komplexen Hypertexten wird das übergreifende Thema beispielsweise meist in Teilthemen untergliedert, die dann wieder aus unterschiedlicher Perspektive und mit unterschiedlichen Mitteln diskutiert werden (vgl. Storrer 2004, 218 ff.). Beim Linking werden die bei der Modularisierung gewonnenen modularen Informationseinheiten durch computerverwaltete Verweise (Links) verknüpft. Diese Verknüpfung kann nach verschiedenen Aspekten erfolgen: nach thematischen Gesichtpunkten (z. B. bei Online-Enzyklopädien), nach den Wissensvoraussetzungen der Nutzer (z. B. bei hypermedialen Lernangeboten) oder nach typisierten Handlungsabläufen (z. B. bei Bestellvorgängen). In der Ratgeberliteratur zur Strukturierung und Gestaltung von Web-Seiten finden sich hierzu an Beispiel-Sites erläuterte Leitlinien; (z. B. Farkas/Farkas 2002) und Heijnk 2002. Themenunabhängig und typisch für umfangreiche Seitensammlungen ist die Strategie, einen Gegenstand in verschiedenen Modulen unterschiedlich detailliert zu beschreiben und diese Module nach dem Prinzip der zunehmenden Detailschärfe wieder zu verlinken. Die dabei entstehende hierarchische Schichtung kann beliebig tief sein, ständig ausgebaut und aktualisiert werden und neben eigenen Modulen auch Module anderer Sites durch externe Hyperlinks einbinden. Andere Strategien der Verlinkung ori-
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
entieren sich an dialogischen und argumentativen Strukturen der in den Modulen vermittelten Inhalte, z. B. indem ein Diskussionsbeitrag mit darauf bezogenen Beiträgen anderer Autoren verknüpft wird oder indem die im Modul präsentierten eigenen Inhalte durch externe Links zu thematisch verwandten Dokumenten anderer Autoren ergänzt werden (vgl. Storrer 2001b, 200 ff.). Auch wenn die meisten Hypertextangebote über eine Start- oder Einstiegsseite verfügen, von der aus die in der Hierarchie tiefer liegenden Module erreicht werden können, werden Hypertextmodule oft nicht von der Einstiegsseite her kommend, sondern direkt von einer Suchmaschine aus aufgerufen. Deshalb sollte die Seite so gestaltet sein, dass sie einerseits aus sich heraus verständlich und kohäsiv geschlossen ist, dass aber andererseits die funktionale und thematische Zugehörigkeit zu größeren Einheiten erkennbar bleibt. Unter kohäsiver Geschlossenheit (Kuhlen 1991, 87) versteht man in diesem Zusammenhang, dass die Seite keine Kohäsionsmittel wie anaphorische Pronomina oder Textdeiktika enthält, die über die angezeigte Seite hinausweisen. Die Sicherung von kohäsiver Geschlossenheit ist eigentlich vor allem ein Problem der Hypertextualisierung, d. h. der nachträglichen Aufbereitung von ursprünglich sequenziell organisierten Dokumenten nach dem Hypertext-Prinzip. Wenn Textmodule von Beginn an für die nicht-lineare Organisationsform geschrieben werden, stellt sich dieses Problem im Allgemeinen nicht. Allerdings ist es für die Vermeidung von Orientierungsproblemen wichtig, die Seite erkennbar in den übergreifenden Kontext einzubinden. Von jeder Seite aus sollten deshalb Links zur Startseite des Hypertextangebots führen. Weitere nützliche Hilfen zur Kontextualisierung der Seiten sind standortsensitive Navigationsleisten, die Teilthemen bzw. Rubriken der Site erkennbar anzeigen und die Rubrik markieren, zu der die aktuelle Seite gehört (vgl. Storrer 2001b, 194; Farkas/Farkas 2002, 134 ff.). Der Link, d. h. die computerverwaltete Verknüpfung von Hypertexteinheiten (Text-, Bild-, Ton-, Videoobjekten), ist das wichtigste neue Gestaltungs- und Strukturierungsmittel in Hypertexten. Das Konzept der Links wird häufig über das Konzept des Verweises erläutert, wie es aus gedruckten Nachschlagewerken, z. B. Wörterbüchern, bekannt ist. Tatsächlich haben Links in Hypermedien und Verweise in Printmedien Gemeinsamkeiten: Beide haben einen Ursprung und ein Ziel, an dem weitere Informationen zu den am Ursprung behandelten Inhalten zu finden sind. Beide haben für den Rezipienten Angebotscharakter, d. h., sie können, müssen aber nicht verfolgt werden. Nicht zuletzt können sowohl Verweise als auch Links ins Leere laufen, d. h. auf ein Ziel zeigen, das nicht oder nicht mehr auffindbar ist. Die Analogie sollte aber nicht zwei wichtige Unterschiede zwischen Links und Verweisen verdecken: (1) Man kann sich gedruckte Nachschlagewerke ohne Verweise vorstellen; eine Sammlung von Hypertext-Seiten ohne Links ist nicht benutzbar. (2) Bei Links muss das Linkziel weder selbst erschlossen noch durch Hin- und Herblättern aufgefunden werden; durch einen Mausklick auf den Linkanzeiger kann es schnell zur Anzeige gebracht werden. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ein Link von einem Nutzer, der vor dem Monitor sitzt und diesen mit der Maus in der Hand auf mögliche Absprungstellen erkundet, auch tatsächlich verfolgt wird. Beim Umgang mit Links sind mehrere Aufgaben zu unterscheiden, für die es jeweils unterschiedliche technische und gestalterische Optionen gibt (vgl. Storrer 2001c, 96 ff.): (1) Man kann unterschiedliche Typen von Links unterscheiden und jeden Link explizit einem Linktyp zuordnen (Link-Typisierung). (2) Man muss festlegen, auf welche Weise
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das Zielmodul am Bildschirm sichtbar gemacht wird (Anzeigemodus). (3) Man muss den Nutzern transparent machen, welche der am Bildschirm sichtbaren Objekte als Linkanzeiger fungieren (Link-Kennzeichnung). (4) Man kann dem Nutzer explizite Hinweise darauf geben, wohin der Link führt und zu welchem Zweck er angelegt ist (Link-Explikation). Die Link-Explikation ist vor allem hilfreich in Nutzungssituationen, in denen ein Web-Angebot von einem Nutzer mit einem klar umrissenen Informationsbedarf aufgesucht wird, dem es darum geht, die gesuchten Informationen möglichst rasch zu finden. Besonders empfehlenswert für die Link-Explikation sind Link-Etiketten, die eingeblendet werden, wenn der Nutzer mit der Maus über den Linkanzeiger fährt. Der Autor kann die Etiketten so beschriften, dass sich der Rezipient ein genaues Bild über den Typ der Verweisung und die Art des Linkziels machen kann. Link-Etiketten sind besonders nützlich für sensitive Grafiken und für Übersichtsseiten, in denen viele Links auf einem grafischen Gestaltungskonzept untergebracht werden sollen, das durch lange Textblöcke verunstaltet würde. Wenn Links systematisch typisiert sind, dann kann der entsprechende Linktyp automatisch in einem Etikett eingeblendet und damit zur Link-Explikation genutzt werden. Verschiedene Typen von Links, z. B. interne und externe Links, können auch durch Farben oder typographische Merkmale gekennzeichnet und voneinander unterschieden werden. Weiterhin ist es häufig sinnvoll, für unterschiedliche Linktypen auch verschiedene Anzeigemodi festzulegen. In Bezug auf die in Kuhlen (1991, 16) eingeführte Unterscheidung in ersetzende, eingebettete und parallele Anzeige lassen sich dabei folgende Leitlinien formulieren: (1) Die eingebettete Anzeige bietet sich an für kleine Zusatzinformationen, die dem Rezipienten behilflich sein können, die im aktuellen Aufmerksamkeitsbereich stehende Textpassage besser zu verstehen, also z. B. für Definitionen zu Fachausdrücken, für erklärende und illustrierende Bilder, für Beispiele, die einen Argumentationsverlauf stützen, für Fußnoten und Literaturangaben. (2) Die parallele Anzeige von Linkursprung und Linkziel bietet sich an, wenn der Vergleich zweier Module Verständnis und Erkenntnis fördert; also z. B. Links zwischen Pro- und KontraArgumenten zu einer strittigen Position, Links zwischen Modulen, in denen zwei Objekte miteinander verglichen werden. (3) Bei der ersetzenden Anzeige wird der Linkursprung vollständig durch das Linkziel ersetzt. Diese Option bietet sich an, wenn das Zielmodul relativ groß ist oder wenn der Rezipient das aktuelle Modul für unbestimmte Zeit nicht mehr benötigt. Sie eignen sich für navigatorische Links oder für thematische Links in Linksammlungen, die als eine Art Web-Bibliographie genau dazu gedacht sind, den Rezipienten zu interessanten Dokumenten zu einem Thema zu führen und ihn dort ungestört weiterstöbern zu lassen. Da bei der ersetzenden Anzeige das Ausgangs-Modul verlassen wird, ist die Explikation des Linkziels allerdings besonders wichtig. Die Wahl zwischen den Anzeigemodi hängt auch davon ab, wo der Link im Modul positioniert ist. Wenn ein Linkanzeiger Teil eines fortlaufenden Textes ist, empfiehlt sich die parallele und eingebettete Anzeige des Linkziels. Auf diese Weise können die parallel oder eingebettet angezeigten Informationen gelesen und anschließend wieder weggeklickt werden. Weniger empfehlenswert ist die ersetzende Anzeige bei in den Text integrierten Linkanzeigern, weil dabei das Ausgangsmodul aus dem Wahrnehmungsfeld verschwindet und die Gefahr besteht, dass der Nutzer den Textabschnitt, in den der Linkanzeiger integriert war, nicht zu Ende liest. Wer Wert darauf legt, dass ein Textmodul zu Ende gelesen wird, sollte deshalb seine Linkangebote besser an das Ende des Textmoduls oder an den Seitenrand auslagern oder andere Anzeigemodi wählen. Wichtig ist diese Leitlinie
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beispielsweise für Online-Lernangebote, bei denen der Nutzer die auf einem Modul präsentierte Lerneinheit zur Kenntnis nehmen muss, um überhaupt von weiteren Vertiefungs- und Erkundungsangeboten profitieren zu können.
4. Rhetorisch-stilistische Besonderheiten in der internetbasierten Kommunikation In der internetbasierten Kommunikation wird häufig zwischen synchronen und asynchronen Kommunikationsformen bzw. Diensten unterschieden (z. B. Crystal 2001, 11; Döring 2003, 37 ff.). Synchron meint in diesem Kontext, dass die schriftlichen Botschaften mit sehr kurzem zeitlichen Abstand ausgetauscht werden und die Teilnehmer sich zeitgleich an der Kommunikation beteiligen; zu diesen Formen zählen beispielsweise Chats, Instant Messaging, Online-Spiele und Videokonferenzen. Zu den asynchronen Formen, bei denen die Kommunikationsbeteiligten nicht notwendigerweise zeitgleich am Bildschirm sitzen müssen, gehören beispielsweise E-Mail, Foren, WebLogs (Blogs, vgl. Alphonso/Pahl 2005) und kollaborative Schreibprojekte mit Wiki-Technologie (Möller 2006). Insbesondere E-Mail und Chat sind linguistisch bereits sehr gut untersucht (vgl. die Sammelbände Beißwenger 2001; Ziegler/Dürscheid 2002; Beißwenger/Storrer 2005). In der Literatur zur elektronischen Post wurde schon früh darauf hingewiesen, dass die damit versandten E-Mails in Abhängigkeit vom kommunikativen Setting (Beziehung des Absenders zum/zu den Adressaten; Zweck und Kontext) ein sehr breites Spektrum an Stilen und Ausdrucksformen abdecken (z. B. Janich 1994, 256 f.). Weiterhin zeigt sich, dass die Art der Handlungsdurchführung stark davon beeinflusst ist, welche technischen Funktionen und medialen Komponenten das zur internetbasierten Kommunikation verwendete Werkzeug bereitstellt: Beispielweise gibt es in der als Chat bezeichneten Kommunikationsform neben den schriftbasierten Standard-Chatsystemen, in denen die getippten Beiträge in Form einer Schriftrolle untereinander oder übereinander angezeigt werden, auch Systeme, die Beiträge per Sprechblase einer als Avatar bezeichneten Figur zuordnen (Suler 2001), oder Systeme, in denen Nutzer ihre Beiträge nach dem Prinzip der thematischer Nähe an andere auf dem Bildschirm platzierte Beiträge anschließen können (Harnoncout u. a. 2005. Eine Übersicht über verschiedene Chat-Systeme gibt Beißwenger 2007, 56 ff.). Trotz der großen Vielfalt treten in allen internetbasierten Kommunikationsformen bestimmte sprachliche Besonderheiten gehäuft auf: Wenn in den Medien von der Sprache des Internets die Rede ist, dann stehen genau diese Besonderheiten im Vordergrund. Hierzu gehört das schriftliche Kommunizieren in einem sprachlichen Duktus, den man bislang eher mit dem mündlichen Gespräch verbunden hat (Haase u. a. 1997; Crystal 2001, 28 ff.). Zur linguistischen Beschreibung und Einordnung dieser Besonderheit wird häufig die in Koch/Oesterreicher (1994, 587 ff.) erläuterte terminologische Unterscheidung von medialer und konzeptioneller Mündlichkeit/Schriftlichkeit herangezogen. (1) Mediale Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit bezieht sich auf das Medium, in dem Sprache realisiert wird. Dabei gibt es zwei Optionen: die phonische Realisierung in gesprochener Sprache oder die grafische Realisierung in geschriebener Sprache; es handelt sich demnach um eine dichotomische Unterscheidung.
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(2) Konzeptionelle Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit meint dagegen den sprachlichen Duktus, den man intuitiv mit einem mündlichen Gespräch auf der einen und einem elaborierten Schrifttext, z. B. einer wissenschaftlichen Monographie, auf der anderen Seite in Verbindung bringt. Die Unterscheidung zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und konzeptioneller Schriftlichkeit ist graduell: Ein medial schriftlich verfasster Text kann mehr oder weniger Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit aufweisen, z. B. wird ein Privatbrief im Allgemeinen stärker konzeptionell mündlich verfasst als ein Gesetzestext. Der als ,verschriftete Mündlichkeit oder mündliche Schriftlichkeit“ (Günther/Wyss 1996, 82) beschriebene Duktus in der internetbasierten Kommunikation lässt sich in diesem Rahmen durch Sprachmerkmale konkretisieren, die nach Koch/Oesterreicher (1994) und Sieber (1998, 184 ff.) als typisch für konzeptionelle Mündlichkeit gelten: (1) Eine variationsarme Lexik mit Präferenzen für einfache, kurze, umgangssprachlich markierte oder dialektale Ausdrücke; viele Partikeln und Interjektionen, eine gehäufte Verwendung von Floskeln und sprachlichen Versatzstücken. Zu diesen rechnet man auch die unten beschriebenen Kurz- und Sonderformen (Akronyme, Emotikons, Aktionswörter). (2) Ein parataktischer, reihender Satzbau mit wenig durchkomponierten Sätzen, Satzbaufehlern, unklaren Satzgrenzen und mit typisch sprechsprachlichen Konstruktionen, ein inkonsequenter Gebrauch von Kohäsionsmitteln und Gliederungssignalen, sowie eine assoziative und dialogisch gesteuerte Themenentwicklung. Dialogisch organisiert sind in besonderer Weise die synchronen Formen (Chat, Instant Messaging); aber auch in den asynchronen Formen wird Dialogizität durch spezielle Funktionen zum Zitieren und Kommentieren von Beiträgen unterstützt (vgl. Gruber 1997; Schütte 2004). (3) Eine kommunikative Grundhaltung, die sich an der konzeptionellen Mündlichkeit orientiert, am Setting des alltäglichen Gesprächs von Angesicht zu Angesicht zwischen miteinander vertrauten Gesprächspartnern, die sich in der Sprecher- und Hörerrolle abwechseln. Typisch für dieses Setting sind kurze Planungszeiten bei der Produktion und kurze Verarbeitungszeiten für die Rezeption. Die Äußerungen werden meist spontan gebildet; die Themenentwicklung ist offen, wobei für die Teilnehmer in der Hörerrolle stets die Option der Rückfrage oder des Einspruchs besteht und die Teilnehmer in der Sprecherrolle mit sprachlichen und mimisch-gestischen Mitteln Feedback erhalten. Diese kommunikative Grundhaltung ist vor allem auch für die synchronen Formen charakteristisch (Beißwenger 2000; Storrer 2001a; Hoffmann 2004). Die synchronen internetbasierten Kommunikationsformen sind ⫺ wegen der zeitgleichen Orientiertheit auf den gemeinsamen Kommunikationsverlauf ⫺ tendenziell stärker an der konzeptionellen Mündlichkeit ausgerichtet als die asynchronen Formen. In empirischen Untersuchungen ließen sich die oben genannten Merkmale zwar nachweisen (z. B. Feldweg/Kibiger/Thielen 1995; Runkehl/Schlobinski/Siever 1998, Beißwenger 2000); speziell in den Arbeiten zur E-Mail wurde allerdings schon früh darauf hingewiesen, dass die Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit in den verschiedenen Diensten und Kommunikationsformen des Internets in sehr unterschiedlicher Weise ausgeprägt sind (Janich 1994; Gruber 1997). Auch in der Chat-Kommunikation gibt es wesentliche Unterschiede zwischen moderierten und unmoderierten Chat-Ereignissen (Runkehl/Schlobinski/Siever 1998, 80 f.) und systematische Abhängigkeiten zwischen dem sprachlichen Duktus und
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dem Handlungsbereich, in dem Chat eingesetzt wird (Storrer 2007, 54 ff.). Weiterhin wurde von verschiedenen Seiten darauf hingewiesen, dass viele der in diesem Zusammenhang als typisch netzsprachlich eingeordneten Besonderheiten auch in anderen Medien und in älteren Text- und Kommunikationsformen anzutreffen waren (z. B. Kilian 2001; Elspaß 2002). Die Bewertung der konzeptionellen Mündlichkeit in der internetbasierten Kommunikation sollte deshalb nicht isoliert, sondern vor dem Hintergrund genereller Veränderungen im Stellenwert der Schriftlichkeit erfolgen. Schließlich gilt es als generelle Tendenz der Sprachentwicklung im 20. Jahrhundert, dass sich gesprochene und geschriebene Sprache einander annähern (vgl. Sieber 1998, 192). Die damit einhergehenden Veränderungen im Umgang mit Schriftlichkeit zeigten sich auch in den Analysen des Züricher Sprachqualitätenprojekts, das auf einem Korpus mit Maturaarbeiten aus dem Zeitraum zwischen 1881 und 1991 basiert (vgl. Sieber 1998). Durch welche Faktoren diese Tendenzen beeinflusst werden und inwiefern die vermehrte Nutzung internetbasierter Kommunikationsformen sie verstärken, lässt sich nur schwer nachweisen: Da medialer und nicht-medialer Sprachgebrauch eng miteinander verbunden sind, kann der Sprachgebrauch in einem bestimmten Medium nur in Laborsituationen isoliert untersucht werden (vgl. Schmitz 2004a, 124), deren Ergebnisse für authentische Situationen der Mediennutzung aber nur beschränkt aussagekräftig sind. Dennoch ist es plausibel anzunehmen, dass das Internet entsprechende Entwicklungstendenzen verstärkt, weil es von seiner Übertragungsschnelligkeit und von seinen Werkzeugen her die rasche, dialogisch konzipierte Kommunikation fördert. In den ersten Kommunikationsdiensten des Internets (E-Mail, Usenet, talk und IRC) war der kommunikative Austausch auf die auf der Tastatur erzeugte Schriftlichkeit beschränkt. Unter diesen medialen Randbedingungen haben sich Konventionen und Sprachformen herausgebildet, die in den Medien als typisch netzsprachlich gewertet werden. Auch wenn sich die medialen Bedingungen durch die stetige Erweiterung der Bandbreiten und die Einbindung von internetbasierten Kommunikationsdiensten in das multimediale Web inzwischen stark verändert haben (und weiter verändern), werden die folgenden Sprachformen und Konventionen in der internetbasierten Kommunikation (und inzwischen auch in anderen Medien) weiter verwendet (vgl. z. B. Haase u. a. 1997; Runkehl/Schlobinski/Siever 1998, 53 ff.; Beißwenger 2000, 95 ff.; Günthner/Schmidt 2002): (1) Emotikons (Smileys) gelten als Mittel, um das Fehlen von Mimik zu kompensieren. Ein grundlegender Unterschied zwischen Emotikons und natürlicher Mimik besteht allerdings darin, dass natürliche Mimik nur in begrenztem Ausmaß willentlich kontrollierbar ist, während Emotikons bewusst gesetzt werden und dabei expressive und emotive evaluative Funktionen übernehmen (Runkehl/Schlobinski/Siever 1998, 98 f.). Zunehmend werden inzwischen auch als Graphiken aufbereitete Emotikons in Auswahllisten angeboten, die man als Alternative zu den tastaturschriftlichen Emotikons per Mausklick in den Text einfügen kann. (2) Viele für das Internet typische Kurzformen entstanden in den Anfängen der internetbasierten Kommunikation aus der Motivation heraus, Übertragungszeit (und damit Übertragungskosten) zu sparen. Durch die Erhöhung der Bandbreiten spielt Übertragungszeit inzwischen eine untergeordnete Rolle. Abkürzungen dienen nun vornehmlich dem Zweck, Tippzeit für häufig genutzte Floskeln zu sparen und die Identität der Netzgemeinde zu stärken, d. h. Außenseiter und Einsteiger als solche erkennbar zu machen. Viele der Abkürzungen und Akronyme stammen aus dem Englischen, werden aber auch im deutschsprachigen Internet genutzt, z. B. Akro-
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nyme wie imho (in my humble opinion) oder *lol* (laughing out loud). Typisch sind auch Ausdrücke, die die lautliche Realisierung von Zahlen oder Buchstaben schriftlich fixieren, wie z. B. hab 8 ⫺ oft liegt dabei die englische Aussprache zugrunde (z. B. in cu (see you), 4 you (for you) etc.). Die Freude am spielerischen Umgang mit Sprache zeigt sich auch im sogenannten Soundalike Slang, bei dem Wörter oder Akronyme parodistisch abgewandelt werden (wie die Bezeichnung Windoof für das bei vielen Computerspezialisten unbeliebte Betriebssystem Windows; vgl. Haase u. a. 1997, 72 f.). (3) Aktionswörter sind unflektierte Verbstämme (sogenannte Inflektive, vgl. Schlobinski 2001) oder Akronyme, die zwischen Asterisken gesetzt werden. Ähnlich wie die Emotikons können sie dazu dienen, Gefühle und Einstellungen zum Ausdruck zu bringen, z. B. der Inflektiv *heul* oder das Akronym *fg* (für fat grin bzw. fettes Grinsen). Die Inflektive können durch Komplemente und Supplemente erweitert sein und in komprimierter Form Zustände (*sektflaschebereithalt*) oder Handlungen (*flascheschmeiss*) zum Ausdruck zu bringen; diese Formen sind insbesondere typisch für die interaktive Lesespiele in Chats (vgl. Beißwenger 2001; die beiden Beispiele stammen aus dem Chat-Mitschnitt auf Seite 131). Wenn man sich dezidiert mit dem Zusammenhang zwischen den Bedingungen digitaler Sprachproduktion und -rezeption und den dafür typischen sprachlichen Ausdruckformen beschäftigt, ist es sinnvoll, die Dichotomie synchron ⫺ asynchron zu erweitern und feiner zu differenzieren. Hierfür wurden in der Forschung zur internetbasierten Kommunikation verschiedene Typologisierungen vorgeschlagen (Hoffmann 2004, 104 ff.; Dürscheid 2004, 154 f.; Schlobinski 2006, 34 f.; Beißwenger 2007, 35 ff.). Für die Analyse der sprachlichen Besonderheiten der als synchron bezeichneten medial schriftlichen Formen spielt die Unterscheidung von zeichenweiser und beitragsweiser Übertragung eine wichtige Rolle (Crystal 2001, 151 ff.): (1) Bei der zeichenweisen Übertragung kann die schriftliche Textproduktion vom Kommunikationspartner kontinuierlich und mit sehr geringer Verzögerung nachvollzogen werden. Die zeichenweise Übertragung war charakteristisch für den Unix-Dienst talk, der schon in den 80-er-Jahren zur 1 : 1-Kommunikation genutzt wurde, sowie für Werkzeuge des Instant Messaging (Hoffmann 2004, 104 f.; Dürscheid 2004, 151). (2) Bei der beitragsweisen Übertragung werden schriftliche Beiträge in einem nur dem Produzenten sichtbaren Bildschirmbereich vorgefertigt und erst durch eine explizite Verschickungshandlung an den Server für die anderen Kommunikationspartner sichtbar. Die beitragsweise Übertragung ist charakteristisch für den Internet Relay Chat IRC (Werry 1996) und die meisten schriftbasierten Webchats (Beißwenger 2000). Bei der beitragsweisen Übertragung können die Mechanismen von Sprecherwechsel und Rederechtvergabe, wie sie für mündliche Gespräche beschrieben wurden (z. B. Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997, 468 ff.), nicht in gewohnter Weise funktionieren. Eine wesentliche Voraussetzung für diese Regeln besteht ja gerade darin, dass ⫺ von Überschneidungen an den Übergangspunkten abgesehen ⫺ nur ein Gesprächsteilnehmer redet, während die anderen schweigen und einen geeigneten Moment für die Ergreifung des Rederechts abwarten. Bei Chatwerkzeugen mit beitragsweiser Übertragung kann ein Chat-Teilnehmer aber nicht entscheiden, ob die anderen Kommunikationspartner gerade selbst einen Beitrag verfassen. Zumindest in unmoderierten Chats gibt es deshalb ein Rederecht für alle: Alle Teilnehmer haben das Recht, jederzeit einen Beitrag zu produzieren und abzuschicken. Dies führt zu Verschränkungen und Überkreuzungen verschiede-
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ner Sprachhandlungsmuster und daraus resultierenden Referenzierungs- und Kohärenzproblemen, die in der darauf bezogenen Literatur bereits gut analysiert und beschrieben sind (z. B. Werry 1996; Schönfeldt 2001; Storrer 2001a; Thimm 2001, 267 ff.; Beißwenger 2007). Für die Nutzung synchroner Kommunikation in beruflichen Kontexten wurden deshalb Verfahren entwickelt, die das Rederecht für alle einschränken und die Sprachhandlungskoordination effizienter organisieren, z. B. durch die Nutzung spezialisierter Chat-Werkzeuge (vgl. z. B. Mühlpford/Wessner 2005; Harnoncourt 2005) oder durch die Festlegung von Konventionen zur Regulierung von Rederecht und Sprecherwechsel (vgl. z. B. Storrer 2001a, 14 ff.; Beißwenger 2005; Naumann 2005, 265 ff.).
5. Fazit und Forschungsperspektiven Die neuen Anforderungen, die sich durch die speziellen Merkmale der Internet-Technologie für Rhetorik und Stilistik ergeben, wurden in diesem Artikel exemplarisch am Beispiel der Gestaltung von Hypertexten im World Wide Web und an den sprachlichen Besonderheiten der internetbasierten Kommunikation diskutiert. Dabei sollte deutlich geworden sein, dass die in Abschnitt 2 beschriebenen Merkmale des Internets mediale Rahmenbedingungen schaffen, unter denen sich neue Hypertextsorten herausbilden (Jakobs 2004; Rehm 2006), die in mehrerlei Hinsicht eine Herausforderung für die stilistische und rhetorische Analyse darstellen. (1) Bei der Gestaltung von Hypermedia-Texten für das Web muss man sich bewusst für ein- oder mehrkanalige Informationsvermittlung, für Schrift, Bild, Ton oder Video entscheiden und aus den verschiedenen Elementen ein bildschirmgerechtes Ensemble flechten. Eine semiotische Fundierung des Stilbegriffs, wie sie in Fix (2001) gefordert wird, ist deshalb nicht nur ein Desiderat, sondern eine Notwendigkeit. (2) Dass digital gespeicherte Daten erst auf einem Anzeigemedium visualisiert werden müssen und dass hierbei unterschiedliche Sichten auf dasselbe Datenmodell generiert werden können (vgl. 2), hat auch Konsequenzen für die rhetorisch-stilistische Analyse. Entweder muss sie auf eine bestimmte Visualisierung der digitalen Daten auf einem bestimmten Anzeigemedium und zu einem vorgegebenen Anzeigezeitpunkt bezogen werden oder sie bezieht das Wechselspiel zwischen der Datenmodellierung und den daraus erzeugbaren Visualisierungsvarianten mit ein. Für die stilistisch-rhetorische Analyse dieses Wechselspiels müssen allerdings erst noch Methoden und Kategorien entwickelt werden. (3) Im Web sind Informations- und Kommunikationsfunktionen auf einer einheitlichen Oberfläche miteinander verbunden. Weil digitale Schriftlichkeit in Sekundenschnelle über weite Entfernungen transportiert werden kann, übernimmt sie in diesem Rahmen ⫺ zusätzlich zur Funktion der „Verdauerung von flüchtigem sprachlichen Handeln“ (Ehlich 1994, 19) ⫺ Funktionen, die bislang dem mündlichen Medium vorbehalten waren: beim kurzen, unverbindlichen Informationsaustausch, bei der direkten, dialogisch organisierten Kommunikation. Sie dringt mit dieser Funktionsverschiebung in den Bereich der Alltagskommunikation ein; dabei entstehen neue Kommunikationsformen, die sich nicht ohne weiteres den beiden grundlegenden Kategorien Text vs. Gespräch zuordnen lassen (vgl. Hoffmann 2004; Beißwenger 2007, 113 ff.). Aus diesem Grund müssen in vielen Bereichen Kategorien und Methoden
133. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Internets
2223
aus der Textlinguistik/Textstilistik auf der einen und der Gesprächslinguistik bzw. Gesprächsstilistik auf der anderen Seite kombiniert und auf die neuen medialen Rahmenbedingungen hin zugeschnitten werden. Künftige Untersuchungen in diesem Anwendungsfeld werden zeigen, welche Kategorien und Methoden auf die neuen Text- und Diskursformen im Internet anwendbar und welche implizit auf Printmedien, auf monosequenzierte medial schriftlich fixierte Textsorten bzw. auf das mündliche Gespräch von Angesicht zu Angesicht bezogen sind. Viele Erweiterungen, die im Zusammenhang mit der Analyse der Sprache des Internets diskutiert werden, sind auch für andere Anwendungsbereiche relevant. Dies gilt insbesondere für die intensive Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Sprache und Bild in Textlinguistik und Textstilistik, die nicht nur für die Analyse von Hypertexten (z. B. Schmitz 2004b), sondern auch für andere Medien und Handlungsbereiche unabdingbar ist (vgl. Sandig 2000; Schmitz 2004a, 111 ff.). Auch der als tertiäre Schriftlichkeit bezeichnete Funktionswandel von Schriftsprache (Schmitz 2006) ist zwar für hypertextuelle Informations- und Kommunikationsangebote im Web charakteristisch, aber nicht auf dieses Medium beschränkt (Schmitz 2004a, 113 ff.). Ein Desiderat für die künftige Erforschung der sprachlichen und kommunikativen Besonderheiten, die hier mit dem Ausdruck Sprache des Internets etikettiert wurden, ist der Aufbau von Korpora zu verschiedenen Formen der internetbasierten Kommunikation und zu unterschiedlichen Webgenres. Bislang sind Webgenres und internetbasierte Kommunikationsformen (E-Mails, Foren, Chats, WebSites, Wikis) in den großen online verfügbaren Korpora zum gesprochenen und geschriebenen Deutsch nicht berücksichtigt (vgl. die Übersichten in Storrer 2005; Lemnitzer/Zinsmeister 2006, 113 ff.). Zwar gibt es Korpora, die im Rahmen von Forschungsprojekten aufgebaut wurden. Diese sind jedoch nicht über eine online zugängliche Schnittstelle recherchierbar, auch fehlt es bislang an standardisierten Verfahren zur linguistischen Annotation derartiger Korpora (Beißwenger/Storrer 2007). Der Aufbau solcher Korpora, ergänzt um eine entsprechende Methodologie zur korpusgestützen Stilanalyse, wird dazu beitragen, die Annahmen und Ergebnisse, die bislang an Beispielen oder nicht öffentlich zugänglichen Korpora gewonnen wurden, auf ein solides und überprüfbares empirisches Fundament zu stellen.
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
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Angelika Storrer, Dortmund (Deutschland)
134. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Bildungssprache
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134. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Bildungssprache 1. 2. 3. 4.
Definition, Abgrenzungen Methodenprobleme Die Bildungssprache als Ausbauvarietät Die Bildungssprache als Medium der ausführlichen Behandlung von Themen im Modus der konzeptuellen Schriftlichkeit 5. Die bildungssprachliche Schriftlichkeit als Medium der Präsentation 6. Literatur (in Auswahl)
Abstract Considered from the perspective of “style as an option”, educational language is a speech act system in and by which other topics can be treated, or, topics can be treated differently, i. e. more thoroughly and more extensively than is the case in everyday communication. In more abstract terms: It is a system in and by which a more complex issue can be covered than in everyday language. The system of everyday activities is restructured and expanded in order to extend and deepen the orientation knowledge from which educational knowledge results. Educational knowledge exists where a topic can be implemented as a more complex issue. Method-driven cognition and compilation of linguistic means, by which the more sophistication of the educational language can be coped with, focuses via error linguistic approaches on zones, in which speakers/writers present with insecurity and/or make mistakes, when they treat topics in conceptual writing mode. In these zones, expansion of everyday language to educational language occurs. This expansion essentially refers to the fact that topical units result from simple nomination units, as well as topic words and topic sentences. Thanks to the (self-)organization of encyclopedic knowledge in communication and when reading (as well as when writing), words for sentences, for example, turn from simple (short) utterances into topic words, that allow for the activation of comprehensive scenario knowledge for even more comprehensive explanations. This knowledge is used for the representation of complex situations based upon conceptual and medium-based writing compliant to the corresponding norms.
1. Deinition, Abgrenzungen Bildungssprache ist die Sprache, in der besonderes Wissen auf eine besondere Weise behandelt wird. Besonderes Wissen heißt: Wissen, das über das Alltagswissen hinausgeht ⫺ sowohl was die Herkunft des Wissens betrifft als auch im Hinblick auf die Breite und Tiefe der Verarbeitung. Gegenüber dem Alltagswissen ist es Spezialwissen, das im Zuge einer verlängerten Ausbildung und/oder durch Teilnahme an öffentlichen Diskursen sowie aufgrund vertiefender Interessen und besonderer lebensweltlicher Erfahrungen
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
erworben wird. Die Bildungssprache ist gegenüber der Alltagssprache eine Ausbauvarietät, die zum einen dadurch konstituiert wird, dass die „elementare Typisierungsschicht des Alltagswissens“ (Schütz zit. n. Schütze 2002, 57) in vielen Bereichen erweitert, ausgebaut und/oder überformt wird, zum anderen ⫺ nicht immer, aber manchmal ganz massiv ⫺ dadurch, dass sich die Be- und Verarbeitungsformen sowie die Präsentationsformen von Wissen verändern. Gegenüber dem Fachwissen ist das im Medium der Bildungssprache prozessierte Wissen entweder Fachwissen, das durch Wissenstransfer aus den einzelnen Fächern und sonstigen besonderen Bereichen „in die einheitsstiftenden Alltagsdeutungen“ (Habermas 1981, 346) eingebracht und so zum allgemeinen Orientierungswissen wird, oder es ist fächerübergreifendes und Bereiche aufeinander beziehendes Wissen, z. B. Verfahrenswissen, Wissen darüber, dass sich angesichts von Problemen Fragen stellen, dass Fragen aufgeworfen, untersucht und diskutiert werden, dass Fragen offen bleiben oder einer Lösung zugeführt werden können, dass manche Fragen endgültig geklärt werden können, manche nur vorläufig, dass Beiträge nur einzelne Punkte solcher Fragen oder das Gesamtproblem betreffen. Sowohl die lexikalischen Ausdrücke, die auf die genannten Operationen der Fragen-Behandlung Bezug nehmen, als auch die von ihnen bezeichneten Operationen sind Konstitutiva der Bildungssprache. Der Modus, in dem das besondere Wissen be- und verarbeitet wird und für den besonderes sprachliches und kognitives Können konstitutiv ist, ist vor allem der der ausführlichen Behandlung (vgl. 4) in der konzeptuellen Schriftlichkeit (vgl. Koch/Oesterreicher 1985, 33). Eine Voraussetzung für die Arbeit in diesem Modus ist eine Art geschützter Monologizität, die nicht den „normalen“ turn-taking-Gesetzen des Gesprächs unterworfen ist. Für die Produkte des bildungssprachlichen Handelns gelten die Normen der elaborierten Schriftlichkeit (vgl. Ortner 2006c). Sie heben auf ein Set von Zielen ab: auf die Entbindung des Textes aus der unmittelbaren Kommunikationssituation, auf Textautonomie, Objektivität, Sachverhaltsautonomie, Ausgewogenheit, auf Ich-Distanzierung (nicht zuviel oder nur gut begründete Egozentrik), auf Kompositionalität mit dem Ziel der Schaffung einer guten Gestalt (vgl. Ortner 2000, 45 ff.) und auf Berücksichtigung der Leserperspektive. Es sind dieselben Normen, die für Texte aus dem Funktionsbereich der Mediensprache gelten (Verständlichkeits-, Lesbarkeitsnormen). Sprachsoziologisch kann die Bildungssprache mit dem elaborierten Code gleichgesetzt werden (vgl. Löffler 2005, 93). Ihre „Träger“ sind wie schon in der Antike die Gebildeten (vgl. dazu Bader 1994, 75), präziser: diejenigen, die berufsbedingt oder hobbymäßig immer wieder gezwungen sind, längere Texte im Modus der elaborierten Schriftlichkeit zu verfassen oder zu lesen und im Modus der konzeptuellen Schriftlichkeit Gedanken zu entwickeln oder zu rezipieren. Die Welt der weiterführenden Schulen, zunehmend auch die College-ähnlichen Bakkalaureat-Stufen an den Universitäten, sind Arenen, in denen Heranwachsende sich in bildungssprachliches Handeln einüben. Wird die Bildungssprache nicht korrekt erworben, so markiert sie den Sprecher und wird als Jargon und Imponiersprache soziologisch auffällig (vgl. dazu Ortner 2006a, 5 ff.). Varietätensoziologisch steht die Bildungssprache mit vielen Varietäten in enger Beziehung. Sie hat die traditionelle Literatursprache weitgehend verdrängt, deren ehemalige Träger einer schmalen „Bildungsschicht“ entstammten und „bestimmte intellektuelle Berufe“ hatten: „Schriftsteller, Lehrer, Journalisten, Politiker“ (Löffler 2005, 103). Aus dieser Schicht und aus diesen Berufen stammen auch heute die für die Bildungssprache relevanten Gebrauchsvorbilder. Ihnen zur Seite stehen Experten aus allen Domänen. Ihre Mittel und Verfahren übernimmt die Bildungssprache
134. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Bildungssprache
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vor allem aus der Mediensprache, der Institutionensprache und aus den thematisch enger ausgerichteten Fach- bzw. Wissenschaftssprachen. Die „alltägliche Wissenschaftssprache“ (Ehlich 1999) ist ein Teil der Bildungssprache. Die Literatursprache und die religiöse Sprache sind als Bezugs- und Gebersprachen heute in den Hintergrund getreten. Im schulischen Kontext lebt die Bildungssprache vor allem als Schulsprache. Die Schule ist die wichtigste Institution für den Erwerb der Bildungssprache. In ihr wird die Alltagssprache (Steger 1991) im Zuge der weiterführenden Bildung zur Bildungssprache „veredelt“. So wie die Umgangssprache zwischen Dialekt und Hoch-/Standardsprache vermittelt, so fungiert die Bildungssprache als innersprachliche Verkehrssprache zwischen den Fachsprachen und vor allem für die Schriftlichkeit außerhalb der Fachsphären. Funktionalstilistisch gesehen handelt es sich bei der Bildungssprache um einen bereichsübergreifenden Stil. Der Terminus Bildungssprache wurde 1971 in die Lexikographie und damit in den Wahrnehmungsbereich der Linguistik eingeführt (Duden 1971, IX). In der Sprachgeschichte und in der Sprachsoziologie wird der Begriff „Bildungssprache“ zwar verwendet, aber meist nur in der Bedeutung ,Sprache, die in den Bildungsinstitutionen gebraucht wird‘, etwa wenn gesagt wird, dass Latein bis ins 16. Jahrhundert die Bildungssprache im europäischen bzw. deutschen Sprachraum war (Löffler 2005, 24f.) oder Englisch in Indien oder Nigeria. In der neueren Sprachgeschichtsschreibung wird der Begriff „Bildungssprache“ jedoch auch als Bezeichnung für eine Varietät innerhalb einer Nationalsprache gebraucht (Polenz 1983). Das Phänomen Bildungssprache ist aber schon lange vorher registriert und manchmal sogar speziell benannt worden ⫺ als Büchersprache: „Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unsrer Sprache noch neue Ankömmlinge. Sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe verstehet sie kaum.“ (Mendelsohn 1784, 3). Karl Philip Moritz hat nicht nur die Häufung von Abstrakta als ein Merkmal der Büchersprache erkannt (Moritz 1785, 31), sondern auch deren Sonderstatus als Konstituente der Bücherwelt (Moritz 1786, 107). In der Belletristik wird die Bildungssprache ⫺ avant la lettre ⫺ in vielen literarischen Werken für Sprecherporträts in parodistischer und/oder satirischer Verzerrung benutzt. Am bekanntesten ist die Figurencharakterisierung qua Bildungsjargon in „Kasimir und Karoline“ von Horvath. Horvath bezeichnete mit dem Ausdruck Bildungsjargon ein Gemisch aus hochtrabenden Wörtern, Fremdwörtern, sprachlichen Fertigteilen aller Art, Klischees, Formeln, Alltagsweisheiten und abgesunkenem Bildungsgut (Horvath 1978, 152 ff.; vgl. auch Winston 1980, 25 ff.). Explizit mit dem Terminus Bildungssprache und als Problem der Wissenssoziologie behandelt Max Scheler das Phänomen in zwei Aufsätzen aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts (beide in Scheler 1960). Er sieht in der Entstehung der Bildungssprache eine Folge der Vergemeinschaftungen jenseits von Familie, Verwandtschaft und Alltag (vgl. Scheler 1960, 31 f.). Sie entsteht aus einer engen Bindung an Institutionen und erzeugt spezifische, vom Alltagswissen abgehobene Wissensformen. Auf Scheler beruft sich Habermas (1981) und knüpft an seine Überlegungen an. Von ihm stammt die problemgeschichtlich wichtigste und umfassendste Bestimmung des Phänomens „Bildungssprache“. Nach Habermas ist die Bildungssprache die Verkehrssprache der Öffentlichkeit; sie ist stark an die Schriftlichkeit gebunden und durch einen differenzierten Wortschatz charakterisiert. Sie bezieht Fachliches ein, steht aber für alle offen, „die sich mit den Mitteln der allgemeinen Schulbildung ein Orientierungswissen verschaffen können“ (Habermas 1981, 345).
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
2. Methodenprobleme Methodologisch steht die Erforschung der Bildungssprache teilweise vor denselben Problemen wie die Fach- und Sondersprachenforschung. Es sind Probleme der Konstitution und des „Umfangs“, aber auch des Gegenstands„bildes“. Die Erforschung der Bildungssprache kann sich an den Gegenstandskonzeptionen orientieren, die sich in der Fachund Sondersprachenforschung wissenschaftsgeschichtlich abgelöst haben. Die Erfassung einer Varietät beginnt meist lexikographisch, und zwar mit der Buchung aller besonders auffälligen Ausdrücke. Hinter diesem Zugang steht die Auffassung, dass Varietäten Inventare auffälliger nennlexikalischer Einheiten sind. Diese Art der Erfassung ist im Fall der Bildungssprache in den „großen“ Wörterbüchern durchgeführt worden. Die Markierung „bildungssprachlich“ wird systematisch an jene Einheiten vergeben, „die weder einer besonderen Fachsprache noch der Umgangssprache angehören: [z. B. an die Wörter] analog, kollidieren, Kompetenz“ (Duden 1971, IX). Zur ungefähren Verteilung der Superstandardwörter auf die Subkategorie „bildungssprachlich“ in Duden (1976⫺1981) äußert sich Schumann (1985, 147; 151). Methodisch zielt dieser Ansatz auf die Registrierung von Auffälligkeiten. Allerdings ist unklar, wer was unter welchen Bedingungen als auffällig registriert. Bezugsinstanz für die Feststellung von Auffälligkeiten ist immer das intuitive, metasprachliche Wissen, das den Lexikographen „sagt“, ob eine lexikalische Einheit zur Bildungssprache gehört oder nicht. Erleichtert wurde die Klassifizierung dadurch, dass die auffälligen Ausdrücke mit bildungssprachlichem Mehrwert „in der Regel Fremdwörter“ waren (Duden 1971, IX). Ausgewählte bildungssprachliche Lexeme werden in „Brisante Wörter“ behandelt (Strauß/Haß/Harras 1989). In der jüngeren Fachsprachenforschung ist die Terminologiefixierung programmatisch aufgegeben worden ⫺ zugunsten einer Auffassung von Fachsprache als Handlungssystem zur Bewältigung besonderer Probleme und Aufgaben. Analog dazu muss sich die Erforschung der Bildungssprache auf das konzentrieren, was zusammen mit den auffälligen bildungssprachlichen Wörtern die Totalität des bildungssprachlichen Handelns ausmacht. Pohl (2007) und Steinhoff (2007) haben das ⫺ sich auf Anregungen und die theoretische Vorarbeit von Feilke stützend ⫺ exemplarisch für den besonderen Fall der „alltäglichen Wissenschaftssprache“ durchgeführt. Im Vergleich zur Fachsprachenforschung stellen sich bei der Erforschung der Bildungssprache zwei Probleme, die eng miteinander verbunden sind: erstens das Problem der Themen-, Aufgaben- und Textsortenvielfalt und zweitens das Problem, dass die Bildungssprache nicht an Sphären, Bereiche, Fächer usw. gebunden ist. Die Bildungssprache überschreitet Domänen und bezieht sie aufeinander. Diese Eigenschaft macht die Erfassung des Handlungssystems aufwändiger als im Fall einer Fachsprache. Die Themen, die bildungssprachlich behandelt werden, stammen aus so gut wie allen Kommunikationsbereichen. Als und solange z. B. das Thema „Arsenschlämme“ (umwelt-)politisch relevant war (vgl. Habermas 1981, 345), gehörten alle lexikalischen Ausdrücke, mit denen das Thema im öffentlichen Diskurs entfaltet und aufbereitet wurde, zum Inventar der Bildungssprache. Ein weiteres Problem ist außerdem die Geschichtlichkeit und Kulturabhängigkeit von Bildung. Eine linguistische Beschreibung des bildungssprachlichen Handlungssystems kann angesichts dieser Besonderheiten nicht inhaltlich, sondern muss vor allem formal orientiert sein: auf das besondere Wie der bildungssprachlichen Themenentfaltung gerichtet, auf die Stellen fokussiert, an denen alltagssprachliches in bildungssprachliches Handeln „übergeht“. Diese Stellen zeigen sich am besten beim Erwerb der Bildungssprache, an den Fehlern der Novizen, z. B., wenn Stu-
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dierende von einem Phänomen und seinen ausdifferenzierten Teilen sprechen. Wenn es dabei heißt, das Ganze bestehe aus Stücken, dann ist dieser Ausdrucksfehler ein Indiz dafür, dass der Schreiber die Bildungssprache noch nicht beherrscht. Ebenso wenn eine andere schreibt: Die deutsche Sprache kann unterteilt werden in: ⫺ Fachsprachen ⫺ schichtspezifische Sprachen ⫺ Alltagssprachen (Prüfungsarbeit). Was kann unterteilt werden? Sicher nicht die deutsche Sprache. Die hat sich ausdifferenziert. Hinter dem Vorgang des Unterteilens muss ein Unterteiler stehen … wer sollte das in diesem Fall sein? Die obige Formulierung irritiert bei der Rezeption, normativ gesprochen ist sie fehlerhaft, zumindest stilistisch nicht gut. Diese zugleich lexikalische wie satzsemantische Ungeschicklichkeit ist durch die Wahl des lexikalischen Ausdrucks zustande gekommen und ⫺ gleich ursächlich ⫺ durch die Interpretation der beteiligten Größen, die in den Positionen der syntaktischen Mitspieler auftreten. Das alltagssprachlich sehr dominante satzthematische Programm „Agens ⫺ Objekt“ ist auf den zu versprachlichenden Sachverhalt nicht anwendbar. Ganz gleich, ob die Agensrolle besetzt ist oder nicht. Der Novize muss ein neues Lexem und mit ihm ein neues Aussageprogramm lernen, um sagen zu können, was er sagen will. Das alltagssprachliche satzthematische Programm muss dabei durch ein bildungssprachliches ersetzt werden, das hinter dem Ausdruck differenziert sich aus in steht. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive werden an den Schwierigkeiten problematische Zonen sichtbar, in denen es darum geht, eine alltagssprachliche Handlung durch eine bildungssprachliche zu ersetzen. Die Fehler bzw. Ungeschicklichkeiten der Novizen führen zu den Problemzonen auf allen Ebenen der Äußerung/des Textes. Dieser fehlerlinguistische, an Schwierigkeiten orientierte Ansatz zur Erfassung der Besonderheiten des Handlungssystems Bildungssprache lässt sich methodisch gut absichern. Er sucht nach neuralgischen Punkten und fasst diese als Ausbaustellen auf, an denen Mündlichkeit zur Schriftlichkeit und Alltags- oder Fachsprache zur Bildungssprache weiter entwickelt werden. Er nutzt nicht nur die Fehleranalyse als Erkenntnisquelle, sondern auch Klagen über Fehler, Parodien auf Fehler, metasprachliche Kommentierungen (Selbst- und Fremdkommentierungen), mit denen auf Auffälligkeiten, Besonderheiten, Unfälle reagiert wird. Zu ihnen gehören auch Monita sprachkritischer Provenienz (Glossen, Glossensammlungen), Bewertungen (z. B. in Rezensionen) und Sprecherporträts wie bei Ödön von Horvath. Sie alle können als Indizien für Schwieriges interpretiert werden, als meist unbeabsichtigte, aber symptomatische Hinweise auf besonders markante Eigenschaften der Varietät Bildungssprache. Durch sie kommen die Anschluss- und Nahtstellen zwischen den Polen eines Handlungssystem-Kontinuums in den Blick. Sie zeigen, worin der Ausbau der Ausbauvarietät besteht. Ferner können sie auch als Anzeiger für Entwicklung interpretiert werden, als Entwicklungsstandsymptome bzw. Sprachstandsanzeiger (zu den Schwierigkeiten von Lernenden bei der Vertextung vgl. Ortner 2003 und 2006b).
3. Die Bildungssprache als Ausbauvarietät Die Richtungen des Ausbaus ergeben sich aus den besonderen Aufgaben und dem Modus der Bearbeitung dieser Aufgaben in der konzeptuellen Schriftlichkeit sowie dem Modus
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der Präsentation der Ergebnisse dieser Bearbeitung. Der Zweck der Bildungssprache liegt nicht wie der der Fachsprachen in erster Linie in der Bearbeitung spezifischerer Bereiche, wie sie sich aus der arbeitsteiligen Gesellschaft und den arbeitsteilig bearbeiteten Theoriebereichen in Wissenschaft und Technik ergeben, sondern in der Herstellung einer Verkehrssprache für die Inhalte aus den spezifischen Bereichen. Sprachsystematisch betrachtet besteht die Funktion der Bildungssprache darin, zwischen Fach- und Alltagssprache zu vermitteln: zwischen themenkonstituierenden Sprachen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen an Universitäten und Hochschulen und zwischen den einzelnen Parzellen in den Fächern, zwischen Institutionen und zwischen Medien, zwischen Handwerken und alltäglichem Lebensbereich usw. Im Bereich der kleineren, der „reproduzierbaren“ Einheiten (bis einschließlich der Einheiten der Syntax) gelten für die Bildungssprache die Richtigkeitsnormen der „deutschen Normal- oder Standard-Sprache“ (Löffler 2005, 92). Zur bildungssprachlichen Kompetenz gehört auch Wissen über die häufigsten „Zweifelsfälle der deutschen Sprache“ und eine entwickelte Sensibilität für mögliche Problemfälle (brauchen mit oder ohne zu?) sowie eine funktionierende linguistic awareness in Problemzonen (z. B. Kongruenz in Attributgruppen oder bei mehrgliederigem Subjekt). Außerdem manifestiert sich bildungssprachliche Kompetenz in einem großen Wortschatz, der sowohl rezeptiv wie produktiv genutzt werden kann. Dieser umfasst „nichtfachsprachliche Fremdwörter und charakteristische Redewendungen“ ⫺ Symptome „einer guten schulischen Bildung und Kenntnis klassischen Bildungsgutes“ (Brockhaus-Wahrig 1980⫺1984, 13). Doch es sind nicht nur Fremd- und Lehnwörter, die den Ausbauwortschatz ausmachen ⫺ „Ausbauwortschatz“ hier verstanden als Gegenbegriff zu „Grundwortschatz“. Zu ihm gehören auch viele „heimische“ Lexeme, mit denen die „elementare Typisierungsschicht des Alltagswissens“ überschritten wird: z. B., wenn neben dem Lexem Blume aus dem Grundwortschatz auch die Lexeme Begonie und Schnittpflanze gebraucht werden. Ferner gehören zu ihm die wichtigsten Elemente der literarischen (weiland, Fräulein) und der religiösen Tradition (Barmherzigkeit), auch wenn deren Kenntnis heute stark im Rückgang ist. Zur literarischen Tradition gehören ferner „feste Wendungen und verwandte Konstruktionen wie Sentenzen, geflügelte Worte, Sprichworte“, die „betont ,bildungssprachlich‘ sein können und oft eine deutliche Beziehung zu Gebieten besonderer Geistesbildung erkennen lassen (kulturgeschichtliches Wissen, Sprachenkenntnis, Zitatenschätze)“ (Michel 2002, 797, sich auf Koller beziehend). Wegen der medialen Vermittlung durch eine institutionenspezifische Schriftlichkeit haben manche Wörter die Stilwert-Konnotationen „papierdeutsch“ (entzwei, obgleich, empfangen, vgl. Löffler 2005, 93) oder ⫺ in entsprechenden Kontexten ⫺ „pathetisch“ (Schicksal, Heimat, Vaterland, Zukunft unserer Kinder, vgl. Ortner 1996). Mit der Hauptaufgabe der Bildungssprache, zwischen Wissenschaft bzw. speziellem Sphärenwissen und Alltag zu vermitteln, ist die Übernahme zahlreicher Wortschatzelemente aus special-interest-Bereichen (Surfen, Reiten, Bergsteigen) sowie von Termini aus vielen Fächern verbunden. Aufgrund der Professionalisierungs- und Verwissenschaftlichungstendenzen, die sich auch im Bereich der „Primärsphäre“ (Steger 1991, 75) auswirken, kommt es in etlichen Bereichen der „alltäglichen Lebensbewältigung“ (Adamzik/Rolf 1998, 590) zu fachsprachlichen Übernahmen. Mit den Termini wird auch die Sprache übernommen, die den Text zwischen den Termini konstituiert. Im Fachsprachenbereich ist dies die „wissenschaftliche Alltagssprache oder die alltägliche Wissenschaftssprache“ (Ehlich 1993, 33), bestehend aus der Menge der sprachlichen Mittel, „derer sich die meisten Wissenschaften gleich oder ähnlich bedienen“ (Ehlich 1993, 33), wozu z. B. Ausdrücke wie eine Erkennt-
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nis setzt sich durch, eine Frage drängt sich auf gehören (zu den Bereichen, in denen „Fachsprache in Alltagstexte eindringt“ vgl. Adamzik/Rolf 1998; Ortner 2002, 287 ff.). Im Zuge der Verfachlichung und Verwissenschaftlichung können, den Tendenzen einzelner Fächer folgend, ganze Gruppen nennlexikalischer Einheiten ausgetauscht werden. So haben sich z. B. viele Zentralbegriffe im „Psycho“-Diskurs in den letzten hundert Jahren mehrfach abgelöst (z. B. Kraft ⫺ Vermögen ⫺ Anlage ⫺ Begabung ⫺ Kompetenz). Zu den lexikalischen Einheiten der Bildungssprache gehören neben Einzelwörtern wie Funktion, Virtuose und ihren Partnern in Wortbildungen und Kollokationen viele Phraseologismen: ein Urteil ausfertigen (nicht: verfertigen), einen Text verfertigen (aber nicht ausfertigen), ein rechtes Verständnis für etwas haben (nicht ein richtiges Verständnis für etwas haben), Lehrgeld zahlen (nicht bezahlen) (vgl. Feilke 1993; 1998). Solche „idiomatischen Prägungen“ (Feilke 1998, 69 ff.) bilden als themenbehandlungstypische und verfahrenskonstitutive Einheiten ein besonderes Problemfeld, auf dem es zu häufig zu falschen Kollokationen kommt, z. B. eine Frage zwängt sich auf statt: drängt sich auf (zit. n. Steinhoff, in einem Fachgespräch), einen Gliederungspunkt definieren (Prüfungsarbeit). Die Bildungssprache ist nicht nur ein Benennungs-, sondern vor allem ein Themenentfaltungsmodus (vgl. 4), in dem Schul- und Orientierungswissen entwickelt, d. h. bearbeitet und dargestellt wird. Um in diesem Modus arbeiten zu können, benötigt ein Schreiber umfangreiches Szenario- und Frame-Wissen, aber auch lexikalische Ausdrücke, mit denen textsortenspezifische Operationen vollzogen werden, z. B. wenn unterschiedliche Teile einer Argumentation moderierend aufeinander bezogen werden. Dazu bedarf es der Ausdrücke argumentieren, einer Argumentation folgen, ein Argument übernehmen/aufgreifen/zurückweisen, Argumente abwägen, ein Argument kritisch prüfen, das Resümee aus einer Argumentation festhalten usw. Sie sind die tragenden Konstitutiva eines Verfahrens, das in Textsorten wie Stellungnahme, Erörterung (Schule), Essay (Presse-, Buchwelt) und Seminar, wissenschaftliche akademische Arbeit (Universität) häufig angewandt wird. In welchen Zonen der Ausbau der gesprochenen Alltagssprache zur Bildungs- und geschriebenen Sprache erfolgt, wird an den Fehlern erkennbar. Die Fehler zeigen an, was im Lauf der Ausbildung an sprachlich Neuem hinzukommt. Auf der morphologischen Ebene sind dies: Formunsicherheiten, die die Wortgestalt (auch deren Schreibung) betreffen (konzidieren, Individium), Unsicherheiten in der Wortbildung (Stellungsnahme) und vor allem der Phraseologie (letzte Hände an etwas legen, die geforderte Seitenanzahl erfüllen), Unsicherheiten im Bereich der Kasus-, Genus-, Numerus-, Tempus- und Modusbildung (dem Student, der Butter, die Praktikas), Verstümmelung und Verwechslung von Namen (Hero und Oleander) usw. Das fehlende Bedeutungswissen manifestiert sich in semantischen Fehlern aller Art wie z. B. in Die retardierende, verzögerte Einleitung steigt allmählich in nuancierter und hochsensibler Chronologie empor zum Höhepunkt (aus der Erstfassung einer Dissertation; es geht um einen Briefverkehr, der nicht immer gleich intensiv war). Nur manche dieser Fehler erklären sich als Interferenzen aus nicht-standardsprachlichen Varietäten oder einer Zweit-, Dritt- usw. -Sprache (heuer in Österreich statt dieses Jahr; kontakten statt kontaktieren). Viele sind genuine Lernfehler. Auf der Ebene von Wortschatz und Syntax orientiert sich die Bildungssprache an den grammatischen (und stilistischen) Zielnormen der geschriebenen Standardsprache. Zum Streben nach grammatischer Korrektheit, das sich z. B. bei der Satzabgrenzung und in der Einhaltung der Verbstellungsregeln manifestiert, kommt der Ausbau: Nutzung des Spektrums von temporalen und modalen Möglichkeiten, Ausbau von einfachen zu komplexen Attributen, Nutzung von besonderen syntaktischen Möglichkeiten: erweiterte Infinitiv- und Partizi-
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pialgruppen, umfangreiche Nominalphrasen, Apposition, Ellipse, Herausstellung, Hypotaxe (vgl. Löffler 2005, 93). Mit der Fachsprache gemeinsam hat die Bildungssprache die Tendenz zum Nominalstil, mit dem sich einerseits eine hohe propositionale Dichte der Texte erzielen lässt, der andererseits aber auch leicht zu einem Worte-Sprechen „auf Kosten des Sätze-Sprechens (entsprechend dem bloßen Wortdenken der Halbgebildeten)“ (v. Polenz 1978, 172) verführt. Nur gute Schreiber erreichen besondere Stilwerte durch den Wechsel von langen, mittleren und kurzen Sätzen oder eine Satz- und Textgestaltung nach Gesichtspunkten einer „Syntax für die Augen“ (Giesecke 1990), z. B. durch die Verwendung von Spiegelstrichen bei Aufzählungen, durch den Einsatz von Zwischenüberschriften. Wegen des gegenüber „normalen“ Äußerungen viel größeren Umfangs des Geschriebenen gibt es größere Vertextungsprobleme. Sie wirken sich seltener innerhalb eines Satzes aus, häufig dagegen zwischen Einzelsätzen oder zwischen größeren Textteilen. Im Bereich der Einzelsatzsyntax zeigen sich Schwierigkeiten bei der Einbettung von thematischen Rollen; fehlerhafte oder fehlende Einbettung manifestiert sich in „unerlaubten“ Metonymien (vgl. Ortner 1990): *Deutsch lässt sich in verschiedene Sprachlandschaften aufteilen. [statt: das Gebiet, in dem Deutsch gesprochen wird ]; *Teilgebiete der deutschen Sprachnorm: Stil ⫺ Stilnormen, Verhältnis Schreiber ⫺ Leser, Knappheit ⫺ Kürze statt Teilgebiete der Forschung zur deutschen Sprachnorm/der Diskussion über …
4. Die Bildungssprache als Medium der ausührlichen Behandlung von Themen im Modus der konzeptuellen Schritlichkeit Die Bildungssprache ist ein Medium, das es einerseits ermöglicht, bestimmte nicht alltagssprachlich zu behandelnde Themen anzusprechen und auszuführen, andererseits sowohl nicht-alltagssprachliche wie alltagssprachliche Themen anders auszuführen, als das in der (im Wesentlichen mündlichen) Alltagskommunikation und in der Kommunikation der Nähe der Fall ist. Was für die Distanzkommunikation im Medium der Bildungssprache und im Modus der konzeptionellen Schriftlichkeit ausgehend von thematisierungsfähigen Begriffen geschaffen wird, sind komplexe Sachverhalte, die durch die Besonderheit ihres Themas oder durch die Art ihrer Ausführung zum Ausdruck von Bildung werden. Über Bildung verfügen bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Themen aus dem Bereich des Alltags- und des Orientierungswissens auf der Basis vertiefter und erweiterter Wissensbestände entfaltet werden können ⫺ auf einem meist von den Normen der konzeptuellen Schriftlichkeit bestimmten Niveau. Bei manchen Themen ist nur die Ausführlichkeit der Behandlung das bildungssprachlich Besondere. Sie basiert auf einer Detaillierungspraxis, bei der Teilthemen abgehandelt werden, die in der Alltagskommunikation normalerweise nicht zur Sprache kommen. Größere Ausführlichkeit heißt: Entfaltung von Teilthemen. Die Basis dieser Entfaltung sind die Szenario- und Frame-Schemata von Sprechern der Bildungssprache. Diese Teilthemen machen zusammen mit der Menge aller einschlägigen Prädikate und der Menge aller diese Teilthemen entfaltenden Verfahren die Frames und Szenarios der Bildungssprache aus. Sie konstituieren gleichzeitig das Bildungswissen, das mit sprachlichen Einheiten aktivierbar, abrufbar und organisierbar ist. Es entsteht aus der in der Kommunikation und bei allen anderen Formen der Informationsaufnahme sich vollziehenden (Selbst-)Organisation des enzyklopädischen Wissens. Am Beispiel dessen, was jemand wissen muss, der den Begriff „Zoll zahlen“ verste-
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hen will, hat Aebli rekonstruiert, wie der Auf- und Ausbau von Wissen und wie die (Selbst-)Organisation des Wissens auf der Basis der sprachlichen Begriffe und Propositionen vor sich geht (Aebli 1981, 95⫺113; 195⫺213). Die Überlegungen Aeblis lassen sich weiterdenken. Von ihnen ausgehend kann gezeigt werden, dass die Beherrschung der Bildungssprache nicht vor allem in der Kenntnis seltener Wörter (Quisquilien) besteht, sondern im vertieften Wissen hinter allen gebrauchten Wörtern. Sprachentwicklungspsychologisch wird beim Erwerb des Bildungswissens hinter „Zoll zahlen“ die isolierte Ereignisbenennung („Zoll zahlen“) zu einem umfangreichen Szenariobegriff weiterentwickelt ⫺ wodurch die Basis für längere Äußerungen und Texte entsteht. Ohne weiterentwickeltes Wissen hinter den Begriffen können diese ⫺ wie oft in der Alltagssprache ⫺ nur in Kurzäußerungen (meist Sätzen und kurzen Satzverbänden) gebraucht werden. Das Szenario ist eine Form der Vernetzung von Begriffen. Durch die Selbstorganisation von Wissen in Frames und Szenarios werden Denk- und Aussagefelder eröffnet, Wissensbestände werden prozessierbar. Ein entwickelter Szenariobegriff wird in vielen Schritten aus den Informationen ausgebaut, die den Lernenden „unterkommen“. Zur (Selbst-)Organisation des Wissens kommt es durch die Bearbeitung dieser Informationen, wobei es zu Mitnahmen von Sachverhaltsinformation, Einbettungen, Neben- und Überordnungen kommt (zur Organisation von Teilthemen im Wissen vgl. Ortner 2007a; Ortner 2007b). Wichtig ist, so Aebli, vor allem die Mitnahme: Von den zwei, drei, vier Wissenselementen, die auf einer Stufe explizit mit einander in Beziehung gesetzt werden (z. B. „in einem Land wird von einem Produzenten eine Ware hergestellt“), tritt auf der nächsten Stufe und beim nächsten Schritt nur mehr ein Repräsentant auf. Wenn dann gesagt wird, die Ware werde „in ein anderes Land eingeführt“, dann steckt in dieser Aussage diverse mitgenommene Information: dass die Ware von jemandem hergestellt worden ist, dass diese Ware irgendwo hergestellt worden ist, dass diese Ware ein Auto oder sonst ein Gut sein kann, dass die Ware von jemandem in das andere Land eingeführt wird, dass sie dafür transportiert werden muss usw. All dieses Wissen kristallisiert im Themenwort Ware, das Teil eines Wissensnetzes ist. Das Wissen und das Wissensnetz werden vom Themenwort repräsentiert. Die Menge der vernetzten Einheiten und die Art der Vernetzung bestimmen, wie viel Komplexität ein Nutzer bearbeiten und ansprechen sowie im Auge behalten kann. In einem gut strukturierten Netz, d. h., in einem Netz mit vielen Begriffsknoten (zumindest allen relevanten!) und vielen prozedural (für Propositionen) nutzbaren Beziehungen zwischen den Knoten lassen sich jeder Knoten und jede Beziehung zum Thema einer ausführlichen Behandlung machen. Jedes Wort, jeder lexikalische Ausdruck, der auf einen Knoten Bezug nimmt, kann zum Themawort werden und jede realisierte Proposition zum Themensatz. Von ihnen aus wird die für das Thema relevante Information im Netz gesucht. Der Themaknoten, der Themasatz werden zur Spitze einer Hierarchie organisierten Wissens auf der Basis von untergeordnetem Netzknoten, die in Propositionen aufeinander bezogen werden. Je größer das Netz, je solider und zahlreicher die Arten der Herleitung von prozeduralem Wissen aus dem Netz sind, umso größer ist die Bildung. Sogar der Knoten „Scherereien“ ist in diesem Netz mit dem Knoten „Zoll“ verbunden. Sonst wäre der Aphorismus von Karl Kraus nicht zu verstehen: „Gedanken sind zollfrei, aber man hat doch Scherereien.“ (zit. n. Standard 17. 2003. 2007, A7). Von allen Informationen zum Thema „Zoll“ (und zu verwandten Themen) werden im Gedächtnis Protokolle angelegt. Weil das Gedächtnis auf kleine Einheiten als Reproduktionseinheiten spezialisiert ist, werden vor allem die Elemente bewahrt: die Objektund die Relationsbegriffe, nicht aber deren besondere Makro-Organisation auf einen
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speziellen Zweck hin, z. B. auf die Erklärung von „Was heißt Zoll zahlen?“. Gespeichert werden die Bestandteile, inklusive des Wissens, wie diese nötigenfalls re-organisiert, d. h. in eine neue Äußerung, einen neuen Text eingebettet werden können. Eine Reorganisation ist z. B. dann notwendig, wenn das Thema nicht „Zoll zahlen“ heißt, sondern „Waren exportieren“. (In einem solchen Fall wäre das Thema „Zoll zahlen“ höchstens ein Nebenthema.) Die Fähigkeit zur thematischen Reorganisation ist ein wesentlicher Bestandteil von Bildung, zu der vor allem die Fähigkeit zur Isolierung und Neukombination von Inhalten gehört. Der Ausbau des sprachlichen Wissens stützt sich vor allem auf bildungssprachliche Wörter/Ausdrücke: Importeur, Ware (statt alltagssprachlich: Sache), proportional zu. Die Quintessenz des Ausbaus besteht aber in der Hinzunahme, Isolierung und Organisation von Inhalten sowie in deren sprachlicher Entfaltung als möglichen Teilthemen. Die Wörter verschaffen einen je nach kommunikativem Bedarf regulierten ⫺ detaillierenden oder kondensierenden ⫺ Zugriff auf besondere Wissensbestände nicht nur zwecks Schaffung komplexer, sondern auch analoger Sachverhalte. Wer den Vorgang Zoll zahlen versteht, erkennt eines Tages ⫺ auch das eine Folge der prozeduralen Herleitung ⫺, dass Maut, Gebühren und Steuern ⫺ bei uns ⫺ etwas Ähnliches wie Zölle sind: Formen der Verhaltenssteuerung, -lenkung und der Einnahmenerschließung und der Wertabschöpfung, dass Staaten legitim Zoll einheben, die Mafia dagegen Schutzgelder erpresst und „abkassiert“, dass nicht nur für Waren, sondern auch für Leistungen zollartige Abgaben zu zahlen sind, dass das Zolleinheben im Mittelalter und lange Zeit danach nicht gesetzlich geregelt war (vgl. die Kohlhaas-Geschichte von Kleist) usw. Per analogiam, einer wichtigen Form der Herleitung, wird auf diese Weise das Bildungswissen erweitert.
5. Die bildungssprachliche Schritlichkeit als Medium der Präsentation Selbst wenn die Präsentation mündlich vorgenommen wird, sollten sich die Sprecher an den Zielnormen der Standardsprache orientieren. „Von Bildung ist wohl zu erwarten, daß sie das Ungeschliffene der regionalen Sprache zu milderen Sitten gewöhnt.“ (Adorno 1977, 42). Diese normative Erwartung steht hinter der Sprachverwendungskritik, die sich gegen eine zu stark dialektal geprägte Aussprache wendet. Nicht gelingende standardsprachliche Aussprache wird häufig als Inkompetenzsignal interpretiert, z. B. von Adorno (Adorno 1977, 39 ff.). In vielen Dialektgebieten verlangen Schul- und Prüfungsordnungen sowie die offizielle und meist auch die halboffizielle mediale Mündlichkeit die phonematisch-prosodische Annäherung an die Zielnorm „Hoch-“ oder „Schriftdeutsch“, was bis zur Forderung „Sprich, wie du schreibst!“ geht. Wird die Präsentation schriftlich vorgenommen, so gelten für die bildungssprachlichen Texte die Normen der konzeptuellen wie der medialen Schriftlichkeit. Die Angemessenheitsnormen, die im Wesentlichen die „höheren“ Textqualitäten regeln, betreffen einzelne Faktoren einer Kommunikationskonstellation: die Schreiberin, die Leserin, die Leserperspektive, den Text, die (dominante) Illokution des Textes, den dargestellten (komplexen) Sachverhalt, die Ausgewogenheit der Darstellung, den Abstraktionsgrad, die Themendetaillierung und die thematische Zentrierung bei der Isolierung und Verbindung von Inhalten. Genau genommen sind die meisten dieser Normen nicht auf einzelne Faktoren zentriert, sondern
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auf Faktorengruppen; sie betreffen also z. B. das Verhältnis zwischen Text, Sachverhalt und Leserin. Einzelnormen und Normenkomplexe werden vor allem in der Kritik an missglückten Produkten sichtbar, wenn Eigenschaften konkreter Texte beurteilt werden und etwa moniert wird, dass ein Text nicht leserfreundlich geschrieben ist („[…] weil Weigel […] entschlossen mit dem Rücken zum Leser schreibt […]“, Baumgart in Zeit 33/ 1999, 42). Rezensionen aller Art sind das Material, aus dem man die für eine Epoche geltenden Normenkataloge rekonstruieren kann. Sie zeigen auch, dass Schreiber immer wieder zwischen tendenziell widersprüchlichen Normen abwägen müssen, um einen Text zu schaffen. Auch wenn in Kritiken nur Einzelfälle thematisiert werden, die die geltenden Ideale nicht erreicht haben, kann aus der Summe der Einzelfälle und vor allem ex negativo rekonstruiert werden, in welchem Normengeflecht sich ein Schreiber zurechtfinden muss, um z. B. Forderungen in Ausschreibungen für Journalisten zu erfüllen, in denen eine „gepflegte Sprache“ und ein „guter Stil“ gefordert wird (Standard 6.,7./3,2004/3). Die Schwierigkeiten lassen sich vier Großbereichen zuordnen: dem Beziehungsfeld zwischen Autorin und Text, zwischen Text und Rezpientin, zwischen Text und Sachverhalt, Text und Sprache sowie zwischen Text und Textelementen. Diese Dimensionen sind wegen der Entpragmatisierung des Kommunikats und wegen des im Allgemeinen komplexen Sachverhalts, der dargestellt werden muss, mögliche Problemzonen. Die Schriftlichkeit verlangt wegen der Entpragmatisierung des Textes in der Situation eine explizitere Semantisierung des Sprecherinnenanliegens bei gleichzeitiger Zurücknahme des Schreiber-Ichs im Text. Im Gespräch ergibt sich die Einheit und Ganzheitlichkeit des Redebeitrags eines Sprechers aus dem schnellen Vollzug, aus der Gerichtetheit des Beitrags auf den anwesenden Partner und aus der Kürze der Ausführungen, vor allem aber auch aus dem direkten Bezug des Gesagten zum Sprecher. Dieser Bezug kann z. B. im Gespräch ausreichen. Wenn man den Sprecher versteht, muss man das Gesagte nicht unbedingt (ganz) verstehen, vieles wird nicht ausführlich dargestellt. In der Schriftlichkeit dagegen muss im Text alles enthalten und semantisiert sein, was es zu verstehen gibt. In der elaborierten Schriftlichkeit sollen nicht nur die Person und ihr Anliegen verstanden werden, sondern vor allem auch der ins Zentrum rückende Sachverhalt ⫺ unabhängig von der schreibenden Person und ihrem Anliegen. „Der vermeintlich ,objektive‘ reine DARSTELLUNGS-Stil (im Sinne Bühlers) ist traditionelle bildungssprachliche Gewohnheit. Dazu gehört auch die Vermeidung von ,ich‘-Referenz, wobei das gelegentlich ersatzweise verwendete wir oft unklar oder irreführend ist. Hierzu gehört auch die Vermeidung des expliziten Ausdrucks von Sprecherhandlungen, Sprechereinstellungen und Partnerbeziehungen.“ (Polenz 1989, 299). Ein Beispiel für die vollkommen missglückte Präsentation der Sprecherintention ist eine Rede des ehemaligen Präsidenten des Bundestages, Philipp Jenninger, in der er sein Anliegen nicht so formulieren konnte, dass es für die Rezipienten klar erkennbar war (vgl. Polenz 1989, 289 ff.). In der Mündlichkeit bestehen Anliegen und Aufgabe darin, einen kurzen Beitrag zu einer Interaktion zu leisten. Illokution und propositionaler Teil mit dem einfachen Sachverhalt spielen aufs Engste miteinander zusammen und sind stark miteinander verflochten. In der Schriftlichkeit dagegen hat die „propositionale Dimension des sprachlichen Handelns ein Übergewicht gegenüber der illokutiven“ (Ehlich 1994, 26). Die propositionale Gestaltung wird oft vollkommen autonom gegenüber der Textillokution. In Langtexten wird sie zur Hauptsache: Die Komplexität des komplexen Sachverhalts wird zur schwierigsten Herausforderung. Die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte zu bewältigen, ist eng an die Entwicklung, die Bildung und an die konzeptionelle Schriftlichkeit gebunden. Deren Textualitätskonventionen spezifi-
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zieren ⫺ als Normen ⫺ die Kriterien, die regeln, welches Wissen wie und in welchem Ausmaß für die Darstellung eines komplexen Sachverhalts heranzuziehen ist, wie das herangezogene Wissen zu gestalten, zu entfalten und zu präsentieren ist und welche Normen bei der Gestaltung zu beachten sind (zur Lockerung der strengen Normen im Modus des Parlandos vgl. Sieber 1998). Durch Gestaltung werden einfache zu komplexen Sachverhalten (wenn die entsprechende Wissensbasis vorhanden ist). Gestaltung heißt Integration des durch Addition Hinzugenommenen. Komplexe Sachverhalte werden, wie immer sie medial auch präsentiert werden, in der textuellen Bearbeitung zu Konstrukten, mit der Tendenz zur Autonomie gegenüber dem Produzenten, gegenüber dem Rezipienten, gegenüber dem Wissen der beiden und gegenüber dem Wortlaut seiner Präsentation. Eine Schreiberin hat den Konstruktcharakter dann begriffen und die Gestaltungskompetenz dann erworben, wenn sie begreift, dass bestimmte Informationen aus Gründen der Sachverhaltslogik gegeben werden müssen ⫺ unabhängig von ihrem Mitteilungsbedürfnis, von ihrem Ermüdungsgrad usw., wenn sie z. B. begreift, was einen Bericht zu einem Bericht (nicht zu einer Erzählung) und was ihn vollständig macht oder ⫺ später ⫺ was zu einer wissenschaftliche Arbeit gehört (und was nicht). Komplexe Sachverhalte im Modus der Schriftlichkeit sind nicht nur umfangreicher, sondern auch autonomer und ⫺ insgesamt ⫺ gestaltschärfer, weil an der Zielgröße „guter, zumindest akzeptabler Text“ orientiert. Aufgrund der Autonomie kann sich ein Spannungsfeld zwischen Sachverhalt und Text und zwischen Text und Sprache aufbauen, in dem gute Lösungen im Modus der Bildungssprache und der Schriftlichkeit gefunden werden können.
6. Literatur (in Auswahl) Adamzik, Kirsten/Eckard Rolf (1998): Fachsprachliche Phänomene in Gebrauchstexten. In: Lothar Hoffmann/Hartwig Kalverkämper/Herbert-Ernst Wiegand (Hrsg.) (1998): Fachsprachen/Languages for special purposes. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. 1. Halbband/Volume 1. Berlin/New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 14. 1), 588⫺594. Adorno, Theodor W. (1977): Philosophie und Lehrer. In: Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959⫺1969. Hrsg. v. Gerd Kadelbach. Frankfurt a. M. (suhrkamp taschenbuch, 11), 29⫺49. Aebli, Hans (1981): Denken: das Ordnen des Tuns. Bd. II: Denkprozesse. Stuttgart. Bader, Eugen (1994): Rede-Rhetorik, Schreib-Rhetorik, Konversationsrhetorik. Eine historisch-systematische Analyse. Tübingen (ScriptOralia, 69). Brockhaus-Wahrig (1980⫺1984): Deutsches Wörterbuch in sechs Bänden. Hrsg. v. Gerhard Wahrig, Hildegard Krämer, Harald Zimmermann. Wiesbaden/Stuttgart. Duden (1971): Stilwörterbuch der deutschen Sprache. Die Verwendung der Wörter im Satz. 6., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage. Mannheim/Wien/Zürich (Der Große Duden, 2). Duden (1976⫺1981): Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden. Mannheim/ Wien/Zürich. Duden (1989): Deutsches Universalwörterbuch. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Mannheim/ Wien/Zürich. Ehlich, Konrad (1993): Deutsch als fremde Wissenschaftssprache. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 19, 13⫺42.
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
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Hanspeter Ortner, Innsbruck (Österreich)
135. Sprache in Naturwissenschaften und Technik
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135. Sprache in Naturwissenschaten und Technik 1. Einleitung 2. Methodologisch-methodische Grundlagen der Analyse rhetorisch-stilistischer Eigenschaften von natur- und technikwissenschaftlichen Fachsprachen 3. Wechselbeziehungen zwischen Fachdenken, Fachgegenstand, Fachsprache und Fachstil 4. Strategien des Fachdenkens und des Transfers rhetorisch-stilistischer Mittel in der Fachkommunikation von Natur- und Technikwissenschaften 5. Die interdisziplinäre Analyse rhetorisch-stilistischer Mittel in der Fachkommunikation von Natur- und Technikwissenschaften 6. Literatur (in Auswahl)
Abstract Interdisciplinary research on rhetoric and style in scientific and technical texts has clearly pointed to the fact that the expressiveness of LSP texts is closely linked to sophisticated cognitive processes which require further in-depth analyses. This article discusses some methodological approaches used to describe the complex nature of scientific and technical texts. It closely examines the interrelationship between scientific thought, subject, language and professional style, in particular focusing on the complex strategies applied by researchers in specialist communication. The multi-dimensional character of LSP texts requires a communicative-cognitive model in order to describe style in LSP communication. This will also expand the cognitive dimension of LSP rhetoric and stylistics in general.
1. Einleitung Die kommunikativ-kognitive Komplexität der Fachkommunikation hat es erforderlich gemacht, dass die rhetorisch-stilistischen Eigenschaften der Fachsprachen im Bereich der Natur- und Technikwissenschaften aus einer methodologisch und methodisch komplexen Erkenntnisperspektive beschrieben werden (Baumann 2001a). Eine solche ganzheitliche Analyse geht dabei von folgenden linguistischen und nichtlinguistischen Erkenntniskomplexen aus: (1) die Struktur- und Funktionsvielfalt der rhetorisch-stilistischen Mittel in den Fachtexten der Natur- und Technikwissenschaften (Hoffmann 1976; Lauren/Nordman 1996), (2) die Einheit von kognitiver und kommunikativer Tätigkeit in den natur- bzw. technikwissenschaftlichen Wissenschaftsdisziplinen (Roelcke 1999; Baumann/Kalverkämper 2004), (3) die Dialektik zwischen dem erkennenden und kommunizierenden Subjekt bzw. den fachspezifischen Sachverhalten und Prozessen der objektiven Realität (Baumann 1992), (4) die Differenziertheit von Strategien der Versprachlichung unterschiedlicher Inhalte natur- und technikwissenschaftlicher Disziplinen (Mastronardi 2001),
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
(5) der Zusammenhang zwischen der Erkenntnisdynamik im Fach und der Verwendung rhetorischer bzw. stilistischer Mittel in der Fachkommunikation (Pörksen 1994), (6) die intra- und interlingual fundierte Abgrenzung rhetorischer bzw. stilistischer Merkmale in natur- und technikwissenschaftlichen Kommunikationsbereichen sowie in unterschiedlichen sozialen Konstellationen des Fachwissenstransfers (Baumann/Kalverkämper 1992), (7) der Einfluss von Kultur auf den Gebrauch rhetorischer und stilistischer Elemente in der natur- und technikwissenschaftlichen Fachkommunikation (Clyne 1996), (8) die Relation zwischen dem Verstehen der natur- und technikwissenschaftlichen Fachkommunikation und den Optimierungsverfahren der Informationsübermittlung (Antos/Augst 1992). Das in diesen Komplexen angelegte Erkenntnispotential eröffnet neuartige Näherungswege zur umfassenden Darstellung der Determinationsmechanismen rhetorisch-stilistischer Mittel in den Fachsprachen der Natur- und Technikwissenschaften (Gloy 1996).
2. Methodologisch-methodische Grundlagen der Analyse rhetorisch-stilistischer Eigenschaten von natur- und technikwissenschatlichen Fachsprachen Die interdisziplinäre Fachsprachenforschung hat in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass es zahlreiche Berührungen und Überschneidungen ihres Gegenstandsbereichs mit dem der Rhetorik und Stilistik gibt. Bekanntlich hat sich die Rhetorik über zweieinhalbtausend Jahre hinweg als Kunst der wirkungsvollen Rede mit einem flexiblen System von gründlich reflektierten Regeln erwiesen, das auf den Bereich der Fachkommunikation nutzbringend übertragen werden kann (Kopperschmidt 1990; 1991). Neuropsychologisch und neurophysiologisch fundierte fachsprachliche Analysen haben die Wirkung rhetorischer Elemente zweifelsfrei bestätigt, die darin besteht, dass sich bei den Rezipienten solche emotionalen Qualitäten ausprägen, welche die individuelle Wahrnehmung und Verarbeitung sowie das Speichern und Behalten von fachlichen Informationen optimieren (Jahr 2000; Fries 2000; Otto/ Euler/Mandl 2000). Dabei berühren sich die Gegenstandsbereiche der Fachsprachenforschung und der Rhetorik vor allem dort, wo die strukturellen und funktionalen Wirkungsmechanismen eines erfolgreichen Fachinformationstransfers untersucht werden sollen. In diesem Zusammenhang wird von folgenden als gesichert geltenden methodologisch-methodischen Grundpositionen ausgegangen: (1) Mündliche und schriftliche Fachtexte gehören zum primären Analysebereich beider Disziplinen (Serebrennikov 1975). (2) Das Konzept der kommunikativen (Rede-)Situation ist in fachsprachlichen und rhetorischen Analysen von grundlegender Bedeutung, weil es darauf gerichtet ist, die vielfältige Determiniertheit der kommunikativen Situation durch historische, soziale, kulturelle u. a. Einflüsse aufzuzeigen (Baumann 1992, 171 f.).
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(3) Die Fachtextproduktion ist das Resultat eines mehrstufigen Vertextungsprozesses, bei dem die Rhetorik fünf (Inventio, Dispositio, Elocutio, Memoria, Actio) (Barthes 1990, 35 f.) und die Fachsprachenforschung vier Phasen der Textproduktion unterscheiden (Orientierungs-, Planungs-, Formulierungs- und Kontrollphase) (Schmidt 1981, 232 f.), die einander im Wesentlichen entsprechen. (4) Beide Disziplinen gehen übereinstimmend davon aus, dass Auswahl und Verwendung rhetorischer Figuren und Schemata primär von der kommunikativen Funktion des Fachtextes bestimmt werden (Spillner 1974; Breuer 1990, 91 f.). (5) Qualitative und quantitative Aspekte des Gebrauchs rhetorischer Elemente werden als ein Differenzierungskriterium von Fachtextsorten angesehen (Göttert 1994, 17 f.; Plett 2000, 45 f.). (6) Zwischen dem Fachlichkeitsniveau eines Textes und der qualitativ-quantitativen Ausprägung rhetorischer Mittel (Rhetorizität) besteht ein Wechselverhältnis, dessen umfassende Betrachtung beide Disziplinen miteinander in Verbindung bringt (Baumann 1994, 114 f.; Plett 2000, 247 f.). (7) Die Verwendung rhetorischer Elemente in Fachtexten eröffnet einen vielversprechenden Zugang zur Analyse von Fachdenkstrategien (vgl. Metaphernforschung) (Draaisma 1999; Feng 2003; Richardt 2005). Aus wissenschaftshistorischer Sicht hat die Stilistik von der Antike bis zum Zeitalter der Aufklärung im 18. Jahrhundert zum Gegenstandsbereich der Rhetorik gehört. Eine in der Aufklärung einsetzende konzeptionelle Emanzipation der Stilistik von der Rhetorik ist mit der Konzentration auf die Betrachtung der Textkonstituierungsphase elocutio (Elokutionsstilistik) einhergegangen. Für die Analyse der Fachtexte erlangen somit die Ansätze der Stilistik eine grundlegende methodologisch-methodische Bedeutung (Göttert/Jungen 2004). Insbesondere in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich die Fachsprachenforschung darauf konzentriert, die Besonderheiten der Fachkommunikation vornehmlich aus dem Blickwinkel der Funktionalstilistik zu bestimmen (Riesel/Schendels 1975). Die auf den Prager und Moskauer Linguistenkreis zurückgehenden Konzepte funktionaler Stiltypen können für sich das wissenschaftliche Verdienst beanspruchen, die funktional differenzierte Verwendung stilistisch relevanter Mittel in bestimmten Kommunikationssituationen und -bereichen, thematischen Fachwissenskontexten bzw. Konstellationen von Kommunikationspartnern stärker in den Vordergrund der Stilistik gerückt zu haben (Galperin 1977; Fleischer/Michel 1979). Dabei treffen sich Fachsprachenforschung und Funktionalstilistik in dem Bemühen, die charakteristische Manifestation von Fachsprache in Fachtextsorten als Ergebnis eines vielschichtigen Zusammenwirkens strukturell-funktionaler Elemente und Relationen darzustellen. Insbesondere im Bereich unterschiedlicher Einzelwissenschaften mit der Vielzahl der dort vorkommenden Fachtextsorten haben beide Disziplinen einen beachtlichen Beitrag zur Klassifizierung von Fachstilen bzw. Fachtextsortenstilen geleistet (Lerchner 1986; Baumann 1992; Fix/Habscheid/Klein 2001). Indem die Fachsprachenforschung, Rhetorik, Stilistik, Kognitions- und Kulturwissenschaften die stilistischen Merkmale der Fachkommunikation zunehmend interdisziplinär analysieren, eröffnen sich weitreichende Erkenntnisperspektiven, die sowohl die Dialektik von Inhalt und Form bzw. Subjekt und Objekt auf der Ebene des Fachtextes als
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auch die wechselseitigen Beziehungen zwischen (kulturspezifischem) Fachstil ⫺ Fachdenkstil ⫺ Fachtextsortenstil und Emotionalität betreffen (Kalverkämper/Baumann 1996; Baumann 2001b).
3. Wechselbeziehungen zwischen Fachdenken, Fachgegenstand, Fachsprache und Fachstil In empirischen Analysen von Fachtexten aus unterschiedlichen Einzelwissenschaften und -sprachen bzw. fachlichen Handlungszusammenhängen konnte nachgewiesen werden, dass die Betrachtung des dialektischen Verhältnisses von Fachsprache und Fachdenken wesentlich dazu beitragen kann, die umfassenden Leistungen der Sprache als Instrument des Denkens differenzierter zu bestimmen (Baumann 1992, 139 f.; Haken/Haken-Krell 1997; Zimmer 1999). Die Analyse der rhetorisch-stilistischen Mittel der Fachkommunikation ordnet sich aus methodologischer Sicht in diesen vielschichtigen Untersuchungskomplex ein, der ein gewaltiges Erkenntnispotential in sich birgt, das u. a. die Prozesse der sprachlichen Exteriorisierung und Interiorisierung fachwissenschaftlicher Kenntnisse sowie die damit verbundenen Strategien des Sprach- und Wissenstransfers betrifft (Baumann 2001b). Dabei stellt sich unter wissenschaftsstrategischen Gesichtspunkten die Frage nach dem konkreten Stellenwert, den der jeweilige fachliche Gegenstand bzw. Gegenstandsbereich im Hinblick auf das Fachdenken, die Fachsprache und den Fachstil (die objektbezogene Verwendung rhetorisch-stilistischer Mittel) besitzt (Leont’ev 1987, 98). Bereits in der Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat Kolschanski in ersten Studien, die sich mit der sprachlichen Realisierung von Einheiten des Denkens auseinandersetzen, hervorgehoben, „dass jeder Text letztlich durch das Objekt und durch die das Denotat des sprachlichen Fragments widerspiegelnden Denk- und Sprechoperationen strukturiert ist“ (Kolschanski 1985, 80). Aus dem Blickwinkel fremdsprachenmethodisch orientierter Untersuchungen zur Vermittlung naturwissenschaftlich-technischer Fachsprachen sind Buhlmann und Fearns zeitgleich zu weit reichenden Erkenntnissen gelangt, die das komplexe Verhältnis von Fachgegenstand, Fachdenken, Fachsprache und Fachstil betreffen. Hierzu führen sie aus: „Damit ist die Fachsprache als Kommunikationsmittel ein Ergebnis der Sozialisation innerhalb einer bestimmten Disziplin […] Als solches ist sie dadurch gekennzeichnet, dass sie bestimmte Denkstrukturen widerspiegelt, die durch das Erkenntnis- bzw. Forschungsinteresse des Faches bestimmt sind“ (Buhlmann/Fearns 2000, 12 f.). Schließlich kommen sie zu der Einsicht: „Fachsprache ist also gebunden an ⫺ die Denkelemente des Faches, die in den Termini bestehen, ⫺ die Denkstrukturen des Faches, ⫺ die Mitteilungsstrukturen, die im Fach üblich sind“ (Buhlmann/Fearns 2000, 13). Auf den großen forschungsstrategischen Stellenwert der Wechselbeziehungen zwischen Fachgegenstand und Fachdenken weisen auch wissenschaftsgeschichtliche bzw. wissenschaftsphilosophische Darstellungen hin. Allerdings werden dabei die komplexen Beziehungen, die zwischen dem Fachdenken und dem Fachgegenstand einerseits und der Fachsprache bzw. dem Fachstil andererseits bestehen, nahezu vollständig ausgespart (Grmek 1996; Breuer 2001; Pauen/Roth 2001; Kromrey 2002). Folglich besteht eine der großen Herausforderungen der gegenwärtigen Fachsprachenforschung, Rhetorik, Stilistik, Fachtextlinguistik und Kognitionswissenschaft darin, die kommunikativ-kognitiven Aspekte der Stilkonstituierung beim Fachwissenstransfer herauszuarbeiten.
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4. Strategien des Fachdenkens und des Transers rhetorischstilistischer Mittel in der Fachkommunikation von Natur- und Technikwissenschaten Die Kategorie des Fachdenkens nimmt seit der Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine wissenschaftsstrategisch zentrale Position in der interdisziplinären Fachsprachenforschung ein (Baumann 1992, 144 f.). Sie ist darauf gerichtet, die Besonderheiten des Erkenntnisprozesses in den fachlich begrenzbaren Bereichen der Wirklichkeit systematisch zu erfassen. Im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess kommt dem Fachdenken die bestimmende Rolle zu, da es auf ein durch analytisch-synthetische Denkoperationen vermitteltes, begrifflich fixiertes kognitives Abbild konkreter Bereiche der objektiven Realität zielt (Müsseler/Prinz 2002, 645 f.). Empirische und theoretische Denkprozesse gehen dabei im Prozess des Fachdenkens eine dialektische Verbindung ein. In dem Maße, in dem es gelingt, die Triebkräfte, Ursachen und Gesetzmäßigkeiten für bestimmte Entwicklungen der objektiven Realität aufzudecken, wird es möglich, wissenschaftliche Theorien zu formulieren, mit deren Hilfe das Erkenntnisobjekt eingehender als durch Beobachtung widergespiegelt werden kann. In diesem Zusammenhang stützt sich das Fachdenken auf die Verwendung spezieller Denkmethoden und Denkverfahren (Bochenski 1993). Der Prozess des Fachdenkens wird bestimmt durch eine Vielzahl von Faktoren, so z. B. die gedankliche Strukturierung des fachlichen Gegenstandsbereiches, die Qualität und Quantität der Erkenntnisobjekte, das Niveau des gesellschaftlichen Vorwissensstandes, die Einstellung zum Denkobjekt, die Funktion des Denkprozesses, das Erkenntnisziel, die Motive der Erkenntnisgewinnung, die Strategien und Methoden des Erkenntniserwerbs, die in verschiedenen Realitätsbereichen bereits gewonnenen Erfahrungen, die individuelle Verfügbarkeit von kognitiven Organisationsmustern (Schemata), die Verwendung bestimmter Erkenntnisprinzipien (Induktion/Deduktion), die Wirkung historischer, weltanschaulich-philosophischer, kultureller, sozialer, ökonomischer u. a. Faktoren, die Wahrnehmungsqualität von Fachinhalten (zustimmend, kritisch, rational, emotional), der Einfluss von Denkgewohnheiten (Denkschule) sowie der intra-, inter-, bzw. transdisziplinäre Charakter von Erkenntnisprozessen (vgl. Baumann 2001b). Dieser komplexe kommunikativ-kognitive Analyseansatz eröffnet der Fachsprachenforschung die objektspezifische Umsetzung der kognitiven Wende. Diese ist darauf gerichtet, eine Typologie von Strategien des Fachdenkens zu entwickeln, die mit einem System kommunikativer Umsetzungsstrategien von Abbildern der fachlichen Realität korreliert und rhetorisch-stilistische Regularitäten der Versprachlichung einbezieht. Dabei besteht ein erster notwendiger Analyseschritt darin, die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen unter dem Aspekt der für sie typischen kognitiven Operationen, Schemata und Typen intellektueller Tätigkeit zu charakterisieren (Prim/Tilmann 1997). In einer zweiten Untersuchungsphase muss die kommunikative Gestaltung der fachspezifischen Denkweise aufgezeigt werden, welche eng mit dem Transfer bestehender fachlicher Wissensabbilder auf noch unbekannte Wissenszusammenhänge verbunden ist. Ein dritter Schwerpunkt ist darauf gerichtet, die Korrelationen herauszuarbeiten, die zwischen den konkreten fachlichen Tätigkeitszusammenhängen, den im Fachdenkprozess gewonnenen kognitiven Abbildern der fachspezifischen Inhalte und der strukturell-funktionalen Umsetzung dieser im Prozess der Fachkommunikation bestehen.
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Sprachstatistische Analysen der Fachsprachen haben bestätigt, dass der Anteil ihrer gemeinsamen Merkmale variiert (Hoffmann/Piotrowski 1979). Deshalb ist bereits seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts versucht worden, neben der Differenziertheit von Fachsprache auch deren Einheitlichkeit aufzuzeigen (Hoffmann 1984, 53 f.; Fluck 1997). Dies betrifft vor allem diejenigen Ansätze, die eine strukturell-funktionale Abhängigkeit der Fachsprachen vom Objektbereich der jeweiligen Einzelwissenschaften beschreiben (Hoffmann 1978; Satzger 1999). Im Hinblick auf die Einheitlichkeit bzw. Differenziertheit der Einzelwissenschaften und ihrer Fachsprachen werden im Allgemeinen drei Komplexe unterschieden: (1) die Fachsprachen der Naturwissenschaften (exakte und biologische Naturwissenschaften) (Pörksen 1986; Van Doren 1996), (2) die Fachsprachen der Gesellschaftswissenschaften (Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften, Politikwissenschaften, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, Sprach- und Kunstwissenschaften, Pädagogik, Ethnologie, Anthropologie u. a.) (Hoffmann 1976) und (3) die Fachsprachen der Technikwissenschaften (Verfahrenstechnik, Medizintechnik, Maschinenbautechnik, Kerntechnik, Biotechnik, Umwelttechnik, Verkehrstechnik, Bergbautechnik u. a.) (Krings 1996; Fischer 2004). Wissenschaftsgeschichtliche und -philosophische sowie kognitionswissenschaftliche Darstellungen sind seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkt darum bemüht, die kognitiven Grundelemente des Fachdenkens in den Natur-, Gesellschafts- und Technikwissenschaften herauszuarbeiten (Gloy 1995; 1996; Krieger 1998; Lyre 2002). Der Schwerpunkt dieser Arbeiten liegt zum einen darauf, das methodologische Selbstverständnis der Einzelwissenschaften aufzuarbeiten bzw. ihre erkenntnistheoretischen Grundwerte, Grundnormen und Perspektiven zu dokumentieren. Zum anderen wird in diesen Darlegungen gezielt der Frage nachgegangen, wie die einzelwissenschaftlichen Grundbegriffe und Methoden angelegt sein müssen, um die Erkenntnisgewinnung zu fördern. Folgende Elemente bestimmen das Fachdenken in den Naturwissenschaften. (1) Die Erkenntnisgewinnung richtet sich auf einen Komplex von belebten und unbelebten Eigenschaften der Natur. (2) In Abhängigkeit vom konkreten historischen Erkenntnisstand der Gesellschaft zielen die Denkleistungen darauf ab, die Auffassung von der Differenziertheit naturwissenschaftlicher Realität theoretisch zu begründen und empirisch abzusichern. (3) Die Gewinnung und Systematisierung von Kenntnissen der fachlichen Realität steht im Mittelpunkt des Denkens. Dies schließt das Bestimmen von Naturkonstanten, das Erkennen grundlegender Eigenschaften der Materie, die Ableitung von Gleichungen, Algorithmen, Modellen und deduktiven Theorien bzw. die Entdeckung objektiver Naturgesetze ein. Dabei spielt das Kausalitätsprinzip eine entscheidende erkenntnistheoretische Rolle. (4) Um die Teilbereiche der Natur systematisch erforschen zu können, wird ein gegenstandsadäquates System von Begriffen, Kategorien, Konstrukten, Prinzipien und Methoden entwickelt (Thielmann 1999). (5) Der Erkenntnisweg vom Erkenntnissubjekt zum Erkenntnisobjekt wird mit Hilfe bestimmter Erkenntnismittel (Geräte, Substanzen, Experimente u. a.) umgesetzt (Lenk 1998).
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(6) Ohne die Bildung von quantitativen Größen bzw. die exakte Abgrenzung messbarer Entitäten der fachspezifischen Materie ist der Erwerb neuer Erkenntnisse, die über einen hohen Grad der Formalisierung, Objektivität und Präzision verfügen, nicht möglich (Lyre 2002, 214 f.). Das Fachdenken in den Gesellschaftswissenschaften wird durch folgende Faktoren geprägt: (1) Die Suche nach Erkenntnissen bezieht sich auf den ganzheitlichen Bereich von Wechselbeziehungen, der zwischen Mensch und Gesellschaft besteht, wobei versucht wird, Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung abzuleiten. (2) Der Komplex Mensch und Gesellschaft unterliegt einer gegenstandsorientierten Auffächerung in Einzelwissenschaften, die das spezifische humane Erkenntnisinteresse an dem Analysekomplex widerspiegelt. Hierbei spielen die Prinzipien der Einheit von Theorie und Praxis bzw. das Primat von Denken oder Sein eine grundlegende erkenntnistheoretische Rolle. (3) Die Ableitung eines konkreten Erkenntnisziels, die Referenz auf eine Theorie (Denkansatz bzw. Denkschule), die Konstituierung eines Begriffssystems, die Gewinnung empirisch gestützter Fakten sowie die theoriebezogene Bewertung konkreter Ergebnisse stellen die kognitiven Grundelemente des auf den Menschen bzw. die Gesellschaft gerichteten Erkenntnisprozesses dar (Kromrey 2002, 53 f.). Dabei entstehen Denkzyklen, die sich auf kognitive Theorie-Empirie-Theorie-Grundmuster zurückverfolgen lassen. (4) Die kognitive Bezogenheit des Menschen auf sich selbst als Betrachtungsgegenstand führt dazu, dass bevorzugt Methoden eingesetzt werden, die interpretieren, vergleichen, klassifizieren, bewerten und für subjektive Erklärungen offen sind (Bochenski 1993, 12 f.). (5) Die gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnisperspektive hängt vom Standpunkt des untersuchenden Subjekts ab, der von einem komplexen Determinationsgefüge individueller, sozialer, ökonomischer, kultureller, weltanschaulicher u. a. Einflussgrößen bestimmt wird. (6) Emotionen als kognitive Bewertungen gesellschaftswissenschaftlicher Sachverhalte sind ein konstitutives Element der Denkstrategie (Otto/Euler/Mandl 2000). Im Bereich der technischen Wissenschaften weist das Fachdenken vor allem folgende Besonderheiten auf: (1) Die Erkenntnisgewinnung bezieht sich auf das Darstellen, Konzipieren und Optimieren technischer Prozesse sowie das Modellieren und Verwenden technischer Systeme. Dafür sind die Kenntnis der Naturgesetze, die Vertrautheit mit Materialien und ihren Eigenschaften, das Wissen um entsprechende Bearbeitungsmöglichkeiten, die Fähigkeit zum schöpferischen Vorausdenken und zweckorientierten Umsetzen von Ideen zur Verbesserung der praktischen Lebensbedingungen des Menschen erforderlich. (2) Die herkömmliche Unterscheidung in verschiedene Technikwissenschaften richtet sich nach den praktisch zusammengehörigen Bereichen von Arbeitsprozessen (Bergbau- und Hüttentechnik, Elektrotechnik, Fertigungstechnik, Bautechnik, Heizungstechnik u. a.). (3) Die Abbildung von Naturprozessen und die Ausnutzung von Naturgesetzen in technischen bzw. technologischen Systemen ergeben den erkenntnistheoretischen Rah-
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men für das technikwissenschaftliche Denken. Dieses zielt auf die Ableitung technikwissenschaftlicher Gesetze, welche auf der Dialektik von System und Element bzw. Notwendigkeit und Zufall beruhen. Entsprechend können die Technikgesetze in antizipierende (normativ-beschreibende, präskriptiv-deskriptive), allgemeingültige und materiell-gegenständliche Untergruppen unterteilt werden. (4) Technikwissenschaftliche Denkstrategien werden vor allem von den Einwirkungen des Handelnden auf das jeweilige Tätigkeitsobjekt geprägt, welche mit den Eigenschaften und Funktionen der entsprechenden Tätigkeitsinstrumente (Geräte, Vorrichtungen, Verfahren u. a.) eng verbunden sind. (5) Die kognitiven Transformationsprozesse, die sich mit der Übertragung naturwissenschaftlicher Gesetze in praktische Geltungsbereiche ergeben, stellen das Kernelement technikwissenschaftlichen Denkens dar. (6) Technikwissenschaftliches Denken ist genuin interdisziplinär und zielt darauf ab, die Entwicklungspotenzen des Menschen als bewusstes Element des Mensch-MaschineSystems zu aktivieren (Fischer 2004, 180 f.). Die Analyse des Fachdenkens in den drei Wissenschaftskomplexen macht deutlich, dass fachspezifische Denkstrategien über variante und invariante Merkmale verfügen. Durch das immer häufiger zu beobachtende interdisziplinäre Vorgehen in natur-, gesellschaftsund technikwissenschaftlichen Disziplinen bedingen die entsprechenden Fachdenkstrategien einander in wachsendem Maße.
5. Die interdisziplinäre Analyse rhetorisch-stilistischer Mittel in der Fachkommunikation von Natur- und Technikwissenschaten Die Variabilität der Sprachverwendung gewinnt unter den Bedingungen der fortschreitenden Globalisierung ökonomischer, politischer, sozialer und wissenschaftlicher Prozesse zunehmend an Bedeutung. Eine interdisziplinäre Analyse der rhetorisch-stilistischen Mittel in Fachtexten eröffnet dabei vielversprechende erkenntnistheoretische Perspektiven, um sowohl die Inhalt-Form-Dialektik auf der Ebene des Fachtextes als auch die wechselseitigen Beziehungen zwischen den rhetorisch-stilistischen Mitteln und den verschiedenen Ebenen des Fachtextes aufzuzeigen. Dadurch wird es möglich, die rhetorisch-stilistischen Elemente stärker im Zusammenhang mit anderen inner- und außersprachlichen Fachtextkomponenten (Kommunikationsverfahren, Makrostruktur, semantische Äquivalenz, Fachlichkeitsgrad, soziolektale Kennzeichen usw.) zu betrachten bzw. die Differenziertheit der Fachsprachen mit den spezifischen Methoden der Rhetorik und Stilistik zu erschließen. Im Ergebnis repräsentativer Fachtextanalysen können acht, in bezug auf die jeweilige Fachkommunikation deszendent angeordnete Ebenen der Verwendung rhetorisch-stilistischer Mittel in den Kommunikationsbereichen der Natur- und Technikwissenschaften unterschieden werden: (1) Die kulturspezifische Ebene Kontrastive Fachtextuntersuchungen haben darauf hingewiesen, dass kulturspezifische Einflüsse auf den fachlichen Kommunikationsprozess lange Zeit unterschätzt worden sind. Interlinguale Vergleiche von Fachtexten aus den drei genannten Wissenschafts-
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komplexen zeigen, dass insbesondere zwischen den Fachtexten der Gesellschaftswissenschaften sowie der Natur- und Technikwissenschaften signifikante qualitative und quantitative Unterschiede im Gebrauch rhetorisch-stilistischer Elemente bestehen. Einige dieser Differenzen empfehlen sich einer stilstatistischen Bearbeitung. In diesem Zusammenhang muss besonders auf die Existenz kulturgeschichtlich geprägter Darstellungsstile verwiesen werden, zu denen im Bereich der Fachkommunikation z. B. der teutonische, gallische, angelsächsische und nipponische Stil zählen (Clyne 1987, 211⫺247). Diese vier Darstellungsstile, die auf wissenschaftliche Fachtextanalysen des australischen Linguisten Clyne zurückgehen, werden im Bereich der Fachkommunikation mit einem bestimmten inhaltlichen und formalen Abstraktionsgrad wissenschaftlicher Darlegungen in Verbindung gebracht. So hebt Clyne hervor, dass der teutonische und der gallische Stil fachlicher Ausführungen das höchste sprachliche Ausdrucksvermögen erfordern. Demgegenüber wird die sprachliche Realisierung des angelsächsischen und des nipponischen Wissenschaftsstils als weniger elitär bewertet. Zudem konnte Clyne überzeugend am Beispiel der Linguistik und Soziologie darauf hinweisen, dass in der deutsch- und englischsprachigen Fachkommunikation unterschiedliche fachtextuelle Organisationsstrukturen vorkommen. Während sich die deutschsprachige Fachkommunikation durch das Merkmal der reader responsibility ⫺ die Pflicht des Lesers, den Fachtext ohne kommunikative Hilfestellungen des Autors zu erschließen ⫺ auszeichnet, ist die englischsprachige Fachkommunikation durch den Aspekt der writer responsibility gekennzeichnet. Hierbei trägt der Autor die kommunikationsstrategische Verantwortung dafür, dass der Leser den Fachtext versteht. Dies kann vor allem durch eine wirkungsvolle Einbeziehung rhetorisch-stilistischer Mittel in den Fachtext erreicht werden. Diese kommunikationsstrategischen Unterschiede sind nach Auffassung von Clyne insbesondere auf die unterschiedlichen kulturellen Traditionen der jeweiligen fachlichen Sprach- und Denkgemeinschaften (scientific community) zurückzuführen. Er macht in diesem Zusammenhang deutlich, „dass jede Kulturgruppe ihre eigenen Erwartungen der Kommunikation hat, die einem spezifischen Kulturwertesystem zuzuschreiben sind“ (Clyne 1993, 3). Auf den großen forschungsstrategischen Stellenwert der kulturspezifischen Ebene von Fachtexten der Natur- bzw. Gesellschaftswissenschaften macht Oldenburg aufmerksam. Er führt aus, „dass im interlingualen Vergleich zwischen Fachtexten aus den Naturwissenschaften, die von den primären kulturellen Systemen der Sprachgemeinschaften wenig beeinflusst werden und von den Gegenständen, die der außersprachlichen und ,außerkulturellen‘ Realität angehören, determiniert sind, keine oder nur geringe interkulturelle Differenzen bestehen, während die Unterschiede zwischen Fachtexten aus den Gesellschaftswissenschaften, die den primären kulturellen Systemen der Sprachgemeinschaften näher stehen und deren Gegenstände mit eben diesen kulturellen Systemen eng verknüpft sind, deutlich größer ausfallen“ (Oldenburg 1992, 35 f.). Im Ergebnis interdisziplinärer Untersuchungen von gesellschafts-, natur- und technikwissenschaftlichen Fachtexten hat sich die Beobachtung bestätigt, dass die kulturell determinierte Verwendung von rhetorisch-stilistischen Elementen in gesellschaftswissenschaftlichen Fachtexten besonders signifikant ist. In natur- und technikwissenschaftlichen Fachtexten kann dieser Umstand aufgrund einer stärker normierten und konventionalisierten Fachtextgestaltung in diesem Maße nicht bestätigt werden (Lauren/Nordman 1996; Ylönen 2001, 168 f.). (2) Die soziale Ebene Bei der Betrachtung sozialer Einflüsse auf die Auswahl und Verwendung rhetorischstilistischer Mittel in naturwissenschaftlich-technischen Fachtexten kann von folgenden Erkenntnissen ausgegangen werden.
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⫺ Um fachlich interessierten Laien einen fachlichen Sachverhalt nahe zu bringen, muss sich der Fachtextautor bestimmter Strategien des Wissenstransfers (z. B. Explikation von implizitem Fachwissen; Didaktisierung und Komplexitätsreduktion von Wissen) bedienen, die bei Fachkollegen entbehrlich sind. ⫺ Unterschiedliche Vorwissensbestände des Fachtextautors bzw. Fachtextrezipienten führen folglich dazu, dass sozial relevante Elemente einer partnerbezogenen Redundanz zur Absicherung des Informationstransfers einbezogen werden. Der Fachtextautor ist somit aufgefordert, sich in fachexternen Texten, die bekanntlich an Nichtfachleute gerichtet sind, mit zahlreichen verständnisfördernden Zusätzen ⫺ die für Fachleute entbehrlich sind ⫺ auf das Wissens- und Könnensniveau der Rezipienten einzustellen. In diesen Partnerkonstellationen spielen die Stilelemente Parenthese, Parallelismus, Nachtrag u. a. eine erkenntnisfördernde Rolle. ⫺ Die Analyse rhetorisch-stilistischer Merkmale weist darauf hin, dass eine partnerbezogene Aussagehaltung des Autors fachinterner Texte durch wirkungsvoll stilisierte Formulierungen realisiert werden kann. Der Fachtextautor ist z. B. durch die Verwendung des syntaktischen Stilelements Chiasmus in der Lage, die ungeteilte Aufmerksamkeit der Fachtextrezipienten zu gewinnen, wichtige Erkenntnisse hervorzuheben bzw. die Aussage originell und mit einem hohen Eindruckswert zu gestalten. ⫺ Die durch rhetorisch-stilistische Elemente vermittelte Expressivität stellt eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Verlauf der Fachkommunikation dar, da sie bei den Fachtextrezipienten zu einer gesteigerten Wahrnehmung des Darstellungsgegenstandes führt. Durch die Aktivierung der Aufmerksamkeit wird bei den Adressaten kognitive Energie freigesetzt, die der subjektiven Verarbeitung von Informationen zugute kommt. So bewirkt z. B. die Expressivität graphostilistischer Mittel, dass die Dekodierung von natur- und technikwissenschaftlichen Fachtexten wesentlich erleichtert wird (Riesel/Schendels 1975). ⫺ Fachtextanalysen aus den drei Wissenschaftskomplexen haben bestätigt, dass semantische und syntaktische Stilelemente besonders geeignet sind, bei einem sozial asymmetrischen Verhältnis der Kommunikationspartner deren unterschiedlichen Wissensstand zu überbrücken. Der Fachtextautor kann z. B. mit den Stilfiguren Wiederholung bzw. Synonymie die Versprachlichung fachlicher Sachverhalte so variieren, dass er dadurch einen höheren Behaltenseffekt von Informationen erreicht. Die Auswahl und Verwendung rhetorisch-stilistischer Elemente wird in natur- und technikwissenschaftlichen Fachtexten entscheidend von der sozialen Konstellation der jeweiligen Kommunikationspartner bestimmt (Hahn 1981). (3) Die kognitive Ebene Die kognitive Analyseebene weist darauf hin, dass rhetorisch-stilistische Elemente die Prozesse der Informationsverarbeitung und -speicherung in Fachtexten optimieren (Möller 1983). Fleck hat in diesem Zusammenhang den Begriff des Denkstils geprägt, den er als „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“ definiert (Fleck 1994, 130). Elemente des Denkstils sind z. B. die Denkstilfiguren Amplifikation, Syllogismus, Isolog, Antithese, Gleichnis, Allegorie, Ironie, Hysteron-Proteron u. a., welche als gedanklich-sprachliche Einheiten von Informationsverarbeitungsstrategien darauf gerichtet sind, bestimmte Einstellungen, Vorwissensbestände, psychische Befindlichkeiten, Bewertungsmaßstäbe bzw. Emotionen des Fachtextautors zum Ausdruck zu bringen (Nischik 1991, 58 f.). Denkstilfiguren tragen in
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der natur- und technikwissenschaftlichen Fachkommunikation zur Umsetzung folgender Eigenschaften bei: (a) Eindringlichkeit der Fachtextgestaltung (Metapher, Metonymie, Epitheta u. a.), (b) Übersichtlichkeit der fachwissenschaftlichen Darstellung (z. B. Anapher ⫹ Parallelismus als deutlich wahrnehmbares gedankliches Ordnungsmuster, Antithese, FrageAntwort Kombination, rhetorische Frage), (c) Klarheit durch erläuternde Einschübe und Ergänzungen (Parenthese, Explikation, Nachtrag bzw. Isolierung), (d) Präzision durch Abbildungen, Tabellen, Formeln u. a. als Hinweis auf ein assoziationsreiches Denken des Autors, (e) Rezeptionsförderung (Verbesserung der Verständlichkeit durch Gleichnisse u. a.) (Baumann 2001b). In Fachtexten besitzt das Wechselspiel von Allgemeinem, Besonderem und/oder Einzelnem eine gedächtnisstützende und erkenntnisfördernde Funktion. Eine Verallgemeinerung von Erkenntnissen ohne die Bezugnahme auf das Besondere oder Einzelne birgt die Gefahr von Fehlinterpretationen in sich. Durch das Einfügen eines Beispiels wird dem Rezipienten eine Nachdenkpause geboten. Um ihm die Aufnahme eines komplizierten Gedankenkomplexes zu erleichtern, besitzt der Fachtextautor außerdem die Möglichkeit, Sachverhalte mehrfach zu wiederholen. Damit wird ein Gedanke aus der Informationsprogression im Fachtext hervorgehoben (Emphase), was sich z. B. mit den Stilelementen syndetische, asyndetische, polysyndetische Aufzählung, Wiederholung bzw. Synonymie erreichen lässt. Repräsentative Fachtextanalysen in den Natur- und Technikwissenschaften bestätigen, dass die Denkstilfiguren erkenntnisfördernde Funktionen erfüllen. Die Auswahl und Verwendung von entsprechenden Elementen erfolgen stets auf der Grundlage konkreter Sender-Empfänger-Strategien zur Vermittlung fachbezogener Textinhalte. Dabei zeigt sich, dass die Vielfalt und Anzahl von Denkstilfiguren insbesondere beim asymmetrischen Fachmann-Laie-Wissenstransfer signifikant zunehmen. Dort bemüht sich der Fachtextautor besonders darum, den erwartbar niedrigeren Vorwissensstand des Rezipienten durch rhetorisch-stilistische Elemente auszugleichen (Baumann 1994, 122 f.). (4) Die inhaltlich-gegenständliche EbeneKomparative Analysen in unterschiedlichen Einzelwissenschaften, Einzelsprachen und Fachtextsorten weisen auf drei inhaltlichgegenständliche Determinanten hin, welche die Verwendung rhetorisch-stilistischer Elemente in der Fachkommunikation nachhaltig bestimmen: (a) Die Einzelwissenschaft Rhetorisch-stilistische Gemeinsamkeiten von verschiedenen Fachtextsorten einer Einzelwissenschaft (z. B. Historiographie, Linguistik, Psychologie) sind offensichtlich bedeutsamer als die Anzahl der übereinstimmenden rhetorisch-stilistischen Merkmale, die zwischen den gleichen Fachtextsorten aus verschiedenen Einzelsprachen bestehen (Baumann 1992, 198 f.). Auf den Zusammenhang von Wissenschaft und Stil hat Skudlik aufmerksam gemacht: „Das undifferenzierte Vorverständnis sieht deutliche Unterschiede zwischen der Sprache der Naturwissenschaften und der Sprache der Geisteswissenschaften. Letztere scheint der Alltagssprache näher zu liegen, scheint sich eher durch eine terminologisch stärker
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festgelegte Verwendung der gemeinsprachlichen Begriffe und besonders auch durch andere stilistische Gebräuche als Wissenschaftssprache auszuweisen. Bei ersterer dagegen denkt man sofort an einen umfangreichen terminologischen Apparat mit Ausdrücken, die der Laie nie gehört hat, an eine Unzahl von Formeln beziehungsweise die formelhafte Verwendung bestimmter sprachlicher Mittel“ (Skudlik 1990, 221). (b) Das Verhältnis der an der Fachkommunikation Beteiligten zum Gegenstand Rhetorisch-stilistische Elemente (z. B. bildhafter Vergleich, Paraphrase) lösen im Fachtext wichtige erkenntnisfördernde Impulse (Rationalität/Emotionalität) aus, welche die inhaltliche Auseinandersetzung des Partners mit dem Kommunikationsgegenstand erleichtern. In gesellschaftswissenschaftlichen Fachtexten kennzeichnen diese Stilelemente die Einstellung des kommunizierenden Subjekts zum widergespiegelten Objekt. In naturund technikwissenschaftlichen Fachtexten werden Auswahl und Verwendung rhetorischstilistischer Mittel vor allem vom Grad der Ausführlichkeit (Redundanz vs. Restriktion) und Präzision (z. B. Understatement vs. Overstatement) bestimmt, mit dem der Fachtextautor den Gegenstand kommunikativ umsetzen möchte. (c) Die Beziehungen zwischen den individuellen Leistungsdispositionen der an der Fachkommunikation Beteiligten und der inhaltlich-gegenständlichen Systematik des Fachtextes Hierbei ist für die Fachgebiete der Natur-, Technik- und Gesellschaftswissenschaften eine Klassifizierung von Fachstilen vorgenommen worden, die folgende vier Typen umfasst: der wissenschaftlich-technische, der populärwissenschaftliche, der didaktisierende sowie der direktive Fachstil (Riesel/Schendels 1975; Sandig 1986; Skyum-Nielsen/Schröder 1994 u. a.). Es wird deutlich, dass konkrete fachliche Inhalte in spezifischen Fachtextsorten mit bestimmten Stilelementen umgesetzt werden. (5) Die funktionale Ebene Die funktionale Ebene der Untersuchung bezieht sich auf die Verwendungsweise der rhetorisch-stilistischen Elemente im jeweiligen Fachtext. Im Bereich der Lexik wird diese Ebene der rhetorisch-stilistischen Elemente durch den Funktionsbereich der im Fachtext gebrauchten lexikalischen Stilelemente (Fremdwörter, Phraseologismen u. a.) bzw. durch deren kommunikative Markiertheit (Jargonismen, Dialektismen, Archaismen, Professionalismen usw.) zum Ausdruck gebracht (Baumann/Kalverkämper/Steinberg-Rahal 2000). Allerdings treten diese lexikalischen Stilelemente vor allem in Fachtexten der Gesellschaftswissenschaften auf. In naturwissenschaftlich-technischen Darlegungen dominieren hingegen Nomenklaturen, Abkürzungswörter und Formelausdrücke. Auf der Ebene der Syntax sind es vor allem die funktional bedingte Variation der Satzlänge, die kontrahierten Verbformen bzw. der Grad der funktional bedingten Veränderungen in der Wort- bzw. Satzgliedfolge, welche die funktionale Ebene der rhetorischstilistischen Mittel ausmachen. Auf der Textebene wird die Dimension des rhetorisch-stilistischen Inventars bestimmt durch den Anteil nominaler bzw. verbaler Elemente bei der Fachtextgestaltung (Nominal- bzw. Verbalstil), die jeweilige Form der Satzverflechtung, die Nutzung von Tempus, Modus, Genus verbi als funktional determinierte, stilistisch relevante Fachtextelemente, die stilistische Ausprägung der Kommunikations- und Komplexverfahren und die funkti-
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onalen Besonderheiten der Kommunikationsstrategie des Fachtextautors (Einbau von Beweis-, Anschauungs-, Thesen-, Authentizitätszitaten bzw. Zitaten zum Ausdruck kritisch-ironischer Distanz). In den Fachtexten der Natur- und Technikwissenschaften führt der hohe Präzisionsgrad dazu, dass z. B. der Nominalstil, die kausalen Satzbeziehungstypen und Passivkonstruktionen besonders häufig vorkommen (Lauren/Nordman 1996). Damit umfasst die funktionale Ebene des rhetorisch-stilistischen Potentials von Fachtexten vor allem jene sprachlichen und nichtsprachlichen Mittel, welche der Erkenntnisund Handlungsfähigkeit der Kommunikationspartner auf deren jeweiligen Wissensstand entsprechen (Baumann 1994). (6) Die textuelle Ebene In Fachtexten der drei Wissenschaftskomplexe wirken rhetorisch-stilistische Fachtextgestaltungsprinzipien, welche die Aufnahme und Integration der im Fachtext vermittelten Informationen nachhaltig beeinflussen. Die rhetorisch-stilistischen Fachtextgestaltungsprinzipien verfügen über eine qualitativ-funktionale Dimension, die sich auf die einbezogenen obligatorischen bzw. fakultativen Stilelemente des jeweiligen Fachtextes bezieht. Daneben existiert eine quantitativ-strukturelle Dimension, welche die Frequenz, Distribution und Kombination der Stilelemente erfasst. Die Differenzierung verschiedener rhetorisch-stilistischer Fachtextgestaltungsprinzipien beruht vor allem auf folgenden Zusammenhängen: ⫺ Die Auswahl und Verwendung rhetorisch-stilistischer Mittel sind abhängig von der jeweiligen Kommunikationsintention bzw. -strategie des Autors und vom Gegenstand der Kommunikation. Im Prozess der Fachkommunikation fügen sich die rhetorischstilistischen Elemente zu einem textgebundenen Schema zusammen, das bestimmte Kommunikationsziele umsetzt. ⫺ Die einzelnen Fachtextsorten (Essay, wissenschaftlicher Zeitschriftenartikel u. a.) zeichnen sich durch Regularitäten bei der Anordnung und beim Zusammenwirken von rhetorisch-stilistischen Mitteln aus. Diese können unter dem Aspekt der Funktionsgleichheit (z. B. Überzeugen des Partners) zu äquivalenten rhetorisch-stilistischen Fachtextgestaltungsprinzipien zusammengefasst werden (euphemistische/pessimistische Sichtweise auf Gegenstände und Prozesse der fachlichen Realität; Gestaltung einer zustimmenden/kritischen Haltung zu Fachinhalten; Integration/Auslassen des Persönlichen; Redundanz/Restriktion der Darlegungen usw.) (Baumann 1992, 69 f.). Fachtextanalysen haben bestätigt, dass bestimmte rhetorisch-stilistische Fachtextgestaltungsprinzipien in natur- und technikwissenschaftlichen Darlegungen häufiger vorkommen als in gesellschaftswissenschaftlichen Ausführungen (Gestaltung logischer Folgerichtigkeit von Feststellungen; Auslassen des Persönlichen u. a.). Abschließend kann zusammengefasst werden, dass die gezielte Umsetzung rhetorischstilistischer Gestaltungsprinzipien im Fachtext nicht nur den Dekodierungsprozess der enthaltenen Informationen erleichtert, sondern auch die Verständlichkeit des Fachtextes erhöht. (7) Die syntaktische Ebene Die syntaktischen Stilelemente dienen vor allem dazu, Teile des Fachtextes so zu gestalten, dass der individuelle Verarbeitungsaufwand für fachliche Informationen minimiert werden kann, so dass dadurch keine Überlastung der begrenzten Speicherkapazitäten des Gedächtnisses eintritt und die Fachtextinformationen den inhaltlichen Erwartun-
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gen der Rezipienten in hohem Maße entsprechen (Miller 1962, 748⫺762; Redder/Rehbein 1999). Fachtextanalysen aus den drei genannten Wissenschaftskomplexen haben gezeigt, dass folgende textsyntaktische Kategorien stilistisch relevant sind (vgl. Baumann 2001, 57 f.): Tempusfolge (Bevorzugung des historischen Präsens), Modus (Stellung des Fachtextautors zum Geltungsgrad der Aussage), Genus verbi, aktuelle Satzgliederung (Thematisierung und Rhematisierung), Ellipsenbildung, syntaktische Stereotype, die syntaktische Verschränkung von Fachtext und Bildtext (Abbildung, Diagramm, Schema, Symbol, Formel u. a.), parataktische bzw. hypotaktische Satzkonfigurationen im Fachtext, Mittel der Satzverflechtung (Anapher ⫹ Parallelismus, Antithese u. a.), Wiedergabe fremder Rede (Zitate), Wortstellung (stilistische Inversion, rhetorische Frage u. a.) sowie logische Gliederung des Inhaltes (Frage-Antwort-Kombination, rhetorische Frage). Die stilstatistischen Untersuchungen Hoffmanns und Piotrowskis (1979) haben jedoch gezeigt, dass die syntaktischen Stilfiguren für den fachlichen Kommunikationsprozess unterschiedlich relevant sind. Besonders in gesellschaftswissenschaftlichen Fachtexten sind die syntaktischen Stilelemente darauf gerichtet, den Grad der Emotionalität und Expressivität der Fachtextaussagen zu erhöhen. Dies geschieht durch die Sicherung der Bewusstseinspräsenz relevanter Informationen des Fachtextes durch Hervorhebung, die Steigerung der Auffälligkeit relevanter Fachtextinhalte durch Topikalisierung (Thema-Rhema-Abfolge, Inversion, Emphase), die Fokussierung von Fachtextinhalten durch Übernahme einer Fremdperspektive in der Darstellung (Referieren fremder Standpunkte, wörtliche Rede als Zitat) sowie die Modifizierung der Einstellung des Fachtextautors zum Gegenstand des Fachtextes (Modus: Konjunktiv, Imperativ). Syntaktische Stilelemente bieten somit zahlreiche Potenzen, um das emotionale bzw. gedankliche Engagement des Fachtextproduzenten für bestimmte Inhalte wirkungsvoll zum Ausdruck zu bringen (Baumann 2001a). (8) Die lexikalisch-semantische Ebene In allen Einzelwissenschaften erfolgt die Abstimmung des begrifflichen Wissens zwischen den Kommunikationspartnern durch die Terminologie (Budin 1996). Sie sichert zwischen den Beteiligten ein Höchstmaß an begrifflicher Übereinstimmung. Da das terminologische System der Systematik der jeweiligen Wissenschaft folgt und den höchsten Grad begrifflicher Abstraktion verkörpert, garantiert es auch eine optimale Verständigung zwischen Fachleuten (Kalverkämper 1988, 166 f.). In lexikalisch-semantisch orientierten Stiluntersuchungen von natur- und technikwissenschaftlichen Fachtexten wurde festgestellt, dass der Anteil der Termini am lexikalischen Gesamtbestand des Fachtextes erheblich variieren kann. Dabei zeigt sich, dass ein hoher Fachlichkeitsgrad der Darstellungen einen hohen Anteil von Termini impliziert (Baumann 1994, 127 f.). Ferner sind die Anzahl bzw. Wiederholungsrate der Termini im Fachtext, die Konzentration von Termini in bestimmten Makrostruktureinheiten des Fachtextes sowie die Zugehörigkeit der Termini zum Paradigma einer oder mehrerer Einzelwissenschaften von grundlegender stilanalytischer Bedeutung. In natur- und technikwissenschaftlichen Fachtextanalysen konnte durch sprachstatistische Erhebungen nachgewiesen werden, dass der Fachlichkeitsgrad des Textes mit einer steigenden Anzahl der in den terminologischen Gesamtbestand des Fachtextes einbezoge-
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nen Termini aus unterschiedlichen Einzelwissenschaften zunimmt (Baumann 1994, 128 f.). Dies kann u. a. darauf zurückgeführt werden, dass im Gedächtnis der Kommunikationspartner mehrere Wissenskontexte aktiviert werden müssen. Im Gegensatz zu den obligatorischen, stilistisch neutralen Elementen von Fachtexten weisen die fakultativen semantischen Stilelemente auf individuelle Anteile am Widerspiegelungsprozess der fachlichen Realität hin. Eine komparative Analyse der lexikalisch-semantischen Stilelemente in den Fachtexten der Gesellschafts-, Natur- und Technikwissenschaften hat gezeigt, dass in gesellschaftswissenschaftlichen Fachtexten der Anteil und die Vielfalt der fakultativen Stilfiguren deutlich höher ist als in den beiden anderen Wissenschaftskomplexen. Im Ergebnis induktiv-empirischer Untersuchungen von rhetorisch-stilistischen Eigenschaften der Fachtexte aus den Bereichen der Natur- und Technikwissenschaften ist deutlich geworden, dass die Auswahl, Verwendung und Wirkung von Stilelementen durch komplexe kommunikativ-kognitive Determinationsmechanismen beeinflusst werden.
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136. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Religion und Kirche
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Otto, Jürgen H./Harald A. Euler/Heinz Mandl (2000): Emotionspsychologie. Weinheim. Pauen, Michael/Gerhard Roth (Hrsg.) (2001): Neurowissenschaften und Philosophie. München. Plett, Heinrich F. (2000): Systematische Rhetorik. München. Pörksen, Uwe (1986): Deutsche Naturwissenschaftssprachen. Tübingen (Forum für FachsprachenForschung, 2). Pörksen, Uwe (1994): Wissenschaftssprache und Sprachkritik. Tübingen (Forum für FachsprachenForschung, 22). Prim, Rolf/Heribert Tilmann (1997): Grundlagen einer kritisch-rationalen Sozialwissenschaft. 7. Aufl. Wiesbaden. Redder, Angelika/Jochen Rehbein (Hrsg.) (1999): Grammatik und mentale Prozesse. Tübingen. Richardt, Susanne (2005): Metaphors in Languages for Special Purposes. Frankfurt am Main u. a. Riesel, Elise/Evgenija Josifovna Schendels (1975): Deutsche Stilistik. Moskau. Roelcke, Thorsten (1999): Fachsprachen. Berlin (Grundlagen der Germanistik, 37). Sandig, Barbara (1986): Stilistik der deutschen Sprache. Berlin/New York. Satzger, Axel (Hrsg.) (1999): Sprache und Technik. Frankfurt a. M. (Forum Angewandte Linguistik, 36). Schmidt, Wilhelm (Hrsg.) (1981): Funktional-kommunikative Sprachbeschreibung. Leipzig. Serebrennikov, Boris A. (Hrsg.) (1975): Allgemeine Sprachwissenschaft. Bd. 2, Berlin. Skudlik, Sabine (1990): Sprachen in den Wissenschaften. Tübingen (Forum für Fachsprachen-Forschung, 10). Skyum-Nielsen, Peder/Hartmut Schröder (Hrsg.) (1994): Rhetoric and Stylistics Today. Frankfurt a. M. u. a. (Nordeuropäische Beiträge aus den Human- und Gesellschaftswissenschaften, 5). Spillner, Bernd (1974): Linguistik und Literaturwissenschaft. Stuttgart u. a. Thielmann, Winfried (1999): Fachsprache der Physik als begriffliches Instrumentarium. Frankfurt am Main u. a. (Arbeiten zur Sprachanalyse, 34). Van Doren, Charles (1996): Geschichte des Wissens. Basel u. a. Ylönen, Sabine (2001): Die Entwicklung von Textsortenkonventionen. Frankfurt am Main u. a. (Leipziger Fachsprachen-Studien, 15). Zimmer, Dieter E. (1999): So kommt der Mensch zur Sprache. 5. Aufl. München.
Klaus-Dieter Baumann, Leipzig (Deutschland)
136. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Sprache von Religion und Kirche 1. 2. 3. 4. 5.
Einleitung Religiöse Sprache und Kommunikation Pastoraler Diskurs Sprache der Predigt Literatur (in Auswahl)
Abstract In order to present the major rhetorical and stylistic features of the language of religion and church, this article focuses on three fields: “Religious language and communication” (2), “Pastoral discourse” (3) and “Language of the sermon” (4).
136. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Religion und Kirche
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Otto, Jürgen H./Harald A. Euler/Heinz Mandl (2000): Emotionspsychologie. Weinheim. Pauen, Michael/Gerhard Roth (Hrsg.) (2001): Neurowissenschaften und Philosophie. München. Plett, Heinrich F. (2000): Systematische Rhetorik. München. Pörksen, Uwe (1986): Deutsche Naturwissenschaftssprachen. Tübingen (Forum für FachsprachenForschung, 2). Pörksen, Uwe (1994): Wissenschaftssprache und Sprachkritik. Tübingen (Forum für FachsprachenForschung, 22). Prim, Rolf/Heribert Tilmann (1997): Grundlagen einer kritisch-rationalen Sozialwissenschaft. 7. Aufl. Wiesbaden. Redder, Angelika/Jochen Rehbein (Hrsg.) (1999): Grammatik und mentale Prozesse. Tübingen. Richardt, Susanne (2005): Metaphors in Languages for Special Purposes. Frankfurt am Main u. a. Riesel, Elise/Evgenija Josifovna Schendels (1975): Deutsche Stilistik. Moskau. Roelcke, Thorsten (1999): Fachsprachen. Berlin (Grundlagen der Germanistik, 37). Sandig, Barbara (1986): Stilistik der deutschen Sprache. Berlin/New York. Satzger, Axel (Hrsg.) (1999): Sprache und Technik. Frankfurt a. M. (Forum Angewandte Linguistik, 36). Schmidt, Wilhelm (Hrsg.) (1981): Funktional-kommunikative Sprachbeschreibung. Leipzig. Serebrennikov, Boris A. (Hrsg.) (1975): Allgemeine Sprachwissenschaft. Bd. 2, Berlin. Skudlik, Sabine (1990): Sprachen in den Wissenschaften. Tübingen (Forum für Fachsprachen-Forschung, 10). Skyum-Nielsen, Peder/Hartmut Schröder (Hrsg.) (1994): Rhetoric and Stylistics Today. Frankfurt a. M. u. a. (Nordeuropäische Beiträge aus den Human- und Gesellschaftswissenschaften, 5). Spillner, Bernd (1974): Linguistik und Literaturwissenschaft. Stuttgart u. a. Thielmann, Winfried (1999): Fachsprache der Physik als begriffliches Instrumentarium. Frankfurt am Main u. a. (Arbeiten zur Sprachanalyse, 34). Van Doren, Charles (1996): Geschichte des Wissens. Basel u. a. Ylönen, Sabine (2001): Die Entwicklung von Textsortenkonventionen. Frankfurt am Main u. a. (Leipziger Fachsprachen-Studien, 15). Zimmer, Dieter E. (1999): So kommt der Mensch zur Sprache. 5. Aufl. München.
Klaus-Dieter Baumann, Leipzig (Deutschland)
136. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Sprache von Religion und Kirche 1. 2. 3. 4. 5.
Einleitung Religiöse Sprache und Kommunikation Pastoraler Diskurs Sprache der Predigt Literatur (in Auswahl)
Abstract In order to present the major rhetorical and stylistic features of the language of religion and church, this article focuses on three fields: “Religious language and communication” (2), “Pastoral discourse” (3) and “Language of the sermon” (4).
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
As an object of scientific study, the language of religion and church is in itself interdisciplinary. To avoid any conceptual incongruency, this article will therefore rely on text samples from authentic references, which will serve to illustrate various styles in religious discourse. This presentation of the rhetorical and stylistic features of religious language focuses on church services in various forms.
1. Einleitung Ein hervorstechendes Merkmal der Sprache von Religion und Kirche ist die unaufhebbare Disparität der involvierten Erkenntnisformen. Die religiöse Erkenntnisform bedient sich zum einen besonders markierter Ausdrucksformen, die ⫺ wie das andächtige Schweigen im Gebet oder das Zungenreden, die Glossolalie ⫺ sich deutlich jenseits der Alltagssprache bewegen, zum anderen nähert sich die Sprache der Ritualleiter und Prediger gezielt der Alltagsrhetorik an. Die anthropologisch „diesseitige“ Darstellung sieht sich in der empirischen Beschreibung religiöser Kommunikation mit strukturell erwartbaren Problemen konfrontiert, weil die religiöse Erkenntnisform ⫺ darin der ästhetischen vergleichbar ⫺ mit der alltagsweltlichen oder wissenschaftlichen Erkenntnisform grundsätzlich nicht kompatibel ist, aber in Ermangelung einer Alternative alltagsweltliche Darstellungs- und Legitimationsformen benutzen muss (vgl. Simmel 1912, 13 und Bayer 2004, 18). Grundlegend für das humanwissenschaftliche Verständnis religiöser Kommunikation ist die klassische Definition von Durkheim, wonach jede Religion aus zwei Teilen besteht, den Glaubensüberzeugungen und den Riten (vgl. Durkheim 1981, 143). Während die Glaubensüberzeugungen der Klassifikation von Wirklichkeit dienen (1981, 62), sind es die Riten, die es den Menschen ermöglichen, in Kontakt mit der Sphäre des Sakralen zu treten. Konstitutiv für die religiöse Sprache und Kommunikation in ihren unterschiedlichen Ausprägungen ist der individuelle oder kollektive Wechsel von der Sinnwelt des (profanen) Alltags in die Sinnwelt des Religiösen (zum Konzept der geschlossenen Sinnbereiche vgl. Schütz 1971, Bd. 1, 263 ff.). Kulturspezifisch geformte und institutionell geregelte Rituale bilden den Rahmen für die religiöse Kommunikation, sie ermöglichen die Tradierung kanonischer Botschaften und sie festigen die soziale Organisation des rituellen Kollektivs (vgl. Rappaport 1999). Die spezifischen Vorannahmen der Kommunikationsteilnehmer haben in der Geschichte der Sprache von Religion und Kirche einen klar umrissenen bereichsspezifischen Stil hervorgebracht, der auf allen Ebenen der sprachlich-kommunikativen Praxis von der Wortwahl bis zur Körpersprache empirisch nachvollziehbar und zitierbar ist (vgl. Sandig 1986, 303). Die sonntägliche Predigt ist, auch wenn dies aus der Binnenperspektive anders wahrgenommen wird, ein Exemplar der öffentlichen Rede neben anderen: Pfarrer gestalten ihre Ansprachen ⫺ nicht anders als Lehrer, Strafverteidiger oder Politiker ⫺ nach den klassischen Konzepten des docere, delectare und movere, um möglichst effektiv und eindrücklich auf ihre Hörer zu wirken. Im Folgenden wird ⫺ dem Konzept dieses Handbuches entsprechend ⫺ die pragmatisch kommunikative Dimension der Sprache von Religion und Kirche fokussiert. Wir unterscheiden in der Darstellung rhetorisch-stilistischer Merkmale drei Bereiche: Religiöse Sprache und Kommunikation (2), Pastoraler Diskurs (3) und Sprache der Predigt (4).
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2. Religiöse Sprache und Kommunikation 2.1. Merkmale der religiösen Sprache und des religiösen Stils Religiös-ritueller Sprachgebrauch dient der Expression, Konfirmation und Evokation religiöser Überzeugungen. Im Kontext religiöser Aktivitäten lassen sich unterschiedliche Formen der religiösen Symbolik unterscheiden, die sich z. T. überschneiden: Ein materielles Objekt steht für ein religiöses Konzept (Kreuz ⫽ Leiden und Auferstehung Jesu), eine instrumentelle Tätigkeit wird durch das kanonische Wissen der Gemeinschaft mit einer zusätzlichen Bedeutung versehen (z. B. mit Wasser übergießen ⫽ taufen), eine komplexe soziale Aktivität wird als Ganzes mit der Ursprungssituation identifiziert (gemeinsam Brot und Wein verzehren ⫽ Vollzug des Abendmahls). Eine sprachliche Aktivität ist im Kontext der religiösen Rede u. a. dann symbolisch zu verstehen, wenn sie (a) einen alltagssprachlichen Ausdruck enthält, der religiös konnotiert ist („Herr“ ⫽ Gott), (b) eine „uneigentliche“, vertikale Kommunikation etabliert oder wenn sie (c) eine religiöse Disposition auslöst. Die religiöse Sprache muss nicht notwendigerweise bestimmte formale Merkmale aufweisen, denn aus Teilnehmersicht kann in religiös-ritueller Kommunikation im Prinzip jede sprachliche Handlung symbolisch über sich selbst hinausweisen bzw. eine rituelle Bedeutung haben (vgl. Auburger 2005, 362). Ob der Sinn religiöser Terme adäquat erfasst wird oder werden kann, hängt wesentlich von der Disposition des Hörers ab, ob er nämlich bereit und in der Lage ist, die getroffene Aussage als Modell für eine transzendente Wirklichkeit zu interpretieren (vgl. Pater 1971, 20 f.; 181). Als prominente Merkmale der religiösen Sprache und Kommunikation werden in der Literatur immer wieder genannt: Merkwürdigkeit bzw. Oddness (Pater 1971, 46; Bayer 2004, 42 nach Stiver 1996), Symbolik bzw. Transzendenz (Grabner-Haider 1973; Jetter 1978), Unübersetzbarkeit (Jetter 1978, 165), Aufhebung der Arbitrarität (Bayer 2004, 37), Aufhebung bzw. Verletzung der Konversationsmaximen (Grabner-Haider 1973, 201; Bayer 2004, 43; vgl. auch Logik des Rituals, Werlen 1987), Selbstmächtigkeit (Tillich 1962, 215; Pater 1971; Ladrie`re 1973; vgl. auch Performativität, Rappaport 1999), Autokommunikativität (Leach 1978; Rappaport 1999). Eine systematische Zuordnung von sprachlich-stilistischen Besonderheiten der religiösen Kommunikation ermöglicht die anthropologische Ritualforschung. Rappaport (1999) nennt die Merkmale Vorgeformtheit (encoding by others than performers), Formalisierung (formality), Unveränderlichkeit der Agenda bzw. der liturgischen Ordnung (invariance of liturgical order), Performativität (performance), Autokommunikation (auto-communication), selbstreferentielle und kanonische Botschaften (self-referential and canonical messages). Im Folgenden werden einige der genannten Merkmale näher beschrieben.
2.2. Konversationsmaximen und Logik des Rituals Grice (1975) formuliert mit dem „cooperation principle“ ein allgemeines Prinzip, dem die Teilnehmer eines „talk exchange“ folgen müssen, wenn sie zusammenhängend und
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
Zweck orientiert, d. h. rational, miteinander kommunizieren. Von dem übergeordneten Prinzip leitet Grice in Anlehnung an Kant vier Maximen ab, die von den Teilnehmern eines „maximal effektiven Informationsaustausches“ stillschweigend befolgt werden. Grice’ bewusste Reduktion des Kommunikationsereignisses auf die Darstellungsfunktion der Sprache erlaubt auf dem Wege der Kontrastierung eine deutliche Profilierung der Merkmale religiös-ritueller Kommunikation. Die erste Maxime (Maxime der Quantität: „Mache deinen Beitrag so informativ wie nötig ⫺ mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig!“) expliziert den Zweck des kommunikativen Austausches. Sie widerspricht im Kern der Logik ritueller Kommunikation, denn im Ritual werden vorrangig keine neuen Informationen übermittelt, sondern die handelnden Subjekte kommunizieren, um bestimmte Grundüberzeugungen zu wiederholen und zu bestätigen. Auch wenn aus theologischer Sicht häufig das Überraschende und Neue der vermittelten Botschaft hervorgehoben wird, so bleiben wesentliche Teile des Rituals doch im Sinne der Grice’schen Maxime redundant. Die zweite Maxime (Maxime der Qualität: „Sage nichts, was du für falsch hältst. Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen!“) nennt als kommunikationslogische Bedingung die Aufrichtigkeit der Sprecher. Im Sinne von Habermas (1981) sind hiermit auch die Geltungsansprüche angesprochen, die von den Teilnehmern eines rationalen Diskurses erhoben werden. Für die religiöse Kommunikation gelten diese Verpflichtungen nicht. Ob der einzelne Teilnehmer religiöser Kommunikation aufrichtig ist oder nicht, steht objektiv nicht zur Debatte. Nicht die Begründung von Tatsachenbehauptungen steht im Mittelpunkt religiöser Kommunikation, sondern das Bekenntnis von Glaubensinhalten und der Vollzug kanonischen Wissens (zur Komplementarität von Diskurs und Ritual vgl. Cornehl 1974; Daiber u. a. 1978; Jetter 1978; Rappaport 1999). Die dritte Maxime (Maxime der Relation: „Sei relevant!“) ist interpretierbar als Notwendigkeit, sich an das Thema des Gesprächs zu halten. Diese Maxime kann in religiösritueller Kommunikation in der Regel nicht eingehalten werden, da das Ritual ⫺ und zwar systematisch und unvermeidlich im Sinne der Abgrenzung von sakraler und profaner Sinnsphäre ⫺ aus zahlreichen vorgefertigten Textbausteinen zusammengefügt ist, die keine Kohärenz im Sinne der Alltagskommunikation aufweisen müssen. Die vierte Maxime (Maxime der Modalität: „Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks. Vermeide Mehrdeutigkeit. Sei kurz. Der Reihe nach!“) fokussiert das Wie der kommunikativen Handlung, die semantische Qualität und die sequentielle Ordnung der gebotenen Informationen. Diese Maxime gilt für die meisten Fälle religiöser Kommunikation allenfalls modifiziert. Für eine bestimmte liturgische Ordnung kann es z. B. aufwendige theologische Begründungen geben, ohne dass diese für den einzelnen Gottesdienstbesucher transparent sein müssen. Auch in den nicht agendarisch geregelten Teilen des Rituals werden Verstehenswiderstände z. T. ganz bewusst gesetzt. „Dunkelheit des Ausdrucks“ ist in religiöser Kommunikation beim Gebrauch von Archaismen, von Fachsprache oder liturgischen Textbausteinen durchaus erwartbar.
2.3. Unübersetzbarkeit religiöser Sprache und Texte Die Unübersetzbarkeit religiöser Sprache und Texte hat eine ritualtheoretische und eine symboltheoretische Dimension. Zum einen können religiöse Texte nicht ohne weiteres verändert werden, weil ihre rituelle Funktion an eine bestimmte Form gebunden ist, zum
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anderen geht die Unübersetzbarkeit einzelner Ausdrücke auf spezifische Eigenschaften religiöser Symbole zurück: Aus theologischer Sicht unterscheiden sich religiöse Symbole signifikant von anderen sprachlichen Zeichen. Tillich (1978, 196) spricht von der „Uneigentlichkeit“, der „Anschaulichkeit“ und der „Selbstmächtigkeit“ des religiösen Symbols, wobei die Unübersetzbarkeit religiöser Symbole vor allem aus dem zuletzt genannten Merkmal resultiert: „Sie (die Selbstmächtigkeit, I. P.) besagt, dass das Symbol eine ihm selbst innewohnende Macht hat, die es von dem bloßen in sich ohnmächtigen Zeichen unterscheidet. Dieses Merkmal ist maßgebend für die Trennung von Zeichen und Symbol. Das Zeichen ist willkürlich austauschbar. Es hat keine Notwendigkeit, weil es keine innere Macht hat. Das Symbol hat Notwendigkeit. Es kann nicht ausgetauscht werden.“
Natürlich könnten religiöse Texte jederzeit in eine verständliche Sprache übertragen werden, aber dies wäre im Sinne der Kommunikationsziele nur selten adäquat. Die rituelle Form, der erwartbare Bruch von Konversationsmaximen und die Unübersetzbarkeit führen zu einer spezifischen, aus Teilnehmersicht durchaus akzeptablen, sinnvollen oder wünschenswerten Unverständlichkeit religiöser Sprache. Dies gilt in ähnlicher Form auch außerhalb des rituellen Kontextes: Eine besonders intensiv erlebte religiöse Erfahrung, z. B. eine Konversionserfahrung, kann den Erzähler nach passenden Worten ringen lassen (vgl. Ulmer 1988, 26). Die funktionale Unverständlichkeit religiöser Sprache wird für den Betrachter am offensichtlichsten, wenn die Teilnehmer religiöser Kommunikation sich einer besonders markierten Sakralsprache bedienen. Bayer (2004, 33) zitiert als Extrembeispiel eine aktuelle katholische Internetseite zur Rolle des Lateinischen als Kultsprache: „Was in der heiligen Messe geschieht, können wir nicht begreifen. (…) Die lateinische Sprache ist wie ein heiliger Schleier, der einerseits die heiligen Mysterien schützend verhüllt, sie andererseits aber auch enthüllt, indem sie den Menschen darauf stößt, dass hier etwas geschieht, was man nicht verstehen kann.“
Die Unverständlichkeit religiöser Texte beschränkt sich nicht auf das Lexikon einer Fachsprache und auf eine altertümliche Grammatik, sondern es kommt in religiöser Kommunikation im Vollzug vorgefertigter Textbausteine durch die Verwendung archaischer bzw. petrifizierter Texte regelmäßig auch auf Textebene zu Irritationen und Inkohärenzen. Als Beispiel mag die erste Strophe eines bekannten Chorals dienen, der häufig zur Eröffnung des Gottesdienstes gesungen wird (EKG 234): „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren, meine geliebete Seele, das ist mein Begehren. Kommet zu Hauf ! Psalter und Harfe, wacht auf! Lasset den Lobgesang hören!“
Typisch für die Textsorte ist zum einen die Verwendung archaischer Lexeme („Psalter“) und grammatischer Formen („kommet“), spezifischer sprachlicher Bilder oder Modelle zur Kennzeichnung der Gottheit („den mächtigen König der Ehren“) und die rhythmische Gestaltung. Zum anderen fällt auf, dass der Lobgesang wiederum durch die Aufforderung zum Loben realisiert wird, wobei der Adressat dieser Aufforderung nicht klar zu ermitteln ist (vgl. „Lobe den Herren!“, „Kommet zu Hauf “ …). Textimmanent dürfte
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
dies die Gemeinde selbst bzw. eine ihrer Vorgängerinnen sein, in der Aktualisierung des Sprechaktes kann die Gemeinde aber kaum sich selbst meinen. Die Unübersetzbarkeit religiös-ritueller Texte erweist sich als ambivalent für die religiöse Kommunikation: Einerseits bedarf es einer stabilen Sakralsprache als Ausdruck des nicht-alltäglichen Kommunikationsinhalts, andererseits kann ein magisches Sprachverständnis nicht im Sinne eines neuzeitlichen „aufgeklärten“ Religionsverständnisses sein (vgl. Grözinger 1991, 216). Die Gefahr einer „Dämonisierung“ religiöser Sprache tritt nach Tillich (1978, 208; 222) immer dann auf, wenn Ausdruck und Inhalt eines Textes von den Teilnehmern nicht mehr unterschieden werden (können). Ob es sinnvoll ist, das magische Sprachverständnis in religiöser Kommunikation mit dem Konzept der Arbitrarität in Beziehung zu bringen, ist aus linguistischer Sicht fragwürdig, da es in diesem Kontext weniger um sprachliche und sprachmagische als um theologische Sachverhalte geht.
2.4. Horizontale und vertikale Kommunikation Im Ritual treten systematisch zwei ⫺ häufig nur analytisch zu unterscheidende ⫺ Kommunikationsebenen auf: Die Kommunikation der Gläubigen mit Gott (vertikale Kommunikation) und die Kommunikation der Gläubigen untereinander bzw. die Kommunikation der Gläubigen mit sich selbst (horizontale Kommunikation). Die anthropologische Ritualforschung spricht von „Autokommunikation“, wenn der eigentliche Adressat vertikaler Kommunikation der Sender selbst ist (s. o.). Zwar beobachten wir in der Praxis auch eine klare Differenzierung der Ebenen, wenn z. B. in der Anfangsphase eines Gottesdienstes die Ansprache der Gemeinde und das Gebet vom Pastor durch unterschiedliche Körperhaltungen sichtbar auseinander gehalten werden. Aber die Analyse kanonischer Texte zeigt typischerweise auch die Vermischung der beiden Ebenen. Als Beispiel dient der Anfang einer kirchlichen Trauung (vgl. Agende III, 117 und Paul 2005, 324 f.): „im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen. Die Gnade des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit über denen, die ihn fürchten, und seine Gerechtigkeit auf Kindeskind, bei denen, die seinen Bund achten und gedenken an seine Gebote, dass sie danach tun. Laßt uns beten: Allmächtiger Gott und Vater, du hast den Ehestand gestiftet und deinen Segen verheißen denen, die in diesem Stande gehorsam leben. So bitten wir dich, erleuchte dieses Paar durch den Heiligen Geist, dass sie deinen Willen erkennen und ihre Ehe in deinem Namen führen. Durch Jesus Christus unseren Herrn. Amen.“
Die in vertikaler Kommunikationshaltung vorgetragene Bitte um Erleuchtung (direktiver Sprechakt) erhöht autokommunikativ die Selbstverpflichtung der Brautleute, eine Ehe im Sinne des kanonischen Wissens zu führen (kommissiver Sprechakt).
2.5. Rituelle Mechanik und Inkohärenz Die rituelle Mechanik religiöser Kommunikation führt, wenn man die Regeln der Alltagskommunikation zugrunde legt, zu Inkohärenzen, sobald heterogene Textpassagen
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unkommentiert nacheinander vollzogen werden. Das folgende Beispiel zeigt den agendarischen Vollzug in der Eingangsphase eines Rundfunkgottesdienstes (Aufnahme Elisabeth Gülich): „Pastor: Das Evangelium steht bei Lukas im 13. Kapitel. Es ist das Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum, dem doch noch eine Chance gegeben wurde Gemeinde: Ehr sei dir o Herre Pastor: Jesus erzählte, ein Mann hatte in seinem Weinberg einen Feigenbaum. Und er kam suchte nach Früchten und fand keine (…). Aber der Gärtner erwiderte: Ach Herr, laß ihn noch ein einziges Jahr stehen, ich will um ihn herum graben und ihn düngen. Vielleicht trägt er doch noch. Wenn nicht, dann laß ihn abhauen Gemeinde: Lob sei Dir o Christe.“
Die Dialogizität der zitierten Passage konstituiert kein Gespräch zwischen Pastor und Gemeinde. Vielmehr werden die agendarischen Formeln „Ehr sei dir o Herre“ und „Lob sei dir o Christe“ in jedem Sonntagsgottesdienst als Rahmenelement der Lesung vorgetragen und es wäre daher sinnwidrig einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Perikope und ritueller Formel herstellen zu wollen. Die Eröffnung des rituellen Vollzugs setzt qualitativ andere konditionelle Relevanzen als ein Eröffnungszug in der Alltagskommunikation.
3. Pastoraler Diskurs Die Rolle des Pastors hat sich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts im Hinblick auf die kommunikativen Aufgaben deutlich verändert. In dem Maße wie Ad-hoc-, Proloco- und kasusspezifische Regelungen des Gottesdienstes immer weitere Verbreitung finden, steigt die Verantwortung des Ritualleiters für die Organisation und das Gelingen der Gottesdienste. Da in der Gestaltung des Gottesdienstes einerseits stärker als zuvor auf situations- und institutionsspezifische Aufgabenstellungen zu reagieren ist, andererseits aber die Selbstverständlichkeit des liturgischen Vollzuges offenbar auch bei den Ritualleitern immer weniger vorausgesetzt werden kann, bedarf es einer besonderen rhetorischen Schulung. Die „liturgische Präsenz“ des Ritualleiters schließt schauspielerische Fähigkeiten mit ein (vgl. Kabel 2003).
3.1. Kommunikationsebenen 3.1.1. Wechsel von horizontaler zu vertikaler Kommunikation In seiner institutionsspezifischen Rolle agiert der Pastor als Vermittler sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Kommunikationsrichtung: Er begrüßt z. B. die Gemeinde vor dem Gottesdienst, er betet mit ihr zu Gott und er verkündet Gottes Wort. Der Wechsel von der horizontalen in die vertikale Kommunikationsebene kann schrittweise organisiert werden. Er kann aber auch abrupt erfolgen wie im folgenden Beispiel. Durch das spontan wirkende Gebet organisiert der Pastor den Übergang von der Erläuterung zum
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
Vollzug religiöser Kommunikation. Damit setzt er ein rhetorisches Verfahren ein, dass in modernen Gottesdiensten typisch geworden sein dürfte für das Aufgabenprofil des Ritualleiters (vgl. Paul 1991): „hier bin ich . und so bin ich . ihr die Gemeinde und unter euch is einer von euch der Pfarrer . . und der h kann danach für euch’ und für sich’ . nach dieser alten Ordnung . das erlösende Wort sprechen . das lösende . das befreiende . . (Wort für Wort) ich spreche euch los im Namen Gottes⫹ . . ja das Unerhörte . darf ich dann zu euch sagen . oder auch einfach’ . Herr . ich hoffe auf dich . du bist mein Gott . meine Zeit steht in deinen Händen . . dazu . und nur dazu . (langsam und leiser) sind wir heute hier zusammengekommen liebe Gemeinde⫹.“ (Transkriptionszeichen: . kurzes Absetzen; . . kurze Pause; ’ steigende Melodie; (leise) Charakterisierung einer Sprechweise; ⫹ Ende einer derartigen Charakterisierung)
Das spontan eingeflochtene Gebet soll veranschaulichen, was der Pastor der Gemeinde parallel in horizontaler Kommunikation erklärt. Der Wechsel der Modalität dient wesentlich der Konzentration der Gemeinde auf das Wesentliche, nämlich der Einnahme einer ritualspezifischen Kommunikationshaltung als Vorbereitung auf das anschließende Beichtgebet.
3.1.2. Reduktion vertikaler und horizontaler Distanz Die Wirksamkeit seines kommunikativen Handelns kann der Ritualleiter erhöhen, indem er die Distanz, die er einerseits zu Gott, andererseits aufgrund seiner privilegierten Position auch gegenüber den „normalen“ Kirchgängern hat, gezielt reduziert. Im folgenden Beispiel schafft der Ritualleiter die Voraussetzungen für eine gelungene Predigt, indem er die Distanz zwischen Gottes Wort und Menschenwort signifikant reduziert (Kirche am Südstern 9. 1. 2005. Die Kommentare des Predigers erscheinen kursiv). „(…) Der zweite Text, den ich lese, den finden wir im Markus Evangelium Kapitel 11, von Vers 12 an. Da heißt es: Am nächsten Tag ⫺ bin ich froh, dass es nächste Tage gibt, dass man mal schlafen kann nach so einem frustrierenden Tag, und dann beginnt ein neuer Morgen. Gestern wars noch grau, heute scheint die Sonne. Ein neuer Start. So hat es Gott in seiner Weisheit eingerichtet ⫺ am nächsten Tag gingen sie von Bethanien weg. Und es hungerte ihn. Und Jesus sah einen Feigenbaum von ferne, der Blätter hatte. Da ging er hin, ob er etwas drauf fände. Und als er zu ihm kam, fand er nichts. Keine Frucht, nur Blätter. Es war auch noch gar nicht Zeit für die Feigen. Aber das wusste er. (…)“
Während die meisten Prediger nach meinen Beobachtungen großen Aufwand treiben, um die horizontale und die vertikale Achse ritueller Kommunikation rhetorisch und stilistisch sauber von einander zu trennen, finden wir in diesem konkreten Fall eine entgegengesetzte Strategie: Der Prediger ergänzt ⫺ allem Anschein nach spontan ⫺ im Vollzug die Verlesung des Predigttextes mit kommentierenden Zusätzen. Zugespitzt könnte man sagen, dass der Unterschied zwischen vertikaler Kommunikation (Verlesung von Gottes Wort) und horizontaler Kommunikation (Predigt) aufgehoben wird, da die Predigt bereits mit der Verlesung des Evangeliums beginnt. Durch eine persönliche, individuelle Ansprache am Anfang des Gottesdienstes versucht der Pastor im nächsten Beispiel zwischen der rituellen und der alltagsweltlichen Perspektive zu vermitteln (Paul 1990, 245):
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„Und wegen euch haben wir also heute den Gottesdienst ein bisschen umgestellt, weil ich mich erinnern konnte, als ich so das erste Mal ⫺ so mit sieben acht Jahren ⫺ in den Gottesdienst ging, da war das für mich zunächst mal langweilig.“
Hier wird eine in modernen Gottesdiensten sehr häufig zu beobachtende Strategie erkennbar: Die Wirksamkeit der horizontalen Rede im Ritual soll durch die bessere Ansprache bestimmter Zielgruppen gesteigert werden. Für dieses Vorhaben eignen sich vor allem Kasualien oder kasusspezifische Inszenierungen des Rituals wie Gottesdienste für Schulanfänger, Motorradfahrer, Familiengottesdienste usw.
3.2. Stilebenen des pastoralen Diskurses Im Verlaufe eines Gottesdienstes wechseln Ritualleiter systematisch zwischen alltagsweltlicher Ansprache der Gemeinde, Organisation institutioneller Aufgaben und liturgischer Rede. Bedingt durch die Heterogenität der miteinander verknüpften Textbausteine und den jeweils etablierten Kommunikationsebenen lassen sich die einzelnen Teile des Gottesdienstes unterschiedlichen Stilebenen und Sprechstilen zuordnen. Deutlich zu unterscheiden sind u. a. alltagsweltliche und rituelle Begrüßungen, organisierende Äußerungen und Regieanweisungen, rituelle Formeln, Lesungen, vorformulierte und frei formulierte Gebete, liturgischer (Sprech-)Gesang, Predigt. Bei der Unterscheidung von pastoralen Sprechstilen ist nach Gülich (1985) insbesondere zu achten auf: Intonationsverlauf, Akzentuierung, Pausen, Sprechtempo, Lautstärke, Code-Switching, dialektale Färbung. Der Wechsel von der alltagsweltlichen zur rituellen Kommunikation wird häufig durch einen markanten „pastoralen“ Ton organisiert, der sich im Allgemeinen durch eine bedeutend langsamere Sprechweise mit Dehnung der Endsilben auszeichnet (zur Funktion der „Intonierungen“ im Ritual vgl. Enninger/Raith 1982; zum „pastoralen Ton“ Paul 1990, 169). Aus sprechwissenschaftlicher Sicht erfordern die kanonischen Texte zwar durchaus eine pathetische Stil- und Ausdruckshaltung, übertriebenes, unangemessenes Pathos wird aber kritisiert (Geißner 1966): „Am Pathos der Verkündigung setzt häufig Kritik ein. Deshalb ist genauer zu unterscheiden. Der Einwand kann sich nur gegen die Zerrformen richten, gegen den ,salbungsvollen oder exaltierten Ton‘, die ,pathetischen Stilisierungen‘, die ,gravitätische Haltung‘. Alle drei Entartungserscheinungen lassen sich genau beschreiben. Zum Beispiel entsteht der salbungsvolle Ton durch verminderten Artikulationsgriff bei geweitetem Hintermund, so daß eine vollmundige, fast genüssliche Klangfülle entsteht, die semper legato entweder auf Vatergestus dunkel gefärbt oder mit Vibrato durch extreme Intervalle bewegt wird.“
3.3. Symbolische Modalität und religiöser Jargon Die Rhetorik des pastoralen Diskurses stößt aus theologischer Sicht an eine Grenze, da sich religiöse Symbole nicht „machen“ lassen (vgl. Tillich 1978, 196). Religiöse Symbole sind weder diskursiv fassbar, noch entfalten sie ihre eigentliche Bedeutung im unreflek-
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
tierten Vollzug. Ihre Funktionsweise ist der des automatisierten und mechanisierten Vollzugs ritueller Passagen entgegengesetzt (vgl. Paul 1990, 189 ff.). Vergleichbar dem Inhalt eines ästhetischen Zeichens stellt sich der Sinn eines religiösen Zeichens nicht routiniert ein. Die sprachliche Form religiöser Symbole produziert einen Verstehenswiderstand, dem auf Rezipientenseite ein textspezifisches Wissen und eine besondere Verstehensarbeit entspricht. Ein spezifisches rhetorisches Verfahren besteht darin, Kernaussagen kanonischer Texte durch spontane Symbolisierungen zu verdichten und zu operationalisieren. Im folgenden Beispiel kündigt der Pastor nach der Predigt eine Kollekte für die Telefonseelsorge an (vgl. Paul 1990, 220 ff.): „Ich lese hier, dass durchschnittlich pro Tag 70 Anrufe dort kommen. Die Telefonseelsorge ist Tag und Nacht besetzt, mehrere Telefone. Und dort haben Menschen, die ⫺ ja ⫺ das Dach ihrer Sorgen noch nicht so abgedeckt haben, dass sie sich nach außen einem sichtbaren Gegenüber erklären können, die Gelegenheit, jemanden, wenigstens etwas, einem ihnen Unbekannten ins Ohr zu sagen. Und einen Zuhörer zu finden, das ist manchmal schon Dach abdecken, überhaupt zuzuhören, gar nicht mal die furchtbar vielen guten Ratschläge, sondern die Geduld, sich ganz auf diesen sorgenvollen Menschen einzulassen.“
In der ad-hoc-Symbolisierung wird aus der Erzählung von der Heilung des Gichtbrüchigen ein sprachliches Bild („Dach der Sorgen“) abgeleitet, dergestalt, dass die Gemeinde die kanonische Geschichte „neu entdecken“ kann. Im Kontext des folgenden Kollektengebetes ist damit sogar eine konkrete Handlungsanweisung verbunden: „Herr lass uns Dachabdecker sein!“
3.4. Diskursive Einrahmung und Didaktisierung ormelhater Texte Vorformulierte, ggf. auswendig gelernte Texte erleichtern die Konzentration auf den Vollzug und sind damit wichtig für das Gelingen religiös-ritueller Kommunikation (vgl. Jetter 1978, 22). Andererseits verleiten die formelhaften Texte zu einem unreflektierten Dahersagen. Dieser Tendenz versuchen viele Pastoren entgegenzusteuern, indem sie formelhafte Texte diskursiv einleiten oder kommentieren. Dies gilt insbesondere für vorformulierte Texte wie das Vaterunser oder das Glaubensbekenntnis: „Lasset uns Gott loben mit dem Bekenntnis unseres Glaubens“; „Unseren Dank sagen wir mit unserem gemeinsamen Glaubensbekenntnis …“
Hier wird das gemeinsame Glaubensbekenntnis durch die diskursive Einrahmung mit einem übergeordneten Handlungsaspekt, einer Meta-Illokution, versehen. Funktionalisierung meint in diesem Zusammenhang, dass das Bekenntnis, das bereits einen eindeutigen Handlungsaspekt hat, im konkreten Vollzug darüber hinaus die Funktion haben soll Gott zu loben oder ihm zu danken. In den nächsten Beispielen wird die diskursive Rahmung der Gebetsformel um eine Lern- oder Suchaufgabe erweitert: „Wir beten wie Christus uns gelehrt hat“; „Wir wollen miteinander die berühmten Worte des Glaubensbekenntnisses sprechen, dabei Gott loben und um den rechten Glauben bitten …“;
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„Wir wollen jetzt miteinander das Vaterunser beten und vielleicht ganz besonders neu entdecken, dass dieses Gebet die ganze Welt umspannt, das Gestrige, das Heutige und alles was kommt …“
Die Aufforderung im Gebet etwas neu zu entdecken, spiegelt die Widersprüchlichkeit der Kommunikationssituation: Die reflexive Remotivierung der Gebetsformel steht in Konkurrenz zum rituellen Vollzug.
3.5. Ausgleichshandlungen Alltagssprachliche Elemente werden bewusst in das Ritual integriert, um es gewissermaßen adressatenfreundlicher zu gestalten, andererseits müssen Ritualleiter offenbar der Macht der Form Rechnung tragen, um die Funktionsweise des Rituals nicht zu gefährden. Im folgenden Beispiel erläutert der Pastor zu Beginn einer „Rockmesse“ den Slogan einer Jugendwoche: „Ruf doch bei Gott mal an“ (Aufnahme Paul): „,Ruf doch bei Gott mal an‘. So haben wir es eben von der Band gehört. Dies ist das Motto unserer Jugendwoche ⫺ ja ⫺ gewesen muß ich nun beinah sagen. Unsere junge Gemeinde hatte dieses Motto gewählt, um damit auszudrücken, dass alles, was wir tun, eine Beziehung herstellen soll zu Gott, dem Herrn. Und deshalb haben wir mit diesem Lied begonnen.“
Die Erläuterung des Pfarrers bewegt sich im Spannungsfeld zwischen erwünschter Aktualität und Modernität kirchlicher Kommunikation und notwendiger Besinnung auf die Tradition. Kommentierende und didaktisierende Einschübe sind in den Kernphasen des Rituals nicht oder nur in extremen Ausnahmefällen möglich. Beim Vollzug der Sakramente können daher alltagsweltliche und religiös-kirchliche Auffassung von Ritualität in Konflikt miteinander geraten. Im folgenden Beispiel entschuldigt sich der Pastor dafür, dass während der Taufhandlung fotografiert wurde (vgl. Paul 1990, 135): „Ich bitte die Gemeinde um Verzeihung, dass hier fotografiert wurde. Aber wenn es dann schon so weit ist, will man auch nicht wieder zurückschicken. Ich hab das wahrscheinlich vergessen im Gespräch zu sagen. Wir haben es übersehn.“
Nach kirchlicher Auffassung funktionieren die heiligen Sakramente der Kirche „ex opere operato“, d. h. das Geheimnis ihres Wirkens geschieht unabhängig von den beteiligten Personen. Das Wesen des Sakramentes liegt im (unsichtbaren) Handeln Gottes. Es ist also weniger das Klicken der Kameras, das die religiöse Kommunikation gestört hat, sondern es ist die Einstellung und das unvollständige rituelle Wissen der Kasualgemeinde, für die der Pastor im Namen des rituellen Kollektivs persönlich die Verantwortung übernimmt.
4. Sprache der Predigt 4.1. Predigt und Rhetorik aus praktisch-theologischer Sicht Seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts lässt sich eine Belebung der Diskussion um das Kommunikationsverhalten der Kirche als Institution beobachten, von der auch
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neue Impulse für das Verständnis der Predigt ausgegangen sind. Die öffentliche Debatte um die theoretischen Bedingungen und die praktischen Möglichkeiten „herrschaftsfreier Kommunikation“ (Habermas) ging an der Kirche nicht spurlos vorbei. Es entstand ein bis heute ungelöster Normenkonflikt, den der Soziologe Weymann-Weyhe (1984, 86) so zusammenfasst: „Die Kirchen müssen aufgrund ihrer Voraussetzungen in Lehre und Verfaßtheit auf Autorität und unbestreitbaren Geltungsanspruch pochen. Die Welt hingegen muß auf Einsicht, Verständigung und kommunikatives Handeln setzen.“
Liturgische Experimente und „Gottesdienste in neuer Gestalt“, die in der Folgezeit vermehrt auftreten, sind als der praktische Versuch zu deuten, die Kommunikationskrise der Kirche durch eine Vermittlung der rituellen Kommunikation mit Erkenntnissen aus der modernen Handlungs- und Kommunikationstheorie zu bewältigen. In der Homiletik gibt es traditionell eine verständliche Zurückhaltung gegenüber der klassischen Rhetorik. Da der „Heilige Geist weht, wo er will“, sind die Verkünder von Gottes Wort in ihren Predigten nach Auffassung vieler Theologen nicht auf ästhetisierende Zugaben und rhetorische Tricks angewiesen. Der Reformator Martin Luther wird mit den Worten zitiert (von den Steinen 1979, 108): „Wenn man rhetorisiert und viel Wort machet ohn Fundament …, so ists nur ein geschmückt Ding, und geschnitzter und gemaleter Götze.“ In dieselbe Richtung weist ein gern zitiertes Bonmot (Grözinger 1979, 265): „Die Rhetorik ist nicht vom Teufel, doch versteht er sich am besten auf sie.“ Die gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungs- und Modernisierungstendenzen, der Normenkonflikt zwischen Kirche und Öffentlichkeit und der anhaltende Wirkungsverlust der amtskirchlichen Kommunikation haben die Auseinandersetzung um die aktuelle Funktion und die angemessene Form der Predigt intensiviert und zu einer deutlichen Ausdifferenzierung von z. T. schlecht zu vereinbarenden Positionen beigetragen. Eine gewisse Tendenz zur Instrumentalisierung der Predigt lässt sich bereits in den zahlreichen „Attributpredigten“ finden, die Nembach (1996, 100 ff.) aus aktuellen Predigtanleitungen herausdestilliert hat. Zu den gegenwärtig verbreiteten Personalstilen gehören demzufolge: Konkret predigen, Persönlich predigen, Biblisch predigen, Mit Bildern predigen, Dialogisch predigen, Predigt als Gespräch, Gestalthomiletik, Kreativität und Predigtarbeit, Leiden, Literaturpredigten, Moderne Predigt, Spät-moderne Predigt, Predigt als Teil eines Lernprozesses, Politisch predigen, Positiv predigen, Seelsorgerlich predigen, Predigt semiotisch, Sinnlich predigen, Zeichenpredigt.
4.2. Drei Typen der modernen Predigt Legt man als Kriterien für die Beurteilung des praktisch-theologischen Rhetorikverständnisses neben ausschließlich theologischen Merkmalen wie der Haltung der Prediger zum Wort Gottes und dessen Wahrheitsanspruch die Kompatibilität mit anderen massenmedialen Veranstaltungen zugrunde, dann lassen sich annäherungsweise drei Positionen unterscheiden, die sich jeweils durch ein prägnantes Verständnis von Form und Inhalt der Predigt auszeichnen. Die skizzierten Positionen ergeben in der Praxis der Predigt eine komplizierte Gemengelage. Grundsätzlich bewegen sich die einzelnen Prediger und
136. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Religion und Kirche
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ihre Gemeinden ebenso wie bei den agendarisch geregelten Teilen des Gottesdienstes in einem Spannungsfeld von ritueller, institutioneller und alltagsweltlicher Kommunikation.
4.2.1. Predigt als autoritäre Anrede Grözinger (1979) unterscheidet eine instrumentelle und eine hermeneutische Haltung der praktischen Theologie gegenüber der Rhetorik. Die erste Position ⫺ zurückgehend auf Augustinus ⫺ zeichnet sich durch eine klare Trennung von Inhalt und Form aus. Sie wird wie folgt charakterisiert (ebd., 266): „Auf der einen Seite steht die vorab schon immer gewusste Wahrheit (Theologie), auf der anderen Seite eine zur bloßen Weitervermittlung dieser Wahrheit bestimmte Technik. Die Rhetorik wird damit jeder erkenntnistheoretischen oder hermeneutischen Funktion beraubt.“
Im Extremfall kann die Trennung von Inhalt und Form zusammen mit einem dogmatischen Textverständnis des Predigers sogar zu einer anti-diskursiven, wenn nicht zynisch wirkenden Spielart der Homiletik führen. Diese Position, der auch agitatorische Redeformen zur Durchsetzung der einen Wahrheit legitim erscheinen, repräsentiert u. a. von den Steinen (1979, 126 f.): „Für die Mitteilung und Durchsetzung von Wahrheit sollte dem Prediger, als Zeugen und Redner im Namen Gottes, jedes rhetorische Gestaltungsmittel recht sein. (…) Wahrheit, mit der es christliche Rede zu tun hat, wird nicht durch einen rhetorisch-demokratischen Abklärungsprozeß ermittelt und so einem Wettbewerb preisgegeben, sondern aus den biblischen Schriften als Ereignis der Historie und Zeugnis des Glaubens eruiert, um sie in verantwortlicher Weise dem Hörer anzusagen.“
4.2.2. Predigt als autoritative Anrede Für die Vertreter der dialektischen Theologie stellt sich die Frage nach der Vermittlung der einen Wahrheit anders dar. Form und Inhalt der Botschaft können nicht so eindeutig auseinander gehalten werden wie es die Vertreter der ersten Position propagieren. Predigen bedeutet hier weder autoritäre Belehrung noch bloße Vermittlung von Tatsachen, sondern die Ansprache des Predigers an die Gemeinde wird als „autoritative Anrede“ aufgefasst, d. h. als Anrede des Wortes Gottes, das paradoxerweise durch einen Menschen gesprochen wird/werden kann (Barth 1928, 30): „Die Predigt ist Gottes Wort, gesprochen von ihm selbst unter Inanspruchnahme des Dienstes der in freier Rede stattfindenden, Menschen der Gegenwart angehenden Erklärung eines biblischen Textes durch einen in der ihrem Auftrag gehorsamen Kirche dazu Berufenen.“
Für das Selbstverständnis des Predigers bedeutet dies, daß er sich nicht als Propagandist, sondern als berufener „Diener des Wortes“ versteht. Barth unterstreicht in seiner Homiletik neben der „Offenbarungsgemäßheit“ und der „Bekenntnismäßigkeit“ die „Kirch-
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
lichkeit“, „Amtsmäßigkeit“ und „Gemeindemäßigkeit“ der Predigt. Er hebt also die besondere, institutionell legitimierte Vermittlerrolle des Predigers hervor. Der Prediger hat sich vor diesem Hintergrund nicht vorrangig technische Fragen zu stellen (Wie macht man das?), sondern er hat seine Rolle im komplizierten Kommunikationsverhältnis zwischen Gott und den Gläubigen zu reflektieren (Wie kann man das?) (vgl. hierzu Grözinger 1979, 268).
4.2.3. Predigt als Diskurs In der Geschichte der Diskussion um die religiös kirchliche Kommunikation wird die Forderung nach einer diskursiveren Gestaltung des Rituals und der Predigt immer wieder mit dem Argument vom drohenden Wirkungsverlust der Amtskirche verbunden (vgl. Otto 1999; Nembach 1996). Nicht zuletzt unter dem Eindruck schwindender Besucherzahlen begründen liberale Prediger ihre hermeneutisch orientierte Rhetorik mit Einsichten und Erkenntnissen der Kommunikationsforschung, der Kommunikationsethik und der Medienwissenschaft, d. h., die Predigt wird von ihnen nicht länger als ein exklusives oder singuläres Redeereignis gesehen, sondern sie wird unter dem Aspekt ihrer Wirksamkeit mit anderen massenmedialen Veranstaltungen verglichen und auch in der Gottesdienstpraxis entsprechend interpretiert.
4.3. Die Predigt unter den Bedingungen massenmedialer Kommunikation Im Folgenden konzentrieren wir uns anhand authentischer Beispiele auf einige rhetorische Strategien der Prediger. Damit soll ein Teil des komplexen Spannungsfeldes, in dem sich die Predigt aktuell unter den Bedingungen der modernen Mediengesellschaft befindet, veranschaulicht werden.
4.3.1. Das Wort zum Sonntag als moderne Form einer ethischen Prophetie Folgender Ausschnitt aus dem „Wort zum Sonntag“, des ältesten und bekanntesten kirchlichen TV-Formats, findet sich bei Ayaß (1997, 95 f.): „Guten Abend liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Zwischen den Stühlen sitzen? Das ist nicht sehr bequem. Man kann leicht wegrutschen und dann ist man ganz daneben. Ich fühle mich zuweilen so: zwischen den Stühlen hin und her gerissen, zwischen unterschiedlichen Aufgaben und Wünschen eingequetscht. Zwischen Zeitnot und Erwartungsdruck. Und aus den Gesprächen mit anderen Frauen weiß ich, daß es ihnen oft ähnlich geht. Zwischen den Stühlen. Vielleicht so ein typisches Lebensgefühl von Frauen meiner Generation. (…) Beim Nachdenken darüber stoße ich immer wieder ausgerechnet auf die Lebensgeschichte eines Mannes: Jesus von Nazareth, von dem es ja in einem Bestseller der letzten Zeit heißt, er sei ,der erste neue Mann‘.“
Die Ansprache an die Gemeinde erfolgt ⫺ darin allen anderen medialen Textsorten vergleichbar ⫺ ohne die direkten Rückkopplungsmöglichkeiten einer Face-to-face-Kommu-
136. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Religion und Kirche
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nikation. Der Einstieg suggeriert zwar eine alltagsweltliche Begrüßungssituation, dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Predigerin ihre Adressaten weder sieht noch kennt und daher auch kaum direkt und persönlich ansprechen kann (vgl. Oevermann 1983 und Holly 2004). Darüber hinaus ist das Wort zum Sonntag, obwohl es eines der konstantesten Formate des deutschen Fernsehens darstellt, rituell kaum legitimiert ⫺ Ayaß (1997, 288) spricht von „ethischer Prophetie“, da das Wort zum Sonntag „ungebeten“ zum Zuhörer kommt. Um diese Voraussetzungen zumindest zu relativieren, beginnt die Ansprache mit einem langen phatischen Auftakt. Dabei wird mit der idiomatischen Formel „zwischen den Stühlen“, die die Predigerin in dieser Phase leitmotivisch wiederholt, eine auf viele konkrete Situationen übertragbare Problemlage skizziert, mit der sich möglichst viele Zuhörerinnen und Zuhörer identifizieren können sollen. Erst dann erfolgt der Umschlagpunkt zum exegetischen Teil der Predigt.
4.3.2. Inszenierung eines Rundunkgottesdienstes Das folgende Beispiel präsentiert einen Rundfunkgottesdienst aus der Binnenperspektive, d. h. anders als beim „Wort zum Sonntag“ sind Pfarrer und Gemeinde in diesem Falle kopräsent (vgl. Paul 1990, 273): „Guten Morgen liebe Gemeinde ⫺ ich hoffe es geht Ihnen so wie mir dass Sie sich freuen dass wir hier zusammen sind’ . und unsern Gottesdienst heut feiern . (…) ich darf Sie wieder herzlich einladen und ermutigen . für alle die nun nicht hier sind’ mit zu singen und zu beten’ . ähm damit der Eindruck der akustisch von hier über äh . den Rundfunk nach außen geht doch den Leuten zeigt dass wir ne versammelte Gemeinde sind die Gottesdienst feiert bis jetzt haben wir ja immer sehr gutes Echo gehabt’ und wir haben die Lieder auch wieder so ausgewählt dass es Ihnen leicht fallen müsste mitzusingen.“
Der Prediger hat erkennbar zwei Kommunikationsziele, die einander z. T. widersprechen: Zum einen sollen die Erwartungen der Ortsgemeinde an einen normalen Gottesdienst erfüllt werden, zum anderen dient die Veranstaltung dem Zweck der Außendarstellung, denn durch die Übertragung des Gottesdienstes sollen ja erklärtermaßen die Zuhörer am Radio erreicht werden. Auf diese komplizierte Situation muss die anwesende Gemeinde vorbereitet werden. Sie wird in der Ansprache des Pastors zum unverzichtbaren Partner einer massenmedialen Inszenierung ritueller Kommunikation.
4.3.3. Bekenntnisritual als Vorbereitung au eine charismatische Predigt Das folgende Beispiel einer „performativen“ Predigt übernehme ich aus Bayer (2004, 104 ff.). Zum Kontext der Rede erhalten wir folgende Informationen (ebd., 104): „Die Predigtgottesdienste der christlich-charismatischen Lakewood-Church in Houston (Texas) werden in einer großen Veranstaltungshalle vor Tausenden von Zuhörern gehalten und sind zugleich für die Ausstrahlung im Fernsehen konzipiert. Sie werden professionell rhetorisch gestaltet und im Hinblick auf Akzeptanz und mediale Wirksamkeit inszeniert.“
Der zitierte Ausschnitt gibt ein bemerkenswertes Einschwörungsritual unmittelbar vor der Predigt wieder. Der Prediger fordert die Zuhörer auf, ihre Bibeln hochzuhalten
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
und ⫺ wie jeden anderen Sonntag ⫺ im Wechsel mit dem Ritualleiter folgendes rituelle Bekenntnis nachzusprechen (ebd., 106): „P: This is my bible; G: This is my bible; P: I am what it says I am; G: I am what it says I am; P: I have what it says I have; G: I have what it says I have; P: I can do what it says I can do; G: I can do what it says I can do; P: Today I will be taught the Word of God; G: Today I will be taught the Word of God; P: I boldly confess; G: I boldly confess; P: My mind is alert; G: My mind is alert; P: My heart is receptive; G: My heart is receptive; P: I will never be the same; G: I will never be the same; P: I am about to receive; G: I am about to receive; P: The incorruptible; G: The incorruptible; P: Indestructable; G: Indestructable; P: Ever-living; G: Ever-living; P: Seed; G: Seed; P: Of the Word of God; G: Of the Word of God; P: I will never be the same; G: I will never be the same; P: Never. Never. Never; G: Never. Never. Never; P: I will never be the same; G: I will never be the same; P: In Jesus’ name; G: In Jesus’ name.“
Während die Predigt beim „Wort zum Sonntag“ ihre Zuhörer bzw. Zuschauer unter den Bedingungen maximaler Distanz erreichen muss, kann der charismatische Prediger seine Adressaten unmittelbar ansprechen. Die rhetorische Professionalität korreliert in diesem Fall eindrücklich nicht mit einem modernen oder liberalen Predigtverständnis. Zwar wird der Gemeinde in der massenmedialen Inszenierung religiös ritueller Kommunikation ein Maximum an Beteiligungsmöglichkeiten eröffnet, zugleich verlangt der Ritualleiter bedingungslose Hingabe an die Autorität des Wortes. Der charismatische Prediger bewegt sich damit jenseits der Kategorien autoritäre, autoritative oder diskursive Predigt.
5. Literatur (in Auswahl) Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden. 3. Band: Die Amtshandlungen. 5. Auflage 1985. Hannover (Agende III). Auburger, Leopold (2005): Classical Language/Ritual Language. In: Ulrich Ammon/Norbert Dittmar/Klaus Mattheier (eds.): HSK Sociolinguistics. Berlin u. a., 359⫺365. Ayaß, Ruth (1997): Das Wort zum Sonntag. Fallstudie einer kirchlichen Sendereihe. Stuttgart. Bahr, Hans-Eckehard/Peter Cornehl (1970): Gottesdienst und Öffentlichkeit. Zur Theorie und Didaktik neuer Kommunikation. Hamburg. Barth, Friedrich K. u. a. (1980): Gottesdienst menschlich. Wuppertal. Barth, Karl (1928): Die Theologie und die Kirche. München. Bayer, Klaus (2004): Religiöse Sprache. Münster. Cölfen, Hermann/Werner Enninger (Hrsg.) (1999): Sprache in religiösen Kontexten. Oldenburg (Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 58). Cornehl, Peter (1974): Gottesdienst. In: Ferdinand Klostermann/Rolf Zerfaß (Hrsg.): Praktische Theologie heute. München/Mainz, 171⫺180. Daiber, Karl-Fritz/Hans Werner Dannowski/Wolfgang Lukatis/Ludolf Ulrich (1978): Gemeinden erleben ihre Gottesdienste. Erfahrungsberichte. Gütersloh. Durkheim, Emile (1981): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt. EKG ⫽ Evangelisches Kirchen-Gesangbuch (1981). Ausgabe für die Evangelische Kirche in BerlinBrandenburg. Berlin. Enninger, Werner/Joachim Raith (1982): An ethnography-of-communication approach to ceremonial situations. A study on communication in institutionalized social contexts: The Old Order Amish Church Service. Wiesbaden.
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
Schütz, Alfred (1971): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die Verstehende Soziologie. Gesammelte Aufsätze Bd. 1⫺3. Den Haag. Simmel, Georg (1912): Die Religion. Zweite Auflage. Frankfurt am Main. Steinen, Ulrich von den (1979): Rhetorik ⫺ Instrument oder Fundament christlicher Rede? Ein Beitrag zu Gert Ottos rhetorisch-homiletischem Denkansatz. In: Evangelische Theologie 39, 101⫺127. Stiver, Dan R. (1996): The Philosophy of Religious Language. Sign, Symbol & Story. Oxford. Tillich, Paul (1962): Symbol und Wirklichkeit. Göttingen. Tillich, Paul (1978): Die Frage nach dem Unbedingten. Gesammelte Werke. Bd. 5. 2. Aufl. Stuttgart. Ulmer, Bernd (1988): Konversionserzählungen als rekonstruktive Gattung. Erzählerische Mittel und Strategien bei der Rekonstruktion eines Bekehrungserlebnisses. In: Zeitschrift für Soziologie 17/1, 19⫺33. Werlen, Iwar (1984): Ritual und Sprache. Tübingen. Werlen, Iwar (1987): Die ,Logik‘ ritueller Kommunikation. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 17. H. 15, 41⫺81. Weymann-Weyhe, Walter (1984): Die Kirchen im Normenkonflikt. In: Frankfurter Hefte 11/12, 78⫺86. Wiedenmann, Rolf-Dieter (1999): Der Rhetorik-Trainer. Reden lernen für Gemeinde und Beruf. Wuppertal. Zerfaß, Rolf (1973): Herrschaftsfreie Kommunikation ⫺ eine Forderung an die kirchliche Verkündigung? In: Diakonia 4, 339⫺350.
Ingwer Paul, Bielefeld (Deutschland)
137. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Sprache des Militärs 1. 2. 3. 4. 5.
Die Sprache des Militärs ⫺ Forschungsstand Militär als kulturelles System Zur Sprache der Bundeswehr Militärischer Sprachgebrauch Literatur (in Auswahl)
Abstract The military is usually regarded as a language area sui generis. Both functional and structural particularities of military organizations form a field of communication that distinguishes itself from civilian society by its rhetorical-stylistic properties. German linguistic research has been focussing on this difference since the late 19th century. In general, language analytics categorizes military language into the colloquial language of soldiers (slang), military terminology, and the language of commands, in field manuals and service regulations, with a particular interest in soldiers’ slang. When we interpret the military as a cultural system, the corporate culture perspective allows for a holistic approach. Taking
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
Schütz, Alfred (1971): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die Verstehende Soziologie. Gesammelte Aufsätze Bd. 1⫺3. Den Haag. Simmel, Georg (1912): Die Religion. Zweite Auflage. Frankfurt am Main. Steinen, Ulrich von den (1979): Rhetorik ⫺ Instrument oder Fundament christlicher Rede? Ein Beitrag zu Gert Ottos rhetorisch-homiletischem Denkansatz. In: Evangelische Theologie 39, 101⫺127. Stiver, Dan R. (1996): The Philosophy of Religious Language. Sign, Symbol & Story. Oxford. Tillich, Paul (1962): Symbol und Wirklichkeit. Göttingen. Tillich, Paul (1978): Die Frage nach dem Unbedingten. Gesammelte Werke. Bd. 5. 2. Aufl. Stuttgart. Ulmer, Bernd (1988): Konversionserzählungen als rekonstruktive Gattung. Erzählerische Mittel und Strategien bei der Rekonstruktion eines Bekehrungserlebnisses. In: Zeitschrift für Soziologie 17/1, 19⫺33. Werlen, Iwar (1984): Ritual und Sprache. Tübingen. Werlen, Iwar (1987): Die ,Logik‘ ritueller Kommunikation. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 17. H. 15, 41⫺81. Weymann-Weyhe, Walter (1984): Die Kirchen im Normenkonflikt. In: Frankfurter Hefte 11/12, 78⫺86. Wiedenmann, Rolf-Dieter (1999): Der Rhetorik-Trainer. Reden lernen für Gemeinde und Beruf. Wuppertal. Zerfaß, Rolf (1973): Herrschaftsfreie Kommunikation ⫺ eine Forderung an die kirchliche Verkündigung? In: Diakonia 4, 339⫺350.
Ingwer Paul, Bielefeld (Deutschland)
137. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Sprache des Militärs 1. 2. 3. 4. 5.
Die Sprache des Militärs ⫺ Forschungsstand Militär als kulturelles System Zur Sprache der Bundeswehr Militärischer Sprachgebrauch Literatur (in Auswahl)
Abstract The military is usually regarded as a language area sui generis. Both functional and structural particularities of military organizations form a field of communication that distinguishes itself from civilian society by its rhetorical-stylistic properties. German linguistic research has been focussing on this difference since the late 19th century. In general, language analytics categorizes military language into the colloquial language of soldiers (slang), military terminology, and the language of commands, in field manuals and service regulations, with a particular interest in soldiers’ slang. When we interpret the military as a cultural system, the corporate culture perspective allows for a holistic approach. Taking
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the German Bundeswehr as an example, it can be demonstrated that language is used as an instrument of military organizational culture, on the one hand, and as a reflection of values and norms, on the other. Military political standards, orientation towards collective military action, the principle of command and obedience, the emphasis on machismo but also bureaucratic structures influence the style of language and rhetoric applied in military. It appears that the more “military” the language, the clearer a link is established to the military’s core competence ⫺ organized use of force.
1. Die Sprache des Militärs Forschungstand Auch wer noch nie mit dem Militär persönliche Erfahrungen gemacht hat ⫺ wer „gedient“ hat, erst recht ⫺ wird sich leicht vorstellen können, dass sich der Umgangston eines römischen Centurio bei der Unterweisung eines neuen Legionärs an Gladius (Kurzschwert) und Pilum (Wurflanze) substantiell kaum von dem eines Unteroffiziers unterschieden hat, der heute einen Rekruten am Schnellfeuergewehr ausbildet. Dagegen dürften sich beide in Sprachductus und Wortwahl wiederum deutlich abheben von der eines zivilen Handwerksmeisters ihrer Zeit bei der Lehrlingsausbildung. Eine Vielzahl von Publikationen aus den unterschiedlichsten Ländern (z. B. Mosci Sassi 1983; Salleveldt 1995; Roynette 2004; Dickson 2004) verweist auf die Ubiquität der an diesem Beispiel deutlich werdenden Vorstellung, das Militär stelle einen Sprachraum sui generis dar. In Deutschland setzt Ende des 19. Jahrhunderts in der Germanistik die wissenschaftliche Beschäftigung mit Gruppen- und Sondersprachen ein, wozu auch die Sprache des Militärs, gemeint ist vornehmlich: der Soldaten, gerechnet wurde. Ihre erste Blüte erlebt die Befassung mit der Soldatensprache vor und während des Ersten Weltkriegs, als das Militärische allgemein in den Blickpunkt wissenschaftlicher und damit auch sprachwissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerät ⫺ allerdings weitgehend unter dem Vorzeichen des zeitgenössischen wilhelminischen Militarismus. Die Ergebnisse der einschlägigen Sprachforschung jener Zeit lassen sich wie folgt zusammenfassen (vgl. Olt 1981): Die Soldatensprache wird als Ausdruck „wehrhaften deutschen Geistes“ begriffen, als Zeugnis einer „eisernen Zeit“, der die „Feldgrauen“ mit „unverwüstlichem grimmigen Humor“ begegnen (vgl. Imme 1918). Sprachanalytisch wird zwischen soldatischer Umgangssprache (Jargon), militärischer Fachsprache (Fachterminologie) und der Sprache der Verordnungen und Dienstvorschriften (Reglements) unterschieden. Gegenstand der meisten Untersuchungen ist die Soldatensprache in ihrer Bedeutung als soldatisches Argot (vgl. Maußer 1917, 3). In der deutschen Soldatensprache, so die Befunde, ließen sich Elemente der historischen Feldsprache der Landsknechte des Dreißigjährigen Krieges ebenso wiederfinden wie Einflüsse der Gaunersprache, studentensprachliches Material und Einflüsse mundartlicher Elemente (vgl. Meier 1917, 2 ff.). Als eigentlicher Schöpfer der Soldatensprache gilt vor allem der einfache Soldat. Seiner unverbildeten Fähigkeit, das Wesentliche der ihm begegnenden Phänomene des militärischen Alltags zu erkennen und in angemessene und metaphernreiche Ausdrücke zu übersetzen, verdanke die Soldatensprache ihre Frische und Vitalität. Das „rauhe Handwerk des Kriegers“ verlange eine männliche Sprache, derb und kräftig (vgl. Meier 1917, 4). Vor allem in bildhaften Wortprägungen und Redensarten schlage sich ein spezifisch soldatischer Humor nieder. Als treffend und
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gelungen empfundene Sprachschöpfungen des Einzelnen würden von einem größeren Kreis umso leichter angenommen, weil die ähnliche Situation, in der sich Soldaten befänden, eine solche Aufnahme fördere. Ständiger Personalaustausch und das im militärischen Ausbildungssystem angelegte Durchlaufen zentraler Ausbildungseinrichtungen täten ein Übriges zu ihrer Verbreitung. Insbesondere in Kriegszeiten gewinne die Sprache des Soldaten an Intensität und Bedeutung und beeinflusse sogar die Umgangssprache der bürgerlichen Bevölkerung. Die zweite Welle der Beschäftigung mit der Soldatensprache setzt Mitte der dreißiger Jahre ein ⫺ wiederum nicht ohne ideologische Akzentuierung, diesmal durch den Nationalsozialismus. Die Soldatensprache wird nunmehr einmal als Kommandosprache, zum anderen als die offizielle Sprache der Militärorganisation begriffen, beide geprägt durch die Sprache der Dienstvorschriften, vorgeblich geschaffen durch eine „geistige militärische Elite“ und geprägt durch „preußisch-deutsches Soldatentum“. Daneben wird die sogenannte „Kommisssprache“, die „mit Humor und Kraftworten gewürzte“ Sprache der Unteroffiziere und „der Männer untereinander“ als „Kehrseite und Ergänzung“ zu der im Dienst herrschenden Disziplin und Strenge betrachtet (vgl. Schönbrunn 1941). Auch die Sprache der Bundeswehrsoldaten wurde bereits Gegenstand sprachwissenschaftlicher Betrachtungen und damit erstmalig ein sich ausschließlich in Friedenszeiten, wenn auch unter dem Vorzeichen des Kalten Krieges entwickelndes „Soldatendeutsch“ (vgl. Hauschild/Schuh 1980; Küpper 1986): Der Wortschatz entstamme fast uneingeschränkt dem Alltagsleben des Bundesbürgers; sein Inhalt allerdings ⫺ leicht abgewandelt ⫺ werde mit einer spezifischen soldatischen Bedeutung aufgeladen, jedoch so naheliegend, dass keine zusätzliche Erläuterung zu ihrem Verständnis notwendig werde. Die dazu vornehmlich verwendeten Metaphern würden vor allem mit der Jugendsprache und den Massenmedien korrespondieren. Die Einbindung in die NATO habe zudem ⫺ vor allem in Marine und Luftwaffe ⫺ für die Verbreitung zahlreicher Anglizismen im allgemeinen Wortgebrauch der Soldaten über die Fachsprache hinaus gesorgt. Die Aufstellung der Bundeswehr 1956 markierte zwar einerseits einen historischen militärischen Neuanfang nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und fast einem Jahrzehnt ohne eine deutsche Armee; von einer „Stunde Null“ konnte dennoch nicht die Rede sein. Vielmehr wurde dabei auf Soldaten zurückgegriffen, die ihre Erfahrungen und Kenntnisse in der Wehrmacht und/oder Reichswehr erworben hatten; kein Wunder, dass dies ein, wenn auch kleiner Teil des Bundeswehrwortschatzes widerspiegelt. In dieser Kontinuität treffen sich West und Ost: Auch in der Armee der DDR überlebten Rudimente traditioneller deutscher Soldatensprache; die andere Wirklichkeit der Nationalen Volksarmee führte freilich auch zu einem Wortinventar, das sich von dem der Soldaten der Bundeswehr zum Teil erheblich unterschied. Die einschlägigen Untersuchungen (vgl. Möller 2000) widmen sich vor allem dem Jargon der Wehrdienstleistenden. Sie verweisen u. a. auf das inoffizielle Hierarchie- und Unterdrückungssystem der Soldaten untereinander, das sich zugespitzt im Phänomen des ,Entlassungskandidaten‘ wiederfindet: Je näher der Tag der Beendigung des Wehrdienstes, desto höher sein Status unter den Mannschaftsdienstgraden und desto größer die daraus abgeleiteten Privilegien. Der Begriff ,Kamerad‘ war in der NVA vornehmlich für die ,Kameraden vom Regiment nebenan‘ reserviert ⫺ und meinte die Angehörigen der Sowjetarmee. In nahezu allen Forschungsarbeiten wird darauf verwiesen, dass sich im Militäralltag verschiedene Sprachbereiche ⫺ etwa Soldatenjargon, Fachterminologie, Reglement ⫺ unterscheiden lassen. Das Forschungsinteresse allerdings richtet sich mehrheitlich auf die
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sogenannte Soldatensprache, den Soldatenjargon. Er wird definiert als militärspezifischer Techno-Soziolekt, in dem sich eine sozioprofessionelle Sondersituation und ein damit verbundenes besonderes Lebensgefühl widerspiegelt (vgl. Oschlies 1987, 4). Dabei wird durchaus darauf verwiesen, dass strukturelle und organisationsspezifische Faktoren erheblichen Einfluss auf das Sprachverhalten im Militär besitzen. Allen Forschungsarbeiten gemeinsam ist die Glossarkonzeption, der Versuch, auf empirischer Basis eine möglichst umfassende, nach Themenbereichen geordnete Sammlung soldatensprachlicher Begriffe und Wendungen zu erstellen.
2. Militär als kulturelles System Das Militär gilt als eine der ältesten gesellschaftlichen Großformationen und als Prototyp arbeitsteiliger Organisationen. Gleichzeitig konstituiert es einen eigenständigen Bereich, der als deutlich unterschieden von der übrigen Gesellschaft erfahren wird. Der Begriff ,Militär‘ konstatiert bereits als Sprachfigur einen Kontrast zur zivilen Gesellschaft; ,militärisch‘ gilt geradezu als Gegensatz zu ,bürgerlich‘ oder ,zivil‘. Dabei sind es nicht nur die Kasernenzäune, die den militärischen Bereich vom zivilen trennen. Den entscheidenden Unterschied macht die Kernfunktion des Militärs aus: seine Fähigkeit und Bereitschaft, im Auftrag des Staates organisierte Gewalt anzudrohen und anzuwenden, auf Befehl notfalls zu töten und den eigenen Tod in Kauf zu nehmen. Die Orientierung an möglichem organisierten Gewalthandeln bestimmt entscheidend die Eigentümlichkeiten des Militärs. Die Militärorganisation kann als ein eigenes, von der Gesamtgesellschaft unterscheidbares, wenn auch nicht gänzlich abgeschlossenes, kulturelles System beschrieben werden, das durch vielfältige Verknüpfungen ⫺ von der Personalrekrutierung über die Finanzierung und technische Ausstattung bis zur politischen Formulierung seines Auftrages ⫺ eng mit seinem gesellschaftlichen und politischen Umfeld verbunden bleibt (vgl. Frevert 1997, 10). Eine konkrete Organisationskultur lässt sich als eine sozial anerkannte, symbolisch vermittelte Wirklichkeitsinterpretation begreifen. Sie entsteht in Wechselwirkung mit der Organisationsumwelt in der täglichen Handlungspraxis einer Organisation. Eine Organisationskultur beinhaltet eigene Werte und Normen, von den Mitgliedern allgemein akzeptierte Vorstellungen über „richtige“ Verhaltenweisen und grundsätzliche Orientierungen sowie spezifische Traditionen (vgl. Meyer 2005, 109 ff.). In diesem Bedeutungs- und Symbolsystem kommt der Sprache besondere Bedeutung zu. Sie ist einerseits wichtiges Medium der Organisationskultur und bildet andererseits gleichzeitig ihre Besonderheiten ab. Die Sprache des Militärs ⫺ das meint nicht nur ein spezifisches militärisches Fachvokabular, das seinen Niederschlag in entsprechenden Erlassen, Vorschriften und Befehlen findet, sondern vor allem auch rhetorisch-stilistische Eigenschaften des militärischen Sprachgebrauchs, der eine eigene Qualität besitzt. Das Militär allerdings hat keine Entsprechung in der Wirklichkeit; die Organisation des Militärischen erfolgt stets im Rahmen konkreter sozio-politischer Rahmenbedingungen und im Zusammenhang der je eigenen Geschichte und Tradition. Allerdings lassen sich allgemeine Strukturprinzipien erkennen, die sich in allen Armeen der Welt wiederfinden lassen: die Ausrichtung auf mögliches Gewalthandeln, Befehl und Gehorsam, weitgehende Ritualisierung und Normierung des Alltagshandelns, ausgeprägte Statussysteme und die besondere Be-
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tonung von Männlichkeit. Zugleich gilt, dass ihre jeweiligen konkreten Ausprägungen in erheblichem Maß differieren, nicht zuletzt in Abhängigkeit vom kulturellen Gesamtkontext der sie hervorbringenden Gesellschaft. Im Folgenden soll nunmehr der Versuch unternommen werden, sich den Eigentümlichkeiten der militärischen Sprache am Beispiel der Bundeswehr in organisationskultureller Perspektive wissenschaftlich zu nähern. Trotz der Beschränkung auf die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland enthüllt die analytische Auseinandersetzung mit einem konkreten Militärtypus per definitionem das Typische, lässt sich aus dem Konkreten sehr wohl auf das Allgemeine schließen. Wenn auch im Fokus der weiteren Betrachtungen die Sprache des bundesdeutschen Militärs zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht, lassen sich Erkenntnisse über ihre rhetorischstilistischen Eigenschaften cum grano salis für andere Militärorganisationen verallgemeinern. Ziel der Darstellung ist weniger eine linguistische Verortung der Militärsprache als der Versuch, den strukturellen Bedingungen des Kommunikationsbereichs Militär nachzuspüren.
3. Zur Sprache der Bundeswehr Die Bundeswehr besteht nunmehr länger als jede andere deutsche Armee vor ihr. Die Verpflichtung auf eine dynamische Führungsphilosophie ⫺ das Konzept der Inneren Führung mit dem Leitbild vom Soldaten als Staatsbürger in Uniform ⫺ soll einerseits für die Integration der Streitkräfte in eine pluralistische parlamentarische Demokratie sorgen, andererseits ihre Funktionsfähigkeit sicherstellen. Ihr Auftrag umfasst längst nicht mehr nur Landes- und Bündnisverteidigung, sondern prinzipiell weltweite Interventionen zur Krisen- und Konfliktbewältigung. Von den rund 250.000 Soldaten der Bundeswehr ist nur noch etwa ein Fünftel aufgrund der Wehrpflicht Soldat; die weitaus meisten haben das Soldatsein auf Zeit oder auf Dauer zum Beruf gewählt ⫺ davon rund sechs Prozent Frauen. Die Bundeswehr ist also weit öfter freiwillig gewählter Arbeitsplatz als Zwangsinstitution; der Professionalisierungsgrad der Zeit- und Berufsoldaten ist hoch, so verfügen die meisten Offiziere über einen Universitätsabschluss, sehr viele Feldwebel besitzen einen Meisterbrief. Und sie ist trotz der Öffnung für Frauen immer noch eine Männerdomäne. Geht man davon aus, dass es vornehmlich sozio-strukturelle Bedingungen sind, unter den sich organisationstypisches Verhalten ⫺ also auch Sprachverhalten im Militär ⫺ herausbildet, so muss zusammenfassend festgestellt werden: Die Bundeswehr ist eine komplexe, hochtechnisierte Großorganisation mit einer Vielzahl funktionaler Untergliederungen. Ihr Alltag wird einerseits vornehmlich durch Friedensbetrieb ⫺ Verwaltung, Logistik, Ausbildung ⫺ bestimmt, andererseits ist die Bundeswehr eine ,Armee im Einsatz‘; im Jahr 2007 etwa befanden sich ständig rund 8000 Soldaten in Auslandseinsätzen unterschiedlichster Gefährdungsgrade. Die Gleichzeitigkeit von Friedensroutine und Handeln unter Einsatzbedingungen charakterisiert die Bundeswehr der Gegenwart wesentlich. Angesichts der hier nur angedeuteten organisatorischen, sozialen, strukturellen und funktionalen Vielfältigkeit erscheint es folgerichtig, der Frage nach den Besonderheiten der Sprache des Militärs unter der Prämisse differenzierten Sprachverhaltens in Abhängigkeit von unterschiedlichen Kommunikationsbedingungen nachzugehen. Das kann mit Blick auf die angedeutete Heterogenität nur ansatzweise geschehen, eher explorativ als
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umfassend. Erkenntnisleitend ist dabei der Versuch, solche Kommunikationsbereiche in den Blick zu nehmen, in denen die sprachlichen Eigentümlichkeiten auf die spezifischen Strukturprinzipien von militärischen Organisationen rückverweisen und sich als stilistisch-rhetorische Eigenheiten des Militärs bestimmen lassen. Im Mittelpunkt der Betrachtungen steht die umfangreichste Teilstreitkraft, das Heer.
3.1. Primat der Politik Die Bundeswehr ist Teil der Exekutive und lässt sich daher als politisches Instrument begreifen. In ihrem Umfang, ihrer Struktur und Bewaffnung spiegeln sich letztlich sicherheitspolitische Lagebeurteilung und militärpolitische Absichten wider. Das Primat der Politik gilt als unumstritten (vgl. Meyer 1992, 66). Der im Grundgesetz formulierte Verteidigungsauftrag der Bundeswehr wird durch die politische Leitung interpretiert und in Form von Weißbüchern oder Verteidigungspolitischen Richtlinien der aktuellen sicherheitspolitischen Lage angepasst. Die Bundeswehr hat danach den Auftrag, die außenpolitische Handlungsfähigkeit zu sichern, einen Beitrag zur Stabilität im europäischen und globalen Rahmen zu leisten, für die nationale Sicherheit und Verteidigung zu sorgen, zur Verteidigung der Verbündeten beizutragen sowie multinationale Zusammenarbeit und Integration zu fördern (vgl. Weißbuch des Bundesministers der Verteidigung 2006, 65). Dabei darf allerdings nicht unterschlagen werden, dass an der Formulierung von derartigen politischen Vorgaben die militärischen Führungsstäbe erheblichen Anteil haben. Als offizielle Verlautbarungen des Verteidigungsministers wiederum werden sicherheitspolitische Aussagen Gegenstand der militärischen Aus- und Weiterbildung. An Offizierschulen und -akademien werden die Begrifflichkeiten als zum Teil prüfungsrelevanter Lehrstoff vermittelt und so Bestandteil weitgehend unhinterfragter Begründungsrhetorik militärischen Dienstes nach innen und außen. So lassen sich Versatzstücke von Weißbüchern in unzähligen Reden militärischer Vorgesetzter zu den unterschiedlichsten Anlässen (Feierliches Gelöbnis, Beförderungen u. ä.) ebenso nachweisen wie in den Argumentationsketten militärischer Öffentlichkeitsarbeiter. Durch diesen Mechanismus wird das politische und militärische System miteinander verklammert, und die politische Auftragsdefinition diffundiert innerhalb der Militärorganisation zur allgemein akzeptierten Grundannahme. Waren in der Zeit der Ost-West-Konfrontation „Gleichgewicht“ und „Abschreckung“ die Schlüsselbegriffe, sind sie nunmehr durch „Krisenprävention“ und „Konfliktbewältigung“ ersetzt worden. In den gleichen Zusammenhang gehören „der Kampf gegen den internationalen Terrorismus“, „neue asymmetrische Bedrohungen“ und „umfassender Sicherheitsbegriff“. Auffällig ist der meist phraseologische Charakter dieser Formulierungen. Auch das Herunterbrechen auf eine vermeintlich militärische Handlungsebene ⫺ Verteidigung ⫺ hilft nicht wesentlich weiter: Verteidigung, so wird im Weißbuch 2006 argumentiert, umfasse heute mehr als die herkömmliche Verteidigung an den Landesgrenzen gegen einen konventionellen Angriff. Sie schließe die Verhütung von Konflikten und Krisen, die gemeinsame Bewältigung von Krisen und die Krisennachsorge ein. Dementsprechend ließe sich Verteidigung geografisch nicht mehr eingrenzen: „Deutschland wird am Hindukusch verteidigt!“. Ob dieses Argument tatsächlich überzeugt, ist fraglich; als Sprachfigur hat es seinen festen Platz in der Binnen- und Außenkommunikation der Bundeswehr.
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3.2. Orientierung am Gewalthandeln Die Möglichkeit kriegerischer Auseinandersetzungen ist die Bedingung für die Existenz von Streitkräften und die Bereitstellung von Gewaltpotential die raison d’eˆtre des Militärs. Das gilt auch für die Bundeswehr. Ihre vorrangige Ausrichtung auf Konfliktverhütung und Krisenbewältigung schließt die Fähigkeit und Bereitschaft zum bewaffneten Kampf ausdrücklich ein. Dieser funktionale Imperativ, auch wenn er zum Beispiel in langen Friedenszeiten nicht immer deutlich artikuliert wird, prägt in erheblichem Maße die Kultur der Militärorganisation und das Selbstbild ihrer Mitglieder. Ideologischer Bezugspunkt ist dabei das Handeln im Gefecht. Hier wurzelt auch die als für das Militär typisch geltende Befehls- und Kommandosprache. Die formale Exaktheit und Einheitlichkeit der Waffenhandhabung waren funktionale Vorbedingungen für den Erfolg geschlossen kämpfender Einheiten auf dem Gefechtsfeld ⫺ an den Thermopylen ebenso wie bei Waterloo. Gerade unter den extremen Belastungen einer kriegerischen Auseinandersetzung sollte es möglich sein, weitgehend automatisierte, koordinierte Handlungen abrufen zu können. So entwickelten sich Exerzierreglements und die dazugehörige Kommandosprache. Exerzier- und Gefechtsdienst, ursprünglich eine Einheit, wurden allerdings durch die Waffenentwicklung weitgehend entkoppelt. Angesichts der Steigerung militärischer Vernichtungskraft wurden eng geschlossen antretende Formationen bei Kampfhandlungen eher die Ausnahme als die Regel; der aufgelockerten Schlachtordnung entsprach eine Befehlsgebung besser, die auf Ziel und Zweck einer Operation abstellte und das Wie dem verantwortlichen Führer vor Ort überließ (Auftragstaktik). Dennoch hat sich die Kommandosprache auch in der Bundeswehr bis heute behauptet, allerdings nahezu ausschließlich beim Formaldienst, wie das Exerzieren in der Bundeswehr genannt wird. Die Kommandosprache folgt tradierten Regeln. Sie ist laut, kurz und unmissverständlich und zielt darauf, bei allen Angesprochenen eine gleichzeitige und gleichartige Reaktion hervorrufen. Auf einen in entsprechenden Dienstvorschriften im Wortlaut festgelegten Befehl erfolgt eine im Einzelnen vorgeschriebene und eingeübte Ausführung. Im Allgemeinen lassen sich Ankündigungs- und Ausführungskommando unterscheiden. In der Ankündigung ⫺ laut und deutlich, aber langsam ⫺ gibt bereits der Wortlaut einen Hinweis auf die erwartete Umsetzung. So heißt es zum Beispiel beim Formaldienst der Bundeswehr: „Augen ⫺ rechts!“ aber „Die Augen ⫺ links!“. Nach einer kurzen aufmerksamkeitssteigernden Pause folgt das Ausführungskommando ⫺ kurz und scharf ausgerufen. Es soll eine zeitgleiche und gleichmäßige Reaktion stimmlich unterstützen. Auch wenn der Anwendungsbereich der tradierten Kommandosprache in der Bundeswehr weitgehend auf den engen Bereich des Formaldienstes beschränkt ist, wird den militärischen Formen insgesamt eine bedeutsame Rolle zugesprochen. Wie kein anderer Kommunikationsstil des Militärs konkretisiert das Zusammenspiel von Kommando und unmittelbarer Reaktion einprägsam das für Streitkräfte unerlässliche Prinzip von Befehl und Gehorsam ⫺ und übt es ein (vgl. Zentrale Dienstvorschrift 10/8, Nr. 503 f., 1984); nicht umsonst gehört eine „gute Kommandostimme“ in den Kanon der Rollenerwartungen an einen militärischen Führer. Die Orientierung am Handeln in Gefechtssituationen ist konstitutiver Bestandteil militärischer Sozialisation. Jeder Soldat soll zur aktiven Teilnahme an Kampfhandlungen in der Lage sein. Das gilt insbesondere für militärische Führer, an dessen Sprachverhalten zahlreiche Erwartungen geknüpft werden:
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„Die Sprache ist das entscheidende Mittel des militärischen Führers, seine Gedanken auszudrücken, seinen Willen mitzuteilen und unmissverständliche Befehle zu geben. Sie muss aussagekräftig, klar und verständlich sein. Einheitliche und verbindliche Begriffe sind daher zu verwenden. In der Einfachheit des Befehls zeigt sich, dass er sorgfältig durchdacht ist. Kurze Befehle finden Gehör; jedoch darf Knappheit nicht dazu führen, dass die Aussage an Deutlichkeit verliert. In der Bestimmtheit wird der Wille zum Handeln spürbar …“ (Heeresdienstvorschrift 100/100 Nr. 323, 2001)
Den Willen des jeweiligen militärischen Führers klar darzustellen, ist die oberste Maxime, der sich Stil und Rhetorik militärischer Befehlsgebung unterzuordnen haben ⫺ zumindest auf dem Gefechtsfeld. Die hier angesprochene taktische Befehlssprache ist weitgehend normiert. Jeder taktische Befehl folgt einer vorgegebenen Gliederung (Lage, Auftrag, Durchführung, Einsatzunterstützung, Führungsunterstützung), die Punkt für Punkt „abgearbeitet“ werden muss. Für den Sprachstil charakteristisch sind Hauptsätze im Indikativ Präsens wie zum Beispiel: Fallschirmjägerbataillon 271 greift Feind bei A-Dorf unter frontaler Bindung linksumfassend an, wirft ihn und setzt Vorstoß beiderseits der B-Straße bis zum Erreichen der Linie … fort. Das Ziel wird als Tatsachenfeststellung formuliert und suggeriert gleichsam, die Ausführung des Befehls führe zwangsläufig zum befohlenen Ergebnis. Mögliche Zweifel oder Bedenken werden gar nicht erst zugelassen. Beginnt ein Offizieranwärter oder junger Unteroffizier den Vortrag seines Entschlusses bei der Lösung einer taktischen Aufgabe mit den Worten: „Ich würde…“, so kann er sicher sein, sofort unterbrochen und mehr oder weniger drastisch darauf hingewiesen zu werden, dass bei Entschlussfassung und Befehlsgebung der Konjunktiv keinen Platz habe. Beliebt ist dabei der Spruch: „Würde? Die Würde des Menschen ist unantastbar! Aber hier geht es um Taktik und nicht um das Grundgesetz!“ In der taktischen Befehlsgebung wurzelt auch das grundsätzliche Kommunikationsmodell des Militärs: Der Befehlende vergewissert sich in der Regel, dass sein Befehl verstanden worden ist, indem er ihn durch den Befehlsempfänger wiederholen lässt; zumindest aber endet jeder taktische Befehl mit einem lakonischen „Noch Fragen?“ Das Bemühen um Kürze und Prägnanz gehört zu den weiteren Merkmalen der taktischen Sprache, das seinen Niederschlag unter anderem in einer Flut von Abkürzungen findet, vornehmlich wenn die Schriftform gewählt wird. „PzBrig 49 nimmt auf Tle PzBrig 51 über Ausweichwege S und R, vtdg VgR GROSSDOBRITZ mit 3 Btl nebeneinander, SP re, PzGrenBtl li, PzGrenBtl in der Mitte und PzBtl re …“ (Auszug aus einem Befehl für den Einsatz einer Panzerbrigade).
Ausformuliert bedeutet das: ,Die Panzerbrigade 49 nimmt Teile der Panzerbrigade 51 über die Ausweichwege S und R auf, verteidigt den Verteidigungsraum GROSSDOBRITZ mit drei Bataillonen nebeneinander, der Schwerpunkt liegt dabei rechts. Ein Panzergrenadierbataillon wird links, ein weiteres in der Mitte und ein Panzerbataillon rechts eingesetzt …‘
Um die auf dem Gefechtsfeld notwendige Eindeutigkeit in der Kommunikation sicherzustellen, dienen vor allem in Vorschriften festgelegte Begriffe, deren Verwendung auf allen Ebenen eingeübt wird. Beispielsweise lernt jeder Soldat bereits in der Grundausbildung, einen vor ihm liegenden Landschaftsabschnitt ⫺„das Gelände“ ⫺ präzise zu beschreiben:
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I „Die Geländeformen prägen das Gelände. Ein Geländeabschnitt ist zu bezeichnen als ⫺ eben mit 0⫺5 m, ⫺ wellig mit 5⫺20 m, ⫺ hügelig mit 20⫺100 m, ⫺ bergig mit 100⫺1000 m, ⫺ alpin mit über 1000 m Höhenunterschied zwischen dem jeweils höchsten und tiefsten Punkt des Geländes.“ (Zentrale Dienstvorschrift 3/11, Nr. 203, 1985)
Es bleibt also nicht der persönlichen Einschätzung überlassen, eine Höhe als Hügel oder Berg zu bezeichnen. Weniger ins Detail gehen die Vorschriften, wenn es um den Gegner geht. Die Auseinandersetzung mit dem Feind wird eher klinisch kühl beschrieben. Er wird „zerschlagen, geworfen, vernichtet“ ⫺ der Begriff ,töten‘ taucht dagegen in den Vorschriften und in der taktischen Sprache nicht auf. Die hier beobachtbare Distanz zu realem Kriegsgeschehen ist umso leichter aufrecht zu erhalten, als die Bundeswehr bisher noch nicht in kriegerische Handlungen größeren Ausmaßes verwickelt wurde.
3.3. Im Einsatz Schon immer haben Auslandseinsätze zu den Aufgaben der Bundeswehr gehört, zumindest zur humanitären Hilfeleistung. Seit der Feststellung des Bundesverfassungsgerichtes im Jahr 1994, die Beteiligung Deutschlands an internationalen Militäraktionen zur Sicherung oder Wiederherstellung des Friedens sei grundgesetzkompatibel, hat sich die Bundesrepublik Deutschland jedoch zu einem der größten Truppensteller für Friedensmissionen entwickelt. Über 200.000 deutsche Soldaten waren inzwischen an den unterschiedlichsten internationalen Operationen beteiligt; über 60 davon kehrten „in Zinksärgen“ zurück in die Heimat, etwa 9000 wurden verletzt (Stand 2007). Auch Friedensmissionen sind nicht ungefährlich; strapaziös sind sie allemal. Für die Teilnahme an einem Auslandseinsatz werden in der Regel für die Dauer von etwa vier Monaten je nach Aufgabenprofil unterschiedliche Truppenkontingente zusammengestellt, auf ihre spezielle Aufgabe hin ausgebildet und in das jeweilige Einsatzland verlegt. In einer potentiell gefährlichen und instabilen Lage sollen sie dazu beitragen, Konflikte einzudämmen ⫺ zumeist in internationaler Kooperation. Nicht selten wurde bei der Durchführung der konkreten Aufgaben Neuland betreten; die jeweils gemachten Erfahrungen flossen umgehend in Ausbildung und Lehre ein und fanden ihren Niederschlag in Ausbildungshilfen und der Aktualisierung/Änderung von Vorschriften. Eine Vielzahl von Begriffen wurde dabei aus dem Englischen adaptiert ⫺ eine angesichts der vielfach praktizierten Multinationalität logische Konsequenz. Das neue Aufgabenspektrum verlangt, aufbauend auf der soldatischen Kampfkompetenz, zusätzliche Qualifikationen und Fähigkeiten. Dazu gehören soziale und interkulturelle Kompetenz und ein entsprechendes Kommunikationsverhalten. Neue Aufgaben wie zum Beispiel die zivil-militärische Zusammenarbeit im Ausland zur Wiederherstellung einer zivilen Infrastruktur setzen neben fachlicher Kompetenz Einfühlungsvermögen und Verhandlungsgeschick voraus. Militärisches Alltagsarbeit, etwa Patrouillen durchzuführen oder einen Kontrollposten zu betreiben, verlangt situationsabhängige Entscheidungen, ob deeskalierendes Verhalten oder das Demonstrieren militärischer Stärke angemes-
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sen ist. Kein Wunder, wenn Soldaten ihre Waffen nunmehr gelegentlich als „Argumentationsverstärker“ bezeichnen. Im Einsatz verändern sich Vokabular und Sprachverhalten. Englisch hat sich als lingua militaris etabliert und findet seinen Weg auch in den militärischen Sprachgebrauch in der Heimat ⫺ einschließlich häufig verwendeter Abkürzungen. Statt wie bisher ,Anzug, Ausrüstung und Bewaffnung‘ festzulegen, werden diese Einzelheiten unter dem Stichwort ,dresscode‘ befohlen. Dass sich hinter ,ROE‘ (rules of engagement) die Handlungsrichtlinien für den Einsatz verbergen, ist Allgemeingut. Der ,Sanitäter‘ ist oft zum ,Medic‘ mutiert, aus ,ausgewerteten Erfahrungen‘ sind die ,lessons learned‘ geworden. Nicht nur die vielfältige multinationale Zusammenarbeit hinterlässt Spuren im Sprachverhalten. Das in den Einsätzen übliche Zusammenleben auf engstem Raum, der erzwungene Verzicht auf nahezu jegliche Privatsphäre führt nicht selten zu einem besonderen, häufig restringierten Sprachcode, der sich zwischen spaßig und vulgär, zwischen anerkennend und zynisch bewegt. Er dient auf der einen Seite dazu, innere Distanz zur Institution gewinnen zu können und andererseits zum Zusammengehörigkeitsgefühl beizutragen. Nicht zuletzt können in gewissem Umfang potenzielle existenzbedrohende Gefährdungen verdrängt werden (vgl. Möhn, 1977). Einige Beispiele aus dem deutschen Anteil der in Afghanistan eingesetzten ISAF (International Security Assistance Force) mögen das illustrieren: Der ,Abflieger‘ steht kurz vor dem Rückflug in die Heimat, während ,Tapsi‘ (einerseits von „tapsig“ abgeleitet, andererseits auch als Akronym gedeutet: Total ahnungslose Person sucht Informationen) einen Neuankömmling bezeichnet. ,Geburtstagsgrüße‘ meint Geschosslärm und ,Irre‘ irreguläre Kräfte. Wird nach einem Verdächtigen mit Hilfe eines Fahndungsplakats gesucht, handelt es sich um den ,Mitarbeiter des Monats‘. Nur wenige dieser Sprachschöpfungen überleben den Kontingentwechsel; sie verschwinden mit Einsatzbeendigung und werden zu Veteranenerinnerungen. Mit den Soldaten mögen die Metaphern wechseln, die transportierte Bedeutung bleibt mitunter erstaunlich gleich. Ob das Brigadestabsgebäude als ,Big Brother Container‘ oder ,Autistentempel‘ bezeichnet wird, lässt möglicherweise Schlüsse auf den Bildungsgrad oder die Fernsehgewohnheiten des Worterfinders zu, das vermittelte Bild von der übergeordneten Führungsebene (abgeschlossen von der Außenwelt, mit sich selbst beschäftigt und unfähig zur Kommunikation) ist identisch. Das Wissen um kulturelle Unterschiede und die Fähigkeit zu Selbstreflexion und Perspektivenwechsel als Voraussetzung für einen angemessenen und respektvollen Umgang mit der einheimischen Bevölkerung sind Lehrziele einsatzvorbereitender Ausbildung; erreicht werden sie nicht immer, nimmt man den Sprachgebrauch im Einsatz zum Maßstab. So wurden beispielsweise die ,locals‘, wie die Einheimischen neutral bezeichnet werden, im Gespräch der Soldaten untereinander in Bosnien-Herzegowina etwa ,Kuffnucken, Katschemucken oder Knispel‘ genannt, freie Wortschöpfungen mit deutlich pejorativem Klang.
3.4. Funktionsprinzip Beehl und Gehorsam Zu den wesentlichen, eine „specifite´ militaire“ begründenden strukturellen Eigentümlichkeiten gehören zweifelsohne der im Vergleich zu anderen Organisationen hohe Grad an hierarchischer Zentralisierung und das damit einhergehende Funktionsprinzip von Be-
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fehl und Gehorsam (vgl. Gareis u. a. 2006, 14 ff.). Die Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Unterstellten ist daher grundsätzlich durch eine auf dem Hierarchiegefälle beruhende Asymmetrie gekennzeichnet, auch wenn die Vorschrift die scheinbar gleichmachende Anrede „Herr/Frau“ unterschiedslos für alle Dienstgrade vorsieht. Untergebene ,melden‘, ,berichten‘, ,legen vor‘, ,bitten‘, Vorgesetzte ,befehlen‘ oder ,weisen an‘. Das sind nicht nur semantische Unterscheidungen, sondern damit wird auf durchaus unterschiedliches (Sprach-)Verhalten verwiesen, das die militärische Wirklichkeit wesentlich konstruiert. Befehl und Gehorsam werden so als Funktionsprinzip des täglichen Miteinander eingeübt und internalisiert: Durch die Teilnahme am Kommunikationsprozess erlernen und bestätigen die Individuen ihre Rollen im sozialen System Militär. Das wird in besonderem Maße deutlich, nimmt man die für alle Soldaten der Bundeswehr ähnlich ablaufende dreimonatige Allgemeine Grundausbildung in den Blick, der innerhalb der militärischen Sozialisation eine herausgehobene Bedeutung zukommt. Hier erleben die Rekruten, ob männlich oder weiblich, zum ersten Mal ⫺ und daher entsprechend nachhaltig in der Wirkung ⫺ den militärischen Alltag. Ihr körperliches Leistungsvermögen wird geschult, ihnen werden militärische Umgangsformen und Grundfertigkeiten vermittelt, sie erleben die Werte und Normen des für sie neuen militärischen Systems unmittelbar am eigenen Leib, kurz: Sie lernen, wie „man“ sich als Soldat zu verhalten hat. Allerdings dürften diese Lernprozesse von jemandem, der sich freiwillig „beim Bund“ verpflichtet hat, anders wahrgenommen werden als von einem mehr oder weniger zwangsweise eingezogenen Wehrpflichtigen. Unter den Mechanismen militärischer Sozialisation besitzt nicht zuletzt die Einübung neuer Kommunikationsregeln und eines spezifischen Sprachverhaltens einen herausragenden Stellenwert. Pars pro toto: Das zivile „Ja!“ wird durch das mehr oder weniger zackige „Jawohl, Herr/Frau (Dienstgrad des entsprechenden Vorgesetzten)!“ ersetzt. Statt Diskussion und Diskurs ist Gehorsam gefragt: „Wenn ich rede, haben Sie Sendepause! Wir sind doch nicht bei ,Wünsch Dir was‘ sondern bei ,So isses‘!“ Das durch Uniform und Dienstgradabzeichen allgegenwärtig sichtbare Rangsystem begünstigt zudem eine soziale und psychologische Distanz zwischen den verschiedenen Dienstgradgruppen, nicht zuletzt auch durch das erlebte Machtgefälle. Die gewollte Unschärfe und gleichzeitige Fülle militärischer Normen führt zu einer ständigen Kritisierbarkeit der neuen Soldaten (vgl. Treiber 1973; Piecha 2006) und das ständige „Ansprechen und Abstellen von Mängeln“ gehört zu den Aufgaben der Ausbilder. Dabei sind demütigende und schikanöse Äußerungen von Ausbildern gegenüber Rekruten, rüder oder zumindest unangemessener Umgangston gegenüber Untergebenen ⫺ in der Wehrmacht, in den ersten Jahren der Bundeswehr, aber auch in vielen Armeen anderer Nationen noch heute üblich ⫺ nicht (mehr) zulässig. Einschlägige Sprüche führen allerdings ein zähes Leben an Stammtischen und auf einschlägigen Internetseiten; authentisch oder gar aktuell sind sie selten. In Einzelfällen gibt es sie in der Tat immer noch; aber sie werden bei Bekanntwerden oder aufgrund von Beschwerden disziplinar oder gar strafrechtlich ebenso geahndet wie direkte Beleidigungen. Wer für Menschenwürde eintreten soll und gegebenenfalls dafür sein Leben riskieren muss, kann erwarten, dass seine eigene Würde respektiert wird; das ist ein wichtiges Element der Organisationsphilosophie der Bundeswehr. Dennoch bleibt Raum für mehr oder weniger humorvolle, manchmal drastische Ausbildersprüche, die zum einen der Auflockerung dienen können oder dem Bemühen um Anschaulichkeit geschuldet sind, zum andern aber auch nachhaltig die Machtposition des Ausbilders unterstreichen: „So ein Gewehrgeschoss durchschlägt selbst dickes Holz ⫺ also Vorsicht, Leute, immer schön
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den Kopf in Deckung!“ Tatsächliches oder vermeintliches Fehlverhalten des Soldaten wird angesprochen, etwa die mangelnde Geschwindigkeit bei der Ausführung eines Befehls: „Wenn ich ,Laufschritt!‘ befehle, möchte ich in Sekundenbruchteilen nur noch verbranntes Gummi riechen!“ Häufig wird dabei der Untergebene abgewertet und zur Zielscheibe einer mehr oder weniger spöttischen Bemerkung gemacht: „Wenn die Wand, an der Sie lehnen, umfällt, hat der Klügere nachgegeben!“ Lachen die anwesenden anderen Soldaten darüber, bekräftigen sie indirekt den überlegenen Status des Vorgesetzten. Angesichts der zumeist als anstrengend und belastend erlebten Sozialisationsanstrengungen („Druck“) der militärischen Hierarchie ist die Haltung der Rekruten in der Regel durch das Bemühen gekennzeichnet, „bloß nicht aufzufallen“. Sie versuchen zumeist, das von ihnen geforderte Verhalten zu zeigen und sich möglichst schnell in die militärische Gemeinschaft zu integrieren. Ein wichtiges Mittel dabei ist die Adaption militärischer Diktion in Inhalt und Ton. Ihre Beherrschung weist den Nutzer als Insider aus und hilft, den Status des „Frischlings“, „Kofferträgers“ oder „Krummfingers“ schneller zu überwinden. So wird die Stimme fast unbemerkt lauter, die Sätze werden einfacher und kürzer. Eine Vielzahl meist standardisierter militärischer Termini wird allmählich selbstverständlicher Bestandteil des eigenen Wortschatzes. Es werden „Betten gebaut“, der „Stiefelputz überprüft“, in den Hörsaal „eingerückt“, und Abkürzungen wie OG (Obergefreiter), UvD (Unteroffizier vom Dienst) werden ebenso geläufig wie die militärspezifischen Bezeichnungen von Bewaffnung und Ausrüstung. Fortschreitender „Durchblick“ ermöglicht im Laufe der Zeit, zu den Belastungen des Dienstalltags und gegenüber der Gehorsam fordernden Autorität der Vorgesetzten Abstand zu gewinnen. Der Unteroffizier wird zum „Uffz“, der Leutnant zum „Lefty“ verniedlicht. In Kontrafakturen auf den militärischen Sprachgebrauch wird die Beherrschung militärischer Begrifflichkeiten gleichzeitig demonstriert und parodiert, etwa bei einer Zielansprache: „Halb links ⫺ 400 ⫺ Kugelbaum. Daneben knieende Ameise!“ Dennoch ⫺ auch die satirische Überspitzung verweist auf die grundsätzliche Akzeptanz der militärischen (Sprach-)Normen.
3.5. Männerdomäne Keine Frage ⫺ trotz der mittlerweile erfolgten uneingeschränkten Öffnung der Bundeswehr für Frauen im Jahr 2000, übrigens erst aufgrund einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes, ist die Bundeswehr nach wie vor eine Männerdomäne. Die mehr oder weniger explizite Betonung heterosexueller Männlichkeit gehört als Konnotation quasi zum Begriff des Soldatischen. Damit einher geht im Allgemeinen eine Ablehnung von Homosexualität sowie die Abwertung von vermeintlich weiblichen Eigenschaften wie Einfühlungsvermögen und Verständigungsbereitschaft. Das fand ⫺ und findet zum Teil noch ⫺ seinen Ausdruck im demonstrativen Gebrauch einer vorgeblich „männlichen“ Ausdrucksweise, gespickt mit Kraftworten bis hin zu Obszönitäten. Die Öffnung der Streitkräfte für Frauen und die damit einhergehenden Veränderungen in Gesetzen, Vorschriften und Erlassen lassen in diesem Bereich Veränderungen vermuten. Zumindest in Anwesenheiten von Frauen dürfte die Sprache von Vorgesetzten und männlichen Kameraden deutlich weniger drastisch und frauenfeindlich geworden sein; gesicherte Erkenntnisse dazu liegen allerdings nicht vor. Auch wenn die Bundeswehr die Akzeptanz und Integration weiblicher Soldaten fordert, der offizielle Sprachgebrauch der Bundeswehr ist dazu geeignet, eventuelle Vorbehalte auch ohne den Gebrauch offen diskrimi-
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nierender Begriffe deutlich zum Ausdruck zu bringen, wie ein Beispiel zeigt: Eine Soldatin im Dienstgrad Feldwebel beschwerte sich beim Wehrbeauftragten über das Verhalten ihrer Kameraden und Vorgesetzten. In seiner Stellungnahme zu ihrer Eingabe bediente sich der Kompaniechef fast ausschließlich der männlichen Form. Seine Ausführungen gipfelten in der Formulierung: „Abschließend betrachtet, halte ich die Behauptung des Feldwebels (w) …, er sei in der Kompanie ,gemobbt‘ geworden, weil er eine Frau sei, für haltlos.“ (Deutscher Bundestag Drucksache 16/850 2006, 29) Indem er vom „Feldwebel (w)“ spricht, hält sich der Kompaniechef an geltende Vorschriften. Die Verwendung des männlichen Personalpronomens in seinem Schreiben bezieht sich lediglich auf den militärischen Dienstgrad. Zwar gibt es „die Soldatin“, aber der Dienstgrad bleibt männlich! Wenn es sich um eine Frau handelt, wird er im Schriftverkehr mit dem Kürzel (w) versehen. Das sah auch der nächsthöhere Vorgesetzte so, an den sich nunmehr der Wehrbeauftragte mit der Bitte gewandt hatte, sich für eine größere Sprachsensibilität einzusetzen. Angesichts der mehr oder weniger subtilen Betonung von Männlichkeit überrascht eine mitunter zu beobachtende Überanpassung von Soldatinnen an das Sprachgebaren ihrer Kameraden nicht, wenn zum Beispiel eine Frau Fahnenjunker lautstark verkündet, das Verhalten ihres Nachbarn in einer bestimmten Angelegenheit „gehe ihr fürchterlich auf den Sack!“. Dem Vernehmen nach sollen sich auch keineswegs alle weiblichen Ausbilder durch besonderes Zartgefühl und Zurückhaltung in der Wortwahl von ihren männlichen Pendants unterscheiden.
3.6. Vorschriten- und Verwaltungssprache Obgleich der Organisationszweck des Militärs darin besteht, sich für den kollektiven Einsatz von Gewalt gegen einen möglichen Gegner bereit zu halten, ist ein solcher Fall eher die Ausnahme. Vielmehr überwiegt der Friedensbetrieb, in dem der dienstliche Alltag in weiten Zügen der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen ähnelt. Das Hauptschlachtfeld des postmodernen Soldaten ⫺ nimmt man die dafür aufgewendete Lebensarbeitszeit des Berufsmilitärs zum Maßstab ⫺ ist der Schreibtisch; Verwendungen in Führungsstäben, Ämtern und Ausbildungseinrichtungen sind bei weitem häufiger als die Teilnahme an militärischen Einsätzen. Modernes Militär ist ohne Bürokratie nicht denkbar. Bürokratie wird hier verstanden im Sinne Max Webers als rationale Verwaltung, die durch klare Hierarchie, Entscheidungen nach Gesetz und Vorschrift, Geplantheit und Genauigkeit der Handlungen und ein hohes Maß an Routine bestimmt wird. Das findet seinen Niederschlag in einschlägigen Gesetzen, ministeriellen Erlassen, Vorschriften, Weisungen und allgemeinem dienstlichen Schriftverkehr, in denen vor allem Friedensroutinen geregelt werden. Die hier verwendete Sprache ist eng jenem Beamten- oder Kanzleideutsch verwandt, das im Bemühen um rechtliche Eindeutigkeit („Justitiabilität“), durch umständliche Formulierungen („Unterhose, lang, oliv“) und übermäßige Verwendung von Substantiven sowie Manierismen wie etwa den Wegfall des Fugen-s (Essenmarken statt Essensmarken, Offizierkorps statt Offizierskorps usw.) gekennzeichnet ist. Insgesamt ist die Textgestaltung durch Vorschriften en de´tail geregelt, ob es sich um Weisungen für die richtige Anrede, die Gestaltung des Schriftverkehrs, die Beschriftung der Dienstpost oder die Verwendung von Abkürzungen handelt.
137. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Militärs
2287
4. Militärischer Sprachgebrauch In der Organisationskultur des Militärs ⫺ das wurde am Beispiel der Bundeswehr deutlich ⫺ lassen sich unterschiedliche Kommunikationszusammenhänge ausmachen. Sie werden durch die jeweils organisatorisch-strukturellen Eigenheiten charakterisiert und akzentuieren die organisationsinternen Werte und Normen je nach Lage durchaus unterschiedlich. Das schlägt sich in der Sprache nieder; auf dem Gefechtsfeld folgt sie anderen stilistischen und rhetorischen Geboten als am Schreibtisch. Die Trennung ist allerdings weit weniger eindeutig als die hier analytisch vorgenommene Differenzierung vorzugeben scheint. Vielmehr überschneiden sich die Kommunikationsbereiche in vielfältiger Form. Im tatsächlichen Sprachgebrauch der Soldaten erfolgt die Adjustierung ihrer Sprache an die Redesituation gewissermaßen anhand einer „kommunikativen Lagebeurteilung“, durch eine intentional gesteuerte und von den Rahmenbedingungen abhängige Wahl des Sprachstils. Das ist allerdings weniger das Ergebnis dezidierter Überlegungen denn intuitives Resultat bisher durchlaufener beruflicher Sozialisationsprozesse. Die in den unterschiedlichsten Kommunikationszusammenhängen erworbenen Stilistik- und Rhetorikmuster bilden gleichsam das Reservoir an Sprachsymbolen, aus dem sich einerseits binnenorganisatorisch ein gemeinsames organisationskulturelles Grundverständnis speist, aus dem andererseits je nach Rahmenbedingungen spezifische Elemente aktiviert werden können, um eine situationsadäquate Kommunikation sicherzustellen. Berücksichtigt man die organisatorische Ausdifferenzierung insbesondere des postmodernen Militärs der Gegenwart und die mögliche Vielfalt militärischer Laufbahnen, so verweist das auf eine erhebliche sprachliche Varietät innerhalb der Militärorganisation. Angesichts des sozialen Kontextes berufsspezifischen Spracherwerbs spiegelt der tatsächliche Sprachgebrauch subjektive Erfahrungen und deren Verarbeitung wider, reflektiert aber immer auch in nuce die dem Militär insgesamt eigenen stilistischen und rhetorischen Besonderheiten. Die Sprache des Militärs wird in der Sprache der Soldaten gleichsam „aufgehoben“. Sie erscheint umso „militärischer“, je deutlicher ihr kommunikativer Zusammenhang mit der Kernfunktion der Militärorganisation steht ⫺ organisierter Gewaltanwendung. Danksagung: Ich danke den studierenden Offizieren der Universität der Bundeswehr München, die mir in unseren gemeinsamen Seminaren mit ihren Beiträgen geholfen haben, meine eigenen Bundeswehrerfahrungen aktuell zu halten.
5. Literatur (in Auswahl) Bundesminister der Verteidigung (2006): Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr 2006. Berlin. Deutscher Bundestag Drucksache 16/850 (2006): Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten. Jahresbericht 2005. Berlin. Dickson, Paul (2004): War Slang: American fighting words and phrases since the Civil War. Dulles. Frevert, Ute (1997): Gesellschaft und Militär im 19. und 20. Jahrhundert: Sozial-, kultur- und geschlechtergeschichtliche Annäherungen. In: Ute Frevert (Hrsg.) (1997): Gesellschaft und Militär im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart, 7⫺14.
2288
XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
Gareis, Sven/Karl Haltiner/Paul Klein (2006): Strukturprinzipien und Organisationsmerkmale von Streitkräften. In: Sven Gareis/Paul Klein (Hrsg.) (2006): Handbuch Militär und Sozialwissenschaften. 2. Aufl. Wiesbaden, 14⫺25. Hauschild, Reinhard/Horst Schuh (1980): Ich glaub’ mich knutscht ein Elch! Herford. Heeresdienstvorschrift 100/100: Truppenführung. Bonn 2001. Imme, Theodor (1918): Die deutsche Soldatensprache der Gegenwart und ihr Humor. 2. Auflage. Dortmund. Küpper, Heinz (1986): Von Anschiss bis Zwitschergemüse. Das Bundessoldatendeutsch von A⫺Z. München. Maußer, Otto (1917): Deutsche Soldatensprache. Ihr Aufbau und ihre Probleme. Straßburg. Meier, John (1917): Deutsche Soldatensprache. Karlsruhe. Meyer, Georg-Maria (1992): Soziale Deutungsmuster von Bataillonskommandeuren. Wiesbaden. Meyer, Georg-Maria (2005): „Stillgestanden!“ Eine soziologische Annäherung an militärische Rituale. In: Sabine Collmer/Gerhard Kümmel (Hrsg): Ein Job wie jeder andere? Zum Selbst- und Berufsverständnis von Soldaten. Baden-Baden, 109⫺122. Möhn, Dieter (1977): Fachsprachen und Gruppensprachen. In: Lothar Hoffmann/Hartwig Kalvekämper/Albert Ernst Wiegand (Hrsg.) (1998): Fachsprachen. Languages for Special Purposes. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. 1. Halbband. Berlin, 168⫺181. Möller, Klaus-Peter (2000): Der wahre E. Berlin Mosci Sassi, Maria (1983): Il sermo castrensis. Bologna. Olt, Reinhard (1981): Soldatensprache. Ein Forschungsüberblick. In: Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache. Jg. 91, 93⫺105. Oschlies, Wolf (1987): Wie „Mucker“ bei der Fahne reden. Köln. Piecha, Thorsten (2006): Normensetzung und soziale Kontrolle im Ausbildungsalltag der Bundeswehr. Frankfurt a. M. Roynette, Odile (2004): Les mots des soldats. Paris. Salleveldt, Henk (1995): Soldatenwoordenboek. Amsterdam. Schönbrunn, Walter (1941): Die Sprache des deutschen Soldaten. In: Jahrbuch der Deutschen Sprache. Leipzig, 170⫺183. Scholz, Christian (2000): Personalmanagement. Informationsorientierte und verhaltenstheoretische Grundlage. München. Treiber, Hubert (1973): Wie man Soldaten macht. Sozialisation in „kasernierter Gesellschaft“. Düsseldorf. Zentrale Dienstvorschrift 3/11: Gefechtsdienst aller Truppen. Bonn 1985 Zentrale Dienstvorschrift 10/8: Militärische Formen und Feiern der Bundeswehr. Bonn 1984.
Georg-Maria Meyer, München (Deutschland)
138. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Sports
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138. Rhetorisch-stilistische Eigenschaten der Sprache des Sports 1. 2. 3. 4.
Forschungsstand Verhältnis von Rhetorik, Stilistik und Textlinguistik Sportsprache und Kommunikationsbereich Sport Textsortengebundene rhetorisch-stilistische Eigenschaften von Textexemplaren in Mannschaftsportarten 5. Literatur (in Auswahl)
Abstract By applying a broad notion of style (as opposed to the traditional notion of style) which is concerned with determining characteristic linguistic variations of structural units and deviations from expected norms and rules, it is possible to differentiate between external parameters (writer/speaker, reader/listener, place, time and medium/combination of media) and internal parameters of text types on all linguistic levels. Thus, rhetorical/stylistic features can be determined both in initiators and terminators (features marking the beginning and the end of a text) as well as in macrostructures (units occurring above the sentence level), sentence types (compound and complex sentences, verbal sentences, nominal sentences) and lexis (groups of key words). These allow for a clear characterization and delimitation of the communication area of sports (in particular of team sports) and a clear differentiation of text types. This differentiation is illustrated with the help of sample text types: rule book, textbook, article with the text type variant game/match report (in daily newspapers and sports magazines), radio broadcast (text type variant: full broadcast), and TV sports coverage (text type variant: full broadcast). However, this differentiation cannot be achieved by only considering the classical rhetorical/stylistic features.
1. Forschungsstand Das Verhältnis von Sprache und Sport wird in der Forschung in verschiedenen Phasen und mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen behandelt. In einer ersten Phase wird versucht, eine Varietät Sportsprache neben anderen Varietäten wie Schrift-, Standardsprache und Umgangssprache zu begründen (Bues 1937), sie in Stilebenen wie Jargon, erweiterter Jargon, Slang und slanghafter Jargon zu unterteilen (Ostrop 1940; Beyer 1960) und sie lexikalisch zu belegen (Wehlen 1972). Sie ist geprägt von einer wenig exakten Begrifflichkeit, einer eher zufälligen oder nicht ausreichend belegten Materialgrundlage und einer Konzentration auf die Lexik (Simmler 1991, 252 f.). In dieser Tradition steht noch die Arbeit von Vollmert-Spiesky (1996, 3 f.), in der „die Fußballsprache“ als „Sondersprache“ bezeichnet wird, die sich aus den „drei Funktionalstilen“, nämlich der „Fußballterminologie“, dem „Substitutionswortschatz“ und dem „Fußballjargon“, zusammensetze. Schierholz (2001, 131) steht zwar dem Terminus der „Sondersprache“
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
skeptisch gegenüber, hält aber an dem Terminus des „Sportjargons“ fest, der Teile der „Fachsprache“ einer Sportart enthalte, „der eine Gruppenvarietät“ sei und „vielfach die Funktion [habe], Aktiven oder Fans der gleichen Sportart bzw. eines Vereins eine Identifizierungsmöglichkeit zu bieten“. In einer zweiten Phase wird die Materialgrundlage erweitert. Zeitungssprachliche Äußerungen werden differenzierter betrachtet (Dankert 1969; Schneider 1974) und Formen gesprochener Sprache werden einbezogen (Rosenbaum 1969; Digel 1975; Brandt 1983), was dazu führt, den Ansatz einer Varietät Sportsprache aufzugeben. In einer dritten Phase spielt die Varietätenproblematik keine Rolle mehr. Vielmehr werden verschiedene Kommunikationsbereiche einschließlich des Sports unterschieden (Fleischer 1987, 32), der Sport wird in Sportarten differenziert (Haubrich 1965, 16; Schneider 1974, 11 ff.), und mit der Erkenntnis, dass der Text das originäre sprachliche Zeichen sei (Hartmann 1971, 10), werden bei den auf einzelne Sportarten bezogenen sprachlichen Äußerungen Textexemplare und Textsorten unterschieden, nach miteinander verbundenen makrostrukturellen, syntaktischen und lexikalischen Merkmalen beschrieben und in ihren spezifischen Textfunktionen erfasst (Simmler 1991; 1993; 1997; 2000; Brandt 2001), um der Komplexität sprachlicher Äußerungen im Kommunikationsbereich des Sports gerecht zu werden. Einzelne Untersuchungen setzen solche, von ihnen jedoch nicht explizit vorgenommene Textsortentypologien voraus und behandeln Unterschiede in der Fußballberichterstattung in Tageszeitungen der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1955 und 1985 (Fingerhut 1991, 27) bzw. den „Textsortenwandel“, d. h., die Veränderung einzelner sprachlicher Merkmale in den letzten 50 Jahren bei „der Hörfunk- und Fernsehreportage sowie am Spielbericht in der Zeitung“ (Jürgens 1997, 93). Andere Untersuchungen konzentrieren sich auf „großraumtextologische[r], d. h. einzeltextübergreifende[r] […]Präsuppositionen“, die das Verständnis der Sportberichterstattung in Tageszeitungen durch die Leser sichern und diese zu ,Fachleuten‘ machen (Harweg 1993, 856), bzw. auf die Grade der Fachlichkeit in der „Wissensvertikalität“ zwischen Experten und Laien (Schierholz 2001, 125). Daneben existieren weiterhin lexikalische Einzeluntersuchungen zu Fanzinen (Wortkreuzung aus engl. fan und magazine), die in Eigenregie von Fans für Fans hergestellt und so auch vertrieben werden (Schlobinski/Fiene 2000), zu Bezeichnungen und externen Bewertungen des Fouls und des Foulspiels (Burblys 1998), zu Bezeichnungen für Mannschaften und deren Teile (Braun 1998; Stellmacher 2001) und zu Bezeichnungswandlungen, die durch Spielsystemwechsel entstanden sind (Hahn 1996), wobei überwiegend das Fußballspiel Analysegegenstand ist. Die wissenschaftlich orientierten Publikationen werden durch humoristisch aufbereitete Sammlungen von „Reporterfloskeln“ ergänzt (Gsella/ Lenz/Roth 2002, 152). Mit Ausnahme einzelner Hinweise in der Arbeit von Fingerhut (1991) spielen bei diesen Untersuchungen besondere rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Sports keine Rolle.
2. Verhältnis von Rhetorik, Stilistik und Textlinguistik Die Analyse rhetorisch-stilistischer Eigenschaften der Sprache des Sports setzt eine Klärung des Verhältnisses von Rhetorik, Stilistik und Textlinguistik voraus. Nach Lausberg (1973, I, 40 f.) ist die Rhetorik als ars bene dicendi zu definieren und auf die Rede und deren Anwendungsbereich im öffentlichen Leben und deren Zweckhaftigkeit, die poli-
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tisch-ethischen Bedingungen, zu beziehen. Sie behandelt damit wie die Textlinguistik die Textebene und die mit Texten verbundenen kommunikativen Bedingungen, jedoch unter Konzentration auf eine begrenzte Gruppe von Texten aus dem in einer Einzelsprache vorhandenen Textspektrum. Ihr Gegenstand sind die partes artis, d. h., die Makrostrukturen, und die figurae, unter denen lexikalische und syntaktische Merkmale subsumiert sind. In dieser Orientierung ist die Rhetorik nach Kopperschmidt (1990, 5) „tot“ und als Disziplin nicht mehr aufrecht zu erhalten, doch erlaube der Textbezug Kooperationen mit der Textlinguistik und Stilistik und anderen textbezogenen Disziplinen wie Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Politologie und damit die Begründung einer sog. ,neuen Rhetorik‘ (Plett 1996, 14 f.; 16 f.). Eine ähnliche Entwicklung wie die Rhetorik durchläuft die Stilistik. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurden die rhetorischen Figuren als Stilmittel in die neu entstehende Stilistik übernommen (Sanders 1996, 346), die wiederum in die Literaturwissenschaft integriert wurde (Sanders 1973, 24). Mit der Hinwendung der Linguistik zur Textebene entstehen Forderungen, die alten Stilfiguren nach linguistischen Kategorien neu zu definieren, zu systematisieren und zu klassifizieren (Sanders 1977, 72 f.) und über sie unter Beachtung der „qualitativ neuen Erkenntnisse der tätigkeits- und wissensorientierten Textlinguistik und Psycholinguistik“ hinauszugehen (Fleischer/Michel/Starke 1993, 23). Mit der expliziten Ausrichtung auf den Text, der in allen neueren theoretischen Ausführungen zum Stilbegriff vorhanden ist (Sandig 1986, 18; 1996, 359; Eroms 1986, 13; Fix 1991, 301; Anderegg 1995, 121; Michel 2001, 15), ergibt sich die Notwendigkeit, gegenüber traditionellen Stilmitteln auch weitere Elemente als stilrelevant anzuerkennen und in die Analysen einzubeziehen. Eine solche und eine noch weiter gehende Ausweitung des Stilbegriffs zeigt sich bei Fix (1996, 112). Sie fordert eine semiotisch-pragmatische Orientierung des Stilbegriffs, da Stil „ein Phänomen der Kommunikation, […] Ziel, Resultat und Element kommunikativen Handelns“ sei, weshalb auch Nichtsprachliches integriert werden müsse. Mit dieser Forderung orientiert sie sich an Posner (1991, 46), für den jedes Artefakt, auch ein nichtsprachliches wie ein Bild, eine Skizze, eine akustische oder optische Fußspur, ein ,Text‘ ist. Nicht ganz so weit fasst Sandig (2006, 2 f.) die „holistische Stilistik“, in der Texte „außer den üblichen Beschreibungen anhand von Lexik, Grammatik, Lautung und Stilfiguren auch z. B. im Hinblick auf Thema, Textmuster (Textsorten) oder Aspekte der Materialität“ behandelt werden. Die gemeinsame Berücksichtigung der Textebene durch Rhetorik, Stilistik, Textlinguistik und Semiotik führt zunächst zu Identitätsproblemen. Für alle vier Disziplinen ist ein konkretes Textexemplar Ausgangspunkt der Analyse. Da alle Textexemplare in eine externe Variablenkonstellation aus Sprecher/Schreiber, Hörer/Leser, Ort und Zeit eingebunden sind, ist ein pragmatischer Bezug gegeben, der unterschiedlich beschrieben werden kann. Mit jeder externen Variablenkonstellation ist ein Medium oder eine Medienkombination verbunden, ohne die keine sprachlichen und auch keine nichtsprachlichen Zeichen verwendet werden können und durch die die Materialität sprachlicher Zeichen und ihrer Beteiligung an der Sinnstiftung von Textexemplaren gegeben ist. Medial gebunden enthält jedes Textexemplar zunächst eine besondere Auswahl aus den sprachlichen Elementen, die eine Einzelsprache in einem synchronen sprachlichen Zustand besitzt. Die ausgewählten Elemente können makrostrukturell, syntaktisch, lexikalisch, morphologisch und phonologisch beschrieben werden und bilden die Basis jeder Ermittlung rhetorisch-stilistischer Eigenschaften. Um als solche erkannt zu werden, genügt nach ihrer Auswahl nicht ein einmaliges Vorkommen, sondern sie müssen mehrmals auftreten und
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
erweisen sich so als statistisch erfassbar (Zemb 1995, 138). Bei einer Zuordnung mehrerer Textexemplare zu einer Textsorte müssen diese Merkmale entweder alle oder wenigstens ihr größter Teil ⫺ durchaus in verschiedenen Alternierungen ⫺ in den Textexemplaren vorkommen, damit eine Identifikation und eine Distinktion in Relation zu anderen Textsorten erfolgen kann. Dabei ist zu beachten, daß neben Auswahl und Frequenz noch die Distribution und der Bezug zu anderen textuellen Merkmalen eine Identifikation und Distinktion ermöglichen (Simmler 1984; 1996). Unter textlinguistischem und stilistischem Aspekt können durch Auswahl, Frequenz, Distribution und Bezug zu anderen textuellen Merkmalen alle Elemente von Textexemplaren eine rhetorisch-stilistische Eigenschaft erhalten und nicht nur solche mit „jeweils charakteristischen sprachlichen Variationen struktureller Einheiten“ bzw. solche, „die Abweichungen von erwarteten Normen und Regeln“ folgen (Sowinski 1999, 9). Nach ihrer Ermittlung können die rhetorisch-stilistischen Eigenschaften oder Merkmale ⫺ durch kontrastive Vergleiche zu weiteren Textexemplaren ⫺ eingeteilt werden in: Ausdrücke der Stilneutralität, d. h., Ausdrücke, „die einen Text nicht einer Textsorte zuweisen und auch keine individuellen Auffälligkeiten in ihn hineinbringen“, Ausdrücke mit Stilwerten, d. h., solche, „die nur in Texten bestimmter Textsorten zu erwarten sind und deren kommunikative Funktion in natürlicher Weise betreffen“, und Ausdrücke mit Stileffekten, d. h., solche, „die offensichtlich in einem bestimmten Text unerwartet sind, aber doch seine kommunikative Funktion unterstützen, und zwar in auffälliger Weise“ (Eroms 1986, 13). Erfüllen die traditionellen rhetorischen Figuren und die traditionellen Stilmittel diese Bedingungen, dann gehören sie zu den Textexemplare in besonderer Weise charakterisierenden bzw. Textsorten in spezifischer Weise differenzierenden Merkmalen. Erfüllen sie diese Bedingungen nicht, spielen sie auch keine spezifische Rolle bei der Erschließung des Textsinns. Da es Textexemplare und Textsorten gibt, in denen traditionelle rhetorische Figuren und traditionelle Stilmittel überhaupt nicht vorkommen, bilden sie nur einen Teilbereich der Textexemplare konstituierenden und Textsorten identifizierenden und differenzierenden Merkmale. Allein deshalb ist es notwendig, die Textexemplare und Textsorten prägenden rhetorisch-stilistischen Eigenschaften anders zu definieren und sie nicht auf die traditionellen Merkmale zu begrenzen. Bei der Neudefinition der rhetorisch-stilistischen Eigenschaften von Textexemplaren und Textsorten besitzen Makrostrukturen, d. h., satzübergreifende textuelle Merkmale, eine besondere Relevanz (Simmler 1996). Eine Subgruppe der Makrostrukturen bilden die partes artis der Rhetorik. Von den Vertretern eines weiten Stilbegriffs werden Makrostrukturen nicht systematisch behandelt, sondern nur gelegentlich über den Hinweis auf Bildverwendungen genannt (Sandig 2006, 452). Werden Bilder und Skizzen als Makrostrukturen von Textexemplaren und Textsorten berücksichtigt, dann kann dies unter textlinguistischem Aspekt nur in Verbindung mit sprachlichen Zeichen geschehen. In isoliertem Gebrauch sind sie kein spezifischer Gegenstandsbereich der Textlinguistik und wohl auch nicht der Stilistik, sondern nur der Semiotik.
3. Sportsprache und Kommunikationsbereich Sport Da es in der Forschung nicht gelungen ist, eine Varietät Sportsprache zu begründen (vgl. Abschnitt 1), stellt sich das Problem, auf welche Weise repräsentative Aussagen über
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rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Sports gewonnen werden können. Als erstes ist es notwendig, den Kommunikationsbereich des Sports zu begründen und die zu ihm gehörenden Sportarten zu benennen, und dann zweitens diejenigen Sportarten auszuwählen, die die Analysegrundlage bilden sollen, da nicht alle Sportarten zugleich behandelt werden können und zu den meisten Sportarten keine sprachwissenschaftlichen Analysen vorliegen. Kommunikationsbereiche entstehen durch die Kommunikation innerhalb gesellschaftlicher Institutionen und verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Mit Fleischer (1987, 32) lässt sich ein Kommunikationsbereich Sport und Freizeitgestaltung ausgrenzen. Von der Freizeitgestaltung unterscheidet sich der Sport dadurch, dass er als „wettkampfmäßige, nach Regeln beschriebene Betätigung körperlicher Art“ (Schneider 1974, 13), die in verschiedenen Sportarten betrieben wird, definiert werden kann. Mit dem so definierten Sport befassen sich die Ministerien, Sportverbände, Universitäten, Sporthochschulen, Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen, Rundfunk- und Fernsehanstalten und die gesellschaftlichen Gruppen der Sportler selbst, der Zuschauer und der Medienbenutzer in konkreten Textexemplaren, die Textsorten zuzuordnen sind, um ihre rhetorischstilistischen Eigenschaften systematisch und nicht nur punktuell ermitteln zu können. Vom gesellschaftlichen Interesse an einzelnen Sportarten hängt der Umfang der zu ihnen vorhandenen sprachlichen Äußerungen ab. In Deutschland ist das Mannschaftsspiel Fußball mit Abstand am populärsten, zu ihm existieren auch die meisten Einzeluntersuchungen, jedoch mit unterschiedlichsten Erkenntniszielen (vgl. 1). In Abhängigkeit von internationalen Großereignissen wie Weltmeisterschaften und dem Erfolg der nationalen Mannschaft finden auch die Mannschaftssportarten Hallenhandball, Eishockey und Hockey ein besonderes Interesse. Daher wurde von Simmler (1991, 261) ein repräsentatives Materialkorpus zu den Weltmeisterschaften in diesen Mannschaftssportarten zusammengestellt, die zwischen 1978 und 1982 durchgeführt wurden. Es besteht aus allen ausgestrahlten Rundfunk- und Fernsehsendungen, aus der vollständigen Berichterstattung von vier überregionalen und zwei regionalen Tageszeitungen, von zwei bis vier Fach-Zeitschriften pro Sportart, aus vier Lehrbüchern pro Sportart und dem jeweiligen zu dieser Zeit international verbindlichen Regelwerk. Das Materialkorpus wurde bereits zur Ermittlung von Textsorten ausgewertet (Simmler 1991; 1993; 1997; 2000) und dient auch hier als Grundlage zur Ermittlung ihrer rhetorisch-stilistischen Eigenschaften, wobei die Beispiele so gewählt sind, dass Wiederholungen vermieden werden.
4. Textsortengebundene rhetorisch-stilistische Eigenschaten von Textexemplaren in Mannschatssportarten 4.1. Textsorte Regelwerk Die Textsorte Regelwerk lässt sich unter texttypologischem Ansatz folgendermaßen definieren: „Das Regelwerk zu Mannschaftssportarten im Kommunikationsbereich des Sports ist eine Textsorte, durch die sich extern die Organisationseinheit eines Verbandes vor allem an Schiedsrichter, Sportausbilder, Spieler, aber auch an Zuschauer und Sportanhänger wendet,
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I um intern durch spezifische sinnkonstituierende Merkmalbündel aus Makrostrukturen, Satztypen und Lexik die externen Faktoren Spielfeld, Spieldauer, Ausrüstung und Spieleranzahl festzulegen, die den Rahmen für erlaubte und unerlaubte Spieleraktionen bilden, die von neutralen Offiziellen überwacht werden und primär darauf ausgerichtet sind, Tore (oder Punkte, Körbe) zu erzielen und so das Spiel zu gewinnen.“ (Simmler 1991, 280)
Rhetorisch-stilistische Eigenschaften zeigen sich in den Überschriften der Makrostruktur Kapitel: (1) Regel I ⫺ Das Spielfeld; Regel x ⫺ Wie ein Tor erzielt wird (Fußball. Regeln ⫽ R/F, 5; 36) (2) Regel 601 ⫺ Beschimpfung von Offiziellen und andere Disziplinlosigkeiten; Regel 603 ⫺ Verletzungsversuch und absichtlich erfolgte Verletzung; Regel 605 ⫺ Gebrochener Stock; Regel 613 ⫺ Torschützen und Mithelfer; Regel 617 ⫺ Mit dem Stock haken; Regel 625 ⫺ Abseits (Off-Sides); Regel 627 ⫺ Puck außerhalb des Spielfeldes oder unspielbar; Regel 628 ⫺ Der Puck muß in Bewegung gehalten werden; Regel 638 ⫺ Beinstellen (Offizielles Regelbuch 1981 ⫽ R/E, 41⫺73).
Syntaktisch bestehen die Überschriften überwiegend aus einem zweigliedrigen Nominalsatz mit der kommunikativen Funktion, eine nummerierte Regelnennung mit einem geregelten externen Faktor zu verbinden. Gelegentlich kommen dreigliedrige Nominalsätze vor (Regel 627 in (2)), bei denen zwei Satzglieder die externe Regelgrundlage angeben. Nur selten sind neben einem eingliedrigen Nominalsatz ein selbständig gebrauchter Modalsatz (1), ein Infinitivsatz in Aussagefunktion (Regel 617 in (2)) und ein verbaler Aussagesatz (Regel 628 in (2)) vorhanden. Durch die Gleichheit der syntaktischen Struktur und die Funktionsidentität in den Überschriften wird die Wiederholung zu einem grundlegenden rhetorisch-stilistischen Mittel, das wesentlich zur Kohärenz der Textexemplare der Textsorte Regelwerk und zu ihrer makrostrukturellen Einheit beiträgt (Fleischer/ Michel/Starke 1993, 264), auch wenn die Sätze der Überschriften nicht unmittelbar aufeinander folgen. Mit der Wiederholung ist das rhetorisch-stilistische Mittel des Parallelismus verbunden (Sowinski 1973, 72; Michel 2001, 35). Die Regel-Kapitel sind in Unterkapitel gegliedert. Während die Überschriften der Regel-Kapitel die Gesamtheit eines externen Faktors benennen, werden durch die Makrostruktur der Unterkapitel die Elemente dieses Faktors bestimmt: (3) Regel 9 Der Torgewinn; 9:1 Ein Tor ist erzielt, wenn der Ball in seinem vollen Umfang die Torlinie des Gegners innerhalb des Tores überschritten hat (Fig. 4) und dabei vom Werfer oder seinen Mitspielern kein Fehler begangen worden ist. ⫺ 9:2 Nach jedem Tor hat die Mannschaft den Anwurf, gegen die das Tor erzielt worden ist. (Das Handballspiel ⫽ R/H, 17 f.).
Klassische rhetorisch-stilistische Mittel sind bei der Textgliederung in Unterkapitel nicht vorhanden. Neben den Makrostrukturen wird die Textsorte Regelwerk durch eine spezifische Auswahl an syntaktischen Strukturen charakterisiert, die in besonderer Weise mit den Makrostrukturen der Kapitel und Unterkapitel verbunden sind. Für die Makrostruktur der Kapitel ist die Verwendung von zweigliedrigen Nominalsätzen in den Kapitelüberschriften kennzeichnend (1). Die Unterkapitel werden von Gesamtsatzstrukturen bestimmt, die aus der Verbindung von Konditionalsatz und Hauptsatz bestehen und die logische
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Beziehung von conditio versus consequentia ausdrücken. Dabei kann der Konditionalsatz dem Hauptsatz folgen oder ihm vorangehen. Geregelt werden so die Bedingungen für das Torerzielen (3) bzw. erlaubte und unerlaubte Spieleraktionen und ihre Wirkung (Erfolg, Strafe). Bei den Gesamtsätzen kommen bei einem Teilsatz häufig die Verbformen des Vorgangspassivs bzw. des Zustandspassivs vor. Das Zustandspassiv ist immer in der Regel vorhanden, die das Torerzielen regelt (3). Das Vorgangspassiv ist häufig mit dem Konditionalsatz verbunden, tritt aber auch in isoliert gebrauchten einfachen Sätzen auf: (4) 1. Ein Strafstoß wird von der Strafstoßmarke ausgeführt.
(R/F, 55).
Die Passivkonstruktionen ermöglichen es, auf das Subjekt zu verzichten, und sind somit zu einer allgemeinen Regelformulierung ohne Nennung einer Mannschaft oder eines Spielers besonders geeignet. Erlaubnis und Verbot werden in allen Regelwerken durch Infinitivsatzkonstruktionen (5), durch Passiv-Paraphrasen mit sein ⫹ zu ⫹ Infinitiv (5 ff.) und durch Aussagesätze mit Modalverben (7), die als Ersatzformen für Imperativsätze fungieren, ausgedrückt: (5) a) Es ist verboten, den Stock über die normale Schulterhöhe zu halten, und es liegt im Ermessen des Schiedsrichters, jedem Spieler, der gegen diese Regel verstößt, eine kleine Strafe aufzuerlegen. (R/E, 54) (6) Eine kleine Strafe ist jedem Spieler aufzuerlegen, der einen Gegner mit seinen Händen, seinem Stock oder auf irgendeine andere Weise festhält. (R/E, 55) (7) j) Ein Tor muß dem Spieler gutgeschrieben werden, der den Puck in das gegnerische Tor hineingespielt hat. (R/E, 53).
Diese syntaktischen Merkmale bilden ein Merkmalbündel, das die Textsorte Regelwerk in Verbindung mit den Makrostrukturen von anderen Textsorten unterscheidet. Einzeln und in Kombination miteinander sind sie durch die klassischen rhetorisch-stilistischen Mittel der Wiederholung und des Parallelismus aufeinander bezogen. Mit den Makrostrukturen und den syntaktischen Merkmalen ist eine spezifische Auswahl an Verben zur Bezeichnung der Spieleraktionen vorhanden, von denen einige für die Konstitution spezifischer Verbalsatztypen eine besondere Rolle spielen. Im FußballRegelwerk werden beispielsweise die Standardsituationen (Anstoß, Freistoß, Strafstoß, Einwurf, Abstoß, Eckstoß) mit dem Verb ausführen bzw. beim Einwurf mit einwerfen bezeichnet. Ballbezogene Aktionen sind anhalten, köpfen, schießen, stoßen, tragen, treten, werfen (beim Einwurf); spielerbezogen sind checken, halten, rempeln, sperren; ball- und spielerbezogen werden decken und spielen verwendet; spezifische Zuspielaktionen sind abgeben, abspielen und geben und spielfeldbezogen wird überqueren gebraucht. Stilistische Differenzierungen und Prinzipien der Variation spielen bei den lexikalischen Merkmalen keine Rolle. Entscheidend ist eine exakte Fixierung der externen Faktoren und der erlaubten und unerlaubten Spieleraktionen, wobei sich lexikalisch Wiederholungen nicht als störend, sondern als textsortennotwendig erweisen. Durch sie wird nicht „die Bedeutung gesteigert“; auch zu einem „stärkeren Gefühlswert“ (Sowinski 1973, 251) führen sie nicht. Lediglich die mit dem Grundmorphem spiel gebildete Wortfamilie (dazu Sowinski 1973, 250) aus dem Simplex spielen, der Affixoidbildung abspielen, dem Derivatum Spieler und den Komposita Auswechselspieler, Feldspieler, Ersatzspieler (Hockey ⫽
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
R/FH, 4), Ersatzfeldspieler, Spielordnung ergibt unter morphologischem und rhetorischstilistischem Aspekt im traditionellen Sinne einen Hinweis auf Mannschaftsspiele, während die Wortfamilie mit dem Grundmorphem regel, die Komposita Regelbuch, Feldhandball-Regeln innerhalb der Initiatoren zur Textsortenbenennung beiträgt und das Kompositum Spielregeln beide Wortfamilien miteinander verbindet.
4.2. Textsorte Lehrbuch Die Textsorte Lehrbuch kann so definiert werden: „Das Lehrbuch zu Mannschaftsspielen im Kommunikationsbereich des Sports ist eine Textsorte, durch die sich extern Dozenten, Lehrer, Ausbilder und Trainer vor allem an Sportlehrer, Trainer und Übungsleiter in Schulen und Vereinen und an die Spieler selbst, aber auch an weitere Interessenten wenden, um intern durch spezifische sinnkonstituierende Merkmalbündel aus Makrostrukturen, Satztypen und Lexik die zentralen leistungsbestimmenden Faktoren Kondition, Technik, Taktik systematisch aufzubereiten.“ (Simmler 1991, 300 f.)
Bereits die spezifischen Makrostrukturen von Initiatorenbündeln, Terminator(en), Kapiteln und Unterkapiteln verschiedenen Grades, Absatz und Text-Bild-Kombinationen mit Zeichenlegende unterscheiden die Textsorte Lehrbuch von der Textsorte Regelwerk. Von größter Wichtigkeit für die Textsortendifferenzierung ist die hierarchische Anordnung der Makrostrukturen Kapitel, Unterkapitel verschiedenen Grades, Absatz und die Integration der Text-Bild-Kombination, die so in keiner anderen Textsorte des Kommunikationsbereichs vorhanden ist. Mit ihrer Hilfe werden in der Textsorte Lehrbuch neben anderen thematischen Ausrichtungen vor allem die leistungsbestimmenden Faktoren Kondition, Technik und Taktik in sportartenunabhängiger Form behandelt, die in der Textsorte Regelwerk überhaupt keine Rolle spielen. Alle Kapitel und Unterkapitel verschiedenen Grades besitzen explizite Überschriften, die drucktechnisch hervorgehoben und durch verschiedene Buchstabengrößen, andere Schriftarten, unterschiedlichen Fettdruck und anderen Spatienumfang auch voneinander abgegrenzt sind: (8) 4. Die Hockeytaktik und ihre Ausbildung ⫺ 4.1. Kennzeichnung der Hockeytaktik ⫺ 4.1.1. Systematik der Hockeytaktik ⫺ 4.1.2. Mannschaftstaktik (Hockey 1979 ⫽ L/FH, 70⫺116).
Die Überschriften bestehen fast ausschließlich aus eingliedrigen Nominalsätzen. Sie verweisen auf den Inhalt der jeweiligen Makrostruktur, in der die verschiedenen taktischen Bedingungen und Möglichkeiten, ein Tor zu erzielen oder zu verhindern, behandelt werden. Zur Taktik gibt es im Regelwerk keine Aussagen; dieses legt nur die Spieleranzahl fest und das Ziel des Torerzielens. Das Lehrbuch behandelt dagegen den spezifischen Weg zu diesem Ziel. Je nach Sportart gibt es unterschiedliche taktische Möglichkeiten; in allen Lehrbüchern zu Mannschaftssportarten sind jedoch ausführliche Darstellungen des Angriffs- und Abwehrverhaltens vorhanden. Mit der Makrostruktur der Unterkapitel verschiedenen Grades sind in allen Lehrbüchern Text-Bild-Kombinationen verbunden. Die Bilder bestehen aus Fotos, Zeichnungen, Diagrammen, Tabellen und Schemata und sind mit Bildunterschriften versehen.
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Sie sind im Gegensatz zum Regelwerk, in dem nur die Existenz einer Spielfeldskizze obligatorisch ist, zentraler Bestandteil des Lehrbuchs und erweisen sich zur zusätzlichen Erläuterung der komplexen Bewegungsabläufe beim Einzelspieler und beim Angriffsund Abwehrverhalten als notwendig. Die Textsorte Lehrbuch wird neben den Makrostrukturen syntaktisch durch spezifische Aufbauprinzipien und lexikalische Besetzungen von Satzgliedern und ihre Verwendung in Nominal- und Verbalsätzen und durch besondere Gesamtsatzstrukturen bestimmt. Die ein- bis viergliedrigen Nominalsätze der Überschriften von Makrostrukturen stellen eine textsortendifferenzierende Interrelation zwischen makrostrukturellen und syntaktischen Merkmalen her. Sie verweisen nicht wie im Regelwerk auf die externen Faktoren als Grundlagen einer Spieldurchführung, sondern benennen die zentralen Faktoren Kondition, Technik und Taktik und systematisieren sie (8). In den auf die Überschriften folgenden Textteilen sind ein- bis sechsgliedrige Nominalsätze vorhanden: (9) Schlagen von Flanken mit dem Innenspann aus dem langsamen, später schnellen Balltreiben entlang einer Linie. (Bauer 1976 ⫽ L/F, 17) (10) Nach Übernahme der Scheibe in Vorhandstellung, zwei- und dreimaliges Mixen der Scheibe im Stand auf kurze und lange Distanz, verbunden mit darauffolgender RückhandScheibenabgabe; der gleiche Vorgang in anderer Reihenfolge. (Horsky 1967 ⫽ L/E, 76).
Viergliedrige Nominalsätze beschreiben die außersprachliche Realität, indem sie Relationen zwischen spezifischer Spieleraktion, ausführendem Körperteil, Spielerbewegung und Aktionsort (9) herstellen. Selbst sechsgliedrige Nominalsätze sind möglich; durch sie wird ein Bewegungsablauf aus Aktionsgrundlage, (erster) Spielerposition, spezifischer Spieleraktion, (zweiter) Spielerposition, Aktionsrichtung und Bewegungsrichtung mit Personbezug (10) erfasst. Neben Nominalsätzen wird das Lehrbuch durch eine spezifische Auswahl an Imperativsätzen und imperativischen Ersatzformen charakterisiert: (11) Merke: Beobachte den Ball vom Schlagansatz bis zum Ende ganz genau. (12) Hart auf den Mann und weich in den Raum spielen.
(L/F, 112) (L/FH, 82).
Verwendet werden der Imperativ der Einzelanrede (11), der Imperativ der höflichen Distanz und der Infinitivsatz, der als imperativische Ersatzform eine generellere Handlungsanweisung ist (12). Handlungsanweisungen werden auch durch Aussagesätze mit Modalverben gegeben: (13) Der Stürmer muß sich durch Täuschungen und Starts so freilaufen, daß er angespielt werden kann. (L/F, 77).
Die Anweisungen sind zweckbezogen und erweisen sich für das Mannschaftsspiel als notwendig. Als Subjekt der Sätze kann dabei ein Spieler fungieren (13) oder der Spielgegenstand oder die Spielaktion. Verbalsätze mit dem Verbum sein werden vor allem am Beginn von Makrostrukturen eingesetzt und dienen dazu, die in der Überschrift genannten Aspekte der Kondition, Technik und Taktik zu definieren:
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I (14) Das Zuspiel (Paß) ist zusammen mit dem Spiel ohne Ball (dem Freilaufen) die Grundlage jeder Kombination. (L/F, 82).
Aktionsdefinitionen werden auch von anderen Verben in Aussagesätzen vorgenommen: (15) Das Dreieckspiel bildet die Grundform des Kombinationsspiels.
(L/FH, 83)
Mit der Konstruktion des Gleichsetzungsnominativs (14) haben sie die Distribution unmittelbar nach der Überschrift von Makrostrukturen gemein. Makrostrukturelle und syntaktisch-distributionelle Merkmale sind explizit aufeinander bezogen und konstituieren die Textsorte Lehrbuch. Ein direkter Bezug zu den klassischen rhetorisch-stilistischen Merkmalen ist nicht vorhanden. In besonderer Weise wird die Textsorte Lehrbuch durch eine spezifische Verbauswahl und die mit ihnen gebildeten Verbalsatztypen charakterisiert. Dem Mannschaftsspiel entsprechend werden vor allem Angriffs- und Zuspielaktionen bzw. Verteidigungsaktionen lexikalisch differenziert behandelt (Simmler 1994a; 1994b; 1995). Auf Fußball-Lehrbücher beschränkt sind die zweiwertigen Verben mitnehmen, schicken, überspielen, sich durchspielen, vordringen und die dreiwertigen Verben tragen, köpfen, zuköpfen, flanken, mitnehmen und ablegen. Mit den zweiwertigen Verben werden Ballmitnahmen, das Ausspielen eines Gegenspielers und person- und zielgerichtete Angriffsaktionen bezeichnet. Mit den dreiwertigen Verben werden überwiegend Zuspielaktionen bezeichnet, die im Mittelfeld stattfinden und eine Angriffsaktion in Richtung Tor vorbereiten. Nur zur Beschreibung handballspezifischer Aktionen werden die Verben werfen einschließlich der Präfixbildungen sowie prellen, umprellen, weiterprellen, zuprellen, zurückprellen, sperren, freisperren und wegsperren verwendet. Mit ihnen werden ⫺ abgesehen von sperren, freisperren und wegsperren ⫺ Aktionen der Ballführung und des Zuspiels, aber keine Angriffsaktionen bezeichnet: (16) Der Spieler, der sperren will, verändert seine Position und sperrt unvermittelt. (L/H, 133)
Das Sperren ist immer gegen einen Gegenspieler gerichtet und ist eine handballspezifische Angriffsaktion und keine Verteidigungsaktion wie in den drei anderen Mannschaftssportarten. Hockeyspezifisch sind das Simplex schlenzen und die Affixoidbildung zuschlenzen: (17) Soll besonders scharf und weit geschlenzt werden, beginnt der Spieler die Schlenzbewegung aus der geschlossenen Fußstellung mit einem Ausfallschritt des linken Beines, um den Schwung des Körpers beträchtlich zu erhöhen. (L/FH, 36)
Spezifische Eishockeyaktionen werden durch die Verben fahren, umfahren, weiterfahren, sich ausfahren, gleiten, bremsen, umgehen, umlaufen, blenden, dämpfen, mischen bezeichnet: (18) Der scheibenführende Spieler setzt den Angriff vor den Verteidigern zur Seite hin fort und zwar so, daß er den Eindruck erweckt, als wolle er sie umlaufen. (L/E, 115 f.)
Neben den sportartspezifischen Verben kommen sportartübergreifende und auch gemeinsprachlich gebrauchte Verben vor. Sie erhalten ihren Bezug auf eine Mannschaftssportart
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und auf die Textsorte Lehrbuch durch die lexikalischen Besetzungen der mit ihnen verbundenen nominalen Satzglieder. Diese wirken sich auf die Inhaltsseite der Verben aus, bestimmen deren Verbvalenz und die mit ihnen konstituierbaren Verbalsatztypen. Wie beim Regelwerk ist auch beim Lehrbuch die Anzahl der die Verbvalenz bestimmenden und verändernden Seme begrenzt; es sind die Seme ,generelle Tätigkeit‘, ,ballorientiert‘, ,zielgerichtet‘, ,persongerichtet‘, ,in spezifischer Weise‘ in Bezug auf Körperteile und Durchführungsart der Bewegung. Die Verwendung dieser Seme und ihre Kombination ermöglichen es, die auf dem Spielfeld stattfindenden Aktionen möglichst exakt zu bezeichnen und zu differenzieren. Dabei kommt es im Vergleich zum Gebrauch dieser Verben außerhalb des Kommunikationsbereichs des Sports zu Valenzerhöhungen: (19) Ein Spieler hebt den Ball überraschend ⫺ z. B. aus dem Stand ⫺ zum entgegenlaufenden MS [⫽ Mittelstürmer] (der ihn diagonal über die Mauer zum mitstartenden MM [⫽ Mittlerer Mittelfeldspieler] lobbt) oder spielt direkt über die Mauer zu MM. (L/F, 112).
In (19) bezeichnen die Verben heben, lobben und spielen Zuspielarten. Sie sind jeweils vierwertig gebraucht. Ihre Inhaltsseite wird durch die mit ihnen verbundenen nominalen Satzglieder festgelegt. Als EN kommt immer ein Spieler, als EA der Ball und als EpD ein Mitspieler vor. Bei heben führt die EpD aus dem Stand oder die EAdv überraschend zur Festlegung des Semems ,personengerichtet in spezifischer Weise in gekrümmter Flugbahn hinwegbewegen‘ und zur Konstitution des Verbalsatztyps EN-V-EA-EpD/EAdv-EpD. Bei lobben ergibt die EpA über die Mauer das Semem ,personengerichtet über ein Hindernis in gekrümmter Flugbahn hinwegbewegen‘ und den Verbalsatztyp EN-V-EA-EpA-EpD. Bei spielen wird die Aktion etwas weniger differenziert mit dem Semem ,personengerichtet über ein Hindernis hinwegbewegen‘ und dem Verbalsatztyp EN-V-EA-EpA-EpD beschrieben. Die Valenzerhöhungen in den Textsorten Regelwerk und Lehrbuch haben unterschiedliche Gründe und beruhen auf verschiedenen Semen und Semverbindungen. Im Regelwerk werden so erlaubte von unerlaubten Spieleraktionen abgehoben, während im Lehrbuch verschiedene Spieleraktionen differenziert und systematisch dargestellt werden. Neben den isoliert gebrauchten Nominalsätzen und den besonderen Verbalsatztypen tragen auch spezifische Gesamtsatzstrukturen zur Konstitution der Textsorte Lehrbuch bei: (20) Die Abwehrspieler müssen deshalb rechtzeitig starten, wenn sie die Gegner am Torschuß hindern wollen. (L/F, 113) (21) Der Schuß ist flach, wenn das Blatt die Scheibe nach unten drückt.
(L/E, 90).
Zur Beschreibung der technischen Ausführung und der taktischen Maßnahmen dienen Gesamtsätze aus einem Hauptsatz und einem Konditionalsatz (20 f.). Sie haben damit trotz gleicher syntaktischer Struktur eine andere kommunikative textuelle Funktion als im Regelwerk, in dem sie Bedingungen für ein Torerzielen und die Auswirkung von erlaubten und unerlaubten Spieleraktionen festlegen. Neben Konditionalsätzen werden im Lehrbuch noch Final- und Kausalsätze in Gesamtsätzen in größerer Anzahl verwendet, um Folgen und Gründe für technische und taktische Maßnahmen anzugeben:
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I (22) D. h. aus kurzer Entfernung muß mehr auf Genauigkeit geachtet werden, damit die Lücke zwischen dem winkelverkürzenden Torwart und dem Torgebälk getroffen wird; […] (L/F, 84) (23) Kreisspieler, die mit dem Rücken zum Tor stehen und an der Wurfarmseite gedeckt werden, bleiben in dieser Position, weil sie dadurch eine gute Möglichkeit zum Torwurf haben. (L/H, 126 f.).
Unter lexikalischem Aspekt wird die Textsorte Lehrbuch durch mehrere Schlüsselwortgruppen charakterisiert. Neben den bereits bei den Verbalsatztypen erwähnten sportartspezifischen Verben (a) handelt es sich (b) um sportartengebundene und sportartenübergreifende Verben zur Spezifizierung technischer und taktischer Maßnahmen, (c) um Substantive zur differenzierenden Bezeichnung der Faktoren Kondition, Technik und Taktik. Wie im Regelwerk kommen auch im Lehrbuch Bezeichnungen für die externen Faktoren des Mannschaftsspiels vor, doch sind sie in andere Kontexte eingebunden. Bei den sportartengebundenen und sportartenübergreifenden Verben können persongerichtete, zielgerichtete, in spezifischer Weise persongerichtete, in spezifischer Weise zielgerichtete, ball(puck-)orientierte und funktionell erweiterte, allgemeine und unspezifizierte, spielgeräteorientierte und definierende Aktionsbezeichnungen unterschieden werden (Simmler 1994b). Sportartenübergreifende persongerichtete Aktionsbezeichnungen sind decken, abwehren, abblocken, abschirmen, übernehmen, stören; sichern, absichern; verhindern und sich zurückziehen. Sportartengebundene persongerichtete Aktionsbezeichnungen sind attackieren, bedrängen, behindern, bekämpfen, einengen, einschränken; beschatten, bewachen, markieren, manndecken, verfolgen; binden, unterbinden, halten; ausschalten, blockieren, bremsen, stoppen; übergeben. Sie beschreiben die verschiedenen Verteidigungsaktionen differenziert in aktionalen Teilfeldern und konstituieren jeweils den Verbalsatztyp EN-V-EA: (24) Die zur Raumdeckung zurückgezogenen Mittelfeldspieler müssen dabei verhindern, daß Freistöße, die über die Mauer in den freien Raum gehoben werden, von nachstartenden Feldspielern verwandelt werden. (L/F, 96) (25) Dabei starten möglichst viele Abwehrspieler gleichzeitig ⫺ wie auf Kommando auf den ballführenden Spieler zu, attackieren ihn, verhindern so das Abspiel und stellen die Stürmer abseits. (L/F, 96).
Die Substantive, die die Faktoren Kondition, Technik und Taktik näher spezifizieren, kommen in den Überschriften zu den Makrostrukturen und im danach folgenden Textteil vor und bilden eine Interrelation von Makrostrukturen und Lexik. Zur Kennzeichnung taktischer Maßnahmen der Mannschaft und von Spielergruppen, nicht des Einzelspielers, werden folgende Bezeichnungen verwendet: (26) Angriffstaktik, Gruppentaktik, Doppelpaß, Kreuzen, Wechseln, Sperren, Parallelstoß (Stoßen), Mannschaftstaktik, Tempogegenstoß, Positionsangriff, Freiwürfe, Abwehrtaktik, Abwehrsysteme, Überzahl, Unterzahl. (L/H, 126⫺180).
Die Substantive sind überwiegend Determinativkomposita, bei denen die Zweitkonstituente den Bezug zur Taktik bzw. zum Spiel generell herstellt oder eine entsprechende Aktion bezeichnet. Daneben kommen auch Konversionen von Infinitiven vor (26), durch die taktische Maßnahmen differenziert werden.
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In alle Aktionen werden die externen Faktoren des Mannschaftsspiels einbezogen, weil sie Ausgangspunkt der Taktik spezieller Spielsituationen, von Angriffs- und Verteidigungsaktionen, sind: (27) Anstoß, Einwurf, Eckball, Freistoß, Strafstoß (L/F, 107⫺114) ⫺ Freiwurf (L/H, 180) ⫺ 7-m-Ball, Strafecke, Ecke (L/FH, 93⫺96) ⫺ Scheibeneinwurf (L/E, 116).
Bereits diese Wortbildungen kennzeichnen die Mannschaftssportart. Zusätzlich wird durch den Kontext ihre Einbindung in taktische Maßnahmen und damit ihre unterschiedliche Verwendung im Vergleich zum Regelwerk deutlich: (28) Wird der Freiwurf aus der Position Halblinks (von der Abwehr her) ausgeführt und ist der Werfer ein Rechtshänder, dann deckt der Abwehrblock die Wurfhand und damit die kurze Ecke des Tores (vom Torwart links). (L/H, 180).
4.3. Textsorte Bericht: Textsortenvariante Spielbericht In den zeitungssprachlichen Äußerungen zum Kommunikationsbereich des Sports, die sich auf die vier Mannschaftssportarten beziehen, können die Textsorten Bericht (mit den Varianten Bericht nach Ereignis, Bericht vor Ereignis, Themabericht), Meldung (mit den Varianten Meldung im engeren Sinne, Text-Bild-Kombination), Kurzmeldung (mit den Varianten Kurzmeldung im engeren Sinn, Tabelleninformation), Kommentar (mit den Varianten Reporterkommentar, Stimmenzusammenstellung, Spielerbewertung, Fernseh-Kritik) und Interview nachgewiesen werden (Simmler 1993; 1997). Sie beziehen sich auf die Regelungen des Regelwerks und die Systematik des Lehrbuchs, setzen deren Kenntnis beim Regelwerk vollständig und beim Lehrbuch teilweise voraus, verbinden diese Kenntnis mit dem journalistischen Erfordernis einer aktuellen informierenden und gleichzeitig unterhaltenden Berichterstattung und den technischen Möglichkeiten des Mediums Tageszeitung und Zeitschrift. Im Folgenden werden die rhetorisch-stilistischen Eigenschaften anhand der Textsortenvariante Bericht nach Ereignis oder kürzer Spielbericht exemplarisch anhand der Fußballberichterstattung zur Weltmeisterschaft von 1978 behandelt. Der Spielbericht lässt sich für den Zentralbereich folgendermaßen definieren: Der ,Spielbericht‘ zu Mannschaftsspielen im Kommunikationsbereich des Sports ist eine Textsortenvariante, durch die sich extern Journalisten an einen mehr oder weniger sportlich interessierten Leserkreis wenden, um intern durch spezifische sinnkonstituierende Merkmalbündel aus Initiatoren, Makrostrukturen, Satztypen und Lexik über ein Spielergebnis zu informieren, es zu bewerten und in einen größeren Zusammenhang zu stellen.
Die spezifischen Ausprägungen der internen Merkmale zeigen Tageszeitung für Tageszeitung und Zeitschrift für Zeitschrift einzelne Variationen, die dazu führen, neben dem für eine Textsortenermittlung entscheidenden Zentralbereich einzelne Peripheriebereiche und Gruppenbildungen zu unterscheiden. Alle Spielberichte haben in Tageszeitungen und Zeitschriften ein Initiatorenbündel aus allgemeinen und spezifischen Initiatoren (Simmler 1993, 137 f.).
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
Der erste spezifische Initiator wird aus einem Überschriftengefüge aus Hauptzeile (HZ) und Unterzeile (UZ) gebildet: (29) [HZ] Weltmeister gegen Österreich k.o. [UZ] Nach blamablem 2 : 3 bleibt nur Heimflug / Holland im Finale / Italien um Platz drei (MZ ⫽ Mittelbayerische Zeitung, Donnerstag, 22. 6. 1978, S. 8, Sp. 1⫺4 von links).
Syntaktisch können Nominal- und/oder Verbalsätze verwendet werden. Unabhängig davon gibt die HZ eine Gesamtbewertung, die UZ fügt die Ergebnisnennung hinzu, verbunden mit weiteren Wertungen und eventuell zusätzlichen Informationen. Dieselbe Funktion kann auch von einem Überschriftengefüge aus HZ und Oberzeile (OZ) markiert werden: (30) [HZ] Stets ein großer Kampf, aber nicht immer ein großes Spiel [OZ, unterstrichen] Die Deutschen und „das Glück des Tüchtigen“ beim 2 : 2 gegen Holland (FAZ ⫽ Frankfurter Allgemeine Zeitung, Dienstag, 20. 6. 1978, S. 22, Sp. 3⫺6 von links).
Die OZ übernimmt die Funktion der UZ in (29). Es gibt aber auch Überschriftengefüge aus OZ, HZ und UZ: (31) [OZ, unterstrichen] Argentinien trotz 0 : 0 vor Finaleinzug [HZ] Ein Abend der Emotionen [UZ] Brasiliens Trainer: „Wir waren besser“ / Schiedsrichter Palotai zu nachsichtig (SZ ⫽ Süddeutsche Zeitung, Dienstag, 20. 6. 1978, S. 30, Sp. 2⫺3 von links).
Bei einem dreigliedrigen Überschriftengefüge liegt immer eine Textsorte Bericht vor. Die Funktionen von HZ und OZ entsprechen sich in (30) und (31), in (31) fügt die UZ weitere Wertungen hinzu. Makrostrukturell besteht der Spielbericht im Zentralbereich aus drei und mehr Absätzen; als variable Elemente können ein Lead, eine Bildverwendung und Tabelleninformationen hinzugefügt werden. Die Absätze folgen überwiegend dem Spielverlauf von 90 Minuten beim Fußball und gliedern die Ereignisse vor und nach der Halbzeitpause, wie die jeweils ersten Sätze der Absätze zeigen: (32) […] Die deutsche Mannschaft begann nervös und unkonzentriert. […] Um so überraschender dann die 1: 0-Führung durch Rummenigge in der 19. Minute. […] Die Entscheidung zugunsten der Österreicher fiel in der 89. Minute. […] (MZ, 22. 6. 1978, S. 8).
Gelegentlich werden einzelne Absätze durch Zwischenüberschriften wie (33) Schon vor der Pause war Rückstand drin; Mit Vogts-Selbsttor begann das Desaster (MZ, 22. 6. 1978, S. 8)
zusammengefasst. Sind sie vorhanden, markieren sie die Textsortenvariante Spielbericht. In der Textsortenvariante Spielbericht der Sportzeitschrift kicker sportmagazin ist die Absatzanzahl im Zentralbereich mit 7 bis 15 Absätzen pro Textexemplar wesentlich höher als in Tageszeitungen. Das hängt mit dem spezifischen Interesse der Leserschaft zusammen, die sich auch nicht daran stört, dass die Absätze streng chronologisch dem Spielverlauf folgen und oft durch eingliedrige Nominalsätze mit exakten Spielminutenan-
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gaben eingeleitet werden, obwohl die Leser aufgrund der Berichterstattung in den Tageszeitungen, den Medien Rundfunk und Fernsehen ⫺ und seit neuestem über Internet ⫺ schon längst das Ergebnis kennen: (34) 9. Minute: Freistoß für Holland aus ähnlicher Position wie beim deutschen 1: 0. Rensenbrink jagt den Ball knapp vorbei (35) 27. Minute ⫺ die Schreckminute. Aus 30 Metern wagt Haan, von Kaltz nur zögernd angegriffen, einen Weitschuß und hat Glück. Sepp Maier erkannte offensichtlich die Gefahr viel zu spät und reagierte kaum. 1:1 ⫺ das erste Gegentor für den Weltmeister. Dieses Tor tut weh, bringt uns aus dem Rhythmus, die Holländer in Fahrt. (kicker-sportmagazin, 19. 6. 1978, S. 54).
Der Leser ist daran interessiert, einen genauen Hergang des Spielverlaufs einschließlich von vergebenen Chancen und unzureichenden Abwehrleistungen zu erfahren, um das Ergebnis nachträglich insgesamt besser einschätzen zu können. In einigen Zeitungen wird vor den Absätzen eine spezifische Makrostruktur, der Lead, verwendet. Er ist immer ein spezifisches makrostrukturelles Merkmal einer Textsortenvariante des Berichts. Seine Funktion besteht darin, die Informationen der Überschrift mit dem Spielergebnis zu wiederholen, die dort gemachten Wertungen zu präzisieren und Konsequenzen aus dem Ergebnis anzugeben. Er hat somit eine eigene Textfunktion, die nicht mit derjenigen der folgenden Absätze identisch ist (Simmler 1993, 147 f.). Häufig sind die Spielberichte mit zusätzlichen Textteilen wie Tabelleninformationen verbunden. Sie geben in der Form von Nominalsätzen a) den Tabellenstand der Gruppe mit der Anzahl der Spiele, der Anzahl der gewonnenen, unentschiedenen und verlorenen Spiele und dem Punktestand und b) die Mannschaftsaufstellungen mit Alter und Anzahl der A-Länderspielberufungen, den Schiedsrichter, die Tore mit Torschützen und Spielminute und die Zuschaueranzahl an. Beide Tabelleninformationen sind Hinweise auf die Textsorte Bericht, das Merkmal b) sogar ausschließlich auf den Spielbericht. Die Tabelleninformation b) kann an verschiedenen Stellen in das Textexemplar integriert sein. Befindet sie sich hinter dem letzten Absatz, übernimmt sie zusätzlich eine Terminatorfunktion. In etwa der Hälfte der Textexemplare ist ein Bild mit einer Bildunterschrift in die Textexemplare integriert: (36) BÖSE FOULS gab es beim südamerikanischen Duell Argentinien ⫺ Brasilien. Funkbild: AP (SZ, 20. 6. 1978, S. 30).
Ist eine Spielszene mit erläuternder Bildunterschrift abgebildet, handelt es sich um ein spezifisches Merkmal der Textsortenvariante Spielbericht; andere Bildverwendungen können die beiden anderen Varianten des Berichts kennzeichnen. Die syntaktischen Merkmale des Spielberichts zeigen sich in Verbalsätzen, die mit ergebnisorientierten Verben konstituiert werden. Während zur Ergebniskennzeichnung im Regelwerk und Lehrbuch nur das Verb erzielen verwendet wird, ist die Anzahl der ergebnisorientierten Verben im Spielbericht größer. Eine erste Schlüsselwortgruppe wird von den Verben besiegen, siegen, schlagen und schaffen gebildet, die das Endergebnis mitteilen:
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I (37) Die Italiener schlagen Ungarn nach einer starken Leistung mit 3 :1 (2 : 0) und stehen damit als erste der 16 Mannschaften unmittelbar vor dem Einzug in die Runde der letzten acht. (MZ, 7. 6. 1978, S. 9, Sp. 3⫺4).
Das Verb schlagen konstituiert den Verbalsatztyp EN-V-EA-EpD, bei dem die EN und EA die gegeneinander spielenden Mannschaften benennen und die EpD das Endergebnis nennt. Eine zweite Schlüsselwortgruppe besteht u. a. aus den Verben erzielen, markieren und einknallen: (38) Was machte es schon, daß man bis zur 83. Minute warten mußte, ehe Bertoni das 2 :1 erzielte? (FAZ, 5. 6. 1978, S. 19).
Mit den Verben wird der Verbalsatztyp EN-V-EA konstituiert. Er unterscheidet sich bei erzielen, das auch im Regelwerk und Lehrbuch erscheint, durch die lexikalische Besetzung der Ergänzungen von der dort vorhandenen Verwendungsweise. Während in den letzten beiden Textsorten jeweils nur allgemein Spieler und Tor als E vorkommen, erscheinen im Spielbericht konkrete Spielernamen und konkrete Spielstände. Eine dritte Schlüsselwortgruppe umfaßt Verben wie schmettern, zirkeln, dirigieren, spitzeln, einspitzeln: (39) Er [der Argentinier Leopoldo Luque] zirkelt den Ball ins Tor. (FAZ, 5. 6. 1978. S. 19).
Mit den Verben wird der Verbalsatztyp EN-V-EA-EpA gebildet; die EN ist ein konkreter Spielername, die EA der Ball und die EpA gibt als Richtungsangabe das Tor an, jedoch nicht das Ergebnis. Nominalsätze spielen nicht dieselbe zentrale Rolle bei der Textsortenvariantenkonstitution wie im Regelwerk und Lehrbuch. Lediglich im kicker-sportmagazin kommen eingliedrige Nominalsätze, die die Spielminute angeben, am Beginn der Makrostruktur Absatz und damit in den Spielbericht charakterisierender Distribution in Verbindung mit dem klassischen rhetorisch-stilistischen Merkmal des Parallelismus vor. In den Textexemplaren der Tageszeitungen werden für die Chronologie des Spielverlaufs wichtige Aktionen zum Teil ebenfalls in drei- und viergliedrigen Nominalsätzen gekennzeichnet: (40) Fünf Minuten später dann der längst überfällige österreichische Ausgleich. ⫺ Und 120 Sekunden später dann die Führung für Österreich. (MZ, 22. 6. 1978, S. 8).
Die von Fingerhut (1991, 151 f.) hervorgehobenen rhetorischen Mittel „der zwei- oder dreifachen Variierung einzelner Substantive, Adjektive, Adverben oder Verben“, um „die Vielseitigkeit eines Sportlers oder einer Mannschaft wiederzugeben“, und der „syntaktischen Anaphern“ sind für den Spielbericht über die Fußball-Weltmeisterschaft und andere Weltmeisterschaften nicht in derselben Weise textexemplarkonstituierend wie die aufgezeigten syntaktischen Merkmale und besitzen keine textsortendifferenzierende Funktion, sondern haben eher den Status syntaktischer Einzelbeobachtungen. Lexikalisch wird der Spielbericht neben den besondere Verbalsatztypen konstituierenden ergebnisorientierten Verben von weiteren Schlüsselwortgruppen gekennzeichnet. Während in den Textsorten Regelwerk und Lehrbuch die externen Faktoren Spieler, Mannschaft, Schiedsrichter und Trainer nur allgemein und immer in derselben Weise bezeichnet werden, sind bei ihnen im Spielbericht variable Bezeichnungen mit verschiede-
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nen Attribuierungen üblich. So werden die Mannschaften von Deutschland und Österreich im Textexemplar der MZ (22. 6. 1978, S. 8) folgendermaßen bezeichnet: (41) deutsche Mannschaft, deutsche Nationalmannschaft, deutsche Elf, Nationalmannschaft, Weltmeister Deutschland, Ex-Weltmeister, entthronter Weltmeister, alter Weltmeister (42) Österreich, die österreichischen Spieler, Rot-Weiß-Rotes Team, Österreicher.
Für einzelne Spieler kommen folgende Variablen vor: (43) Rummenigge, der 22-jährige Rummenigge, der 22-jährige Außen, der Münchner, der beste deutsche Stürmer ⫺ Krankl, Torjäger Krankl, Torjäger, der österreichische Mittelstürmer.
Am häufigsten werden Familienname und Ruf- plus Familienname verwendet. Als enge Appositionen werden Spielerpositionen hinzugefügt, die Bezeichnung Torjäger ist dabei ebenso wie Schlussmann in anderen geschriebenen nicht-zeitungssprachlichen Textsorten nicht üblich. Bei deutschen Spielern wird der Verein, in dem sie in Deutschland spielen, als Adjektivattribut zum Namen hinzugefügt. Zusatzinformationen sind Angaben zum Alter. Sie dienen nicht nur der Variation, sondern vermitteln Informationen, die über die zum Spielgeschehen hinausgehen. Mit den Akteuren, der Mannschaft, einzelnen Spielern oder Mannschaftsteilen sind als weitere Schlüsselwortgruppe explizite Wertungen verbunden: (44) der enttäuschende dritte Platz, ein trauriger Abgang (für Bundestrainer Helmut Schön), die schwächste Nationalmannschaft seit vielen Jahren, sang- und klanglos die Segel streichen, ernüchternde WM-Bilanz, verdientermaßen eine erste Niederlage einstecken, wenig zu loben, Sepp Maier wirkte unsicher, Kapitän Berti Vogts entwickelte sich zum großen Unglücksraben, alle anderen waren nicht viel besser (MZ, 22. 6. 1978, S. 8).
Die Wertungen durch Adjektive in attributiver, prädikativer und adverbieller Funktion, durch Adverbien und verbale Wendungen, die in allen Spielberichten auftreten, zeigen, dass die publizistische Definition des Berichts als ausschließlich faktenorientiert ein bloßes theoretisches Konstrukt ohne empirische Grundlage ist. Wertungen mit Hilfe ironisch-kritischer Formen, der Verneinung des Gegenteils (Litotes) und der Überbetonung des tatsächlich Gegebenen (Sowinski 1973, 313 ff.), auf die Fingerhut (1991, 116 f.) in ihrem Materialkorpus (Spielbericht zur Bundesliga und DDR-Oberliga in der FAZ und der Leipziger Volkszeitung von 1955 bis 1985) hinweist, spielen in der Berichterstattung über die Fußball-Weltmeisterschaft und die anderen Weltmeisterschaften im Spielbericht keine Rolle bei der Textexemplarkonstitution und Textsortendifferenzierung.
4.4. Textsorte Rundunkreportage: Textsortenvariante Ganzreportage Nach Brandt (1983, 22) können im Medium Rundfunk nach externen Kriterien die Reportageformen Nachbericht, Ganzreportage, Teilreportage und Konferenzreportage unterschieden werden. Unter Berücksichtigung externer und interner Kriterien gehört der Nachbericht wegen der fehlenden Simultanität und der Produktion nach Abschluss des Spielgeschehens zu den berichtenden Textsorten des Rundfunks (Rosenbaum 1969, 8⫺13).
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
Die Reportageformen Ganzreportage, Teilreportage und Konferenzreportage erweisen sich als Textsortenvarianten der Textsorte Rundfunkreportage (Simmler 2000, 726). Im Folgenden werden die internen Merkmale, die rhetorisch-stilistischen Merkmale, der Textsortenvariante Ganzreportage anhand von Fußballübertragungen behandelt. Die Ganzreportage ist folgendermaßen zu definieren: Die ,Ganzreportage‘ zu Mannschaftsspielen im Kommunikationsbereich des Sports ist im Medium des Rundfunks eine Textsortenvariante, durch die sich extern ein oder zwei Reporter an einen mehr oder weniger sportlich interessierten Hörerkreis wenden, um durch einen kontinuierlichen Sprechvorgang simultan zum Spielgeschehen intern durch spezifische sinnkonstituierende Merkmalbündel aus Initiatoren, Terminatoren, Makrostrukturen, Satztypen und Lexik eine möglichst genaue Vorstellung von den Ereignissen auf dem Spielfeld zu vermitteln und sie zu bewerten, ohne den Ausgang des Spiels zu kennen.
Das Initiatorenbündel besteht aus einer Ankündigung der Spielübertragung im Studio einer Rundfunkanstalt und der Übernahme der Sprecherrolle durch einen Reporter am Spielort: (45) [Ansagerin:] Die Reporter in Cordoba sind Heribert Faßbender und Jochen Sprenzel. Aus Rosario berichtet Armin Hauffe. [Sprenzel:] […] ausverkauft ist, daß eh hier nur etwa fünfunddreißigtausend Zuschauer sind, unter ihnen viertausend deutsche Schlachtenbummler. (GR ⫽ Ganzreportage vom Fußballspiel Deutschland gegen Mexiko, Dienstag, 6. 6. 1978, Westdeutscher Rundfunk II, 20.45⫺22.30 Uhr; eigene Aufnahme und Verschriftung).
Das Terminatorenbündel setzt sich aus Informationen zum Spielschluss (Abpfiff durch den Schiedsrichter, Zusammenfassung des Spielgeschehens mit Ergebnisnennung und Aufzählung der Torschützen), durch einen Rückruf ins Studio und die Einschaltung des Studios zusammen. Die Bündel aus Initiatoren und Terminatoren begrenzen die einzelnen Textexemplare in eindeutiger Weise. Makrostrukturell besteht die Ganzreportage aus zwei Textteilen, aus Aktionsschilderungen und Zusatzinformationen, die notwendig werden, wenn das Spielgeschehen durch Spielunterbrechungen bei Abstößen, Freistößen, Ecken, Spielerverletzungen vorübergehend ruht. Von Rosenbaum (1969, 28 f.) werden diese Textteile als „Aktions-“ und „Nachtragstext“ bezeichnet. Suprasegmental sind sie durch verschiedene Sprechgeschwindigkeiten und Pausenlängen markiert: (46) Jetzt aber Hansi Müller mit einem Versuch und das war gar nicht schlecht. Der Ball geht zwar um einen Meter am rechten Pfosten vorbei, aber immerhin, dieses war wenigstens ein Schuß auf das von Jose´ Pilar Reyes gehütete Tor der Mexikaner. Der Zweiundzwanzigjährige, der gegen Tunesien noch zu den besten Spielern der Mexikaner gehörte. Die Mexikaner werden ja von Jose´ Antonio Rocca trainiert. Er wird der Preuße genannt, der hat eine radikale Verjüngung durchgeführt. Seine Mannschaft ist die jüngste in der Weltmeisterschaft. Die drei Sturmspitzen sind nur zwanzig Jahre alt und versuchen sich jetzt wieder in Aktion zu setzen. (GR).
Gelegentlich wird der Übergang von den Zusatzinformationen zur Aktionsschilderung durch Nominalsätze wie
138. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Sports (47) Jetzt aber zurück zu diesem Spiel
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vom Reporter selbst markiert. Innerhalb der Aktionsschilderungen sind Spielernamen oder spezifische Aktionen durch noch schnellere Sprechgeschwindigkeit und höheren Intonationsverlauf hervorgehoben, wenn die Spielsituation zu einem Torerfolg führen kann: (48) Nun Berti Vogts im Gegenzug. Der deutsche Kapitän hat den Ball längst über die Mittellinie nach vor befördert, spielt auf Dieter Müller, der dreht sich um die eigene Achse, schießt und Tor! In der vierzehnten Minute erzielt Dieter Müller nach Vorlage von Berti Vogts und einer kurzen Drehung des Kölner Stürmers das Eins zu Null. (GR).
Wird ein Tor erzielt, dann werden der Torschütze, die Aktion und das Ergebnis in langsamerer Sprechgeschwindigkeit wiederholt und durch die Angabe der Spielminute in den Spielablauf integriert. Hinweise auf die Spielminute haben auch unabhängig von Torerfolgen eine textgliedernde Funktion, die mit Absatzbildungen in Spielberichten vergleichbar ist: (49) Zwölf Minuten sind gespielt in dieser Begegnung hier in Cordoba, null zu null noch. Wir machen den ersten Wechsel am Mikrophon, Heribert Faßbender macht weiter. (GR).
In den letzten Minuten der Ganzreportage kommen Zeitangaben gehäuft vor (Brandt 1983, 231), was der Spannungssteigerung dient, wenn das Spiel aufgrund des Spielstandes noch nicht entschieden ist. Syntaktisch wird die Ganzreportage durch eine spezifische Auswahl an Nominalsätzen und Verbalsätzen konstituiert. Die Nominalsätze kommen überwiegend bei Aktionsschilderungen und ihren Ergebnissen vor. Sie sind ein- bis viergliedrig und bilden fast 50 % aller Sätze. Dabei können sie isoliert gebraucht oder als Teilsätze in Gesamtsätze integriert sein (Simmler 1985, 466 f.): (50) Tor! ⫺ Foulspiel (51) Cuellar, Cuellar fünfundzwanzig Meter vor dem Tor, flankt in den Strafraum (52) Heinz Flohe am Ball (53) Mendizabal zu Sanchez (54) Flohe an der Mittellinie (55) von links mit dem rechten Fuß (56) Schußversuch auf das deutsche Tor (57) Der erste Eckball von der rechten Seite (58) Kopfballmöglichkeit für Dieter Müller (59) Heinz Flohe in die Mittelstürmerposition zu Fischer (60) ein herrlicher Steilpaß von Fischer auf Dieter Müller (61) Heinz Flohe mit einem schönen Paß über fünfundzwanzig dreißig Meter herüber auf die andere Seite zum Benjamin der deutschen Mannschaft, zu Hansi Müller (62) Mit viel Effet, direkt ans Tor heran, Kopfball Rüßmann
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I (63) Jetzt aber Hansi Müller mit einem Versuch ⫺ Die Deutschen wieder im Angriff mit Heinz Flohe (alle GR).
Die eingliedrigen Nominalsätze benennen Ergebnisse (50) und Akteure, die in Ballbesitz sind und eine spezifische Aktion ausführen können (51). Mit zweigliedrigen Nominalsätzen werden Akteur ⫹ Aktion/Aktionsmöglichkeit (52), Akteur ⫹ Aktionsrichtung mit Personbezug (53), Akteur ⫹ Aktionsort (54), Spielposition ⫹ ausführender Körperteil (55), Aktion ⫹ Aktionsrichtung (56), Aktion ⫹ Aktionsort (57) bezeichnet. Die Abfolge von Akteur ⫹ Aktion kommt umgekehrt vor, wenn die Aktionen schnell aufeinander folgen und sich der Reporter ganz auf die Aktion konzentriert und den Akteur nachreicht (58). Durch die Verbindung von drei nominalen Satzgliedern entstehen Nominalsatztypen, deren kommunikative Funktion es ist, ein Spielgeschehen aus Akteur ⫹ Aktion ⫹ Aktionsrichtung mit Personbezug (59) bzw. in anderer Reihenfolge aus Aktion ⫹ Akteur ⫹ Aktionsrichtung mit Personbezug (60) zu beschreiben. In viergliedrigen Nominalsätzen sind die Typen Akteur ⫹ Aktion ⫹ Aktionsrichtung mit Ortsbezug ⫹ Aktionsrichtung mit Personbezug (61) und Aktionsumstand ⫹ Aktionsrichtung mit Ortsbezug ⫹ Aktionsabschluß ⫹ Akteur des Aktionsabschlusses (62) realisiert. Alle Typen können durch allgemeine Temporaladverbiale erweitert werden, die die textuelle Funktion haben, die Chronologie in der zur Verfügung stehenden Spielzeit zu markieren (63). Die Verbalsatztypen werden mit Verben konstituiert, die Angriffs-, Zuspiel-, Verteidigungsaktionen und deren Ergebnisse kennzeichnen. Dabei zeigen sich im Vergleich zum Lehrbuch und zum Spielbericht gemeinsame und unterschiedliche Auswahlprozesse und bei einigen Verben textsortengebundene Valenzreduktionen. Bei den Angriffs- und Zuspielaktionen werden wie im Lehrbuch (Simmler 1994a) die Verben angreifen, aufbauen, eindringen, flanken, führen, schlagen, schießen, spielen, überlaufen, ziehen und (sich) zuspielen, zurückspielen verwendet. Unterschiede ergeben sich nur durch die Leerstellenbesetzungen der EN und der EpD, EpA mit konkreten Spielernamen oder Mannschaften. Zusätzlich werden Angriffsaktionen durch die zweiwertigen Verben (64) anschießen, hereinbringen; (65) inszenieren, riskieren; (66) ansetzen, kommen; (67) drängen, gewinnen, gehen, hereinspielen, kommen
(alle GR)
bezeichnet. In allen Fällen wird die EN durch einen Spielernamen besetzt. Als EA kommt in (64) der Ball und in (65) eine Aktion wie Weitschuss vor. In (66) erscheint als EpD eine Aktion wie Dribbling, in (67) eine Bewegungsrichtung wie nach vorne. Besonders auffallend ist die häufige Verwendung der Verben kommen und gehen in sportartengebundenen Kontexten: (68) Sie kommen jetzt über die linke Seite, die Mexikaner (69) Aber sie [die Mexikaner] versuchen anzugreifen, kommen auch mit einer Flanke (70) Die Mexikaner sind in der deutschen Hälfte, werden jetzt sehr spät angegriffen, da Libero Ramos einmal nach vorn geht. (alle GR)
Sie konstituieren die Verbalsatztypen EN-V-EpA (68) und EN-V-EpD (69 f.).
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Anders als im Lehrbuch kann die EN auch mit dem Ball oder der Standardsituation Ecke, die für den Ball steht, oder der Aktionsbezeichnung Flanke besetzt sein. Als Verben erscheinen dann einwertig kommen und hereinkommen und zweiwertig gehen, kommen und streichen: (71) dann kommt die Flanke (72) Und so mit Effet bringt er die Ecke auch herein; die wird zunächst abgewehrt, kommt dann noch einmal auf den Elfmeterpunkt. (GR).
Dreiwertig werden die Verben befördern, treten und vorbeiziehen verwendet: (73) Der deutsche Kapitän hat den Ball längst über die Mittellinie nach vorn befördert. (GR).
Konstituiert wird der Verbalsatztyp EN-V-EA-EpD (73), als EN kommen Spielernamen, als EA der Ball oder eine Aktion und als EpD eine Bewegungsrichtung vor. Eine die Ganzreportage kennzeichnende Valenzreduktion zeigt sich beim Verb schießen in den Kontexten (74) Da versucht der linke Außenverteidiger Vasquez Ayala, der im Team der Mexikaner in den Vorbereitungsspielen sieben Tore geschossen hat, an dem Deutschen vorbeizugehen (75) Rainer Bonhof sollte auch einmal schießen; Und jetzt ist wieder Dieter Müller dran, schießt ⫺ und ⫺ ganz knapp am Tor vorbei; Rummenigge zieht es vor zu dribbeln, das war gut so, jetzt kann er schießen und ⫺ drei zu null. (GR).
In (74) wird der Verbalsatztyp EN-V-EA konstituiert, weil die EA nicht mit dem Ball, sondern einem Ergebnis besetzt ist. In (75) hat schießen das Sem ,Torschussversuch‘, das den einwertigen Gebrauch begründet und zum Verbalsatztyp EN-V führt. Die Ganzreportage wird ferner syntaktisch durch Verbalsatztypen gekennzeichnet, die Standardsituationen markieren: (76) Jetzt wird er [Rummenigge] gefoult und da gibt der Syrer Bouzo zurecht Freistoß. (GR).
Zur Bezeichnung der Standardsituation wird immer das Verb geben im Verbalsatztyp EN-V-EA verwendet. Als EN können der Schiedsrichter (76), ein Demonstrativum und das Scheinsubjekt es auftreten, die EA wird immer von der Standardsituation gebildet. Anders als im Lehrbuch spielen auch Aktionen, die zu einem Ballverlust führen, eine große Rolle, weil dadurch die andere Mannschaft in Ballbesitz kommt und Angriffsaktionen durchführen kann. Ballverluste werden durch die Verben sich leisten, rutschen, verfehlen, verlieren, verursachen und gehen bezeichnet, die jeweils zweiwertig gebraucht werden und die Verbalsatztypen EN-V-EA oder EN-V-EpA konstituieren: (77) Und diesmal hat er [Rummenigge] ausgerechnet im Dribbling versagt, hat den Ball verloren, die Mexikaner im Gegenstoß. (78) dann kommt die Flanke in den Strafraum, viel zu untemperiert, und der Ball geht erneut ins Aus. (GR).
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
Als EN kommt entweder ein Spieler und als EA der Ball (77) oder eine Aktion vor, oder die EN wird vom Ball gebildet; dann ist die EpA immer eine Richtungsangabe; als Verb wird dann fast ausschließlich das Verb gehen verwendet (78). Schließlich wird die Ganzreportage noch durch einige besondere Serialisierungsregeln von Satzgliedern und durch besondere Attribuierungen von den übrigen Textsorten unterschieden. In einigen Aussagesätzen nimmt das Prädikat die Erststellung ein, weil zunächst die Aktion und dann der Akteur benannt werden: (79) Foulspiel, aufgestützt hat sich der Mexikaner.
(GR).
Die Abfolge von Prädikat und Subjekt, von Aktion und Akteur, ist auch in Verbalsätzen vorhanden: (80) Dann wird angespielt Dieter Müller. ⫺ aber dazwischen geht zunächst einmal Lopez Zarza. (GR).
Der Reporter konzentriert sich auf die Aktionsschilderung und reicht die Information über den Akteur nach. Manchmal ist auch die Aktion eher zu erkennen als der Akteur (Sandig 1974, 34). In anderen Aussagesätzen nimmt das Prädikat eine Drittstellung ein: (81) Reyes mit einer Faust bereinigt die Situation.
(GR).
Auf die Nennung des Akteurs folgt die Nennung des Körperteils, mit dem die Aktion ausgeführt wird, und dann erst das Prädikat. Mit der Nennung des Akteurs ist häufig eine Präpositionalgruppe verbunden: (82) Cuellar fünfundzwanzig Meter vor dem Tor flankt in den Strafraum; De la Torre in Rechtsaußenposition spielt dann in die Mitte herein, wo Mendizabal lauert; Flohe etwa zwei Meter außerhalb des Strafraums versucht ein Dribbling. (GR).
Die Präpositionalgruppen sind wegen ihrer Umstellbarkeit bei gleich bleibendem Satzinhalt und wegen einer fehlenden Deixis Lokaladverbiale und zeigen das Bemühen der Reporter, den Hörern über die Nennung von Akteuren und ihren Positionen auf dem Spielfeld eine genaue räumliche Vorstellung (Jürgens 1999, 112) und damit auch Grade der Erfolgsaussichten von Spielaktionen zu vermitteln. Ihre unmittelbare Verbindung mit dem Subjekt der Sätze, dem Spieler, führt zu einer Drittstellung des Verbum finitum in Aussagesätzen, obwohl die Lokaladverbiale nicht notwendig sind (Lühr 1985, 5 f.), und ergeben eine besondere Stilwirkung der Satzgliedreihenfolge (Sowinski 1999, 96 f.). Lexikalisch existiert ein Bezug zu den Textsorten Regelwerk und Lehrbuch. Aus dem Regelwerk werden die Bezeichnungen für die externen Faktoren des Spiels übernommen und aus dem Lehrbuch eine Auswahl an Verben zur Bezeichnung von Angriffs-, Zuspielund Verteidigungsaktionen. Beide Schlüsselwortgruppen werden um zusätzliche Bezeichnungen erweitert, die das Spektrum der Variationsmöglichkeiten erweitern und bei den Verben zum Teil zu spezifischen Verbalsatztypen führen. Zusätzlich werden gelegentlich und nicht überwiegend für schießen Verben wie treiben, knallen, donnern, jagen, feuern, dreschen und kanonieren verwendet (Gerneth/Schaefer/Wolf 1971, 216). Sie sollen steigernd wirken, eine besonders intensive und aggressive Aktionsdurchführung kennzeichnen, zum Teil die emotionale Beteiligung des Reporters signalisieren und eine besondere
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Atmosphäre vom Spielgeschehen vermitteln. Solche Bezeichnungen stehen in einer Reihe von Untersuchungen im Vordergrund und führen zu abwertenden stilkritischen Kommentaren. Sie sind jedoch im Hinblick auf den Umfang des verwendeten Gesamtwortschatzes in Ganzreportagen nicht repräsentativ, erfassen nur lexikalische Randphänomene der Textsorte und werden der kommunikativen Leistung der Reporter zu einem großen Teil nicht gerecht. Bei den Variationen der Akteursbenennungen treten einmal dieselben Bezeichnungen und dieselben Attribuierungen wie in ,Spielberichten‘ auf. Variationen für das Spielgerät, den Ball, wie Leder, Pille, für das Torgehäuse wie Gehäuse, Laden, Allerheiligstes, Netz, Maschen (Gerneth/Schaefer/Wolf 1971, 216) kommen in der Ganzreportage nicht vor. Sie sind eher Merkmale für andere Textsortenvarianten der Textsorte Reportage bzw. für Berichterstattungsformen in Boulevardzeitungen (Simmler 2000, 725). Zum anderen treten weitere Variationen auf. Sie haben die Funktion, einzelne Mannschaftsteile näher zu bezeichnen (83), die Spielpositionen und Spieleraufgaben zum Teil zu spezifizieren (84 f.), nähere Beschreibungen des Äußeren und des Alters von Spielern zu geben (86), einzelne Wertungen abzugeben (87) und mit den Attribuierungen eine stärkere Integration in das Spielgeschehen vorzunehmen (88): (83) die deutsche Abwehr (84) zu Dietz, dem linken Verteidiger vom MSV Duisburg (85) Kölner Spielmacher Heinz Flohe (86) Der Mann mit der märchenhaften Mähne, Cuellar (87) dem jungen, trickreichen Hansi Müller (88) vor dem anstürmenden Mittelstürmer Rangel
(alle GR).
4.5. Textsorte Fernsehreportage: Textsortenvariante Ganzreportage Für das Medium Fernsehen existiert eine den Rundfunkübertragungen vergleichbare Gattungs- und Textsortentypologie nicht. Auch fehlen Auswertungen von Informationen im Bildschirmtext-System (BTX), von Videotext-Angeboten (seit Juni 1980) und von erwerbbaren Videokassetten mit Kompilationen großer Sportereignisse (Wolff 1987). Vom Rundfunk, dessen Übertragungen mit Hilfe des auditiven Kommunikationskanals erfolgen, unterscheidet sich das Fernsehen dadurch, dass alle Sendungen eine Verbindung zweier Kommunikationskanäle, des visuellen und des auditiven, sind (Hackforth 1975, 228 ff.). Lediglich bei zeitungssprachlichen Äußerungen liegt in der Textsortenvariante Text-Bild-Kombination der Textsorte Meldung eine vergleichbare Verbindung dieser beiden Kommunikationskanäle vor (Simmler 1993, 180 ff.). Während bei Rundfunkübertragungen der Hörer das Spielgeschehen nicht sieht, wird es ihm im Fernsehen vermittelt. Trotz der Ausschnitthaftigkeit der Fernsehbilder, die die Bildeindrücke durch eine Teilnahme in einem Stadion oder in einer Halle nicht völlig ersetzen kann, erhält der Zuschauer einen primär bildlichen Gesamteindruck, der durch Reporteräußerungen nur ergänzt und nicht wie im Rundfunk durch sie ⫺ und die generellen Kenntnisse vom Spielgeschehen ⫺ erst hervorzurufen ist. Die Bildzentrierung zeigt sich auch in neuen technischen Übertragungsformen (Wiederholungen von zentralen Spielszenen mit und
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
ohne Zeitlupe aus verschiedenen Perspektiven), die ein Zuschauer in einem Stadion oder einer Halle nicht hat, auch wenn ihm über Bildschirm und Großleinwände zusätzliche Informationen gegeben werden können. Um einen Vergleich mit dem Medium Rundfunk zu ermöglichen, gehen die folgenden Ausführungen von eigenen Aufnahmen und Verschriftungen von Ganzreportagen im Fernsehen aus, die problemlos aus Sendungen ausgegrenzt werden können, und konzentrieren sich auf Fußballübertragungen (GRF ⫽ Ganzreportage im Fernsehen vom Fußballspiel Deutschland gegen Holland, Sonntag, 18. 6. 1978, Deutsches Fernsehen (ARD), 20.35⫺22.30 Uhr). Die Ganzreportage im Fernsehen läßt sich folgendermaßen definieren: Die ,Ganzreportage‘ zu Mannschaftsspielen im Kommunikationsbereich des Sports ist im Medium Fernsehen eine Textsortenvariante, durch die extern ein Spielgeschehen simultan zu seinem Ablauf einem mehr oder weniger interessierten Zuschauerkreis durch einen visuellen Kommunikationskanal technisch-bildlich über ein Studio vermittelt und von einem oder zwei Reportern von einer Sprecherkabine aus begleitet wird, die intern durch einen auditiven Kommunikationskanal durch sinnkonstituierende Merkmalbündel aus Initiatoren, Terminatoren, Makrostrukturen, Satztypen und Lexik die Ereignisse auf dem Spielfeld näher erläutern und kommentieren, ohne den Ausgang des Spiels zu kennen.
Wie im Rundfunk besteht das Initiatorenbündel aus einer Ankündigung der Spielübertragung im Studio einer Fernsehanstalt und der Sprecherrollenübernahme durch einen Reporter am Spielort: (89) [Studio:] Wir schalten um zur Partie Niederlande gegen Deutschland, unser Reporter in Cordoba ist Ernst Huberti. [Huberti:] Ja, guten Abend, meine Damen und Herren, die Stunde der Wahrheit ist also da hier in Cordoba. […] (GRF).
Das Terminatorenbündel begrenzt das Textexemplar, indem das Spielende vermerkt, das Ergebnis mit Ausblick angegeben und zum Studio zurückgegeben wird: (90) Das Spiel ist aus, meine Damen und Herren! Zwei zu zwei trennten sich Deutschland und Holland in einer Partie, die die immer und immer wieder auf des Messers Schneide stand. […] Meine Damen und Herren, ich verabschiede mich damit aus Cordoba und gebe zurück nach Baden-Baden. (GRF).
Der Rahmen aus Initiatoren und Terminatoren kann noch wesentlich erweitert werden, indem vor und nach dem Spiel Statements eingeholt werden. Mit dem Erscheinen privater Fernsehanstalten wird der Berichtsteil vor und nach dem Spielgeschehen (auch in ARD, ZDF) zeitlich immer mehr ausgeweitet, durch Werbeblöcke unterbrochen, durch Zuschauer im Studio erweitert, so dass diese Teile als unterhaltende Formen eine größere textuelle Selbständigkeit erhalten und ihre ursprüngliche Funktion der Textbegrenzung der Ganzreportage zurückgedrängt wird. Durch die Bildübertragung vom Spielgeschehen verändern sich die makrostrukturellen Merkmale der Ganzreportage im Fernsehen gegenüber denen im Rundfunk. Erhalten bleiben die durch das Regelwerk extern bedingten Spielpausen und die Hinweise auf die gespielten Spielminuten, die die Ganzreportage chronologisch gliedern: (91) Acht Minuten sind gespielt, meine Damen und Herren, Spielstand eins zu null für Deutschland gegen Holland. (GRF).
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Da die optisch erkennbare Bildfolge das Spielgeschehen wiedergibt, ist der Fernsehreporter nicht mehr gezwungen, dieses Spielgeschehen sprachlich zu vermitteln und kontinuierlich zu sprechen. Die von ihm vorgenommenen Sprechpausen wirken nicht störend und werden zum Teil durch die Geräusche ersetzt, die die eingeschalteten Außenmikrophone vermitteln und die dem Zuschauer einen Eindruck von der Atmosphäre und der Stimmung in dem Stadion oder der Halle geben. Bei den Spielunterbrechungen hat der Fernsehreporter wie der Rundfunkreporter die Möglichkeit, Zusatzinformationen zu geben. Davon wird im Fernsehen weniger Gebrauch gemacht als im Rundfunk. Andererseits werden besondere, sich aus Standardsituationen ergebende Spielsituationen stärker gewertet (Dannenboom 1987): (92) Rensenbrink gegen Berti Vogts. Torentfernung ⫺ Sie sehen es selbst ⫺ siebenundzwanzig Meter. Natürlich alle deutschen Abwehrspieler, Stürmer, die ganze Mannschaft im eigenen Strafraum. Arie Haan und Rensenbrink stehen nebeneinander, Rensenbrink schießt ⫺ das war ja gefährlich genug, das wird Ihnen die Zeitlupe jetzt zeigen. (GRF).
Textsortenspezifisch ist, dass das Foulspiel von Vogts, das zum Freistoß führt, in (92) gar nicht erwähnt wird, nur die folgenden Reaktionen der deutschen Spieler werden genannt. Ebenso textsortenspezifisch ist, dass der Fernsehreporter die Zuschauer anredet, auf das Fernsehbild bzw. auf eine bald folgende Zeitlupe verweist, also die Möglichkeiten des Mediums Fernsehen bewusst in seinen Sprachgebrauch integriert. Die Verbindung von Wertungsformen und Einbezug der Zuschauer findet sich auch bei von Standardsituationen unabhängigen Einzelsituationen und wenn der Fernsehreporter die Zuschauer auf erkennbare und neue taktische Mannschaftseinstellungen hinweist: (93) Es gibt eine ganze Reihe von taktischen Wechseln in den ersten fünf Minuten, meine Damen und Herren: Hölzenbein auf links außen zu finden, Rummenigge im Mittelfeld, das ist die taktische Variante, die Trainer Trainer Jupp Derwall eben angedeutet hat und die die Holländer bis jetzt noch nicht ganz verdauen. (GRF).
Wie die Ganzreportage im Rundfunk wird die im Fernsehen durch eine spezifische Auswahl an Nominal- und Verbalsätzen gekennzeichnet. Die Nominalsätze sind ein- bis viergliedrig und noch zahlreicher als im Rundfunk: (94) Dietz. Kaltz. Rüßmann. Beer. (95) Bonhof, Schrijvers und Tor! (96) Abstoß, kein Eckball! ⫺ Korrekte Entscheidung! (97) Zweite Ecke! ⫺ Freistoß! (98) Noch zwölf Minuten. (99) Arie Haan, Freistoß, und ein sehr schöner Doppelpaß. (100) Abramcziks Tor in der zweiten Spielminute. (101) Abramczik am Ball. (102) Rensenbrink gegen Berti Vogts. (103) Doppelspitze auf der rechten Seite.
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I (104) Gute Ansätze im Spiel der deutschen Mannschaft, doch lange nicht alles gelingt; nicht alles, noch lange nicht alles ist so, wie man es sich vorstellt, es ist besser, aber viel besser. (105) Ganz klare Behinderung vom Rechtsaußen Abramczik durch Wildschut. (106) Lob für Berti Vogts. (107) Kopfballmöglichkeit für Dieter Müller. (108) Torentfernung, Sie sehen es selbst, siebenundzwanzig Meter. (109) In der sechsundzwanzigsten Minute Arie Haan zum Eins zu Eins (110) Schiedsrichter Barreto aus Uruguay bisher sehr aufmerksam. (111) Und mit der Sechs Bonhof wieder der Ausführende. (112) Der erste Eckball für die deutsche Mannschaft nach gut achtunddreißig Minuten Spielzeit. (113) Wieder eine Kopfballmöglichkeit für Rep. (114) Bonhof gefoult von Rep. (115) Spielstand eins zu null für Deutschland gegen Holland. (116) Haan, Defensivspieler, aber jetzt ganz munter nach vorne. (117) Vorne Rensenbrink am rechten Flügel zunächst. (118) Vogts wieder einmal Sieger gegen Rensenbrink. (119) Die gelbe Karte inzwischen wegen Reklamation für Sepp Maier.
(alles GRF).
Mit den eingliedrigen Nominalsätzen sind verschiedene Funktionen verbunden. Am häufigsten wird der Spieler genannt, der sich gerade in Ballbesitz befindet (so auch Jürgens 1999, 116). Textsortenspezifisch sind dabei Abfolgen solcher eingliedrigen Nominalsätze (94). Die Abfolge (95) nennt die beteiligten Personen und das Ergebnis, aber keine Spielaktion. Häufig werden die Standardsituationen in Ausrufesätzen benannt, die sich aus der im Bild gezeigten Spielaktion ergeben (96 f.), dabei können auch Schiedsrichterentscheidungen unterstützt werden (96). Ist bei Standardsituationen genügend Zeit vorhanden, können mit der Spielernennung zusätzliche Informationen wie im Rundfunk verbunden werden. Mit den eingliedrigen Nominalsätzen werden auch Wertungen von Einzelaktionen (99) oder des Spielstandes vorgenommen. Gegen Spielende häufen sich Angaben zur noch verbleibenden Spielzeit, um die Spannung zu erhöhen (98). Bei den zweigliedrigen Nominalsätzen werden am häufigsten Akteur ⫹ Aktion genannt (101) oder in umgekehrter Reihenfolge Aktion ⫹ Akteur (107). Mit den Akteuren kann ein zweites Satzglied verbunden sein, das den Aktionsort (103), die Aktionswiederholung, den Personbezug der Aktion bzw. die Aktion mit gleichzeitiger Bewertung (105) benennt oder nur eine Wertung ausdrückt (106). Weitere zweigliedrige Nominalsätze konstituieren die Typen Ergebnis ⫹ Spielminute (100), Aktion ⫹ Mannschaftsbezug, Standardsituation ⫹ Bewertung der Schiedsrichterentscheidung, Wertung ⫹ Gesamtspielbezug und Ort ⫹ Ortsbezug (108), wenn sich daraus eine torgefährliche Aktion entwickeln kann. Textsortenspezifisch sind die zweigliedrigen Nominalsätze, die ausschließlich den angreifenden und den verteidigenden Akteur benennen, aber nicht die jeweiligen Aktionen (102). Bei den dreigliedrigen Nominalsätzen bezeichnen die Satzglieder Spielminute ⫹ Akteur ⫹ Ergebnis (109), Akteur ⫹ allgemeine Zeitangabe ⫹ Wertung (110), Akteur ⫹
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Aktionswiederholung ⫹ Akteur (111), Standardsituation ⫹ Akteur ⫹ Spielminute (112), Aktionswiederholung ⫹ Akteur ⫹ Körperteil bzw. Aktionswiederholung ⫹ Aktion ⫹ Akteur (113), Spielstandshinweis ⫹ Ergebnis ⫹ Mannschaftsbezug, Ergebnis ⫹ Mannschaftsbezug ⫹ Akteur und angreifender Akteur ⫹ Aktion ⫹ verteidigender Akteur (114). Mit viergliedrigen Nominalsätzen wird auf Spielaktionen hingewiesen, die aus Spielstandshinweis ⫹ Ergebnis ⫹ Mannschaftsbezug ⫹ Mannschaftsbezug (115), Akteur ⫹ allgemeine Zeitangabe ⫹ Aktionsart ⫹ Aktionsrichtung (116), Standardsituation ⫹ Folgerung ⫹ Spielbezug ⫹ Mannschaftsbezug, Ort ⫹ Akteur ⫹ Ort ⫹ allgemeine Zeitangabe (117), Akteur ⫹ allgemeine Zeitangabe ⫹ Ergebnis ⫹ Akteur (118) und Verwarnung ⫹ allgemeine Zeitangabe ⫹ Ursache ⫹ Akteur (119) bestehen. Ein Teil der drei- und viergliedrigen Nominalsätze entsteht durch die Verwendung eines Temporaladverbiales, welches in allgemeiner Form das Geschehen in die Spielzeit einordnet. Bei den Verbalsätzen besteht ein zentraler Unterschied der Ganzreportage im Fernsehen zum Rundfunk darin, dass der Reporter die Zuschauer direkt anspricht (120 f.), in das Geschehen einbezieht, indem er sie auf die Bildübertragung (120) bzw. auf Zeitlupenwiederholungen (121) verweist: (120) Frühes Angreifen der Holländer, das sehen Sie jetzt schon, meine Damen und Herren! (121) das war ja gefährlich genug, das wird Ihnen die Zeitlupe jetzt zeigen.
(alles GRF).
Eine Hinweisfunktion auf die Bildübertragung besitzen auch Verbalsätze, die mit dem Verb sein gebildet und vom Demonstrativum das eingeleitet werden: (122) Das sind also die Konter der Holländer. ⫺ Das war seine erste Probe.
(GRF).
Wie im Rundfunk kommt auch im Fernsehen das Verb schießen einwertig mit dem Sem ,Torschussversuch‘ vor (92). Im Vergleich zum Rundfunk entfallen im Fernsehen unter lexikalischem Aspekt alle Kennzeichnungen von Zuspielarten und die ständigen Hinweise auf die Raumaufteilung durch Adverbialen, weil der Zuschauer diese Hinweise durch die Bildübertragung erhält. Auch verbale Bezeichnungen für Angriffs- und Verteidigungsaktionen werden wesentlich seltener als im Rundfunk verwendet. Vergleichbar sind die Bezeichnungen für die Mannschaften, die Spieler, die Spielerpositionen und die zu den einzelnen Spielern gegebenen Attribuierungen. Textsortenspezifisch sind alle lexikalischen Einheiten, die auf die Bildübertragung und auf zusätzliche technische Möglichkeiten wie Wiederholungen und Zeitlupen verweisen. Insgesamt führt der weite Stilbegriff unter Berücksichtigung externer Merkmale und durch die Analyse der internen rhetorisch-stilistischen Eigenschaften von Initiatoren, Terminatoren, Makrostrukturen, Satztypen und Lexik im Kommunikationsbereich des Sports bei Mannschaftssportarten zu einer eindeutigen Textsortendifferenzierung und zur Kennzeichnung und Abgrenzung dieses Kommunikationsbereichs, was mit Hilfe der klassischen rhetorisch-stilistischen Merkmale nicht erreicht werden kann.
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
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XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I
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138. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Sports Wolff, Hans-Joachim (1987): Sport in den Neuen Medien: Versuch eines Überblicks. In: Josef Hackforth (Hrsg.): Sportmedien und Mediensport. Wirkungen ⫺ Nutzung ⫺ Inhalte mit einem Vorwort von Rudi Michel und Beiträgen von Artur vom Stein [u. a.]. Berlin, 283⫺299. Zemb, Jean-Marie (1995): Ist [der] Stil meßbar? In: Gerhard Stickel (Hrsg.): Stilfragen. Berlin/New York, 128⫺149.
Franz Simmler, Berlin (Deutschland)
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XIII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung II: didaktische Aspekte 139. Rhetorische Ratgeber ür Beru und Alltag 1. 2. 3. 4.
Wer schreibt? Ratgeber für das Handeln in Gesprächen Ratgeber für die Rede Literatur (in Auswahl)
Abstract Supply and demand in the ‘rhetorical market place’ are considerable. Obviously, people doubt the sufficiency of ‘simple communication’ in business and everyday life. Authors, who credit themselves substantial expertise, promise to provide advice, checklists, and even ‘rules’ of successful behavior for laypeople in both conversation and speech. The article presents some fundamental behavior standards on the basis of the following discourse types: discussion, sales talk, performance interview, and negotiation. In addition, it illustrates to what extent the model of communication, based on thoughts of Bühler and Watzlawick, and established by Schulz von Thun, has achieved reference status. Moreover, the concepts of ‘I-statement’ and ‘active listening’ are highlighted, which are used both with strategic intention (i. e. related to personal advantage), or without interest in understanding and agreement. Advice for making a speech is rarely related to the development of thoughts, but rather refers to the arrangement of the talk. Although convincing argumentation is considered the main purpose of the main part of talks, there is rarely theoretical information on argumentation. On the other hand, detailed and controversial discussions exist on the role of a written script. The instructions dealing with the linguistic design are mostly unjustifiable from a scientific point of view. In terms of body language, ‘natural’ behavior is preferred by the majority.
1. Wer schreibt? Sucht man in Buchhandlungen nach Rhetorikratgebern, dann findet man sie in der Regel unter Management, Marketing und vergleichbaren Rubriken. Was ihre Profession angeht, so schreiben sich die Autorinnen und Autoren Bezeichnungen wie Sprachtrainer, Kommunikationstrainerin, Rhetoriktrainerin, Managementtrainer mit Schwerpunkt Rhetorik und Dialektik, Unternehmensberaterin, Personalentwickler zu. Oft werden außerordentliche Kompetenz (,begnadeter Redner‘) und berufliche Erfolge (,Zigtausende mehr als zufriedener Teilnehmerinnen von Fortbildungsveranstaltungen‘) reklamiert. Häufig bezieht man sich auf einen akademischen Werdegang, wobei das Spektrum dessen, was als reputabel angesehen wird, recht breit ist. Da firmiert jemand als „Professor für Betriebswirt-
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schaftslehre“, der „seit über 25 Jahren Rhetorik-Seminare an der Hochschule und in der Wirtschaft“ anbietet (Mentzel 2000), andere (wie Flume 2003 und Rettner 2001) weisen auf ihr Rhetorikstudium in Tübingen oder einschlägige Lehraufträge (wie Beck 2006) hin oder man macht den Status als (auch habilitierter) Philosoph (z. B. Edmüller/Wilhelm 3 2005) oder als Psychologin geltend (Winkler/Commichau/Schulz von Thun 2005). Die Angaben zu Profession, beruflichem Erfolg und akademischem Habitus lassen sich als Stützungen des Anspruchs verstehen, als normsetzende Instanz hinreichend legitimiert zu sein. Ein Teil der für einen Einzelnen kaum noch überschaubaren Ratgeberliteratur bezieht sich auf die traditionelle Domäne der Rhetorik, nämlich auf eher monologische Formen mündlicher Kommunikation (etikettiert als Rede, Vortrag, neuerdings auch als Präsentation). In einem anderen Teil erörtert man ausschließlich oder auch zusätzlich zu den (vorrangig) monologischen Versionen interaktive Formen, d. h. Aspekte wirkungsvollen Handelns in Gesprächen verschiedenen Typs. Wer für einen erweiterten Begriffsumfang plädiert, der sowohl Rede- als auch Gesprächskunst umfasst, thematisiert die ,Modernität‘ dieser Version zuweilen explizit wie Hertzer (2005, 9): „In der Antike war der Begriff ,Rhetorik‘ auf die Redekunst bei Vorträgen begrenzt. Mittlerweile bezeichnet man damit aber auch die Fähigkeit, die eigene Meinung in einem Gespräch überzeugend darzustellen“ (vgl. auch Hantschel/Krieger 2005, 12; Müller 2002, 9; Palausch 2000, 9 f. u. a.). Nicht anders verfährt man im Rahmen der Sprecherziehung bzw. Sprechwissenschaft, wenn man unter den Oberbegriff der rhetorischen Kommunikation die Rede- und die Gesprächsrhetorik subsumiert (vgl. Geißner 1982). Darüber hinaus finden sich Texte, die jeweils ausschließlich dem Stimmtraining oder der Übung von Schlagfertigkeit gewidmet sind. Auf diese Texte wird im Folgenden nicht weiter eingegangen.
2. Ratgeber ür das Handeln in Gesprächen Für Fachnovizen, aber auch -experten sind Ratgeber für kompetentes Agieren im Kontext von berufsspezifischen Gesprächstypen wie Unterrrichts- und Anamnesegespräch, Vernehmung, Zeugenbefragung usw. verfasst, die hier nicht thematisiert werden sollen. Auf berufsübergreifende Typen und damit nicht nur auf ein Fachpublikum zielen Ratgeber für das Handeln vor allem bei Smalltalk, in Konferenzen, Besprechungen bzw. Meetings, Diskussionen, Verhandlungen, Konflikt- und Kritikgesprächen, Verkaufs- und Vorstellungsgesprächen. Nur in wenigen dieser Texte wird auf das historisch uneingelöste, weil systematisch prekäre Projekt einer Rhetorik des Gesprächs, genauer: einer Rhetorik des individuellen Handelns im Gespräch, hingewiesen. Als (mindestens) dyadische Prozesse können Gespräche nämlich eine von einem einzelnen Teilnehmer nicht dirigierbare Dynamik entwickeln, was der Cicero in aufklärerischer Absicht übersetzende und kommentierende Christian Garve (1783, 231) so formulierte: „Das Gespräch unterscheidet sich dadurch von einer ausgearbeiteten Rede oder Schrift, daß es seinen eigenen Gang geht, welchen keiner der Unterredenden bestimmen, oder voraus sehen kann. […] Und die Ordnung der Gegenstände des Gesprächs, welche aus allen diesen verschiedenen Verbindungsarten der Unterredner zusammengesetzt ist, bekömmt also dadurch etwas Eigenthümliches und Sonderbares. Der gute Gesellschafter wird sich von diesem Gange
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XIII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung II: didaktische Aspekte
des Gespräches mit fortführen lassen: allenthalben, wo es hingeräth, einige Blumen oder Früchte zu finden wissen.“ Garve zielte auf Gespräche in leichtem Ton, in denen es nicht auf movere oder docere, sondern vornehmlich auf delectare ankommt, Gespräche also, die in aktueller Diktion als Smalltalk firmieren. Zuweilen wird in den aktuellen Ratgebern zwar der Eindruck erweckt, der Ablauf von Gesprächen sei in Analogie zur Disposition einer Rede zu begreifen, wobei Gesprächseröffnung, -kern und -beendigung mit Redeeinleitung, -hauptteil und -schluss parallelisiert werden (Hantschel/Krieger 2005, 149). Zugleich konzediert man aber: „Da ein Gespräch von mindestens zwei Personen gestaltet wird, kann es jedoch passieren, dass es eine andere Richtung nimmt als erwünscht“ (Hantschel/Krieger 2005, 152). Verallgemeinert man diesen Befund, dann kann, was die Gesprächsdynamik im Ganzen angeht, für den einzelnen Beteiligten von einem strukturellen Steuerungsdefizit gesprochen werden. Was in ,technologischer‘ Hinsicht als Defizit erscheint, ist für viele Ratgeberautoren aber moralisch betrachtet ein Gewinn. Man bemüht Werte wie Fairness und Toleranz und argumentiert darüber hinaus oft utilitaristisch: Bloß strategisches, erfolgsorientiertes Handeln in Gesprächen zahle sich auf Dauer nicht aus, insofern laufe es mittel- und langfristig den wohlverstandenen eigenen Interessen zuwider, wofür z. B. „Heerscharen unzufriedener Kunden ,pfiffiger‘ Superverkäufer“ nur ein Indiz seien (Wilhelm/Edmüller 2003, 13). In anderen Texten dagegen sind die Ratschläge sozusagen ,entmoralisiert‘. So schlägt Beck (2006, 31) vor, im Rahmen von hochschulischen Seminaren auch dann sehr ausführlich zu einem Dozentenvortrag Stellung zu nehmen, wenn die Zeit knapp ist und sich noch mehrere andere zu Wort melden. „In diesem Sinne kann eine gewisse Rücksichtslosigkeit erfolgreich sein ⫺ vorausgesetzt, diese Unhöflichkeit wird als fachliche Leidenschaft, die alle Konventionen vergessen lässt, getarnt.“
2.1. Die globale Ebene des Gesprächs Auf globaler Ebene ist ein Gespräch (partiell) nur steuerbar, wenn vorab Gesprächsziele bestimmt und gegebenenfalls hierarchisiert wurden. Die Chance, die Ziele zu erreichen, wächst mit der in der Regel qua Status, selten situativ gegebenen Macht des Akteurs. Immer wird empfohlen, in diesem Zusammenhang probeweise die Perspektive der anderen am Gespräch Beteiligten zu übernehmen: Welche Ziele verfolgen sie ihrerseits, sind sie Mitarbeiter oder Vorgesetzte, welche Handlungsspielräume haben sie, welche hat man selbst und welche werden einem von den anderen wohl zugeschrieben? Aber auch eigene und fremde Emotionen sollen taxiert werden: Hält man die anderen z. B. eher für sympathisch, was gilt wohl für sie in dieser Hinsicht? Welches Image habe ich überhaupt bei ihnen? Es geht also nicht nur um Perspektivenübernahme und damit um Dezentrierung der eigenen Perspektive, sondern es wird auch auf die Fähigkeit gesetzt, die Beziehung zwischen Ego und Alter aus der Warte einer dritten Person zu betrachten. Zuweilen wird in diesem Kontext die Relevanz para- und nonverbaler Aspekte der Kommunikation emphatisch betont. Dabei verweist man ⫺ in der Regel ohne Quellenangabe und erst recht ohne methodenkritischen Kommentar ⫺ auf Forschungsergebnisse, denen zufolge z. B. „die positive Einstellung zu einem Gesprächspartner nur zu einem geringen Teil davon abhängt, was er sagt, aber zu 55 Prozent von der Körpersprache und zu 38 Prozent von der Stimme beeinflusst wird […]. Bleiben also nur 7 Prozent, die sich um die Worte, Formulierungen und Argumente drehen!“ (Hertzer 2005, 21; mit
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Angabe der Quelle bei Kratz 2006, 74; Müller 2002, 98; bei Goldmann 2004, 40 zählt Inhaltliches immerhin zu 20 Prozent). Ginge man davon aus, dass Gestik, Mimik und paraverbale Parameter durch (Um-)Lernen kaum verändert werden können, dann läge die Frage nahe, ob angesichts eines ,Restes‘ von sieben Prozent ein Rhetorikratgeber überhaupt nützlich ist. Diese Frage wird aber nicht gestellt. Wer positiv wirken will, hat auch auf die Kleiderordnung zu achten. Hier kommt es vor allem auf die Angemessenheit an, wobei es um den Typ, das Alter, die Art des Berufs, die Firmentradition, den spezifischen Gesprächsanlass geht. Potentielle Normenkonflikte löst man in konservativer Manier: Auch wer sich vom Typ her als eher bunter Vogel sieht, möge z. B. auf auffällig Gemustertes verzichten. Die meisten gehen davon aus, dass die Bestimmung von Gesprächszielen unproblematisch ist: Ich möchte erreichen, dass jemand in eine andere Abteilung versetzt wird, dass er nur ermahnt wird, dass mein Gehalt um einen bestimmten Betrag erhöht wird usw. Andere, wenige, thematisieren die Möglichkeit, dass die Festlegung von Zielen, (sozial)psychologisch betrachtet, problematisch sein kann, insofern (mindestens) zwei Seelen in der Brust wohnen bzw. in der metaphorischen Diktion von Friedemann Schulz von Thun (2003) mehrere „Mitglieder des Inneren Teams“ oder eine Pluralität von inneren Stimmen angenommen werden können. So mag eine Stimme sagen, dass angesichts der eigenen Leistungen die Gehaltserhöhung gar nicht verdient sei, eine andere mahnt an, dass man aber Flagge zeigen müsse, und die zweite Stimme setzt sich durch. Der Grad, in dem ein Gespräch, global betrachtet, als steuerbar erscheint, hängt darüber hinaus vom Diskurstyp ab. Dazu im Folgenden vier Beispiele. Fasst man die Diskussion anders als den Smalltalk so auf, dass man hier vom Setting her die Chance hat, im Prinzip ungestört umfangreiche argumentative Turns zu platzieren, dann liegt es nahe, auf mehr oder weniger elaborierte Dispositionsschemata zu setzen, die man auch für primär monologisches Reden bemüht. So mag man in einer Einleitung die Thematik fixieren, im Hauptteil mehrere Argumente nennen, das ,Beste‘ am Schluss, die ,Schwächsten‘ in der Mitte, als Schluss einen ,Zielsatz‘ formulieren („Ich bin deshalb dafür, dass … .“). In Frage kommen auch ein Problemlösungsaufbau (Einleitung: Welcher Ist-Zustand soll geändert werden? Hauptteil: Welche Gründe gibt es? Welche Lösung schlage ich vor und wie begründe ich sie? Schluss: Lassen Sie uns also so verfahren.), eine Pro- und Contra-Version mit Entscheidung für das eine oder das andere oder auch in Form eines Kompromisses (Hertzer 2005, 39 ff.). Hier bleibt wie meistens offen, auf der Basis welcher Standards Argumente als mehr oder weniger ,stark‘ klassifiziert werden können. Die Vorschläge zur Disposition muten aber plausibler an als Versionen wie „Behaupten, begründen, belegen, Beispiel nennen, folgern. So lautet das richtige Argumentationsschema“ (Hantschel/Krieger 2005, 149). Die Differenzen von Begründen und Belegen hier und Behaupten und Folgern dort werden nicht namhaft gemacht. Die Nähe zur schulisch vermittelten kanonischen Trias von Behaupten, Begründen, Beispiel geben liegt auf der Hand, zugleich die These, dass diese Version auch mit einfachen argumentationstheoretischen Modellen nicht kompatibel ist. Unter (eher implizitem) Bezug auf solche und auch komplexere Modelle schreiben nur Edmüller/Wilhelm (32005), die sich selbst als Philosophen ausweisen und sich dann auch mit dem topischen Vorwurf konfrontiert sehen, ihnen fehle leider „der rechte Praxisbezug“ (Portner 2000, 112). Auf den Ablauf von Verkaufsgesprächen beziehen sich Formeln wie z. B. AIDA und DIBABA. AIDA besagt: Zuerst solle man die Aufmerksamkeit (attention) des Kunden gewinnen, dann sein Interesse an der Ware wecken. Das D steht für desire, also den
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Kaufwunsch, das A für action, die (nichtsprachliche) Kaufhandlung. Bei DIBABA markiert D die Definition des Kundenbedarfs, unter I soll der Kunde seinen Bedarf mit dem Angebot identifizieren. Es folgt ein Beweis, dass gerade mit diesem oder jenem Produkt der Bedarf besonders gut gedeckt ist. Der Kunde nimmt den Beweis an (A); es stellt sich Begierde ein und es kommt zu einem Abschluss, es wird gekauft. Wenn solche Formeln nicht als (allerdings nur rudimentäre) Rekonstruktionen gelungener Verkaufsgespräche verstanden werden, sondern als Werkzeuge der Gesprächssteuerung für einen der Aktanten, den Verkäufer, dann ist ihr Status missverstanden. Dass das Interesse des Kunden geweckt ist, dass er die Ware kaufen will, mag, sprechakttheoretisch formuliert, ein perlokutionärer Effekt sein. Dieser Effekt ist aber nicht allein dem Verkäufer zuzurechnen, der den Käufer überzeugen will. Allein Wilhelm/Edmüller (2003, 12) weisen nach meiner Kenntnis darauf hin, dass der Sprechakt des Überzeugens nicht konventionell geregelt ist. „Denn der Erfolg einer solchen Handlung hängt nicht nur von mir, sondern ganz wesentlich von meinem Gesprächspartner ab. Und den können die unterschiedlichsten Dinge überzeugen. […] Allein schon aus diesen Überlegungen folgt, dass es sich beim Überzeugen nicht um ein sprachliches Standardverfahren mit Erfolgsgarantie handeln kann.“ Mit Ratschlägen für das Handeln in Kritikgesprächen wendet man sich in der Regel an hierarchiehöhere Adressaten, die, insofern sie ,gesprächsmächtig‘ sind, größere Chancen haben, den Ablauf dieses Typs von Gespräch steuern zu können. Zuweilen wird der Eindruck erweckt, es gebe eine Technologie kompetenter Kritik, die sich als Folge von Imperativen, d. h. gleichsam als Algorithmus, begreifen lasse. So schreiben Blanchard/ Johnson (2002, 61), man solle sofort und detailliert kritisieren und sagen, wie man gefühlsmäßig auf den ,Fehler‘ reagiere. Dann solle man einige Sekunden warten, sodass der Kritisierte die Gefühle nachempfinden könne. Dann solle man dem anderen die Hand reichen und ihm so zeigen, dass man auf seiner Seite stehe. In der Folge sei zu verbalisieren, dass man ihn schätze, viel von ihm halte, aber nicht von seinem Verhalten in der konkreten Situation. Und schließlich: Wenn die Kritik vorbei sei, sei sie vorbei. Bei Verhandlungen kommt es oft zu Vorwurf-Rechtfertigungs-Spiralen. Sollen sie vermieden werden, hilft ⫺ so der Tenor der Ratgeberliteratur ⫺ nicht das unmittelbare Einwirken auf den Anderen, auf dessen Aktion man vermeintlich nur reagiert. Auch der andere glaubt ja, so die Einsicht in der Warte eines Beobachters in der dritten Person, nur zu reagieren. Der Teufelskreis kann aber durchbrochen werden, wenn man seiner Emotionen gewahr wird und dann den damit korrespondierenden verbalen Ausdruck vermeidet. Man reagiert dann nicht so, wie der andere das erwartet, und kann das angestrebte Verhandlungsziel weiter im Auge behalten. Dieser andere erwartet auch nicht, dass man seine Position im Einzelnen zu verstehen versucht; zeigt man das aber an, indem man ,aktiv zuhört‘ (s. 2.2), irritiert man ihn weiter, insofern man gleichsam an seine Seite tritt. Dann, so die gängige Kampfmetaphorik, fällt es ihm schwerer anzugreifen. Kurz: „Um Ihren Kontrahenten zu entwaffnen, müssen Sie das Gegenteil dessen tun, was er von Ihnen erwartet.“ (Ury 1995, 62) Und schließlich: Der einzelnen Partei mag es gelingen, zunächst inkompatible Verhandlungsziele dann als miteinander vereinbar zu deklarieren, wenn sie diese Ziele als Mittel zu Oberzielen interpretieren kann. So mögen familiäre Verhandlungen über das nächste Urlaubsziel dazu führen, dass nicht per se und voraussichtlich fruchtlos um Zielorte gerungen wird, sondern dass nach Anliegen gefragt wird, welche die Wahl der Zielorte motivieren. Wer nach Mallorca fahren will, weil er das Anliegen hat, dort viel
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Sonne zu genießen und zu faulenzen, gesteht vielleicht ein, dass sich diese Oberziele auch an Orten erreichen lassen, die den anderen Verhandelnden eher genehm sind (Wilhelm/ Edmüller 2003, 171). Abstrakter gesprochen: Der zentrale Ratschlag lautet, manifeste Äußerungen als Indikatoren von basalen Bedürfnissen zu deuten. Hier rekurriert man u. a. auf anthropologische Modelle wie die Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow. Demnach lassen sich in popularisierter Version und gleichsam aufsteigend die folgenden Antriebe des Handelns unterscheiden: „physische und emotionale Sicherheit, wirtschaftliches Wohlergehen, Zugehörigkeit bzw. Identität, Anerkennung bzw. Selbstwertgefühl, Kontrolle über das eigene Leben bzw. Autonomie“ (Ury 1995, 148). Wer signalisiert, so die Botschaft, dass er bereit ist, die Grundbedürfnisse des Verhandlungspartners zu befriedigen, die von Fall zu Fall im Spiel sein mögen, kann dessen womöglich negative Haltung erwartbar zum eigenen Vorteil wenden.
2.2. Regionales und lokales Gesprächsmanagement Was die eher regionale Ebene des Gesprächs angeht, vor allem Äußerungspaare, so rekurrieren viele Ratgeberautoren auf das psychologische Kommunikationsmodell von Friedemann Schulz von Thun (z. B. Hertzer 2005, 54; Hantschel/Krieger 2005, 29 ff.; Müller 2002, 26 f. u. a.). Unter Rückgriff auf Bühlers Organon-Modell und die üblicherweise Watzlawick zugeschriebene Unterscheidung von Inhalts- und Beziehungsaspekt nimmt von Thun vier Aspekte eines Kommunikationsangebots bzw. einer Äußerung an: ⫺ den Sachinhalt, ⫺ die Selbstkundgabe (sei es als bewusste Selbstdarstellung oder als mehr oder weniger bewusste Selbstpreisgabe), ⫺ den Beziehungshinweis (Stellung zum Rezipienten, Definition der Beziehung), ⫺ den Appell (als Versuch der Einflussnahme auf Denken, Fühlen, Handeln des Adressaten). Häufig werde nur der Inhaltsaspekt sprachlich manifest, die anderen Aspekte stünden gleichsam zwischen den Zeilen und müssten erschlossen werden. Die Hörer hätten bestimmte Vorlieben entwickelt, die von Thun als Sach-Ohr, Selbstkundgabe-Ohr, Beziehungs-Ohr und Appell-Ohr bezeichnet. Zur Illustration: Eine Vorgesetzte sagt zu einem Mitarbeiter „Es ist nichts mehr in der Kaffeekanne.“ Sagt er „Das habe ich auch schon bemerkt“, aktiviert er, jedenfalls vordergründig, das Sach-Ohr, antwortet er „Sind Sie müde und wollen sich aufmuntern?“, bemüht er das Selbstkundgabe-Ohr. Mit „Bin ich hier für Sie der Lehrling?“ ist das Beziehungs-Ohr im Spiel und wer sagt „Wird sofort gemacht!“ hat die Äußerung als Appell verstanden. Die Ohren-Theorie soll in reflexiver bzw. metakognitiver Absicht genutzt werden. Man soll nämlich die eigenen Ohren-Vorlieben ermitteln und gegebenenfalls das bisherige Ohren-Spektrum erweitern. Wenn man z. B. in relevanten Gesprächssituationen nicht immer nur das Appell-Ohr, sondern z. B. auch das Selbstkundgabe-Ohr aktiviere, könne das wesentlich zur Selbstentlastung beitragen. Häufig sind Sequenzen, bei denen Vorwürfen Rechtfertigungen folgen. A sagt z. B. „Reden Sie doch nicht immer dazwischen!“ und B bemüht sich um eine Rechtfertigung. Vorwurf-Rechtfertigungs-Eskalationen sind dann nicht selten, sondern eher die Regel. Als Alternative wird in vielen Ratgebern zum kompetenten Handeln in Gesprächen ⫺
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z. B. im Rahmen des Kritikgesprächs und von Verhandlungen ⫺ der Ratschlag ins Spiel gebracht, von Du-Botschaften auf Ich-Botschaften umzustellen. Ich-Botschaften bestünden aus den Schritten Gefühl-Beispiel-Konsequenz. Statt des Vorwurfs „Reden Sie doch nicht immer dazwischen!“ soll kunstgerecht formuliert werden „Ich finde es ärgerlich [Gefühl], wenn ich nicht ausreden kann [Beispiel für Verhalten]. Dann fühle ich mich nicht ernst genommen [Konsequenz]“ (Hertzer 2005, 57). Für eine solche Umstellung wird fast durchgängig nicht nur, aber auch eine strategische Rechtfertigung gegeben: Ein Vorwurf ließe sich nämlich immer als ungerechtfertigt attackieren, dagegen sei die den Ich-Botschafter attackierende These, sein Gefühl sei unangemessen, sehr viel schwieriger zu erhärten, insofern man bestimmte Gefühle eben habe oder nicht. Karsten Bredemeier (2007, 80 f.) argumentiert als Außenseiter, wenn er einwendet, hier werde „ein angenehmes Miteinander in der psychologischen Kuschelecke“ geschaffen, das von Schulz von Thun entwickelte, in vielen Unternehmen bereits als Standard akzeptierte Verfahren bevorzuge „weiche Ich-Botschaften, ist sanft-konfrontierend, ist beherrscht von Weichmachern und Relativierungen, schlimmstenfalls von emotionalen Bankrotterklärungen.“ Bredemeier plädiert anders als die überwältigende Mehrheit der Ratgeberautoren für harte Konfrontation, für klare Botschaften. Der Gefahr auf Dauer gestellter Vorwurf-Rechtfertigungs-Interaktionen glaubt er vorbeugen zu können, indem er auf definitive Macht-Wörter setzt. Dafür konstruiert er im Übrigen einen „Markennamen“, das „,Bredemeier-Feedback‘ zur Eskalationsbeendigung“ (Bredemeier 2007, 80). Indem von Thun mit der Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit einer Nichtkongruenz von intendierter und empfangener Botschaft rechnet, macht er eine Aktivität plausibel, für die sich der Titel des aktiven Zuhörens eingebürgert hat. Ursprünglich im Rahmen der humanistischen Psychologie (Carl Rogers) bzw. der klientenzentrierten Gesprächsführung (vgl. z. B. Tausch/Tausch 1990; Weinberger 1988) entwickelt, zielt dieser Ratschlag primär darauf, die innere Welt des Gesprächspartners zu explorieren. Dazu eignen sich z. B. Paraphrasen seiner Turns, Zusammenfassungen, Verbalisierungen des vermuteten Gefühlsinhalts, Bitten um Konkretisierungen. Nicht selten ist die Warnung, das aktive Zuhören als bloß instrumentell zu begreifen. „Papageienhaftes Nachsprechen ist nicht Paraphrasieren. Paraphrasieren ist Teil einer verstehenden, einfühlenden Haltung dem anderen gegenüber […].“ (von Kanitz 22007, 34; vor allem Gordon 2005, 67 ff.) Andererseits wird das aktive Zuhören, wie am Beispiel des Diskurstyps Verhandlung angedeutet, aber auch als zentrales Mittel strategischen bzw. erfolgsorientierten Handelns verstanden. Auf eher regionaler oder auch lokaler Ebene gilt auch das Fragen als Indikator aktiven Zuhörens; ihm wird aber als Steuerungsmittel eine eigenständige Rolle zugeschrieben: „Wer fragt, führt. Stellen Sie Fragen und Sie bestimmen die Richtung des Gesprächs, auch wenn Sie weniger Redeanteile haben“ (Wilhelm/Edmüller 2003, 129). Linguistisch betrachtet, lassen sich mindestens Entscheidungs- bzw. Ja/Nein-Fragen, Alternativfragen und Ergänzungsfragen bzw. ⫺ weiter gefasst ⫺ W-Fragen (Fragen nach allen Arten von Konstituenten) unterscheiden. In der Ratgeberliteratur dominiert die Distinktion von offenen und geschlossenen Fragen, die in etwa mit der von W-Fragen hier und Entscheidungs- und Alternativfragen dort identisch ist (s. z. B. Wilhelm/Edmüller 2003, 130 ff.; von Kanitz 2007, 44 ff.). Strategisch, so einige Ratgeber, kann man Fragen u. a. nutzen, um Zeit für die Planung des nächsten eigenen Turns zu gewinnen. Von Fall zu Fall sei es darüber hinaus im Interesse der Gesprächssteuerung angesagt, den sozusagen durch W-Fragen erschließbaren Raum der Möglichkeiten durch Alternativfragen drastisch einzuschränken (Hantschel/Krieger 2005, 163).
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Was die sprachliche Binnenstruktur des einzelnen Turns angeht, so wird häufig empfohlen, Unsicherheitswörter wie eigentlich, vielleicht, anscheinend, irgendwie, wahrscheinlich, einigermaßen zu vermeiden. Man möge vor allem in prägnanten Hauptsätzen sprechen, einfache Satzgefüge sparsam verwenden, von Anglizismen und Modewörtern Abstand halten und Fachsprache nur dann verwenden, wenn sie als bekannt vorausgesetzt werden kann. Vor Substantivhäufungen sollte man sich hüten und substantivische Ableitungen mit Hilfe von Morphemen wie -heit, -keit und -ung überhaupt nicht in Betracht ziehen. Favorisiert wird ein Verbalstil, wobei zusätzlich dafür plädiert wird, aktivische und indikativische Formen zu verwenden. Die Wahl dieser Formen zeigt, so die These, ein entschiedenes und lebendiges Auftreten an.
3. Ratgeber ür die Rede Einige Autoren beziehen sich im Bemühen um eine Typologie der Reden auf die überkommene Einteilung der primären Zwecke bzw. Intentionen Belehren/Informieren (docere), Motivieren (movere) und Unterhalten (delectare) (z. B. Flume 2003, 8; Kirchner/ Kirchner/Kirchner 2006, 22; Rettner 2001, 15). Für Reden des zweiten Typs kursieren auch Bezeichnungen wie Überzeugungs-, Handlungs- und sogar Begeisterungsreden, Reden des dritten Typs firmieren ebenfalls als Fest-, Gesellschafts- oder Gelegenheitsreden, Oberbegriffe z. B. für Reden aus Anlass von Jubiläen, Geburts- und Jahrestagen. Konstitutiv für die Textsorte ist, dass man nicht auf Spezifika des propositionalen Gehalts von Reden eingeht. Es wird vorausgesetzt, dass der Redner des Stoffs mächtig ist. Deshalb findet man kaum Ausführungen zu einer Findelehre bzw. zur Topik. Rettner (2001, 39 f.) weist in diesem Zusammenhang auf die antike Unterscheidung einer Topik der Personen von einer Topik der Sachen hin und darauf, dass Topoi keine Gedanken, sondern Suchschemata für Gedanken seien (vgl. auch Kirchner/Kirchner/Kirchner 2006, 173 ff.). Ab und an propagiert man darüber hinaus unabhängig von der Planung einer einzelnen Rede einen Habitus der ,Bildungsbeflissenheit‘: Man solle jederzeit gerüstet sein, möglicherweise verwertbare Informationen schriftlich festzuhalten, woher auch immer sie stammen (aus Gesprächen, Lektüren aller Art usw.). Dass die Ratgebertexte zugleich Werbemittel sind, mit denen man sich auf dem Markt der Rhetorikanbieter präsentiert bzw. in Position bringt, lässt sich u. a. daraus erschließen, wie einige auf Texte von Konkurrenten Bezug nehmen. Es dominieren negative Werturteile. Einige Beispiele: Die meisten Rhetoriktrainer „plappern einfach nach“, sie wüssten nicht, worauf es ankommt, setzten auf eine „Rhetorik aus einer vergangenen Zeit“, insofern sie z. B. nicht die Regel begriffen hätten „Ersetzen Sie jeden Fachbegriff durch einen bildhaften Ausdruck“ (Pöhm 2002, 11; 22; 24). Dass man einer solchen Regel gar nicht folgen kann, entgeht dem Kritiker. Das Gros der Trainer versuche, den Adepten „das normale Reden abzugewöhnen“ (Lauff 2003, 221). Das trifft nicht zu. In manchen Handbüchern zur Rhetorik finde man Sammlungen von Fremdwörtern, die man ⫺ so der Rat der Autoren ⫺ beliebig miteinander verknüpfen solle, um dem Publikum zu imponieren (Hantschel/Krieger 2005, 67). Auch diese Behauptung hält einer Überprüfung nicht stand. Anders zu bewerten sind Urteile wie die, der „Markt der Rhetorik“ werde „von manchen Scharlatanen und undurchsichtigen Bildungshändlern heimgesucht […]“, die rhetorische Rezepte verkündeten, obwohl die Rede doch „Ausdruck
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der Persönlichkeit“ sei (Kirchner/Kirchner/Kirchner 2006, 11). Dieses Diktum mutet zunächst ,unrhetorisch‘ an; auch wird die Kritik nicht exemplifiziert. Präziser formuliert Rettner, der auch Beispiele, allerdings keine Namen nennt: Oft werde der Status der rhetorischen „Lehrsätze“ verkannt; man verkünde „unumstößliche Regeln“ und ignoriere so den zentralen Status der Kategorie „Angemessenheit“: „Der variable Einsatz im Sinne einer angemessenen Verwendung der rhetorischen Mittel wird selten thematisiert, was zur Folge hat, dass dem Lernenden eine grundlegende Einsicht nicht vermittelt wird.“ (Rettner 2001, 21)
3.1. Zur Planung der Rede In der Regel empfiehlt man, nicht länger als zwanzig, maximal dreißig Minuten Redezeit vorzusehen, nehme das „Aufnahmevermögen“ ab dann doch stetig ab. In Kenntnis des Redetyps soll man zunächst „Redeziele“ bzw. „Zwecksätze“ formulieren: „Möchte ich ,nur‘ informieren? Möchte ich überzeugen? Möchte ich meine Zuhörer wachrütteln, sie dazu bringen zu handeln oder sich zu verändern?“ (Hantschel/Krieger 2005, 39). Eine Analyse der Zuhörer soll geleistet werden können auf der Basis von Fragen nach ihrem sozialen Status, ihrem Bildungsniveau im Allgemeinen und ihrem bereichsspezifischen Vorwissen, nach ihrem Alter, ihrem Geschlecht, ihren Einstellungen zum Thema und zum Referenten, aber auch danach, ob sie eher freiwillig oder aber gezwungenermaßen teilnehmen. Zu bedenken sei vor allem auch, welchen Nutzen sie aus der Rede ziehen könnten. Zuweilen wird in diesem Kontext wieder die Maslowsche Bedürfnispyramide bemüht (z. B. Palausch 2000, 132 f.). Hier wie auch sonst operiert man im Übrigen gern mit Akronymen. Bei Goldmann (2004, 61) heißt es z. B. „EMMA beachten ⫺ Erwartungen, Meinungen, Motivationen und Anwesenheitsmotive der Teilnehmer“. Welche Konsequenzen sich aus der Zuhöreranalyse für die Gestaltung der Rede ergeben, wird allerdings selten im Einzelnen expliziert. Ist ⫺ erstes Beispiel ⫺ damit zu rechnen, dass das Publikum die Position des Redners teilt, erübrigt sich eine ausführliche Widerlegung des Contra-Standpunkts. Auch vom Bildungsniveau und vom bereichsspezifischen Vorwissen der Zuhörer ⫺ zweites Beispiel ⫺ mag abhängen, in welchem Umfang Fach- und Fremdwörter gebraucht werden können. Für die Disposition der Rede sieht man durchgängig die vom Schulaufsatz her vertraute Trias von Einleitung, Hauptteil und Schluss vor. Der Einleitung werden traditionell die drei Funktionen zugeschrieben, in thematischer Hinsicht Aufmerksamkeit, zuhörerbezogen Empfänglichkeit und rednerbezogen Wohlwollen zu erzeugen. Diese Attribuierungen finden sich auch in den meisten Ratgebern, wobei insbesondere davor gewarnt wird, Wohlwollen durch unangemessene Selbstabwertung („nach meiner unmaßgeblichen Meinung“) erreichen zu wollen. Als Einstiege seien vor allem geeignet aktuelle Bezüge, Anekdoten, Anschauungsobjekte, Fragen, historische Ereignisse, persönliche Erlebnisse, Witze, Zitate. Im Hauptteil steht die Argumentation im Zentrum. Häufig wird darauf hingewiesen, dass man angesichts der Gedächtnisspanne der Zuhörer nur relativ wenige Argumente präsentieren solle. Zu beginnen sei mit einem starken Argument, dem schwächere folgen sollten. Das stärkste bzw. schlagkräftigste stehe an finaler Stelle und bleibe damit auch am ehesten haften. Kriterien für die Stärke von Argumenten, die ja nicht bereichsspezifisch, d. h. material, sondern ,formaler‘ Art sein müssten, werden fast nie vorgestellt
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(vgl. aber Edmüller/Wilhelm 2005). Häufig finden sich Hinweise auf ein dreischrittiges „argumentatives Minimum“, bestehend aus einem behauptenden Obersatz, einem „Beweisgrund“ und einem Beispiel (z. B. Kirchner/Kirchner/Kirchner 2006, 165). Elaborierter ist ein Minimum in Form von „Aussage ⫺ Begründung ⫺ sachlich-faktischer Beweis für die Begründung ⫺ emotional-anschauliches Beispiel zur Begründung ⫺ Schlussfolgerung“ (Flume 2003, 71). Zuweilen unterscheidet man absolute (z. B. das spezifische Gewicht von Gold) von relativen Beweisen (die Wertigkeit von Gold für einen Einzelnen), man weist auf die argumentative Rolle von Beispielen und Vergleichen hin und betont die Bedeutung von Zahlen, Daten, Fakten. Die Binnengliederung des Hauptteils wird öfter in Formeln erfasst. So lautet z. B. die Standpunktformel 1. Standpunkt, 2. Begründung, 3. Beispiele, 4. Schlussfolgerung, 5. Aufforderung, wobei der fünfte Schritt bereits Teil des Schlusses ist, in dem darüber hinaus das Wesentliche zusammenzufassen ist. Weitere Strukturen werden bezeichnet u. a. als a): programmatisch 1. Schilderung der Ausgangssituation, 2. Darlegung der Zielsetzung, 3. Beschreibung der Wege zum Ziel; b): analytisch 1. Schilderung von Tatsachen, 2. Darlegung von Ursachen, 3. Schlussfolgerungen; c): proleptisch 1. Formulierung von Gemeinsamkeiten mit Opponenten, 2. Schilderung der Problematik, 3. (kürzere) Nennung und Entkräftung von Gegenargumenten, 4. (ausführlichere) Darlegung der eigenen Argumentation. Manchmal wird für die Disposition auch die Drei-Zeiten-Formel Gestern-Heute-Morgen bemüht. Einige Ratgeberautoren kritisieren den Usus, sich als Redner am Ende, nachdem man kurz zusammengefasst und gegebenenfalls appelliert hat, für die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu bedanken. Hier sei nämlich die Verteilung der Obligationen gründlich missverstanden. „Wer gibt, sagt ,Bitte‘, wer nimmt, sagt ,Danke‘. Als Redner haben Sie dem Publikum etwas zu geben. Da wäre es doch eine verkehrte Welt, wenn Sie ,Danke‘ sagen würden.“ (Palausch 2000, 70) Umstritten ist, ob überhaupt ein detailliertes Redemanuskript ausgearbeitet werden bzw. welche Rolle es im Planungsprozess spielen sollte. Die meisten Autoren sind der Auffassung, dass Stichwortkarten genügen, wobei man sich sogar auf Formate ⫺ DIN A6 oder A5 ⫺ festlegt. Es soll sich im Wesentlichen um eine Serie von (Haupt- und Neben-)Stichwörtern handeln, ergänzt z. B. um Einleitungsund Schlusssätze, Zitate und Pausenzeichen. Wer dagegen von einem Manuskript ablese, könne womöglich nicht hinreichend Blickkontakt halten, die Gestik sei eingeschränkt. Hinzu komme, dass ja Sprechsprache geschrieben werden müsse, was vielen nicht leicht falle. Hier wird also abgehoben auf die Differenz von medialer und konzeptueller Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Obwohl medial mündlich, läuft ⫺ so die Warnung ⫺ ein Manuskriptredner Gefahr, konzeptuell schriftlich und damit hölzern, steif, unflexibel zu formulieren. Voten für die Rede auf der Basis eines ausformulierten Manuskripts sind eher selten. Es wird dann argumentiert, nur der schriftlich fixierte Text gewähre hinreichende Sicherheit und stilistische Elaboriertheit (z. B. in Form von Tropen und Figuren). Außerdem sei man nicht in der Gefahr, abzuschweifen und damit die Redezeit zu überschreiten (Lauff 2003, 31 ff.). Dem immer wieder vorgetragenen Einwand, das Ablesen sei dem Blickkontakt zum Publikum abträglich, begegnet z. B. Lauff (2003, 182 f.) mit der Empfehlung, das Manuskript mit ausgestreckter Hand vor sich zu halten, so dass nur ein „Kopfsenkwinkel von vielleicht fünf Grad“ resultiere. „In diesem Fall entsteht aus Sicht eines Zuhörers also gar kein großer Unterschied zwischen ,er schaut mich an‘ und ,er liest in seinem Manuskript‘“ (vgl. auch Palausch 2000, 145).
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XIII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung II: didaktische Aspekte Dritte wiederum halten dafür, dass man zunächst ein Manuskript formulieren und dann nach Maßgabe der jeweiligen Situation entscheiden solle, ob man es auswendig vortrage, vorlese oder zu einer Reihe von Stichwortkarten kondensiere (z. B. Rettner 2002, 73). In jedem Fall solle man auf die epistemische Funktion des Schreibens setzen, also darauf, dass im Laufe des Schreibprozesses neue Erkenntnisse generiert werden könnten.
3.2. Sprachliche Merkmale Was Aspekte der Syntax angeht, so plädieren fast alle Ratgeberautoren für eher kurze Sätze, wobei man manchmal sogar eine maximale Anzahl von Wörtern nennt. Es soll sich um Hauptsätze handeln; Satzgefüge mit höchstens einem Nebensatz sind, so der Ratschlag, allenfalls sparsam zu verwenden. Lange Konstruktionen gelten als Satzungetüme oder Bandwurmsätze, Mehrfacheinbettung erscheint als Übel, es resultierten nämlich schwer verständliche Schachtelsätze. Zuweilen beruft man sich explizit auf Basil Bernsteins Code-Theorie: Wer vor heterogenem Publikum zu sprechen habe, solle den restringierten Code wählen, weil so auch die weniger gebildete Teilgruppe erreicht werden könne. Das Lob der Parataxe und die Kritik am hypotaktischen Sprachgebrauch rechtfertigen einige auch gleichsam tiefenpsychologisch. Wer primär hypotaktisch spreche, erscheine als „Selbstdarsteller“, befriedige ein „Sicherheitsbedürfnis“ und habe „Angst vor Profilverlust“ (Kirchner/Kirchner/Kirchner 2006, 156). Selten ist der Einwand, das unbedingte Lob des kurzen Hauptsatzes und das Generalverdikt gegen komplexe Satzgefüge sei mit der alten rhetorischen Tugend der Angemessenheit nicht zu vereinbaren, u. a. deshalb nicht, weil es eben auch komplexe Gedanken gebe (Rettner 2001, 77). Man wendet sich gegen den Gebrauch von Konjunktiven im Allgemeinen, speziell auch gegen den des Konditionalis wie bei „Ich würde sagen, dass …“. Passivformen sollen vermieden werden, wobei auch hier immer wieder psychologisiert wird. Wer passiv formuliere, demonstriere mangelndes Selbstbewusstsein; wer sich dagegen in der ersten Person Singular bzw. Plural aktivisch artikuliere, „produziert persönliche Botschaften mit Täterprofil“ (Bredemeier 2007, 44). Wenn möglich, möge man Substantive und Substantivierungen zugunsten eines Verbalstils vermeiden, denn „Tatmenschen verwenden Tätigkeitswörter!“ (Kratz 2006, 126) Dass solche Thesen linguistisch nicht haltbar sind, liegt auf der Hand. Dass es pragmatisch angemessen sein kann, im Passiv zu formulieren, z. B. deshalb, weil man einen Täter verschweigen will, dass nicht alle Verben Tätigkeitswörter sind usw.: Solche Differenzierungen sucht man vergeblich. In lexikalischer Hinsicht wird in der Regel die Nutzung von Modewörtern wie echt und von Füllwörtern, Abschwächern bzw. Weichmachern wie eigentlich, irgendwie, in etwa attackiert, manche wenden sich generell gegen den Fremdwortgebrauch, andere halten dafür, dass er je nach Zuhöreranalyse variabel ausfallen sollte. Das unpersönliche man soll zugunsten des Anredepronomens Sie vermieden werden. Es liegt auf der Hand, dass nur die Autoren, die eine auf ein ausformuliertes Manuskript gestützte Rede zulassen, den geplanten Gebrauch von rhetorischen Tropen und Figuren vorsehen können. So empfiehlt Rettner (2001, 82 ff.) als Tropen Synonym, Litotes, Metapher, Metonymie und Synekdoche, als Wortfiguren Geminatio, Anapher, Epipher, Paronomasie, Homonymie und Zeugma, als Satzfiguren Personenevokation, Iro-
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nie, Frage, Ausruf, scheinbaren Zweifel und Redeabbruch (vgl. auch Hantschel/Krieger 2005, 74 ff.). Kirchner/Kirchner/Kirchner (2006, 197 ff.) führen unter dem Titel Literarische Rhetorik eine umfangreiche Liste rednerischen „Schmucks“ vor, der eingesetzt werden sollte, insofern sich der Redner auch als Autor begreife.
3.3. Körperliche Beredsamkeit Ratschläge zu Aspekten körpersprachlichen Agierens beziehen sich vor allem auf die Körperhaltung und -bewegung, die Gestik, die Mimik, insbesondere das Blickverhalten, auf die Atmung, die Stimme und die Kleidung. Was die Körperhaltung im Allgemeinen betrifft, so sind quasi ,geometrische‘ Anweisungen wie die, die Absätze der Schuhe sollten etwa 10 cm voneinander entfernt sein und die Fußspitzen hätten einen Winkel von 60 bis 70 Grad zu bilden (Kratz 2006, 76), eher selten. Die historisch-kulturelle Situiertheit von Normierungsbestrebungen im Hinblick auf die Gestik expliziert die Dudenredaktion (2005, 15) besonders markant: „Da man sich heute als Redner meist leger gibt, ist es keine Frage des Anstands mehr, ob man die Hand in die Hosentasche stecken darf oder nicht. Man darf. Man sollte seine Hände aber genauso wenig darin vergraben wie hinter dem Rücken verschränkt halten, sonst nimmt man sich die Möglichkeit, sie zum Reden zu benutzen.“ Die Mehrheit der Ratgeberautoren teilt dieses ,liberale‘ Votum aber nicht. Die Empfehlung geht dahin, Gesten nur im Bereich zwischen Hüften und Schultern zu produzieren (z. B. Hartmann/Funk/ Nietmann 72003, 130; Kratz 2006, 78; Palausch 2000, 79). Unterhalb der Gürtellinie oder hinter dem Rücken, in Hosen- und Jackentaschen hätten Hände nichts zu suchen, sie seien aber auch fehlplatziert, wenn man sie vor der Brust verschränke. Das könne nämlich als Distanzsignal gedeutet werden. Nun mögen diese verpönten Handhaltungen und -bewegungen durchaus natürliches Ausdrucksverhalten sein. Die meisten Ratgeberautoren glauben aber, dass gerade ihre Verbote als Plädoyer für Natürlichkeit zu verstehen sind. Um ein solches Plädoyer handelt es sich allenfalls, wenn man sich ⫺ wie die große Mehrheit ⫺ gegen das Einstudieren neuer Gesten wendet. Besonders prägnant, wenn auch zum Teil Ursache und Wirkung verwechselnd, hat Kratz (2006, 79 f.) eine Reihe von Wirkungshypothesen formuliert: „Würden Sie sich besonders wirkungsvolle Gesten ,einpauken‘, so würden die Zuhörer diese Körpersignale als unecht […] ablehnen. Da Sie als Redner keine positive Wirkung erzielen würden, brächte man Ihnen kein Vertrauen entgegen. Die Folge: Ihre inhaltlichen Aussagen würden mit Skepsis betrachtet.“ Anders verhält es sich, wenn man gestisches Repertorie nutzt, das man in anderem Kontext natürlich produziert. So postuliert Flume (2003, 67), man finde die angemessene „Gestik durch Selbstbeobachtung in engagierten Gesprächen. Achten Sie einmal darauf, welche Gesten Sie in solchen Situationen einsetzen und verwenden Sie diese Gesten sowohl bei den Übungen als auch bei realen Auftritten.“ Mimisches Ausdrucksverhalten erscheint fast durchgängig als natürlich, d. h. als nicht bewusst beeinflussbar. Eine Minderheit ist aber der Meinung, man könne „auch den Gesichtsausdruck, insbesondere was Stirn- und Mundpartie angeht, ,bewusst‘ sprechen lassen.“ (Duden 2005, 15) Insbesondere übertreibende Modifikationen des mimischen
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und auch gestischen Ausdrucks ließen sich vor dem Spiegel so erfolgreich üben, dass die Körpersprache während des Vortrags auch noch von entfernt Sitzenden wahrzunehmen sei (z. B. Rettner 2001, 112 f.). Im Hinblick auf das Blickverhalten empfehlen einige, bei großem Publikum streuend zu verfahren und für wenige Sekunden beim jeweils Angeschauten zu verweilen. Die Atmung kommt in der Regel zur Sprache, wenn es um das sogenannte Lampenfieber geht. Eine ⫺ allerdings nicht zu hohe ⫺ Dosis stellt man durchgängig als förderlich dar. „Wer kein Lampenfieber mehr verspürt, wird schlecht und muss von den Brettern, die die Welt bedeuten, abtreten“ (Palausch 2000, 177). Lampenfieber halte wach und schärfe die Konzentrationsfähigkeit ⫺ notwendige Bedingungen, um zur rhetorischen Höchstleistung zu finden. Zuweilen wird man sogar recht detailliert über die einschlägigen biochemischen Prozesse informiert (z. B. Kratz 2006, 11 ff.). Soll eine übergroße „Spannung“ so reduziert werden, dass der verbleibende Rest in „Energie, Dynamik und Begeisterung“ umgesetzt werden kann (Kratz 2006, 15), dann empfehlen sich vor allem bewusste Tiefatmung, zuweilen noch differenziert nach Zwerchfell- und Flankenatmung (vgl. Palausch 2000, 182), und Methoden positiver Autosuggestion: Man soll sich bewusst machen, dass man hier vor Ort der am besten ausgewiesene Experte ist. Hinweise zu einem Training der Stimme sind eher selten. Man soll lernen, den „Eigenton“ bzw. den Normalton zu finden, was insbesondere allen empfohlen wird, die dazu neigen, zu „hoch“ zu sprechen und damit „anstrengend und nervig“ zu wirken (Flume 2003, 41). Darüber hinaus werden Übungen zur Variation der Lautstärke empfohlen. Insbesondere bei Redenovizen sei die Sprechgeschwindigkeit in der Regel zu hoch; in diesem Kontext gibt man Ratschläge zur Pausentechnik. Die Antwort auf die Frage, wie man sich als Redner kleiden soll, findet man wie schon beim Gespräch unter dem Titel der Angemessenheit. Man möge weder allzu overdressed noch allzu underdressed auftreten, allenfalls ein wenig vornehmer als die Zuhörerschaft.
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Albert Bremerich-Vos, Duisburg⫺Essen (Deutschland)
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XIII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung II: didaktische Aspekte
140. Praxisbezogene Stillehren 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Eingrenzung des Gegenstandes: Was sind Stillehren? Stillehren als Subsorte der Sprachratgeber Forschungslage Autoren Leser Zielsetzungen Exemplarische Analysen Die stilistische Tradition Sind Stillehren deskriptiv oder präskriptiv? Literatur (in Auswahl)
Abstract Style guides (‘Stillehren’) train their reader’s written stylistic competence. They belong to a wide range of guide books that deal with language or communication problems for native speakers. There is a long tradition of German style guides which goes back to the 18th century. Their predecessors were books about applied rhetoric and letter writing. This article provides information on the state-of-the art research, authors, readers, and aims of style guides and analyzes four style guides available on the book market: Ulrich Püschel, Ludwig Reiners, Willy Sanders, and Wolf Schneider. The analysis focuses on the structure, ‘style idols’, principles of style, rules and their didactic mediation. Today, the reader can choose from normative style guides written by authors with a practical background and style guides written by linguists. The former follow a certain stylistic tradition starting with Eduard Engel in the early 20th century and seem to be preferred by the general reader. Finally, a bibliography of German style guides dating from 1740⫺2004 is attached for further research.
1.
Eingrenzung des Gegenstandes: Was sind Stillehren?
1.1. Deinition Didaktisierte Bücher, die stilistische Formen vermitteln und einüben, werden (in Übereinstimmung mit Sowinski 1999, 6) Stillehren (mit dem verdeutlichenden Zusatz praxisbezogen bzw. praktisch) genannt und von wissenschaftlichen Abhandlungen zum Phänomen Stil (z. B. Stilforschung, Stiltheorie oder Stilanalyse) abgegrenzt. Für diese wissenschaftliche Disziplin bleibt der Terminus Stilistik reserviert. In der Forschung werden für die praktischen Stillehren unterschiedliche Bezeichnungen verwendet (z. B. Stilistik, Stilbücher, normative/praktische Stilistik, Stilkunde); teilweise werden sie terminologisch überhaupt nicht unterschieden. So wird bei Linn (1963, 15) etwa im allgemeinen der Ausdruck Stilistik für die Wissenschaft und die Lehrbücher vom Stil verwendet. Zum Begriffschaos tragen außerdem die unterschiedlichen Selbstbezeichnungen in den Titeln
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der praktischen Stillehren bei: Stilkunde, Stillehre, Stilratgeber, Stilkunst, Stilfibel (auch in jüngeren Titeln verwendet), Stilistik usw. (vgl. Literaturverzeichnis). Die Anfänge der deutschen Stilistik liegen im 18. Jh. Die wahrscheinlich erste eigenständige (deutschsprachige) Abhandlung zum deutschen Stil erschien 1720 in Hannover: A. N. Hübners Gründliche Anweisung zum Deutschen STILO (Schmidt-Wächter 2004, 149). Bedeutender war aber Adelungs Buch Über den Deutschen Styl aus dem Jahre 1785. Es fand eine breite Rezeption und war die Grundlage für andere Arbeiten zum deutschen Stil (Linn 1963, 73). Vor allem für die Bücher, die vor der Etablierung der Sprachwissenschaft als eigenständige Wissenschaft erschienen sind, ist es nicht einfach zu entscheiden, ob sie den Stillehren oder der Stilistik (Stiltheorie und -forschung) zuzuordnen sind. Das macht etwa das Kapitel von Linn (1964, 72 ff.) zur Stellung der Stilistik in der deutschen Sprachlehre und Sprachwissenschaft des 19. Jhs. deutlich. Bis heute gibt es keine einheitliche Definition von Stil und so ist es nicht verwunderlich, wenn sich auch die Stilauffassungen in den Stillehren teilweise stark unterscheiden. Schmidt-Wächter (2004, 156) etwa stellt fest, dass sich in den Stillehren des 18. Jhs. „ein vielgestaltiges und durch Überschneidungen gekennzeichnetes Bild“ der Stilauffassungen ergibt.
1.2. Abgrenzung Populärrhetoriken Stillehren Stil ist ursprünglich als eine der fünf Bearbeitungsphasen der Rhetorik zu verstehen: Die elocutio ist die Theorie des rednerischen Ausdrucks und hat die Aufgabe, die in der inventio hervorgebrachten und in der dispositio geordneten Gedanken zu versprachlichen. Im Laufe des 19. Jh. scheidet die elocutio aus dem Aufgabenbereich der Rhetorik aus: „Die Stilistik löst sich aus dem Bereich der Rhetorik, deren Untergebiet sie zunächst ist, und nimmt eine selbständige Stellung ein. Sie steht anfangs neben der Rhetorik, später überragt ihre Bedeutung diejenige der Rhetorik bei weitem“ (Linn 1963, 68 f.). Ab dem späten 19. Jh. steigt die Anzahl der Bücher, die sich ausschließlich mit dem (guten) Stil (auch Schreibart) beschäftigen, deutlich an (vgl. Literaturverzeichnis). Gerade aus dem Selbstverständnis der neueren Stillehren heraus ergibt sich, dass sich Stillehren in Abgrenzung zu Populärrhetoriken auf den schriftlichen Sprachgebrauch beziehen. „Ihrem eigenen Anspruch nach leisten sie also einen Beitrag zur schriftlichen Textproduktion“ (Püschel 1991, 55).
1.3. Abgrenzung Briesteller Stillehren Briefsteller sind Anweisungen zum Briefschreiben und enthalten in den meisten Fällen Kapitel zum guten Stil (in Briefen). Da die Briefsteller auf eine längere Tradition als die Stillehren zurückgehen, kann man in Übereinstimmung mit Wolff (1996, 395) davon ausgehen, dass diese Kapitel als „eine Hauptsäule der praktischen Stilistik anzusehen“ sind. Insgesamt sind Briefsteller aber vor allem durch ein Merkmal von den Stillehren abzugrenzen: Briefsteller sind eine textsortengebundene Variante der meist allgemeiner ausgerichteten Stillehren. Außerdem finden sich in den Briefstellern zusätzlich inhaltliche
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Schwerpunkte (Regeln zur Orthographie, Fragen der äußeren Form und Schriftgestaltung u. a.), die in Stillehren nicht vorkommen müssen (vgl. auch Schmidt-Wächter 2004, 120).
1.4. Abgrenzung Schreiblehren Stillehren Schreiblehren wie Poetiklehrbücher (als historische Buchsorte) oder Bücher zum kreativen Schreiben überschneiden sich inhaltlich ebenfalls mit den Stillehren. Man kann sie aber nach demselben Kriterium wie die Briefsteller von ihnen abgrenzen: Auch hierbei handelt es sich um textsortengebundene Varianten, die mehr umfassen als Ratschläge zum guten Stil. Bücher zum kreativen Schreiben etwa beschäftigen sich auch noch mit Ideenfindung, Charaktere, Erzählperspektive oder Komposition. Stillehren, die ausschließlich Ratschläge zum Stil literarischer Texte geben, sind eher selten (z. B. Christiansen 1918). Es gibt verschiedene Bücher, die als Sonderfälle zu den Stillehren gerechnet werden können. Das sind beispielsweise Sammlungen von Stilblüten (z. B. Judenmann 1959) oder Antibarbari (z. B. Gleiss 1976), die falsche und schlechte Beispiele in sprachkritischer Manier auflisten. Sonderfälle sind sie deshalb, weil sie kaum didaktisiert sind und der Unterhaltungswert des Buchs im Vordergrund steht. Als Definition für Stillehre kann nun Folgendes gelten: Stillehren sind Bücher, die (ausschließlich) stilistische Formen für schriftliche Prosatexte (vor allem Sachtexte) vermitteln und einüben.
2. Stillehren als Subsorte der Sprachratgeber Stillehren sind wie die Briefsteller, Populärrhetoriken oder Schreiblehren den Sprachratgebern zuzuordnen. Ein Sprachratgeber ist eine bestimmte Textsorte oder besser „Buchsorte“ (vgl. Greule 1997, 239), deren oberstes Kriterium folgendes ist: „[…] das Buch gibt Ratschläge bzw. leitet zum Gebrauch der Muttersprache an“ (Greule 1997, 245). Ein Sprachratgeber zeichnet sich sprachlich durch „laienlinguistische Anweisung(en)“ (Greule 2000, 318) aus und kann auch als metasprachlicher Textproduktionstext bezeichnet werden. Man kann diese Bücher einteilen in Ratgeber zur Sprachproduktion oder -rezeption, die weiter nach dem Kriterium unterschieden werden können, ob der Text zum schriftlichen oder mündlichen Sprachgebrauch anleitet. Sprachratgeber zur Sprachrezeption (z. B. Vermittlung von Lesetechniken) sind zwar selten, aber auch heute noch auf dem Buchmarkt erhältlich. Zum schriftlichen Sprachgebrauch leiten vor allem Gebrauchsgrammatiken, Stillehren oder Schreiblehren an, zum mündlichen Sprachgebrauch Populärrhetoriken oder Konversationsbücher. Es gibt auch Sprachratgeber, die sich nicht eindeutig einer Subsorte zuordnen lassen, da sie sich z. B. sowohl auf die Sprech- als auch auf die Schreibsprache beziehen und mehrere Subsorten in sich vereinen. Solche Bücher können unter dem Terminus Allgemeine Sprachratgeber zusammengefasst werden. Weitere Klassifizierungen können durch die Bestimmung der Kommunikationssituation vorgenommen werden (z. B. Anstandsbücher oder Komplimentierbücher), oder
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durch die Unterscheidung, ob der Sprachratgeber zum elementaren (z. B. Leselehren), richtigen (z. B. Gebrauchsgrammatiken) oder guten (z. B. Stillehren) Sprachgebrauch anleitet. Außerdem können sprachebenespezifische (z. B. Orthographielehren), textsortenspezifische (z. B. Briefsteller), geschlechts- oder altersspezifische (z. B. Populärrhetoriken für Frauen), schicht- oder berufsspezifische (z. B. Populärrhetoriken für Manager) sowie vereinzelt regionenspezifische (z. B. Sonnenfels 1784) Ratgeber unterschieden werden. Außerdem sind zwei weitere Kriterien für eine Charakterisierung der Subsorten ausschlaggebend: die Intensität der Thematisierung von Sprache und die Intensität des Anweisungscharakters. Hier sind verschiedene Kombinationen möglich. Die Othographielehre behandelt ausschließlich sprachliche Themen, hat (heute) aber einen geringen Anweisungscharakter. Im Vergleich dazu beinhalten Anstandsbücher nur wenige Kapitel zur Sprache, weisen den Leser aber stark zu bestimmten Handlungen an. Stillehren haben eine hohe Intensität bei beiden Kriterien. Je nach Fokus und Autor sind unterschiedliche Gewichtungen innerhalb derselben Subsorte möglich. Im Zusammenhang mit der Thematisierung von Sprache ist es sinnvoll von Kern- oder Randbereichen der Sprachratgeber zu sprechen. Für Sprachratgeber im weiteren Sinne ist der Terminus Kommunikationsratgeber treffender, da in diesen Büchern die Ausführungen zu nicht-sprachlichen Aspekten der Kommunikation (z. B. Körpersprache, Lampenfieber) überwiegen. Sprachratgeber ⫺ und damit auch die Stillehren ⫺ sind als Teil der von Antos (1996) thematisierten „Laien-Linguistik“ zu verstehen. Er bezeichnet die Stillehren sogar „als Prototypen der laien-linguistischen Literatur“ (Antos 1995, 375). „,Laien-Linguistik‘ ist eine an die breite Öffentlichkeit gerichtete praxisorientierte Sprach- und Kommunikationslehre zur Lösung muttersprachlicher Probleme. Sie ist eine für und bisweilen auch von (gebildeten) Laien betriebene handlungsorientierte Thematisierung des Gebrauchs von Sprache in Kommunikation in Form von bestimmten Publikationen und Lehrangeboten (,Seminare‘, ,Trainings‘)“ (Antos 1996, 13). Den Grund für die große Nachfrage an Sprachratgebern und Kommunikationstrainings sieht Antos (1995, 357) in einer sich sprachlich ausdifferenzierenden Gesellschaft, wodurch beim Einzelnen „das ⫺ privat wie beruflich stimulierte ⫺ Bedürfnis nach Wissen, Beratung und Qualifikation, aber auch Unterhaltung im Bereich der muttersprachlichen Kommunikation [wächst].“
3. Forschungslage Sprachwissenschaftliche Arbeiten, die sich mit Stillehren auseinandersetzen, fallen im Vergleich zu stiltheoretischen Arbeiten kaum ins Gewicht. Zwei umfangreichere Monographien zur deutschen Rhetorik und Stilistik im 17./18. (Schmidt-Wächter 2004) und 19. Jh. (Linn 1963) liegen vor und einzelne Stillehren des 20. Jhs. wurden z. B. von Förster (1980), Nickisch (1975) oder Sanders (1988) kritisch bewertet. Stil als Kategorie in anderen Sprachratgebern wie Briefstellern wurde bereits ausführlicher untersucht (z. B. Nickisch 1969). Anhand von Stillehren kann z. B. der Wandel des Stilbegriffs nachgezeichnet (vgl. Linn 1963), kommunikative Wirklichkeit rekonstruiert (vgl. SchmidtWächter 2004) oder Normenwandel (z. B. Stilprinzipien) beschrieben werden (vgl. Asmuth 1991). Law (2007) geht der interessanten Fragestellung nach, ob die unterschiedlichen politischen Systeme und Ideologien in Deutschland zwischen 1923 und 1967 die Sprach- und Stilauffassung in den Sprachratgebern und Stillehren beeinflusst haben. Forschungsbedarf besteht vor allem hinsichtlich der tatsächlichen Leser der Stillehren und
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ihrer Rezeption. Auch der Frage, „ob und was wir von der praktischen Stilistik für die Textproduktion, für die Theorie und Praxis des Schreibens lernen können“ (Püschel 1991, 56) sollte nachgegangen werden. Besonders die Stillehren des 20. und 21. Jhs. wurden kaum beachtet; die meisten Untersuchungen beschränkten sich auf die ,großen‘ Stillehren (von Eduard Engel und Ludwig Reiners etwa). Es sollten aber auch die auflagenschwächeren, nicht kanonisierten Bücher einbezogen werden.
4. Autoren In der Untersuchung zu Rede- und Stillehrbüchern des 17. und 18. Jhs. kommt SchmidtWächter (2004, 72) auf ein relativ einheitliches Bild der Produzenten dieser Bücher: „Alle Autoren verfügen über eine akademische Ausbildung. Unter den Studienfächern dominieren die Philosophie und Theologie“. Während sich in der Anfangsphase der Stillehren die Autoren von Stillehren ausschließlich aus dem gelehrten Bürgertum rekrutieren und zum überwiegenden Teil eine Lehrtätigkeit ausüben, ergibt sich für das 20. Jh. bis heute ein anderes Bild. Die Herkunft der Autoren ist gemischt: Die einen haben einen mehr akademischen Hintergrund, die anderen einen mehr beruflich-praktischen. Eduard Engel, der mit seiner Deutschen Stilkunst (Erstauflage 1911) als erster „Stilpapst“ (Püschel 1991, 56) eine breite Öffentlichkeit erreichte, war promovierter Altphilologe. Ludwig Reiners, dessen Stilfibel (Erstauflage 1951) noch heute ein Klassiker unter den Stillehren ist, war Industriekaufmann, Broder Christiansen war Philosoph und Schriftsteller, Wolf Schneider, ein weiterer ,Stilpapst‘, der seit den 80er Jahren des 20. Jhs. immer wieder neue Stillehren veröffentlicht, ist Journalist. Von den derzeit auf dem Markt befindlichen, zahlreichen Stillehren wurden nur wenige von Sprachwissenschaftlern verfasst, z. B. Gutes Deutsch ⫺ besseres Deutsch (Erstauflage 1986) und Gutes Deutsch. Stil nach allen Regeln der Kunst (2002) von Willy Sanders, außerdem Wie schreibt man gutes Deutsch? (2000) von Ulrich Püschel.
5. Leser Obwohl Sanders (1992, 31) betont: „Die praktische Stillehre des Deutschen oder irgendeiner anderen Sprache kann es gar nicht geben, sondern immer nur sich an bestimmte Leserkreise richtende und damit unterschiedlich akzentuierte, in ihrer Konzeption oft sehr verschiedenartige Stillehren (im Plural)“, lassen sich die Stillehren ⫺ aus Sicht der vom Autor intendierten Leser ⫺ dennoch in allgemeine, d. h. eben nicht nach Leserkreisen definierte, und adressatenspezifische bzw. fachsprachliche Stillehren einteilen. Hinweise über den intendierten Leser kann man in Titeln, Widmungen, Vorworten, Einleitungen oder Klappentexten finden. Für das 17. und 18. Jh. sind vor allem Schüler des Gymnasiums und Studenten als Adressanten angesprochen. Außerdem ein sonstiger, d. h. über Schule und Universität hinausgehender Adressatenkreis. Darunter fallen z. B. „Liebhaber der Teutschen Oratorie und Briefstellung“ oder „angehende Lehrer […] und lernbegierige […] Zuhörer […]“ (Schmidt-Wächter 2004, 76). Wenn man bedenkt, dass der Kreis derjenigen, die im 18. Jh. lesen konnten, recht klein war, ist es nicht verwunder-
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lich, dass nur Gelehrte Verfasser solcher Ratgeber sein konnten und zudem der Adressatenkreis begrenzt war. Unter den jüngeren Stillehren findet man kaum adressantenspezifische Bücher. Die Formulierungen sind meistens so allgemein wie Besser Schreiben. Eine Stilkunde für jedermann (Hirte 1967), „für alle, die mit Sprache zu tun haben“ (Schneider 2001, Klappentext) oder „für alle, die aus beruflichen und privaten Gründen viel schreiben“ (Püschel 2000, Klappentext). Wenn sich der Ratgeber an einen spezifischen Adressantenkreis wendet, dann wird dies dennoch selten im Titel expliziert; Broder Christiansen spricht mit seiner Prosaschule angehende Schriftsteller an und die Stillehre von Wolf Schneider Deutsch für Profis hatte zunächst den angestrebten Adressatenkreis im Untertitel Handbuch der Journalistensprache ⫺ wie sie ist und wie sie sein könnte vermerkt, in späteren Auflagen wird dieser jedoch in Ein Handbuch für alle, die schreiben bzw. Wege zum guten Stil umgewandelt. Anscheinend soll sich aus verkaufstaktischen Gründen ein breites Publikum angesprochen fühlen. Als einziger adressanten- bzw. bereichsspezifischer Typus mit Tradition ⫺ es gibt ihn seit dem späten 18. Jh. (vgl. Sonnenfels 1784 und Kuppermann 1789) ⫺ ist bis heute die Stillehre für das so genannte Amtsdeutsch erhalten, in der eine bürgernahe Sprache vorgeschlagen wird. Ein neuerer jüngerer Titel lautet Flotte Schreiben vom Amt. Eine Stilfibel (Berger 2004). Selten finden sich andere adressatenspezifische Stillehren. Historische Beispiele sind Sprache und Stil des Kaufmanns (Hauschild 1927) oder Lehrbuch der deutschen Schreibart für die reifere Jugend (Snell 1818); unter den aktuellen Stillehren befinden sich eine Kleine Stilkunde für Juristen (Walter 2002).
6. Zielsetzungen Stillehren gehören zu den Instruktionstexten, die im Anschluss an Möhn (1991, 185) die Textfunktionen informativ und appellativ aufweisen. Sanders (2002) formuliert seine Ziele im Klappentext: „Wichtigstes Ziel ist es, das persönliche Stilgefühl zu sensibilisieren und Leserinnen und Leser zu gutem Stil anzuleiten.“ Püschel (2000) legt die Zielsetzungen indirekt einer Figur im einleitenden Zuggespräch in den Mund: „Für mich hat dann ein Ratgeber sein Ziel erreicht, wenn er uns Tipps und Hinweise gibt, im Einzelfall auch alternative Vorschläge macht, Vor- und Nachteile von Formulierungen abwägt, uns auf kommunikative Klippen aufmerksam macht.“ Reiners (1990, 5) führt an, dass er drei Ziele verfolgt: Der Leser soll einen besseren Stil schreiben, sein Denken verbessern und mehr Freude am Lesen haben. Schneider (2001, 10) will, „wo immer möglich, praktische Rezepte“ geben. Je nach Autor sind die beiden Textfunktionen also unterschiedlich stark gewichtet: Reiners und Schneider verfahren eher appellativ und vermitteln ,Rezeptwissen‘, während Sanders und Püschel mehr Wert auf Informationen zur Erweiterung des Stilwissens legen. Schmidt-Wächter (2004, 78 ff.) nennt in Bezug auf Stil- und Redelehrbücher des 17. und 18. Jhs. zwei dominierende Intentionen: docere (d. h. Darstellung eines Wissensgebietes) und delectare (d. h. Unterhaltung im Sinne von Vergnügen bereiten). Sie kommt zu dem Ergebnis, dass alle untersuchten Stil- und Rhetoriklehren das docere als dominierende Intention aufweisen und bis auf wenige Ausnahmen immer spezifizierende Intentionen hinzukommen. Für viele neuere Stillehren scheint jedoch das delectare mittlerweile die dominierendere Intention zu sein. Zwar wird das in den meisten Fällen nicht direkt
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als Zielsetzung angesprochen; die Bücher sind jedoch ironisch und witzig geschrieben. Einige haben amüsante Illustrationen, so dass schnell feststeht: Stillehren wollen unterhalten. Die Anwendbarkeit von Rezepten in der Praxis scheint sekundär zu sein, denn die Leser sehen Stillehren eher „als ,Entertainment‘, als amüsante Unterhaltungslektüre“ (Sanders 1988, 392).
7. Exemplarische Analysen Die exemplarischen Analysen beziehen sich auf vier derzeit auf dem Buchmarkt befindliche Stillehren. Die Bücher mit vergleichbarem Umfang sind unterschiedlich alt: Die Erstauflage der Stilfibel von Ludwig Reiners datiert auf das Jahr 1951 und wurde in unverändertem Abdruck bis heute immer wieder aufgelegt. Wolf Schneiders Deutsch für Profis stammt aus dem Jahr 1982. Die 2000 im Dudenverlag erschienene Stilfibel Wie schreibt man gutes Deutsch? von Ulrich Püschel ist eine Neubearbeitung der Stillehre von Wilfried Seibicke aus dem Jahr 1969. Eine der neusten Stillehren ist das Buch Gutes Deutsch. Stil nach allen Regeln der Kunst von Willy Sanders. Sie erschien 2002. Willy Sanders hat bereits 1986 die Stillehre Gutes Deutsch ⫺ besseres Deutsch verfasst, die sich derzeit in der dritten Auflage auf dem Buchmarkt befindet. Die Verkaufszahlen des Internet Buchhandels Amazon vom 17. 01. 2005 belegen, dass die Bücher der schon vor Jahren als Stilpäpste bezeichneten Autoren Ludwig Reiners und Wolf Schneider wesentlich öfter gekauft werden als die beiden anderen: Schneider: Verkaufsrang 815, Reiners: Verkaufsrang 8.006, dagegen Püschel: Verkaufsrang 50.654 und Sanders: Verkaufsrang 119.769. Es wird deutlich, dass es im Bereich der Stillehren auf der einen Seite Stilpäpste gibt, auf der anderen Seite eine doch eine erhebliche Anzahl an „nichtkanonisierten Stil- und Schreib-Ratgeber[n]“ (Püschel 1991, 59), deren Autoren in der Öffentlichkeit eher unbekannt sind. Das fällt für keine andere Subsorte der Sprachratgeber (z. B. Populärrhetoriken) so stark auf.
7.1. Gliederung und äußere Textgestaltung Der Leser von Reiners Stilfibel soll mit fortschreitender Lektüre von einem Schüler zu einem Meister werden. Dazu durchläuft er verschiedene Stufen: Auf der ersten Stufe erreicht er einen fehlerlosen Stil (20 Verbote), auf der zweiten einen guten (20 Gebote) und auf der dritten einen wirkungsvollen (20 Ratschläge). Schneider gliedert nach Stilprinzipien (Wie man verständlich schreibt, Wie man gut schreibt, Wie man interessant schreibt), während Püschel und Sanders nach den verschiedenen Ebenen (Text, Satz, Wort) gliedern, auf denen sich Stil manifestieren kann.
7.2. Stilideale Stilideale sind in den Stillehren entweder direkt benannt oder können z. B. aus den verwendeten Beispielen rekonstruiert werden. Sie sind „ein […] übergeordnete(r) Ziel- und Orientierungspunkt für alle Stilfragen“ (Sanders 1986, 48). Die untersuchten Autoren
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unterscheiden sich in ihrem Stilideal. So haben Reiners und Schneider eine Idealnorm, die sich vor allem an literarischen Größen orientiert, vor Augen. Auch Sanders (2002, 7) vertritt diese Normvorstellung, wenn er feststellt, dass „[u]nsere Dichter und Schriftsteller […] als Sprachmeister und Stilvorbilder unerreicht [sind]“. Bestimmte „beispielhafte Kunstgriffe“ hätten auch in „unserer aller Schreiben Platz, wenn es anspruchsvoll ist“. Püschel dagegen will eher eine Gebrauchsnorm vermitteln. Einen Ratgeber, der eine bestimmte Autorität als Stilideal propagiert oder nur Beispiele aus der schönen Literatur verwendet, lehnt er ab. „Es sollte […] eine Form des Sprachgebrauchs sein, die wir bei sehr vielen und ganz unterschiedlichen Schreibanlässen verwenden können, eine ,Normalsprache‘ gewissermaßen oder eine Gebrauchssprache im besten Sinne des Wortes“ (Püschel 2000, 21 f.).
7.3. Stilprinzipien In den untersuchten Stillehren lassen sich einige Stilprinzipien (explizit oder implizit) finden. Bei Schneider dominieren Anschaulichkeit (z. B. Wie man interessant schreibt, Wie man gut schreibt) und Verstehbarkeit (Wie man verständlich schreibt). Bei Reiners finden sich Prinzipien wie Verstehbarkeit (Kein Papierdeutsch!), Angemessenheit (Kein Schreistil!), Anschaulichkeit (Schreibt anschaulich!) oder Knappheit (Schreibe knapp!). Püschel und Sanders reflektieren über Stilprinzipien (z. B. Püschel 2000, 32 f.) und stellen vor allem die Stilprinzipien Angemessenheit und Individualität in den Vordergrund ihrer Ausführungen. Insgesamt unterscheiden sich die Stillehren nicht so sehr in den vermittelten Stilprinzipien als vielmehr in den Formulierungen der entsprechenden Stilregeln.
7.4. Stilregeln Es gibt konkrete und abstrakte Stilregeln. Die Befolgung konkreter Stilregeln kann exakt nachgeprüft werden, z. B. durch Zählen von Wörtern bei der Reinerschen Regel (1990, 95) „Bauen Sie keine langen Sätze“. So ist die Regel befolgt, wenn der Satz nicht länger als 15 bis 20 Wörter ist. Abstrakte Stilregeln finden sich in Formulierungen wie „Schreiben Sie natürlich“ (Reiners 1990, 134) oder „Weg mit dem Schwulst!“ (Schneider 2001, 63). Hier ist die Überprüfung der Regel nur durch das eigene Stilgefühl möglich. Stilregeln werden in den Ausführungen entweder begründet oder nicht. Begründungen können allgemein an die Stilprinzipien rückgekoppelt werden, sind dann aber häufig nicht sehr aussagekräftig bzw. zu verallgemeinernd: „Wenn wir Handlungen in Hauptwörtern wiedergeben, so wird der Satz unanschaulich, unlebendig, breit und unklar“ (Reiners 1990, 89). Sind Stilregeln unbegründet, beruhen sie in vielen Fällen auf dem persönlichen Geschmack des Autors, z. B. Ablehnung der Alliteration in Zeitungsüberschriften bei Schneider (2001, 80 f.). Bei Püschel und Sanders finden sich kaum Stilregeln, weder konkrete noch abstrakte. Beide wollen eher Ratschläge als Regeln geben, „auf deren ,passenden‘ Einsatz es entscheidend ankommt“ (Sanders 2002, 33). Sie beschreiben bestimmte Stiltendenzen oder die unterschiedlichen stilistischen Möglichkeiten vorurteilsfrei und nach deren unterschiedlichen Wirkungen. Während Reiners (1990, 87) und Schneider (2001, 50 f.) etwa
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Funktionsverbgefüge („Streckverben“) rigoros ablehnen, verdeutlichen Püschel (2000, 181 f.) und Sanders (2002, 67 f.), dass es auch einen sinnvollen Einsatz dieser Konstruktionen gibt, da sie einen semantischen Mehrwert besitzen und nicht immer durch einfache Verben ersetzt werden können.
7.5. Didaktische Vermittlung Die Autoren haben unterschiedliche Strategien der didaktischen Vermittlung. Alle greifen auf Beispiele zurück, jedoch mit unterschiedlichen Intentionen. Reiners formuliert in seiner Stilkunst (1943, 54), dem umfangreicheren Werk, dessen Methode aber auch auf die kürzere Stilfibel zutrifft: „Man muß den Lernenden mit Beispielen des Sprachverfalls so überfüttern, daß er für immer einen Abscheu davor bekommt, und man muß ihm klarlegen, wie er diese Laster vermeiden kann“. Dasselbe emotionale sprachkritische Verfahren wendet Schneider an, auch wenn er es nicht so explizit ausdrückt. Er führt besonders häufig Negativbeispiele an, teilweise mit Verbesserungen („Also nicht: […] sondern: […]“). Bei Sanders und Püschel finden sich keine sprachkritischen Anklänge. Ihre didaktischen Grundprinzipien sind eher die Vermittlung von Stilwissen anhand griffiger Positivbeispiele. Schneider und Sanders greifen außerdem gerne auf Zitate z. B. von Schriftstellern zu stilistischen Phänomen zurück, die bei Schneider allerdings oft unkommentier