Einführung in die Lexikologie 3534263847, 9783534263844

Der Wortschatz einer Sprache eröffnet einen einzigartigen Zugang zur geistigen Welt ihrer Sprecher. Der Lexikologie, die

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German Pages [163] Year 2015

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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
1. Zur Einführung: Lexikologie als sprachwissenschaftliche Disziplin
2. Das Wort als Gegenstand der Lexikologie
2.1 Was ist ein Wort?
2.2 Das Wort im Spannungsfeld zwischen Alltagsbegriff und wissenschaftlichem Terminus
2.3 Wörter: Zentrum und Peripherie
2.3.1 Inhaltswörter und Funktionswörter
2.3.2 Wörter, Namen und Unika
2.3.3 Einfache Wörter, Wortbildungen, Idiome
2.4 Das Wort und die sprachlichen Ebenen
2.5 Der Wortbegriff der Lexikologie
2.6 Fazit
3. Die Wortbildung
3.1 Grundformen der Wortbildung
3.2 Ausdruckserweiterung und -transposition
3.2.1 Die Komposition
3.2.2 Die Ableitung
3.3. Kreuzungsbildungen
3.4 Kürzungsbildungen
4. Die Inhaltsseite des Wortes
4.1 Das semiotische Dreieck
4.2 Denotation und Konnotation
4.3 Onomasiologie und Semasiologie
4.4 Konzept und Bedeutung – sprachliches und enzyklopädisches Wissen
4.5 Beschreibungsmodelle
4.5.1 Strukturelle Merkmalsemantik
4.5.2 Die komponentielle Semantik von Katz/Fodor (1963)
4.5.3 Prototypensemantik
4.6 Mehrdeutigkeit
4.6.1 Vagheit, Polysemie und Homonymie
4.6.2 Polysemie und ,semantische Nähe'
4.6.2.1 Polysemie in der ,Zwei-Ebenen-Semantik' (Bierwisch 1983)
4.6.2.2 Ein Netzwerkmodell der Polysemie
4.6.3 Zwischenfazit
4.6.4 Zwischen Vagheit und Polysemie: Facetten, Mikrobedeutungen und ,aktive Zonen'
4.6.5 Fazit: Mehrdeutigkeit als Skala der Differenzierung
5. Sinnrelationen – Wörter und ihre Beziehungen
5.1 Similaritätsrelationen
5.1.1 Synonymie
5.1.2 Heteronymie
5.1.3 Plesionymie
5.1.4 Paronymie
5.1.5 Hyponymie/Hyperonymie
5.2 Kontiguitätsrelationen – Meronymie und Holonymie
5.3 Kontrastrelationen
5.4 Skalare Relationen
5.5 Syntagmatische Relationen
5.5.1 Relationen im Text
5.5.2 „Wesenhafte Bedeutungsbeziehungen"
5.5.3 Kollokationen
5.5.4 Statistische Kookkurrenzen
6. Der Wortschatz und seine Architektur
6.1 Begriffsbestimmungen – Wortschatz, Lexik, Lexikon
6.2 Quantitative Aspekte des Wortschatzes
6.3 Wortfelder
6.4 Wortfamilien
6.5 Varietätenspezifische Wortschätze
6.5.1 Diatopische Varietäten
6.5.2 Diastratische Varietäten
6.5.3 Diaphasische Varietäten
6.6 Wortschatzstrukturen im Vergleich
6.7 Wörter im Kopf: Die Architektur des mentalen Lexikons
6.7.1 Methoden
6.7.2 Wortformen und Konzepte im mentalen Lexikon
6.7.3 Die Organisation des Formenspeichers
6.7.4 Die Organisation des Konzeptspeichers
7. Lexikalischer Wandel
7.1 Neologismen und Archaismen
7.2 Bedeutungswandel
7.2.1 Zur Begriffsbestimmung
7.2.2 Semantische Motivation
7.2.3 Typen des Bedeutungswandels
7.2.4 Motive des semantischen Wandels
7.3 Lexikalischer Wandel bei komplexen Wörtern
7.3.1 Morphologische Polygenese
7.3.2 Strukturverlust und Restrukturierung
7.4 Wortschatzerweiterung durch Entlehnung
8. Wörterbücher
8.1 Lexikologie und Lexikographie
8.2 Die Wörterbuchlandschaft
8.2.1 Wörterbuchtypen
8.2.2 Präskriptive Wörterbücher
8.2.3 Deskriptive Wörterbücher
8.3 Der Aufbau von Wörterbüchern
8.3.1 Makrostrukturen
8.3.2 Mikrostrukturen
8.3.3 Mediostrukturen: Verweise im Wörterbuch
8.4 Digitale Wörterbücher
8.5 Digitale Textkorpora
Lösungen und Hinweise zu den Übungsaufgaben
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Tabellen
Verzeichnis der Abbildungen
Register
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Einführung in die Lexikologie
 3534263847, 9783534263844

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Volker Harm

Einführung in die Lexikologie

Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-26384-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73958-5 eBook (epub): 978-3-534-73959-2

Inhaltsverzeichnis 1. Zur Einführung: Lexikologie als sprachwissenschaftliche Disziplin . . . . . . . . .

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2. Das Wort als Gegenstand der Lexikologie . . . . . . . . . . 2.1 Was ist ein Wort? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Wort im Spannungsfeld zwischen Alltagsbegriff und wissenschaftlichem Terminus . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Wörter: Zentrum und Peripherie . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Inhaltswörter und Funktionswörter . . . . . . . . 2.3.2 Wörter, Namen und Unika . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Einfache Wörter, Wortbildungen, Idiome . . . . 2.4 Das Wort und die sprachlichen Ebenen . . . . . . . . . 2.5 Der Wortbegriff der Lexikologie . . . . . . . . . . . . . 2.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Die Wortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Grundformen der Wortbildung . . . . . . 3.2 Ausdruckserweiterung und -transposition 3.2.1 Die Komposition . . . . . . . . . 3.2.2 Die Ableitung . . . . . . . . . . . 3.3. Kreuzungsbildungen . . . . . . . . . . . 3.4 Kürzungsbildungen . . . . . . . . . . . .

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4. Die Inhaltsseite des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Das semiotische Dreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Denotation und Konnotation . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Onomasiologie und Semasiologie . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Konzept und Bedeutung – sprachliches und enzyklopädisches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Beschreibungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Strukturelle Merkmalsemantik . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Die komponentielle Semantik von Katz/Fodor (1963) 4.5.3 Prototypensemantik . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Mehrdeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.1 Vagheit, Polysemie und Homonymie . . . . . . . . 4.6.2 Polysemie und ,semantische Nähe‘ . . . . . . . . . 4.6.2.1 Polysemie in der ,Zwei-Ebenen-Semantik‘ (Bierwisch 1983) . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2.2 Ein Netzwerkmodell der Polysemie . . . .

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Inhaltsverzeichnis

4.6.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.4 Zwischen Vagheit und Polysemie: Facetten, Mikrobedeutungen und ,aktive Zonen‘ . . . 4.6.5 Fazit: Mehrdeutigkeit als Skala der Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Sinnrelationen – Wörter und ihre Beziehungen. . . . . . 5.1 Similaritätsrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Synonymie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Heteronymie . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Plesionymie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Paronymie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.5 Hyponymie/Hyperonymie . . . . . . . . . . 5.2 Kontiguitätsrelationen – Meronymie und Holonymie 5.3 Kontrastrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Skalare Relationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Syntagmatische Relationen . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Relationen im Text . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 „Wesenhafte Bedeutungsbeziehungen“ . . . 5.5.3 Kollokationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.4 Statistische Kookkurrenzen . . . . . . . . . .

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6. Der Wortschatz und seine Architektur . . . . . . . . . . . . 6.1 Begriffsbestimmungen – Wortschatz, Lexik, Lexikon. . . 6.2 Quantitative Aspekte des Wortschatzes . . . . . . . . . 6.3 Wortfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Wortfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Varietätenspezifische Wortschätze . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Diatopische Varietäten . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Diastratische Varietäten . . . . . . . . . . . . . 6.5.3 Diaphasische Varietäten . . . . . . . . . . . . . 6.6 Wortschatzstrukturen im Vergleich . . . . . . . . . . . . 6.7 Wörter im Kopf: Die Architektur des mentalen Lexikons. 6.7.1 Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.2 Wortformen und Konzepte im mentalen Lexikon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.3 Die Organisation des Formenspeichers . . . . . 6.7.4 Die Organisation des Konzeptspeichers . . . . .

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7. Lexikalischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Neologismen und Archaismen . . . . . . . . . 7.2 Bedeutungswandel . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Zur Begriffsbestimmung . . . . . . . . 7.2.2 Semantische Motivation . . . . . . . . 7.2.3 Typen des Bedeutungswandels . . . . . 7.2.4 Motive des semantischen Wandels . . . 7.3 Lexikalischer Wandel bei komplexen Wörtern . 7.3.1 Morphologische Polygenese . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

7.3.2 Strukturverlust und Restrukturierung . . . . . . . . . . 7.4 Wortschatzerweiterung durch Entlehnung . . . . . . . . . . . 8. Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Lexikologie und Lexikographie . . . . . . . . . . . 8.2 Die Wörterbuchlandschaft . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Wörterbuchtypen . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Präskriptive Wörterbücher . . . . . . . . . 8.2.3 Deskriptive Wörterbücher . . . . . . . . . 8.3 Der Aufbau von Wörterbüchern . . . . . . . . . . 8.3.1 Makrostrukturen . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Mikrostrukturen . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3 Mediostrukturen: Verweise im Wörterbuch 8.4 Digitale Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Digitale Textkorpora. . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lösungen und Hinweise zu den Übungsaufgaben . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verzeichnis der Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verzeichnis der Abbildungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Zur Einführung: Lexikologie als sprachwissenschaftliche Disziplin Eine Sprache besteht aus Wörtern und den Regeln ihrer Verknüpfung. So könnte man – stark vereinfacht – den Aufbau natürlicher Sprachen beschreiben. Die Wörter sind dabei das Wichtigste: Ohne Wörter gibt es keine Wortverknüpfung, ohne den Wortschatz keine Grammatik – im Anfang war das Wort. Der Lexikologie als der linguistischen Disziplin, die sich mit den Wörtern und dem Wortschatz befasst, fällt damit in dieser Perspektive eine Schlüsselposition für die Sprachwissenschaft zu. Nun besteht die Sprachwissenschaft bekanntermaßen nicht allein aus Lexikologie und Grammatik. Die wichtigsten Teildisziplinen der Sprachwissenschaft sind vielmehr – neben der Lexikologie – die Phonologie, Morphologie, Syntax, Textlinguistik, Semantik und Pragmatik. Von diesen Fächern haben primär die Morphologie und die Semantik mit dem Wort als Gegenstand zu tun: die Morphologie vor allem in Gestalt der Wortbildungslehre und die Semantik als lexikalische Semantik, als Lehre von den Wortbedeutungen. Und dann gibt es natürlich noch die Lexikographie als Praxis und Lehre der Wörterbucherstellung, die ja wie keine andere Disziplin auf die Sammlung und Beschreibung von Wörtern gerichtet ist. Wenn somit Wortbildung, Wortbedeutung und Wortschatzsammlung bereits von anderen Disziplinen abgedeckt sind, stellt sich die Frage, welcher Gegenstand dann noch für eine eigenständige Disziplin ,Lexikologie‘ bleibt – immerhin betreffen die Lexikographie, die Wortbildungslehre und die lexikalische Semantik nicht gerade nebensächliche Aspekte des Wortes. Ist ,Lexikologie‘ also womöglich nur ein Klammerbegriff für die bereits bestehenden wortbezogenen Disziplinen, eine bloße Umetikettierung anderweitig betriebener Forschung? Auch wenn dies für einzelne Bereiche der Lexikologie vielleicht zutreffen mag, in einem ganz entscheidenden Punkt verfügt die Lexikologie aber tatsächlich über einen eigenen Gegenstand, den ihr kein anderes Fach streitig macht, nämlich in der Betrachtung des Wortschatzes als Ganzheit. Wenn der Wortschatz als Ganzheit (nicht als Gesamtheit) Gegenstand einer eigenen sprachwissenschaftlichen Disziplin sein soll, dann setzt dies freilich voraus, dass man über diesen Gegenstand überhaupt etwas Relevantes zu sagen hat, dass der Wortschatz also mehr ist als eine beliebige und damit uninteressante Ansammlung von Einzelwörtern. Die Lexikologie sieht das Interessante und Erforschenswerte des Wortschatzes darin, dass dieser ein strukturiertes Gebilde ist, ein „System von Systemen“ (Lutzeier 1995: 10, vgl. auch Lutzeier 2002: 4–6; Lipka 1992: 1). Wenn man dem Wortschatz Struktur und Systematizität zuspricht, dann ergibt sich in der Tat eine Reihe interessanter Fragestellungen: Welche Strukturprinzipien sind im Wort-

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1. Zur Einführung

schatz vorhanden? Welche Teilsysteme gibt es und wie interagieren sie miteinander? Wie ist es um das Verhältnis zwischen linguistischen Modellierungen des Wortschatzes und der psychologischen Realität bestellt? Inwiefern sind die Wortschätze unterschiedlicher Sprachen miteinander vergleichbar? Wie verändern sich Strukturen im Wortschatz? Eine Beschreibung des Wortschatzes als strukturierte Ganzheit kann nicht ohne eine Beschreibung seiner Komponenten – der Wörter – erfolgen. Umgekehrt ist eine isolierte Betrachtung einzelner Wörter nicht denkbar: Die Bedeutung eines einzelnen Wortes kann ja nur dadurch angegeben werden, dass wir andere Wörter als Paraphrasen benutzen. Die lexikologische Beschreibung des Wortschatzes und die Betrachtung des Einzelwortes bedingen einander. Die lexikalische Semantik kann damit zwar einerseits zusammen mit der Satzsemantik als Teil einer eigenen Disziplin Semantik gesehen werden. Man kann sie aber auch als Teildisziplin der Lexikologie betrachten. Da semantische Einzelwortanalysen ohne Bezugnahme auf andere Wörter und ohne Kenntnis der Wortschatzzusammenhänge, in denen sie stehen, weder möglich noch sinnvoll sind, erscheint uns diese ,Eingemeindung‘ der lexikalischen Semantik in die Lexikologie aber nicht nur als Option, sondern als die entschieden bessere Wahl. Die Lexikologie hat sich erst in den 1960er Jahren als eigenständiges linguistisches Teilfach durchsetzen können (Schippan 2002: 74). Dass diese Etablierung im Vergleich zu den meisten anderen Subdisziplinen der Sprachwissenschaft erst relativ spät erfolgte, verwundert vor dem Hintergrund des bisher Gesagten kaum. Die Erkenntnis, dass der Wortschatz überhaupt als strukturierte Ganzheit jenseits der Einzelwortbetrachtung in den Blick genommen werden kann, setzt das Aufkommen des Strukturalismus als sprachwissenschaftliches Paradigma voraus – dessen Grundauffassung ist ja, dass Einzelfakten erst durch ihre Stellung innerhalb eines strukturierten Ganzen bedeutsam und beschreibbar werden. Als wichtig für die Lexikologie ist in diesem Zusammenhang besonders die in den frühen 1930er Jahren entwickelte Wortfeldtheorie zu nennen, die als erste konsequent mit dem bis dahin vorherrschenden Atomismus in der Beschreibung von Wörtern gebrochen hat. Daneben gibt es noch andere Traditionen und Disziplinen, wie etwa die Etymologie und Semasiologie, die Wörter-und-SachenForschung des frühen 20. Jahrhunderts, die historische Lexikographie, die sich allesamt – wenn auch zunächst nur locker – zu einem Forschungsprogramm verbinden, das dann unter der bis dahin wenig geläufigen Bezeichnung ,Lexikologie‘ zusammengefasst wird. In der universitären Lehre hat sich die Lexikologie wohl zunächst in der Sowjetunion etabliert. Seit den 1970er Jahren erscheinen dann richtungweisende lexikologische Lehrwerke zu verschiedenen europäischen Sprachen. Der wirkliche Durchbruch als kanonische Disziplin der Sprachwissenschaft erfolgt aber erst in den 1980 und 1990er Jahren (zur Wissenschaftsgeschichte sei auf die Beiträge von Lutzeier 2002 und Schippan 2002 verwiesen). Entsprechend den eben geschilderten Traditionslinien können die zentralen Gegenstände der Lexikologie mit Schippan wie folgt bestimmt werden:

1. Zur Einführung

„Wortsemantik, Bedeutungs- und Benennungswandel, also Semasiologie/ Onomasiologie und Wortgeschichte werden als Kernbereich der Lexikologie aufgefasst, ebenso wie die semantische, strukturelle, soziologische, historische und dialektale Gliederung des Wortschatzes, während weiterhin über die Zugehörigkeit von Wortbildungstheorie und Phraseologie Uneinigkeit besteht“ (Schippan 2002: 75). Die hier vorgelegte Einführung orientiert sich weitgehend an diesem Themenkatalog und seinen internen Gewichtungen. Wortbildungslehre und Phraseologie werden demgemäß nur kurz bzw. extrem knapp behandelt. Diese Entscheidung ergibt sich weniger aus einer festen Überzeugung bezüglich der Stellung dieser beiden Fächer innerhalb der Lexikologie als vielmehr aus praktischen Gründen: Zu beiden Gebieten gibt es bereits hervorragende einführende Darstellungen, auf die besten Gewissens verwiesen werden kann. Der Fokus dieses Buches soll – der Gegenstandsbestimmung Schippans folgend – auf den unbestrittenen Kernbereichen der Lexikologie liegen: der lexikalischen Semantik einschließlich der Beschreibung der Sinnrelationen (Kapitel 4 und 5), der Wortschatzkunde, also der Betrachtung des Wortschatzes als gegliedertes System (Kapitel 6), sowie dem lexikalischen Wandel (Kapitel 7). Ergänzt wird die Darstellung dieser Hauptgebiete durch eine als Voraussetzung des Buches unabdingbare Klärung des Begriffs ,Wort‘ (Kapitel 2), durch knappe Ausführungen zur Wortbildung (Kapitel 3) sowie zu Wörterbüchern als einem zentralen Arbeitsinstrument für die Lexikologie (Kapitel 8). Das vorliegende Buch ist als erste Einführung in das Thema konzipiert. Es richtet sich vor allem an Studierende der germanistischen Sprachwissenschaft im Bachelor-Studium. Für Studierende anderer Philologien sollte es ebenfalls geeignet sein, da die meisten behandelten Fragestellungen nicht spezifisch für das Deutsche sind. Zudem werden in besonderen Abschnitten bewusst sprachübergreifende Themen angesprochen. Für das Verständnis des Buches ist es sicherlich hilfreich, wenn man bereits eine Einführung in die Sprachwissenschaft absolviert hat, notwendig ist das freilich nicht. Den einzelnen Kapiteln sind Übungsaufgaben von unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad beigegeben. Für einen Großteil der Aufgaben finden sich im Anhang Lösungen bzw. Lösungshinweise. Den einzelnen Kapiteln schließen sich zudem weiterführende Literaturangaben an, so dass eine eigenständige Vertiefung des Stoffes möglich ist. Beim Schreiben dieses Buches habe ich von zahlreichen Hinweisen und Verbesserungsvorschlägen profitiert. Hier ist vor allem Sonja Harm, Sonja Gesse-Harm, Michael Job, Hans-Joachim Particke, Alexander Wood, Christiane Gante, Anna-Lina Sperling und nicht zuletzt der Lektorin Jasmine Stern herzlich zu danken. Sie alle haben mich vor zahlreichen Irrtümern und Ungenauigkeiten bewahrt. Was an Fehlern geblieben ist, geht natürlich vollständig zu meinen eigenen Lasten. Zu danken habe ich auch Nike und Imma, die an so vielen Wochenenden anderweitige Beschäftigung suchen mussten. Ihnen ist diese Einführung gewidmet.

Dank

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2. Das Wort als Gegenstand der Lexikologie 2.1 Was ist ein Wort? Testverfahren und ihre Probleme

das Schriftbild

Distributionstests

Wenn das Wort der zentrale Gegenstand der Lexikologie ist, kommt man um eine Klärung der Frage, was unter ,Wort‘ denn eigentlich zu verstehen sei, nicht herum. Schlägt man in einem Wörterbuch des Deutschen nach, so erhält man unter dem Eintrag Wort dahingehend Aufschluss, dass es sich um eine irgendwie abgrenzbare Einheit handelt, die etwas bedeutet – ein Wort ist eine „selbständige sprachliche Einheit mit einem bestimmten Bedeutungsgehalt“ (WDG 6, 4391). Damit ist annähernd beschrieben, was ein durchschnittlicher Sprecher des Deutschen wohl unter einem Wort versteht. Für eine wissenschaftliche Definition reicht das natürlich nicht aus. Hier wäre zu klären, was genau „selbständige Einheit“ meint und was genau unter „Bedeutungsgehalt“ zu verstehen ist, und beides erweist sich, wie im Weiteren zu zeigen sein wird, als überaus schwierig. Was die Selbstständigkeit der Einheit Wort angeht, ihre Abgrenzbarkeit von anderen gleichartigen Einheiten, so ist für das Alltagsverständnis vor allem das Schriftbild maßgeblich: Wörter sind von anderen Wörtern durch Spatien abgegrenzt. Dass orthographische Worttrennungsregeln indes keine Grundlage für einen linguistischen Wortbegriff bieten, liegt auf der Hand. Die Orthographie besteht aus Vorschriften, wie etwas nach Auffassung einer Institution (etwa eines Kultusministeriums) oder einer Autorität (etwa einer Akademie) geschrieben werden soll. Sprachliche Vorschriften sagen aber nichts darüber aus, wie die Sprache selbst beschaffen ist. Da Normen im Prinzip bloße Setzungen sind, können sie sich auch leicht verändern: Vor der Rechtschreibreform von 1996 wurden Verben wie leerstehen und vollmachen, aber auch radfahren im Infinitiv zusammengeschrieben, seit Inkrafttreten der Reform hat man hingegen leer stehen, voll machen und Rad fahren zu schreiben. Ginge es allein nach der Orthographie, müsste man daher absurderweise annehmen, dass leerstehen bis 1996 als ein Wort zu betrachten sei, während danach zwei Wörter vorlägen. Überdies sind orthographische Regeln alles andere als einheitlich und widerspruchsfrei: So wäre der Infinitivmarker zu im Fall von zu laufen eine eigenständige, im Fall von wegzulaufen aber eine unselbständige Einheit, das Partikelverb aufstehen wäre im Infinitiv bzw. Nebensatz ein Wort, im Hauptsatz lägen dagegen zwei Wörter vor (Sie steht auf vs. weil sie aufsteht). Die Identifikation einer abgrenzbaren Einheit ,Wort‘ muss also auf andere Weise erfolgen als mit Hilfe der Spatiensetzung. Bei der Suche nach einer tragfähigen Begriffsbestimmung hat die Sprachwissenschaft ihr Heil vorwiegend in Testverfahren gesucht, die in irgendeiner Weise auf die Stellung

2.1 Was ist ein Wort?

sprachlicher Einheiten in einer Äußerungskette, auf deren sog. Distribution abzielen. In diese Richtung geht auch die berühmte und einflussreiche Definition, die Leonard Bloomfield aufgestellt hat: „a word is a minimum free form“ (1933: 178). Bloomfield hatte mit dieser Definition Wörter als die kleinsten Formen zu bestimmen versucht, die selbständig als Satz vorkommen können. So kann man sich im Sinne dieser Definition einzelne Wörter als elliptische Sätze vorstellen, die auf hypothetische Fragen antworten oder sich anderweitig auf einen vorangehenden Satz beziehen: (1) a. Was fehlt ihm? – Geist. b. Was hat sie die ganze Zeit gemacht? – Geschlafen. c. Wer war es? – Er. d. Ich habe gestern meine Prüfung geschafft. – Und?

Wörter als elliptische Sätze

Für eine ganze Reihe von Wörtern mag dieses Kriterium zu dem erwarteten Ergebnis führen, und insofern trifft diese Definition sicher einen wesentlichen Punkt der zu bestimmenden Größe ,Wort‘. Allerdings gibt es auch Einheiten, die man intuitiv zwar als Wörter klassifizieren würde, die aber kaum in elliptischen Sätzen vorkommen können. So sind Fragen, die ein, auf, oder in als Antwort ergeben, kaum konstruierbar. Probleme bereiten hier letztlich aber auch geläufige Substantive wie Haus oder Auto, die in der Regel nur mit Artikel (ein/das Haus) als Antworten auf denkbare Fragen auftreten können: (2) Was hast Du gesehen? – Ein Haus/das Haus/*Haus Die Forschung hat diese Wortdefinition daher um weitere distributionelle Kriterien zu ergänzen versucht. So wird auch die fehlende Unterbrechbarkeit der Äußerungskette als wichtiges Kriterium für den Wortstatus einer sprachlichen Einheit angesehen. Ein Wort wäre demzufolge eine Einheit, in die keine andere Einheit eingefügt werden kann, vgl. die Wörter Haus oder Prüfung gegenüber einem nichtexistenten *Hau-flur-s oder *Prüf-besteh-ung. So einleuchtend es auf der einen Seite ist, dass Wörter nicht unterbrochen werden können, stellen sich doch auch hier Fragen: In er fängt gleich an oder anzufangen können die Partikel an und das Verb fangen durch ein anderes Wort unterbrochen werden; folglich wäre anfangen/fängt an kein Wort. Außerdem kann bei Komposita – auch diese würden wir ja als Wörter klassifizieren wollen – zumindest in einzelnen Fällen durchaus ein Einschub gemacht werden (Hausschlüssel – Haustürschlüssel). Als weitere distributionelle Eigenschaft, mit deren Hilfe man ,Wort‘ zu bestimmen sucht, gilt die Festigkeit der Konstituentenfolge bei komplexen Bildungen. Die Abfolge der Elemente in Silbermedaillengewinnerin oder Männlichkeitswahn ist festgelegt (*Silber-gewinnerin-medaillen, *Männlich-wahn-keit), während eine Folge wie zu Abend essen umstellbar ist (aß zu Abend/zu Abend aß). Im ersten Fall handelt es sich daher jeweils um ein Wort, im zweiten nicht. Dass aber auch dieses Kriterium nicht ganz leicht zu handhaben ist, zeigt sich an Komposita wie Arztkinder vs. Kinderarzt, Märchenerzähler vs. Erzählermärchen, die dann streng genommen keine Wörter wären. Auch die Folge zu Abend ist festlegt (*Abend zu), weshalb

fehlende Unterbrechbarkeit

Festigkeit der Konstituentenfolge

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2. Das Wort als Gegenstand der Lexikologie

Umstellbarkeit im Satz

dieses Kriterium hier die etwas problematische Vorhersage macht, dass zu Abend ein Wort sei. Gewissermaßen das Gegenstück zum Kriterium der internen Festigkeit ist die externe Beweglichkeit, die Umstellbarkeit im Satz: Das Nomen Männlichkeitswahn duldet keine internen Umstellungen, ist aber als Ganzes im Satz frei bewegbar und insofern als ein Wort zu betrachten. Aber auch hier bereiten Komposita des Typs Kinderarzt/Arztkinder Schwierigkeiten. ,Spielverderber‘ sind ferner Elemente wie zu, sehr oder der/ein, deren Beweglichkeit durch syntaktische Regeln stark eingeschränkt ist, wie die Beispiele in (3) zeigen. (3) a. nach Hause zu gehen vs. *zu nach Hause gehen, b. sehr schön vs. *schön sehr, c. ein armer Vater vs. *armer Vater ein.

Ersatzprobe

Während die beiden zuletzt angesprochenen Tests sich auf die Abfolge sprachlicher Einheiten in der Äußerungskette beziehen – die sog. syntagmatische Achse –, liegt mit der Ersatzprobe ein Testverfahren vor, das der paradigmatischen Achse zuzuordnen ist. Als Wort wäre demnach diejenige Einheit zu klassifizieren, die durch andere gleichwertige Einheiten substituiert werden kann, ohne dass eine sinnlose Äußerung entsteht: (4) Ein armer/glücklicher/zufriedener/gestresster … Vater

Wörter als Sinneinheiten

Die Ersatzprobe hat allerdings den großen Nachteil, dass sie sich nicht nur auf Wörter, sondern genau so gut auch auf die Bestandteile von Wörtern anwenden lässt. So sind auch die Erstglieder in Bildungen wie bestehen/entstehen/erstehen/verstehen untereinander austauschbar, obwohl es sich bei be-, ent- usw. eindeutig nicht um Wörter handelt. Die Ersatzprobe ist als Test somit in gewisser Weise zu ,stark‘. Insgesamt ergibt die Anwendung der vorgestellten Distributionstests keine vollständig zufriedenstellende Antwort auf die Frage, welche Einheiten innerhalb der Äußerungskette als Wörter voneinander abgegrenzt werden können. Dass es sich bei Wörtern um isolierbare, selbständige Einheiten innerhalb der Rede handelt, ist jedoch nur ein Aspekt des eingangs erwähnten Alltagskonzepts ,Wort‘. Ein anderer Aspekt betrifft die Inhaltsseite: Wörter sind immer auch Sinneinheiten, ein Wort wird immer dazu genutzt, jemandem etwas über die Welt mitzuteilen. Man könnte demnach Wörter als die kleinsten in der Rede abgrenzbaren Sinneinheiten definieren (so etwa Reichmann 1976: 9: „ein Wort ist die kleinste signifikative (…) Einheit der Sprache“). Was eine Sinneinheit darstellt, ist jedoch schwer dingfest zu machen: Haus stellt zwar ohne Zweifel eine Sinneinheit dar, was ist aber mit das Haus und zu Hause? Ist nicht auch eine aus mehreren Wörtern bestehende Verbindung wie Weißes Haus als Sinneinheit zu verstehen, da sie doch auf genau einen Referenten bzw. genau eine Klasse von Referenten verweist? Auch von einem Idiom wie ins Gras beißen ,sterben‘ lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass es eine Sinneinheit darstellt, die nicht weiter in jeweils kleinere Sinneinheiten auflösbar ist. Eine besondere Schwierigkeit besteht hier aber auch darin, dass gar nicht klar ist, ob nicht eher Sätze als

2.2 Das Wort im Spannungsfeld

Wörter die kleinsten Sinneinheiten der Sprache darstellen. So hatte Bühler (1934: 359; zitiert nach Bauer 2000: 249) mit der Feststellung „Sätze sind die (kleinsten selbständigen) Einheiten der Rede“ sicher nicht Unrecht. Immerhin kommunizieren wir – unbeschadet der etwas gesuchten Beispiele in (1) – in der Regel nicht mittels abgehackter Einzelwörter, sondern in Sätzen. Es zeigt sich somit in aller Deutlichkeit, dass von der Inhaltsseite her ebenso wenig eine klare Definition des Wortes erreicht werden kann wie von einer ausdrucksseitigen Distributionsanalyse. Ein wissenschaftlicher Wortbegriff, der sich mit unserem Alltagskonzept Wort einigermaßen zur Deckung bringen ließe, scheint – so muss unser erstes Fazit lauten – ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Dies ist misslich, nicht zuletzt auch im Hinblick auf den in Kap. 6 näher zu bestimmenden Begriff des Wortschatzes. Denn schließlich setzt der Begriff des Wortschatzes als der Gesamtheit der einzelnen Wörter den Begriff des Wortes voraus. Ist der Lexikologie als der sprachwissenschaftlichen Disziplin, die sich mit dem Wort und dem Wortschatz befasst, damit schon der zentrale Gegenstand abhanden gekommen, den sie eigentlich zu untersuchen hätte?

2.2 Das Wort im Spannungsfeld zwischen Alltagsbegriff und wissenschaftlichem Terminus Ein denkbarer Ausweg aus dieser Aporie läge in der Entwicklung eines Wortbegriffs, der sich konsequent von dem Alltagskonzept lossagt. ,Wort‘ – oder welchen terminologischen Ersatz auch immer man dann wählt – wäre dann eine bloße Setzung, ein wissenschaftlicher Kunstbegriff. Dieser Weg wird allerdings, soweit zu sehen ist, von keinem Lexikologen konsequent beschritten, und dies mit Recht: Immerhin gibt es ein gesellschaftliches Interesse an Wörtern, und zwar ein deutlich größeres als an Lauten, Morphemen oder Sätzen. Über Wörter, Fremdwörter, ,Unwörter‘ lässt sich privat und öffentlich trefflich streiten: Ist ein Anglizismus wie Laptop, chillen oder abturnen schädlich für das Deutsche und deshalb durch Klapprechner, entspannen, ernüchtern oder ähnliche Bildungen zu ersetzen? Wie stelle ich mich als Sprecher dar, wenn ich statt aktiv das Wort proaktiv benutze? Darf ich noch Zigeunerschnitzel sagen? Inwiefern enthalten Ausdrücke wie Rentnerschwemme, Herdprämie oder einen Arbeitnehmer freisetzen (für ,entlassen‘) möglicherweise eine Diskriminierung der Betroffenen? Nicht nur in Diskussionen über angemessenen Sprachgebrauch, auch im alltäglichen Leben sind Wörter omnipräsent: Man muss ,Vokabeln pauken‘, wenn man eine Fremdsprache erlernen will, man weiß oft nicht, wie ein Wort geschrieben wird oder was es bedeutet, und schlägt es im Wörterbuch nach, man kann auch nach einem treffenden Wort suchen oder sogar unter Wortfindungsstörungen leiden. Wenn die Lexikologie sich einen Wortbegriff zurechtlegt, der gegenüber der alltäglichen Relevanz von Wörtern und dem gesellschaftlichen Interesse an Wörtern blind wäre, riskiert sie zum einen, dass sie dann auch nicht mehr von Sprechern nach Dingen befragt werden kann, die diese interessieren. Eine Wissenschaft aber, die keine Fragen beantworten kann oder will, manövriert sich ins Abseits. Zum anderen

,Wort‘ als Alltagsbegriff

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2. Das Wort als Gegenstand der Lexikologie

,Wort‘ als Konzept mit unscharfen Rändern

würde die Lexikologie auch auf einen überaus interessanten Forschungsgegenstand verzichten; denn wie Sprecher Wortgebrauch reflektieren und diskutieren, ist mindestens ebenso der Untersuchung wert wie die Beschreibung sprachlicher Einheiten von einem vermeintlich objektiven wissenschaftlichen Standpunkt aus. Daher sollte noch ein anderer Ausweg aus dieser Aporie vorstellbar sein: Aus dem Scheitern der Definitionsversuche kann auch der Schluss gezogen werden, dass es schlichtweg keinen trennscharfen Wortbegriff gibt, sondern dass ,Wort‘ als Konzept mit unscharfen Rändern aufzufassen ist. Dies hatte im Grunde bereits Bloomfield erkannt, der zugab: „[m]any forms lie on the border-line between bound forms and words, or between words and phrases; it is impossible to make a rigid distinction“ (Bloomfield 1933: 181). Starke Indizien dafür, dass es sich beim Wort um eine Kategorie mit unscharfen Rändern („fuzzy category“, vgl. Lakoff 1987: 454; Taylor 1995: 72) handelt, ergeben sich auch aus dem oben vorgestellten Kriterienkatalog: Die Tests geben zwar keine klare Antwort auf die Frage, ob zu oder der Wörter sind, aber im Hinblick auf Einheiten wie schlafen, gut oder Geist fallen die Ergebnisse wesentlich besser aus. Die zuletzt genannten Einheiten dürften damit als prototypische, zentrale Vertreter der Kategorie ,Wort‘ aufzufassen sein, während Präpositionen und Artikelwörter eher an der Peripherie der Kategorie anzusiedeln wären. Wenn man als Lexikologe grundsätzlich akzeptiert, dass es sich beim Wort um eine Kategorie mit unscharfen Rändern handelt, ist man auch wieder ganz nah an dem Alltagskonzept ,Wort‘, denn Alltagskonzepte sind ja im Unterschied zu wissenschaftlichen Begriffen nicht exakt nach notwendigen und hinreichenden Definitionsmerkmalen bestimmt, sondern als Kategorien mit prototypischen und weniger prototypischen Eigenschaften bzw. Vertretern aufzufassen (Taylor 1995: 68–74, s. auch Kap. 4.5.3). Dass mit dem Fehlen, ja der Unmöglichkeit einer rigiden Definition des lexikologischen Grundbegriffes ,Wort‘ nicht gleich die gesamte Disziplin Lexikologie ins Wanken gerät, zeigt nicht zuletzt auch ein Blick auf andere Teilfächer der Sprachwissenschaft: Es dürfte ähnlich schwer sein, die Größen ,Satz‘ oder ,Text‘ definitorisch zu fassen, und trotzdem wird sowohl Syntax als auch Textlinguistik mit Erfolg betrieben. Für die Lexikologie sollte uns dies zuversichtlich stimmen.

2.3 Wörter: Zentrum und Peripherie 2.3.1 Inhaltswörter und Funktionswörter Referenz

Mit der eben eingeführten Unterscheidung zwischen prototypischen und peripheren Vertretern der Kategorie ,Wort‘ geht eine weitere wichtige begriffliche Trennung einher, die mit der Art und Weise zusammenhängt, in der Wörter Bezug auf Inhalte nehmen können. Um den unterschiedlichen Arten dieser Bezugnahme, der sog. Referenz von Wörtern, auf die Spur zu kommen, sei zunächst von dem folgenden Beispielsatz ausgegangen: (5) Das Mädchen geht zum Arzt, weil es erkältet ist.

2.3 Wörter: Zentrum und Peripherie

Die Wörter Mädchen, gehen, Arzt und erkältet sind Einheiten, die jeweils auf außersprachliche Personen oder Sachverhalte verweisen. Für das, weil, es ist dies allerdings nicht oder nur bedingt der Fall. Das Pronomen es referiert jedenfalls nicht unmittelbar auf etwas in der Welt, sondern dient schlicht der Wiederaufnahme des Wortes Mädchen aus dem vorangehenden Hauptsatz. Es nimmt daher lediglich auf ein anderes Sprachzeichen Bezug. Da ein Wort wie es keine eigene Bedeutung hat, sondern seine Bedeutung eigentlich nur in einem Verweis auf ein anderes Wort besteht, es also nur zusammen mit oder in Abhängigkeit von einem anderen Wort etwas bedeutet, spricht man hier auch von einem ,Synsemantikon‘ bzw. einem ,synsemantischen Wort‘ (zu griech. syn- ,gemeinsam, zusammen mit‘ und se¯mantikós ,bezeichnend, bedeutend‘). Dem sind die Autosemantika (auto- zu griech. autós ,selbst‘) gegenüberzustellen, die für sich genommen eine sprachexterne Referenz herstellen können (in diesem Fall Mädchen, gehen usw.). In der deutschsprachigen Terminologie wird der Gegensatz von Autosemantikon und Synsemantikon auch mit dem Begriffspaar Inhaltswort vs. Funktionswort wiedergegeben. Dabei sind die Autosemantika bzw. Inhaltswörter als die prototyischen Vertreter der Kategorie ,Wort‘ anzusehen, während die Synsemantika bzw. Funktionswörter eher an deren Peripherie anzusiedeln sind. Für den Artikel das und die Konjunktion weil im Beispielsatz (5) gilt Vergleichbares wie für das Pronomen es. Ein Artikel kann nur in Verbindung mit einem Substantiv stehen und auch nur gemeinsam mit diesem eine Funktion einnehmen. Daher sind Artikel ebenfalls als Funktionswörter zu klassifizieren. Ähnlich verhält sich auch weil: Seine Bedeutung besteht lediglich darin, dass es zwei Sachverhalte miteinander in einen bestimmten Zusammenhang (in diesem Fall einen kausalen) stellt. Auch für Präpositionen, wie etwa zu (bzw. zum) in (5) gilt, dass sie nicht auf außersprachliche Gegenstände, sondern lediglich auf räumliche, zeitliche oder sonstige Verhältnisse von Gegenständen zueinander referieren. Präpositionen ohne Substantiv sind daher sinnlos. Und schließlich muss auch ist in (5) eher als Funktionswort denn als Inhaltswort beschrieben werden. Es drückt hier nur aus, dass einer Person (Mädchen) eine bestimmte Eigenschaft (erkältet) zukommt. Selbstständige Referenz hat es daher nicht. Neben der Referenzfunktion kann als weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen Inhalts- und Funktionswort das Kriterium der offenen bzw. geschlossenen Klasse (dazu allgemein Sasse 1993: 652) herangezogen werden, und zwar dahingehend, dass Funktionswörter tendenziell in geschlossenen Klassen, Inhaltswörter in offenen Klassen organisiert sind. Eine Klasse wird dann als geschlossen aufgefasst, wenn sie aus einer kleinen, im Regelfall nicht erweiterbaren Menge von einzeln benennbaren Elementen besteht. Diese können durch wohldefinierte Oppositionen voneinander abgegrenzt werden und bilden damit ein sog. Paradigma. Ein solches Paradigma stellen etwa die vier Kasus des Deutschen, die Hilfsverben sein, haben, werden, einzelne Gruppen von Konjunktionen oder die Fragepronomina wer, wie, wo, was dar. Im Gegensatz dazu ist eine offene Klasse eine im Prinzip unendliche Liste von Einzelelementen, die unter beliebigen Gesichtspunkten zusammengestellt werden können. Die Elemente einer offenen Klasse sind nicht oder nur in begrenztem Maße durch systematische

offene und geschlossene Klasse

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2. Das Wort als Gegenstand der Lexikologie

Oppositionen voneinander unterscheidbar, und offene Klassen können zudem problemlos neue Elemente integrieren. Die in diesem Abschnitt eingeführte Unterscheidung zwischen Inhaltswort und Funktionswort sollte für die Inhaltswörter nicht zu dem Fehlschluss verleiten, deren Bedeutung sei ganz und gar autonom und könne ohne Bezug auf die Bedeutungen anderer Wörter beschrieben werden – dies legt besonders der Terminus ,Autosemantikon‘ nahe. Schon aufgrund der Tatsache, dass Wörter nie isoliert, sondern immer gemeinsam mit anderen Wörtern vorkommen, wäre dies eine absurde Annahme. In welcher Weise freilich Inhaltswörter mit anderen Wörtern in Beziehung stehen können, ist in Kapitel 5 genauer darzulegen.

2.3.2 Wörter, Namen und Unika Nomina propria Nomina appellativa

Eigennamen (Nomina propria) wie Edith, Karl Marx, Wien oder Alexanderplatz verhalten sich in vielerlei Hinsicht wie ganz normale Wörter (Nomina appellativa): Sie können teilweise flektiert werden und/oder mit einem Artikel oder Determinativ stehen, sie können Grundlage für Wortbildungen sein und sie kommen sogar in Sprichwörtern und Idiomen vor: (6) die Straßen Berlins; der Präsident der Vereinigten Staaten; Leonoren einen Brief schreiben (älteres Neuhochdeutsch); die Callas; mein geliebtes Italien; Wir haben gestern die Sophie in der Stadt getroffen (umgangssprachlich). (7) Marxismus, marxistisch, Karl-Marx-Stadt; eine Wienerin; Goethe-Briefe (8) Leben wie Gott in Frankreich; wissen, wo Barthel den Most holt; Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

Unika

Im Hinblick auf ihre Semantik jedoch heben sich Namen von anderen Wörtern deutlich ab: Namen verweisen auf genau einen Referenten, während Wörter grundsätzlich auf eine ganze Klasse von Referenten Bezug nehmen. So kann das Wort Mädchen auf alle Personen angewandt werden, die sich durch bestimmte Eigenschaften auszeichnen (hier ,weiblich‘, ,jung‘ und ,ledig‘), während ein Name wie Edith prinzipiell nur für jeweils eine einzige Person gilt. Substantive wie Mädchen oder Haus können sich zwar ebenfalls auf genau einen Referenten beziehen. Dies ist allerdings grundsätzlich nur dann möglich, wenn eine Verbindung mit bestimmtem Artikel oder Demonstrativpronomen wie das Mädchen bzw. dieses Mädchen vorliegt. Die Einschränkung auf einen Referenen ist aber keine Eigenschaft des Wortes Mädchen, sondern eine Leistung des Artikels bzw. Determinativpronomens. Einen besonderen Fall stellen in diesem Zusammenhang die sog. Unika wie die Sonne, der Papst oder die Bundeskanzlerin dar. Hier existiert grundsätzlich nur ein einziger Referent. Dessen Einzigartigkeit ist jedoch nicht absolut wie beim Eigennamen, sondern abhängig vom sog. Diskursuniversum, in dem das Wort verwendet wird. So kann in einem astronomischen Diskurs oder in einem Science-Fiction-Roman sehr wohl von mehreren Sonnen die Rede sein, und man kann durchaus mehrere Päpste und künftig vielleicht auch mehrere Bundeskanzlerinnen in zeitlicher Abfolge aufzäh-

2.4 Das Wort und die sprachlichen Ebenen

len. Solche semantischen Unika haben also durchaus mehr mit prototypischen Wörtern gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheinen mag.

2.3.3 Einfache Wörter, Wortbildungen, Idiome Es dürfte einleuchtend sein, dass Wörter wie Herz, Haustür, laufen oder schön typischere Vertreter der Kategorie ,Wort‘ sind als z. B. Politikerinnenausflug, Bücherhasser oder lexikologiebegeistert. Die zuerst genannten Beispielwörter sind Einheiten, die in unserem Langzeitgedächtnis – man könnte auch sagen: in unserem mentalen Lexikon (Kap. 6.7) – gespeichert sind. Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um sprachliche ,Eintagsfliegen‘, um Wörter, die spontan gebildet und lediglich in bestimmten Kommunikationssituationen genutzt werden. Diese Augenblicksbildungen müssen wir uns nicht merken, und auch in den Wörterbüchern sind sie meist nicht verzeichnet. Den Kernbestand des Wortschatzes machen dagegen solche Wörter aus, die wir in vielen Kommunikationssituationen benötigen. Dabei handelt es sich zwar zu einem großen Teil um morphologisch einfache Wörter wie Herz oder laufen, sog. Simplizia (Plural zu Simplex oder verbum simplex). Aber auch Wortbildungen, und zwar sowohl Komposita wie Haustür als auch Derivationen/Ableitungen wie herzlich oder Herzlichkeit, gehören zum Bestand der häufig verwendeten und daher fest im Gedächtnis gespeicherten lexikalischen Einheiten – wir werden, wenn wir etwa das Wort Haustür verwenden, es kaum stets neu aus Haus und Tür zusammensetzen; es steht uns vielmehr bereits als fertige Einheit zur Verfügung. Nicht nur Wortbildungen wie Haustür oder herzlich, sondern auch Wortverbindungen wie frank und frei, ins Gras beißen, jemandem einen Bären aufbinden oder zittern wie Espenlaub stellen quasi ,gebrauchsfertige‘ lexikalische Einheiten dar – allerdings solche, die eine mehr oder weniger ausgeprägte syntaktische Struktur aufweisen. Man spricht hier von Idiomen oder Phraseologismen. Da Idiome als Ganzheiten im Gedächtnis gespeichert sind und sich in dieser Hinsicht nicht von einfachen Wörtern unterscheiden, hat man sie in der englischsprachigen Forschung nicht ganz zu Unrecht auch schlicht als „long words“ bezeichnet (dazu Dobrovol‘skij/Piirainen 2009: 59). Idiome können daher durchaus auch ein Forschungsgegenstand der Lexikologie sein.

Simplizia komplexe Wörter

Idiome als ,long words‘

2.4 Das Wort und die sprachlichen Ebenen Die oben geschilderten Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Wortbegriffs haben nicht zuletzt damit zu tun, dass man sich dem Gegenstand ,Wort‘ von unterschiedlichen sprachlichen Beschreibungsebenen her nähern kann. Je nachdem, ob man von der geschriebenen Sprache oder von der gesprochenen Sprache, von der Morphologie oder der Syntax ausgeht, kann man zum Teil zu sehr unterschiedlichen Antworten auf die Frage gelangen, was die kleinste Einheit innerhalb der Äußerungskette sei. So kann das Wort, wenn man es (wie zu Beginn des Kapitels vorgeführt) aus dem Blickwinkel der Graphematik betrachtet, schlicht als Folge von Buchstaben verstanden werden, die durch ein Spatium von anderen Buchstaben

graphematische und phonologische Wörter

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2. Das Wort als Gegenstand der Lexikologie

morphologische Wörter

syntaktische Wörter

Wortformen und -funktionen

getrennt ist. Auf dieser Ebene wären dann auch Abkürzungen wie Str., Hrsg. oder Akronyme wie Kfz, PS oder lol als Wörter zu beschreiben. Auf der Ebene der geschriebenen Sprache könnte die Worteinheit sogar schlicht mit dem Eintrag in einem Rechtschreibwörterbuch gleichgesetzt werden. Vom graphematischen bzw. orthographischen Wort wäre das phonologische Wort abzuheben. Dieses fiele dann im Deutschen mit der kleinsten Akzenteinheit zusammen: ,auf der 'Wiese wäre ebenso ein phonologisches Wort wie Donau'dampfschifffahrtskapitän oder siehste. Versucht man die kleinste selbständige Einheit der Morphologie zu bestimmen, könnte man alle Morpheme und Morphemkombinationen, die frei auftreten können, als morphologische Wörter bezeichnen. Solche wären etwa gehen, Haus und Schreibtisch (ebenso geht, Hause und Schreibtische), während es sich bei den nur gebunden vorkommenden Morphemen -lich und -keit dann nicht um morphologische Wörter handelte. Voraussetzung für den Ansatz eines so bestimmten morphologischen Wortes ist freilich eine Klärung des Morphembegriffs (s. dazu Pittner 2013: 49 f.). Als syntaktische Wörter sind schließlich die lexikalischen Einheiten zu verstehen, die durch den Satzzusammenhang bestimmt sind: Gehen und geht stellen nicht nur unterschiedliche Morphemkombinationen und damit unterschiedliche morphologische Wörter dar, sondern auch unterschiedliche syntaktische Wörter, weil die jeweilige Wortform durch Numerus und Person des Subjekts determinert ist (wir gehen vs. sie geht). Entscheidend für syntaktische Wörter ist allerdings, dass sie als reine Funktionseinheiten aufzufassen sind, die nicht notwendigerweise auch mit einer eigenen ausdruckseitigen Entsprechung einhergehen müssen (Linke/ Nussbaumer/Portmann 2001: 57; anders Meibauer et al. 2007: 17). So stehen der Wortform gehen gleich drei syntaktische Wörter gegenüber, nämlich die 1. Person des Plurals (wir gehen), die 3. Person des Plurals (sie gehen) und der Infinitiv (zu gehen). Sprachen wie das Deutsche sind besonders bei den Substantiven durch ein ausgeprägtes Missverhältnis zwischen Wortformen und Wortfunktionen gekennzeichnet: So drückt die Form Herzen gleich fünf unterschiedliche grammatische Wörter aus (den Dativ Singular sowie den Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ des Plurals). Dass diese sehr ungünstige Relation zwischen Form und Funktion unsere Kommunikation nicht behindert, mag auf den ersten Blick verwundern. Da das Deutsche syntaktische Funktionen aber gleichzeitig mit Hilfe eines Artikelsystems ausdrückt und da zudem die Stellung des Wortes im Satz Aufschlüsse über seinen syntaktischen Status erlaubt, ist diese Uneindeutigkeit gut zu verschmerzen – durch die Kombination mit einem Artikel dem, die, der, den Herzen wird diese Unklarheit behoben.

2.5 Der Wortbegriff der Lexikologie das Lexem

Vor dem Hintergrund der besonderen Ausformungen, die das Konzept Wort auf den unterschiedlichen Beschreibungsebenen annehmen kann, kann das Wort als Gegenstand der Lexikologie jetzt etwas schärfer gefasst werden.

2.5 Der Wortbegriff der Lexikologie

Ein lexikologisches Wort – man spricht auch von Lexem – stellt die Menge aller morphologischen und syntaktischen Wörter dar, die (1.) einen größtmöglichen gemeinsamen materiellen Bestand aufweisen und die (2.) derselben Wortart angehören. So sind die morphologischen Wörter Herz und Herzen als Vertreter eines lexikologischen Wortes Herz zu interpretieren, da beide hinsichtlich ihres morphologischen Materials weitgehend, d. h. bis auf die Endung -en, übereinstimmen und beide als Substantive zu klassifizieren sind – dies im Unterschied zu herzen in Sie herzte ihren Kater, das dann natürlich als ein eigenes Wort gilt. Auch die syntaktischen Funktionen, die sich mit den Formen Herz und Herzen verbinden, bilden ein zusammengehöriges Paradigma – das syntaktische Wort ist gewissermaßen nur die Rolle, in die ein und dasselbe Lexem je nach Satzzusammenhang schlüpfen kann. Das lexikologische Wort bzw. Lexem setzt das morphologische und syntaktische Wort zwar voraus, es ist damit aber noch nicht ausreichend bestimmt. Neben die Übereinstimmung im materiellen Bestand und in der Wortart muss auch so etwas wie eine semantische Übereinstimmung als weitere Eigenschaft des Lexems treten – denn selbstverständlich drücken Wörter Bedeutungen aus. An dem Beispiel Herz zeigt sich allerdings, dass die Bestimmung eines gemeinsamen inhaltlichen Bestandes nicht immer eine einfache Angelegenheit ist. Herz bezeichnet nicht nur das lebenswichtige Organ von Mensch und Tier, es kann auch allgemein für den Mittelpunkt, den innersten Bereich von etwas verwendet werden (Göttingen ist das Herz Südniedersachsens, die Praline hat ein Herz aus Marzipan). Dass die genannten Bedeutungen irgendwie zusammengehören, dass Herz trotz dieser Verschiedenheiten eine semantische Einheit darstellt, ist intuitiv kaum zu bezweifeln. Ebenso ist unmittelbar einzusehen, dass die grundlegenden Bedeutungen der Wortform Bank ,Sitzgelegenheit‘ vs. ,Geldinstitut‘ wesentlich weiter auseinanderliegen als die Bedeutungen von Herz; im Fall von Bank wird man daher eher von zwei unterschiedlichen Lexemen 1Bank und 2Bank ausgehen wollen – zumal der Plural nicht identisch ist (Bänke vs. Banken). Mit den Beispielen Herz und 1Bank/2Bank haben wir ein wichtiges Oppositionspaar eingeführt, mit dem wir uns noch ausführlicher zu befassen haben, nämlich das Gegensatzpaar Polysemie vs. Homonymie (zu griech. poly´s ,viel‘ und se¯ma ,Zeichen‘ bzw. homós ,gleich‘ und ónoma ,Name‘). Von Polysemie spricht man, wenn eine inhaltliche Gemeinsamkeit zwischen den Interpretationen einer Wortform konstruiert werden kann. Dies ist auch bei dem Beispiel Herz der Fall. Hier besteht insofern eine Ähnlichkeitsrelation zwischen den Bedeutungen, als der ,Mittelpunkt, der innerste Bereich von etwas‘ mit dem Organ ,Herz‘ als dem lebenswichtigen Zentrum des menschlichen Körpers in eine sinnvolle Vergleichbeziehung gesetzt werden kann. Für die Bedeutungen, die mit dem Ausdruck Bank verbunden sind, kann hingegen keine Relation postuliert werden, welche die Bedeutungen ,Geldhaus‘ und ,Sitzgelegenheit‘ miteinander verbindet. Hier spricht man daher von Homonymie. Dass 1Bank ,Sitzgelegenheit‘ und 2 Bank ,Geldhaus‘ in Bezug auf ihre Herkunft eng miteinander verwoben sind – bei 2Bank ,Geldhaus‘ handelt es sich um eine mittelalterliche Entlehnung aus ital. banca/banco ,Tisch der Geldwechsler‘ –, spielt für die Ent-

das Lexem als semantische Einheit

Polysemie und Homonymie

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2. Das Wort als Gegenstand der Lexikologie

scheidung, ob Polysemie oder Homonymie vorliegt, keine Rolle. Das Gegensatzpaar Polysemie versus Homonymie bezieht sich strikt auf das in einem bestimmten Zeitabschnitt (typischerweise einer Generation) zur Verfügung stehende Alltagswissen von Sprechern. Diese Unterscheidung ist daher nur in synchroner Perspektive sinnvoll. Wenn man das Kriterium der vorhandenen bzw. fehlenden Nähe zwischen den Bedeutungen einer Wortform als entscheidend für den Gegensatz zwischen Homonymie und Polysemie ansieht, begibt man sich allerdings auf unsicheres Gelände. Es bleibt noch zu klären, wie diese Nähe in nachvollziehbarer Weise bestimmt werden kann (s. dazu Kap. 4). Vorläufig genügt die Feststellung, dass im Fall von Polysemie einer Wortform (genauer gesagt: einem Wortformenparadigma) mehrere verwandte Bedeutungen entsprechen, während bei Homonymie einer Wortform mehrere nicht verwandte Bedeutungen gegenüberstehen. Für die Definition des Lexems ist dies insofern relevant, als im Fall von Polysemie ein Lexem mit zwei (oder mehr) Bedeutungen vorliegt, während bei Homonymie zwei Lexeme angesetzt werden.

2.6 Fazit Was ein Wort ist, kann trotz einer ganzen Reihe von Kriterien und Testverfahren, die die Sprachwissenschaft entwickelt hat, nur näherungsweise bestimmt werden. Diese Schwierigkeit hängt zum einen mit der Komplexität des Gegenstandes zusammen – die Frage, was ein Wort sei, kann aus unterschiedlichen Perspektiven, vor allem von den verschiedenen Beschreibungsebenen der Sprache her, jeweils unterschiedlich beantwortet werden. Ein zweiter Grund für das Definitionsproblem ist, dass ,Wort‘ ein Begriff aus der Alltagssprache ist. Ein solcher lässt sich nun einmal schwer in einen wissenschaftlichen Begriff überführen, ohne dass die eine oder andere intuitive Vorannahme revidiert oder verworfen werden muss. Wir haben uns daher im Weiteren mit einem Wortbegriff zu begnügen, der keinem streng wissenschaftlichen, nach notwendigen und hinreichenden Merkmalen bestimmbaren Terminus entspricht, sondern der zwischen zentralen und peripheren Vertretern der Kategorie unterscheidet und insofern Züge eines Alltagskonzepts trägt. Zum Zentrum der lexikologischen Kategorie ,Wort‘ gehören Inhaltswörter, und zwar vorzugsweise solche, die als Ganzheiten im Langzeitgedächtnis gespeichert sind. Funktionswörter, Namen, ad-hoc-Bildungen und Phraseologismen sind dagegen der Peripherie zuzurechnen. Als primären Beschreibungsgegenstand der Lexikologie haben wir hier das Lexem identifiziert. Darunter ist eine abstrakte Wortschatzeinheit zu verstehen, die in verschiedenen Wortformen und grammatischen Funktionen realisiert sein kann. Ein Lexem ist zudem Träger von Bedeutung, und zwar im Idealfall Träger einer einzigen Bedeutung bzw. eines eng zusammengehörigen Bedeutungskomplexes. Mit diesen Begriffsklärungen ist vorläufig eine Basis geschaffen, auf der wir Lexikologie als Wissenschaft vom Wort und Wortschatz betreiben können.

2.6 Fazit

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Lektürehinweise

Die einzelnen Tests zur Abgrenzung des Begriffs ,Wort‘, vor allem die Distributionstests, werden in dem Beitrag von Haspelmath (2011) ausführlich diskutiert. Hier geht es auch um die Frage, ob ein übereinzelsprachlicher Wortbegriff möglich ist. Dieses Problem wird auch in Dixon/Aikhenvald (2007) behandelt. Zur vertiefenden Lektüre empfohlen seien ferner Bauer (2000), Basbøll (2000) und Wurzel (2000). Wer sich für die Herkunft des Wortes Wort und vergleichbarer Ausdrücke anderer indogermanischer Sprachen (z. B. lat. verbum) interessiert, sei auf den Beitrag von Haebler (2002) sowie den etwas veralteten, aber immer noch sehr nützlichen Wörterbucheintrag in DSSPIL 1261 f. verwiesen.

- Übungsaufgaben 1. Zählen Sie a) die Wortformen, b) die syntaktischen Wörter, c) die Lexeme, die in den unterstrichenen Substantiven des folgenden Satzes enthalten sind: Hunde beißen Katzen, Katzen kratzen Hunde, Hamster tun Hunden und Katzen nichts zu Leide 2. a) Wort hat zwei Pluralformen: Worte und Wörter. Gibt es semantische Unterschiede zwischen beiden Formen? Wenn ja, welche? b) Informieren Sie sich in einem einschlägigen Wörterbuch (z. B. Pfeifer, 1DWB) über die Geschichte dieser Pluralformen. c) Überprüfen Sie anhand von Korpora (s. auch Kap. 8.5), durch Befragung von Sprechern oder durch eigene Beobachtung, wie beide Pluralformen heute verwendet werden. Was sagt das jeweilige Ergebnis über das alltagssprachliche Verständnis von ,Wort‘ aus? 3. In der Schreibung von Laien werden die Bestandteile von Komposita häufig durch Spatien getrennt: Susi‘s Frisier Boutique, erster Kindergarten Tag. Welche Aufschlüsse über das alltagssprachliche Wortverständnis erlauben solche „Fehler“? Tragen Sie dazu zunächst weitere Beispiele zusammen! 4. Diskutieren Sie, inwieweit es sich bei Lothar Matthäus in der Selbstaussage Ein Lothar Matthäus spricht kein Französisch noch um einen Namen handelt. Suchen Sie nach vergleichbaren Ausdrücken zur Unterstützung Ihrer Hypothese. Was bedeutet die Konstruktion „ein + Personenname“? 5. Adjektive stehen typischerweise nicht allein, sondern in Verbindung mit Substantiven. Legen Sie dar, ob es sich bei Adjektiven grundsätzlich um Synsemantika oder um Autosemantika handelt.

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3. Die Wortbildung Das Wort ist im vorangehenden Kapitel als Sprachzeichen eingeführt worden, das, wie jedes Zeichen, eine Formseite (Ausdrucksseite) und eine Inhaltsseite besitzt. Die Beschreibung der Inhaltsseite von Wörtern, die lexikalische Semantik, ist vielleicht die wichtigste Aufgabe der Lexikologie. Diese wird ihr jedenfalls von keiner anderen Disziplin abgenommen oder streitig gemacht. Die formalen Aspekte des Wortes werden hingegen zu einem großen Teil auch in anderen sprachwissenschaftlichen Disziplinen behandelt, d. h. in der Phonologie, der Morphologie und auch in der Syntax, und dies natürlich viel tiefgehender, als es der Lexikologie möglich ist. Daher können wir uns hier auf den wichtigsten Bereich, die Wortbildung, beschränken.

3.1 Grundformen der Wortbildung ein ,Bauplan‘ für Wörter

Grundtypen der Wortbildung

In der Morphologie (z. B. Vogel/Sahel 2013) lernt man, wie durch die Verfahren der Segmentierung und Klassifikation die Morpheme als die elementaren Bausteine von Wörtern ermittelt werden können. Ein brauchbarer ,Bauplan‘ für Wörter liegt damit allerdings noch nicht vor. Diesen liefert die Wortbildungslehre. Die Wortbildungslehre beschreibt, kurz gesagt, wie aus bestehenden Wörtern neue Wörter gebildet werden. Genauer müsste man allerdings sagen, dass die Wortbildung beschreibt, wie aus Morphemen neue Lexeme gebildet werden. Dass Morpheme und nicht Lexeme vorliegen, ist leicht einzusehen: Das Erstelement in Schreibarbeit ist das Basismorphem schreib-, nicht das Lexem schreiben (es heißt ja nicht *Schreibenarbeit). Dies im Hinterkopf behaltend, werden wir im Weiteren der Einfachheit halber trotzdem gelegentlich davon sprechen, dass ein Wort mit einem anderen Wort zusammengesetzt ist oder ein Wort von einem anderen abgeleitet ist, obwohl es korrekterweise ,Stamm‘, ,Verbalstamm‘ oder ,Nominalstamm‘ heißen müsste. Das am meisten genutzte Mittel der Wortbildung ist die Erweiterung eines Basismorphems, und zwar typischerweise entweder um ein weiteres Basismorphem (Tür > Haustür) oder um ein Affix (Mut > mut-ig). Etwas seltener gegenüber der Basiserweiterung ist die bloße Übertragung eines Basismorphems in eine andere Wortart (treffen > Treff), noch seltener die Kürzung (Omnibus > Bus) und die Vermischung (Kurlaub < Kur und Urlaub). Die im Einzelnen vorzustellenden Wortbildungsmuster lassen sich daher zunächst folgenden Grundtypen zuordnen:

3.2 Ausdruckserweiterung und -transposition

Abb. 1: Grundtypen der Wortbildung (vgl. auch Erben 2000: 29; Lühr 1986: 149)

Von der Wortbildung ist grundsätzlich die Wortschöpfung zu unterscheiden. Hier werden Wörter nicht auf der Grundlage bereits bestehender Wörter gebildet, sondern erfunden oder als Nachahmungen von Lauten geschaffen (Kuckuck, platsch, dingdong). Im letzten Fall spricht man auch von ,Onomatopoetika‘. Wortschöpfungen finden sich häufig in der Werbesprache, etwa bei Produktbezeichnungen (Koleos, Twix), oder in Literatur und Film (Warp, Ork).

3.2 Ausdruckserweiterung und -transposition 3.2.1 Die Komposition Wird ein Basismorphem an ein anderes gehängt, spricht man von Komposition (zu lat. componere ,zusammensetzen, -stellen‘). Meist werden Substantive miteinander verbunden: Haustür, Tischbein, Autodach, Regenschirm etc. Neben diesem äußerst produktiven Typus gibt es auch das Muster Adjektiv + Substantiv: Altmeister, Gutmensch. Auch Komposita mit adjektivischem Letztglied kommen in großer Zahl vor: stadtbekannt, knittersicher, hautfreundlich, stressgeplagt, deutsch-französisch, geistig-moralisch. Für verbale Komposita finden sich nur wenige Beispiele (vielleicht mähdreschen aus mähen und dreschen, s. dazu aber auch die unten angesprochene Rückbildung). Man kann folgende Typen von Komposita unterscheiden: – Determinativkompositum: Brautschuhe, Haustür, Schultasche, gehfähig, knittersicher. Hier bestimmt (determiniert) das erste Kompositionsglied (,Bestimmungswort‘) das zweite Glied (,Grundwort‘). Dabei gibt das Grundwort die Klasse an, der der jeweilige Gegenstand oder Sachverhalt zuzurechnen ist, durch den das gesamte Wort bezeichnet wird (Schuh, Tür, sicher usw.). Das Bestimmungswort dagegen spezifiziert die Subklasse, zu der das Gemeinte gehört: ,Haustür ist eine bestimmte Art von Tür‘ etc. Das Grundwort legt natürlich auch die grammatische Eigenschaften (Genus, Flexionsklasse) des gesamten Kompositums fest: Es heißt die Haustür nach Tür und nicht *das Haustür. Das Element -tür ist in diesem Fall also der sog. ,Kopf‘ des gesamten Wortes. Da der Kopf des Wortes bei deutschen Determinativkomposita immer das am weitesten rechts stehende Basismorphem ist, spricht man auch vom Prinzip der Rechtsköpfigkeit. – Rektionskompositum: Museumsbesucher, Käseverkäufer, Gemüsehändler, Kindererziehung, herzzerreißend. Hier steht das Bestimmungswort in

Wortschöpfung Onomatopoetika

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3. Die Wortbildung

einer syntaktischen Beziehung zum Grundwort: Ein Museumsbesucher ist ,jmd., der ein Museum besucht‘, wobei Museum als Objekt zu besucht fungiert, ein Gemüsehändler ,jemand, der mit Gemüse handelt‘, herzzerreißend ist ,etwas, das das Herz zerreißt‘ (vgl. Vater 1994: 87). – Possessivkompositum: Spatzenhirn, Grünschnabel, Leichtfuß, Weißkittel, Blauhelm, Rothemden. Hier wird zwar wie bei den Determinativkomposita das Letztglied durch das Erstglied bestimmt; die Bedeutung des Kompositums ist jedoch nicht ,Hirn eines Spatzen‘, ,grüner Schnabel‘ etc., sondern ,jemand, der ein Spatzenhirn, einen grünen Schnabel hat‘, ,jemand, der einen blauen Helm hat bzw. trägt‘. Wegen der für diesen Typus charakteristischen Möglichkeit einer Bedeutungsumschreibung mittels ,haben‘ spricht man hier von einem ,Possessivkompositum‘ (eine weiterführende Erörterung zu diesem Typus bietet Pittner 2013: 58). Während bei den drei bisher genannten Typen von Komposita ein Determinationsverhältnis zwischen Erst- und Letztglied vorliegt, zeigen die folgenden Bildungen eine anders geartete Relation zwischen den beteiligten Basen: – Kopulativkompositum: deutsch-französisch, schwarz-rot-gold, Marxismus-Lenismus, Dichterkomponist. Die Konstituenten sind gleichwertig und bilden eine semantische Addition. Im Unterschied zu den Determinativkomposita könnten die Konstituenten prinzipiell sogar umgestellt werden, ohne dass sich die Bedeutung änderte. – Zusammenrückung: Gernegroß, Habenichts, Schlagetot, Stelldichein, Vergissmeinnicht, Muttergottes, Gottseibeiuns, seinerzeit, imstande. Dieser Typus befindet sich im Übergang von einem Syntagma zu einem Wortbildungsprodukt. Die Zusammenrückung enthält daher oft noch syntaktische Spuren. So sind teils Flexionselemente erkennbar (seinerzeit, Vergissmeinnicht), und auch die Reihenfolge der Wörter entspricht häufig der Anordnung im Satz (Habenichts wie ich habe nichts). Produktivität

Die einzelnen Arten der Komposition sind unterschiedlich produktiv. Während die Determinativkomposition nahezu unbegrenzte Wortbildungsmöglichkeiten eröffnet, handelt es sich bei den Possessivkomposita und den Zusammenrückungen um Bildungsweisen, nach deren Muster nur relativ wenige neue Wörter gebildet werden.

3.2.2 Die Ableitung Die Zusammenfügung zweier oder mehrerer lexikalischer Stämme bildet die eine wichtige Art der Wortbildung. Sie ist gerade für das Deutsche kennzeichnend, im Gegensatz etwa zum Französischen oder Italienischen, die sich bei der Schaffung komplexer Ausdrücke eher syntaktischer Mittel bedienen (vgl. dt. Geschäftsmann vs. frz. homme d’affaires, ital. uomo d’affari). Die andere wichtige Art der Wortbildung ist die Ableitung (häufig auch ,Derivation‘ genannt). Bei der Ableitung wird ein neues Wort mit Hilfe von grammatischen Morphemen (schön > unschön, Fleisch > fleischlich, fleischlos) oder mittels einer Änderung der Basis gebildet (trinken > Trunk, werfen > Wurf), wobei das zuletzt genannte Muster nicht mehr produktiv

3.2 Ausdruckserweiterung und -transposition

ist. Auch Fälle, in denen nur die Wortart wechselt, ohne dass dies besonders gekennzeichnet wird, werden von manchen Sprachwissenschaftlern zur Ableitung gerechnet. Ableitungen mit Hilfe eines segmentierbaren grammatischen Morphems nennt man explizite Ableitungen. Hier gibt es: – Präfigierungen wie in missverstehen, unschön, erblühen, belabern; die Präfigierung dient meistens der semantischen Modifikation der Basis. Diese kann u. a. negiert werden (miss-, un-), es kann eine Differenzierung im Ereignisablauf (erblühen) oder auch ein anderes syntaktisches Verhalten ausgedrückt werden (transitives belabern gegenüber intransitivem labern). – Suffigierungen wie in Arbeiter, Freundschaft, tragbar, blödeln, sinnlos; die Suffigierung ist mit einem Wechsel der Inhaltskategorie verbunden: ,Handlung‘ (arbeiten) > ,handelnde Person‘ (Arbeiter), ,Individuum‘ (Freund) > Abstraktum (Freundschaft). Daher geht sie häufig mit einem Wechsel der Wortart einher. Es gibt aber auch Suffixableitungen, die innerhalb derselben Wortart verbleiben und eine semantische Modifikation der Basis enthalten: blau > bläulich. – Zirkumfigierungen wie in Absicht > be-absicht-igen, Aufsicht > be-aufsicht-igen, laufen > Ge-lauf-e.

explizite Ableitungen

Die implizite Ableitung wird ohne segmentierbares grammatisches Morphem gebildet und beinhaltet stets einen Wechsel der Wortart. Man unterscheidet

implizite Ableitung

– Ablautbildungen: springen > Sprung, binden > Band, werfen > Wurf, beißen > Biss (hierbei handelt es sich um ein heute unproduktives Muster), – Konversionen: treffen > Treff, Lärm > lärmen, weit > weiten, Feind > feind, – Transpositionen: treffen > das Treffen, hoch > das Hoch, auf und ab > das Auf und Ab. Es gibt einige umstrittene, aber auch sehr interessante Wortbildungstypen, die im Übergangsbereich zwischen Komposition und Ableitung anzusiedeln sind. Es handelt sich dabei um die Zusammenbildung, die Affixoidbildung sowie das Partikelverb: – Die Zusammenbildung umfasst Fälle wie Machthaber, Dickhäuter, blauäugig oder linkshändig. Im Unterschied zu den Determinativkomposita liegt hier eine Fügung vor, deren Letztglied kein Wort darstellt, das auch außerhalb der Bildung vorkommt (*Haber, *Häuter, *äugig, *händig). Daher kann es sich auch nicht um die Letztglieder eines Kompositums handeln. Eher ist von einer Art Ableitung auszugehen, in den genannten Fällen mit den Suffixen -er und -ig. Grundlage der Ableitung ist indes nicht, wie sonst üblich, ein Wort, sondern eine Gruppe von Wörtern, die in Sätzen häufig gemeinsam vorkommen und somit ein Syntagma bilden: Macht haben, blaue Augen usw. Zusammenbildungen treten allerdings nicht nur mit Suffixen auf. Teilweise kann auch eine lexikalische Basis die Zusammenbildung der Wortgruppe bewirken: Zahnputzglas, Minenräumboot, Mehrkornbrot.

zwischen Ableitung und Komposition

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3. Die Wortbildung

– Als Affixoide werden Erstglieder wie Riesen-, Bomben- oder sau- bzw. Letztglieder wie -werk bezeichnet, wenn sie reihenhaft vorkommen und nur eine relativ abstrakte Bedeutung tragen. So drückt Riesen- in Riesenspaß, -sauerei, -gewinn, -ärger lediglich eine Steigerung, ein hohes Maß aus; es hat nichts mehr mit dem Riesen aus dem Märchen zu tun. Das Element -werk in Astwerk, Buschwerk, Flechtwerk bedeutet lediglich ,eine große Menge‘ und ist mit -werk in Autowerk oder Bühnenwerk nicht vergleichbar (zur Forschungsdiskussion s. Fleischer/Barz 2012: 59–64). – Die Partikelverben umfassen Bildungen mit einem trennbaren Erstglied: aufblühen – sie blüht auf, anreichen – er reicht an. Neben den präpositionalen Partikeln kommen auch Substantive (teilnehmen, hohnsprechen) und Adjektive (schönreden, krankschreiben) als trennbare Elemente vor. Die präpositionalen Partikelverben leisten semantisch teilweise etwas Ähnliches wie Präfixableitungen (vgl. aufblühen und erblühen). Das Muster kann aber auch als spezielle Ausprägung der Determinativkomposition beschrieben werden, in diesem Fall mit einem verbalen Kopf: aufblühen wäre dann als ,eine Art zu blühen‘ zu deuten, ähnlich wie Haustür ,eine Art Tür‘ ist.

3.3. Kreuzungsbildungen Ein sehr spielerischer Wortbildungstyp ist die Wortkreuzung, auch ,Kontamination‘ oder ,Amalgamierung‘ genannt. Hier werden zwei Wörter, die ein gemeinsames Ausdruckselement und damit eine „Kreuzungsposition“ (Schulz 2004: 300) aufweisen, überblendet, so dass eine neue Worteinheit entsteht: (1) a. Kurlaub < Kur + Urlaub b. Kanonendonnergott < Kanonendonner + Donnergott (H. Heine) c. Teuro < teuer + Euro d. Denglisch < Deutsch + Englisch e. jein < ja + nein (Beispiele nach Schulz 2004: 301 f., Vater 1994: 98) Die Wörter, die in die Bildung eingehen, können vollständig erhalten sein wie in (a) und (b). Zum Teil ist aber auch nur eines der Ausgangswörter bewahrt wie im Fall von (c) und (d). Relativ selten sind Fälle wie jein, in denen beide Ausgangslexeme reduziert werden. Semantisch kann die Wortkreuzung eine Vermischung der beiden Ausgangsbedeutungen zum Ausdruck bringen: Denglisch ist eine Verquickung von Deutsch und Englisch, jein ist sowohl ,ja‘ als auch ,nein‘. Zum Teil werden aber auch ganze Aussagen in einer solchen Kreuzung verdichtet: Teuro ,der Euro macht alles teurer‘.

3.4 Kürzungsbildungen Ausdrucksseitig komplexe und besonders häufig verwendete Wörter werden gerne gekürzt: Bundesausbildungsförderungsgesetz > Bafög, allgemei-

3.4 Kürzungsbildungen

ner Studierendenausschuss > Asta, Kriminalpolizei > Kripo. Auch Namen von Parteien oder Firmen bestehen häufig aus Kürzeln (SPD, CSU, VW usw.). Deren Langform ist meist weniger üblich oder sogar nahezu unbekannt (so stand der Name der Schweizer Bank UBS ursprünglich für ,Union des Banques Suisses‘, heute gilt aber die Kürzung als internationaler Firmenname, ohne dass dieser noch als Abkürzung für eine andere Benennung aufgefasst wird). Die bisher genannten Kürzungsbildungen sind Akronyme: Sie enthalten entweder die Anfangsbuchstaben – Typ VW – oder die Anfangssilben – Typ Kripo – der betreffenden Ausgangswörter. Akronyme sind indes nicht nur Vertreter der jeweiligen „Vollversion“, sondern können, sofern sie geläufig sind, den Status eines eigenen Lexems haben. Dies zeigt sich daran, dass Akronyme teilweise auch Pluralformen haben, die bei ihren Ausgangswörtern nicht möglich sind: die LKWs, die VWs, gegenüber die Lastkraftwagen, die Volkswagen. Neben den Akronymen gibt es auch Kürzungen, die nur ein Segment, d. h. eine Silbe/Silbenfolge oder eine Konstituente, des Ausgangswortes bewahren, und zwar entweder das erste Segment (Universität > Uni, Oberkellner > Ober, Veloziped > schweiz. Velo ,Fahrrad‘) oder das letzte Segment (Omnibus > Bus, Wäschetrockner > Trockner). Man unterscheidet dementsprechend zwischen ,Kopfwörtern‘ und ,Schwanzwörtern‘. Als besondere Art der Kürzung ist hier noch die Rückbildung zu erwähnen. Sie liegt bei folgenden Beispielen vor: (2) sanftmütig < Sanftmut, unnatürlich < Unnatur, notlanden < Notlandung, zwangsversteigern < Zwangsversteigerung In diesen Fällen wird ein Suffix getilgt (hier -ig, -lich und -ung). Man kann den vorliegenden Wortbildungstyp daher auch als ,Subtraktion‘ bezeichnen (vgl. Fleischer/Barz 2012: 192). Es ist allerdings umstritten, ob der Rückbildung überhaupt ein Platz in der synchronen Wortbildungslehre zukommt. Sprecherinnen und Sprecher wissen in aller Regel nicht, dass Notlandung älter ist als notlanden und dass die Richtung der Wortbildung daher in diesem Fall nicht, wie üblich, vom Verb zum Nomen, sondern umgekehrt verläuft. Hier ist letzten Endes eine Analogie am Werk: Wir wissen, dass -ungAbleitungen grundsätzlich deverbal sind (beobachten > Beobachtung usw.), und rekonstruieren die im Fall von Notlandung fehlende Ableitungsgrundlage. Die synchron gültige Regel, dass man aus Verben -ung-Ableitungen bilden kann, ist damit aber nicht außer Kraft gesetzt: notlanden kann problemlos als Basis aufgefasst werden, zu der eine Ableitung Notlandung gebildet werden kann. Dass dies historisch nicht stimmt, hat für die Geltung der synchronen Ableitungsregel keine Bedeutung (zu weiteren Diskussion Fleischer/Barz 2012: 92 f.).

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Lektürehinweise

Für die Morphologie gibt es eine ganze Reihe von nützlichen Einführungen und Überblicksdarstellungen: Vogel/Sahel (2013) für einen ersten Über-

Akronyme

,Kopfwörter‘ ,Schwanzwörter‘

Rückbildung

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3. Die Wortbildung

blick, Booij (2012) für einen tiefergehenden Einstieg auch mit Rücksicht auf andere Sprachen. Speziell für die Wortbildung sind Erben (2000), Altmann (2010) und Fleischer/Barz (2012) geeignete Darstellungen. Einen sprachhistorischen Zugang zur Wortbildung eröffnet Henzen (1965).

- Übungsaufgaben 1. Bestimmen Sie den jeweils vorliegenden Wortbildungstyp. Wählen Sie dabei einen möglichst spezifischen Terminus. (a) Verblendung (f) Lachen (b) schwarz-rot-gold (g) Safttrinker (c) Schlitzohr (h) zugrunde (d) Zehnpfünder (i) Stabi (e) Ritt (j) Frauenversteher 2. Bestimmen Sie die Art der Ableitung: (a) Schnitt (b) Gehopse (c) Lauf (d) Laufen 3. Referieren Sie die Forschungsdiskussion zu den Affixoidbildungen in Fleischer/Barz (2012: 59–64). Stellen Sie Argumente zusammen, die für bzw. gegen die Annahme eines solchen Wortbildungstyps sprechen.

4. Die Inhaltsseite des Wortes 4.1 Das semiotische Dreieck Wörter sind Zeichen, und wie für alle Zeichen, so gilt auch für Wörter, dass sie etwas bedeuten. Was aber Wortbedeutung bedeutet – um auf den Titel von Ogden/Richards‘ Buch „The Meaning of Meaning“ (1923) anzuspielen – ist schwer fassbar, da Bedeutung keine physische Realität besitzt und wir ihrer im Gegensatz zur Form nur indirekt habhaft werden können. Wenn man etwa einem Kind erklären möchte, was ein Wort bedeutet, das es noch nicht kennt, z. B. Ballerina, dann muss man verschiedene ,Tricks‘ anwenden, um das Unsichtbare der Wortbedeutung ans Licht zu holen:

Denotation Konzept Gebrauchsbedingung

– Man kann auf den Gegenstand oder Vorgang zeigen, der mit dem Wort gemeint ist (,Die Person, die du gerade im Fernsehbild siehst, ist eine Ballerina‘). – Man kann eine Umschreibung (Paraphrase) formulieren, die als bereits bekannt vorausgesetzte Wörter enthält (,Eine Ballerina ist eine Balletttänzerin‘). – Man kann die Bedingungen angeben, unter denen das Wort gebraucht oder auch nicht gebraucht wird (,Ballerina sagt man, wenn eine Frau auf einer Bühne tanzt …‘). Diese drei Erklärungsstrategien lassen bereits die Vielschichtigkeit des Begriffs ,Bedeutung‘ erahnen: Darunter kann die Denotation, die Beziehung zwischen einem Ausdruck und einem Gegenstand in der Welt, dem sog. Referenten oder Denotat, verstanden werden. (Diese Denotationsbeziehung wird in dem oben angeführten Beispiel durch die Zeigegeste hergestellt.) Es kann aber auch ein Konzept, ein mentales Bild des Referenten gemeint sein, dessen wesentliche Merkmale in der Paraphrase formuliert sind. Die dritte Erklärungsstrategie, die Nennung der Gebrauchsbedingungen, enthält ebenfalls wichtige Merkmale des Referenten, fasst diese aber pragmatisch, d. h. auf die Verwendung des Zeichens in bestimmten Situationen bezogen (,Wenn in einer Situation die Merkmale X und Y gegeben sind, kannst du das Wort Z gebrauchen‘). Inwiefern Gebrauchsinformationen zur lexikalischen Semantik gehören oder ob sie etwas grundsätzlich Anderes sind, ist umstritten. Wir stellen die Pragmatik deshalb zurück und konzentrieren uns auf die Relation zwischen Referent, Konzept und Zeichenausdruck. Diese wird in Anlehnung an Ogden/Richards (1923) traditionellerweise als sog. semiotisches Dreieck modelliert (s. Abb. 2). Das semiotische Dreieck macht deutlich, dass Referent und Zeichenausdruck nicht direkt, sondern nur über die Vermittlung eines Konzepts aufei-

Relationen im semiotischen Dreieck

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4. Die Inhaltsseite des Wortes

Abb. 2: Semiotisches Dreieck (nach Ogden/Richards 1923)

Konzept und Referent

Intension vs. Extension

nander bezogen sind: Eine Form Haus und ein Ding ,Haus‘ haben nichts miteinander zu tun, es sei denn, sie werden im menschlichen Bewusstsein miteinander verbunden. Eine direkte Relation zwischen Ausdruck und Referent gibt es nur im Fall sog. deiktischer Wörter wie hier, da, jetzt, die gewissermaßen eine sprachliche Zeigegeste beinhalten (,deiktisch‘ ist von griech. deiknfflnai ,zeigen‘ abgeleitet). Deiktische Ausdrücke haben zwar eine Referenz, da Sprecherinnen und Sprecher mit ihnen auf eine außersprachliche Situation verweisen, aber es gibt kein Konzept ,hier‘, das unabhängig von der Situation, auf die jeweils verwiesen wird, beschrieben werden könnte (außer vielleicht in der Fachsprache der Philosophie). Die Unterscheidung von Konzept und Referent mag in manchen Fällen trivial erscheinen: Einem Konzept ,Haus‘ entspricht in der Dingwelt eben ein Referent Haus bzw. die Summe aller Häuser, die es in der Welt gibt. Wie wichtig diese Unterscheidung ist, zeigt sich vor allem an Ausdrücken, bei denen Konzept und Referent nicht in einer Eins-zu-Eins-Beziehung stehen. Das Paradebeispiel hierfür ist der Gegensatz zwischen den Wörtern Morgenstern und Abendstern. Beide beziehen sich auf den Referenten ,Venus‘, sie sind also referenzidentisch. In der Vorstellungswelt der Sprecherinnen und Sprecher liegen aber zwei Phänomene vor, nämlich der am Morgen vor oder in der Nähe der Sonne stehende Stern sowie der am Abend in der Nähe der untergegangen Sonne aufleuchtende Stern. Weitere Beispiele für die Notwendigkeit einer Differenzierung liefern Wörter wie Bundespräsident oder Pokalsieger. Das Konzept kann hier jeweils als etwas Konstantes beschrieben und z. B. auch im Wörterbuch nachgeschlagen werden – der Bundespräsident ist das repräsentative Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland, der Pokalsieger ist der Gewinner eines Fußballwettbewerbs. Der Referent kann in beiden Fällen jedoch wechseln, ohne dass dies an dem jeweiligen Konzept etwas ändert. Der Sprachphilosoph Rudolf Carnap hat für den hier angesprochenen Gegensatz das Begriffspaar Intension vs. Extension geprägt: Die Intension eines Ausdrucks umfasst das Konzept, das Sprecherinnen und Sprecher mit einem Ausdruck verbinden, die Eigenschaften, die diesem Ausdruck zugeschrieben werden. Die Extension eines Ausdrucks umfasst dagegen alle Referenten, die dieser Ausdruck bezeichnen kann, also die Klasse der Individuen, die diese Eigenschaft besitzt (Carnap 1954: 40). Zwischen Intension und Extension besteht ein interessantes umgekehrtes Korrelationsverhältnis, auf das bereits Carnap hingewiesen hatte: Je reichhaltiger die Intension eines Ausdrucks, desto kleiner ist die Klasse der Referenten (und umgekehrt). So ist die Intension von Mann reichhaltiger als die von Mensch, da Mann gegenüber Mensch durch zusätzliche Eigenschaften gekennzeichnet ist (nämlich ,männlich‘, ,erwachsen‘). Die Extension von

4.2 Denotation und Konnotation

Mann ist hingegen ,ärmer‘ als die von Mensch, da zur Klasse Mensch auch alle Frauen und Kinder gehören. Auf der Basis der Merkmalsemantik, die weiter unten im Abschnitt 4.5 eingeführt wird, kann die Intension präziser beschrieben und damit auch die hier angesprochene Korrelation zwischen Intension und Extension deutlicher herausgearbeitet werden.

4.2 Denotation und Konnotation Die Relevanz der Unterscheidung zwischen Konzept und Referent wird ferner – wenn auch auf andere Weise als durch den Gegensatz Morgenstern vs. Abendstern – durch Wortpaare wie Hund/Köter oder Polizist/Bulle belegt. Hier entsprechen einem Referenten ebenfalls zwei unterschiedliche Konzepte, weshalb die Wörter auch nicht in jedem sprachlichen Kontext gefahrlos durch das jeweils andere ersetzt werden können. Der wesentliche Unterschied besteht hier in einer dem Konzept inhärenten emotionalen Einstellung gegenüber dem Referenten. Dabei handelt es sich freilich nicht um subjektive, von Sprecher zu Sprecher variierende Einstellungen oder Wertungen. Diese sind vielmehr fest mit dem Konzept bzw. Wort assoziiert. In Abgrenzung von der Denotation bezeichnet man solche dauerhaft mit einem Wort verbundene Einstellungen oder Bewertungen als Konnotationen. Die Konnotation ist also – bildlich gesprochen – eine gefärbte Brille, mit der man auf einen Referenten blickt. Die Konnotation ist auch als ,Nebensinn‘ bezeichnet worden (Lewandowski 1976: 344), weil sie nur als eine Ergänzung zu der denotativen Bedeutung als dem eigentlichen Kern der Wortbedeutung zu sehen ist. Diese Auffassung greift allerdings zu kurz. Konnotationen können sehr wohl auch auf die Konzepte, die Kernbedeutungen durchschlagen, sie können diese durchdringen und überlagern (Schippan 1992: 157). So wird das Konzept ,Bulle‘ eher mit der Vorstellung eines Strafzettel austeilenden oder gar Demonstranten verprügelnden Beamten verbunden, während ,Polizist‘ in dieser Hinsicht neutral oder gar positiv besetzt ist. Konnotationen sind also nicht strikt von der Denotation zu trennen, da sie jeweils einen leicht abweichenden Wirklichkeitsausschnitt in den Blick nehmen. Der Begriff der Konnotation wird zuweilen auch etwas weiter gefasst, indem nicht nur Wertungen und Einstellungen, sondern sämtliche nichtdenotativen Aspekte der Wortbedeutung dieser Klasse zugeschlagen werden. So stellt nach Schippan (1992: 158 f.) beispielsweise auch die Markierung von Wörtern als jugendsprachlich (das fetzt), als regional gebunden (Lusche ,Spielkarte‘) oder als veraltet (Fernsprecher) eine Form der Konnotation dar. Dieses erweiterte Verständnis von Konnotation ist allerdings nur bedingt hilfreich, da verschiedene Dinge miteinander vermischt werden: Wenn man Konnotationen, wie wir es oben getan haben, mit unterschiedlichen Perspektivierungen eines Referenten gleichsetzt, so handelt es sich bei den von Schippan genannten Markierungen um etwas anderes: Ein etwa als regional markiertes Wort wie westmitteldeutsch Gummer für ,Gurke‘ enthält keine andere Perspektivierung des Referenten als das standardsprachliche Gurke, und ob man Fernsprecher oder Telefon sagt, ist für die jeweilige Referenz relativ gleichgültig.

,Nebensinn‘

Konnotation und Symptomwert

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4. Die Inhaltsseite des Wortes

Schippans erweiterter Konnotationsbegriff ist aber insofern berechtigt, als Konnotationen und die von ihr genannten Markierungen durchaus etwas gemeinsam haben: Sie verraten nämlich etwas über die Sprecherin/den Sprecher. Ebenso wie derjenige, der durch den Gebrauch des Wortes seine regionale Herkunft, seine Gruppenzugehörigkeit oder sein Alter zu erkennen gibt, lässt auch ein Wort wie Köter Rückschlüsse auf den Sprecher zu, in diesem Fall auf seine Einstellung gegenüber dem Referenten. Man kann daher Konnotationen und die sozialen und regionalen Markierungen eines Wortes durchaus zusammensehen. Im Rahmen des semiotischen Dreiecks lassen sich diese Gemeinsamkeiten freilich nicht beschreiben. Dazu muss man das Bühler‘sche Organonmodell der Kommunikation, das neben dem Zeichen auch ,Sender‘ und ,Empfänger‘ umfasst, heranziehen. (Da dieses Modell in nahezu jeder linguistischen Einführung thematisiert wird, verzichten wir hier auf weitere Erläuterungen und verweisen auf Pittner 2013: 12). Auf der Basis des Organonmodells können alle Eigenschaften von Wörtern, die etwas über den ,Sender‘ – seine soziale Stellung, seine Herkunft, seine Einstellungen usw. – verraten, als Symptome oder Symptomwerte beschrieben werden.

4.3 Onomasiologie und Semasiologie

Semasiologie vs. Onomasiologie

Der Schwerpunkt der lexikalischen Semantik liegt, wie noch weiter auszuführen sein wird, bei dem Verhältnis zwischen Form und Konzept. Dieses Verhältnis kann von zwei Richtungen aus betrachtet werden, nämlich von der Form ausgehend auf das Konzept bezogen sowie vom Konzept ausgehend auf die Form gerichtet. Im ersten Fall spricht man von semasiologischer Perspektive, im zweiten von onomasiologischer Perspektive.

Abb. 3: Onomasiologie und Semasiologie

Diese Differenzierung ist für die Lexikologie methodisch wichtig, da sie die Basis für zentrale Untersuchungs- und Darstellungsverfahren bildet. Eine semasiologisch orientierte Beschreibung liegt etwa einem normalen einsprachigen Bedeutungswörterbuch zugrunde. Hier wird zu einer Form (einem Lemma) das jeweilige Konzept geboten. Auf einer onomasiologischen Perspektive beruht dagegen etwa der sprachenübergreifende Wortschatzvergleich. Hier wird ausgehend von einem übereinzelsprachlich vorhandenen Konzept wie z. B. ,Schnee‘ nach den entsprechenden Ausdrücken der untersuchten Sprachen gefragt (s. auch Kap. 6.6). Auch wenn es sich bei Semasiologie und Onomasiologie um grundlegend zu unterscheidende sprachwissenschaftliche Perspektiven handelt, ergänzen sie sich doch in der Praxis. Wenn man bei einem sprachübergreifenden Wortschatzvergleich vom Konzept ausgehend nach den Wörtern

4.4 Konzept und Bedeutung

fragt, so setzt dies natürlich die Kenntnis der jeweiligen Wortbedeutungen voraus. Insofern liegt hier durchaus ein zirkuläres Verhältnis zwischen den beiden Untersuchungsmethoden vor.

4.4 Konzept und Bedeutung – sprachliches und enzyklopädisches Wissen Den Kern der Wortbedeutung macht nicht die Konnotation oder der Symptomwert aus; den Kern der Wortbedeutung bildet das, was wir oben als Konzept eingeführt, aber abgesehen von einigen elementaren Abgrenzungen noch nicht näher bestimmt haben. Bei der Spitze des semiotischen Dreiecks liegt in der Tat der größte Erklärungsbedarf. Die definitorische Schwierigkeit besteht hier in zweierlei Hinsicht: Zum einen wissen wir aus unserer täglichen Erfahrung, dass Wörter mehrdeutig sein können – Flügel bedeutet unter anderem ,Vogelschwinge‘, ,Seitentrakt eines Gebäudes‘ und ,Konzertpiano‘. Dies führt auf die Frage, ob es sich um ein Konzept handelt, das in verschiedenen Ausprägungen vorliegt, oder ob von drei verschiedenen Konzepten auszugehen ist, die durch einen gemeinsamen Bezug auf die Form Flügel miteinander verknüpft sind. Die zweite Herausforderung besteht darin, die Natur der Größe ,Konzept‘ zu klären. Wir werden uns erst dieser grundsätzlicheren Frage widmen, bevor wir uns mit der Frage ,ein Konzept – mehrere Konzepte?‘ beschäftigen. Man kann sich leicht darauf verständigen, dass es sich bei einem Konzept um eine prinzipiell stabile, irgendwie abgrenzbare Einheit in unserem Bewusstsein handelt (was nicht ausschließt, dass es auch temporäre, situationsspezifische Konzepte gibt). Nicht jedes Konzept muss indes als Bestandteil eines Sprachzeichens, als Inhalt eines Wortes auftreten. So verfügen wir zweifellos über ein Konzept ,Ich habe genug getrunken‘, ohne dass es ein eigenes Wort dafür gäbe (Versuche, in Analogie zu satt das Kunstwort sitt einzuführen, haben diese Lexikalisierungslücke übrigens nicht beseitigen können). Die Unterscheidung zwischen lexikalisierten und nicht-lexikalisierten Konzepten ist freilich noch nicht ausreichend. Bei den lexikalisierten Konzepten ist vielmehr feiner zu differenzieren zwischen sprachlich relevanten und sprachlich irrelevanten Aspekten. Wenn wir das Wort Haus verwenden, spielen große Teile unseres Wissens über Häuser kaum eine Rolle. Wissen darüber, dass Häuser ein- oder mehrstöckig, groß oder klein, aus Holz, Beton oder Naturstein gebaut sein können, ist für die korrekte Verwendung des Sprachzeichens Haus irrelevant. Wir müssen das gesamte Wissen über Häuser nicht jedes Mal aktivieren, um das Wort Haus korrekt auf einen Gegenstand beziehen zu können. Hierfür reicht schon ein vergleichsweise schmaler Ausschnitt aus, nämlich das Wissen, dass es sich um ein Gebäude handelt, in dem man wohnen oder auch arbeiten kann. Dieser Wissensausschnitt bildet die sog. lexikalische Bedeutung oder Kernbedeutung des Wortes Haus, von der der gesamte Wissensbestand über Häuser, das sog. Weltwissen oder enzyklopädische Wissen, abzugrenzen ist. Die Frage jedoch, wie diese Abgrenzung im Einzelnen vorzunehmen ist, wie genau sich lexikalisches Wissen und andere Formen des menschlichen

lexikalisierte vs. nicht-lexikalisierte Konzepte

lexikalische vs. enzyklopädische Bedeutung

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36

4. Die Inhaltsseite des Wortes

Wissens zueinander verhalten, wie Wortbedeutungen überhaupt beschrieben werden können, ist Gegenstand verschiedener Theorien und Beschreibungsmodelle, deren wichtigste im Anschluss kurz vorgestellt werden.

4.5 Beschreibungsmodelle 4.5.1 Strukturelle Merkmalsemantik Grundannahmen der Merkmalanalyse

Ein sehr einflussreicher Versuch, lexikalische Bedeutungen so präzise wie möglich zu beschreiben, ist die Merkmalsemantik (auch dekompositionelle Semantik, Komponenten- oder Semanalyse). Die Merkmalsemantik steht in der Tradition des linguistischen Strukturalismus; man bezeichnet diese Forschungsrichtung daher auch als Strukturelle Semantik. Vertreter der Strukturellen Semantik sind bestrebt, strukturalistische Analyseverfahren, wie sie sich besonders in der Phonologie bewährt haben, auch für die Beschreibung von Wortbedeutungen nutzbar zu machen. Wer bereits über Grundkenntnisse der Phonologie verfügt und mit den Begriffen Phonem, Phon und distinktives Merkmal vertraut ist, dem werden die Grundannahmen der semantischen Merkmalanalyse, die im Folgenden vorgestellt werden, zum Teil vertraut vorkommen: *

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*

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Zentral ist die Annahme, dass lexikalische Bedeutungen – analog zu den Morphemen und Phonemen bezeichnet man diese auch als Sememe – nicht die primären Einheiten der Semantik bilden. Sememe lassen sich vielmehr in elementare Bausteine, die sog. semantischen Merkmale (Seme), zerlegen. So kann die Bedeutung ,Frau‘ als Bündel der Merkmale (LEBEWESEN, MENSCHLICH, WEIBLICH, ERWACHSEN) beschrieben werden. Semantische Merkmale haben distinktive Funktion, sie grenzen Wortbedeutungen also voneinander ab. Durch das Merkmal WEIBLICH ist ,Frau‘ von ,Mann‘ abgrenzbar, durch das Merkmal ERWACHSEN von ,Mädchen‘ usw. Eigenschaften, die keine Unterscheidung bewirken, zählen nicht als semantische Merkmale. Es fällt zwar schwer, sich nicht-distinktive Eigenschaften vorzustellen, aber Merkmale wie [MIT DREITAGEBART] oder [MIT LEBERFLECK AUF DEM BAUCH] sind im Vergleich zu [ERWACHSEN] oder [MÄNNLICH] sicher weit weniger wichtig für unsere Einteilung der Welt. Die semantischen Merkmale sind, wie die Merkmale der Phonologie [€stimmhaft], [€plosiv] usw., binär angelegt. Jedes Merkmal stellt somit eine Ja-Nein-Entscheidung (€) dar. Die Bedeutungen ,Frau‘ und ,Mann‘ können danach beschrieben werden, ob die Merkmale (€LEBEWESEN, €MENSCHLICH, €WEIBLICH, €ERWACHSEN) gegeben oder nicht gegeben sind. Ähnlich wie bei den artikulatorischen Merkmalen [€stimmhaft], [€plosiv] ist auch für die semantischen Merkmale ein endliches Inventar anzunehmen, das im Prinzip sogar übereinzelsprachlich gültig ist. Die semantischen Merkmale sind, wie die artikulatorischen Merkmale prinzipiell auch, gleich gewichtet: So wie man nicht sagen kann, dass eines der Merkmale [€stimmhaft], [€plosiv], [€labial] für die Beschreibung des Phonems /b/ wichtiger wäre als die anderen, so hat man auch für semantische Merkmale prinzipiell von der gleichen Relevanz für die Bestimmung eines Semems auszugehen.

4.5 Beschreibungsmodelle

*

Eine weitere Gemeinsamkeit mit den phonologischen Merkmalen besteht darin, dass semantische Merkmale klassenbildend sind. So wie [+stimmhaft] die Phoneme {/b/, /d/, /g/, /z/ …} zu einer Klasse zusammenfasst, lassen sich auch mit Hilfe semantischer Merkmale einzelne lexikalische Bedeutungen einer Klasse zuordnen: (1) a. [–WEIBLICH] = {,Mann‘, ,Junge‘, ,Kater‘, ,Hengst‘, ,Stier‘ …}, b. [+WEIBLICH] = {,Frau‘, ,Mädchen‘, ,Katze‘, ,Stute‘, ,Kuh‘ …}

Die Beschreibung lexikalischer Bedeutungen mit Hilfe semantischer Merkmale hat bestimmten Regeln zu folgen: *

Zentral ist die Forderung, dass die Merkmalbeschreibungen notwendig und hinreichend sind. Diese Forderung ist nur durch (2a) erfüllt, nicht aber durch (2b) und (2c). (2) a. ,Frau‘ = [+LEBEWESEN, +MENSCHLICH, +WEIBLICH, +ERWACHSEN] b. *,Frau‘ = [+LEBEWESEN, +MENSCHLICH, +WEIBLICH] c. *,Frau‘ = [+LEBEWESEN, +MENSCHLICH, +WEIBLICH, +ERWACHSEN, +LANGHAARIG] Die Beschreibung in (2b) ist nicht hinreichend, da die Eigenschaft [+ERnicht spezifiziert ist und das Merkmalbündel daher auch für die Bedeutung ,Mädchen‘ stehen könnte. (2c) enthält dagegen mit [+LANGHAARIG] eine Komponente, die zur Bestimmung der Bedeutung ,Frau‘ nicht notwendig ist. [+LANGHAARIG] ist somit kein definierendes, sondern nur ein optionales Merkmal. In der Strukturellen Semantik werden indes nur die Merkmale, die notwendig und hinreichend und damit definierend sind, als sprachliche Bedeutungsmerkmale angesehen. Denn nur sie geben die exakten Bedingungen an, die gegeben sein müssen, damit ein Referent als Frau bezeichnet werden kann. Optionale Merkmale wie [+LANGHAARIG] werden dagegen dem Weltwissen zugeschlagen. Eine Merkmalbeschreibung setzt sich aus einem allgemeinen Klassenmerkmal (genus proximum, dem unmittelbaren Oberbegriff) und differenzierenden Merkmalen (differentia specifica, ,dem besonderen Unterschied‘) zusammen. So gehört ,Frau‘ zu dem Genusmerkmal [+LEBEWESEN]. Damit ist eine grundlegende „Arteinordnung“ geleistet (Römer/Matzke 2005: 121). Die untergeordneten Merkmale zu dieser Art (die differentiae specificae) sind [+MENSCHLICH, +WEIBLICH, +ERWACHSEN]. Eine wohlgeformte Merkmalbeschreibung hat diese Grundstruktur zu berücksichtigen und sollte daher in diesem Fall z. B. nicht etwa [+ERWACHSEN, +MENSCHLICH, +LEBEWESEN, +WEIBLICH] lauten, wie überhaupt alle Merkmale so angeordnet sein sollten, dass man vom jeweils Allgemeinen zum Besonderen voranschreitet, wie die Notation in (2a) zeigt. WACHSEN]

*

Wie bereits deutlich geworden sein dürfte, beschreibt die Merkmalsemantik Einzelwörter prinzipiell nicht isoliert, sondern in Relation zu anderen Wörtern. Das bringt schon das Konzept des distinktiven Merkmals sowie die Binarität „€“ mit sich. Eine der Stärken der Merkmalsemantik liegt daher in

Merkmalanalyse und Wortschatzbeschreibung

37

38

4. Die Inhaltsseite des Wortes

der Beschreibung einzelner Wortschatzausschnitte. Ein klassisches Beispiel hierfür sind die von Pottier (1963) untersuchten Bezeichnungen für Sitzgelegenheiten. Pottier stellt für diesen Bereich die folgende Merkmalmatrix auf (ursprünglich für das Französische, hier in der Übertragung auf das Deutsche): zum Sitzen

auf Füßen

für eine Person

mit Rückenlehne

mit Armlehne

Sofa

+

+



(+)

(+)

Sessel

+

+

+

+

+

Stuhl

+

+

+

+



Hocker

+

+

+





Tab. 1: Merkmalmatrix ,Sitzmöbel‘ in Anlehnung an Pottier (1978: 404) Archisemem

Die einzelnen Bedeutungen sind hier durch das Gegebensein oder Fehlen von Merkmalen exakt voneinander abgrenzbar. Den Merkmalen [ZUM SITZEN] und [AUF FÜSSEN] kommt insofern eine besondere Stellung zu, als sie bei allen Bedeutungen vorhanden sind. Innerhalb des Wortschatzausschnittes sind sie somit nicht distinktiv, sie grenzen aber den gesamten Wortschatzausschnitt nach außen hin ab. Man bezeichnet diesen kleinsten gemeinsamen Nenner eines Wortschatzausschnitts auch als dessen Archisemem.

[+ RÜCKENLEHNE] [+ ARMLEHNE] [? AUF FÜSSEN] [– GEPOLSTERT]

[+ RüCKENLEHNE] [– ARMLEHNE] [? AUF FÜSSEN] [+ GEPOLSTERT]

[+ RÜCKENLEHNE] [– ARMLEHNE] FÜSSEN]] [? AUF FÜSSEN [– GEPOLSTERT] GEPOLSTERT]

Abb. 4: Probleme der Merkmalsemantik – das Beispiel ,Stuhl' Probleme der Merkmalanalyse

Die Pottier‘sche Merkmalmatrix erscheint zunächst beeindruckend, da sie eine präzise gegenseitige Abgrenzung der Lexeme innerhalb des Wortschatzsausschnittes ermöglicht. Dass bei Sofa die Merkmale [MIT RÜCKENLEH-

4.5 Beschreibungsmodelle NE] und [MIT ARMLEHNE] optional und daher eingeklammert sind, während dieselben Merkmale bei den anderen Wörtern zum Bestand der obligatorischen Merkmale gehören, stellt eine gewisse Inkonsequenz dar, die man noch verschmerzen kann. Bei näherem Hinsehen stellt sich allerdings auch für andere Merkmale die Frage, ob deren Gegebensein bzw. Fehlen wirklich obligatorisch ist: Ist das Fehlen einer Armlehne wirklich ein notwendiges Merkmal für ,Stuhl‘? Jeder kennt Stühle, die sehr wohl eine Armlehne haben, ohne dass ihr ,Stuhlsein‘ deshalb zu bezweifeln wäre. Auch stellt sich die Frage, ob Stühle wirklich immer auf Füßen stehen, wie Abb. 4 veranschaulicht. Und was ist mit den kurzen Rückenlehnen, die es bei vielen Barhockern gibt? Auch diese sind ohne Zweifel Hocker. Streng genommen müssten also noch viel mehr Merkmale eingeklammert und damit als optional markiert werden. Auch fragt man sich, weshalb das Merkmal [+GEPOLSTERT] nicht in der Merkmalmatrix berücksichtigt ist: Für unsere Vorstellung von ,Sessel‘ und für die Abgrenzung von ,Sessel‘ gegenüber Stuhl‘ ist diese Eigenschaft zweifelsohne von Bedeutung. Pottiers Merkmalmatrix, so präzise sie auf den ersten Blick auch erscheinen mag, birgt somit grundsätzliche Probleme: *

*

*

*

*

*

Die Trennung zwischen obligatorischen und optionalen Merkmalen kann nicht konsequent durchgehalten werden. Die obligatorischen Merkmale sind nicht gleichwertig, wie Pottier annimmt, sondern müssen gewichtet werden: [ZUM SITZEN] ist für die Lexeme des Bereichs Sitzmöbel relevanter als [MIT FüSSEN]. Der Merkmalsemantik bereiten untypische Referenten erhebliche Schwierigkeiten: Ein Stuhl mit einem fehlenden Bein oder einer abgebrochenen Lehne kann von Sprecherinnen und Sprechern problemlos als Stuhl identifiziert werden; aus der Merkmalmatrix fallen solche untypischen Referenten allerdings heraus, da die angeblich definierenden Merkmale hier nicht gegeben sind. Die Merkmalsemantik vernachlässigt den Kontext, in dem eine Benennung erfolgt. Dass Kontexten unter Umständen eine wichtige Rolle für die Benennung zukommt, hat W. Labov (1973) nachgewiesen. In seinem berühmten Tassen-Experiment zeigt er, dass gerade Objekte im Übergangsbereich zwischen zwei Kategorien besser zugeordnet werden können, wenn Kontextinformation zur Verfügung steht. So kann das Gefäß ganz rechts in der Abb. 5, das Probanden mal als Tasse, mal als Schale identifizieren, wesentlich leichter benannt werden, wenn die Probanden den Inhalt kennen: Wird als Inhalt z. B. Kaffee angegeben, fällt die Entscheidung zugunsten von Tasse aus, ist der Inhalt Müsli, wird eher auf Schale getippt. Die Merkmalsemantik behandelt Lexeme als monoseme Einheiten. Die Mehrdeutigkeit von Lexemen kann auf ihrer Basis nicht beschrieben werden (Blank 2001: 19). Ob die Merkmale eine psychologische Realität besitzen, ist unklar (vgl. Lüdi 1985); möglicherweise werden Bedeutungen auch eher als Ganzheiten abgespeichert.

39

40

4. Die Inhaltsseite des Wortes

Abb. 5: Tassen-Experiment nach Labov (1973) (Aitchison 1997: 60)

4.5.2 Die komponentielle Semantik von Katz/Fodor (1963) generative Forschungstradition

Polysemie ,marker‘ und ,distinguisher‘

Modellierung von Selektionsrestriktionen

Parallel zur strukturalistischen Semantik europäischer Prägung hat sich auch in Nordamerika eine Tradition der komponentiellen Semantik herausgebildet. Diese war eng mit dem Forschungsprogramm der von Noam Chomsky begründeten generativen Grammatik verknüpft. Die generative Semantik von Katz/Fodor (1963) hatte dementsprechend das Ziel, die von Chomsky entwickelte syntaktische Komponente um ein semantisches Gegenstück zu ergänzen, die ,dictionary component‘. Input dieser semantischen Komponente sind von der syntaktischen Komponente generierte und mit Lexemen ausgefüllte Strukturen, die dann eine semantische Interpretation als Output ergeben. Interessant an der frühen Komponentialsemantik von Katz/Fodor ist, dass sie sich im Unterschied zum europäischen Strukturalismus auch intensiv mit dem Problem der Polysemie befasst (dazu auch ausführlich Abschnitt 4.6). Polyseme Lexeme werden in dem Modell von Katz/Fodor sukzessive in verschiedene Typen von Merkmalen zerlegt, wie das Stemma in Abb. 6 zu dem Beispielwort engl. bachelor zeigt. Allgemeinstes Merkmal ist dabei ein einfacher ,grammatical marker‘, der jedem Wort beigegeben ist und dessen Wortart angibt. Die weitere Analyse geht dann zu den ,semantic markers‘ über, die in runde Klammern eingeschlossen sind. Dabei handelt es sich um Kategorienmerkmale wie ,menschlich‘, ,männlich‘, ,weiblich‘ ,jung‘ ,alt‘. Die ,semantic markers‘ bilden laut Katz/Fodor eine geschlossene Klasse von Merkmalen, die angeboren und universal gültig sind. Von den Markern geht die Analyse in einem letzten Schritt zu den ,semantic distinguishers‘ über. Diese enthalten die gesamte restliche Information und somit das Idiosynkratische der Wortbedeutung. Katz/Fodor wollten mit diesem Merkmalkonzept unter anderem auch die Einschränkungen in der wechselseitigen Kombinierbarkeit von Wörtern, die sog. Selektionsrestriktionen, beschreiben. So ist das Verb speak mit bachelor in Lesart 1–3 kombinierbar, weil sowohl das Verb als auch die entsprechenden Bedeutungen das Merkmal (Human) aufweisen. Die Trennung der Merkmale in zwei Klassen erinnert an die Unterscheidung zwischen sprachlichen und enzyklopädischen Merkmalen, die im europäischen Strukturalismus à la Pottier (1963) angenommen wird. Die Version von Katz und Fodor ist allerdings insofern extrem, als die Klasse der ,semantic markers‘ sehr überschaubar gehalten ist. Insofern liegt hier ein

4.5 Beschreibungsmodelle

Abb. 6: Die Bedeutungen von engl. bachelor (nach Katz/Fodor 1963: 190)

stark reduktionistischer Ansatz vor. Und dass die Unterscheidung zwischen sprachlichen Markern und enzyklopädischen Distinguishern mit ähnlichen Problemen wie die Strukturelle Semantik der europäischen Tradition zu kämpfen hat, liegt auf der Hand (vgl. Geeraerts 2010: 113; zu weiteren kritischen Punkten Blank 2001: 24 f.).

4.5.3 Prototypensemantik All die grundlegenden Probleme der strukturalistischen Semanalyse sowie der generativen Semantik von Katz/Fodor haben dazu geführt, dass die Sprachwissenschaft nach alternativen Modellen der Bedeutungsbeschreibung gesucht hat. Besonders einflussreich war dabei die Prototypensemantik, die maßgeblich von der Psychologin Eleanor Rosch (1977) geprägt wurde. Es ist wichtig, gleich zu Beginn festzuhalten, dass die Prototypensemantik ursprünglich keine linguistische, sondern eine psychologische Theorie darstellt. Ihr Ziel ist ein besseres Verständnis der psychologischen Prinzipien, nach denen wir Referenten zu Kategorien zusammenfassen bzw. einzelne Referenten einer Kategorie zuordnen. Das Interesse der Prototypensemantik gilt somit vor allem der menschlichen Kategorisierung, erst in zweiter Linie der Sprache. Für die Struktur von Kategorien werden die folgenden Faktoren als ausschlaggebend angesehen: *

Kategorien verfügen über ein Zentrum und eine Peripherie sowie einen in der Regel mehrfach gestuften Zwischenbereich. Das Zentrum nimmt das Exemplar ein, das allgemein als der typischste Kategorienvertreter, als das beste Beispiel beurteilt wird. Dieses Exemplar wird als der Prototyp der Kategorie bezeichnet. Innerhalb der Kategorie VOGEL (so lautet das klassische Beispiel von Rosch) wäre z. B. der Spatz der Prototyp, während Pinguin oder Strauß eher randständige Kategorienvertreter sind; vgl. Abb. 7

psychologische und sprachliche Kategorien

Kategorienstrukturen

41

42

4. Die Inhaltsseite des Wortes

*

*

(hier entsprechend den Verhältnissen in Nordamerika mit dem Rotkehlchen als dem Prototyp der Kategorie). Ggf. kann das Zentrum auch eine Gruppe von mehreren Exemplaren umfassen (Spatz, Amsel, Rotkehlchen). Zwischen den Kategorien gibt es fließende Übergänge. Die Zugehörigkeit eines Referenten zu einer Kategorie ist daher oft keine Frage des ,Entweder-Oder‘, sondern des ,Mehr-Oder-Weniger‘. Hier herrscht also eine gewisse Unschärfe („fuzziness“). Mitglieder einer Kategorie lassen sich häufig nicht durch ein Merkmal oder ein Set von Merkmalen bestimmen, das allen gemeinsam ist. Stattdessen sind die Mitglieder einer Kategorie häufig durch eine Kette lokaler und sich vielfach überkreuzender Übereinstimmungen, die man mit Wittgenstein ,Familienähnlichkeiten‘ nennt, untereinander verbunden. Wittgenstein erläutert dieses Konzept anhand der Kategorie SPIEL: „Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir ,Spiele‘ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? (…) wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. (…) Schau z. B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele Gemeinsamkeiten verschwinden, andere treten auf. (…) Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. (…) Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ,Familienähnlichkeiten‘; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc.“ (Wittgenstein [1952] 1980: 56 f. [Nr. 66 und 67]).

Häufigkeit Vertrautheit Prägnanz

,Heckenausdrücke‘

Welcher Vertreter einer Kategorie zentral und welcher peripher ist, ist an bestimmte Bedingungen geknüpft. Ausschlaggebend für die sog. Prototypikalität ist vor allem die Häufigkeit und Vertrautheit des Referenten. Der Prototyp einer Kategorie kann daher auch von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein: In Europa ist der Spatz der prototypische Vogel, da er in der menschlichen Umgebung am häufigsten zu sehen ist; in Nordamerika ist dagegen das Rotkehlchen der häufigste Vogel und daher das prototypische Exemplar. Ein anderes Kriterium für Prototypikalität, das mit der Häufigkeit korreliert, ist die Prägnanz des Referenten (engl. saliency). Ein Referent ist umso prägnanter, desto klarer seine differenzierenden Eigenschaften zu Tage liegen. So ist z. B. ein Diebstahl ein prägnanteres und daher prototypischeres Verbrechen als etwa Rechtsbeugung oder Landesverrat, da der Gesetzesverstoß dort in der Regel offensichtlicher ist. In sprachlicher Hinsicht bilden Ausdrücke wie strenggenommen, eigentlich, irgendwie, eine besondere Art X, ein typischer X – sog. Hedges (,Heckenausdrücke‘) – eine interessante Möglichkeit, den Status eines Referenten als zentraler oder peripherer Kategorienvertreter explizit zu markieren, vgl. (3). Heckenausdrücke stellen damit einen alltagssprachlichen Test für Prototypikalität dar.

4.5 Beschreibungsmodelle

Abb. 7: Die Kategorie ,Vogel‘ (Aitchison 1997: 68)

(3) a. Eigentlich sind Pinguine Vögel. b. Strenggenommen ist ein Rasenmäher auch ein Fahrzeug. c. Das Schnabeltier in Australien ist eigentlich ein Säugetier, obwohl es Eier legt. d. Die Banane ist auch nur eine Art Nuss. e. Der Spatz ist der Vogel par excellence. Man kann mittels Heckenausdrücken auch Referenten, die hinsichtlich ihrer Kategorienzugehörigkeit ,Wackelkandidaten‘ darstellen, mal der einen und mal der anderen Kategorie zuschlagen: (4) a. Eigentlich ist der Wal ein Säugetier, weil er durch die Lungen atmet. b. Im weitesten Sinne ist der Wal ein Fisch, weil sein Lebensraum das Meer ist. Heckenausdrücke belegen also weniger, dass Kategoriengrenzen unscharf („fuzzy“) sind, wie die Grundthese der Prototypensemantik lautet, als vielmehr, dass sie je nach Bedarf flexibel gezogen werden können (vgl. Blank 2001: 49). Die prototypische Struktur von Kategorien stellt insofern eine sehr ökonomische Organisation des menschlichen Wissens dar, als wir nicht die

kognitive Ökonomie ,cue validity‘

43

44

4. Die Inhaltsseite des Wortes

Experten- und Laienkategorien

gesamte Kategorie, sondern nur den Prototypen im Bewusstsein präsent haben müssen, wenn wir einen unbekannten Referenten einer Kategorie zuzuordnen haben. Dieser muss nicht mit der gesamten Kategorie, sondern lediglich mit deren Prototyp abgeglichen werden. Je größer der Wiederkennungswert einer Eigenschaft (deren cue validity) ist, desto leichter kann ein unbekannter Referent kategorisiert werden. Für die Kategorie VOGEL z. B. ist die Eigenschaft ,kann fliegen‘ ein Merkmal mit sehr hoher cue validity, für die Kategorie FISCH die Eigenschaft ,lebt im Wasser‘. Freilich sind nicht alle menschlichen Kategorien prototypisch organisiert. Hier ist zwischen Experten- und Laienkategorien zu unterscheiden (,folk categories‘ vs. ,expert categories‘, vgl. Taylor 1995: 68). Kategorien von Wissenschaftlerinnen und Fachleuten, von Experten einer bestimmten Wissensdomäne, sind im Idealfall durch notwendige und hinreichende Eigenschaften definiert. Nur so genügen sie dem Anspruch möglichst großer Genauigkeit, der für die Kategorienbildung in spezialisierten Wissensdomänen maßgeblich ist. Expertenkategorien können daher mit den strikten Definitionen der strukturalistischen Merkmalanalyse in der Regel gut erfasst werden. Eine prototypische Struktur weisen dagegen vor allem die Alltags- oder Laienkategorien auf, da es im Alltag weniger um Exaktheit, als vielmehr um eine ökonomische konzeptuelle Organisation und schnelle Einordnung neuer Referenten geht. Zu vielen Klassen von Referenten bestehen somit parallele Kategorien: So basiert die Laienkategorie ,Wasser‘ auf dem Wissen, dass es sich um eine trinkbare und farblose Flüssigkeit handelt. Die entsprechende Expertenkategorie umfasst dagegen das Wissen, dass die chemische Verbindung H2O vorliegt. Der Sprachphilosoph Hilary Putnam hat in diesem Zusammenhang von der linguistischen Arbeitsteilung (,linguistic division of labor‘) innerhalb einer Sprachgemeinschaft gesprochen:

linguistische Arbeitsteilung

„Jede Sprachgemeinschaft weist die eben beschriebene Art von sprachlicher Arbeitsteilung auf, das heißt, sie verwendet wenigstens einige Ausdrücke, für die gilt: Die mit diesen Ausdrücken verknüpften Kriterien kennt jeweils nur eine Teilmenge der Menge aller Sprecher, die diesen Ausdruck beherrschen, und ihre Verwendung durch andere Sprecher beruht auf einer spezifischen Kooperation zwischen diesen und den Sprechern aus den jeweiligen Teilmengen“ (Putnam 1979: 39).

Stereotypen

Das Wissen über einen Referenten, das für die Kommunikation im Alltag ausreicht, bezeichnet Putnam als ,Stereotyp‘ (ohne dass mit diesem Begriff eine Wertung verbunden wäre). Putnams Terminus Stereotyp ist zwar verwandt mit dem hier eingeführten psychologischen Begriff des Prototyps, Putnam macht damit allerdings keine Aussage über die interne Strukturierung von Konzepten, sondern beschreibt Wissensbestände als soziale Phänomene. Roschs Prototypen und Putnams Stereotypen sind also trotz einer gewissen Überschneidung auseinanderzuhalten. Im Gegensatz zu den Expertenkategorien gehören Laien- bzw. Alltagskategorien normalerweise einer mittleren begrifflichen Ebene an, die man auch als Basisebene bezeichnet. Der Terminus ,Basisebene‘ ist insofern aber etwas verwirrend, als damit gerade nicht die unterste Ebene in einer Konzepthierarchie gemeint ist, sondern die Ebene, die grundlegend für die

Basisebene

4.5 Beschreibungsmodelle

Kategorisierung ist. Welche Position die Basisebene in einer Hierarchie der Kategorien einnimmt, macht die folgende Abbildung deutlich:

Abb. 8: Ebenen der Kategorisierung

Die Kategorien der Basisebene wie Vogel, Fisch, Pferd oder Hund sind psychologisch grundlegend, weil sie genau die Portion an Information enthalten, die für die Kategorisierung eines Referenten erforderlich ist – nicht mehr und nicht weniger. Basiskategorien fassen die herausragendsten, prägnantesten Eigenschaften der jeweiligen Kategorie zusammen und grenzen diese zugleich hinreichend deutlich von den anderen Kategorien derselben Ebene ab: So gilt z. B. für den Fisch ,schwimmt im Wasser‘, für den Vogel ,kann fliegen‘, und diese Eigenschaften sind klar unterschieden, da beides zugleich nur selten der Fall ist (außer bei fliegenden Fischen). Die Differenzen auf der spezifischen Ebene hingegen fallen nicht immer derart unmittelbar ins Auge: Wer die Unterschiede zwischen Barsch, Kabeljau und Dorsch benennen will, muss schon etwas länger nachdenken. Die Basiskategorien zeichnen sich durch eine Reihe weiterer bemerkenswerter Eigenschaften aus: – Sie stellen die abstrakteste Kategorie dar, für die noch eine Bildvorstellung zur Verfügung steht. – Sie werden im Spracherwerb in der Regel früher als die Kategorien der anderen Begriffsebenen erlernt. – In den meisten Situationen sind sie die angemessenste Benennung für einen Referenten (Schau mal, da sitzt ein Vogel! ist in der Regel angemessener als Schau mal, da sitzt ein Tier!). – Die Wörter für Basiskategorien sind häufig morphologisch einfach, während sich sowohl auf der übergeordneten wie auf der untergeordneten Ebene mehr Komposita und Ableitungen sowie mehr Fremdwörter finden (vgl. Fleischfresser – Hund – Golden Retriever). – Dem entspricht, dass die Wörter für Basiskategorien häufig auch sprachgeschichtlich älter sind. – Ferner gilt, dass die Basiskategorien gegenüber Kategorien der anderen Ebene eine stärker ausgeprägte Prototypenstruktur aufweisen: Nach dem Prototyp der Kategorie VOGEL oder HUND zu fragen, ist sinnvoll, den Prototyp von TIER oder von RINGELTAUBE ermitteln zu wollen, ist dagegen wesentlich schwieriger und weniger erfolgversprechend. Gerade ein Blick auf die Basiskategorien macht noch einmal deutlich, dass die Prototypentheorie vor allem eine Theorie über die Struktur von Alltagskonzepten ist, weniger eine Theorie über das Wissen von Spezialisten, für

Prototypensemantik und Sprachwissenschaft

45

46

4. Die Inhaltsseite des Wortes

das ja eher die übergeordnete bzw. spezifische Ebene von Bedeutung ist. Da auch die Sprachwissenschaft primär an der Alltagssprache, dem durchschnittlichen Sprachgebrauch interessiert ist, erweist sich die Prototypensemantik als fruchtbare Anregung. Fragt man indes etwas genauer nach dem Erkenntniswert dieser psychologischen Theorie für die lexikalische Semantik, muss man festhalten, dass wesentliche sprachwissenschaftliche Fragen unbeantwortet bleiben. So haben wir zwar gelernt, dass die strukturalistische Beschreibung von Wortbedeutungen mittels notwendiger und hinreichender Merkmale zu kurz greift. Gleichwohl wissen wir immer noch nicht, welche Art der Bedeutungsbeschreibung an die Stelle der Merkmalanalyse treten soll. Der Begriff des Prototyps, wie ihn die Psychologie fasst, ist dabei nur bedingt hilfreich – zwar mag der Spatz der Prototyp der Kategorie VOGEL sein, aber die Bedeutung des Wortes Vogel mit ,Spatz‘ angeben zu wollen, wäre absurd. Der Erkenntnisgewinn der Prototypensemantik besteht eher darin, dass wir die Bedeutungsbeschreibung mittels semantischer Merkmale nun plausibler und vor allem mit mehr Aussicht auf eine psychologisch realistische Modellierung gestalten können. Immerhin gesteht ja auch die Prototypensemantik einzelnen Merkmalen eine wichtige Rolle bei der Kategorisierung zu. Wir können daher durchaus weiterhin eine merkmalsemantische Beschreibung praktizieren, wenn wir einige Erkenntnisse aus unserer Beschäftigung mit der Prototypensemantik beherzigen: – Eine strikte Trennung von definierenden bzw. sprachlichen Merkmalen auf der einen und optionalen bzw. enzyklopädischen Merkmalen auf der anderen Seite ist nicht möglich. – Bei der Beschreibung von Wortbedeutungen sind einzelne Merkmale je nach Kontext suspendierbar, sie beanspruchen somit keine absolute Gültigkeit für sämtliche Kontexte (wie z. B. das Merkmal ,mit Lehne‘ für den kaputten Stuhl). – Merkmale sind nicht absolut gleichwertig, sondern sind hinsichtlich ihrer Unterscheidungskraft zu gewichten (so ist z. B. ,kann fliegen‘ besonders charakteristisch für die Bedeutung von Vogel, ,hat Krallen an den Füßen‘ weniger). – Unterschiedliche Wörter erfordern zum Teil auch unterschiedliche Beschreibungen – Wörter, die für Alltags- bzw. Laienkategorien stehen, sind anders zu behandeln als Wörter für Expertenkategorien.

4.6 Mehrdeutigkeit 4.6.1 Vagheit, Polysemie und Homonymie Die Frage, wie man Wortbedeutungen beschreiben kann, ist auf das Engste mit einer anderen Frage verknüpft, nämlich wie man mit der Mehrdeutigkeit von Wortbedeutungen umzugehen hat. Dass Wörter mehrdeutig sein können, gehört zu ihrer Natur, daher ist diese Frage nicht unwichtig. Die im letzten Abschnitt vorgestellten Theorien und Modelle der Wortbedeutung haben sich mit dem Problem der Mehrdeutigkeit (wenn überhaupt) nur am Rande befasst. Daher sei hier noch einmal eigens auf diesen Komplex eingegangen.

4.6 Mehrdeutigkeit

Bei dem Begriff ,Mehrdeutigkeit‘ mag man zunächst an eine störende Unklarheit, ein Missglücken der Kommunikation denken. Was hier im Folgenden als Mehrdeutigkeit näher bestimmt werden soll, ist allerdings alles andere als ein Defekt, sondern stellt eine ganz normale sprachliche Erscheinung dar. Der Begriff ,Mehrdeutigkeit‘ ist allerdings selbst mehrdeutig, wie die im Anschluss zu besprechenden Beispiele zeigen. Wir haben uns also zunächst Klarheit darüber zu verschaffen, welche Arten von Mehrdeutigkeit es gibt und wie diese voneinander abzugrenzen sind; vgl. dazu zunächst das Verwendungsspektrum von Kopf in den folgenden Beispielen:

Arten der Mehrdeutigkeit

(5) a. Peter fasst sich an den Kopf. b. Der Henker schlug Störtebeker den Kopf ab. c. Nach der schlaflosen Nacht schmerzt Susannes Kopf. d. Bei dieser antiken Statue fehlt der Kopf. Intuitiv würden wir hier wohl davon ausgehen, dass das Kopf in diesen vier Beispielen durchgehend dieselbe Bedeutung hat, dass das Wort hier also nicht mehrdeutig, sondern eindeutig ist. Der Grund für die Intuition, dass hier keine oder allenfalls eine minimale Mehrdeutigkeit vorliegt, ist darin zu sehen, dass in allen vier Fällen die gleiche Referentenklasse vorliegt – ein ,Körperteil, das auf den Schultern sitzt‘. Wenn man genauer hinsieht, sind indes sehr wohl unterschiedliche Bedeutungsnuancen zu entdecken: Kopf ist zwar durchgehend ein Körperteil, aber es werden unterschiedliche Aspekte betont. So ist mit Kopf in (5a) streng genommen nur ein Teil des Kopfes gemeint, nämlich die Stelle, die mit den Händen berührt wird. In (5b) ist dagegen vom Kopf als Ganzem die Rede. In (5c) geht es lediglich um das Innere des Kopfes, das Quelle einer Schmerzempfindung ist. In (5d) liegt, wie in (5b), Kopf als Ganzheit vor; allerdings ist hier von einem peripheren Vertreter der Kategorie KOPF auszugehen, da dem Referenten die zentralen Merkmale ,belebt‘ und ,beweglich‘ fehlen (s. auch Blank 2001: 109 zu einem analogen Beispiel). Während man in (5) nach semantischen Unterschieden suchen muss (und diese dann aber auch findet), ist für (6) auf den ersten Blick klar, dass hier eine Verwendung von Kopf vorliegt, die nicht mit den Gebräuchen in (5) vergleichbar ist. Die Unterschiede innerhalb der Beispiele in (5) erscheinen gegenüber dem Kontrast zu (6) als vernachlässigbar: (6) Peter ist der Kopf der Bande. Dass wir in (6) einen deutlichen Gegensatz gegenüber (5) wahrnehmen, liegt daran, dass Kopf hier eine andere Referentenklasse bezeichnet: Kopf ist ein ,Anführer‘, also eine Person mit einer bestimmten Funktion, kein Körperteil. Die Mehrdeutigkeit in (5), die innerhalb der Grenzen einer Referentenklasse verbleibt, wird Vagheit oder auch Kontextvarianz genannt. Geht die Mehrdeutigkeit hingegen mit einem Wechsel der Referentenklasse einher wie im Fall von (6) gegenüber (5), so spricht man von Polysemie. Im Fall einer Polysemie haben die Wortbedeutungen somit eine jeweils deutlich unterschiedliche Extension, bei Vagheit variiert die Extension nur minimal.

Vagheit Kontextvarianz Polysemie

47

48

4. Die Inhaltsseite des Wortes Polysemie vs. Homonymie

Da Polysemie sich durch deutlich unterschiedene Referentenklassen auszeichnet, wären auch die Wortverwendungen in (7)–(9) als Fälle von Polysemie zu beschreiben: (7) (8) (9)

(partielle) Homonymie

a. Susanne setzt sich im Park auf eine Bank. b. Susanne geht zur Bank, um Geld abzuholen. a. Die Familie besichtigt das Schloss. b. Der Einbrecher knackt das Schloss. a. Das Mädchen macht sich einen Reif ins Haar. b. Die Wiese war morgens von Reif bedeckt.

Wie wir bereits in Kapitel 2 gesehen haben, werden die Unterschiede in (7)– (9) jedoch allgemein unter den Begriff ,Homonymie‘ gefasst. Homonymie und Polysemie haben gegenüber der Vagheit somit die Eigenschaft gemeinsam, dass die betreffenden Wortverwendungen sich auf distinkte Klassen von Referenten beziehen. Was Polysemie und Homonymie unterscheidet, wurde ebenfalls in Kapitel 2 bereits angedeutet: Zwischen den Bedeutungen eines polysemen Wortes besteht eine (wie auch immer zu definierende) semantische Nähe, zwischen zwei Homonymen jedoch nicht. Im Fall von Homonymie wird daher von zwei eigenständigen Lexemen ausgegangen, in unserem Beispiel also 1Bank und 2Bank, 1Schloss und 2Schloss, 1Reif und 2Reif. Bevor wir auf das Problem der semantischen Nähe eingehen, noch ein paar Bemerkungen zur Homonymie: Wenn neben dem Fehlen einer semantischen Beziehung auch die ausdrucksseitige Übereinstimmung der betreffenden Wortformen Kriterium für Homonymie ist, bedarf der zuletzt genannte Punkt einiger Differenzierung. Die ausdrucksseitige Übereinstimmung betrifft in manchen Fällen, die herkömmlicherweise als Homonymien betrachtet werden, nur einen Teil des Flexionsparadigmas (im Wesentlichen die Nennform, d. h. den Nominativ Singular). Eine solche Abweichung zeigt das Beispielpaar 1Bank/2Bank. Es weicht von 1Schloss/2Schloss insofern ab, als die Formengleichheit hier nur im Singular besteht, während im Plural zwischen 1Bank und 2Bank differenziert wird: (10)

1

Bank (Sing.) – die Bänke, der Bänke, den Bänken, die Bänke (Plur.) Bank (Sing.) – die Banken, der Banken, den Banken, die Banken (Plur.)

2

Homographie Homophonie

Fälle wie 1Bank und 2Bank, die nur in bestimmten Positionen des Flexionsparadigmas (vorzugsweise in der Nennform) ausdrucksseitig übereinstimmen, kann man daher als partielle Homonyme von den eigentlichen Homonymen wie 1Schloss/2Schloss abgrenzen, deren Formen im gesamten Flexionsparadigma identisch sind. Zu den partiellen Homonymen gehören auch Lexeme, die sich nur durch ihr Genus unterscheiden: der Kiefer/die Kiefer, der Leiter/die Leiter. Lexeme mit unterschiedlicher Wortart (reif/Reif) werden dagegen in der Regel nicht zur Homonymie gerechnet, auch nicht zur partiellen Homonymie. Die Homonyme, die wir bisher als Beispiele angeführt haben, sind gleichzeitig auch Homographen (zu griech. gráphein ,schreiben‘) – natürlich nur, sofern ihre Flexionsformen gleich sind. Daneben gibt es aber auch Homographen, die keine Homonyme sind, weil sie nur in der Schreibung,

4.6 Mehrdeutigkeit

e

nicht aber hinsichtlich ihrer Lautung übereinstimmen: Montage ['mo:nta:g ] und Montage [m n'ta:Ç ]. Von den Homographen sind schließlich die Homophone zu unterscheiden (zu griech. pho¯ne¯´ ,Stimme‘), die gleich gesprochen, aber unterschiedlich geschrieben werden: leeren und lehren, Seite und Saite. (In diesen beiden Fällen stimmen auch die Flexionsparadigmen überein.) Die Tabelle 2 bietet einen Überblick über die einzelnen Formen der ausdrucksseitigen Übereinstimmung. e

c

lautliche Identität

Identität der Schreibung

Identität der Flexion/ des Genus

Homonymie

+

+

+

partielle Homonymie

+

+



Homographie



+

(+/–)

Homophonie

+



+

Tab. 2: Ausdrucksseitige Übereinstimmungen

Die Unterscheidung zwischen Homonymie oder Polysemie wird zuweilen auf der Basis etymologischer Kriterien getroffen (Schlaefer 2009: 9, 186). Dies ist jedoch nicht sinnvoll, da die Begriffe Polysemie und Homonymie synchrone Erscheinungen darstellen. Die synchrone und die diachrone Perspektive auf Sprache können zwar verbunden werden, sie sollten aber dabei grundsätzlich nicht vermischt werden. Betrachtet man die Diachronie der Homonymie für sich genommen, so wird deutlich, dass Homonymie sich nicht selten aus Polysemie entwickelt hat. In diesen Fällen haben sich die Bedeutungen der Zeichen soweit voneinander entfernt, dass der inhaltliche Zusammenhang allmählich verloren gegangen ist. So ist 2Bank ,Geldinstitut‘ ursprünglich der ,Tisch der Münzwechsler‘, was durchaus eine größere semantische Nähe zwischen beiden Bedeutungen impliziert (zu der im Detail recht komplizierten Wortgeschichte s. 2DWB 4, 151 f.). Homonymien können aber auch dadurch entstehen, dass etymologisch unverwandte Wörter sich durch lautliche Entwicklungen angleichen wie im Fall von 1Reif/ 2 Reif, s. (11), oder dass durch eine Entlehnung ein ausdrucksseitig identisches Wort aufkommt, wie bei dem aus dem Mittelniederdeutschen ins Hochdeutsche übernommenen 2Tau, vgl. (12): (11)

(12)

etymologische Kriterien Entstehung von Homonymie

a. 1Reif ,Haarschmuck‘ < mhd. rîfe (mit -î- zu -ei- durch die neuhochdeutsche Diphthongierung), b. 2Reif ,gefrorener Tau‘ < mhd. reif a. 1Tau ,Niederschlag feuchter Luft‘ < mhd. tou b. 2Tau ,Schiffsseil‘ < mnd. touwe, tow, tau

Den Begriff der Mehrdeutigkeit haben wir hier insoweit etwas eindeutiger fassen können, als wir zwischen drei verschiedene Arten von Mehrdeutigkeit unterschieden haben: Vagheit, Polysemie und Homonymie (von deren Spielarten Homophonie und Homographie sehen wir im Weiteren ab, da es sich um relativ isolierte Erscheinungen handelt). Ein sprachliches Testverfah-

Zeugma-Test

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4. Die Inhaltsseite des Wortes

ren, mit dem wir zumindest Vagheit auf der einen sowie Polysemie und Homonymie auf der anderen Seite abgrenzen können, ist der sog. ZeugmaTest (griech. zeugma ,Joch‘, wörtlich ,das Zusammengespannte‘). Als Zeugma oder auch Syllepsis (wörtlich ,Zusammenfassung‘) bezeichnet man sinnwidrige und daher nicht selten komisch wirkende syntaktische Fügungen, die durch Auslassung eines mehrdeutigen Wortes zustande kommen: (13)

*Er warf die Zigarre in den Aschenbecher und warf einen Blick aus dem Fenster (Glück 2000: 809).

Das hier vorliegende Zeugma, d. h. der durch Auslassung des zweiten Verbs entstandene sinnwidrige bzw. komische Effekt, ist Indiz dafür, dass die Bedeutung des ersten werfen nicht mit der des zweiten werfen konform geht. Stimmen zwei Wörter im Hinblick auf ihre Bedeutung dagegen überein, zieht diese Auslassung keinen Zeugma-Effekt nach sich, vgl. (14). (14)

Er warf die Zigarre in den Aschenbecher und warf den Aschenbecher anschließend aus dem Fenster.

Das Zustandekommen eines Zeugma-Effekts ist ein Charakteristikum von Polysemie und Homonymie, vgl. (15). Bei Vagheit tritt dagegen kein Zeugma-Effekt auf, wie (16) belegt. (15)

(16)

Skala der Mehrdeutigkeit

a. *Er sah den Kopf der Bande und wollte ihn abschlagen. b. *Die Zeitung liegt auf dem Tisch und rief eben bei mir an (vgl. Meibauer et al. 2007: 166). c. *Der Vogel brach sich den Flügel und Peter spielte darauf eine Sonate. a. Er fasste sich an seinen Kopf, der sehr schmerzte. b. Der Wagen sprang nicht an und musste dann abgeschleppt werden. (Wagen als ,Motor‘ und als ,Fahrzeug‘)

Da Polysemie und Homonymie sowohl mit der Möglichkeit eines ZeugmaEffekts als auch mit dem je unterschiedlichen Referentenbezug zwei Eigenschaften gemeinsam haben, die sie von Vagheit unterscheiden, kann man beide auch unter einen Oberbegriff stellen. Für diesen wählen wir hier die Bezeichnung ,semantische Differenzierung‘. Für lexikalische Mehrdeutigkeit ergibt sich damit insgesamt die Klassifikation in Abb. 9. Murphy (2010: 92 f.) hat in Anlehnung an einen Vorschlag von Tuggy (1993) zu bedenken gegeben, dass anstelle einer strikten Dreiteilung in Vagheit, Polysemie und Homonymie auch ein Kontinuum angesetzt werden kann, das sich zwischen den Polen der maximalen inhaltlichen Ähnlichkeit (Monosemie) auf der einen und der maximalen inhaltlichen Differenz auf der anderen Seite erstreckt: (17)

Monosemie < Vagheit < Polysemie < Homonymie

Dies erscheint insofern attraktiv, als es in der Tat Übergänge und Zweifelsfälle gibt, die ein Kontinuum plausibler erscheinen lassen als eine strikte

4.6 Mehrdeutigkeit

Abb. 9: Mehrdeutigkeit (vgl. auch Murphy 2010: 91)

Trennung der Kategorien: Ist z. B. der Gegensatz von Hahn ,Wasserhahn‘ und Hahn ,männliches Haushuhn‘ ein Fall von Polysemie oder von Homonymie? Immerhin ist wohl nur einem Teil der Sprecherinnen und Sprecher überhaupt bewusst, dass der Wasserhahn nach einer Formähnlichkeit mit der Kopfpartie des Tieres benannt wurde. Auch die historische Entwicklung von Polysemien zu Homonymien, die oben am Beispiel 1Bank/2Bank kurz erläutert wurde, ist ein Argument dafür, dass zwischen diesen beiden Kategorien ein Übergangsbereich besteht. Auf mögliche Abstufungen zwischen Vagheit und Polysemie werden wir weiter unten noch zu sprechen kommen.

4.6.2 Polysemie und ,semantische Nähe‘ Auch wenn es Übergänge zwischen Polysemie und Homonymie gibt, enthebt uns dies nicht der Notwendigkeit, beide Begriffe so klar wie möglich voneinander abzugrenzen. Als wesentliches unterscheidendes Merkmal hatten wir die vorhandene oder fehlende semantische Nähe zwischen den jeweils involvierten Bedeutungen angesehen. Die Frage, was semantische Nähe denn eigentlich ist, hatten wir bisher aber noch unbeantwortet gelassen. In jedem Fall ist die Frage alles andere als trivial; das belegen schon die zahlreichen Erklärungsversuche, die zum Problem der Polysemie und deren Abgrenzung gegenüber der Homonymie bisher vorgelegt worden sind (vgl. die Auflistung und Diskussion der Versuche bei Wichter 1988: 14–39). So zahlreich die Lösungsversuche sind, kann man doch zwei grundsätzliche Strategien unterscheiden: Eine erste Argumentationslinie kann man als minimalistisch bzw. reduktionistisch bezeichnen, und zwar insofern, als versucht wird, sämtliche Bedeutungen eines Wortes als Spezifikationen einer einzigen Grundbedeutung zu beschreiben. Diese kann dann nur verhältnismäßig abstrakt oder (wie man auch sagt) ,unterspezifiziert‘ sein, da sie alle Lesarten in sich vereint. Die Polysemie wird damit letztlich auf eine zugrundeliegende Monosemie zurückgeführt.

minimalistische und maximalistische Modelle

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4. Die Inhaltsseite des Wortes

Die zweite Argumentationsstrategie ist dagegen maximalistisch angelegt. Die Lesarten eines Wortes werden hier nicht auf eine hypothetische Basisbedeutung reduziert; sie bleiben vielmehr in ihrer Fülle erhalten und werden als Netzwerk modelliert, dessen Angehörige durch Familienähnlichkeiten miteinander verbunden sind – hier kommt also, wie weiter unten noch zu zeigen sind wird, die in Abschnitt 4.5.3 vorgestellte Prototypensemantik wieder ins Spiel.

4.6.2.1 Polysemie in der ,Zwei-Ebenen-Semantik‘ (Bierwisch 1983) systematische Polysemie

Zunächst soll hier eine prominente reduktionistische Modellierung von Polysemie vorgestellt werden, nämlich die von Manfred Bierwisch ausgearbeitete sog. ,Zwei-Ebenen-Semantik‘. Bierwisch entwickelt seine Theorie der Polysemie am Beispiel von Wörtern, die systematische Polysemie zeigen, die also eine Polysemie aufweisen, welche in ähnlicher Form auch bei anderen Wörtern auftritt. Bierwischs Musterwort ist Schule. Dessen Polysemie kann in Anlehnung an die Beispiele bei Bierwisch zunächst wie folgt illustriert werden: (18)

a. Der Minister will die Schule reformieren. b. Die Schule hat ein kaputtes Dach. c. Die Schule macht ihm großen Spaß. d. Die Schule hat schon wieder angerufen.

Die in (18) vorliegenden Bedeutungen von Schule lassen sich bestimmten abstrakten Kategorien zuordnen: (19)

Unterspezifikation

a. Schule als INSTITUTION b. Schule als GEBÄUDE c. Schule als PROZESS bzw. ENSEMBLE VON PROZESSEN d. Schule als PERSON

Bei der Eingrenzung des semantischen Kerns dieser Verwendungen von Schule setzt Bierwisch beim Zweck an, den der Referent hat: Schule dient dazu, etwas zu lernen und etwas zu lehren. Die abstrakte, unterspezifizierte Bedeutung von Schule ist daher wie in (20) anzugeben: (20)

Die Schule ist ein X und Zweck von X ist: Lern- und Lehrprozess

Dies wird in der Regel in einer Formalisierung wie in (21) ausgedrückt (das Lambda in der folgenden Notation dient dazu, aus einem Satz ein Prädikat zu machen; zu diesem technischen Aspekt, der in unserem Zusammenhang unwichtig ist, s. Chur/Schwarz 1993: 153–156): (21)

Schule: kx [[Zweck] [x w] & LEHR- UND LERNPROZESSE [w]] (paraphrasiert: „Schule ist: x hat einen Zweck w, und w sind Lehr- und Lernprozesse“)

4.6 Mehrdeutigkeit

Die unterschiedlichen Lesarten von Schule in (19) kommen laut Bierwisch dadurch zustande, dass die abstrakte, unterspezifizierte Kernbedeutung in (21) mit jeweils unterschiedlichen Ausschnitten enzyklopädischen Wissens angereichert wird. Diese Anreicherung nennt Bierwisch auch ,konzeptuelle Verschiebung‘. Sie wird als Einsetzung der Konzepte INSTITUTION, PERSON usw. in ein abstraktes Formular dargestellt, wie (22) zeigt. (22)

konzeptuelle Verschiebung

a. kx [INSTITUTION [x] & ZWECK [x w] & LEHR- UND LERNPROZESSE [w]] b. kx [GEBÄUDE [x] & ZWECK [x w] & LEHR- UND LERNPROZESSE [w]] c. kx [PROZESS [x] & ZWECK [x w] & LEHR- UND LERNPROZESSE [w]] d. kx [PERSON [x] & ZWECK [x w] & LEHR- UND LERNPROZESSE [w]]

In Bierwischs Modell ist Polysemie somit das Resultat der Verbindung eines gleichbleibenden Bedeutungskerns mit unterschiedlichen Aspekten des Weltwissens. Das heißt aber auch, dass Polysemie letztlich gar kein sprachliches Phänomen ist, sondern nur auf der Ebene des enzyklopädischen Wissens virulent wird – weshalb dieser Ansatz mit Recht als „Zwei-EbenenSemantik“ bezeichnet wird. Polyseme Muster, die mit dem von Schule vergleichbar sind, treten auch bei einer Reihe anderer Wörter auf: (23)

Universität, Kindergarten, Parlament, Regierung, Rathaus, Bank, Gefängnis (usw.)

Hier gibt es allerdings Abweichungen im Detail. So ist die PROZESS-Interpretation, die für Schule möglich ist, z. B. bei Bank und Parlament nicht aktivierbar: (24)

a. Nach der Schule gehen die Kinder Eis essen. b. *Nach der Bank geht der Vorstand Eis essen. c. *Nach dem Parlament gehen die Abgeordneten Eis essen.

Regierung, das ja prinzipiell mit Parlament vergleichbar sein sollte, verfügt sogar nur über die INSTITUTIONEN- und vielleicht noch über die PERSONENLesart: (25)

a. Die Regierung stellt Geld bereit. b. *Die Regierung braucht ein neues Dach. c. *Nach der Regierung ging die Kanzlerin Eis essen. d. Die Regierung will mich töten.

Dass bei manchen Wörtern einzelne Verschiebungen blockiert sind, wie (24) und (25) demonstrieren, muss allerdings nicht als Einwand gegen Bierwischs Modell gewertet werden. Die betreffenden Einschränkungen können auf zufälligen kultur- und sprachspezifischen Faktoren beruhen. So gibt es für die PROZESS-Interpretation, d. h. ,Zeit mit einer bestimmten Tätigkeit verbringen‘, mit dem Lexem Arbeit einen gebräuchlichen Ausdruck, der die betreffende semantische Position möglicherweise bereits besetzt. Und dass Regierung nicht in der GEBÄUDE-Interpretation erscheinen kann, ist schlicht

Ausnahmen

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4. Die Inhaltsseite des Wortes

Kritik

mangelnde Distinktivität, metaphorisch begründete Polysemie

auf unser Weltwissen darüber zurückzuführen, dass die Regierung eines Staates nie als Ganze in einem Gebäude residiert, sondern auf mehrere Ministerien mit eigenen Gebäuden verteilt ist (vgl. Geeraerts 2010: 146). Andere Punkte sind problematischer: Im Modell Bierwischs werden die Konzepte INSTITUTION, GEBÄUDE, PROZESS und PERSON prinzipiell gleichwertig behandelt. Tatsächlich lassen sich aber Gewichtungen feststellen: Die INSTITUTIONEN- und die GEBÄUDE-Lesart sind bei nahezu allen der oben genannten Lexeme realisiert, die Konzepte PERSON und PROZESS dagegen nur vereinzelt, wie (24) und (25) gezeigt haben. Auch wenn man sich die Lexeme aus dieser Gruppe im Einzelnen anschaut, sind bestimmte Bedeutungen häufiger und andere seltener. So ist bei Schule die INSTITUTIONEN-Lesart gegenüber der PERSONEN-Lesart in Textkorpora deutlich häufiger vertreten. In Bierwischs Modell wird diesen Unterschieden nicht Rechnung getragen. Auf einen weiteren kritischen Aspekt hat Geeraerts (2010: 145) hingewiesen: Die Kernbedeutung von Schule ist so stark unterspezifiziert, dass sie nicht mehr ausreichend distinktiv ist. Daher könnte die Formel in (21) genauso gut für Universität oder Fahrschule gelten. Vor allem aber muss eingewandt werden, dass das Zwei-Ebenen-Modell nur für einen relativ kleinen Teil von Polysemien überhaupt einschlägig ist. Viele Polysemien sind grundsätzlich anders strukturiert als die der hier besprochenen Lexeme, nämlich durch metaphorische Übertragungen. Ein Beispiel für eine metaphorisch motivierte Polysemie wäre Kopf, das sowohl ,auf den Schultern sitzender Körperteil‘ als auch ,Anführer‘ bedeutet. Eine beide Lesarten umspannende unterspezifizierte Bedeutung zu formulieren, bedarf einiger Phantasie. Es wäre auch relativ sinnlos, da gerade bei Metaphern eine einseitig gerichtete Ableitungsbeziehung zwischen den betreffenden Bedeutungen besteht: Im Fall von Kopf ist die Körperteilbezeichnung grundlegend und die Bedeutung ,Anführer‘ davon abgeleitet. Der konkreten Basisbedeutung eine weitere grundlegende Bedeutung unterzuschieben, die gleichzeitig auch die abgeleitete abstrakte Bedeutung umfasst, erscheint relativ aufwendig und verspricht kaum Erkenntnisgewinn.

4.6.2.2 Ein Netzwerkmodell der Polysemie kognitive und generative Linguistik

Eine Alternative zu der reduktionistischen Herangehensweise an Polysemie, die wir hier am Vorschlag von Bierwisch (1983) exemplifiziert haben, stellen Hypothesen dar, die Polysemien als komplexe Netzwerke zu beschreiben suchen. Ansätze zu einer netzwerkartigen Modellierung sind vor allem im theoretischen Rahmen der sog. kognitiven Linguistik erarbeitet worden. Diese von Ronald Langacker, George Lakoff und Charles Fillmore begründete Richtung der Sprachwissenschaft geht von der Prämisse aus, dass Sprache einen integralen Teil der gesamten menschlichen Kognition bildet, dass sie somit kein autonomes und nur nach seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten beschreibbares Modul ist, wie in der von Noam Chomsky begründeten Forschungstradition der sog. generativen Linguistik generell angenommen wird. Die kognitive Linguistik stellt sprachliche Strukturen vielmehr stets in einen Zusammenhang mit dem Denken, Wahrnehmen, Fühlen der Sprechenden und nicht zuletzt auch mit deren sozialer Interak-

4.6 Mehrdeutigkeit

tion. Wenn in der kognitiv-linguistischen Forschungstradition Sprache nicht als autonomes Gebilde, sondern als Subsystem des gesamten kognitiven Systems aufgefasst wird, heißt dies auch für die lexikalische Semantik, dass sprachliche und enzyklopädische Bedeutungsaspekte prinzipiell gleicher Natur sind. Während Bierwischs Modell eine ,Zwei-Ebenen-Semantik‘ darstellt, liegt hier somit eine Theorie vor, die prinzipiell nur von einer einzigen Ebene der Bedeutung ausgeht. In der kognitiven Linguistik werden Wörter als Konstruktionen von Wirklichkeit (engl. construals) aufgefasst (Gleiches gilt übrigens auch für die Grammatik, wie Croft/Cruse 2004: 40 ff. im Einzelnen darlegen). Daher wird in der kognitiven Linguistik vorzugsweise nach den spezifischen Zugängen zur Wirklichkeit gefragt, die Wörter jeweils eröffnen. Die Art und Weise, in der ein Wirklichkeitsausschnitt benannt wird, ist somit nicht gleichgültig, sondern erhält als Ausdruck eines spezifischen construals eine besondere Relevanz. Die kognitive Linguistik nimmt somit eine vorwiegend onomasiologische Perspektive auf Sprache ein, indem sie Unterschiede in der Benennung von Konzepten zu einer zentralen Fragestellung erhebt. Ein je unterschiedliches construal des entsprechenden Referenten zeigen z. B. die Wörter für den ,von der Fahrbahn abgetrennten Gehweg‘: In dt. Bürgersteig ist die Benennung von den Personen her motiviert, für die dieser Teil der Straße bestimmt ist, engl. pavement hebt das Material hervor (,Pflasterung‘) und frz. trottoir die Funktion (zu trotter ,traben‘) (Beispiel nach Dirven/Radden 2003: 17). Die Frage nach der Motivation einer Benennung ist auch zentral für die kognitiv-linguistische Sicht auf die lexikalische Semantik und besonders auf das Polysemieproblem. Leitend ist die Frage, welche Bedeutung aus welcher anderen Bedeutung im polysemen Spektrum hervorgegangen ist, welche Wortbedeutung von welcher anderen her motiviert ist. Das setzt voraus, dass es mindestens ein Motivationszentrum innerhalb des Bedeutungsspektrums gibt. Polysemie wird daher auch als stern- oder strahlenförmiges Netzwerk (engl. radial network, radial category) aufgefasst, das sich um dieses Zentrum herum konstituiert (zum Begriff vgl. auch Lakoff 1987: 83 f.). Wie unschwer zu erkennen, wird mit der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie auf einen Grundgedanken der oben skizzierten Prototypensemantik zurückgegriffen. Während die Prototypensemantik jedoch herkömmlicherweise extensional ausgerichtet ist, indem sie nach typischen oder weniger typischen Referenten fragt, ist sie hier auf Bedeutungen und deren Status gerichtet, sie wird also ins Intensionale gewendet. Im Mittelpunkt stehen daher keine Strukturen von Kategorien, sondern Strukturen von Wortbedeutungen (vgl. Kleiber 1998: 130). Obwohl der prototypische Vertreter einer Kategorie (z. B. ,Spatz‘ für VOGEL) und die prototypische Bedeutung eines Wortes (,zweibeiniges Wirbeltier, das fliegen kann‘ für Vogel) keinesfalls dasselbe sind, erfolgt die Anwendung der Prototypentheorie auf polyseme Strukturen nicht zu Unrecht: Ein prototypischer Referent bildet den Fluchtpunkt, auf den alle Referenten der Kategorie hinsichtlich Ähnlichkeit oder Verschiedenheit bezogen werden, und in vergleichbarer Weise ist auch eine prototypische Wortbedeutung als der zentrale Bezugspunkt zu sehen, durch den alle anderen Wortbedeutungen eines Spektrums mittelbar oder unmittelbar motiviert sind (zur semasiologischen Umdeutung

sprachliche Wirklichkeitskonstruktionen

Polysemie als sternförmiges Netzwerk

Zentrum und Peripherie im Bedeutungsspektrum

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4. Die Inhaltsseite des Wortes

Beispielanalyse

der Prototypensemantik vgl. auch die teilweise sehr kritischen Ausführungen von Kleiber 1998: 139 f. und Blank 2001: 52 f.). Zur Illustration der kognitiv-linguistischen Herangehensweise wollen wir bei dem Beispiel Schule bleiben. Geeraerts et al. (2003), die eine Netzwerkmodellierung der Bedeutungen von Schule vorgelegt haben, setzen dabei allerdings wesentlich mehr Bedeutungen an als Bierwisch (1983), nämlich insgesamt elf Lesarten, die alle aus dem DUW bzw. aus dem Deutschen Wörterbuch von Wahrig übernommen sind. (26)

a. ,Institut für die Erziehung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen‘: Er kommt dieses Jahr in die Schule. b. ,Gebäude, in dem eine Schule (a) untergebracht ist‘: Die städtischen Schulen müssen dringend renoviert werden. c. ,Unterricht (der in einer Schule (b) erteilt wird)‘: Die Schule beginnt um acht Uhr morgens. d. ,Lehrer- und Schülerschaft in ihrer Gesamtheit‘: Die ganze Schule ist heute auf Wanderfahrt. e. ,Lehrgang‘: Segelschule, Fahrschule, Rückenschule etc. Sie hat sich bereits vor ihrem 18. Geburtstag zur Fahrschule angemeldet. f. ,Titel bestimmter Lehrbücher, besonders auf musikalischem Gebiet‘: Flötenschule, Klavierschule, Gitarrenschule. g. ,künstlerische oder wissenschaftliche Richtung, die von einem Meister oder von mehreren Meistern ausging‘: Er ist bei den Klassikern in die Schule gegangen/hat von den Klassikern gelernt. Breughel ist ein Maler der flämischen Schule. h. Das wird Schule machen ,nachgeahmt werden‘: Hoffentlich macht das nicht Schule! i. ,Bittere Erfahrungen im Leben gemacht haben‘: Die harte Schule des Lebens durchgemacht haben. j. ,Gärtnerei für Bäume‘, kurz für Baumschule. k. ,Schwarm, Schar, Rudel‘: eine Schule Delphine, Heringe, Wale. (auf der Grundlage von Wahrig Deutsches Wörterbuch, 2000: 1124,2 und DUW 1409 f.) (nach Geeraerts et al. 2003: 35)

Geeraerts et al. (2003) erheben mit dieser umfassenden Auflistung der Wortbedeutungen den Anspruch, wenigstens die in einem gängigen Wörterbuch dargestellten Bedeutungen erschöpfend zu beschreiben, statt lediglich, wie bei Bierwisch (1983) der Fall, Einzelbeispiele zu besprechen, die nach den eigenen theoretischen Prämissen und Vorlieben ausgewählt sind. Das Bestreben nach größerer Beschreibungsadäquatheit, nach einer breiteren empirischen Abdeckung – auch wenn dies zuweilen auf Kosten der theoretischen Präzision gehen mag – ist jedenfalls ein weiteres Markenzeichen der kognitiven Linguistik. Ob man allerdings auch Schule als Bestandteil von Idiomen wie bei (h) (Das macht Schule) und (i) (die Schule des Lebens) sowie die Schule-Lesarten in (e) und (f), die gar nicht selbständig, sondern nur als Bestandteile von Komposita auftreten, hier mit zu berücksichtigen hat, sei dahingestellt. Polysemie im engeren Sinne liegt in diesen Fällen jedenfalls nicht vor; trotzdem bleiben wir bei der umfassenden Liste von

4.6 Mehrdeutigkeit

Geeraerts et al. (2003), da dieser Kritikpunkt für die Erläuterung des Prinzips, das hier relevant ist, keine Rolle spielt. Das Motivationszentrum, auf das sich mittelbar oder unmittelbar alle anderen Bedeutungen beziehen lassen, ist laut Geeraerts et al. die INSTITUTIONEN-Lesart in (a). Die GEBÄUDE-Lesart ist über eine metonymische Relation von dieser abgeleitet. Unter Metonymie ist hier eine Relation zu verstehen, die zwei in der Wirklichkeit miteinander vorkommende Entitäten in Beziehung setzt, die also auf einer sog. Kontiguitätsrelation beruht (zu lat. contiguus ,benachbart, angrenzend‘). Typische Beispiele hierfür sind die Behälter-Inhalt-Metonymie oder die Teil-Ganzes-Metonymie (eine Flasche trinken bzw. pro Kopf ,pro Person‘). Die hier vorliegende Metonymie zwischen Institution und Gebäude ist ebenfalls eine Metonymie, die ein Ganzes und einen seiner Teile in Beziehung setzt: Das Gebäude ist Teil der Institution Schule als Ganzes. Eine Kontiguitätsrelation bzw. eine metonymische Übertragung wird auch für (a) ,Lehranstalt‘ und (c) ,Unterricht‘ angesetzt, und zwar in dem Sinn, dass Unterricht der Zweck, die Hauptbestimmung der Lehranstalt ist. Insgesamt ist die Metonymie innerhalb des Spektrums von Schule die am häufigsten vorliegende Relation, wir belassen es daher bei diesen zwei Beispielen. In geringerem Maße als die Metonymie trägt auch die Metapher zur Konstituierung der Motivationsbeziehungen bei. Eine Metapher ist eine Übertragung, die auf einer Ähnlichkeit (Similarität) zwischen den Referenten beruht. Im Unterschied zur Kontiguitätsrelation bzw. metonymischen Übertragung liegt also keine reale Berührung vor, sondern eine konzeptuelle Distanz zwischen den Referenten, die in der Wirklichkeit gerade nicht gemeinsam vorkommen, vgl. etwa Flügel ,Vogelschwinge‘ und das davon per Metapher abgeleitete Flügel ,Seitentrakt eines Gebäudes‘). Im Spektrum von Schule kann die Lesart (j) ,Baumschule‘ als das Ergebnis einer metaphorischen Übertragung angesehen werden. Eine Ähnlichkeit ist wohl darin zu sehen, dass die ,Aufzucht und Pflege von Bäumen‘ mit der ,Erziehung von Kindern‘ in Analogie gesetzt wird. Eine Similaritätsrelation zwischen Kindern und Pflanzen wird jedenfalls nicht nur in diesem Fall konstruiert, sondern liegt etwa auch einem Ausdruck wie Euer Spross ist ja prächtig gediehen oder dem Kompositum Kindergarten zugrunde. Als weitere Relationstypen setzen Geeraerts et al. (2003) auch Beziehungen zwischen einem Oberbegriff und einem Unterbegriff an, sog. taxonomische Relationen (zu griech. táxis- ,Ordnung‘). Eine solche Relation – genauer gesagt eine Spezialisierung – liegt bei (e) ,Lehrgang‘ und (f) ,Lehrbuch‘ vor: „Von der allgemeinen Bedeutung Lehranstalt ausgehend hat sich die Bedeutung auf ,Institution für einen bestimmten Ausbildungsgang‘ wie Segelschule, Fahrschule usw. eingeengt“ (Geeraerts et al. 2003: 37). (Inwiefern diese Spezialisierung nicht vielleicht durch das Bestimmungswort des Kompositums geleistet wird, wird von Geeraerts et al., wie erwähnt, nicht diskutiert). Das Gegenstück zur Spezialisierung, die Generalisierung, findet sich bei (g) ,künstlerische oder wissenschaftliche Richtung, die von einem Meister oder von mehreren Meistern ausging‘. Nach Geeraerts et al. ist dies wie folgt motiviert: „von (…) ,Lehranstalt‘ ausgehend hat sich der Bedeutungs-

metonymische Relationen

metaphorische Relationen

taxonomische Relationen

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4. Die Inhaltsseite des Wortes

umfang auf ,Leute, die eine bestimmte Malweise oder Lehrmeinung teilen‘ erweitert“ (2003: 38). Alles in allem liegt hier also der Versuch vor, die Polysemie eines Wortes als Netzwerk zu beschreiben, s. auch die Darstellung in Abb. 10. Der Zusammenhalt dieses Netzwerks wird nicht durch eine abstrakte Grundoder Gesamtbedeutung gewährleistet, sondern dadurch, dass eine konkrete Bedeutung das Motivationszentrum bildet, auf das sich alle anderen Bedeutungen beziehen lassen, und zwar über eine Metonymie, eine Metapher, eine Spezialisierung oder Generalisierung.

Abb. 10: Das polyseme Netzwerk von Schule (Geeraerts et al. 2003: 38)

Vorteile und Unklarheiten

Ein-Ebenen- vs. Zwei-EbenenSemantik

Der Vorteil dieses Modells besteht darin, dass es die semantische Nähe zwischen den jeweiligen Bedeutungen modellieren kann, ohne problematische Konstrukte wie eine unterspezifizierte Kernbedeutung oder Ähnliches annehmen zu müssen. Zudem wird der unterschiedlichen Häufigkeit und Gewichtung der einzelnen Lesarten von Schule besser Rechnung getragen als im Modell Bierwischs. Das Netzwerkmodell enthält aber auch Unklarheiten: Das primäre Ziel dieser Modellierung ist eine Hypothese über das aktuelle Wissen eines Durchschnittssprechers. Wie jedoch lässt sich sicher feststellen, dass eine Sprecherin, ein Sprecher die Bezüge, die hier angenommen werden, auch tatsächlich herstellt? Sieht tatsächlich jede und jeder von uns z. B. in der Bedeutung (g) ,Leute, die eine bestimmte Malweise oder Lehrmeinung teilen‘ eine Generalisierung der INSTITUTIONEN-Lesart? Da die Formulierung semantischer Relationen eine Interpretationsleistung darstellt, ist durchaus erwartbar, dass es von Individuum zu Individuum unterschiedliche Interpretationen geben kann. Damit stellt sich die Frage, inwieweit die Netzwerk-Modellierung überhaupt objektvierbar ist. Die Netzwerk-Modellierung haben wir oben als ,maximalistisch‘ bezeichnet und sie der reduktionistischen Herangehensweise von Bierwisch gegenübergestellt. Letztere hat den Vorteil, dass sie ökonomisch ist: Die postulierten sprachspezifischen Kernbedeutungen sind sehr einfach gehalten und beanspruchen daher wenig Speicherkapazität im Lexikon. Der maximalistische Ansatz, in dem die Bedeutungen nicht aus einer Grundbedeutung abgeleitet werden, sondern im Netzwerk vollständig präsent sind,

4.6 Mehrdeutigkeit

benötigen dagegen wesentlich mehr ,Speicherplatz‘. Ob dies ein Nachteil der Ein-Ebenen-Semantik gegenüber der Zwei-Ebenen-Semantik ist, ist dabei allerdings noch offen. Die Bewertung hängt schlicht davon ab, welcher Art von Sprachtheorie man den Vorzug gibt: Einer Theorie, die Sprache autonom behandelt und möglichst wenig Speicherkapazität für das Sprachmodul postuliert, oder einer Theorie, die einer ökonomische Modellierung angesichts der großen Speicherkapazität unseres Gehirns gar keine wesentliche Bedeutung zumisst.

4.6.3 Zwischenfazit Wir hatten uns oben die Aufgabe gestellt, die semantische Nähe als intuitiv plausibles Kriterium der Abgrenzung zwischen Polysemie und Homonymie näher zu bestimmen. Wir haben dabei zwei Modelle vorgestellt, die auf gegensätzliche Weise eine Bestimmung dieser Nähe versuchen: das Modell der Zwei-Ebenen-Semantik, demzufolge eine zugrundeliegende abstrakte Kernbedeutung die Einheit des polysemen Spektrums garantiert, sowie ein kognitiv-linguistisches Modell, das Polysemie als Netzwerk beschreibt, das durch semantische Relationen zusammengehalten wird. Mit diesen beiden Hypothesen haben wir das Kriterium der semantischen Nähe wenigstens in Ansätzen besser fassbar gemacht, so dass auch die Abgrenzung von Polysemie und Homonymie, die wir oben vorgenommen haben, auf festerem Grund steht.

4.6.4 Zwischen Vagheit und Polysemie: Facetten, Mikrobedeutungen und ,aktive Zonen‘ Wir haben uns nun allerdings noch um die linke Seite der Mehrdeutigkeitsskala Monosemie < Vagheit < Polysemie < Homonymie zu kümmern. Hier hat besonders Alan Cruse (1986, 2010) auf Spielarten der Mehrdeutigkeit aufmerksam gemacht, die im Übergangsbereich zwischen Vagheit und Polysemie anzusiedeln sind und die einer genaueren Beschreibung bedürfen. Eines dieser Mehrdeutigkeitsphänomene bezeichnet Cruse als Facetten (engl. facets). Sein Musterbeispiel ist engl. book. Dieses Wort (wir nehmen hier im Weiteren die Entsprechung Buch) zeichnet sich dadurch aus, dass es in zwei grundverschiedenen Lesarten auftreten kann, die Cruse (2010: 104) als TEXT und als TOME (BAND) bezeichnet. In (27) seien zwei Beispiele für die TEXT-Interpretation, in (28) zwei für die BAND-Interpretation gegeben: (27) (28)

a. Peter liest das Buch. b. Sie fand das Buch spannend. a. Er verbrennt das Buch. b. Er stellt das beschädigte Buch ins Regal.

Man könnte das Verhältnis von TEXT- und BAND-Lesart im Rahmen des oben vorgestellten kognitiv-linguistischen Ansatzes auch als Metonymie bzw. Kontiguitätsrelation beschreiben: BAND wäre dann etwa das ,Behältnis‘, der TEXT dessen Inhalt. (Eine solche Behältnis-Inhalt-Metonymie setzen auch die Wörter Inhaltsangabe und Inhaltsverzeichnis oder die Frage Welchen Inhalt

Facetten

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4. Die Inhaltsseite des Wortes

hat denn das Buch? voraus.) In jedem Fall besteht aber eine Kontiguitätsrelation: Ein BAND und ein TEXT kommen in der Realität ziemlich häufig gemeinsam vor. Da eine Kontiguitätsrelation zwischen beiden Bedeutungen konstruiert werden kann, könnte man also dem Modell von Geeraerts et al. (2003) folgen und hier eine Polysemie ansetzen. So naheliegend dies ist, steht es doch in einem Widerspruch zu dem Ergebnis des Zeugma-Tests: (29)

relationale Autonomie

Ausbleiben des Zeugma-Effekts

temporäre und permanente Kontiguität

a. Er las und verbrannte das Buch. b. Ein Buch, das man liest und dann gleich wegschmeißt, ist keine gute Investition.

Läge wirklich Polysemie vor, müsste hier ein Zeugma-Effekt auftreten. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Mehrdeutigkeit von Buch weist somit einerseits eine Eigenschaft von Polysemie auf, nämlich die Formulierbarkeit einer Relation, andererseits fehlt eine wichtige Eigenschaft, nämlich das Zustandekommen eines Zeugma-Effekts. Dieses semantische ,Zwitterwesen‘ wird von Cruse daher mit einem eigenen Terminus – Facetten – bedacht und von Polysemie auf der einen und Vagheit auf der anderen Seite abgegrenzt. Cruse weist darauf hin, dass die unterschiedlichen Facetten von Buch je eigenständige Sinnrelationen zu anderen Wörtern unterhalten (zu Sinnrelationen vgl. Kap. 5): Als TEXT steht es mit Roman, Biographie, Wörterbuch in Beziehung, als BAND mit Hardcover, Paperback, Taschenbuch, Folio. Diese „relational autonomy“ (Cruse 2010: 104 f.) bildet allerdings bei Weitem kein Alleinstellungsmerkmal von Facetten. Auch für die Bedeutungen eines polysemen Wortes gilt ja, dass die einzelnen Lesarten jeweils eigenständige Sinnrelationen zu anderen Wörtern aufweisen: Flügel ,Vogelschwinge‘ steht in Beziehung zu Feder, Schwinge, Fittich, die Lesart Flügel ,großes Klavier mit waagerecht liegenden Seiten‘ dagegen zu Piano und Klavier. Ein Merkmal, das Facetten allerdings deutlich von der Polysemie abhebt, ist das erwähnte Ausbleiben eines Zeugma-Effekts in Sätzen wie (29). Cruse (2010: 106) folgert daraus: „unlike full senses, they can be construed as unified, with no boundary between them“. Es gibt also die Möglichkeit eines Wechsels von einer analytischen Perspektive, in der zwei diskrete (d. h. deutlich unterschiedene) Bedeutungen vorliegen, zu einer lesartenübergreifenden, unifizierenden Sicht. Die Inhaltsstruktur eines Wortes ist also nicht einfach objektiv gegeben, sondern kann durch die Sprecherinnen und Sprecher je nach den kommunikativen Bedürfnissen und Situationen in der einen oder der anderen Weise konstruiert werden (zum Konzept des ,construal‘ s. oben Abschnitt 4.6.2.2 sowie auch Croft/Cruse 2004: 40–69). Dass ausgerechnet bei dem Wort Buch die Möglichkeit einer unifizierenden Interpretation besteht und bei vielen anderen Wörtern wie z. B. Vogel oder Flügel nicht, ist wohl kein Zufall. Dies hängt mit einer besonderen referenziellen Eigenschaft des Wortes zusammen, die oben bereits kurz angesprochen wurde: TEXT und BAND eines Buches kommen in der Realität fast immer gemeinsam vor, sie sind quasi untrennbar miteinander verbunden. Dies trifft bei Weitem nicht auf alle Kontiguitätsrelationen zu: Glas meint nur in bestimmten Kontexten auch den Inhalt des Glases, und eine Kirsche (im Sinne von ,Kirschbaum‘) trägt auch nicht ständig Kirschen. Die Kontiguität ist hier also nur temporär.

4.6 Mehrdeutigkeit

Bemerkenswert an dem Facetten-Konzept von Cruse ist, dass dies ein anderes Licht auf das Wort Schule wirft, welches wir im Anschluss an Bierwisch und Geeraerts bisher stets als Musterbeispiel für Polysemie behandelt hatten. Cruse weist mit Recht drauf hin, dass die Mehrdeutigkeit von Schule, Universität, Bank usw. im Grunde nicht als Fall von Polysemie, sondern als facettenartig anzusehen ist. Er gibt ein englisches Beispiel für eine Vereinigung der INSTITUTIONEN-, GEBÄUDE- und PERSONEN-Lesart von engl. bank, vgl. (30a). Dieses Beispiel lässt sich auch leicht auf unser Musterwort Schule übertragen, wie (30b) zeigt: (30)

Facetten und Polysemie

a. The friendly bank in the High Street that was founded in 1575 was blown up last night by terrorists (Cruse 2010: 107). b. Die 1980 gegründete Schule feierte gerade ihr Sommerfest, als sie vom Blitz getroffen wurde und Feuer fing.

In beiden Beispielen wird mit dem Hinweis auf die Gründung auf die INSTITUTION, mit dem Adjektiv friendly bzw. mit ihr Sommerfest auf die PERSONEN sowie mit dem Blitzeinschlag auf das GEBÄUDE referiert. Die Wörter engl. bank bzw. dt. Schule vereinigen somit drei Bedeutungsaspekte, die auch hier wieder in einem permanenten Kontiguitätsverhältnis stehen: Eine Schule bzw. eine Bank ist immer eine Institution, die per Definition Personen umfasst und in mindestens einem Gebäude angesiedelt ist. Man kann daher hier durchaus von Facetten statt von Polysemie sprechen. War Schule damit ein ungeeignetes Beispiel für Polysemie? Sicher nicht. Es gibt ja sowohl bei Schule als auch bei Bank und auch bei weiteren Lexemen dieser Gruppe Bedeutungen, die sich nicht unifizieren lassen, die also keine Facetten im Sinne von Cruse darstellen. Dies betrifft vor allem diejenigen Lesarten, die über eine Similaritätsrelation in das Netzwerk eingebunden sind. Hier kommen im Gegensatz zu (30) also durchaus Zeugmata zustande: (31)

a. *Breughel entstammt der flämischen Schule und hat nie eine besucht. b. ?Peter ist jetzt die Bank (beim Glückspiel) und hat einen neuen Aufsichtsrat.

Man kann also keinesfalls davon sprechen, dass ein Wort hinsichtlich seiner Bedeutungen entweder polysem oder facettenartig sei; es kann auch nur eine Teilmenge der Bedeutungsgegensätze innerhalb eines semantischen Feldes als Facetten interpretiert werden, andere Bedeutungspositionen dagegen nicht. Damit sind semantische Facetten also auch nur ganz normale Lesarten, die freilich in bestimmten Kontexten in einer globalen Lesart vereinigt werden können. Neben den Facetten setzt Cruse noch einen weiteren Typ der Mehrdeutigkeit an, nämlich die sog. Mikrobedeutungen (engl. micro-senses, Cruse 2010: 107–109). Als Beispiel nennt er Messer. Interpretationen wie ,Messer als Teil des Bestecks‘, ,Messer als Waffe‘ oder ,Teppichmesser‘ sind zwar, so Cruse, distinkt, weil sie eigenständige Relationen zu anderen Wörtern aufweisen (zu Gabel und Löffel, zu Pistole und Schwert, zu Hammer und Zan-

Mikrobedeutungen

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4. Die Inhaltsseite des Wortes

ge). Trotzdem können diese Interpretationen theoretisch in einer einzigen Wortverwendung von Messer vereinigt werden: (32)

referenzielle Variation

kontextuelle Variation

Die Vereinigung der Lesarten ist hier jedoch eine ganz andere als bei den Facetten: Hier wird eine Menge gebildet, in der alle Referenten der Kategorie ,Messer‘ – Teppichmesser, Besteckteile, Waffen usw. – enthalten sein können. Die Vereinigungslesart ist also nur im Plural möglich. Bei Facetten ist eine solche summarische Vereinigung der Lesarten nicht möglich – der Plural viele Schulen meint ja nicht INSTITUTION X + GEBÄUDE Y + PERSONAL Z. Polysemie liegt hier (obwohl Cruse offenbar sehr wohl davon ausgeht) nicht vor, da Polysemie die Intension eines Ausdrucks betrifft. Die Intension von Messer ist jedoch schlicht ,Schneidewerkzeug‘. Die Vielfalt, auf die Cruse abzielt, ist eher extensionaler Natur: Mit Messer können in der Tat sehr viele Typen von Referenten gemeint sein, da in zahlreichen Lebenssituationen ein Werkzeug zum Schneiden benötigt wird. Ob extensionale Vielfalt aber allein ausreicht, um einen besonderen Typus von Mehrdeutigkeit zu begründen, sei dahingestellt, denn schließlich verfügen viele Wörter, zumal Simplizia, über eine umfassende und heterogene Referentenklasse – man denke an all die unterschiedlichen Arten von Häusern, Autos, Schiffen usw., die es gibt. Auf der Skala der Mehrdeutigkeit in (18) rangiert der Fall Messer daher relativ nah am Pol der Monosemie; in der Nähe der Polysemie, wo Cruse ihn verorten will, dürfte er fehl am Platze sein, da es hier nicht um Bedeutungen, sondern um Dinge in der Welt geht. Wir sprechen hier im Weiteren daher auch nicht von Mikro-Bedeutungen, sondern von referenzieller Variation. Von den bisher besprochenen Formen der Mehrdeutigkeit sind schließlich solche zu unterscheiden, die sehr eng an den jeweiligen Kontext gebunden zu sein scheinen: (33) (34) (35)

,aktive Zone‘

Dort steht ein Korb voller Messer – suchen Sie sich eines aus.

a. Peter streicht die Fenster (d. h. die Fensterrahmen). b. Peter schlägt das Fenster ein (d. h. die Fensterscheibe). a. Susi tritt gegen den Tisch (d. h. gegen das Tischbein). b. Susi sitzt auf dem Tisch (d. h. auf der Tischplatte) Peter ist zugeparkt (d. h. sein Auto ist zugeparkt).

Ein Wörterbucheintrag zu diesen Stichwörtern sähe wohl kaum so aus, dass unter Tisch 1. ,Tischplatte‘, 2. ,Tischbein‘ stünde. Hier werden lediglich einzelne Teile des Referenten durch das Verb in den Vordergrund gerückt, obwohl die Bezeichnung für den gesamten Referenten verwendet wird. Langacker (2000) hat hier von der ,aktiven Zone‘ eines Referenten gesprochen (engl. active zone). Diese stellt gewissermaßen eine schwache Ausprägung der Metonymie dar. Welche Zone aktiviert wird, hängt ganz von dem Verb ab, mit dem das Nomen kombiniert ist: Liegt streichen vor, ist der Fensterrahmen gemeint, bei einschlagen das Glas. Hier ist also ein klarer Fall von kontextbedingter Mehrdeutigkeit gegeben. Dass die semantische Opposition zwischen den Lesarten, wie zu erwarten, sehr schwach ist, belegt das Ausbleiben des Zeugma-Effekts in (36).

4.6 Mehrdeutigkeit

(36)

a. Susi trat aus Versehen gegen den Tisch, als sie ihn abwischen wollte. b. Peter kaufte ein Fenster und strich es neu.

Somit ist auch hier die Möglichkeit gegeben, die abweichenden Lesarten in (33) und (34) in einer übergreifenden, holistischen Interpretation zu vereinigen. Die Analyse dieser Kontextvariation als aktive Zone gilt auch für das vieldiskutierte Beispiel (35). Hier aktiviert das Prädikat zugeparkt sein ebenfalls nur einen bestimmten Aspekt, eine ,Zone‘ des Subjekts Peter, nämlich Peter in seiner Eigenschaft als Autobesitzer. Die genauen Bedingungen dieser Verwendung bedürfen allerdings eingehender Diskussion, zumal hier nicht nur die Semantik, sondern auch die Pragmatik eine Rolle spielt (vgl. Nunberg 1995).

4.6.5 Fazit: Mehrdeutigkeit als Skala der Differenzierung Unsere Ausführungen zu Facetten sowie zu referenzieller und kontextueller Variation haben erkennen lassen, dass das Kontinuum, das sich zwischen den Polen Monosemie und Homonymie ausspannt, deutlich breiter ist, als wir zunächst angenommen hatten. Im Vergleich zu der ursprünglich angesetzten Skala (18) ist also von deutlich mehr Abstufungen auszugehen, vgl. (37). (37)

Monosemie < referenzielle Variation < kontextuelle Variation < Facetten < Polysemie < Homonymie

Ob die Hierarchisierung in (37) angemessen ist und ob auch wirklich alle Formen der Mehrdeutigkeit erfasst sind, ist sicher diskussionswürdig. Hier wird davon ausgegangen, dass die referenzielle Variation die geringste semantische Abweichung beinhaltet, da es in diesem Fall im Wesentlichen um die Extension eines Wortes geht. Man kann aber möglicherweise die Zwischenstufen, die links von der Polysemie angesiedelt sind, auch anders anordnen. Wichtig ist vor allem, zu zeigen, dass sich hinter dem Sammelbegriff der Mehrdeutigkeit eines Lexems relativ viele Erscheinungen verbergen, die zum Teil auch nur minimale Differenzierungen enthalten. Als Überblick, der auch die wichtigsten Kriterien wiederholt, sei hier auf Abb. 11 verwiesen.

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Lektürehinweise

Weitergehende Informationen zur lexikalischen Semantik enthalten die entsprechenden Kapitel in Chur/Schwarz (1993) und Löbner (2003). Wer sich tiefer einarbeiten will, sei auf die Lehrbücher von Blank (2001), Murphy (2010) und Cruse (2010) verwiesen. Die wohl ausführlichste Darstellung der lexikalischen Semantik, die derzeit verfügbar ist, bietet das Buch von Geeraerts (2010).

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4. Die Inhaltsseite des Wortes

Abb. 11: Mehrdeutigkeit von Lexemen

- Übungsaufgaben 1. Erstellen Sie eine Merkmalmatrix für die folgenden Getränkebezeichnungen: Bier, Wein, Saft, Tee, Sprudelwasser, Kaffee. Thematisieren Sie die dabei auftretenden Beschreibungsprobleme und machen Sie die Grenzen der Merkmalanalyse deutlich. 2. Ordnen Sie die folgenden Wörter einer Begriffsebene zu (übergeordnete Ebene, Basisebene, untergeordnete Ebene): Turnschuhe, Polohemd, Hose, Kleidung, Schuhe, Sneakers. Nennen Sie einige Kriterien, die zu Ihrer Entscheidung geführt haben. 3. Ordnen Sie die folgenden ausdrucksseitig übereinstimmenden Lexeme einer der in Abschnitt 4.6.1 eingeführten Kategorien zu: (a) der Marsch/die Marsch, (b) rasten (3. Pers. Pl. Präs. von rasen)/rasten (1. bzw. 3. Pers. Pl. von rasten), (c) Laib/Leib, (d) der Tor/das Tor. 4. Ordnen Sie die in den folgenden Beispielpaaren gegebene Mehrdeutigkeit der jeweils doppelt enthaltenen Lexeme einem der Typen in Abb. 11 zu: (1) a. Die Bibliothek macht heute einen Betriebsausflug. b. Die Bibliothek bleibt geschlossen. (2) a. Die Börse erlebte einen Absturz. b. Der Passagier überlebt den Absturz seines Flugzeugs. (3) a. Peter lehnte das Fahrrad an das Haus. b. Peter baut ein neues Haus. (4) a. Susi hat eine neue Handschrift im Archiv entdeckt. b. Susis Handschrift ist unleserlich. 5. Versuchen Sie die Polysemie eines weiteren Wortes (z. B. Fuß oder Vogel) als Netzwerk im Sinne von Geeraerts et al. (2003) zu modellieren. Lassen Sie dabei Idiome (s. Kap. 5) der Einfachheit halber unberücksichtigt.

5. Sinnrelationen – Wörter und ihre Beziehungen Dass Wörter nicht für sich stehen, sondern semantische Relationen untereinander aufweisen, zeigt sich schon an der nicht unbegrenzten, aber immerhin erstaunlich oft vorhandenen Möglichkeit, ein Wort an die Stelle eines anderen zu setzen. So sind wir mit etwas sprachlichem Geschick dazu in der Lage, ein unverständliches Wort mit Hilfe eines anderen, leichter verständlichen zu erklären, und wir können auch ein Wort, das uns in den Sinn kommt, aber aus irgendeinem Grund unpassend für die jeweilige Kommunikationssituation erscheint, durch einen angemesseneren Ausdruck ersetzen. Auch beim Schreiben von Texten tauschen wir nicht selten ein Wort aus, um Wiederholungen zu vermeiden, und zwar ohne dass ein wesentlicher Teil des Inhalts verloren geht. Diese Ersetzungen sind nur deshalb möglich, weil Wörter in ein Netz von Relationen eingebunden sind, das uns den Zugriff auf lexikalische Alternativen erlaubt. Die semantischen Beziehungen, die zwischen Wörtern angesetzt werden können, treten in zwei grundsätzlich verschiedenen Ausprägungen auf: als paradigmatische und als syntagmatische Relationen. Die syntagmatischen Relationen sind diejenigen, die zwischen den Wörtern einer Äußerungskette bestehen, z. B. zwischen Beschwerde und einlegen, Hund und bellen, blühen und Blume. Dabei sind allerdings nur die Relationen für die Lexikologie von Bedeutung, die nicht durch Regeln der Syntax vorgegeben sind. Dass z. B. Hund und schlafen als Subjekt bzw. Prädikat eines Satzes in eine Relation gesetzt werden können, ist für lexikologische Fragestellungen unerheblich. Wichtig sind die nur häufigen (,rekurrenten‘) Kombinationen von Wörtern. Diese zu erlernen, stellt beim Erwerb einer Fremdsprache sicher eine der größten Hürden dar, und nur wer hier die richtigen Verbindungen beherrscht, spricht eine Sprache wirklich idiomatisch. Den syntagmatischen, horizontalen Relationen stehen die paradigmatischen, vertikalen Beziehungen gegenüber. Sie betreffen Wörter, die dieselbe Position in einer Äußerungskette einnehmen können, ohne dass diese an Akzeptabilität verliert: (1) a. Das Kind ist gegen Mumps (Masern, Röteln, Keuchhusten, Diphtherie) geimpft. b. Das Kind ist gegen Mumps (?Heuschnupfen, ?Beinbruch, ?Erkältung) geimpft. Während in (1a) eine Ähnlichkeitsrelation zwischen den betreffenden Wörtern vorliegt – es handelt sich um Kinderkrankheiten, gegen die geimpft werden kann –, sind in der folgenden Äußerung auch Wörter einsetzbar, die einen Gegensatz bezeichnen:

paradigmatische und syntagmatische Relationen

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5. Sinnrelationen – Wörter und ihre Beziehungen

(2) Susi betrachtet sich im Spiegel und findet sich (schön, umwerfend, grau, häßlich, reizend, mittelmäßig …).

Similaritäts-, Kontrast- und Kontiguitätsrelationen

Ähnliche oder gegensätzliche Wörter, die durch die gemeinsame Einsetzbarkeit in eine bestimmte Leerstelle untereinander verbunden sind, bilden eine sog. Substitutionsklasse (Lutzeier 1995: 165). Ähnlichkeit und Gegensatz – man spricht in der Lexikologie auch von Similarität und Kontrast (Blank 2001: 41) – sind die grundlegenden paradigmatischen Relationen. Zwischen Ähnlichkeit und Kontrast stehen die skalaren Relationen, die unterschiedlich starke Ausprägungen einer Eigenschaft enthalten. Hinzu kommt als weiterer Relationstypus noch die Kontiguität (lat. contiguus ,angrenzend, benachbart‘). Kontiguität besteht zwischen zwei Referenten, die in der Wirklichkeit etwas miteinander zu tun haben, die sich also räumlich oder zeitlich überlappen, z. B. die Beziehung zwischen Teil und Ganzem (s.o. Kap. 4.6.2.2). Die Similaritäsrelationen bilden den vielfältigsten Relationstypus; auf diesen sei daher zuerst eingegangen.

5.1 Similaritätsrelationen 5.1.1 Synonymie Wenn Wörter die gleiche Bedeutung haben, spricht man von Synonymie. Was aber heißt ,die gleiche Bedeutung haben‘? In einer extensionalen Semantik wird Bedeutungsgleichheit als Referenzidentität bestimmt: Beide Wörter beziehen sich auf denselben Referenten bzw. dasselbe Denotat. Demzufolge wären die folgenden Wörter synonym: (3) a. Unser Gehalt/unser Lohn wurde endlich erhöht. b. Wir fahren bald in die Ferien/in den Urlaub. c. Gestern habe ich einen Brief vom Finanzamt bekommen/erhalten. d. Lebensmittel sind in Deutschland sehr billig/preiswert. Austauschbarkeit

Für diese Beispiele kann man sich in der Tat darauf verständigen, dass die betreffenden Ausdrücke austauschbar sind, während der jeweilige Referent konstant bleibt. Eine andere Frage ist freilich, ob die aufgeführten Wortpaare in allen denkbaren Satzzusammenhängen einander vertreten können. Das ist eindeutig nicht der Fall: (4) a. Er hat für seine Sünden den gerechten Lohn/*das gerechte Gehalt bekommen. b. Sie hat bei ihrem Chef einen Tag Urlaub/*Ferien beantragt. c. Morgen bekommen/*erhalten wir Regen. d. Das ist eine ziemlich billiger/*preiswerter Verkaufstrick.

absolute und partielle Synonymie

Synonymie kann also nicht für alle Verwendungen eines Wortes behauptet werden, sondern gilt nur für einzelne Kontexte. Zudem zeigt sich etwa an dem Beispiel (4d), dass Synonymie streng genommen keine Relation zwi-

5.1 Similaritätsrelationen

schen Wörtern, sondern zwischen Wortbedeutungen (oder Lesarten) ist, denn billig ist, wie die meisten Wörter, polysem. Es bedeutet unter anderem ,günstig im Preis‘ (billige Äpfel), ,minderwertig‘ (billige Absteige) sowie ,leicht durchschaubar‘ (billiger Verkaufstrick, s. o.). Eine Synonymierelation besteht nur zwischen einzelnen Wortbedeutungen, d. h. in diesem Fall zwischen billig ,günstig im Preis‘ und etwa preiswert ,günstig im Preis‘ (Letzteres ist allerdings monosem). Absolute Synonymie, d. h. die Austauschbarkeit aller Lesarten zweier Wörter in allen Kontexten, gibt es wahrscheinlich nicht. Es gibt vielmehr nur partielle Synonymie. Ein erster Definitionsversuch für den Begriff Synonymie müsste also folgendermaßen lauten:

extensionale Definition

Synonymie (extensionale Definition): Zwei Wörter sind synonym, wenn mindestens eine ihrer Lesarten in mindestens einem gemeinsamen Kontext referenzidentisch verwendet werden kann. Dieser Definitionsversuch ist extensional, weil er die Referenz in den Mittelpunkt stellt. Der extensionalen Definition zufolge wären indes auch die Wörter Katze und Tier als Synonyme zu behandeln, da sich beide Wörter in dem vorliegenden Kontext auf denselben Referenten beziehen lassen: (5) Er streichelte die Katze/das Tier. Die Annahme freilich, dass zwischen Katze und Tier eine Synonymierelation vorliegt, ist nicht plausibel: Wenn wir in dem Satz anstelle von Katze das Wort Tier einsetzen, so kann damit auch etwas ganz anderes als eine Katze gemeint sein (ein Hund, ein Meerschweinchen, eine Ziege etc.). Dieser Effekt zeigt sich bei den Beispielen in (3), die wir ohne Bedenken als Synonyme akzeptieren, nicht: Gehalt und Lohn, Ferien und Urlaub sind hier austauschbar, ohne dass die Größe der Referentenklasse sich ändert. Damit begriffliche Über- bzw. Unterordnungsrelationen wie in (5) nicht unter die Definition von Synonymie fallen, muss die extensionale Bestimmung des Synonymiebegriffs durch eine intensionale ergänzt bzw. durch diese ersetzt werden:

intensionale Definition

Synonymie (intensionale Definition): Zwei Wörter sind synonym, wenn mindestens eine ihrer Lesarten in mindestens einem gemeinsamen Kontext hinsichtlich ihrer semantischen Merkmale übereinstimmt. Die Merkmalsemantik birgt indes, wie in Kap. 4 angesprochen, ihre eigenen Schwierigkeiten. So wird man die Forderung, dass die semantischen Merkmale eines Wortes übereinstimmen sollen, kaum auf alle Merkmale – auf die obligatorischen wie die potenziellen – ausdehnen können. Akzeptierte man nur vollständig identische Merkmallisten, gäbe es wohl nicht mehr als eine Handvoll von Synonymen in einer Sprache. Vielmehr ist die intensionale Übereinstimmung auf die zentralen Inhaltsmerkmale, auf den Kern der

zentrale Inhaltsmerkmale

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5. Sinnrelationen – Wörter und ihre Beziehungen

periphere Inhaltsmerkmale

jeweiligen Bedeutungen zu beschränken – dies freilich in dem Bewusstsein, dass die Unterscheidung zwischen Kern und Peripherie einer Bedeutung nicht immer leicht fällt. Auf das Beispiel Ferien vs. Urlaub übertragen, heißt dies, dass ,arbeitsfreie Zeit‘ als der wesentliche gemeinsame Aspekt anzusehen ist. Die Frage, wie lange diese arbeitsfreie Zeit dauert (Ferien dauern länger, Urlaub kann auch nur einen Tag umfassen), ob sie beim Vorgesetzten beantragt werden muss oder sich aus den Festlegungen für das Schuljahr bzw. Semester ergibt, ist gegenüber dem zentralen Merkmal als sekundär einzustufen. Hier wird Synonymie also durch das zentrale Inhaltsmerkmal ,arbeitsfreie Zeit‘ begründet. Die peripheren Merkmale betreffen häufig unterschiedliche Wertungen, die mit ein und demselben Denotat verbunden sein können. Die feinen Unterschiede zwischen Synonymen sind also häufig in den Konnotationen zu suchen, wie die folgenden Beispiele zeigen: (6) a. Gesicht/Anlitz/Fresse b. Pferd/Gaul c. Hund/Köter d. sterben/entschlafen/verrecken

Synonymie als dominante Relation

Gründe für die Entstehung von Synonymen

Zum Deutschen gibt es eine Reihe von Synonymwörterbüchern (z. B. Duden-Synonymwörterbuch, Bulitta/Bulitta 1999 sowie – als Sonderfall – auch der ,Dornseiff‘). Auch wenn die Wörterbücher den Synonymbegriff zum Teil relativ weit interpretieren, belegt allein die Existenz dieser umfangreichen Nachschlagewerke, dass Synonymie keine Normabweichung, kein sprachlicher ,Unfall‘ ist, sondern eine dominante Relation im Wortschatz darstellt. Neben der Möglichkeit, Wertungen auszudrücken wie in (6), erfüllen sie auch in stilistischer Hinsicht wichtige Funktionen. Sie können dazu dienen, Wiederholungen im Text zu vermeiden, sie können aber auch dazu genutzt werden, eine Steigerung oder Differenzierung der Aussage auszudrücken. Wir brauchen also offenbar Synonyme, um erfolgreich kommunizieren zu können. Die einzelnen Bedürfnisse und Faktoren, die zu einer Erweiterung des Wortschatzes durch Synonyme führen, können unterschiedlichster Art sein. In Anlehnung an die Zusammenstellung bei Schippan (1992: 213 f.) können unter anderem die folgenden – teilweise eng zusammengehörigen – Gründe für die Entstehung von Synonymie identifiziert werden: – Entlehnung: Baby/Säugling, Cash/Bargeld – Verdeutschung von Entlehnungen: Anschrift/Adresse, Umschlag/Kuvert, Pförtner/Portier, Bahnsteig/Perron (zum sprachgeschichtlichen Hintergrund dieser und ähnlicher Verdeutschungen von Polenz 1999: 268 f.) – Euphemistische Umschreibungen: verscheiden/sterben – Neumotivierende Synonyme: Krankenpflegerin/Krankenschwester, Hebamme/Geburtshelferin; teilweise spielt hier auch das Bedürfnis nach politisch korrekten Bezeichnungen eine Rolle: wirtschaftliche Zusammenarbeit/Entwicklungshilfe, Putzfrau/Raumpflegerin – Bedürfnis nach Ausdruckskürze: Lkw/Lastkraftwagen, UB/Universitätsbibliothek

5.1 Similaritätsrelationen

– Bedürfnis nach fachgerechter Ausdrucksweise: rationell/sparsam, Lexem/ Wort – Bedürfnis nach expressiv-bildlicher Ausdrucksweise: grünes Licht geben/ erlauben – Das Bedürfnis nach Euphemismen und Dysphemismen: sterben/entschlafen vs. verrecken/krepieren

5.1.2 Heteronymie Eine besonders interessante Gruppe von Synonymen, die durch keines der oben genannten Kommunikationsbedürfnisse motiviert ist, liegt mit den Beispielen in (7) vor. (7) a. Sonnabend/Sonntag b. Schlachter/Metzger/Fleischer/Fleischhacker c. Semmel/Brötchen/Rundstück Hierbei handelt es sich um Wörter, die zwar absolut referenz- bzw. bedeutungsidentisch sind, die aber grundsätzlich nicht frei ausgetauscht werden können, weil sie nur für bestimmte Sprachregionen gelten: Sonnabend ist im Norden geläufig, während es in der Mitte und im Süden des deutschen Sprachgebietes Samstag heißt; Brötchen ist im nord- und mitteldeutschen Sprachgebiet verbreitet, während Semmel im deutschen Nordwesten, Südosten sowie in Österreich das übliche Wort darstellt. Um diese Art der Äquivalenz von der Synonymie abzugrenzen, hat man den Begriff Heteronymie geprägt.

5.1.3 Plesionymie Bei der Einführung der Synonymierelation haben wir festgestellt, dass es absolute Synonymie – d. h. die vollständige Austauschbarkeit zweier Wörter in sämtlichen denkbaren Kontexten – wohl kaum gibt. Pittner (2013: 110) nennt zwar die Paare Streichhölzer/Zündhölzer, Apfelsine/Orange als Beispiele für kontextübergreifend austauschbare und daher absolute Synonyme, nach Ausweis von Ammon et al. (2004: 50, 902) liegt in diesen Fällen jedoch eine klar erkennbare regionale Verteilung der betreffenden Wörter vor. Von absoluter Synonymie kann hier also nicht die Rede sein; stattdessen liegt ein klarer Fall von Heteronymie vor. Obwohl es somit als sicher gelten kann, dass Synonymie eigentlich immer nur partiell ist, wird in der Forschung in Anlehnung an Lyons (1977) und Cruse (1986, 2010) teilweise noch eine weitere synonymische Relation angesetzt, die ,Fast-Synonymie‘ oder ,Plesionymie‘ (zu griech. plesíos ,nahe‘). Dieser Auffassung zufolge unterscheiden sich Plesionyme von den Synonymen dadurch, dass sich beim Austausch der betreffenden Wörter in einem identischen Satzzusammenhang die jeweilige Referenz sehr wohl ändert, allerdings nur minimal. Diese minimale Änderung betrifft nicht nur die konnotativen Merkmale wie in den Beispielen in (6), sondern durchaus das Zentrum des Wortinhalts. Plesionymie wird etwa für die Paare heiß – kochend, laufen – rennen, lacheln – lächeln, klein – winzig, Bitte – Aufforderung angenommen (Beispiele nach Storjohann 2006: 10 f.).

minimale referenzielle Abweichung

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5. Sinnrelationen – Wörter und ihre Beziehungen Kontrastierbarkeit

Plesionyme sind nach Cruse (1986: 267) und Storjohann (2006: 8 f.) am besten daran erkennbar, dass beide Wörter einen Kontrast ausdrücken, wenn sie gemeinsam in einem Textausschnitt erscheinen. Einen Test für das Vorliegen dieser Relation bieten folglich Ausdrücke wie nicht (nur) X, sondern Y: (8) a. Dies ist keine Bitte, sondern eine Aufforderung. b. Hans lief nicht nur nach Hause, er rannte. c. Der Unterschied ist nicht nur klein, sondern winzig. d. Über diesen Witz kann man nicht lachen, höchstens schmunzeln. Nun sind Sätze, die ein Formulierungsmuster wie in (8) enthalten, auch mit einigen Beispielwörtern bildbar, die wir oben der Synonymie zugeschlagen haben. Dies gilt nicht zuletzt für die Wortpaare in (9a) bis (9c), die sich durch ein expressives konnotatives Merkmal unterscheiden. Gerade sie hatte Cruse (2010: 144) aber ausdrücklich nicht unter die Plesionyme, sondern unter die Synonyme gerechnet. (9) a. Das ist kein Pferd, sondern ein Gaul! b. Der Arme ist nicht gestorben, sondern buchstäblich verreckt. c. Der Typ da hat doch kein Gesicht, das ist eine richtige Fresse! d. Beamte erhalten keinen Lohn, sondern ein Gehalt. e. Das Hotel ist nicht billig, aber immer noch preiswert.

Plesionymie als skalare Relation

Die Kontrastierbarkeit auf kleinstem Raum stellt somit kein verlässliches Kriterium dar, wenn es darum geht, Plesionyme von den Synonymen abzugrenzen. Ein Argument gegen den Ansatz einer Relation Plesionymie ist aber auch, dass sich die vorliegenden Beziehungen in den meisten Fällen viel besser und präziser als Skalenrelationen beschreiben lassen. Es handelt sich bei den Beispielpaaren jedenfalls fast immer um die jeweils stärkere bzw. schwächere Ausprägungen eines Eigenschaftskonzepts – winzig ist eine Steigerung von klein, eine Aufforderung ist stärker als eine Bitte, lächeln ist eine verhaltenere, abgeschwächte Form des Lachens. Der Begriff der Plesionymie oder Fast-Synonymie verfehlt aber gerade diese zentrale Eigenschaft der betreffenden Wortpaare. Statt von Plesionymen sollte daher besser schlicht von ,skalaren Relationen‘ die Rede sein.

5.1.4 Paronymie Wörter, die einen erhöhten Grad an „ausdrucksgebundener Verwechslungsmöglichkeit“ (Hausmann 1990: 1120) aufweisen, werden auch als Paronyme bezeichnet (zu griech. para- ,bei, neben‘). Dazu zählen Wortpaare wie in (10). (10)

a. anscheinend/scheinbar b. formal/formell c. effektiv/effizient d. Referenz/Reverenz (Beispiele nach Storjohann 2014: 22)

5.1 Similaritätsrelationen

Paronyme weisen jedoch nicht nur eine enge ausdrucksseitige, sondern in vielen Fällen auch eine inhaltsseitige Similarität auf. Oftmals gehören sie auch einer Wortfamilie an (dazu s. Kap. 6.4). Die semantische und formale Nähe führt nicht selten dazu, dass die betreffenden Lexeme nicht auseinandergehalten werden können und der ,richtige‘ Gebrauch in einem Wörterbuch nachgeschlagen werden muss (etwa in Duden – Synonymwörterbuch oder Duden – richtiges und gutes Deutsch). Eine präzise Differenzierung zwischen Paronymen ist jedoch in der Alltagssprache oftmals gar nicht vonnöten. Sprecherinnen und Sprecher kommen schließlich überwiegend auch ohne die Unterscheidung zwischen anscheinend und scheinbar, effektiv und effizient zurecht. Lediglich in der Schriftsprache und in komplexeren Kommunikationszusammenhängen, hier etwa besonders im Rechtswesen oder der Philosophie, werden solche Unterschiede relevant.

5.1.5 Hyponymie/Hyperonymie Die Kategorisierung, d. h. die Zusammenfassung von Einzeldingen zu übergeordneten Kategorien oder Klassen, stellt eine der grundlegenden menschlichen Kognitionsleistungen dar. Auch Wortbedeutungen sind Ergebnisse von Kategorisierungen, da sie einzelne Referenten aufgrund ausgewählter Eigenschaften zu einer Klasse zusammenfassen. Ein Wort bildet indes nicht nur für sich genommen eine Kategorie, verschiedene Wörter können selbst wieder zu einer höheren Kategorie vereinigt werden. Auf diese Weise entstehen hierarchische Relationen im Lexikon, wie sie etwa in dem folgenden Beispiel vorliegen:

Hierarchien im Lexikon

Abb. 12: Die Hierarchie Fortbewegungsmittel

Die übergeordnete lexikalische Kategorie, hier Fortbewegungsmittel, stellt das Hyperonym dar (zu griech. hyper- ,über‘), die Wörter auf der unteren Hierarchieebene, d. h. Auto, Fahrrad usw., sind die Hyponyme (zu gr. hypo,unter‘). Will man das Verhältnis der Wörter beschreiben, die sich auf gleicher Hierarchieebene befinden, spricht man von Kohyponymie. Hyponymie bzw. Hyperonymie stellen keine aboluten, sondern relative Begriffe dar: Schiff ist Hyponym zu Fortbewegungsmittel und gleichzeitig Hyperonym zu Segelschiff, Dampfschiff, U-Boot usw. Zu Segelschiff könnte man wiederum die Hyponyme Bark, Brigg, Dschunke o. ä. stellen. Hyponymie ist somit grundsätzlich rekursiv.

Abb. 13: Rekursivität in der Hierarchie Fortbewegungsmittel

Rekursivität

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5. Sinnrelationen – Wörter und ihre Beziehungen

Implikationsrelationen

Die lexikalische Hierarchie, die sich auf diese Weise ergibt, ist gleichwohl nicht unendlich erweiterbar. Dies gilt für die unterste Ebene, die kaum mehr weiter lexikalisch spezifizierbar ist, aber vor allem auch für die Ebene oberhalb der sog. Basisbegriffe wie Auto, Fahrrad, Schiff (s. auch Kap. 4.5.3). So fällt es schwer, ein Wort zu finden, das gemeinsam mit Fortbewegungsmittel einem noch allgemeineren Begriff unterzuordnen wäre. Bereits Fortbewegungsmittel ist kein geläufiges Wort, und es ist sprachgeschichtlich gesehen im Vergleich zu den meisten der ihm untergeordneten Wörtern auch relativ jung (vgl. 2DWB 9, 801). Die Feststellung, dass Hyponymie eine hierarchische Relation zwischen zwei Wörtern darstellt, lässt allerdings noch im Unklaren, wie Hyponymie denn eigentlich zu definieren ist und wie sie vor allem von einer Relation wie der zwischen Finger und Hand oder Flügel und Vogel abgegrenzt werden kann, die ebenfalls in gewisser Weise hierarchisch ist. Eine präzisere Beschreibung der Hyponymierelation wird meist auf zwei Wegen versucht: auf der Basis logischer Verfahren sowie mit Hilfe alltagssprachlicher Testformulierungen. In logischer Hinsicht kann Hyponymie als einseitige Implikationsrelation, d. h. als eine Wenn-Dann-Beziehung zwischen zwei Wörtern bzw. zwei Aussagen bestimmt werden, die diese Wörter enthalten (vgl. Lyons 1977: 292; Cruse 1986: 88 f.; Croft/Cruse 2004: 142 f.): (11)

Wenn ein Referent X ein Fahrrad ist, dann ist X auch ein Fortbewegungsmittel.

Einseitig ist diese Implikation deshalb, weil die umgekehrte Folgerung nicht möglich ist: (12)

weitere Testformulierungen

*Wenn ein Referent X ein Fortbewegungsmittel ist, dann ist X auch ein Fahrrad.

Neben das Kriterium der einseitigen Implikation kann eine Reihe von Testformulierungen treten, mit deren Hilfe man Hyponymie identifizieren kann (hierzu Cruse 1986: 91; Croft/Cruse 2004: 144 f.). (13)

a. Ein X ist eine Art Y b. X und andere Y c. Kein Y ist besser als ein X

Vergleiche dazu die folgenden Beispiele: (14)

Flexibilität der Hierarchien

a. Eine Dschunke ist eine Art Segelschiff; ein Auto ist eine Art Fortbewegungsmittel. b. Autos und andere Fortbewegungsmittel; Katzen und andere Haustiere. c. Kein Haustier ist besser als eine Katze; keine Pflanze ist schöner als die Blume.

An den Beispielen aus der Hierachie Fortbewegungsmittel zeigt sich aber auch, dass Wörter nicht fest in eine bestimmte lexikalische Hierarchie ein-

5.2 Kontiguitätsrelationen – Meronymie und Holonymie

gebunden sind, ja dass die Hierarchien bis zu einem gewissen Grade flexibel sind. So sind die Hyponyme von Schiff nicht notwendigerweise Segelschiff und Dampfschiff, wie hier in Abb. 13 angenommen wurde. Die Wahl der Hyponyme und auch der Hyperonyme hängt immer von semantischen Vorentscheidungen ab; Lutzeier (1995: 74) spricht hier vom jeweiligen ,Aspekt‘, der für die Hierarchie gewählt wird. Bei Segelschiff und Dampfschiff als Hyponymen zu Schiff ist der Aspekt der Antriebsart ausschlaggebend. Es kann aber auch der Aspekt der Funktion in den Vordergrund gestellt werden, dann wären z. B. Handelsschiff, Kriegsschiff und Kreuzfahrtschiff die jeweiligen Hyponyme. Solche semantischen Voreinstellungen beeinflussen nicht nur die Wahl der Hyponyme, sondern selbstverständlich auch die der Hyperonyme. So kann Kriegsschiff nicht nur dem Hyperonym Schiff, sondern auch der Hierarchie Waffensystem zugeordnet werden, in der es etwa neben den Kohyponymen Kampfflugzeug und Panzer stünde. Hyponymische Relationen liegen nicht nur zwischen Substantiven, sondern auch zwischen Verben vor. Bei Verben fällt es allerdings schwer, eine geeignete Testformulierung zu finden, die mit den Mustern in (13) vergleichbar wäre. In Frage kommt hier allenfalls „X ist eine Art Y“ oder „X und Y sind unterschiedliche Arten zu Z“: (15)

Hyponymie bei Verben

a. Rennen und kriechen sind unterschiedliche Arten, sich fortzubewegen. b. Verhungern und verdursten sind unterschiedliche Arten zu sterben. c. ?Etwas zu hören und zu sehen sind unterschiedliche Arten, etwas wahrzunehmen.

Die Tatsache, dass für Verben nur schwer ein geeigneter Testrahmen gefunden werden kann, ist ein Indiz dafür, dass die Hyponymie eine Relation darstellt, die eher für Substantive und weniger für Verben von Bedeutung ist. Sprecher und Sprecherinnen haben offenbar stärker das Bedürfnis, Gegenstände zu Klassen zusammenzufassen, während Ereignisse nicht unbedingt einem allgemeineren Typus zugeordnet werden müssen. Aus diesem Grund weisen die Hierarchien bei Verben – und übrigens auch bei Substantiven, die von Verben abgeleitet sind, wie Aufführung oder Telefonat – meist weniger Ebenen auf als substantivische Hierarchien wie die in Abb. 13. So gibt es zu verhungern oder kriechen keine Hyponyme mehr, und auch oberhalb der Basisebene ist zumindest im Fall sterben kein Hyperonym vorhanden.

5.2 Kontiguitätsrelationen – Meronymie und Holonymie Die wichtigste lexikalische Kontiguitätsrelation ist die zwischen Teil und Ganzem: Hand – Finger, Fuß – Bein, Ast – Baum, Tischbein – Tisch, Dach – Haus, Griff – Hammer. Das Wort, das in einem solchen Paar den Teil bezeichnet, ist das Meronym (zu griech. méros ,Teil‘), das Wort für die jeweilige Ganzheit ist das Holonym (griech. hólos ,ganz‘).

Teil und Ganzes

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5. Sinnrelationen – Wörter und ihre Beziehungen

In Anlehnung an Cruse (2002: 545) können die folgenden Punkte als zentrale Eigenschaften von Meronymie genannt werden: a) räumliche Inklusion des Teils durch das Ganze b) Konstanz der Verbindung von Teil und Ganzem c) Konstanz der Unterscheidbarkeit von Teil und Ganzem d) Unmittelbarkeit der Relation

sprachliche oder außersprachliche Relation?

Inklusion – Kriterium a) – bedeutet, dass beim Referieren auf ein X stets auf ein Y mit referiert wird, wobei die räumliche Ausdehnung von X kleiner ist als die von Y: Wenn wir Hand sagen, ist ein Referent ,Finger‘ stets mitgemeint, und ,Finger‘ ist kleiner als ,Hand‘. Kriterium b) besagt, dass die Referenten X und Y fest zusammengehören müssen, damit sie als Teil und Ganzes identifizierbar sind. So bilden ,Hand‘ und ,Arm‘, ,Tischbeine‘ und ,Tisch‘ sowie auch ,Reifen‘ und ,Auto‘ im Normalfall eine Einheit, während die Verbindung von ,Finger‘ und ,Ring‘, ,Tisch‘ und ,Tischdecke‘ aufgehoben werden kann, ohne dass einer der beiden Referenten funktionsuntüchtig oder zerstört wird. Kriterium c) dient der Abgrenzung von Teilen und Bestandteilen: ,Hopfen‘, ,Wasser‘, ,Malz‘ und ,Hefe‘ sind nicht in gleicher Weise als Teile von ,Bier‘ zu beschreiben wie ,Hand‘ ein Teil von ,Arm‘ ist. Die genannten Stoffe gehen in dem Endprodukt mehr oder weniger vollständig auf und sind deshalb kaum auseinanderzuhalten (z. B. nur, wenn sich bei manchen Biersorten ein Teil der Hefe unten absetzt oder wenn man den Malzanteil herausschmeckt). Von Meronymie kann man in diesem Fall somit nicht sprechen. Die Eigenschaft d) schließlich – die Unmittelbarkeit der Relation – ist für die korrekte Verwendung der Formulierung X ist ein Teil von Y wichtig. Diese Formulierung ist nämlich nur dann einwandfrei möglich, wenn Unmittelbarkeit vorliegt: So kann man problemlos Die Hand ist ein Teil des Arms sagen, aber Sätze wie ?Die fünf Finger sind Teile des Arms oder gar die ??Die Fingerkuppen sind Teile des Arms wirken seltsam. Es darf somit keine andere Teil-Ganzes-Relation zwischen den beiden betroffenen Wörtern liegen. Bei der Meronymie stellt sich grundsätzlich die Frage, inwiefern es sich überhaupt um eine sprachlich relevante Relation handelt (Lutzeier 1995: 77). Werden mit den oben genannten Kriterien nicht eher Verhältnisse in der Welt bzw. in unserer Weltwahrnehmung beschrieben und weniger Beziehungen zwischen Wörtern? Dieser Einwand ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Es gibt jedoch auch einige Indizien dafür, dass Meronymie und reale Teil-Ganzes-Relationen nicht völlig deckungsgleich sind, dass die Meronymie also tatsächlich eine sprachlich relevante Erscheinung darstellt. Dies zeigt sich zum einen an der oben beschriebenen Verwendung des Ausdrucks Teil von: Eine Radmutter ist etwas, was sich an jedem Auto findet und dementsprechend in jedem Autoteilehandel gekauft werden kann. Der Ausdruck ?Die Radmutter ist Teil des Autos ist jedoch wegen des Verstoßes gegen das Kritrium d) etwas fragwürdig. Besonders deutlich zeigt sich dies auch an den Gebrauchsbedingungen für das Verb haben. Auch hier spielt das Kriterium der Unmittelbarkeit eine Rolle für die Akzeptabilität von haben:

5.3 Kontrastrelationen

(16)

a. Die Haustür hat eine Delle. b. Die Hausfront hat eine Delle.

Der Satz (16b) ergibt sich hier nicht aus (16a), da die Eigenschaft Delle haben nicht von Haustür auf das nächstgrößere Ganze übertragen wird. Das Verb haben erzwingt somit eine meronymische Interpretation des betreffenden Sachverhalts, und zwar insofern, als automatisch die Unmittelbarkeit der Relation vorausgesetzt wird. Meronymie findet sich nicht nur bei Substantiven, sondern kann prinzipiell auch für Verben angesetzt werden (vgl. Cruse 1986: 173–175; Miller/ Fellbaum 1992: 222 und Lutzeier 1995: 77). So kann man bei Wortpaaren wie erblühen und blühen ebenfalls von zeitlicher Inklusion sprechen: erblühen ist dann als eine Teilphase, genauer gesagt als die Anfangsphase des Ereignisses blühen aufzufassen. Hier ergibt sich allerdings das Problem, dass zeitliche Inklusion schwerer greifbar ist als eine räumliche Inklusion, wie sie etwa bei Hand und Arm vorliegt. So kann man sich fragen, ob die Anfangsphase des allmählichen Entfaltungsprozesses, den erblühen bezeichnet, bereits eine Teilphase von blühen ist oder ob erblühen nicht teilweise außerhalb der zeitlichen Erstreckung von blühen liegt, das doch eigentlich den Zustand ,voll in Blüte stehen‘ meint – blüht die Blume schon oder erblüht sie gerade noch? Anstelle von Inklusion liegt hier also eher eine zeitliche Überlappung der beiden Ereignisse blühen und erblühen vor, ähnlich wie auch bei dem Verbpaar losrennen – rennen, einschlafen – schlafen (zu solchen Beziehungen zwischen Verben vgl. weiter auch Ballmer/Brennenstuhl 1986: 58).

Meronymie bei Verben

5.3 Kontrastrelationen Eine grundlegende Kontrastrelation haben wir schon im Zusammenhang mit der Hyponymie kennengelernt, nämlich bei den Kohyponymen. Wörter wie Auto, Schiff, Zug, die auf derselben Abstraktionsebene innerhalb der Hierarchie anzusiedeln sind, zeichnen sich durch gegenseitige Unvereinbarkeit – Inkompatibilität – aus: Ein und derselbe Referent kann nicht gleichzeitig ein Auto und Zug sein. Aus der Geltung des einen Elementes (z. B. Auto) kann hier somit gefolgert werden, dass alle anderen Kohyponyme nicht gelten. Nun kann man mit gewissem Recht einwenden, dass z. B. auch Auto und Meerschweinchen inkompatibel sind, weil ein Referent nicht beides zugleich sein kann. Im Gegensatz zur Inkompatibilität zwischen Kohyponymen ist die Inkompatibilität zwischen Auto und Meerschweinchen allerdings trivial. Dass die Inkompatibilität von Auto, Zug, Schiff usw. nicht trivial, sondern sprachlich relevant ist, zeigt sich an Kontrastierungen wie in (17a). Der Gegensatz in (17b), der keine Kohyponyme umfasst, hat demgegenüber eine komische Wirkung. (17)

a. Wir sind nicht mit dem Auto, sondern mit dem Zug gefahren. b. Wir haben kein Auto, sondern ein Meerschweinchen gekauft.

Inkompatibilität

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5. Sinnrelationen – Wörter und ihre Beziehungen Antonymie

Komplementarität

Konversivität

Reversivität

Eine Gegensatzrelation, welche im Wesentlichen Adjektive betrifft, ist die Antonymie. Antonyme sind Wörter wie gut – böse, schön – hässlich, groß – klein, früh – spät, hell – dunkel, kalt – warm. Hier liegt ebenfalls insofern Inkompatibilität vor, als von der Geltung des einen Wortes auf die NichtGeltung des anderen geschlossen werden kann: Wenn etwas warm ist, dann ist es nicht kalt. Allerdings ist der umgekehrte Schluss von der NichtGeltung auf die Geltung des Gegenteils interessanterweise nicht möglich: Wenn etwas nicht kalt ist, so ist es nicht automatisch warm, sondern könnte auch lauwarm sein. Antonymie zeichnet sich also stets durch einen Übergangsbereich, eine Skala aus, deren Endpunkte von jeweils einem der betreffenden Ausdrücke eingenommen werden. Die mittleren Bereiche können dabei durch eigene Wörter repräsentiert sein wie im Fall von kalt – lau – warm oder groß – mittelgroß – klein. In vielen Fällen gibt es jedoch kein eigenes Adjektiv, das den Zwischenbereich sprachlich fasst: gut – ?mittelmäßig – böse. Entscheidend für die Annahme eines Zwischenbereichs ist dagegen, dass die betreffenden Adjektive steigerbar (gradierbar) sind: warm, wärmer, am wärmsten. Liegen zwei Adjektive vor, die nicht steigerbar sind und die dementsprechend keinen semantischen Zwischenbereich aufweisen, spricht man von Komplementarität. Dies betrifft Beispiele wie tot – lebendig, verheiratet – unverheiratet, behandelt – unbehandelt. Da hier keine Skala zwischen den beiden Bedeutungen existiert, kann nicht nur von der Geltung des einen Elementes auf die Nicht-Geltung des anderen, sondern auch umgekehrt von der Nicht-Geltung auf die Geltung des jeweils anderen geschlossen werden: Wenn etwas tot ist, ist es nicht lebendig, und wenn etwas nicht tot ist, dann ist es lebendig. (Hier liegt das logische Verhältnis der Kontradiktion vor.) Die Gegensatzrelation der Konversivität ist bei Beispielen wie kaufen – verkaufen, Ehemann – Ehefrau gegeben. Auch hier kann man vom Bestehen des einen auf das Nicht-Bestehen des anderen (aber nicht umgekehrt!) schließen: Man kann nicht gleichzeitig etwas kaufen und verkaufen, und wenn man etwas nicht kauft, bedeutet es nicht automatisch, dass man verkauft (man könnte es ja auch leihen oder stehlen). Das Entscheidende an dieser Relation ist indes, dass man von dem einen Wort durch Vertauschung der Argumentstellen zum anderen gelangen kann: Der Junge kauft Brot vom Bäcker > Der Bäcker verkauft dem Jungen Brot; Susi ist Ehefrau von Jürgen > Jürgen ist Ehemann von Susi. Hier liegt also im Grunde nur ein Wechsel der Perspektive auf ein und denselben Sachverhalt vor. Eine allein für Verben geltende Relation ist schließlich die Reversivität. Wesentlich für diese Relation ist das zeitliche Verhältnis zwischen den betreffenden Verben. Der Anfangszustand des ersten Ereignisses ist zugleich Endzustand des zweiten Ereignisses (und umgekehrt): aufschließen – zuschließen, anschalten – ausschalten. Beide Verben bilden damit einen geschlossenen Zyklus zweier sich stets abwechselnder Ereignisse. Auch wenn in diesem Abschnitt der Einfachheit halber überwiegend von „Wörtern“ die Rede war, welche Gegensätze bilden, ist wichtig, sich noch einmal ins Bewusstsein zu rufen, dass es sich nicht um Beziehungen zwischen Wörtern mit ihrem gesamten Inhaltsspektrum handelt, sondern nur um Beziehungen zwischen einzelnen Wortbedeutungen. So gilt (um hier

5.5 Syntagmatische Relationen

das letzte Wortpaar als Beispiel zu nehmen) die Reversivität zwischen ausschalten und anschalten nur für die Bedeutungen ,durch Betätigung eines Schalters in Betrieb nehmen‘ bzw. ,außer Betrieb setzen‘. Ausschalten in der Lesart ,zunichte, unwirksam machen‘, wie sie etwa in den Widerstand ausschalten vorliegt, steht nicht in Gegensatzrelation zu anschalten.

5.4 Skalare Relationen Manche Adjektivpaare, z. B. klein – winzig, groß – riesig, zahlreich – zahllos, gemein – schamlos, scheinen zwischen Hyponymie und Antonymie zu schwanken (wir haben diese Beispiele teilweise bereits im Zusammenhang mit der Frage angesprochen, ob es Plesionymie gibt, s. Abschnitt 5.1.3). Von Hyponymie könnte hier insofern gesprochen werden, als winzig eine bestimmte – nämlich besonders ausgeprägte – Art von klein darstellt. Eine Übereinstimmung mit der Antonymie ist dagegen darin zu sehen, dass es einen Übergangsbereich zwischen beiden Wortbedeutungen gibt; von der einen zu der anderen kann man durch Verstärkung oder Abschwächung des jeweils anderen gelangen. Dieser fließende Übergang zwischen den Wörtern kommt in steigernden Kontrastierungen nach dem Muster nicht nur X, sondern Y gut zum Ausdruck: (18)

a. Die Puppe ist nicht nur klein, sondern winzig. b. Sein Handeln ist nicht bloß gemein, es ist schamlos! c. Er hat zahlreiche, um nicht zu sagen zahllose Ämter inne. d. Die Lage ist ernst, aber nicht kritisch.

Auch wenn diese Eigenschaft an die Antonymie erinnert, liegt hier doch keine Gegensatzrelation vor. Der Grund dafür ist, dass die zentrale Grundeigenschaft aller oben behandelten Gegensatzrelationen, die Inkompatibilität, hier nicht gegeben ist: Wenn jemand riesig ist, dann ist er mindestens auch groß. Umgekehrt kann man von X ist groß nicht zwingend darauf schließen, dass X ist riesig nicht gleichzeitig zutrifft. Auch als ein Spezialfall der Hyponymie kann die hier vorliegende Relation schwerlich betrachtet werden, da das für diese Fälle charakteristische Vorhandensein eines Übergangsbereichs zwischen beiden Wortbedeutungen untypisch für Hyponymie ist – zwischen Auto und seinem Hyponym Sportwagen gibt es keine Skala, und man kann von dem einen zu dem anderen Wort nicht durch Verstärkung oder Abschwächung gelangen. Es liegt somit nahe, für die oben genannten Beispiele von einem eigenen Relationstyp auszugehen, der hier schlicht als skalare Relation bezeichnet sei.

5.5 Syntagmatische Relationen 5.5.1 Relationen im Text Bei der Einführung der paradigmatischen Relationen ist an mehreren Stellen bereits deutlich geworden, dass diese sich auch auf der syntagmatischen Ebene, bei der Verkettung von Wörtern in Text- und Redezusammenhängen,

Hyponymie, Antonymie und Skalen

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5. Sinnrelationen – Wörter und ihre Beziehungen

manifestieren. So zeigt sich die zuletzt behandelte skalare Relation in Formulierungsmustern wie nicht nur X, sondern auch Y, und die Hyponymierelation ist Grundlage für Äußerungen des Typs X und andere Y. Die Hyponymie und auch die Synonymie sind in syntagmatischer Hinsicht besonders für die Gestaltung von Texten von zentraler Bedeutung. Texte zeichnen sich typischerweise dadurch aus, dass zwei oder mehrere aufeinanderfolgende Sätze Aussagen zu einem gleichbleibenden Referenten enthalten. Dass dieser wiederholte Bezug ohne die Gefahr einer ermüdenden Wiederholung hergestellt werden kann, wird zu einem nicht unwesentlichen Teil durch die Setzung von Synonymen und Hyponymen/Hyperonymen gewährleistet, vgl. dazu das Beispiel (19). (19)

Hans parkte seinen Rennwagen in der Tiefgarage. Er war sehr stolz auf sein Gefährt, obwohl er sich zum Einkaufen manchmal ein kleineres Auto wünschte.

Für die Verkettung von Hyponymen und Hyperonymen ist kennzeichnend, dass üblicherweise das Hyponym zuerst steht und bei der Wiederaufnahme das Hyperonym gewählt wird (vgl. dazu weiter Brinker 2001: 35).

5.5.2 „Wesenhafte Bedeutungsbeziehungen“ lexikalische Unverträglichkeiten

Von den im vorangehenden Abschnitt beschriebenen Entfaltungen paradigmatischer Relationen in der Äußerungskette sind die genuin syntagmatischen Relationen abzugrenzen. Als syntagmatische Relationen werden in der Lexikologie in erster Linie Einschränkungen in der Kombinationsmöglichkeit von Wörtern beschrieben. Dass nicht jedes Wort mit jedem beliebigen anderen verbunden werden kann, zeigen die Sätze in (20), die teilweise als ungewöhnlich oder nicht ernst gemeint, teilweise auch schlicht als falsch zu bewerten sind. (20)

a. ?Er log aufrichtig. (Beispiel nach Schippan 1992: 198) b. ?Sie schlief wachend. c. ?Meine Krawatte spricht. d. ?Die Katze hat gestern gebellt. e. ?Der Gärtner hat die Rose gefällt.

Die in diesen Beispielen offensichtlich vorliegenden lexikalischen Unverträglichkeiten sind unmittelbar auf die jeweiligen Wortbedeutungen zurückzuführen. Die lexikalische Bedeutung von lügen ist ,nicht die Wahrheit sagen‘, die von schlafen ,nicht wach sein‘; beide können daher nicht mit Adverbialen kombiniert sein, die genau das Gegenteil aussagen und die Verbalsemantik damit aufheben würden. Etwas anders ist der Fall (20c) gelagert. Die Eigenschaft ,nicht sprechend‘ ist nicht etwa ein semantisches Merkmal von Krawatte wie ,nicht wach‘ ein Merkmal von schlafen ist. Krawatte gehört zu der Kategorie der unbelebten Objekte, das Verb sprechen ist jedoch nur für die Kategorie ,Mensch‘ spezifiziert. In diesen Fällen passen also die übergeordneten, die sog. kategorialen Inhaltsmerkmale beider Wörter nicht zusammen.

5.5 Syntagmatische Relationen

In den Beispielen (20d) und (20e) liegt ebenfalls eine kategoriale Unverträglichkeit vor: Das Verb bellen ist für die Subjektklasse ,Hund‘ spezifiziert, fällen ist nur mit Objekten der Klasse ,Baum‘ verbindbar. Walter Porzig (1934) hat solche Beziehungen zwischen Verben wie bellen bzw. fällen und bestimmten Substantiven wie Hund bzw. Baum als „wesenhafte Bedeutungsbeziehungen“ bezeichnet („eine beziehung, die im wesen der gemeinten bedeutungen selbst gründet“ [Porzig 1934: 70]). Bei diesen „wesenhaften Beziehungen“ spielen die Verben, nicht die Substantive die entscheidende Rolle, da sie die Klasse ihrer Subjekte bzw. Objekte festlegen. Die Substantive Hund bzw. Baum sind in ihrer Kombinierbarkeit hingegen wesentlich freier, da man über Bäume und Hunde eine unüberschaubare große Menge von Aussagen machen kann (Der Hund springt, läuft, spielt, riecht, wird verarztet usw.). Porzig hat auch auf solche wesenhaften Beziehungen aufmerksam gemacht, die sich gerade nicht oder nur unter bestimmten Umständen in der syntagmatischen Verkettung zeigen. So besteht ihm zufolge eine Voraussetzungsrelation zwischen grundlegenden Verben einerseits und Wörtern für menschliche Organe und Körperteile andererseits: „Wie das gehen die füße voraussetzt, so das greifen die hand, das sehen das auge, das hören das ohr, das lecken die zunge, das küssen die lippen“ (Porzig ebd.). Bezeichnenderweise bleibt die Relation zwischen greifen und Hand, zwischen sehen und Auge im Regelfall jedoch unausgedrückt, wie das etwas seltsam anmutende Beispiel (21) zeigt: (21)

Voraussetzungsrelationen

?

Sie greift den Brief mit der Hand.

Nur wenn die Art des Sehens oder Greifens näher bestimmt werden muss wie in (22), können die betreffenden Substantive auch im Syntagma erscheinen: (22)

Sie greift den Brief mit zitternder Hand.

Wie schon Porzig im Ansatz erkannt hatte, zeigen sich enge syntagmatische Relationen insbesondere im Verhältnis zwischen Verben und ihren jeweiligen Mitspielern im Satz. Für dieses Verhältnis sei der Begriff der semantischen Kongruenz gewählt (in Anlehnung an die Kongruenz als einer zentralen grammatischen Eigenschaft, derzufolge z. B. ein Subjekt im Plural auch mit einer Verbform im Plural, ein feminines Substantiv auch mit einem feminin flektierten Adjektiv auftritt usw.; zum Begriff Plank 1984: 305). Eine solche semantische Übereinstimmung zeigt sich im Grunde in nahezu jeder Verbindung von Substantiv und Verb. So sind z. B. auch gänzlich unspektakuläre Verben in ihren Kombinationsmöglichkeiten alles andere als frei: Objekt von lesen etwa kann nur ein semantisch kongruierendes Substantiv, d. h. etwas Lesbares wie Buch, Roman, Plakat sein, und als Subjekte kommen nur lesefähige menschliche Individuen in Frage (*Der Säugling/*die Amöbe/*das Auto liest den Roman). Man spricht hier auch häufig davon, dass das Verb seinen Mitspielern Selektionsrestriktionen, also Einschränkungen in der Auswahl, auferlegt. Die semantische Kongruenz zwischen Verb und Substantiv kann teilweise so eng sein, dass geradezu feste Wortpaare entstehen. Solche Paare zeigen

semantische Kongruenz Selektionsrestriktionen

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5. Sinnrelationen – Wörter und ihre Beziehungen

sich beispielweise bei Ausdrücken wie den folgenden, die alle aus dem Bereich Bekleidung und Schmuck stammen: (23)

Kontextvariation

ein Armband anlegen, einen Ring anstecken, sich die Brille aufsetzen, eine Krawatte umbinden, einen Hut aufsetzen, eine Mütze anziehen, einen Mantel anziehen/überziehen

Hier gibt es zwar mit anziehen ein Verb, das mit relativ vielen Substantiven aus diesem Bereich verbunden werden kann. Vielfach zwingen die Verben ihren Mitspielern hier jedoch relativ strikte Selektionsbeschränkungen auf, und die semantische Kongruenz ist deutlich ausgeprägt. Die Beziehungen, die Wörter im Text- und Redezusammenhang miteinander eingehen, haben einen nicht unerheblichen Einfluss auf deren jeweilige Interpretation. Solche stark vom Kontext abhängigen Lesarten zeigen sich besonders bei Adjektiven – was erwartbar ist, da Adjektive prinzipiell der Qualifizierung eines anderen Wortes dienen. Diese kontextabhängige Flexibilität lässt sich an dem Farbadjektiv rot illustrieren. Je nachdem, in welcher Kombination es erscheint – ob in rote Rose, rote Haare, roter Kopf, roter Wein, roter Teppich, rote Ampel oder rotes Auto – liegt eine zumindest in Nuancen abweichende Lesart vor. Das betrifft zunächst unterschiedliche Rottöne, z. B. bei roter Wein gegenüber rotes Haar. Je nach dem Substantiv fällt aber auch der Geltungsbereich des Adjektivs unterschiedlich aus: In rote Rose gilt die Farbkennzeichnung für die Blüte (nicht die gesamte Pflanze). Wenn man jedoch vor Ärger einen roten Kopf bekommt, ist nicht der gesamte Kopf, sondern nur das Gesicht betroffen. Der rote Wein ist vollständig durchgefärbt, die rote Ampel hingegen nicht, und auch beim roten Auto ist in der Regel nur die Farbe der Karosserie gemeint, nicht das gesamte Auto einschließlich Innenbereich und Motor. Auch anderweitig kann man solche syntagmatisch bedingten Bedeutungsnuancierungen feststellen. So steckt hinter fahren in den Beispielen in (24) jeweils ein etwas anderer Sachverhalt: (24)

a. Luise fährt mit dem Auto zur Uni. b. Luise fährt mit dem Auto durch Italien. c. Meine Oma fährt mit einem Kreuzfahrtschiff über den Atlantik.

Hier liegt zwar in allen Fällen eine Bewegung vor, die Art der Bewegung ist jedoch abhängig vom jeweiligen Kontext: In (24a) ist die Bewegung zielgerichtet, und das Fahren wird bewusst und kontrolliert ausgeübt (wir lesen den Satz in der Regel ja so, dass Luise am Steuer sitzt). In (24b) bedingt die präpositionale Bestimmung durch Italien eine andere Art des Fahrens: nicht zielgerichtet, sondern eher kreuz und quer. Den Satz (24c) schließlich interpretieren wir aufgrund der Angabe mit dem Kreuzfahrtschiff in der Regel so, dass das Subjekt meine Oma keine kontrollierte und zielgerichtete Bewegung ausführt, sondern als Passagier mitfährt (es sei denn meine Oma wäre Kapitän). Diese kontextuell motivierten Interpretationen sind, wie in Kapitel 4.6.1 bereits besprochen, nicht als Fälle von Polysemie zu behandeln, da Polysemie prinzipiell kontextunabhängig ist.

5.5 Syntagmatische Relationen

5.5.3 Kollokationen Von den Kombinationsmöglichkeiten bzw. -beschränkungen, die eng mit der Bedeutung der jeweiligen Einzelwörter verbunden sind und die Porzig daher als „wesenhaft“ beschrieben hatte, sind solche Kombinationen abzugrenzen, die als Verbindungen gelernt werden müssen – die sog. Kollokationen (lat. collocatio ,Anordnung‘). Es handelt sich hierbei um Verbindungen wie die folgenden: (25)

eingefleischter Junggeselle, der Zorn verraucht, Geld abheben, Beschwerde einlegen, in Strömen regnen, schwer verletzt, frisch gestrichen, starker Tee, harsche Kritik üben

Franz Josef Hausmann (1989a), der den Begriff der Kollokation entscheidend geprägt hat, nennt drei wesentliche Eigenschaften dieser Verbindungen: i. Eine Kollokation stellt den bevorzugten, allgemein als richtig empfundenen Ausdruck für einen gegebenen Sachverhalt dar; ii. Kollokationen sind transparent, d. h. ihre Bestandteile sind für sich genommen verständlich; iii. die Elemente einer Kollokation stehen in einer spezifischen Relation zueinander, die mit den Begriffen ,Basis‘ und ,Kollokator‘ bezeichnet ist (Junggeselle wäre die Basis, eingefleischter der Kollokator). Das Charakteristikum (i) bedeutet, dass eingefleischter Junggeselle, Geld abheben, schwer verletzt gewissermaßen ,erste Wahl‘ sind, wenn nach einem treffenden Ausdruck für den gemeinten Sachverhalt gesucht wird. Die Ausdrucksalternativen, die zur Verfügung stehen, müssen gegenüber der Kollokation dabei durchaus nicht falsch sein. Aber wenn man z. B. statt frisch gestrichen den Ausdruck jüngst gestrichen verwendet oder statt Geld abheben z. B. Geld vom Konto nehmen sagt, ist dies zwar verständlich, wirkt aber doch etwas ungeschickt. Dass Kollokationen präferierte Versprachlichungen für bestimmte Sachverhalte darstellen, schließt nicht aus, dass es im Einzelfall auch zwei oder mehrere annähernd gleichwertige Kollokationen gibt. So kann man statt in Strömen regnen auch wie aus Eimern regnen, statt der Zorn verraucht auch der Zorn verfliegt sagen, ohne dass man hier zwischen einer besseren und schlechteren Variante unterscheiden könnte. Mit dem Kriterium (ii), der Transparenz der Kollokation, versucht Hausmann eine Abgrenzung gegenüber den Idiomen herzustellen. Typische Idiome wie z. B. jemandem einen Bären aufbinden oder Bauklötze staunen zeichnen sich dadurch aus, dass mindestens eines der darin enthaltenen Wörter eine Bedeutung aufweist, die nur innerhalb dieses Idioms vorkommt, hier Bär in der Bedeutung ,Lüge‘ oder Bauklötze in der Funktion einer Verstärkung (,sehr staunen‘). In Idiomen können nicht nur einzelne Wortbedeutungen, sondern auch Wörter auftreten, die auf das betreffende Idiom beschränkt sind, etwa bei Maulaffen feilhalten. Kollokationen sind dagegen nicht oder allenfalls schwach idiomatisch (vgl. auch Burger 2010: 52) – so ist das Adjektiv in frisch gestrichen in ähnlicher Bedeutung auch in

Kriterien

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5. Sinnrelationen – Wörter und ihre Beziehungen

Zwei- und Mehrwortverbindungen

Kollokationen und Idiome

frisch verliebt oder frisch von der Uni kommen enthalten, eingefleischt tritt in eingfleischter Wagnerianer, Optimist, Flughafengegner usw. auf. Kollokationen bestehen im Normalfall aus zwei Wörtern (zuweilen sind aber auch Dreierkombinationen möglich: harsche Kritik üben). Die beteiligten Wörter haben allerdings insofern unterschiedliches semantisches Gewicht, als ein Wort – die Basis – dem anderen Wort – dem Kollokator – eine Lesart zuweist (Kriterium iii). So ist in der Kollokation frisch gestrichen das Adjektiv gestrichen die Basis, weil es die Auswahl der möglichen Interpretationen von frisch steuert, das damit die Rolle des Kollokators einnimmt: Die Basis gestrichen legt fest, dass der Kollokator frisch hier nicht z. B. in der Bedeutung ,unverbraucht‘ (frische Kräfte) oder ,kühl‘ (frischer Wind) auftritt, sondern dass aus dem Spektrum der möglichen Lesarten des Adjektivs genau eine, nämlich ,eben erst ausgeführt‘, realisiert wird. Eine umgekehrte Bestimmung der Lesarten von gestrichen durch frisch liegt nicht vor. Viele Kollokationen werden sehr wahrscheinlich als Ganzheiten gelernt und abgerufen. Man hat Kollokationen daher mit Recht auch als ,Fertigteile‘ oder ,Halbfertigteile der Rede‘ bezeichnet (Wotjak 2002: 556). Dass die betreffenden Verbindungen nicht jedesmal aufs Neue konstruiert bzw. analysiert werden, haben sie mit den Idiomen gemeinsam. Auch idiomatische Verbindungen wie z. B. jemanden einen Bären aufbinden oder auf die Tränendrüse drücken stellen solche ,Fertigteile‘ dar. Kollokationen und Idiome weisen jedoch auch Unterschiede auf: So haben, wie oben gezeigt, die in Kollokationen verbundenen Wörter meist Bedeutungen, die auch in anderen Kontexten vorkommen. Idiome zeichnen sich jedoch dadurch aus, dass man den Wörtern entweder gar keine Einzelbedeutungen zuweisen kann oder dass die jeweiligen Bedeutungen ausschließlich in dem betreffenden Idiom vorkommen. Keine Bedeutungszuweisung an die einzelnen Wörter ist etwa bei ins Gras beißen möglich, idiomspezifische Bedeutungen liegen bei dem bereits erwähnten Beispiel jemandem einen Bären aufbinden vor, sofern man sich darauf verständigt, dass Bären mit ,Lüge‘ und aufbinden mit ,erzählen‘ paraphrasiert werden kann. Ein weiterer Unterschied zwischen Idiomen und Kollokationen betrifft die Relation zwischen den beteiligten Wörtern. Bei vielen Idiomen lässt sich schwer sagen, welches Wort als Basis und welches als Kollokator zu klassifizieren wäre. Dies liegt daran, dass Wörter in Idiomen ohnehin überwiegend isolierte, wendungsspezifische Lesarten haben oder gar keine Bedeutungszuschreibungen möglich sind. Wenn die Wörter gar keine klar abgrenzbaren Bedeutungen haben, ist es naturgemäß schwierig zu sagen, dass eine Wortbedeutung eine andere determiniert. Gleichwohl gibt es Fügungen, die im Übergangsbereich zwischen kollokativen und idiomatischen Verbindungen anzusiedeln sind. Ein solcher Fall wäre das schon genannte Bauklötze staunen: Bauklötze ist in der verstärkenden Funktion wendungsextern nicht belegt, daher liegt hier eine deutliche Idiomatisierung vor. Staunen wird dagegen in der landläufigen Bedeutung gebraucht. Dass ein Bestandteil relativ frei, der andere idiomatisiert ist, gilt auch für Kollokationen wie z. B. in Strömen regnen oder vor Wut schnauben. Kollokationen werden daher zurecht auch in Darstellungen zur Idiomatik bzw. Phraseologie behandelt.

5.5 Syntagmatische Relationen

5.5.4 Statistische Kookkurrenzen Während der von Hausmann geprägte Begriff der Kollokation weitgehend ohne eine Berechnung der Vorkommenshäufigkeit von Wortverbindungen auskommt, hat in jüngerer Zeit zunehmend eine statistische Sicht auf Kollokationen an Bedeutung gewonnen. Diese werden oftmals nicht nach linguistischen Kriterien definiert, sondern schlicht errechnet. Dieser Perspektivenwechsel hängt natürlich mit der Entwicklung digitaler Textkorpora zusammen, die erst die Grundlage für verlässliche statistische Untersuchungen bieten. So kalkuliert etwa das DWDS-Wortprofil auf der Basis eines umfangreichen gegenwartssprachlichen Korpus für das Beispiel Wort die folgenden Kombinationshäufigkeiten, die hier in Form einer ,Wortwolke‘ dargestellt sind:

Abb. 14: Wortwolke zu Wort aus dem DWDS

Um die statistische Natur dieser Relationen deutlich zu machen, sprechen wir in Abgrenzung vom stärker linguistisch definierten Kollokationsbegriff Hausmanns hier von Kookkurrenzen. Diese sind vielfältiger Natur und umfassen mehrere linguistisch relevante Kategorien, so z. B. häufige Genitivattribute (Worte des Vorstandsvorsitzenden), idiomatische Verbindungen (sich zu Wort melden, nichts als Worte), Kollokationen (klare Worte) und häufige Nomen-Verb-Kombinationen (den Worten lauschen, zitiert mit den Worten). Die Wortwolke gibt somit einen ersten Überblick über die lexikologisch mehr oder weniger relevanten Kombinationsmöglichkeiten eines Suchbegriffs. Die meisten der Hausmannschen Kollokationen dürften auch in der Statistik durch signifikant häufiges gemeinsames Vorkommen erkennbar sein. Jede Kollokation ist daher prinzipiell auch ein Fall von Kookkurrenz. Umgekehrt gilt das nicht: So ist z. B. die Wortfolge dass der (Beispiel nach Engelberg/Lemnitzer 2004: 189) sehr häufig, trotzdem handelt es sich nicht um eine Kollokation im oben definierten Sinn.

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Lektürehinweise

Zu semantischen Relationen lohnt sich die Lektüre der hier mehrfach zitierten Werke von Cruse (1986), (2010), Lutzeier (1995) und nicht zuletzt Lyons (1977). Der Themenbereich der Idiomatik bzw. der Phraseologie, der hier

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5. Sinnrelationen – Wörter und ihre Beziehungen

im Zusammenhang mit den Kollokationen nur angeschnitten werden konnte, wird in Burger (2010) einführend behandelt.

- Übungsaufgaben 1. Benennen Sie die semantische Relation zwischen den folgenden Wortpaaren. Gehen Sie bei der Bestimmung der Relation stets vom ersten Wort aus. (a) Laub – Baum (b) Pflanze – Baum (c) faul – fleißig (d) laufen – sich fortbewegen (e) frei – besetzt (f) Linguistik – Sprachwissenschaft (g) etwas von jmdm. kaufen – jmdm. etwas verkaufen (h) (ein Ziel) treffen – (ein Ziel) verfehlen (i) kauen – essen (j) Eiche – Buche (k) Moin – Grüß Gott 2. Geben Sie an, welches der beiden Lexeme in den unten aufgeführten Kollokationen die Basis und welches den Kollokator (im Sinne des Hausmann‘schen Kollokationsbegriffs) darstellt: (a) sich brennend interessieren (b) ein Ergebnis erzielen (c) schwer verletzt (d) starker Raucher (e) probates Mittel 3. Die Verbindung Zähne putzen wird häufig als Kollokation bezeichnet (z. B. in Burger 2010: 38), sie lässt sich möglicherweise aber auch unter den oben eingeführten Begriff ,semantische Kongruenz‘ fassen. Wägen Sie beide Möglichkeiten gegeneinander ab. Analysieren Sie dazu die Bedeutung von putzen gegenüber waschen, reinigen und ggf. verwandten Verben. 4. Nennen Sie einige Kookkurrenzen aus der Wortwolke Wort, die gleichzeitig auch Kollokationen im Sinne Hausmanns sind. Nennen Sie ferner Kookkurrenzen, bei denen dies nicht der Fall ist. 5. Machen Sie sich mit der DWDS-Homepage vertraut (www.dwds.de) und erklären Sie, wie die Wortwolke zustande kommt: Was ist die Datengrundlage? Welche Tools kann man anwenden, um das Ergebnis zu modifizieren? 6. Verschaffen Sie sich einen Eindruck von den Projekten WordNet bzw. GermaNet, etwa über die Homepages oder anhand von Miller/Fellbaum (1992) bzw. Lemnitzer/Kunze (2007); vergleichen Sie besonders die dort angesetzten Relationstypen mit den klassischen Relationen der Lexikologie, die in diesem Kapitel eingeführt worden sind: Welche Entsprechungen gibt es? Welche Relationen werden zusätzlich angenommen?

6. Der Wortschatz und seine Architektur 6.1 Begriffsbestimmungen – Wortschatz, Lexik, Lexikon Die Lexikologie beschreibt nicht nur die Einzelwörter und die sie verbindenden Relationen, sie beschreibt vor allem auch den Wortschatz und seine Strukturen. Was aber heißt ,Wortschatz‘? Man kann vom Wortschatz einer einzelnen Person sprechen, man kann aber auch vom Wortschatz einer Sprachgemeinschaft reden. Das eröffnet zwei unterschiedliche Perspektiven. Der Wortschatz z. B. des Deutschen, Russischen oder Chinesischen ist die Menge aller Wörter, die in der jeweiligen Sprachgemeinschaft verwendet werden. In diesem Sinne ist Wortschatz ein soziales Phänomen. Wenn man dagegen auf den Wortschatz von Individuen blickt, kommt dieser primär als psychologische Gegebenheit in den Blick: Wortschatz umfasst dann die ,Wörter im Kopf‘ eines Individuums, dessen Wissen über Wörter und deren Verwendung. Dass beide Perspektiven auf den Wortschatz, die soziale und die psychologische, zusammengehören, liegt auf der Hand: Wir speichern Wörter in unserem Gedächtnis, um mit anderen Sprecherinnen und Sprechern erfolgreich kommunizieren zu können, und die Kommunikation innerhalb einer Sprachgemeinschaft funktioniert nur, weil deren Angehörige über eine große Schnittmenge von Wörtern verfügen. Zwischen der Außenund der Innenperspektive auf den Wortschatz kann man auch terminologisch unterscheiden: Wenn der Wortschatz als psychologische Größe gemeint ist, spricht man vom mentalen Lexikon; wenn der Wortschatz als etwas Soziales beschrieben wird, spricht man von der Lexik oder eben schlicht vom Wortschatz einer Sprache. Neben der psychologischen und sozialen Sicht auf den Wortschatz kann man noch eine dritte, genuin linguistische Perspektive auf den Gegenstand einnehmen, indem man den Wortschatz als Gegenstück zur Grammatik beschreibt. Anstelle von ,Wortschatz‘ hat sich hier der Begriff ,Lexikon‘ eingebürgert. Das ist insofern passend, als das so konzipierte Lexikon, wie weiter unten zu zeigen sein wird, nicht nur Wörter enthält; der Begriff ,Wortschatz‘ wäre daher zu eng.

Abb. 15: Die Ambiguität von Wortschatz

Lexik mentales Lexikon

Lexikon vs. Grammatik

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6. Der Wortschatz und seine Architektur Speicher- vs. Regelkomponente

Lexikoneinträge

In linguistischen Theorien über den Aufbau des Sprachsystems stellt das Lexikon die Speicherkomponente, die Grammatik dagegen die Regelkomponente dar. Die Speicherkomponente umfasst den Bestand der elementaren Ausdrücke – die sogenannten Lexikoneinträge – und liefert gewissermaßen den Input für das grammatische Regelwerk einer Sprache. Dieses Regelwerk ermöglicht die Verbindung elementarer Ausdrücke zu komplexeren Ausdrücken, d. h. Satzteilen und Sätzen. Wie Lexikon und Grammatik im Einzelnen voneinander abzugrenzen sind und wie sie miteinander interagieren, wird je nach Sprachtheorie unterschiedlich beurteilt (zum Lexikon in der Sprachtheorie vgl. Wunderlich 2006). Besonders problematisch und strittig ist dabei der Status der Wortbildung. Diese steht insofern zwischen Grammatik und Lexikon, als sie zwar Regeln folgt, die Ergebnisse dieser Regelanwendungen aber wiederum Wörter, also Bestandteile des Lexikons, sind: Die Kompositionsregel ,Nomen + Nomen = NomenKomp‘ z.B. hat lexikalische Elemente als Input und als Ouput. Bei den einzelnen Lexikoneinträgen handelt es sich um Einheiten, die inhaltliche und formale Aspekte miteinander verknüpfen (der Begriff ,Lexikoneintrag‘ hat natürlich nur ganz entfernt etwas mit dem Eintrag in einem Wörterbuch zu tun). So wird z. B. in dem Modell von Jackendoff (1997) eine Lexikoneinheit als Verbindung verstanden, die eine phonologische Struktur (PS), eine syntaktische Struktur (SS) und eine konzeptuelle Struktur (CS) miteinander in Beziehung setzt, vgl. das Beispiel Katze in (1). (1)

Idiome

In anderen Modellen wird der Lexikoneintrag zusätzlich zu den Angaben zur Phonologie, Syntax und Semantik noch um eine morphologische und eine pragmatische Komponente erweitert (vgl. Meibauer et al. 2007: 41). Das Lexikon umfasst indes nicht nur Lexeme als Einträge, sondern auch Morpheme. Es enthält also neben den geläufigen Wörtern auch alle Bausteine, die man benötigt, um neue Wörter zu bilden. Manche Theorieansätze gehen sogar davon aus, dass auch die Endungen Bestandteil des Lexikons und nicht etwa der Grammatik sind. Dies ist die Position des sog. Lexikalismus (dazu Booij 2012: 123). Neben Lexemen und Morphemen sind im Lexikon auch Idiome gespeichert. Fügungen wie ins Gras beißen oder zur Welt bringen bestehen zwar aus mehreren Wörtern, sie verhalten sich hinsichtlich ihrer Semantik jedoch vielfach wie einfache Wörter: ins Gras beißen entspricht dem einfachen Verb sterben, und zur Welt bringen kann durch gebären wiedergegeben werden. Idiome sind somit grundsätzlich als Ganzheiten im Lexikon gespeichert, die semantisch meist auch nicht weiter zerlegt werden können – nach einer Teilbedeutung etwa von Gras in dem genannten Idiom zu fragen, wäre wenig aussichtsreich. Da Idiome, wie Lexeme auch, im Lexikon gespeichert sind, werden sie zuweilen als ,Mehrwortwörter‘ oder ,Wortgruppenlexeme‘ bezeichnet (zu dieser Auffassung vgl. aber auch die kritischen Anmerkungen von Dobrovol‘skij/Piirainen 2009: 59 f.).

6.1 Begriffsbestimmungen – Wortschatz, Lexik, Lexikon

Wenn in der Sprachtheorie zwischen Lexikon und Grammatik, zwischen Speicher- und Regelkomponente unterschieden wird, kann dieser Gegensatz in letzter Konsequenz auch so gedeutet werden, dass jede sprachliche Erscheinung, die nicht regelhaft gebildet ist, als zu speichernde Einheit ins Lexikon gehört. Das Lexikon wäre damit nichts weiter als eine riesige Ansammlung von Idiosynkrasien und Ausnahmen: „The lexicon is really an appendix of the grammar, a list of basic irregularities“, so hat Bloomfield (1933: 274) diese Sicht auf den Punkt gebracht. Di Sciullo/Williams (1987: 3) haben diese Auffassung später in das Bild vom Lexikon als Gefängnis gekleidet: „The lexicon is like a prison – it contains only the lawless, and the only thing that its inmates have in common is lawlessness.“ Die Aussagen von Bloomfield und Di Sciullo/Williams lassen eine deutliche Gewichtung im Verhältnis von Grammatik und Lexikon erkennen: Das Lexikon ist gegenüber der Grammatik als dem vermeintlich eigentlichen Gegenstand der Sprachwissenschaft im Grunde uninteressant (eben ein bloßer „appendix“, ein Anhang), weil dort keine Regeln und damit auch keine wissenschaftlich relevanten Verallgemeinerungen vermutet werden. Diese Sicht auf das Verhältnis von Lexikon und Grammatik ist freilich nicht unwidersprochen geblieben. So hat unter anderem die sog. Lexikalische Phonologie bzw. Morphologie (vgl. Booij 2012) gezeigt, dass es auch Regeln gibt, die nur für das Lexikon gelten – im ,Gefängnis‘ des Lexikons gibt es also doch Gesetze, aber eben ganz eigene. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass die strikte Trennung zwischen Speicher- und Regelkomponente unrealistisch ist, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass auch vollkommen regelhaft gebildete Ausdrücke gespeichert werden, und zwar besonders dann, wenn diese Ausdrücke häufig verwendet werden. Langacker (1987: 42) spricht daher von der „rule/list fallacy“, der trügerischen Dichotomie von Regel und Liste, die diese Sicht auf Lexikon und Grammatik beinhalte. Nicht zuletzt die Lexikologie hat sich gegen diese reduktionistische Auffassung vom Lexikon gewandt. Die lexikologische Kritik richtet sich vor allem gegen das Konzept der Liste. Ob eine Liste geordnet oder ungeordnet ist, ist im Grunde unerheblich. Man denke hier z. B. an eine Einkaufsliste: Ob man die Dinge, die man kaufen will, nach der Aufstellung im Supermarkt oder nach dem Anfangsbuchstaben der Produkte oder sonstwie sortiert, ändert nichts daran, dass es sich um eine Liste handelt. Die Strukturiertheit des Lexikons jedoch – so die Grundannahme der Lexikologie – ist nicht das Ergebnis einer beliebig änderbaren Sortierung, sondern eines seiner Wesensmerkmale. Aus Sicht der Lexikologie ist das Lexikon daher nicht als Liste, sondern als dicht geknüpftes Netz aufzufassen. Verknüpfungen bestehen hier allerdings nicht nur zwischen einzelnen Wörtern, die über Sinnrelationen miteinander in Beziehung stehen; vielmehr sind auch größere Gruppen von Wörtern miteinander in diesem Netz verbunden. Um diese größeren Wortverbände soll es in dem vorliegenden Kapitel gehen – um Wortfelder, Wortfamilien und varietätenspezifische Wortschätze. Für eine grundlegende Gliederung im Wortschatz sorgen übrigens nicht zuletzt auch die Wortarten (Substantiv, Adjektiv, Verb usw.). Die Einteilung des Wortschatzes in Wortarten ist jedoch zu einem großen Teil grammatisch motiviert, weshalb das Thema Wortarten hier nicht weiter behandelt wird.

das Lexikon als Liste

die ,rule/list fallacy‘

das Lexikon als Netz

87

88

6. Der Wortschatz und seine Architektur

Bevor auf die Architektur des Wortschatzes näher eingegangen werden kann, ist allerdings kurz auf einen Aspekt des Wortschatzbegriffs einzugehen, der bisher noch nicht angesprochen wurde, nämlich auf die quantitative Dimension.

6.2 Quantitative Aspekte des Wortschatzes

aktiver und passiver Wortschatz

Quantifizierung der Lexik

Wieviele Wörter umfasst der Wortschatz einer Sprache? Wie im letzten Abschnitt deutlich geworden sein dürfte, ist diese Frage zu pauschal gestellt. Man hat differenzierter zu fragen: Wieviele Wörter umfasst die Lexik einer Sprachgemeinschaft? Wieviele Wörter enthält das mentale Lexikon eines durchschnittlichen erwachsenen Individuums dieser Gemeinschaft? Wieviele Einträge zählt das Lexikon als sprachtheoretisches Konstrukt? Die letzte Frage ist sicher am schwierigsten zu beantworten, weil hier nicht nur Wörter, sondern auch Morpheme und, je nach Theorie, auch Endungen zu zählen sind; zudem muss die unübersehbare Menge der idiomatischen Wortverbindungen einbezogen werden. Eine genaue Quantifizierung ist in diesem Fall aber auch nicht so wichtig, da es für ein theoretisches Konstrukt relativ sinnlos ist, dessen Umfang exakt ermitteln zu wollen. Interessanter ist die Frage nach dem konkreten Umfang des mentalen Lexikons. Der aktive Wortschatz eines durchschnittlichen Erwachsenen wird mit 12.000 bis 16.000 Wörtern angegeben, der passive Wortschatz wird dagegen auf mindestens 50.000 Wörter geschätzt. Je nach Bildungsgrad ist hier aber auch von wesentlich höheren Zahlen auszugehen; so beziffert Haß-Zumkehr (2001: 384) den maximalen passiven Wortschatz in der Muttersprache auf bis zu 100.000 Wörter. Die Lexik einer Sprache ist besonders schwer zu beziffern. Die größte Schwierigkeit besteht dabei nicht so sehr in der Zählung der Lexik selbst, sondern vielmehr in der Frage, was als Sprache zu bestimmen ist. Wenn man dies etwa für das Deutsche beantworten möchte, ist gleich eine ganze Reihe von Vorentscheidungen zu treffen. So hat man einen zeitlichen Schnitt zu setzen und festzulegen, von wann bis wann die Zählung gelten soll: für eine Generation, d. h. ungefähr 30 Jahre, für ein Jahrzehnt, für ein Jahr? Ferner muss eine geographische Grenze gezogen werden: Soll z. B. nur das Deutsch der ,Kernländer‘, also Deutschlands, Österreichs und der Schweiz berücksichtigt werden oder auch z. B. das Deutsche in Südtirol und den belgischen Ostkantonen? Am schwierigsten ist aber die Entscheidung, welche Varietäten man einbezieht: Gehören auch die regional geprägten Umgangssprachen dazu? Sind die Fachsprachen hinzuzuzählen, also alle Ausdrücke der Chemie, der Astronomie, der Literaturwissenschaft usw.? Wenn man mit den Fachsprachen und der Umgangssprache die Randbereiche – sie sind riesig, wie sich noch zeigen wird – weglässt und sich auf den zentralen Wortschatz des Standarddeutschen konzentriert, so kommt man ungefähr auf 70.000 bis 75.000 Wörter (DUW 13; Best 2006: 13). Damit ist aber wohl eher die untere Grenze markiert. Das zeigt besonders ein Blick auf die Stichwortumfänge der Wörterbücher in Tab. 3.

6.2 Quantitative Aspekte des Wortschatzes

Wörterbuch

Stichwortumfang

Quelle

1

ca. 350.000

Klein (2013: 19)

Brockhaus-Wahrig, 6 Bde.

220.000

Haß-Zumkehr (2001: 383)

DGW, 10 Bde.

ca. 200.000

Haß-Zumkehr (2001: 383)

DUW

140.000

Angabe im Klappentext

Duden Rechtschreibwb.

135.000

www.duden.de/sprachwissen

WDG, 6 Bde.

120.000

www.dwds.de/ressourcen/woerterbuecher/ #part_22

Wahrig (dtv), einbändig

16.000

Vorwort, S. 5

DWB, 32 Bde.

Tab. 3: Stichwortumfänge in standardsprachlichen Wörterbüchern

Die höchste Stichwortzahl liefert das 1DWB mit rund 350.000 Einträgen (diese Zahl ist indes nur geschätzt, dazu Klein 2013: 19). Beim 1DWB ist zu bedenken, dass es zu einem großen Teil historisches Sprachmaterial enthält und 1960 abgeschlossen wurde. Für die Frage nach dem Umfang des gegenwartssprachlichen Wortschatzes ist es deshalb nicht einschlägig. Einen besseren Ausgangspunkt bietet der Brockhaus-Wahrig mit seinen ca. 220.000 Stichwörtern. Nach einer Untersuchung von Wiegand/Kucˇera (zitiert in Haß-Zumkehr 2001: 383) sind darunter 85.000 Fachwörter, 6.000 Vornamen und 80.000 Fremdwörter, womit ein Kernbestand von 49.000 standardsprachlichen Wörtern verbleibt. (Fremdwörter vom standardsprachlichen Wortschatz zu trennen, ist jedoch nicht ganz unproblematisch.) Die verhältnismäßig hohe Stichwortzahl dieses Wörterbuchs erklärt sich also besonders durch die Aufnahme sehr vieler Fachwörter, und die niedrigeren Zahlen der anderen Nachschlagewerke sind wohl durch eine entsprechend zurückhaltendere Berücksichtigung der fachlichen Lexik zu erklären. Beim Fachwortschatz liegt somit das größte Steigerungspotenzial. So umfasst der Wortschatz der Medizin schätzungsweise 250.000 terminologische Ausdrücke, und die Stoffbezeichnungen der Chemie sollen sich sogar auf rund 20 Millionen Benennungen belaufen (Best 2006: 15). Nach oben scheinen somit alle Grenzen offen zu sein. Die im DUW angegebene Schätzung, die Lexik des Deutsche betrage 500.000 Wörter, ist damit als recht konservativ zu betrachten. Auf Wörterbüchern beruhende Schätzungen bleiben insgesamt aber unbefriedigend, weil deren Datengrundlage nicht vollständig überprüfbar ist. Bessere Ergebnisse liefert die Auszählung von Textkorpora des Gegenwartsdeutschen, sofern diese eine ausreichende Größe haben. So hat Klein (2013: 34) auf Basis der Textkorpora des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (www.dwds.de), die rund eine Milliarde laufende Textwörter – also keine Lexeme oder Wortformen, sondern einzelne Wortvorkommen – umfassen, insgesamt 5,3 Millionen Einheiten für ein Textkorpus aus dem Zeitraum 1995–2004 errechnet. Dies ist also nahezu tausendmal mehr als der aktive Wortschatz eines durchschnittlichen Erwachsenen, dessen Min-

Stichwortumfänge von Wörterbüchern

Auszählung von Korpora

89

90

6. Der Wortschatz und seine Architektur

destgröße auf ca. 6.000 Wörter geschätzt wird (vgl. Haß-Zumkehr 2001: 384).

6.3 Wortfelder

synonymische Wortfelder

Die in Kapitel 5 vorgestellten paradigmatischen Relationen verknüpfen nicht nur Wortpaare oder kleinere Wortgruppen miteinander, sondern stiften auch umfassendere Zusammenhänge im Wortschatz. Dies gilt vor allem für die Relationen der Hyponymie und der Synonymie. Diesen beiden Relationstypen entsprechend kann man zwei grundlegende Arten von Wortfeldern unterscheiden: die synonymischen Wortfelder und die hierarchischen Wortfelder. Synonymische Felder kommen zustande, wenn, wie in (2), eine Reihe von Lexemen in eine Leerstelle im Syntagma eingesetzt werden kann, ohne dass sich die Bedeutung des gesamten Satzes gravierend ändert. (2) Den Garten umzugraben war eine ziemliche ___ (Mühe, Mühsal, Schufterei, Plackerei, Schinderei, Qual, Quälerei, Leistung, Aufgabe, Herausforderung …)

Archisemem

hierarchische Wortfelder

Da Wortfelder durch die Einsetzung von Wörtern in einen übereinstimmenden Substitutionsrahmen zustande kommen, bedeutet dies gleichzeitig auch, dass es sich um Angehörige einer Wortart handelt. Arbeit und arbeiten, Leistung und leisten gehören also nicht einem gemeinsamen Feld an. Wortfelder wie die in (2) verfügen über einen gemeinsamen semantischen Nenner, das sog. Archisemem, das hier als ,anstrengende Tätigkeit‘ angegeben werden kann. Die Angehörigen eines Feldes weisen neben diesem gemeinsamen Nenner aber z. T. auch differenzierende Bedeutungsmerkmale auf. So betonen Qual und Quälerei den Aspekt des körperlichen Schmerzes, während Leistung, Aufgabe, Herausforderung eher eine positive Sicht auf die geleistete Anstrengung ausdrücken, und ein Wort wie Mühsal unterscheidet sich von Mühe weniger im Hinblick auf seine Bedeutung als vielmehr dadurch, dass es eher einer gehobenen Stilschicht angehört. Eine auffällige Eigenschaft des synonymischen Wortfeldes in (2) ist, dass es hier kleinere Nester von enger zusammengehörigen Synonymen gibt: Mühe und Mühsal bilden gewissermaßen eine Untergruppe; Gleiches gilt für Leistung, Aufgabe, Herausforderung sowie Schufterei, Schinderei usw. Das Wortfeld erscheint also als ein aus kleineren Wortgruppen zusammengesetztes Gebilde. Neben synonymischen Wortverbänden werden auch lexikalische Hierarchien, die durch Hyponymie- bzw. Hyperonymierelationen konstituiert sind, als Wortfelder beschrieben. Umfassende und mehrfach gestufte hyponymische Hierarchien mit zahlreichen Kohyponymen auf den einzelnen Ebenen haben wir bereits kennengelernt, so die Hierarchie Fortbewegungsmittel in Abb. 13. Hierarchische Felder teilen mit den synonymischen Feldern die Eigenschaft, dass sie auf Lexeme einer Wortart beschränkt sind. Im Unterschied

6.3 Wortfelder

zu den synonymischen Feldern ist es bei hierarchischen Feldern allerdings nicht möglich, Wörter ohne größere Änderung der Bedeutung in eine syntagmatische Leerstelle einzufügen. Dies zeigt das Beispiel (3). (3) Wir sind mit dem ___ (Auto, Schiff, Flugzeug, Bus) nach Italien gereist. Hierarchische Felder werden häufig mit einer onomasiologischen Perspektive auf den Wortschatz assoziiert (Schlaefer 2009: 37 f.; Schippan 1992: 219 f.; zum Begriffspaar Onomasiologie vs. Semasiologie s. Kap. 4.3). Eine onomasiologische Sicht kann man hier insofern erkennen, als das Wortfeld vom Bezeichneten, von einem wie auch immer abgegrenzten Weltausschnitt her konstituiert ist. Die onomasiologische Fragestellung, die z. B. auf das Feld Fortbewegungsmittel führt, wäre demnach: „Welche Wörter dienen zur Bezeichnung des Sachverhalts ,Fortbewegungsmittel‘?“ Synonymische Felder werden demgegenüber mit der semasiologischen Betrachtungsweise identifiziert. Diese besteht darin, dass die Bedeutungsmerkmale eines Lexems mit den entsprechenden Merkmalen anderer Lexeme verglichen werden und auf der Basis eines solchen Abgleichs eine Klasse von inhaltlich übereinstimmenden Wörtern zustande kommt. Letztlich ist die Gegensatzbildung onomasiologisch vs. semasiologisch in Bezug auf unterschiedliche Typen von Wortfeldern aber alles andere als zwingend. Da Onomasiologie und Semasiologie sich wie zwei Seiten einer Medaille verhalten, kann das synonymische Feld ,anstrengende Tätigkeit‘ in Beispiel (2) problemlos auch auf eine onomasiologische Frage bezogen werden (,Welche Wörter dienen zur Bezeichnung einer anstrengenden Tätigkeit?‘), und ein angeblich onomasiologisches Feld Fortbewegungsmittel kann ebenso gut als Matrix identischer und differenzierender Inhaltsmerkmale beschrieben werden (dies zeigt z. B. Schippan 1992: 220 an dem vergleichbaren Feld Wasserlauf). Wortfelder sind hier bisher nur für Substantive angesetzt worden, und in der Tat gibt es bei Substantiven tendenziell stärker ausgebaute lexikalische Hierarchien als bei Verben oder Adjektiven (Letztere sind weniger durch Über- bzw. Unterordnungsrelationen als vielmehr durch Oppositionen gekennzeichnet). Als Beispiel für ein relativ komplexes verbales Feld sei hier lachen angeführt:

onomasiologische vs. semasiologische Felder?

Wortfelder bei Verben

Abb. 16: Das Wortfeld lachen (vgl. Schlaefer 1987: 517; 2009: 39)

Das Verb lachen bildet hier das Archilexem des Feldes, d. h. das Hyperonym, das an der höchsten Position innerhalb der Hierarchie steht und zu welchem folglich alle anderen Lexeme in einer unmittelbaren oder mittelbaren Hyponymierelation stehen: kichern, wiehern und lächeln sind ,unterschiedliche Arten zu lachen‘, und auch grinsen, feixen, schmunzeln, strah-

Archilexem

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6. Der Wortschatz und seine Architektur

len können, zumindest wenn man Schlaefer (1987) folgt, als ,Arten zu lächeln‘ und somit als Hyponyme zu diesem aufgefasst werden (zur Testformulierung unterschiedliche Arten zu V, die für die Hyponymierelation einschlägig ist, s. Kap. 5.1.5). Das Beispiel lachen zeigt aber auch, dass die interne Strukturierung eines Feldes nicht immer leicht zu erfassen ist. So ist das Archilexem lachen in seiner prototypischen Ausprägung sowohl mit einem Gesichtsausdruck als auch mit einer Lautäußerung verbunden – ein Lachen sieht man und hört man gleichermaßen. Im typischen Fall von Lächeln fehlt indes gerade das Merkmal ,hörbar‘, wie (4) belegt. (4) a. Sie hörte das Lachen der spielenden Kinder. b. *Sie hörte das Lächeln der spielenden Kinder.

das Wortfeld ,Aufhören des Lebens‘

,der lückenlose Zeichenmantel‘

Zwischen lachen und lächeln besteht dementsprechend auch keine Implikationsrelation: Die Kinder lächeln heißt nicht automatisch, dass sie auch lachen. Hyponymie, die ja durch eine Implikationsbeziehung definiert ist (s. Kap. 5.1.5), ist hier also gerade nicht gegeben (eher würde man von einer skalaren Relation ausgehen). Die herausgehobene Position, die lachen in dem lexikalischen Paradigma ohne Zweifel einnimmt, ist wohl darin begründet, dass es gegenüber den anderen Wörtern den Basisbegriff repräsentiert. Als weiteres klassisches Beispiel für ein umfassendes verbales Wortfeld ist die Hierarchie ,Aufhören des Lebens‘ zu nennen, die J. Weisgerber (1971), einer der Mitbegründer der Wortfeldtheorie, beschrieben hat. Weisgerber modelliert das Wortfeld allerdings nicht als Strukturbaum, sondern als Gebilde aus konzentrischen Kreisen, s. Abb. 17. Kern des Feldes ist ein Archisemem ,aufhören zu leben‘. (Hier liegt kein Archilexem vor, weil statt eines Wortes eine Bedeutung das Feld zusammenhält). Der innerste Kreis ist durch unterschiedliche Subjektklassen gekennzeichnet: eingehen sagt man im Normalfall von Pflanzen, verenden von Tieren, und sterben von Menschen. Die nächste Schicht umfasst Hyponyme zu sterben: verhungern, erfrieren, ertrinken usw. sind bestimmte ,Arten zu sterben‘. Der äußerste Ring enthält Bezeichnungen mit unterschiedlichen stilistischen Markierungen: verscheiden, heimgehen, erlöschen usw. sind gehobene Ausdrücke, verrecken, krepieren, abkratzen gehören dagegen einer ,niederen‘ Stilschicht an. Die kreisförmige Darstellung des lexikalischen Paradigmas, die Weisgerber hier gewählt hat, macht eine der Grundannahmen der klassischen Wortfeldtheorie anschaulich, nämlich die These, dass ein bestimmter Wirklichkeitsausschnitt, der sog. ,Sinnbezirk‘, durch die Wörter eines Feldes lückenlos abgedeckt werde. Daher ist bei Jost Trier, dem wohl wichtigsten Pionier der Wortfeldtheorie, auch von einem „lückenlosen Zeichenmantel“, einer „den Begriffsbezirk überlagernden Wortdecke“ die Rede (Trier 1931: 1). Neben dem Postulat der lückenlosen Bezeichnung, die die Angehörigen eines Feldes in Bezug auf einen Wirklichkeitsausschnitt leisten, ist für die Wortfeldtheorie vor allem die These zentral, dass die Angehörigen eines Feldes sich gegenseitig semantisch bestimmen:

6.3 Wortfelder

Abb. 17: Das Wortfeld ,Aufhören des Lebens‘ (Weisgerber 1971: 184)

„Das ausgesprochene Wort steht vor der zum Feld sich ordnenden Fülle seiner Nachbarn. Es hebt sich von ihnen ab und ordnet sich ihnen doch an bestimmter Stelle ein. Und daß wir genau wissen, was mit ihm gemeint ist, das liegt gerade an diesem Sichabheben von den Nachbarn und diesem Sicheinordnen in die Ganzheit der den Begriffsbezirk überlagernden Wortdecke, des lückenlosen Zeichenmantels. Die Worte im Feld stehen in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander. Vom Gefüge des Ganzen her empfängt das Einzelwort seine inhaltliche begriffliche Bestimmtheit.“ (Trier 1931: 2) Diese Hypothese ist unverkennbar durch die Grundidee des Strukturalismus geprägt, der zufolge ein einzelnes sprachliches Element nicht aus sich heraus, sondern nur über seine Stellung innerhalb des Systems bestimmt werden kann, dem es angehört. Wie ein Phonem vor dem Hintergrund des gesamten Phonembestandes einer Sprache beschrieben werden muss, sind Trier zufolge auch die einzelnen Wörter eines Feldes nur „vom Gefüge des Ganzen her“ definierbar. Dass diese Hypothese zu stark ist, liegt freilich auf

Wortfeld und Einzelwort

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6. Der Wortschatz und seine Architektur

der Hand: So sind etwa für die Bestimmung der Bedeutung von eingehen im Wortfeld ,aufhören zu leben‘ allenfalls die unmittelbaren Feldnachbarn sterben und verenden relevant; dass aber auch die entfernteren Angehörigen des Feldes wie z. B. heimgehen oder entschlafen die Bedeutung von eingehen mitbestimmen, wird man kaum annehmen wollen. ,Lückenlos‘ sind Wortfelder übrigens auch deshalb nicht, weil in vielen Hierarchien Begriffe angesetzt werden können, die nicht durch ein Wort ausgedrückt sind, die aber zur Gliederung des Feldes wesentlich beitragen, vgl. dazu das Feld Wasserlauf in Abb. 18 (s. auch Schippan 1992: 220). Hier fordert die Opposition zu Kanal ,künstlicher Wasserlauf‘ eigentlich ein lexikalisches Gegenstück mit der Bedeutung ,natürlicher Wasserlauf‘. Dieses ist aber als Wort nicht vorhanden.

Abb. 18: Lexikalische Lücke im Wortfeld ,Wasserlauf‘ die kognitive Funktion von Wortfeldern

Eine andere zentrale Annahme der Wortfeldtheorie Triers und Weisgerbers ist, dass es sich bei Wortfeldern nicht bloß um sprachliche Erscheinungen handelt, sondern dass den Feldern eine grundlegende kognitive Funktion zukommt. Wortfelder legen „Grenzen in den Begriffsblock hinein und teilen ihn auf“ (Trier 1931: 1), sie verleihen der ungegliederten menschlichen Erfahrungswelt eine begriffliche Struktur und beeinflussen damit unser Denken und unsere Wahrnehmung. Da Wortfeldgliederungen grundsätzlich sprachspezifisch sind, eröffnen unterschiedliche Sprachen auch unterschiedliche Perspektiven auf die Welt: „Jede Sprache gliedert das Sein auf ihre Weise, schafft damit ihr besonderes Seinsbild, setzt damit ihre, dieser einen Sprache eigentümlichen Inhalte“ (Trier 1973: 146). Die Wortfeldforschung, zumindest in ihrer frühen Phase, ordnet sich daher in eine mit Herder und Wilhelm von Humboldt einsetzende Forschungstradition ein, die einen engen Zusammenhang zwischen Sprache und Weltwahrnehmung, teilweise sogar eine Determinierung des Denkens durch die Sprache postuliert (zu diesem ,linguistischen Relativitätsprinzip‘ vgl. Werlen 1989; zu einem sprachenübergreifenden Wortfeldvergleich s. auch Abschnitt 6.6). Auch wenn die zentralen Postulate der Wortfeldtheorie – die These von der Lückenlosigkeit des „Wortmantels“, die Annahme der absoluten Bestimmtheit des Einzelwortes durch das Ganze des Feldes und auch die sprachtheoretischen Implikationen – inzwischen als weitgehend überholt gelten müssen, ist die Wortfeldtheorie doch insofern bis heute ein sehr einflussreicher Ansatz geblieben, als hier zum ersten Mal deutlich gemacht wurde, dass eine isolierte Beschreibung von Wörtern wenig ertragreich ist und Wörter vielmehr im Zusammenhang beschrieben werden sollten. Daher bildete die Wortfeldtheorie, wissenschaftshistorisch gesehen, auch einen wichtigen Impuls für die Konstituierung der Disziplin Lexikologie.

6.4 Wortfamilien

6.4 Wortfamilien Eine umfassende Gliederung des Wortschatzes ergibt sich auch aus morphologischen Zusammenhängen. Wörter, die durch eine Ableitungsbeziehung oder als Bestandteile von Komposita miteinander verbunden sind, bezeichnet man als Wortfamilie. Wortfamilien gruppieren sich um ein lexikalisches Morphem, das den gemeinsamen Nenner der betreffenden Wörter bildet. Dieses Kernmorphem schließt allerdings auch Varianten (Allomorphe) ein, wie die hier als Beispiel ausgewählte Wortfamilie um die Morpheme {bind}/{band}/{bund} zeigt. Sie kann hier wegen ihres Umfangs allerdings nur ausschnittweise dargestellt werden.

Kernmorphem

Abb. 19: Die Wortfamilie {bind}/{band}/{bund}

Die Wortfamilie wird meist als eine synchrone Größe beschrieben (vgl. Augst 1998: VIII). Sie ist damit ein Modell, welches das zu einer bestimmten Zeit als gegeben vorausgesetzte Wissen einer Sprachgemeinschaft über morphologische Zusammenhänge enthält. Das etymologische Spezialwissen des Sprachhistorikers bleibt dabei unberücksichtigt. Längst verdunkelte Beziehungen wie die zwischen bitter und beißen, biegen und bügeln, winden und Wand spielen daher für die Konstituierung einer Wortfamilie keine Rolle. Wenn man das synchron gegebene morphologische Wissen zum Maßstab für die Zugehörigkeit von Wörtern zu einer Familie erhebt, dann muss man allerdings auch akzeptieren, dass Sprecherinnen und Sprecher gegebenenfalls Verbindungen herstellen, die aus Sicht der wissenschaftlichen Ety-

synchrones morphologisches Wissen

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6. Der Wortschatz und seine Architektur

mologie falsch sind. So wird das Verb verbläuen sicherlich von vielen in einen Zusammenhang mit dem Adjektiv blau gestellt und als QuasiSynonym zu der Wendung jemanden grün und blau schlagen aufgefasst. Es liegt hier also eine volksetymologische Umdeutung vor (vgl. auch Kap. 7.3). Einen etymologischen Zusammenhang zwischen blau und bläuen, das ursprünglich schlicht ,schlagen‘ bedeutet hat, gibt es nach Ausweis der Herkunftswörterbücher aber nicht (vgl. Pfeifer 149).

6.5 Varietätenspezifische Wortschätze

diatopische, diastratische, diaphasische Varietäten

Wir sind es gewohnt, Sprachen wie ,das Deutsche‘, ,das Französische‘, ,das Russische‘ als Einheiten zu begreifen. In der Realität begegnet uns Sprache jedoch in zum Teil sehr unterschiedlichen Ausprägungen: Geschrieben oder gesprochen, als regional geprägte Umgangssprache, als Dialekt, als „Slang“ von Jugendlichen oder als Fachsprache. Homogene Gebilde stellen unsere modernen Sprachen somit nicht dar. Es handelt sich eher um komplexe Systeme, die aus verschiedenen Subsystemen zusammengesetzt sind; in gewisser Weise liegt somit ,innere Mehrsprachigkeit‘ vor. Die Subsysteme einer Sprache bezeichnet man als deren Varietäten. Dabei werden diatopische, diastratische und diaphasische Varietäten unterschieden: Diatopisch sind die Varietäten verschiedener Regionen einer Sprache (zu griech. diá ,durch‘ und tópos ,Ort‘), von diastratischer Variation spricht man in Bezug auf soziologische Schichten (lat. stratum ,Schicht‘), und als diaphasisch bezeichnet man die situations- oder stilebenenspezifische sprachliche Variation (zu griech. phásis ,Erscheinung‘).

6.5.1 Diatopische Varietäten a) Die Standardvarietäten des Deutschen

Plurizentrik

Die Intuition, dass es trotz der angesprochenen ,inneren Mehrsprachigkeit‘ ein Deutsch, Französisch, Russisch usw. gibt, ist gleichwohl nicht völlig falsch, da Sprachen in der Regel mehr sind als die Summe ihrer Varietäten. Es gibt – zumindest für die meisten modernen Sprachen – eine Art Dach, eine Klammer, die das gesamte Varietätengefüge zusammenhält. Diese überdachende Varietät nennt man die Leitvarietät oder Standardvarietät. Es handelt sich dabei um diejenige Varietät, welche die größte kommunikative Reichweite innerhalb des Varietätenspektrums besitzt. Es ist deshalb meist auch die Varietät, die als Fremdsprache gelehrt und gelernt wird. Zudem zeichnet sich die Standardvarietät gegenüber allen anderen Varietäten durch einen hohen Normierungsgrad aus; Grammatiken und Wörterbücher legen fest, wie zu schreiben und zu sprechen ist. Wenn man die für das Deutsche gültige Standardvarietät etwas genauer bestimmen will, stößt man allerdings sogleich auf Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, dass Deutsch eine internationale Sprache ist: Deutsch ist Amtssprache in Deutschland, Österreich, Liechtenstein sowie (neben anderen Amtssprachen) in der Schweiz, Luxemburg sowie in Belgien, wo es ebenfalls eine deutschsprachige Gemeinschaft gibt (Ost-Belgien). Es ist fer-

6.5 Varietätenspezifische Wortschätze

ner regionale Sprache in Süd-Tirol. Man hat sich daher darauf geeinigt, das Deutsche als ,plurizentrische‘ Sprache zu betrachten, als eine Sprache also, die über mehrere gleichberechtigte Zentren bzw. Standardvarietäten verfügt (vgl. Ammon 1995: 47–49) – wobei der Begriff ,Zentrum‘ etwas unglücklich ist, da ein Zentrum eigentlich immer auch eine Peripherie impliziert; eine Varietät ,Peripherie-Deutsch‘ gibt es jedoch nicht. Plurizentrische Sprachen sind übrigens beispielsweise auch das Portugiesische mit einer portugiesischen und einer brasilianischen Standardvarietät sowie das Englische, das mit dem britischen, amerikanischen, australischen, indischen, nigerianische Englisch usw. eine große Zahl von Standardvarietäten aufweist. Im Hinblick auf die Lexik und natürlich auch die Grammatik weichen Standardvarietäten nur soweit voneinander ab, dass eine Verständigung zwischen Sprecherinnen/Sprechern der verschiedenen Varietäten trotz aller Unterschiede grundsätzlich möglich bleibt. Wenn ein verständnissichernder Grundbestand an sprachlichen Ausdrucksmitteln nicht oder nicht mehr gegeben ist, hat man statt von unterschiedlichen Standardvarietäten von unterschiedlichen Sprachen auszugehen, wie es beispielweise, als Ergebnis einer langen historischen Entwicklung, bei Niederländisch und Afrikaans der Fall ist. Die lexikalischen Unterschiede zwischen Standardvarietäten bezeichnet man auch als Differenziallexik (Schlaefer 2009: 46). Diese enthält Wörter, die für eine Standardvarietät mehr oder weniger charakteristisch sind (z.B. schweiz. Zältli, österr. Zuckerl, bundesdt. Bonbon). Sie kann aber auch einzelne Bedeutungen eines Wortes umfassen, die für eine Standardausprägung spezifisch sind (österr. Gebrechen ,Schaden an einer Installation‘). Zur Differenziallexik gehören daneben minimale ausdrucksseitige Abweichungen (z.B. österr. und schweiz. Tragtasche vs. bundesdt. Tragetasche, österr. Zugsführer vs. schweiz. und bundesdt. Zugführer) oder Genusunterschiede (schweiz. das Tram vs. bundesdt. die Tram). Schließlich gibt es Wörter für landestypische Besonderheiten (schweiz. Rösti) oder anderweitig schwer Übersetzbares (z.B. österr. Hascherl ,bemitleidenswertes Wesen, besonders Kind oder unselbständige Frau‘), die keine Entsprechungen in den anderen Varietäten haben. Die deutschen Standardvarietäten und ihre Lexik lassen sich im Einzelnen wie folgt charakterisieren: *

Helvetismen: Der Wortschatz des Schweizerhochdeutschen

Das Schweizerhochdeutsche wird von Schweizern häufig als ,Schriftdeutsch‘ apostrophiert, und in der Tat ist die schweizerische Standardvarietät ganz überwiegend auf die schriftliche Kommunikation beschränkt. Sie spielt lediglich als Sprache der Presse, in der Schule, bei Reden im Parlament, bei Predigten und Universitätsvorlesungen sowie vor Gericht eine Rolle. Sie wird dabei überwiegend nur in solchen Situationen verwendet, bei denen die Sprecherinnen und Sprecher sich an einem Manuskript orientieren. Die alltägliche mündliche Kommunikation findet im regionalen Dialekt statt. Dies gilt für alle sozialen Gruppen einschließlich der Gebildeten (hierzu Ammon et al. 2004: XXXIX).

Differenziallexik

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98

6. Der Wortschatz und seine Architektur

Die Lexik des Schweizerhochdeutschen ist generell durch eine hohe Zahl von Lehnwörtern aus dem Französischen (die übrigens fast durchgehend auf der ersten Silbe betont werden: Vélo) sowie durch zahlreiche Übernahmen aus den Dialekten gekennzeichnet. Im letzten Fall ist nicht immer leicht zu entscheiden, ob ein Wort bloß Dialektzitat ist oder bereits Bestandteil einer lexikalischen Norm des Schweizerhochdeutschen geworden ist (Ammon et al. 2004: XL). Daneben gibt es noch zahlreiche Bezeichnungen für Sachverhalte des schweizerischen Gemeinwesens. Helvetismen

bundesdeutsche Entsprechung

Abschrankung

Absperrung

Anzug

Bettwäsche

Ausschaffung

Abschiebung

Billett

Fahrkarte

Bundesrat

Bundesregierung

Coiffeur

Friseur

der Final

das Finale

Finken

Hausschuhe

Führerausweis

Führerschein

Garage

Werkstatt

Merci

Danke

parkieren

parken

Perron

Bahnsteig

Tumbler

Wäschetrockner

Unterbruch

Unterbrechung

Velo

Fahrrad

Tab. 4: Beispiele für Helvetismen *

Austriazismen: Der Wortschatz des österreichischen Deutsch

Während in der deutschsprachigen Schweiz mit dem Nebeneinander von Dialekt und Standard praktisch Zweisprachigkeit (Diglossie) herrscht, ist das österreichische Deutsch durch fließende Übergänge zwischen Dialekt und Standard gekennzeichnet. Die Standardsprache ist auch hier „die Sprache der Schriftlichkeit und jener mündlichen Sprechakte, die als öffentlich und/ oder formell gelten, wie Ansprachen, Predigten, Vorlesungen, Nachrichten und Kommentare in elektronischen Medien“ (Ammon et al. 2004: XXXVI). Daneben gibt es auch informelle Varianten des Standards, die die mündliche Kommunikation dominieren. Im privaten Bereich spielen daneben aber auch die Dialekte eine wichtige Rolle.

6.5 Varietätenspezifische Wortschätze

Austriazismen

bundesdeutsche Entsprechung

jmdm. abgehen

etwas vermissen

der Akt

die Akte

berufen

Widerspruch einlegen

Billett

kleiner Brief

Fisole

Bohne

Fußabstreifer

Fußabtreter

Kirchtag

Kirmes

Landeshauptmann

Ministerpräsident

Paradeiser

Tomate

Patschen

Hausschuhe

Schwammerl

Pilz

Station

Raststätte

Zuckerl

Bonbon

Tab. 5: Beispiele für Austriazismen

*

,Teutonismen‘: Der Wortschatz im ,deutschländischen Deutsch‘

Das Deutsche der Bundesrepublik zeichnet sich gegenüber den anderen Standardvarietäten durch eine weite Geltung der standardsprachlichen Norm und eine vergleichsweise geringe Bedeutung der Dialekte aus. Diese spielen vor allem im Norden des Sprachgebietes kaum eine Rolle mehr. Im Süden hingegen sind sie zwar stärker präsent, ihr kommunikativer Wirkungsbereich bleibt jedoch hier weitgehend auf die private und nichtöffentliche Kommunikation begrenzt. Das bundesrepublikanische oder ,deutschländische‘ Deutsch weist auch in der Standardausprägung eine gewisse Variation im Wortschatz auf (die sich freilich nicht an die Landesgrenzen hält, sondern andere nationale Varietäten mit einbezieht): (5) a. Moin/Guten Tag/Grüß Gott b. Samstag/Sonnabend c. Schlachter/Metzger/Fleischer d. Brötchen/Schrippe/Semmel/Rundstück/Wecken e. viertel eins/viertel nach zwölf Bei vielen Wortschatzdifferenzen lässt sich eine Nord-Süd-Gliederung feststellen. Daneben gibt es – teils noch als Relikte aus der Zeit der deutschen Teilung – einige lexikalische Ost-West-Gegensätze: Plaste/Plastik, Broiler/ Hähnchen. Die Standardlexik des deutschländischen Deutsch also nicht homogen, sondern umfasst verschiedene gleichberechtigte Varianten.

99

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6. Der Wortschatz und seine Architektur

b) Regionale Varietäten Dialektwortschatz

Dialekt-StandardKontinuum

der ,Deutsche Wortatlas‘

Gewissermaßen unter dem Dach der Standardvarietäten ist eine Vielzahl von Dialekten (oder Mundarten) sowie regional geprägten Umgangssprachen zu Hause. Die dialektale Gliederung des deutschen Sprachraums ist allerdings wesentlich älter als die Standardvarietäten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich Wortschatzunterschiede nur selten an die Staatsgrenzen zwischen Deutschland, Schweiz und Österreich halten. Das österreichische Deutsch ordnet sich zusammen mit großen Teilen des Bundeslandes Bayern dem bairischen Dialektraum zu, und die Schweizer Dialekte gehören gemeinsam mit dem Badischen und Schwäbischen dem Alemannischen an. Aus dieser jeweils gemeinsamen dialektalen Basis ergeben sich zahlreiche lexikalische Übereinstimmungen zwischen Österreich und dem Südosten Deutschlands auf der einen sowie der Schweiz und dem deutschen Südwesten auf der anderen Seite. Unter Dialekt versteht man die ländlich geprägten und trotz großlandschaftlicher Einbindung ortstypischen mündlichen Sprachformen, die sich auf westgermanischer Grundlage über Jahrhunderte entwickelt haben. Da es sich um die am weitesten vom Standard entfernte Stufe handelt, spricht man auch von Basisdialekt. Die Standardvarietät und der Basisdialekt bilden die Endpunkte eines Kontinuums, in dem die sog. Regiolekte oder regionalen Umgangssprachen den breiten Zwischenbereich einnehmen (Näheres dazu bei Girnth 2007: 195 f.). Einen Überblick über die räumliche Verteilung von 200 Dialektwörtern des bäuerlichen Lebensbereichs bieten die Karten des von Walther Mitzka

Abb. 20: DWA-Karte Gurke, Umzeichnung aus König (2001: 225)

6.5 Varietätenspezifische Wortschätze

begründeten Deutschen Wortatlas (DWA). Er beruht auf einer Auswertung von ca. 48.000 Fragebogen, die zwischen 1939 und 1940 fast im gesamten damaligen deutschen Sprachgebiet verschickt worden sind. Der DWA liegt in 22 Kartenbänden vor, die von 1972 bis 1980 publiziert worden sind. Eine Auswahl aus den Karten des DWA bieten die Umzeichnungen in König (2001), vgl. hier das Beispiel Gurke in Abb. 20. Vergleicht man die Verteilungsbilder der einzelnen DWA-Karten miteinander, so zeigt sich eine große Vielfalt der lexikalischen Raumbildung – in jeder Wortkarte verlaufen die Grenzlinien anders. Diese Heterogenität hängt damit zusammen, dass die Verteilung der Dialektwörter an je spezifische kulturelle Faktoren geknüpft ist. So lässt die Karte Gurke erkennen, dass sich im deutschen Sprachgebiet zwei Entlehnungen begegnen, einmal Gurke als ein aus dem Slawischen entlehntes Wort, zum anderen das im Südwesten verbreitete Gummer, welches auf lat. cucumis zurückgeht (Ansätze zu einer Typologie der DWA-Karten bietet Hildebrandt 1982). Detaillierte Angaben zu den Wortschätzen einzelner Dialektlandschaften bieten die Mundartwörterbücher, z. B. das Bayerische Wörterbuch, das Rheinische Wörterbuch, das Pfälzische Wörterbuch, das Südhessische Wörterbuch, das Niedersächsische Wörterbuch usw. Einen Überblick über die Wörterbücher und das Gebiet, das sie jeweils abdecken, findet sich in Glück (2000: 156). Einige dieser Wörterbücher sind über die Homepage „woerterbuchnetz.de“ online durchsuchbar. Da die Artikel der einzelnen Wörterbücher dort miteinander verlinkt sind, bieten sich auf diese Weise interessante wörterbuch- und dialektübergreifende Recherchemöglichkeiten. Gegenüber dem Basisdialekt sind die Umgangssprachen oder Alltagssprachen verhältnismäßig standardnahe Varietäten der mündlichen Kommunikation. Sie zeigen aber auch regionale Prägungen. Der Wortschatz der Alltagssprache wird in zwei jüngeren Atlasprojekten beschrieben, zum einem in dem „Wortatlas der deutschen Umgangssprachen“ von Jürgen Eichhoff, der von 1977–2000 in vier Bänden erschienen ist, sowie in dem aktuellen Projekt „Atlas zur deutschen Alltagssprache“, das sich als Fortsetzung und Aktualisierung des Atlaswerks von Eichhoff versteht (atlas-alltagssprache. de).

Dialektwörterbücher

Wortschatz der Alltagssprache

6.5.2 Diastratische Varietäten Gruppenbildung ist ein grundlegendes soziales Faktum. Gruppen zeichnen sich durch gemeinsame Verhaltensmerkmale und Einstellungen sowie meist auch durch ein Bewusstsein ihrer Zusammengehörigkeit aus („Wir machen das in unserer Familie alle so“, „Typisch Jurist!“). An die Zugehörigkeit zu einer Gruppe sind auch gewisse Rollenerwartungen („Ärzte sollen dem Patienten helfen“) und Rollenattribute („Ärzte sind weiß gekleidet“) geknüpft. Rollenattribute können auch sprachlich manifestiert sein („Ärzte reden so“). Individuen gehören mehreren Gruppen an: ein Arzt kann gleichzeitig Familienvater, Hobbyangler, Mitglied einer Partei und Fan einer bestimmten Fußballmannschaft sein. Die folgenden Typen von Gruppensprachen können unterschieden werden (vgl. Löffler 2005: 114–126; Girnth 2007: 206 f.):

Gruppensprachen

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6. Der Wortschatz und seine Architektur

– Bei Soziolekten korrespondieren sprachliche Merkmale unmittelbar mit der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht (Mittelschicht, Unterschicht, Oberschicht) oder einem Milieu. Ein starres Schichtenmodell ist als Beschreibung der sozialen Wirklichkeit heute allerdings kaum mehr angemessen. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war der Soziolekt der ländlichen Unterschicht noch häufig identisch mit dem Basisdialekt. – Die Fach- und Berufssprachen dienen der Kommunikation unter Spezialisten. Es kann sich dabei sowohl um den Spezialwortschatz traditioneller Handwerksberufe als auch um den Wortschatz wissenschaftlicher Disziplinen handeln. – Sondersprachen bringen vor allem die soziale Identität einer Gruppe zum Ausdruck. Sie dienen daher nicht selten der bewussten Abgrenzung einer Sprechergruppe nach Außen. Man spricht von temporärer Sondersprachlichkeit, wenn die Sprache nur in bestimmten wiederkehrenden Situationen und Gruppenkonstellationen (z. B. Skatrunde, Sportverein) gebraucht wird. Transitorisch sind dagegen Sondersprachen, wenn sie nur in einer bestimmten Lebenszeit, etwa als Jugendsprache, relevant sind. Habituell ist eine Sondersprache, wenn sie dauerhaft mit einer sozialen Gruppe identifiziert werden kann, wie z. B. die Ethnolekte (Migrantendeutsch, „Kiezdeutsch“). Zuweilen wird auch der Genderlekt, das geschlechtsspezifische Sprachverhalten von Frauen und Männern, zu den habituellen Sondersprachen gerechnet. – Eine extreme Form der Sondersprache bilden die Geheim- oder Kontrasprachen. Sie sind darauf ausgelegt, dass sie außerhalb der Gruppe nicht verstanden werden. Klassisches Beispiel hierfür ist das Rotwelsche, eine sog. ,Gaunersprache‘, die als Sprache sozialer Randgruppen (wie Bettler, Landstreicher, fliegende Händler) seit dem ausgehenden Mittelalter bis ins 19., teilweise bis ins 20. Jahrhundert im Gebrauch war. Das Rotwelsche enthält auch zahlreiche Ausdrücke jiddischer Herkunft. Einige Wörter sind aus dem Rotwelschen ins Standarddeutsche gelangt: Moos, Zaster, Schlamassel, malochen.

Fachwortschätze

Die einzelnen Typen sind in der Realität nicht immer klar voneinander zu trennen. So dient z. B. die Sprache der Jäger einerseits einer angemessenen Kommunikation über spezifische Sachverhalte und wäre demnach als Fachsprache zu klassifizieren. Andererseits signalisiert das Beherrschen des „waidmännischen“ Vokabulars die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, der herkömmlicherweise Exklusivität und Prestige zugeschrieben wird – nur wer die Beine des Rehs als Läufe und sein Blut als Schweiß zu bezeichnen weiß, erweist sich als vollgültiges Mitglied der Gruppe. Auch der Ethnolekt ist im Übergangsbereich mindestens zweier Typen anzusiedeln: Es handelt sich um Soziolekte, weil eine Korrelation zwischen sozialem Milieu und Sprache besteht, und es liegt in einigen Fällen aber auch ein starkes identitätsstiftendes Moment vor (vgl. Wiese 2012 zum „Kiezdeutsch“ Berlins). Fachliche Wortschätze zeichnen sich generell durch eine hohes Maß an Präzision aus. Dies zeigt sich an einer wesentlich feineren lexikalischen Differenzierung (lexikalischen Elaboration) gegenüber dem gemeinsprachlichen Wortschatz. So haben wir in Kap. 2 für das gemeinsprachliche Wort gleich mehrere terminologische Entsprechungen eingeführt: Wortform,

6.5 Varietätenspezifische Wortschätze

Lexem, phonologisches Wort, Synsemantikon usw. Die Vielzahl der Termini soll eine möglichst eindeutige Referenz des einzelnen Ausdrucks sicherstellen – Polysemie, mit der wir im Alltag problemlos zurecht kommen, ist in der Wissenschaft unerwünscht und kann durch einen hohen Grad der lexikalischen Differenzierung vermieden werden. So ist es nicht verwunderlich, dass wissenschaftliche Terminologien sehr umfassend sein können – man denke nur an die Fülle der anatomischen Fachtermini oder die Summe aller chemischen Verbindungen. Eine höhere lexikalische Elaboration zeigen nicht die nur Wissenschaftssprachen, sondern bis zu einem gewissen Grad auch die Fachwortschätze der traditionellen Berufe. So führt König (2001: 133) die folgenden Wörter aus der Lebenswelt der Allgäuer Bauern als Entsprechungen zum allgemeinsprachlichen brünstig an: Gemeinsprache

brünstig

bäuerliche Ausdrücke läufig (Kuh) bockig (Ziege, Schaf) rossig (Pferd) rüsslig (Schwein) streichig (Hündin) rammeln (Katze)

Tab. 6: Bäuerlich geprägter Fachwortschatz

Wichtiges Merkmal der Jugendsprache – um hier die Lexik einer besonders interessanten transitorischen Sondersprache herauszugreifen – ist die Tendenz zu einer drastischen, hyperbolischen Ausdrucksweise. So verfügt diese Sprachform über einen großen Anteil von Wörtern bzw. Affixen, die Intensität ausdrücken, so etwa die Präfixe hyper-, mega-, sau-, voll oder die Adverbien cool, geil, fett, krass. Diese Intensitätsmarker verbrauchen sich allerdings relativ schnell, so dass hier in kurzen zeitlichen Abständen neue Ausdrücke gebildet werden (vgl. rezenteres das ist voll porno). Vulgarismen spielen ebenfalls eine große Rolle in der Jugendsprache. Dazu zählen Schimpfwörter wie Drecksau, Pisser oder Saftschubse/Thekenschlampe (für ,Bedienung‘) und zahlreiche Lexeme aus dem sexuellen Bereich (Bitch, fuck). Die Sprache von Jugendlichen ist bei aller Drastik durchaus kreativ. Dies kommt etwa in der Schaffung neuer Bedeutungsvarianten für bereits bestehende Wörter (geil, anbaggern, Torte ,Mädchen‘), in originellen Metaphern (Naturwollsocken für ,Beinbehaarung‘) und Wortbildungen (Vollhorst) zum Ausdruck. Auch Übernahmen aus dem Englischen, vor allem aus dem über Musik und Medienkonsum rezipierten Slang, kennzeichnen den Wortschatz der Jugendsprache (Gangster, Checker, chillen). Die Lexik weist insgesamt aber fließende Übergänge zur Umgangssprache auf, da keines der genannten Phänomene exklusiv für die Sprache Jugendlicher ist (Neuland 2007: 26).

6.5.3 Diaphasische Varietäten Nicht jeder Ausdruck ist für jede Kommunikationssituation gleich gut geeignet, auch wenn er den gemeinten Gegenstand völlig unmissverständlich

Wortschatz der Jugendsprache

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6. Der Wortschatz und seine Architektur

Stilschichten

Register

bezeichnet. So sollte man in bestimmten Situationen besser Geben Sie mir doch bitte das Geld statt Her mit der Knete! sagen, in anderen Lebenslagen kann aber auch Zieh Leine! angemessener und wirkungsvoller sein als z. B. Entfernen Sie sich bitte!. Die Situationsspezifik, die manchen Wörtern gewissermaßen eingeschrieben ist, kann auch als konnotatives Merkmal gefasst (s. Kap. 4.2) und im Rahmen der lexikalischen Semantik behandelt werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die diaphasischen Prägungen von Wörtern in einem Schichtenmodell des Wortschatzes zu beschreiben, das mehrere Ebenen enthält. Ein solches Schichtenmodell gibt es bereits in der klassischen Rhetorik. Hier geht man von drei grundlegenden Stilarten oder Stilschichten aus: dem hohen Stil (stilus gravis), der vor allem auf das movere, die emotionale Erschütterung des Hörers abzielt, dem mittleren Stil (genus mediocris), der dem Zweck des delectare, der gefälligen Unterhaltung dient, und dem niederen Stil (stilus humilis), der der Belehrung (docere) vorbehalten ist (dazu Sanders 1977: 125). Die Zugehörigkeit zu einer Stilschicht betrifft zwar in erster Linie Texte und zusammenhängende mündliche Äußerungen, da aber die Zuordnung eines Textes bzw. einer Äußerung zu einer Stilebene nicht unwesentlich von den Wörtern abhängt, die dort verwendet werden, ist das Stilebenenmodell auch auf die Lexik anwendbar. In modernen Stillehren werden – neben der neutralen, unmarkierten Stilschicht – in der Regel vier lexikalisch relevante Ebenen oder ,Register‘ unterschieden (Ludwig 2009: 1584): 1) Als gehoben gelten Lexeme, die klar als ,nicht-alltäglich‘ markiert sind und eine gewisse Feierlichkeit und Getragenheit gegenüber dem entsprechenden neutralen Synonym suggerieren. Die Lexeme werden meist auch mit einem höheren Bildungsgrad des Sprechers assoziiert. Beispiele sind z. B. Eloge für ,Lob‘, Gatte für ,Ehemann‘, währen für ,dauern‘, weilen für sich ,aufhalten‘. 2) Umgangssprachlich sind Lexeme, „die vorwiegend in alltäglichen und zwanglosen, insbesondere familiär-vertraulichen Situationen gebraucht werden“ (Ludwig ebd.). Beispiele sind flitzen für ,schnell laufen, fahren‘, kriegen für ,bekommen‘, gewieft für ,schlau, gewitzt‘, Uni für ,Universität‘. 3) Als salopp werden Lexeme bezeichnet, die zusätzlich zu ihrem familiärvertraulichen Charakter noch eine meist negative emotionale Haltung zum Ausdruck bringen: Glotze für ,Fernseher‘, Kiste für ,Auto‘, Penne für ,Schule‘, Visage für ,Gesicht‘, krepieren für ,sterben‘. 4) Derb oder vulgär sind Ausdrücke, die beleidigend oder verletzend wirken können. Sie gehören typischerweise bestimmten Tabubereichen (Sexualität, Exkremente) an.

Euphemismen Dysphemismen

Zur höchsten Stilebene gehören typischerweise auch Euphemismen, zur untersten Ebene deren Gegenstück, die Dysphemismen (Schimpfwörter). Euphemismen der gehobenen Stilebene sind heimgehen oder entschlafen für ,sterben‘ oder Beischlaf für ,Geschlechtsverkehr‘. Euphemismen dienen meist der sprachlichen ,Umschiffung‘ eines gesellschaftlichen Tabus. Es gibt dabei neben den gehobenen Euphemismen auch stilistisch mehr oder weniger neutrale euphemistische Ausdrücke wie z. B. mit jemandem schlafen, in

6.5 Varietätenspezifische Wortschätze

besonderen Umständen sein oder in bescheidenen Verhältnissen leben (für ,arm sein‘). Euphemismen können auch manipulativ oder verschleiernd eingesetzt werden, wenn etwa Personal freisetzen für ,entlassen‘, Absenkung für ,Kürzung‘, Null-Wachstum für ,Stagnation‘ oder Sondermüll für ,Giftmüll‘ verwendet wird. Verwandt mit den Euphemismen sind Ausdrücke, die der Maßgabe der Political Correctness zu entsprechen suchen. Hierzu gehören Lexeme wie die genusneutrale Pluralform Studierende, Migrant statt Ausländer, Sinti und Roma statt Zigeuner, Schokokuss statt Negerkuss, Down-Syndrom statt Mongolismus. Euphemismen und auch Ausdrücke der Political Correctness haben, historisch gesehen, die Tendenz sich abzunutzen, so dass sie stets durch neue euphemistische bzw. unanstößige Ausdrucksmittel ersetzt werden müssen. Pinker (2003) hat dieses Phänomen als ,Euphemismus-Tretmühle‘ bezeichnet (vgl. auch Wanzeck 2010: 82 f.). Beispiele sind Wörter für die Tabubereiche ,psychische Krankheit‘, ,Behinderung‘, ,Hautfarbe‘ sowie für ,Gehörlosigkeit‘.

political correctness

,EuphemismusTretmühle‘

(6) a. blödsinnig (17. Jh.) > schwachsinnig (irrsinnig /geisteskrank (1. Hälfte 19. Jh.) > geistesgestört (2. Hälfte 19. Jh.) > psychisch krank (20. Jh.) b. Irren(heil)anstalt > Nervenheilanstalt > psychiatrische Klinik > Landeskrankenhaus (7) Krüppel > Gebrechlicher > Behinderter > Mensch mit Behinderung (8) Neger > Schwarzer > Afroamerikaner (9) taub > gehörlos > nicht-hörend Hier werden Wörter, die zunächst völlig neutral sind (blödsinnig etwa bedeutet zuerst ,von schwachem Verstand‘ und auch Irrenanstalt sowie Irrenarzt sind ursprünglich nicht abwertend), rasch als unangemessen empfunden und durch andere ersetzt, denen dann wieder dasselbe Schicksal widerfährt. In der Stilistik werden neben situationsspezifischen Stilen auch Funktionalstile angesetzt. Dabei geht es um Verwendungsweisen sprachlicher Mittel, die für bestimmte Kommunikationsbereiche wie Wissenschaft, Institutionen, Literatur, Presse und Alltag als spezifisch erachtet werden (Sanders 1977: 103). Als Beispiel für die Lexik eines Funktionalstils sei hier ein Auszug aus einer Gemeindemitteilung angeführt, der für das ,Behördendeutsch‘ charakteristisch ist: (10)

Beseitigung von pflanzlichen Abfällen durch Verbrennen – Wegfall der Brenntage (…) ab dem 01.04.2014 entfällt für die Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen die Möglichkeit, ihre pflanzlichen Abfälle im Garten zu verbrennen (…). Begründet ist dies damit, dass die bisherige Verordnung über die Beseitigung pflanzlicher Abfälle durch Verbrennen außerhalb von Abfallbeseitigungsanlagen, die BrennVO, mit Ablauf des 31.03.2014 außer Kraft tritt. (…) Vom Niedersächsischen Ministerium für Umwelt, Energie und Klimaschutz wird zwar derzeit eine Nachfol-

Funktionalstile

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6. Der Wortschatz und seine Architektur

geregelung erarbeitet, im Verordnungsentwurf des Ministeriums ist jedoch die Möglichkeit, allgemeine Brenntage zu bestimmen, nicht mehr vorgesehen. Bis eine neue Verordnung in Kraft tritt, gilt zunächst folgendes: In begründeten Einzelfällen kann die untere Abfallbehörde Ausnahmen zulassen, dass pflanzliche Abfälle zum Zweck der Beseitigung verbrannt werden können (…). (www.katlenburg-lindau.de; Zugriff 4. 5. 2014) Der Beispieltext weist typische Merkmale von Behördensprache auf. So wird hier ein hoher Grad von sprachlicher Explizitheit angestrebt: Bürgerinnen und Bürger, Beseitigung von pflanzlichen Abfällen durch Verbrennen (statt einfach Verbrennen von Gartenabfall), vollständige terminologische Benennungen (Verordnung über die Beseitigung pflanzlicher Abfälle durch Verbrennen außerhalb von Abfallbeseitigungsanlagen, Niedersächsisches Ministerium für Umwelt, Energie und Klimaschutz, untere Abfallbehörde). Diese Explizitheit geht allerdings auch mit gelegentlich verwendeten offiziellen Abkürzungen einher (BrennVO). Kennzeichnend sind ferner Kollokationen, die der juristischen Fachsprache entstammen: in bzw. außer Kraft treten, in begründeten Einzelfällen, eine Nachfolgeregelung erarbeiten, mit Ablauf (hier mit archaisch klingendem Genitivattribut).

6.6 Wortschatzstrukturen im Vergleich Sprachtypologie

lexikalische Typologie

Die Sprachtypologie befasst sich mit strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Sprachen, und zwar grundsätzlich unabhängig davon, ob die untersuchten Sprachen genetisch verwandt oder nicht verwandt sind. Sie ist eng verbunden mit der Suche nach sprachlichen Universalien, d. h. nach Eigenschaften, die allen Sprachen der Welt gemeinsam sind. Ein klassischer Gegenstand der Typologie ist die Flexionsmorphologie. Hier hat die Forschung Sprachtypen wie ,flektierend‘ oder ,agglutinierend‘ postuliert (vgl. Glück 2000: 20, 210). Wichtige Arbeitsgebiete der jüngeren Sprachtypologie sind unter anderem die Wortstellungstypologie, die eine Klassifizierung von Sprachen nach der jeweils grundlegenden Abfolge der Hauptsatzglieder (Subjekt – Verb – Objekt) vornimmt, sowie die sog. relationale Typologie, welche die Enkodierung zentraler grammatischer Eigenschaften (wie ,Täter‘/Agens und ,Leidender‘/Patiens in einem Ereignis) in unterschiedlichen Kasussystemen untersucht. Die Sprachtypologie befasst sich somit herkömmlicherweise mit einem Vergleich der grammatischen Strukturen von Sprachen, wozu natürlich nicht zuletzt auch der Vergleich von Lautsystemen gehört. Lexikologische Fragen stehen in der sprachtypologischen Forschung dagegen bisher eher am Rande. Dies hat sicher mit dem zu Beginn dieses Kapitels angesprochenen Vorurteil zu tun, dass der Wortschatz einer Sprache gegenüber der prinzipiell als regelhaft aufgefassten Grammatik nichts weiter als eine unstrukturierte Ansammlungen von Zufälligkeiten und Idiosynkrasien darstelle – und der Vergleich von Zufälligkeiten verspricht naturgemäß weniger Erkenntnisse als der Vergleich von Strukturen und Regeln. In diesem Buch sind nun

6.6 Wortschatzstrukturen im Vergleich

bereits einige Argumente dafür vorgebracht worden, dass es sehr wohl Strukturen im Wortschatz gibt. Auf der Basis dieser Annahme ist dann auch die lexikalische Typologie eine erfolgversprechende Aufgabe. Die Herausbildung der lexikalischen Typologie ist wissenschaftsgeschichtlich gesehen mit zwei Entwicklungen sehr eng verknüpft, die beide in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts fallen: mit der Entdeckung und Beschreibung einer Vielzahl von bis dahin weitgehend unbekannten nordamerikanischen Indianersprachen durch Franz Boas, Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf sowie mit der in der Tradition des europäischen Strukturalismus stehenden Wortfeldtheorie. Die Begegnung mit einer Vielzahl ,exotischer‘ Sprachen hat das Bewusstsein dafür geschärft, dass Sprachen sich in ihren grammatischen Strukturen, aber auch im Hinblick auf ihren Wortschatz radikal von dem unterscheiden können, was wir von den europäischen Schulsprachen her gewöhnt sind. Im nordamerikanischen Hopi bezeichnet etwa nach Whorf ein einziges Wort (masa‘ytaka) sowohl Vögel, Insekten, Flugzeuge, Piloten, und im Nahuatl gibt es ein einziges Wort für das, was im Deutschen mit den Lexemen Kälte, Eis, Schnee vergleichsweise differenziert ausgedrückt wird (Beispiele hier nach Crystal 1995: 15). Das wohl berühmteste Beispiel für eine radikal andere Strukturierung lexikalischer Felder in außereuropäischen Sprachen sind die Wörter für ,Schnee‘ im Eskimo (Inuit), auf die Franz Boas (1911) zuerst aufmerksam gemacht hat: (11)

aput ,Schnee der bereits auf dem Boden liegt‘ qana ,Schnee, der gerade fällt‘ piqsirpoq ,Schneetreiben‘ qimuqsuq ,Schneeverwehung‘

Wortfeldvergleiche

Eskimo-Wörter für ,Schnee‘

(vgl. Martin 1986: 418) Benjamin Whorf hat diese relativ überschaubare Liste von Schnee-Wörtern um einige weitere ergänzt (ohne diese freilich ausreichend zu belegen), und aus der vagen Aussage, dass das Eskimo viele Wörter für Schnee besitze, hat sich, wie Martin (1986) im Einzelnen gezeigt hat, im Laufe der Zeit der unausrottbare Mythos entwickelt, das Eskimo verfüge über hundert oder gar Hunderte Wörter für Schnee. Die Wahrheit ist wesentlich schlichter: Es gibt im Eskimo im Grunde nur zwei Wurzeln für Schnee, und zwar aput für den fallenden Schnee und qana für den Schnee, der liegt. Die anderen beiden Wörter (piqsirpoq und qimusuq) sind Wortbildungen. Die Grammatik des Eskimo ist so beschaffen, dass die Anzahl der möglichen Wortbildungen nahezu unermesslich ist; das Eskimo verfügt also nur über zwei Wurzeln für ,Schnee‘, kann aber mit diesen beiden – wie mit jeder anderen Wurzel auch – beliebig viele neue Wörter bilden. Das berühmte Schnee-Beispiel sagt also eher etwas Interessantes über die Grammatik des Eskimo als über seine Lexik aus. „Wir gliedern die Natur an Linien auf, die uns durch unsere Muttersprachen vorgegeben sind.“ Dieses Zitat von Whorf (hier in der Übersetzung von Crystal 1995: 15) könnte auch Motto der europäischen Wortfeldforschung sein, die sich ebenfalls von der Annahme leiten ließ, die Wortfelder legten „Grenzen in den Begriffsblock hinein“ und teilten die Wirklichkeit dementsprechend auf (Trier 1931: 1; s. auch Kap. 6.3). Klassisches Beispiel

Farbwörter

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6. Der Wortschatz und seine Architektur

Abb. 21: Farbwörter im Deutschen und Walisischen (vgl. Werlen 1989: 101)

Implikationshierarchien

für die These, dass Wortfelder unterschiedlicher Sprachen einen eigenen Zugang zur Wirklichkeit eröffnen und damit der ungegliederten Wirklichkeit je unterschiedliche Strukturen aufprägen, sind die Farbwörter, s. Abb. 21. In einer Untersuchung des Farbvokabulars von 89 Sprachen der Welt sind Berlin/Kay (1969) allerdings zu dem Ergebnis gelangt, dass die These von der willkürlichen Einteilung des Farbspektrums durch die einzelsprachlichen Farbwörter nicht haltbar ist. Vielmehr gibt es durchaus Farben (die sog. ,basic colour categories‘ weiß, schwarz, rot, grün, gelb, blau, braun, lila, rosa, orange und grau), die sprachenübergreifend in übereinstimmender Weise durch eigene Wörter wiedergegeben werden, sofern solche Farbunterschiede benannt werden. Eine wichtige Erkenntnis, die sich aus den Untersuchungen von Berlin/Kay (1969) ergibt, ist dabei, dass die untersuchten Sprachen nicht zufällig aus der Menge der elf genannten Grundfarbwörter auswählen. Hier scheint es vielmehr eine übereinzelsprachlich geltende Regularität zu geben, die die Autoren als Implikationshierarchie fassen: „1. All languages contain terms for white and black. 2. If a language contains three terms, then it contains a term for red. 3. If a language contains four terms, then it contains a term for either green or yellow (but not both) (…)“ (Berlin/Kay 1969: 2) Die Implikationshierarchie für alle elf Grundfarben ist in Abb. 22 wiedergegeben. Sie ist von rechts nach links zu lesen: Sprachen, die Wörter für lila, rosa, rosa, orange haben, verfügen auch über Wörter für alle anderen weiter links in der Hierarchie stehenden Farben usw. Berlin/Kay haben diese Hierarchie in späteren Untersuchungen allerdings noch mehrfach modifiziert. So wurde z. B. für grün und blau eine einheitliche Kategorie „grue“ eingeführt, da viele Sprachen beide Farbbereiche mit einem gemeinsamen Wort abdecken (vgl. das in Abb. 21 erwähnte walisische gwrydd), und auch grau ist nach neueren Untersuchungen wesentlich weiter links (bei gelb) in der Hierarchie zu verorten (vgl. Werlen 1989: 176–179).

Abb. 22: Implikationshierarchie der Grundfarben nach Berlin/Kay (1969)

6.7 Wörter im Kopf: Die Architektur des mentalen Lexikons

Mit der Postulierung von Universalien in Form von Implikationshierarchien haben Berlin/Kay ein Prinzip genutzt, dass vor allem in der grammatischen Universalienforschung Anwendung findet. So hat Greenberg (1966), ein Pionier der Universalienforschung, eine Reihe solcher Implikationen für die Grammatik postuliert (z. B.: ,Wenn eine Sprache über ein Tempus Futur verfügt, dann hat sie auch ein Präteritum, nicht umgekehrt‘; ,Wenn eine Sprache einen Dual hat, hat sie auch einen Plural, nicht umgekehrt‘). Das Prinzip der Implikationsuniversalien kann auch über die Farbwörter hinaus gewinnbringend auf den Wortschatz angewandt werden: (12)

(13)

„distinction of sex in the second descending generation implies the same distinction in the second ascending generation, but not vice versa“ (Greenberg 1966: 107) „in general, if a language has at least two cooking words that contrast, one will be used for boiling“ (Lehrer 1974: 165)

Mit lexikalischen Implikationsuniversalien in dieser Art ist die traditionelle Annahme der Wortfeldtheorie und des linguistischen Relativismus, dass einzelsprachliche Wortfelder die Welt auf arbiträre Weise einteilen, widerlegt oder doch stark modifiziert – es herrscht nicht unendliche Vielfalt und Beliebigkeit, sondern „restringierte Variation“ (Werlen 1989: 173).

6.7 Wörter im Kopf: Die Architektur des mentalen Lexikons 6.7.1 Methoden Bei den bisher referierten Hypothesen zur lexikalischen Semantik und zu lexikalischen Strukturen handelt es sich um Einsichten, die auf der sprachwissenschaftlichen Beschreibung von geschriebener und gesprochener Sprache beruhen. Bislang ging es nur um möglichst beschreibungsadäquate und widerspruchsfreie Modellannahmen über den Wortschatz. Aussagen darüber, wie sich diese Modelle zur kognitiven Realität verhalten, wie Wörter „in unserem Kopf“ verarbeitet, gespeichert und produziert werden, haben wir damit noch nicht getroffen. Für die Lexikologie sind solche Einblicke allerdings von großem Interesse, da sprachwissenschaftliche Modelle wie Wortfelder, Wortfamilien oder Sinnrelationen sich auf diese Weise bestätigen, widerlegen und möglicherweise auch weiterentwickeln lassen. Wenn wir uns bisher also mit dem Wortschatz als Gegenstand der Linguistik befasst haben, so geht es in diesem Kapitel um das sog. ,mentale Lexikon‘, den Wortschatz aus der Sicht der Psycholinguistik und der Kognitionswissenschaften. (Die Psycholinguistik untersucht die Produktion und Rezeption von Sprache sowie den Spracherwerb; die Kognitionswissenschaften umfassen alle Wissenschaftszweige, die sich mit der Funktionsweise des Gehirns beschäftigen, also auch die Neurobiologie und die Computerlinguistik, vgl. Rickheit/Weiss/Eikmeyer 2010: 289–294). Während sprachliches Untersuchungsmaterial uns nahezu unbegrenzt zur Verfügung steht, ist die Sammlung und Auswertung von Daten, die Auf-

psycholinguistische Methoden

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6. Der Wortschatz und seine Architektur

schlüsse über Strukturen und Prozesse im Gehirn zulassen, ungleich schwieriger. Da wir den Sprechern nun einmal nicht in den Kopf schauen können, sind wir auf indirekte Methoden angewiesen. Die Kognitionswissenschaften haben hier bereits seit dem 19. Jahrhundert eine Reihe von brauchbaren Testverfahren entwickelt, die tatsächlich Einblicke in die Strukturen des mentalen Lexikons zu geben vermögen. An erster Stelle sind hier psycholinguistische Methoden zu nennen. Zu diesen zählen etwa: – Die Analyse von Versprechern: Versprecher können bei ähnlich lautenden Wörtern (z. B. Milliliter statt Millimeter, Klarinette statt Kastagnette), aber auch bei inhaltlich verwandten Wörtern vorkommen (Gib mir doch mal das Salz, äh, ich meine den Pfeffer); vgl. auch die Beispielsammlung in Leuninger (1993, 1998). – Assoziationsexperimente: Probanden werden mit einem sog. ,Reizwort‘ konfrontiert (z. B. Mutter oder alt) und aufgefordert, möglichst rasch ein Wort, das ihnen einfällt, ein sog. ,Reaktions‘- oder ,Zielwort‘, zu produzieren (in diesem Fall wird so gut wie immer Vater bzw. jung genannt). Bei Assoziationstests wird ermittelt, welches Wort an erster, zweiter, dritter Stelle usw. genannt wird; auch die Zeit, die benötigt wird, um ein Reaktionswort zu nennen, kann aufschlussreich sein. – Laborexperimente wie z. B. die lexikalische Entscheidungsaufgabe: Hier sollen Versuchspersonen so schnell wie möglich entscheiden, ob es sich bei einer am Computerbildschirm dargebotenen Buchstabenfolge um ein echtes Wort oder ein ,Unsinnswort‘ handelt (Krankenschwester vs. *Knakenschwester). Je enger die semantische Verbindung zwischen dem aktuell dargebotenen Wort (dem Zielwort, engl. Target) und dem vorher gelesenen Wort (,Reizwort‘, engl. Prime) ist, desto schneller sollte die Versuchsperson die Entscheidung treffen können. Geht z. B. dem Wort Krankenschwester das Wort Arzt voraus, benötigt die Versuchsperson eine deutlich kürzere Reaktionszeit, um Krankenschwester als echtes Wort zu identifizieren, als wenn direkt zuvor z. B. Hund gelesen wird. Man spricht hier von einem ,semantischen Primingeffekt‘ (engl. prime ,vorbereiten‘), einer Voraktivierung der Wissensdomänen, welche die Worterkennung beschleunigt. patholinguistische Befunde

Wichtige Aufschlüsse über das mentale Lexikon ergeben sich aber auch aus patholinguistischen Befunden. Zentral ist hier die Untersuchung von Aphasien, d. h. von Störungen der Sprachproduktion oder des Sprachverstehens, die auf die Schädigung bestimmter Hirnregionen durch einen Schlaganfall, einen Tumor oder eine Verletzung zurückgehen. Die bekanntesten Formen sind die Broca-Aphasie und die Wernicke-Aphasie: – Broca-Patienten haben ein weitgehend intaktes Sprachverständnis, können aber nur sehr langsam und stockend sprechen. Es liegt also eine Störung der Sprachproduktion vor. Das geschädigte Hirnareal, das BrocaZentrum, befindet sich im unteren Stirnlappen der linken Gehirnhälfte, also ungefähr oberhalb des linken Ohres. – Patienten, die an einer Wernicke-Aphasie leiden, reden zwar fließend, produzieren aber häufig unverständliche Sequenzen und machen Fehler bei der Auswahl von Wörten und Lauten. Auch sprachliche Anweisungen

6.7 Wörter im Kopf: Die Architektur des mentalen Lexikons

können nur bedingt umgesetzt werden. In diesem Fall ist von einer Störung des Sprachverstehens auszugehen. Die verantwortliche Hirnregion wird im hinteren Bereich der linken Gehirnhälfte, genauer gesagt im oberen Schläfenlappen, lokalisiert. Der Fortschritt der Medizintechnik hat bewirkt, dass die Einsichten über das mentale Lexikon nicht mehr nur mittels psycho- und patholinguistischer Methoden gewonnen werden können, sondern dass heute sogar mehr oder weniger direkte Einblicke in die Tätigkeit des Gehirns möglich sind. Solche Erkenntnisse liefert z. B. die Elektroenzephalographie (EEG). Bei diesem Verfahren wird die elektrische Gehirnaktivität bei der Erledigung bestimmer Aufgaben, z. B. der Worterkennung oder Satzverarbeitung, gemessen. Dies geschieht über Elektroden, die an ausgewählten Positionen auf der Kopfoberfläche angebracht werden. Die Elektroenzephalographie erlaubt vor allem Aussagen zur zeitlichen Abfolge unterschiedlicher Gehirnaktivitäten, Aussagen zur Lokalisation sind hingegen vergleichsweise unpräzise. Eine genauere Bestimmung der Hinregionen, die bei kognitiven Aufgaben aktiviert werden, ist vor allem durch die Positronenemissionstomographie (PET) und die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) möglich. Bei der PET wird die Stoffwechseltätigkeit von Neuronen während der Hirnaktivität gemessen. Die PET-Technik erfordert allerdings die Injektion eines radioaktiven Kontrastmittels, weshalb ihre Anwendungsmöglichkeit begrenzt ist. Seit ca. 20 Jahren wird vor allem auf die fMRT zurückgegriffen. Diese misst die Veränderungen des Blutflusses bei neuronaler Aktivität bzw. die damit einhergehenden Schwankungen des magnetischen Feldes. Die fMRT hat zwar den Nachteil, dass die Durchblutung erst mit einigen Sekunden Verspätung gegenüber der tatsächlichen Erledigung der Aufgabe gemessen werden kann; dafür ermöglicht sie aber eine millimetergenaue Lokalisierung der jeweiligen Gehirnaktivität. Dies ist für neuere Modellierungen des mentalen Lexikons von besonderer Bedeutung (s. u. Abschnitt 6.7.4).

neurobiologische Verfahren

6.7.2 Wortformen und Konzepte im mentalen Lexikon Unser Wissen über Wörter und die Regeln ihres Gebrauchs ist im Langzeitgedächtnis gespeichert, und zwar im sog. semantischen Gedächtnis, das neben dem mentalen Lexikon sämtliches verallgemeinerbare Wissen über die Welt enthält, darunter z. B. auch das Bildgedächtnis. Vom semantischen Gedächtnis ist einerseits das episodische Gedächtnis, in dem unsere persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse gepeichert sind, und andererseits das prozedurale Gedächtnis abzugrenzen, in dem unser Handlungswissen (z. B. über Klavierspielen oder Autofahren) enthalten ist. Im mentalen Lexikon gibt es jeweils ein eigenes Speichersystem für die Wortformen und die Wortbedeutungen. Da wir gewohnt sind, Wörter als Einheiten zu betrachten, die aus einer fest zusammengehörigen Form- und Inhaltsseite bestehen, mag dies zunächst etwas überraschend erscheinen. Dass aber wohl tatsächlich zwei prinzipiell eigenständige Speichersysteme zu unterscheiden sind, ergibt sich schon aus einer sehr alltäglichen Erfahrung: Wir alle kennen das Phänomen, dass uns ein Wort ,auf der Zunge

das Gedächtnis

Formenspeicher und Konzeptspeicher, ,Tip-of-the-Tongue‘Phänomen

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6. Der Wortschatz und seine Architektur

Abb. 23: Das mentale Lexikon als Teil des Langzeitgedächtnisses (vgl. auch Schwarz 2008: 99–108)

liegt‘, dass wir einen Inhalt, den wir ohne Schwierigkeiten umschreiben können, kurzfristig nicht zu benennen vermögen. Nach einer Weile fällt uns die gesuchte Form dann oftmals wieder ein. Wortfindungsstörungen dieser Art – in der Literatur auch als ,Tip-of-the-Tongue‘-Phänomen bezeichnet – weisen darauf hin, dass Formen und Konzepte in unterschiedlichen Speichersystemen repräsentiert sind. Zwischen diesen Systemen besteht zwar eine enge Verbindung, da wir ja meistens völlig problemlos Konzepte und Formen aufeinander beziehen können, allerdings kann diese Verbindung auch bei gesunden Individuen gelegentlich gestört sein.

6.7.3 Die Organisation des Formenspeichers ,Badewanneneffekt‘

Wenn von zwei unterschiedlichen Speichersystemen auszugehen ist, stellt sich die Frage, wie diese jeweils organisiert sind. Über die Organisation des Formenspeichers gibt wiederum das ,Tip-of-the-Tongue‘-Phänomen Aufschluss. Das ,auf der Zunge liegende‘ Wort (üblicherweise handelt es sich um ein längeres, komplizierteres Wort) ist uns ja meist nicht gänzlich entfallen, sondern erscheint lediglich in seinen Umrissen im Bewusstsein. Diese Umrisse enthalten meist den Anfang und das Ende des Wortes, während uns vor allem die Mitte des Wortes Schwierigkeiten bereitet. Man spricht daher auch von einem ,Badewanneneffekt‘ (Aitchison 1997: 175): Kopf und Füße gucken heraus, alles andere bleibt verborgen. Der Badewanneneffekt lässt sich auch bei Versprechern beobachten. Wenn ähnlich lautende Wörter, die man eigentlich kennt, verwechselt werden (Dezimeter und Dekameter, Kastagnette statt Klarinette usw.), stimmen Anlaut und Auslaut in den meisten Fällen überein. Auch die Anzahl der Silben und das Akzentmuster bleiben bei den allermeisten Versprechern dieser Art konstant. Es muss also davon ausgegangen werden, dass der Wortformenspeicher mehrdimensional nach An- und Auslaut, Silbenzahl und Wortakzent organisiert ist (Aitchison 1997: 182). Die Relevanz der Wortgrenzen für das Formengedächtnis zeigt sich auch bei der Speicherung der Schriftbilder von Wörtern. So ist der folgende Fehlertext, in dem der erste und letzte Buchstabe erhalten und der Rest beliebig umgestellt ist, relativ leicht lesbar. „Es ist eagl, in wlehcer Rienhnelfoge die Bcuhtsbaen in eniem Wrot sethen, das enizg Wcihitge dbaei ist, dsas der estre und lzete Bcuhtsbae am rcihgiten Paltz snid. Der Rset knan ttolaer Bölsdinn sien, und man knan es

6.7 Wörter im Kopf: Die Architektur des mentalen Lexikons

torztedm onhe Porbelme lseen. Das ghet dseahlb, wiel das mneschilche Geihrn nciht jdeen Bchustbaen liset, sodnern das Wrot als Gnaezs.“ (Der Text kursiert in einigen Varianten seit ca. 2003 ohne genaue Quellenangabe im Internet, zuerst wohl Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. 9. 2003, Nr. 222, S. 9) Eine Umstellung, die auch vor An- und Auslaut nicht Halt macht, ergibt dagegen ,Kauderwelsch‘:

„ Es ist glae, in lwehre Eirhefnlfego die Cuhtsbaenb in menien rwto ethsen, das nizge Cihitgew aeidb ist, (…)“ Abb. 24: Der Badewanneneffekt (Aitchison 1997: 175)

6.7.4 Die Organisation des Konzeptspeichers a) Netzwerkmodelle Dass der Konzeptspeicher eine gewisse Ordnung aufweist, dass Konzepte nicht einzeln, sondern in Verbünden repräsentiert sind, haben schon die erwähnten semantischen Primingeffekte gezeigt. Die hier zu Tage tretenden wortfeldähnlichen Strukturen zeigen sich auch bei Sprachstörungen. So gibt es Aphasiepatienten, die die Fähigkeit verloren haben, einzelne Wortfelder (z. B. Haustiere), korrekt abzurufen; andere Felder (z. B. Küchengeräte) sind dagegen noch intakt. Wortfeldartige Strukturen spielen überwiegend für Gegenstandskonzepte eine Rolle. Eigenschaftskonzepte sind dagegen häufig durch Oppositionspaare wie alt – jung, gut – böse miteinander verbunden. Das mentale Lexikon wird traditionellerweise als Netzwerk modelliert. Ein Netzwerk besteht aus Knoten und Kanten. Die Knoten stellen hierbei die einzelnen Konzepte dar, die Kanten die Verbindungen, die zwischen ihnen bestehen. Das klassische Netzwerkmodell von Collins/Quillian (1969) ist hierarchisch nach Ober- und Unterbegriffen organisiert.

hierarchisches Netzwerk

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6. Der Wortschatz und seine Architektur

Abb. 25: Netzwerkmodell von Collins/Quillian (1969), hier nach Wessells (1990: 252)

kognitive Ökonomie

Es werden zwei Arten von Kanten angesetzt: Vertikale Über- bzw. Unterordnungsbeziehungen („ist-ein“-Relationen) und horizontal angelegte Eigenschaftsbeziehungen („hat“-Relationen). Ein Konzept ,Vogel‘ ist damit durch die vertikale Relation ,ist ein Tier‘ und die horizontalen Eigenschaftsrelationen ,hat Flügel, hat Federn, kann fliegen‘ charakterisiert (bei Letzteren, die in Abb. 25 als Pfeilenden dargestellt sind, handelt es sich dann ebenfalls um Knoten). Das Netzwerkmodell von Collins/Quillian (1969) garantiert insofern ein Höchstmaß an kognitiver Ökonomie, als jede Eigenschaftsrelation nur einmal repräsentiert ist, und zwar auf der jeweils höchsten Ebene in der Hierarchie. So ist das Merkmal ,atmet‘ beim Oberbegriff ,Tier‘ abgespeichert, und nicht zusätzlich bei ,Vogel‘ oder ,Strauß‘. Das Modell macht daher die korrekte Vorhersage, dass eine Verifikation der Aussage „ein Kanarienvogel atmet“ eine längere Verarbeitungszeit erfordert als z. B. die Verifikation der Aussage „ein Kanarienvogel hat Federn“, da im ersten Fall, bildlich gesprochen, ein längerer Weg im Netzwerk zurückgelegt werden muss. Ein Nachteil des Modells von Collins/Quillian (1969) besteht allerdings darin, dass es sehr stark auf substantivisch ausgedrückte Konzepte fokussiert ist. Ein Netzwerkmodell sollte aber auch Eigenschafts- und Ereigniskonzepte, die typischerweise durch Adjektive und Verben ausgedrückt sind, angemessen berücksichtigen. Denn schließlich bestehen zwischen Adjektiven wie alt und jung oder Verben wie essen und fressen ebenfalls Beziehungen, die durch Kanten beschrieben werden müssen (und nicht bloß durch ,hat‘Relationen, die allein auf das Substantiv zu beziehen sind). Damit ist ein weiterer Nachteil verbunden: Für Verben und Adjektive sind Über- und Unterordnungsbeziehungen oftmals gar nicht so einfach zu formulieren wie für Substantive: Wie lautet der Oberbegriff zu streiten oder schnell? Diese Schwierigkeit gilt im Übrigen selbst für manche Substantive: Mindestens ebenso schwer ist es, einen gemeinsamen Oberbegriff für Waschbecken und Badewanne oder für Nussknacker und Dosenöffner zu finden (vgl. Aitchison 1997: 118). In dem Netzwerkmodell von Collins/Loftus (1975) wird

6.7 Wörter im Kopf: Die Architektur des mentalen Lexikons

Abb. 26: Assoziatives Netzwerkmodell von Collins/Loftus (1975: 412)

das hierarchische Modell von Collins/Quillian (1969) daher einer grundlegenden Revision unterzogen. Das Netzwerk enthält nun neben Gegenstandskonzepten auch Eigenschafts- und Ereigniskonzepte als eigenständige Knoten, die ebenfalls Verbindungen zu anderen Knoten aufweisen. Auf einen hierarchischen Aufbau wird grundsätzlich verzichtet. Das strukturierende Prinzip, das die einzelnen konzeptuellen Knoten zu einem Netzwerk verknüpft, ist die semantische Ähnlichkeit: Konzepte sind einander umso ähnlicher, je mehr Verbindungswege zwischen ihnen bestehen. (In Abb. 26 ist dies durch die unterschiedliche Länge der Linien ausgedrückt.) Als die wohl wichtigste Neuerung des Netzwerks von Collins/Loftus (1975) gegenüber seinem Vorgängermodell ist jedoch die mit diesem Netzwerk verbundene Theorie der Aktivationsausbreitung zu sehen: Wird ein Konzept aufgerufen, breitet sich dessen Aktivierung auf die benachbarten Konzeptknoten im Netzwerk aus. Semantisch eng verwandte Konzepte werden dabei stärker aktiviert als entferntere Konzepte. Dies bietet im Übrigen

assoziatives Netzwerk

Aktivationsausbreitung

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6. Der Wortschatz und seine Architektur

eine sehr plausible Erklärung des Primingeffekts: Hund und Katze sind im Netzwerk stärker miteinander verbunden als z. B. Hund und Stechmücke. Daher löst der Reiz Hund die Aktivierung des benachbarten Knotens Katze aus, während das entferntere Stechmücke nicht oder nur sehr schwach aktiviert wird.

b) Ein neurobiologisches Modell Wörter als Zellverbände

sprachliche und nicht-sprachliche Information

Bei den semantischen Netzen von Collins/Quillian (1969) und Collins/Loftus (1975) handelt es sich um empirisch überprüfbare Computermodelle, die die Relationen ,im Kopf‘ auf relativ abstrakte Weise nachbilden. Jüngere Theorien wie etwa die von Pulvermüller (1999, 2005) nähern sich dem mentalen Lexikon stärker von Seiten der Neurobiologie. Sie profitieren dabei wesentlich von der Anwendung bildgebender Verfahren wie der fMRT, die eine sehr genaue und differenzierte Lokalisierung von Hirnaktivitäten erlauben. In dem Modell von Pulvermüller werden nicht nur die Verbindungen zwischen Wörtern, sondern auch Wörter selbst als Netzwerke betrachtet, und zwar als Zellnetze, die durch Synapsen miteinander verschaltet sind (Zellverbände, cell assemblies). Diese Netze werden durch Korrelationslernen aufgebaut: Im Zuge des Erstspracherwerbs lernt ein Kind ein Wort wie Ball durch das immer wieder gleichzeitige Vorkommen des Gegenstandes ,Ball‘, der Wortform Ball und bestimmter Handlungen, die mit diesem Gegenstand ausgeführt werden. Die Wortnetze können im Gehirn stark verteilt sein, sogar über die linke Hirnhälfte, die wesentlich für Sprache zuständig ist, hinaus. Lexikalischsemantische Information ist dabei nicht nur mit sprachspezifischen Regionen verbunden. So werden bei der Verarbeitung eines Farbwortes wie gelb oder rot auch die Hirnareale aktiviert, die für die Verarbeitung von Farbreizen verantwortlich sind, und ein Bewegungsverb spricht unmittelbar die Regionen an, die für die Steuerung von Bewegungsabläufen zuständig sind (Pulvermüller/Fadiga 2010). Die Neuronenverbände, die bei der Verarbeitung von Funktionswörtern (in, auf, weil), aber auch bei der Verarbeitung von Inhaltswörtern mit einer eher abstrakten Bedeutung (Freiheit, Gemüt) aktiviert werden, zeigen dagegen eine deutlich eingeschränktere Verbreitung. Grundsätzlich stellt das mentale Lexikon in diesem Modell jedenfalls keine in sich abgeschlossene Einheit dar, sondern es interagiert auf vielfältige Weise mit anderen kognitiven Fähigkeiten des Menschen.

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Lektürehinweise

Zu dem zuletzt behandelten Thema ist das schon mehrfach zitierte Buch von Aitchison (1997) zu empfehlen. Einen sehr fundierten aktuellen Überblick über die kognitiven Aspekte der Sprache bieten Rickheit/Weiss/Eikmeyer (2010). Zur Darstellung von Wortfeldern kann man ergänzend zu unseren Ausführungen Lutzeier (1995) sowie den Handbuchartikel von Gloning (2002)

6.7 Wörter im Kopf: Die Architektur des mentalen Lexikons

heranziehen. Die Untersuchung von Schlaefer (1987) gibt einen ausführlichen Überblick über Ausprägungen und Probleme der Wortfeldtheorie. Eine erste Orientierung über die Varietäten des Deutschen kann man sich bei Girnth (2007) verschaffen. Deutsch als plurizentrische Sprache wird von Schneider-Wiejowski/Schulz (in Vorbereitung) behandelt. Wer tiefer in die Dialektologie einsteigen möchte, sei auf König (2001) sowie Niebaum/ Macha (2014) verwiesen. Zur lexikalischen Typologie sei auf Soffritti/Dirven (2003) sowie Koptjevskaja-Tamm (2008) verwiesen.

- Übungsaufgaben 1. Erläutern Sie den Unterschied zwischen Archisemem und Archilexem. 2. Ordnen Sie die unten genannten Ausdrücke jeweils einer der fünf in 6.5.3. eingeführten Stilschichten (gehoben, neutral, umgangssprachlich, salopp, vulgär) zu. Machen Sie die Kriterien deutlich, die Sie dabei anwenden, und thematisieren Sie auftretende Zuordnungsprobleme. Setzten Sie sich auch mit der Frage auseinander, ob die fünf angesetzten Register ausreichen: entschweben, abdampfen, sich verpissen, weggehen, gehen, sich trollen, Leine ziehen, abziehen, seiner Wege gehen, sich vom Acker machen, fortgehen 3. Gehört Ihrer Einschätzung nach Blende zur Wortfamilie blind? Und tränken zur Wortfamilie trinken? Begründen Sie die Entscheidung. 4. Stellen Sie das Wortfeld ,Getränk‘ als lexikalische Hierarchie dar. Zu dem Feld gehören die Wörter Kaffee, Limonade, Tee, Rotwein, Saft, Wein, Bier, Likör, Weizen, Kölsch, Weißwein, Schnaps (und weitere, wenn Sie möchten). Gibt es lexikalische Lücken in dem Feld? 5. Verschaffen Sie sich einen Überblick über die Dialektwörterbücher, die im „Wörterbuchnetz“ (www.woerterbuchnetz.de) angeboten werden. Suchen Sie nach einem Wort ihrer Wahl, z. B. Bezeichnungen für ,Brötchen‘, und stellen Sie die Befunde zusammen. Thematisieren Sie auch ggf. auftretende Schwierigkeiten. 6. Vergleichen Sie die DWA-Karte Fleischer in König (2001: 196) mit der entsprechenden Karte aus dem Wortatlas der deutschen Umgangssprachen (Eichhoff 1977–2000, Bd. 1, Karte 19). Gibt Unterschiede in den Kartenbildern? Wie würden Sie die Übereinstimmungen bzw. Unterschiede beurteilen? 7. Notieren Sie Versprecher, die Ihnen bei anderen oder sich selbst z. B. im Zeitraum von zwei Wochen auffallen. Versuchen Sie die Versprecher zu ordnen. Dabei können Sie auch die Kriterien von Leuninger (1993: 82–92, 133) zur Hilfe nehmen. 8. Führen Sie ein Experiment in Ihrem Seminar durch: Bitten Sie Ihre Kommilitonen, zu einem Wort so schnell wie möglich drei Assoziationen zu notieren (z. B. zu jung, Mutter, Baum, Buch, Computer, laufen). Als Hintergrundinformation zu Assoziationstests können Sie Spitzer (1996: 233 ff., 264 ff.) heranziehen.

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7. Lexikalischer Wandel 7.1 Neologismen und Archaismen Sprachwandel

Indizien für lexikalischen Wandel

Neulexeme und Neubedeutungen

„Daß die Sprache in einem beständigen Wandel begriffen ist, ist etwas von ihrem Wesen Unzertrennliches“, schrieb Hermann Paul (1910: 369, zitiert nach Keller 1994: 21). Man kann die Wandelbarkeit von Sprache daher zu Recht auch als eine absolute Universalie bezeichnen. Gleichwohl ist Sprachwandel etwas, was sich dem Bewusstsein der Sprecherinnen und Sprecher nahezu vollständig entzieht. Nur wenn wir auf die Sprache vergangener Generationen blicken – und welcher normale Sprachteilhaber tut dies schon – bemerken wir Veränderungen, und je weiter wir zurückgehen, desto fremder und unverständlicher werden die Vorstufen des heutigen Sprachgebrauchs. Die wenigsten Veränderungen zeigt dabei die Grammatik, da Entwicklungen in diesem Bereich in der Regel nur langsam vonstatten gehen. Grammatischer Wandel hat zudem die Eigenheit, dass die Veränderungen einer grammatischen Struktur oder Regel zuerst oft als Fehler wahrgenommen werden – aber die Fehler von heute sind nicht selten die Regeln von morgen. Lexikalischer Wandel verhält sich anders: Er verläuft schneller als grammatischer Wandel, und daher begegnen uns im Laufe unserer Sprachbiographie relativ viele neue Wörter und Wortverwendungen, und gleichzeitig gibt es auch Wörter und Wortgebräuche, die wir nicht mehr als aktuell empfinden oder die nur noch in unserem passiven Wortschatz enthalten sind (Fernsprecher, knorke, Odem). Neu aufkommende und allmählich veraltende Wörter – Neologismen und Archaismen – sind somit Indizien dafür, dass unser Wortschatz sich wandelt, sie sind Momentaufnahmen aus einer meist über einen längeren Zeitraum verlaufenden lexikalischen Entwicklung. Mit der Feststellung, dass es sich bei Neologismen um neue Wörter, bei Archaismen um alte Wörter handelt, ist allerdings noch nicht viel gewonnen. Beide Begriffe bedürfen einer Präzisierung. Bei den Neologismen kann man zwei Arten unterscheiden (vgl. Herberg/Kinne/Steffens 2004: XII; Ludwig 2009: 1576): – Neulexeme, d. h. neue Wortbildungen (Elchtest) oder neue Lehnwörter (Bashing, sich outen, proaktiv) und – Neubedeutungen, d. h. neue Lesarten zu einem bereits bestehenden Lexem, wie (gut/schlecht) aufgestellt sein ,strategisch (gut/schlecht) positioniert sein‘ zu der angestammten Lesart ,Aufstellung nehmen, (sich) postieren‘.

7.1 Neologismen und Archaismen

Für die Neologismen ist wichtig, sie von den Okkasionalismen, den sprachlichen ,Eintagsfliegen‘, abzugrenzen. Bei diesen handelt es sich um situationsgebundene Gelegenheitsschöpfungen, die keine Verbreitung finden und keine Tradition bilden. Okkasionalismen stellen also lediglich die Variabilität des Wortschatzes unter Beweis und sind noch kein sprachhistorisches Phänomen. Neologismen sind dagegen in einer Sprachgemeinschaft schon als usuelle Wörter bzw. Wortgebräuche akzeptiert und gleichzeitig noch als ,neu‘ markiert. Im Einzelfall ist es allerdings schwer, einen Neologismus von einem Okkasionalismus auf der einen und einem unmarkierten Wortgebrauch auf der anderen Seite abzugrenzen. Dies lässt sich am Beispiel des Wortes Kollateralschaden veranschaulichen, das während des Kosovo-Krieges 1999 aufkam (vgl. Ludwig 2009: 1576). Es handelt sich um eine Lehnübersetzung (s. u. Abschnitt 7.4) von engl. collateral damages (Plural), eines Terminus technicus des Militärs. Das Wort bedeutet „bei einer militärischen Aktion entstehender Schaden, der nicht beabsichtigt ist u. nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ziel der Aktion steht, aber dennoch in Kauf genommen wird“ (DUW 923). In den Medien wurde dieser Begriff als zynischer Euphemismus für ,zivile Opfer, die man bei einer kriegerischen Aktion in Kauf nimmt‘ gebrandmarkt, vgl. dazu den zeitgenössischen Beleg (1). (1) Seit zwei Monaten zerfetzen Nato-Bomben auch Frauen und Kinder in Jugoslawien, die mit Kosovo (sic) absolut nichts zu tun haben. In der Nato-Sprache heißt das ,Kollateralschäden‘, die irrtümlich entstehen“ (Frankfurter Rundschau, 28. 5. 1999; zitiert nach Ludwig 2009: 1576). In den Medien des Jahres 1999 war das Wort sehr präsent. (Sein Neuheitswert zeigt sich in vielen frühen Belegen daran, dass es in Anführungszeichen gesetzt wird.) Das Wort, das es auch zum ,Unwort des Jahres 1999‘ gebracht hatte, geriet mit dem Ende des Kosovo-Krieges nicht außer Gebrauch, sondern war bereits in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen, übrigens nicht nur im Deutschen, sondern auch im Englischen und Französischen, hier als dommages collateraux (im Plural). Dazu hat sicher beigetragen, dass es sehr früh schon übertragen verwendet wurde: (2) Sollten die Delegierten (Partei Bündnis90/Die Grünen, V. H.) in Bielefeld Anträgen zustimmen, die das (…) Ende der Nato-Bombardierung verlangen, bliebe dem grünen Aussenminister Joschka Fischer wohl nichts anderes übrig, als die Regierung Schröder zu verlassen. Das wäre das vorzeitige Ende von Rot-Grün und der grösste Kollateralschaden, den die Bomben in Deutschland angerichtet hätten (Zürcher Tagesanzeiger, 12. 5. 1999, S. 5, COSMAS II, Zugriff 7. 4. 2014). (3) Verweigerten sich die Parteien aber dieser gemeinsamen Aufgabe, dann, so warnt der Migrations-Experte, „könnte es zu einer Neuauflage der Kampagnen-Demagogie bei der Asyl-Debatte der frühen 90er Jahre kommen“. Der Weg zum Konsens sei nicht gerade kürzer geworden durch die „rhetorischen Kollateralschäden der ,Leitkultur‘ (…)“, befürchtet er (Nürnberger Nachrichten, 10. 11. 2000, S. 4; COSMAS II, Zugriff 7. 4. 2014).

Neologismen und Okkasionalismen

Beispiel Kollateralschaden

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7. Lexikalischer Wandel

Auf diese Weise konnte sich das Wort zu einem allgemeinen Ausdruck für einen ,unbeabsichigt herbeigeführten Schaden‘ entwickeln, vgl. (4). (4) Als Kollateralschaden ist allerdings nicht nur die Glaubwürdigkeit von Grass beschädigt worden, sondern auch die des Journalismus (Berliner Zeitung, 22.8. 2006, S. 26; zitiert nach Ludwig 2009: 1576). Hinsichtlich seiner sprachhistorischen Einordnung stellt sich hier die Frage, ob das Wort bereits 1999, als es in den Medien immerhin schon omnipräsent war, als Neologismus zu gelten hatte oder ob es sich erst zu einem späteren Zeitpunkt, als sich sein Gebrauch bereits vom ursprünglichen Kontext gelöst hatte, vom Okkasionalismus zum Neologismus entwickelt hat. Beinahe noch schwieriger ist die Frage zu beantworten, ab wann das Wort seine Markierung als ,neu‘ verloren hat. Die Definition von Neologismus, die Herberg/Kinne/Steffens (2004: XII) geben, ist, wie die Autoren selbst einräumen, vage und nur bedingt geeignet, die angesprochenen Abgrenzungsprobleme zu lösen: Ein Neologismus ist „eine lexikalische Bedeutung oder Einheit, die in einem bestimmten Abschnitt der Sprachentwicklung in einer Kommunikationsgemeinschaft aufkommt, sich ausbreitet, als sprachliche Norm allgemein akzeptiert und in diesem Entwicklungsabschnitt von der Mehrheit der Sprachbenutzer über eine gewisse Zeit hin als neu empfunden wird“ (2004: XII).

Archaismen

Die Unklarheit dieser Definition ist darauf zurückzuführen, dass die Erklärungswörter ihrerseits Fragen aufwerfen: Was genau ist eine Kommunikationsgemeinschaft? Umfasst diese nur eine Varietät oder einen größeren Teil des Varietätenspektrums? Was gilt als Norm? Und vor allem: Wie objektiviert man das Empfinden der Sprachbenutzer? Wenn der Neologismus die Markierung ,neuwertig‘ trägt, so gilt für den Archaismus das genaue Gegenteil, nämlich die Markierung eines Wortes bzw. einer Wortbedeutung als eigentlich einem älteren Sprachstand zugehörig (vgl. Cherubim 2002: 74). Wichtig ist hier zunächst die Abgrenzung vom ausgestorbenen Wort bzw. der ausgestorbenen Bedeutung. Ein Beispiel für ein ausgestorbenes Wort ist das im 19. Jahrhundert erloschene Beiwesen ,Anwesenheit, Beiwerk‘, als ausgestorbene Wortbedeutung kann man die Lesart ,Nachricht‘ für Zeitung anführen, die heute zumindest keinem durchschnittlichen Sprecher mehr bekannt ist. Im Gegensatz zu den ausgestorbenen Wörtern bzw. Wortbedeutungen gehören Archaismen durchaus noch dem passiven Wortschatz und teilweise sogar dem aktiven Wortschatz an. Hier kann man verschiedene Typen differenzieren: – Reliktwörter oder lexikalische Konservatismen: Hierbei handelt es sich um veraltete, nur noch von älteren Sprachteilhabern genutzte Wörter für ein Denotat: Fernsprecher statt Telefon, Schlüpfer für Slip. – ,Hochton-Archaismen‘ (Cherubim 2002: 73): Lexeme, die einer gehobenen Stilschicht zuzuordnen sind, in der Alltagssprache aber nicht vorkommen, z.B. Aar ,Adler‘, Odem ,Atem‘, auch die Grußformeln Hochachtungsvoll, mit den besten Empfehlungen.

7.2 Bedeutungswandel

– Fachwörter: Wörter, die nur noch in einzelnen Varietäten eine Rolle spielen, etwa im Fachwortschatz; hierzu zählt etwa Mündel als juristischer Begriff für ,eine unter Vormundschaft stehende Person‘. – Nicht mehr motivierte Wörter in Idiomen: jemandem den Garaus machen, etwas auf dem Kerbholz haben, etwas in Bausch und Bogen verdammen (Garaus ist nach EWDS 332 ursprünglich ein ,Ausruf, der die Polizeistunde einleitete‘, Kerbholz ist der ,Holzstab, auf dem (Zech)Schulden eingeritzt wurden‘, EWDS 487, Bausch bedeutet ,Maßeinheit für eine ungezählte Menge‘, 2DWB 4, 350). – Historismen: Wörter für außer Gebrauch gekommene Denotate, etwa Landauer, Lorgnette, Kürassier, Landsknecht, Ablass.

7.2 Bedeutungswandel 7.2.1 Zur Begriffsbestimmung Der Inhalt von Wörtern kann sich auf sehr verschiedene Weise verändern. Man kann daher von Bedeutungswandel im weiteren und im engeren Sinne sprechen, je nachdem wie Bedeutung definiert ist. In einem weiteren Sinn ist Bedeutungswandel mit dem Wandel all dessen gleichzusetzen, worauf sich ein Wort als Sprachzeichen beziehen kann. Dies umfasst etwa die folgenden Veränderungen (vgl. Job 1987: 67–79):

Arten des Inhaltswandels

– Denotatswandel, d. h. eine Veränderung des außersprachlichen Gegenstands bzw. Sachverhalts, auf das sich ein Lexem bezieht: Uhr ,Sonnenuhr‘ > ,Räderuhr‘. – Konzeptueller Wandel, d. h. eine Veränderung in der Vorstellung, die mit einem Denotat verbunden ist: Erde ,Scheibe‘ > ,Kugel‘, Atom ,unteilbares kleinstes Teilchen‘ > ,teilbares kleinstes Teilchen‘. – Pragmatischer Wandel, d. h. Wandel der Gebrauchsbedingungen von Wörtern, etwa der Gebrauch der Pluralform Sie als Höflichkeitsform. Von dem denotativen, dem konzeptuellen und dem pragmatischen Wandel ist der Bedeutungswandel im engeren Sinne zu unterscheiden. Zur besseren Abgrenzung gegenüber den oben genannten Arten der Inhaltsveränderung bezeichnet man diesen zuweilen auch als ,semantischen Wandel‘. Unter semantischem Wandel wird eine Veränderung im polysemen Spektrum verstanden, und zwar sowohl das Aufkommen als auch der Verlust einer neuen Wortbedeutung (zu Polysemie s. Kap. 4.6). Man unterscheidet daher zwischen produktivem und reduktivem Bedeutungswandel. Bedeutungswandel verläuft typischerweise in mehreren Etappen, wie die stark idealisierte Darstellung in Abb. 27 deutlich werden lässt. Das entscheidende Stadium des produktiven Bedeutungswandels ist Phase II. Hier tritt neben die herkömmlicherweise mit einer Form (F) verbundene Bedeutung B1 eine neue Lesart B2. Damit entsteht in Phase II Polysemie – zumindest in diesem Modell, für das wir der Einfachheit halber ein monosemes Ausgangsstadium angenommen haben; vielfach steht aber bereits ein polysemes Lexem am Anfang. Die neue Bedeutung B2 ist in Phase II Nebenbe-

Etappen des Bedeutungswandels

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7. Lexikalischer Wandel

Abb. 27: Phasen des Bedeutungswandels (in Anlehnung an Job/Job 1997: 256)

deutung zu der angestammten Hauptbedeutung B1 (dies symbolisiert die gestrichelte Linie in der Abb. 27): B2 ist in der Regel seltener als B1 und wird zunächst als Neologismus empfunden; zudem ist B2 von B1 her semantisch motiviert (dazu unten). In vielen Fällen ist der semantische Wandel mit Erreichen des Stadiums II, d. h. mit der Herausbildung einer neuen Nebenbedeutung, bereits abgeschlossen. Die Phasen III–V stellen nur mögliche, keine notwendigen Weiterentwicklungen dar. Einer dieser optionalen Prozesse ist die Profilierung der vormaligen Nebenbedeutung B2 zu einer mit B1 gleichwertigen Bedeutung. B2 verliert dann seine Markierung als Neologismus, und es lassen sich auch keine signifikanten Häufigkeitsunterschiede zwischen beiden Lesarten feststellen. Die anschließenden Phasen IV und V sind für reduktiven Wandel anzusetzen: Eine der Bedeutungen – im Modell oben die angestammte Bedeutung B1 – entwickelt sich zu einem Archaismus, der in Phase V schließlich außer Gebrauch gerät. Das Schema in Abb. 27 veranschaulicht somit noch einmal, dass bei semantischem Wandel nicht eine alte Bedeutung unmittelbar in eine neue übergeht. Vielmehr sind hier zahlreiche kleinschrittige Entwicklungen vorauszusetzen, die in letzter Konsequenz dazu führen können, dass eine alte Bedeutung (Phase I) durch eine neue Bedeutung abgelöst wird (Phase V).

7.2.2 Semantische Motivation alte und neue Bedeutung

Für das Modell in Abb. 27 ist noch die zentrale Frage zu beantworten, wie das Verhältnis zwischen B1 und B2 beschaffen ist: Kann jede beliebige neue Bedeutung neben die angestammte Lesart treten oder sind die Möglichkeiten in irgendeiner Weise beschränkt? Hier ist eindeutig Letzteres der Fall. Dies lässt sich zunächst an einem Beispiel plausibel machen. Dass etwa das Adjektiv billig auch die Lesart ,minderwertig‘ entwickelt hat, wie in dem Beispiel (5), erscheint uns naheliegend, da wir eine semantische Motivation rekonstruieren können, die beide Bedeutungen miteinander verbindet – etwas Billiges ist häufig minderwertig (und etwas Teures hochwertig, sollte man meinen). (5) Das ist ein ziemlich billiger Fummel, den du da an hast, der Stoff ist schon beim ersten Tragen zerrissen.

restringierte Variation

Die in Phase II aufgebaute Polysemie zwischen ,preisgünstig‘ und ,minderwertig‘ ist also über eine metonymische Relation motiviert, vgl. auch

7.2 Bedeutungswandel

Abb. 28 (zum Bedeutungswandel von billig s. auch Harm 2012). Dass zwischen den Bedeutungen ,preisgünstig‘ einerseits und etwa ,moosig‘ oder ,hart gekocht‘ andererseits keine Motivationsbeziehung besteht, liegt auf der Hand. Die Motivationsbeziehungen sind also einerseits alles andere als willkürlich. Das heißt auf der anderen Seite aber nicht, dass genau vorhersagbar wäre, welche neuen Lesarten im Zuge eines semantischen Wandelprozesses mit einer usualisierten Wortbedeutung verbunden werden. Hier gibt es keine Gesetze oder absolut feststehenden Regeln, aber doch immerhin Tendenzen. Auch in diesem Bereich herrscht also ,restringierte Variation‘, um einen Begriff aus Kap. 6.6 aufzugreifen. Dies wird weiter unten noch auszuführen sein.

Abb. 28: Metonymische Motivation beim Bedeutungswandel von billig

Dass zwischen alter und neuer Bedeutung eine Motivationsbeziehung besteht, kommt nicht von ungefähr: Sprecherinnen und Sprecher wollen zwar innovativ und expressiv sein, indem sie ein Konzept mit Hilfe eines anderen Wortes ausdrücken. Das Streben nach Expressivität und Originalität, das vielen Bedeutungswandelprozessen zugrunde liegt, wird jedoch durch eine andere, ebenso wichtige Maxime eingeschränkt, nämlich durch das Bestreben, verständlich zu sein. Beide Bedürfnisse werden so miteinander vermittelt, dass im Idealfall eine maximal erfolgreiche Äußerung entsteht, die sowohl innovativ als auch verständlich ist.

7.2.3 Typen des Bedeutungswandels Nach der Beschaffenheit der Motivationsbeziehung, die zwischen Ausgangs- und Zielbedeutung besteht, lassen sich einzelne Typen des semantischen Wandels unterscheiden, die im Folgenden vorgestellt werden sollen. Zur Illustration dieser Typen werden neben Beispielen aus der Sprachgeschichte des Deutschen auch Wandelerscheinungen aus anderen Sprachen herangezogen. Dabei erweisen sich vor allem die romanischen Sprachen als eine ergiebige Quelle für anschauliche Beispiele. Dies hängt damit zusammen, dass die Vorstufe der romanischen Sprachen, das Lateinische, breit überliefert ist (wobei festzuhalten ist, dass das klassische Latein nur indirekt Vorläufer der romanischen Sprachen ist; diese sind vielmehr aus dem sog. ,Vulgärlateinischen‘, den Umgangssprachen Italiens und der römischen Provinzen, hervorgegangen). Die sprachliche Vielfalt der unten angegebenen Beispiele illustriert aber vor allem, dass diese Typologie des semantischen Wandels übereinzelsprachliche Geltung beanspruchen kann.

Expressivität und Verständlichkeit

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7. Lexikalischer Wandel

a) Metaphorischer Wandel Hier findet ein Wandel auf der Grundlage von Ähnlichkeit (Similarität) zwischen zwei Konzepten statt. So ist im Fall von Flügel ,Tasteninstrument mit waagerecht liegenden Saiten‘ eine Formanalogie zwischen der Vogelschwinge und dem Instrument konstruierbar, welche diese Übertragung motiviert. Weitere Beispiele für metaphorischen Wandel sind: vulgärlat. musculus ,Mäuschen‘ > frz. muscle ,Muskel‘; vugärlat. capere ,fassen‘ > ital. capire ,begreifen, verstehen‘; span. águila ,Adler‘ > ,schlauer Mensch‘; mhd. vezzelen ,festbinden‘ > nhd. fesseln ,einnehmen, faszinieren‘; mhd. hell ,laut‘ > nhd. hell ,hell‘; ahd. kopf ,Becher‘ > mhd. kopf ,Hirnschale‘.

b) Metonymischer Wandel Der Wandel ist durch eine Kontiguitätsbeziehung zwischen zwei Konzepten motiviert (Kontiguität: ,Berührung‘, Koexistenz in der Wirklichkeit; vgl. z. B. die Relationen Behälter-Inhalt, Teil-Ganzes, Ursache-Folge usw.). Beispiele: vulgärlat. manducare ,kauen‘ > frz. manger, ital. mangiare ,essen‘; vulgärlat. bucca ,Backe‘ > frz. bouche ,Mund‘; frz. allemand ,deutsch‘ > ,betrunken‘; span. tudesco ,deutsch‘ > ,verlässlich‘; mhd. berille ,Beryll‘ > nhd. Brille ,Sehhilfe‘; frnhd. überflüssig ,im Überfluss vorhanden‘ > nhd. überflüssig ,nutzlos‘.

c) Bedeutungsverengung (Bedeutungsspezialisierung) Ausgangspunkt des Wandels ist ein Oberbegriff, Endpunkt einer seiner Unterbegriffe. Beispiele: ahd. faran ,sich fortbewegen‘ > nhd. fahren ,sich mit Hilfe eines Fahrzeugs fortbewegen‘; lat. necare ,töten‘ > frz. noyer ,ertränken‘; altengl. steorfan ,sterben‘ > neuengl. starve ,verhungern‘; mittelengl. deer ,Tier‘ > neuengl. deer ,Hirsch, Reh‘; mittelengl. hound ,Hund‘ > neuengl. hound ,Jagdhund‘; mhd. hôchgezîte ,hohes kirchliches oder weltliches Fest‘ > nhd. Hochzeit ,Fest zur Vermählung‘; mhd. vaz ,Gefäß‘ > nhd. Fass ,großes Gefäß zur Lagerung von Wein, Bier‘.

d) Bedeutungserweiterung (Bedeutungsgeneralisierung) Ausgangspunkt ist ein Unterbegriff, Endpunkt sein Oberbegriff. Beispiele: ahd. thing/ding ,Rechtssache‘ > mhd. dinc ,Sache, Gegenstand‘; vulgärlat. adripare ,ans Ufer kommen, mit dem Schiff ankommen‘ > frz. arriver, ital. arrivare ,ankommen‘; mhd. tier ,wildes Tier‘ > nhd. Tier ,Tier (im Gegensatz zum Menschen)‘; mhd. vertec ,zur Fahrt bereit‘ > nhd. fertig ,bereit‘.

7.2 Bedeutungswandel

e) Kohyponymischer Wandel Wandel zwischen gleichgeordneten Begriffen (Kohyponymen). Kohyponymische Vertauschungen von gleichrangigen Angehörigen einer lexikalischen Hierarchie kommen in der Alltagsrede laufend vor (Messer – Gabel, Füller – Kugelschreiber usw.). Dass solche Versprecher lexikalisiert werden, ist indes vergleichsweise selten der Fall. Wenn ein solcher Wandel vorkommt, dann betrifft er meist Tier- oder Pflanzenbezeichnungen, da die Unterschiede zwischen den entsprechenden Denotaten alltagssprachlich häufig nicht relevant sind (vgl. Blank 1997: 209). Daher gibt es vergleichsweise wenige Beispiele: port. rato ,Ratte‘ > ,Maus‘; die Verwechslung von dt. Wespe – Biene, Frosch – Kröte.

f) Skalare Verschiebung (Bedeutungsverstärkung bzw. -abschwächung) Wandel zwischen Bedeutungen, die auf einer Eigenschaftsskala miteinander in Beziehung stehen. Die Zielbedeutung ist entweder eine stärkere oder eine schwächere Ausprägung der Ausgangsbedeutung. Der Wandeltypus gilt naheliegenderweise nur für Wörter, die Eigenschaftskonzepte ausdrücken (zu diesem Typus Harm 1999): frz. aimer ,lieben‘ > ,gern haben‘; spätlat. inodiare ,hassenswert sein‘ < frz. ennuyer ,langweilen‘; altengl. hlÞowe ,heiß‘ > mittelengl. lew ,lauwarm‘; ahd. girî, mhd. gir ,Verlangen, Bedürfnis‘ > ,heftige Begierde, sinnliches Verlangen‘

g) Bedeutungsverbesserung, Bedeutungsverschlechterung In den meisten Lehrbüchern werden auch die Wandeltypen Bedeutungsverbesserung (Amelioration) und Bedeutungsverschlechterung (Pejorisierung) angesetzt. Blank (1997: 333–339) hat allerdings gezeigt, dass die allermeisten Beispiele, die bisher für diese Art des Bedeutungswandels in Anspruch genommen wurden, durch andere Wandelmechanismen beschrieben werden können. In der Tat kann etwa das Standardbeispiel mhd. dierne, dirne ,Mädchen‘ > nhd. Dirne ,Prostituierte‘ als Bedeutungsverengung, als Entwicklung von einem Oberbegriff zu einem Unterbegriff gefasst werden, dessen Spezifikum u. a. in einer negativen Bewertung besteht (,eine Prostituierte ist eine bestimmte Art Mädchen‘). Die Bedeutungsverbesserung altengl. cwene, cwÞn ,Frau‘ > queen ,Königin‘ wäre dementsprechend eine Bedeutungsverengung. Im Fall von engl. boor ,Bauer‘ > ,unzivilisierte Person‘, einem anderen Standardbeispiel für Bedeutungsverschlechterung, liegt ein metonymischer Wandel vor, und zwar insofern, als zwischen ,Bauer‘ und ,unzivilisiertem Verhalten‘ eine Kontiguitätsbeziehung konstruierbar ist (jedenfalls wenn man verbreitete Stereotypien zugrunde legt). In den genannten Fällen ist die Bedeutungsverschlechterung bzw. -verbesserung das Resultat semantischen Wandels und nicht mit dem semantischen Wandelprozess selbst zu verwechseln.

sekundäre Prozesse

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7. Lexikalischer Wandel primäre Prozesse

Gleichwohl stellt sich die Frage, ob Auf- und Abwertungen tatsächlich ausnahmslos einem anderen Prozesstyp zugerechnet werden müssen. Es gibt möglicherweise doch semantische Verbesserungen bzw. Verschlechterungen, die als genuine Prozesse anzuerkennen sind. Ein Beispiel wäre die Entwicklung von schwul. Das Wort ist zunächst eine abwertende, lächerlich machende Bezeichnung für ,homosexuell‘; seitdem das Adjektiv von Homosexuellen offensiv als Benennung für die eigene sexuelle Orientierung gebraucht wird („Ich bin schwul, und das ist gut so“), ist die abwertende Konnotation des Wortes im allgemeinen Sprachgebrauch in den Hintergrund getreten, so dass schwul in einem Teil des Varietätenspektrums ein nahezu unmarkiertes Synonym für homosexuell geworden ist (in der Jugendsprache z. B. freilich nicht). Dies lässt sich in der Tat am besten als Wegfall eines negativen konnotativen Merkmals, als Bedeutungsverbesserung fassen. Eine Beschreibung als Metonymie oder Bedeutungsverallgemeinerung wirkt hingegen wenig überzeugend.

7.2.4 Motive des semantischen Wandels außersprachliche Erklärungen

innersprachliche Erklärungen

Wir haben bisher Verlaufsformen und Typen des semantischen Wandels beschrieben, haben uns allerdings mit der grundlegenden Frage, weshalb semantischer Wandel überhaupt auftritt, nur am Rande befasst. Als wichtigste Ursache für das Auftreten von Bedeutungswandel wird meist die Veränderung der Umwelt genannt: Wörter ändern deshalb ihre Bedeutung, weil die Welt um uns herum in einem unablässigen Wandel begriffen ist und unser Wortschatz sich dementsprechend kontinuierlich anpasst (Schippan 1992: 251; Blank 2001: 96). Semantischer Wandel wäre damit primär eine Reaktion auf das beständige Auftauchen und Verschwinden von Referenten, auf soziale Verschiebungen, auf neue Erkenntnisse und veränderte Einstellungen. In der Tat gibt es einige gute Beispiele, die eine solche ,Widerspiegelungstheorie des semantischen Wandels‘ stützen können: Die Einführung von Verkehrsignalen führt zum Bedeutungswandel von Ampel (die zunächst hängend angebracht ist wie eine Blumenampel), und der neue Referent ,Zeigegerät für den Computer‘ wird wegen der Formähnlichkeit durch engl. mouse wiedergegeben, dessen neue Bedeutung dann auch für dt. Maus übernommen wird. Wenn man allerdings auf die in Abschnitt 7.2.3 gebotenen Beispiele für semantischen Wandel blickt, findet sich dort kaum eine Entwicklung, die auf diese Weise erklärbar wäre: Dass z. B. vulgärlat. manducare ,kauen‘ zu frz. manger ,essen‘ wird, ist ganz bestimmt nicht auf einen Wandel der Außenwelt zurückzuführen. Es ist daher erfolgversprechender, wenn man nicht in der Außenwelt, sondern in der Sprache selbst bzw. in der Art und Weise, wie Sprecherinnen und Sprecher von ihr Gebrauch machen, nach Erklärungen sucht. Dies hatte bereits Hermann Paul erkannt: „Die eigentliche Ursache für die Veränderung des Usus [des üblichen Sprachgebrauchs, V. H.] ist nichts anderes als die gewöhnliche Sprechtätigkeit. (…) Es wirkt dabei keine andere Absicht als die auf das augenblickliche Bedürfnis gerichtete Absicht seine Wünsche und Gedanken anderen verständlich zu machen“ (1920: 32).

7.2 Bedeutungswandel

Das Bedürfnis, sich verständlich zu machen und damit kommunikativ erfolgreich zu sein, schlägt sich typischerweise in Versprachlichungen nieder, in denen etwas Abstraktes, relativ schwer Verständliches konkretisiert wird. Das Streben nach Konkretisierung liegt z.B. dem Gebrauch von begreifen für ,etwas intellektuell bewältigen‘ oder von fesseln für ,(emotional) einnehmen, faszinieren‘ zugrunde. Wandelerscheinungen, bei denen die Zielbedeutung bereits selbst konkret und physisch erfahrbar ist, verlangen allerdings nach einer anderen Erklärung. Dies gilt z. B. für die Entwicklung ahd. kopf ,Becher‘ > mhd. kopf ,Hirnschale, Kopf‘. Auslöser des Wandels ist wohl weniger das Bedürfnis nach Verständlichkeit als vielmehr die Suche nach einer besonders prägnanten, expressiven, ja vielleicht sogar sarkastisch-humorvollen Art und Weise der Formulierung – „der erste, der es brauchte, mag es als bitteres witzwort gebraucht haben“, bemerkt Rudolf Hildebrand zu diesem Wandel (1DWB 5, 1748). Einer Vielzahl von Bedeutungswandelerscheinungen liegt daher schlicht das Streben zugrunde, etwas Bekanntes auf bisher unbekannte Weise auszudrücken und dadurch die Aufmerksamkeit des Hörers zu erlangen. Als Motive für Sprecherinnen und Sprecher, Wörter in einer anderen Bedeutung zu verwenden, können wir somit zwei Maximen des kommunikativen Handels identifizieren: die Maxime ,drücke dich verständlich aus‘ (nach Haspelmath [1999: 1059] die „maxim of clarity“), die der Konkretisierung zugrunde liegt, sowie die Maxime ,drücke dich originell aus‘ („maxim of extravagance“), die bei dem zuletzt genannten Wandel ,Becher‘ > ,Kopf‘ Pate gestanden haben dürfte. Beide Handlungsanweisungen lassen sich als unterschiedliche Ausprägungen einer generellen Maxime sprachlichen Handelns verstehen, nämlich: „Rede so, dass du sozial erfolgreich bist“ (Keller 1994: 142, vgl. Haspelmath 199: 1059). Die Sprachwandeltheorie hat nun nicht nur das Aufkommen einer Neuerung, sondern auch deren Ausbreitung in der Sprachgemeinschaft zu erklären: Wie entwickeln sich Innovationen, die ja immer von einzelnen Sprecherinnen und Sprechern ausgehen, zu Neuerungen innerhalb einer ganzen Sprachgemeinschaft? Rudi Keller (1994) hat in seiner Theorie des Sprachwandels die Verbreitung sprachlicher Innovationen als Akkumulation unzähliger gleichgerichteter Sprachhandlungen zu beschreiben versucht. Er wählt dafür das Bild eines Trampelpfades, der quer über eine Rasenfläche verläuft: Dadurch dass unzählige Individuen einen Weg wählen, der jedem Einzelnen vorteilhaft erscheint, entsteht als unbeabsichtigtes Resultat dieser vielen Einzelentscheidungen eine sichtbare Veränderung. Analog dazu hätte man sich Bedeutungwandel so vorzustellen, dass vielen Individuen eine Versprachlichung des Konzepts ,Kopf‘ durch ein Wort, das eigentlich ,Becher‘ bedeutet, vorteilhaft erscheint, so dass diese Neuerung sich allmählich durchsetzt. Das Problem der Ausbreitung semantischer Innovationen entschärft sich ein wenig, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass Sprachen in Varietäten gegliedert sind. Neue Wortbedeutungen verbreiten sich daher in der Regel zunächst innerhalb einer Varietät und greifen dann erst allmählich auch auf andere Varietäten über. Entscheidend für die Durchsetzung einer Neuerung ist dabei zweifelsohne das Sozialprestige einzelner Sprecherinnen und Sprecher sowie einzelner Varietäten. Mit ihrer starken Bindung an soziales

Konkretisierung

Streben nach Aufmerksamkeit

,maxim of clarity‘ ,maxim of extravagance‘

die Ausbreitung von Innovationen

127

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7. Lexikalischer Wandel

Prestige verläuft die Ausbreitung lexikalischer Neuerungen damit in gewisser Weise ähnlich wie die Ausbreitung von Modeerscheinungen wie Frisuren und Kleidungsstilen.

7.3 Lexikalischer Wandel bei komplexen Wörtern 7.3.1 Morphologische Polygenese Wandel bei Ableitungen und Komposita

Bisher haben wir hier überwiegend Simplizia behandelt. Semantischer Wandel tritt daneben natürlich auch bei Ableitungen und Komposita auf. Die Polysemie von Wortbildungen ist allerdings nicht immer das Ergebnis von semantischem Wandel im oben beschriebenen Sinne, sondern kann auch auf einen Prozess zurückgehen, der hier als morphologische Polygenese bezeichnet werden soll. Inwiefern morphologische Polygenese sich von semantischem Wandel unterscheidet, lässt sich am Beispiel von Geschoss zeigen: Geschoss hat die Hauptbedeutungen (1) ,abgeschnellter, abgefeuerter Gegenstand‘, (2) ,Stockwerk‘ sowie in älterer Zeit auch (3) ,Steuer‘. Die einzelnen Bedeutungen lassen sich nicht in eine Filiationsbeziehung stellen, in welcher eine jüngere Bedeutung aus einer jeweils älteren hervorgeht. Das polyseme Spektrum des Substantivs hat sich vielmehr auf andere Weise ergeben, nämlich als eine Anlagerung von je eigenständigen Ableitungen vom polysemen Basisverb schießen. Die Bedeutungsvielfalt von Geschoss ist somit bloß ein Reflex der semantischen Vielfalt des Verbs: – Geschoss ,abgeschnellter, abgefeuerter Gegenstand‘ < schießen ,abfeuern‘ – Geschoss ,Stockwerk‘ < schießen ,in die Höhe wachsen‘ – Geschoss ,Steuer‘ < schießen ,zusteuern, dazugeben‘ (wie in etwas zuschießen)

7.3.2 Strukturverlust und Restrukturierung Motivation Idiomatisierung

Lexikalisierung

Komposita und Ableitungen sind als Sprachzeichen in der Regel insofern motiviert, als ihre Gesamtbedeutung in der einen oder anderen Weise auf die Bedeutungen ihrer unmittelbaren Konstituenten sowie die Art und Weise, in der diese zusammengesetzt sind, bezogen werden kann. So kann das Kompositum Haustür als motiviert gelten, weil die Bedeutung ,Eingangstür eines Hauses‘ auf die Bedeutungen der Kompositionsglieder ,Haus‘ und ,Tür‘ zurückgeführt werden kann, und zwar in der Weise, die das semantische Schema des Determinativkompositums mit der Abfolge von Bestimmungswort und Grundwort vorgibt. Die Motivation ist in diesem Fall allerdings nur partiell, da eine Haustür nicht einfach nur die Tür eines Hauses, sondern die Eingangstür eines Hauses ist (und nicht die Küchentür oder die Kellertür). Die Bedeutung des Wortes ergibt sich also nicht vollständig aus den Bedeutungen von Haus und Tür. Wegen der nur partiell gegebenen Motivation kann man hier auch von einer Idiomatisierung sprechen. Ein so geläufiges Wort wie Haustür wird kaum bei jeder seiner Verwendungen in seine Bestandteile zerlegt. Es wird vielmehr als Ganzheit gespei-

7.3 Lexikalischer Wandel bei komplexen Wörtern

chert und abgerufen. Damit unterscheidet es sich allerdings nur noch bedingt von Simplizia, die im Lexikon mangels morphologischer Struktur grundsätzlich holistisch repräsentiert sind. Wenn ein morphologisch komplexes Wort zunehmend als Ganzes gespeichert wird, spricht man auch von einer Lexikalisierung. Idiomatisierungen und Lexikalisierungen von Wortbildungsprodukten führen gelegentlich dazu, dass auch die morphologische Struktur verschwimmt oder gänzlich aufgegeben wird. Beispiele sind Simplizia, die auf ältere Komposita zurückgehen:

Strukturverlust

(6) a. Junker < mhd. junc-herre b. Kirmes < Kirch-Messe c. engl. lord < altengl. hlæf-weard (,Brot-Wart‘) d. engl. lady < altengl. hlæf-dîge (,Brot-Kneterin‘) Ein solcher Strukturverlust kann auch syntaktische Verbindungen betreffen wie in den Beispielen in (7). In diesem Fall spricht man auch von der Univerbierung eines Syntagmas.

Univerbierung

(7) a. seiner Zeit > seinerzeit b. ahd. *hiu tagu ,an diesem Tag‘ > ahd. hiutu, mhd. hiute, nhd. heute Gewissermaßen die gegenläufige Tendenz zu dem Strukturverlust in (6) und (7) bildet die sog. ,Volksetymologie‘. Während in den oben genannten Fällen morphologische bzw. syntaktische Grenzen verloren gehen, wird bei der Volksetymologie morphologische Struktur nachträglich eingeführt, vgl. die Beispiele in (8). (8) a. mittellat. asparagus ,Spargel‘ > engl. (umgangssprachlich) sparrowgrass (wörtlich ,Spatzen-Gras‘) b. mittellat. arcuballista > nhd. Armbrust c. frz. hamac (aus Haiti hamaca) > niederl. hangmat > dt. Hängematte d. mhd. moltwerf ,Erdwerfer‘ > nhd. Maulwurf e. mhd. mürmendîn, murmedîn (aus mittellat. mus montanus ,Bergmaus‘) > nhd. Murmeltier f. Einbeck (nach dem Brauort benannte Biersorte) > Oambock, Ambock > ein Bock Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Wörter, die auf diese Weise restrukturiert oder reanalysiert werden, in irgendeiner Weise ,schwierig‘ sind: Zum Teil handelt es sich um Übernahmen aus anderen Sprachen oder Varietäten, zum Teil liegen Komposita vor, die ein nicht mehr geläufiges Wort enthalten (molt ,Erde‘ stirbt nachmittelhochdeutsch aus). Gemeinsames Merkmal der Ausgangslexeme ist eine gewisse Wortlänge. Aufgrund der Normalitätserwartung, dass lange Wörter in der Regel auch Wörter mit Wortbildungsstruktur sind, wird diesen Lexemen eine morphologische Struktur ,untergeschoben‘, die sie von Haus aus eigentlich nicht besitzen. Die Anlehnung an ein anderes Wort dient primär dazu, der Strukturerwartung gerecht zu werden. Dass dabei zum Teil unsinnige semantische Bezü-

,Volksetymologie‘

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7. Lexikalischer Wandel

ge hergestellt werden – ein Murmeltier murmelt nicht, sondern gibt einen Pfeifton von sich –, wird dabei in Kauf genommen, dies umso mehr, als auch reguläre Komposita oftmals keine besonders plausible semantische Motivation aufweisen.

7.4 Wortschatzerweiterung durch Entlehnung Fremdwörter

Nicht nur Wortbildung und semantischer Wandel bieten Sprecherinnen und Sprechern die Möglichkeit, einen Sachverhalt innovativ und expressiv zu benennen bzw. einen neuen Referenten angemessen zu versprachlichen; auch die Übernahme von Wörtern und Wortgebräuchen aus anderen Sprachen stellt hier ein häufig gebrauchtes Mittel dar. Wird die Übernahme in Schreibung und Lautung soweit wie möglich in der Form der Gebersprache belassen, spricht man von einem Fremdwort, vgl.: (9)

Fremdheitsmerkmale

a. Attaché < frz. attaché b. Smartphone < engl. smartphone c. Chaussee < frz. chaussée

Fremdwörter sind aufgrund ihrer ausdrucksseitigen Struktur als Übernahmen aus einer anderen Sprache erkennbar. Sie weisen daher sog. Fremdheitsmerkmale auf. Dabei handelt es sich nach Munske (1988: 52–62) um – phonologische Fremdheitsmerkmale, etwa einen abweichenden Akzent (Chauss'ee), nicht-autochthone Phoneme wie die nasalierten Vokale /õ:/ oder /¼:/in Pardon, blanchieren oder /ju:/ in Computer sowie untypische Nebensilbenvokale (Konto, Kakadu) und untypische Konsonantenverbindungen wie in Pneu oder Twist; – grammatische Fremdheitsmerkmale, z. B. in der Pluralbildung (Modus – Modi, Atlas – Atlanten, Sphinx – Sphingen) – graphematische Fremdheitsmerkmale, d. h. abweichende Laut-Buchstaben-Beziehungen wie für /k/ in Computer, für /o/ in Chaussee. In älteren Texten (bis ins 18. Jahrhundert) findet sich auch eine strikte graphematische Trennung durch unterschiedliche Drucktypen (Fraktur und Antiqua).

Lehnwörter

Im Gegensatz zu den Fremdwörtern enthalten die Lehnwörter keine oder so gut wie keine ausdrucksseitigen Fremdheitsmerkmale. Ihr Ursprung als Übernahmen aus anderen Sprachen ist daher meist nicht mehr erkennbar: (10)

a. Fenster < lat. fenestra b. Keks < engl. cakes (Pl.)

Zwischen Fremd- und Lehnwörtern gibt es Übergänge: Manche sind phonologisch stärker integriert, etwa indem sie Anfangsakzent tragen ('Motor statt Mot'or, schweizerdt. 'Velo), teilweise finden auch Anpassungen in der Schreibung statt, wenn heute Zigarre und zivil statt älterem Cigarre und civil geschrieben wird. Ein hohes Maß der Integration eines Fremdwortes ist

7.4 Wortschatzerweiterung durch Entlehnung

dann erreicht, wenn es auch als Input von Wortbildungsprozessen auftritt und auf diese Weise eine Wortfamilie um das Fremdwort herum aufgebaut wird (Moral, moralisch, moralisieren, demoralisieren, vgl. Munske 2001: 27). Von den Lehnwörtern, bei denen es sich gewissermaßen um lexikalische Anverwandlungen ursprünglich fremder Wörter handelt, unterscheidet man die Lehnbildungen. In diesem Fall werden Wörter der eigenen Sprache genutzt, um Wörter einer anderen Sprache nachzubilden und die Inhalte dieser fremden Wörter angemessen wiederzugeben. Lehnbildungen können in einer sehr genauen Nachbildung (Lehnübersetzung) des Ausgangswortes oder einer freien Anlehnung an das Vorbild bestehen (Lehnübertragung):

Lehnbildungen

– Lehnübersetzung: Mit-leid < lat. com-passio, Gehirnwäsche < engl. brainwashing – Lehnübertragung: Halbinsel < lat. paen-insula (paene ,beinahe‘), Wolkenkratzer < engl. skyscraper Daneben gibt es auch Typen der Lehnprägung, bei denen nur die Inhaltsseite eines fremdsprachigen Vorbilds übernommen wird: – Lehnschöpfung, d. h. vom Ausgangswort unabhängige Wortbildung zur Wiedergabe des Inhalts: Umwelt < frz. milieu, Sinnbild nach griech. Symbol (sy´mbolon) – Lehnbedeutung, d. h. Hinzufügung einer neuen, auf ein fremdes Lexem zurückgehenden Bedeutung zu einem bereits eingebürgerten Wort: ahd. toufen ,eintauchen‘ mit der Bedeutung ,taufen‘ nach griech. baptízein; realisieren ,verwirklichen‘ mit der Bedeutung ,verstehen‘ nach engl. realize. Die unterschiedlichen hier vorgestellten Übernahmen aus anderen Sprachen können in der folgenden, an W. Betz (1974) orientierten Klassifikation des Lehnguts zusammengestellt werden:

Abb. 29: Klassifikation des Lehnguts nach W. Betz (vgl. König 2001: 70)

Viele Fremdwörter, die aus den klassischen Sprachen, aus dem Französischen sowie in jüngerer Zeit auch aus dem Englischen stammen, sind in sehr vielen Sprachen Europas und zum Teil auch darüber hinaus verbreitet.

Europäismen Internationalismen

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7. Lexikalischer Wandel

Man spricht dann von Europäismen bzw. Internationalismen. Ein Beispiel ist Energie: Das Wort stammt ursprünglich aus dem Griechischen und wurde dann ins Lateinische übernommen; von dort aus gelangte es in eine Vielzahl von europäischen Sprachen, vgl. (11). (11)

frz. énergie, span. energia, ital. energia, engl. energy, niederl. energie, dän. energi, schwed. energi, russ. ^>,D(4b

Europäismen bilden eine wichtige Grundlage für die gegenseitige Verständlichkeit der modernen Sprachen Europas. Nicht zuletzt die Anglizismen, die ja zu einem großen Teil ebenfalls auf lateinisch-griechischer Grundlage stehen, sind dabei, sich zu einer neuen Schicht von Europäismen zu entwickeln (Schulz 2005).

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Lektürehinweise

Materialreiche Einführungen in die historische Lexikologie, besonders in die historische Semantik, sind Fritz (2005) und (2006). Daneben kann auch die grundlegende Untersuchung von Blank (1997) herangezogen werden (überwiegend mit Beispielen aus den romanischen Sprachen), in einer Kurzfassung bei Blank (2001: 69–101). Speziell zur Volksetymologie empfiehlt sich Panagl (2005) als Vertiefung. Die Etymologie, d. h. die Zurückführung von Wörtern auf ihren Ursprung, konnte hier aus Platzgründen nicht behandelt werden. Hierzu bietet Seebold (1981) einen guten Überblick. Über die Geschichte der Entlehnungen informiert am besten die Sprachgeschichte von Peter von Polenz (1994–2000).

- Übungsaufgaben 1. Ordnen Sie die folgenden semantischen Wandelprozesse einem der in Abschnitt 7.2.3 eingeführten Typen zu: (a) mhd. vertec ,zur Fahrt bereit‘ > nhd. fertig ,bereit‘ (b) mittelengl. bird ,Vogeljunges‘ > neuengl. bird ,Vogel‘ (c) dt. Bock ,männl. Tier‘ > ,Holzgestell‘ (d) mittelengl. mete ,Lebensmittel‘ > neuengl. meat ,Fleisch‘ (e) lat. talpa ,Maulwurf‘ > ital. (toskanisch) tarpa ,Ratte‘ (f) ahd., mhd. vell ,Haut‘ > nhd. ,behaarte Tierhaut‘ (g) lat. christianus ,Christ‘ > frz. crétin ,Idiot‘ (h) ahd., mhd. rîch ,mächtig‘ > nhd. reich ,wohlhabend‘ (i) lat. trahere ,ziehen‘ > frz. traire ,melken‘ (j) lat. tremere ,zittern‘ > frz. craindre ,fürchten‘ (k) altgriech. zestós ,gekocht, kochend heiß‘ > neugriech. ,heiß, warm‘ (l) frnhd. arbeit ,Mühe‘ > nhd. Arbeit ,Arbeit‘ (m) lat. pensare ,wiegen, abwiegen‘ > ,überlegen, nachdenken‘ (n) ahd. riohhan ,rauchen‘ > mhd., nhd. riechen ,Geruch abgeben‘

7.4 Wortschatzerweiterung durch Entlehnung

2. Vergleichen Sie die Klassifikation des semantischen Wandels bei Meibauer et al. (2007: 324–328) mit den hier angesetzten Typen. Welche Gemeinsamkeiten, welche Unterschiede gibt es? 3. In Keller/Kirschbaum (2003: 86–89) wird der Bedeutungswandel des Adjektivs billig erörtert. Fassen Sie die Hauptlinien der Wortgeschichte, wie sie hier beschrieben wird, zusammen. Vergleichen Sie Entwicklungshypothese von Keller/Kirschbaum mit der Darstellung der Bedeutungsentwicklung im 2DWB 5, 251–254. 4. Um welche Art der Übernahme handelt es sich bei den folgenden Fällen? Legen Sie die Klassifikation in Abb. 29 zugrunde. (a) Bahnsteig < frz. perron (b) Wochenende < engl. weekend (c) Vaterland < lat. patria (d) Soße < frz. sauce (e) realisieren ,verstehen‘ < engl. realize ,verstehen‘ (f) Calzone < ital. calzone 5. Bei Akt handelt es sich um einen Europäismus, der u. a. auch in engl. act vorliegt. Vergleichen Sie die Bedeutungsspektren von dt. Akt und engl. act anhand von Wörterbüchern (z. B. dem DUW oder dem DGW sowie dem Oxford English Dictionary); ziehen Sie ggf. noch weitere Entsprechungen hinzu. Wo liegen Übereinstimmungen vor, wo gibt es ,falsche Freunde‘?

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8. Wörterbücher 8.1 Lexikologie und Lexikographie Praxis oder Wissenschaft?

der Nutzen der Lexikographie für die Lexikologie

Das Verhältnis von Lexikologie und Lexikographie ist schwieriger, als man meinen sollte. Während die Lexikologie als die linguistische Disziplin, die sich mit dem Wort und dem Wortschatz befasst, unangefochten den Rang einer Wissenschaft einnimmt, haftet der Lexikographie der zweifelhafte Ruf des bloß Praktischen an. Das Wörterbuch, so hielt von der Gabelentz (1901: 121) in seiner damals viel gelesenen Einführung in die Sprachwissenschaft fest, dient „allein dem Bequemlichkeitszwecke“ und hat daher „in der Wissenschaft überhaupt keine Stätte, es sei denn diejenige, die man im Studierzimmer dem Sopha gönnt“. Auch die rezenteren Urteile über Wörterbücher und die Tätigkeit von Lexikographen fallen insofern kaum günstiger aus, als sie der Lexikographie selbst den Status als angewandte Wissenschaft bzw. angewandte Lexikologie – das wäre ja immerhin ein Zugeständnis – streitig machen: „Die gegenwärtige Sprachlexikographie ist keine Wissenschaft (…), keine angewandte Linguistik, kein Teilgebiet der angewandten Linguistik und kein Zweig der Lexikologie“ (Wiegand 1989: 251). Wenn Wiegand (ebd.) die Lexikographie schlicht als „eine Praxis“ bestimmt, „in der ein Gebrauchsgegenstand hergestellt wird“, ist er von der Sofa-Metapher, die von der Gabelentz benutzt hatte, nicht weit entfernt. Im Verhältnis zur Lexikologie als einer ohne Zweifel wissenschaftlichen Disziplin erscheint die Lexikographie damit in gewisser Weise wie deren ,arme Verwandte‘ (Lipka 1995: 381). Die Frage, ob Lexikographie eine Wissenschaft oder eine Praxis oder vielleicht beides zugleich ist, können und wollen wir hier nicht beantworten. Für die Lexikologie ist sie jedenfalls eine unmittelbar angrenzende Nachbardisziplin, da es sowohl in der Lexikographie als auch in der Lexikologie um Wörter und um Wortschätze geht. Die Bedeutung von Wörterbüchern für die Lexikologie kann kaum hoch genug eingeschätzt werden: Wörterbücher bieten eine Fülle von Daten und Beobachtungen zu Wörtern, zu ihren Bedeutungen und ihren Beziehungen. An diesen Erkenntnissen – auch wenn sie nicht als ausformulierte Theorien offen zu Tage liegen, sondern in den Definitionen und Strukturen der Wörterbücher versteckt sind – sollte ein Lexikologe nicht vorbeigehen. Immerhin ist die Lexikographie einige Jahrtausende älter als die Lexikologie (vgl. Klein 2004: 11), sie ist also in dieser Perspektive eher Ahnherrin der Lexikologie als deren arme Verwandte.

8.2 Die Wörterbuchlandschaft

8.2 Die Wörterbuchlandschaft 8.2.1 Wörterbuchtypen Mit Nachschlagewerken kann man eine ganze Bibliothek füllen. Wer in dieser fiktiven Bibliothek eine Information sucht, muss also eine ungefähre Vorstellung davon haben, welche Information in welchem Werk überhaupt nachgeschlagen werden kann – ansonsten steht man recht ratlos vor den Regalen. Eine erste wichtige Unterscheidung betrifft die Frage, ob ein Nachschlagewerk Informationen über die Welt oder Informationen über eine Sprache oder mehrere Sprachen enthält. Daher hat man zunächst zwischen Sachwörterbuch und Sprachwörterbuch zu unterscheiden; Prototyp des Sachwörterbuchs wäre eine Enzyklopädie wie der Brockhaus oder Wikipedia, Prototyp des Sprachwörterbuchs wäre der Rechtschreib-Duden oder ein zweisprachiges Lernerwörterbuch. Um diese Abgrenzung auch terminologisch fassbar zu machen, wird manchmal auch ,Lexikon‘ mit dem enzyklopädischen Nachschlagewerk und ,Wörterbuch‘ mit dem Sprachwörterbuch gleichgesetzt. Enzyklopädie und Sprachwörterbuch treten gelegentlich auch in Mischformen auf. Das ist bei manchen Wörterbüchern des Englischen (Lipka 1995: 382 f.) sowie in den romanischen Sprachen der Fall, weniger im deutschsprachigen Raum (Haß 2012: 1). Beispiele für solche integralen Nachschlagewerke sind die Enciclopedia Italiana di Scienze, Lettere ed Arti oder der Longman Dictionary of English Language and Culture, der Wortschatz und Landeskunde miteinander verbindet. Im Weiteren befassen wir uns aber naheliegenderweise nur mit den Sprachwörterbüchern. Dabei lassen wir auch den Bereich der zwei- und mehrsprachigen Wörterbücher im Großen und Ganzen außer Acht und konzentrieren uns auf die einsprachigen Wörterbücher (vornehmlich) des Deutschen. Wenn man eine Typologie von Wörterbüchern aufstellt, kann man von sehr unterschiedlichen Einteilungskriterien ausgehen. Man kann eine Klassifikation nach Benutzungszwecken (Kühn 1989: 121), nach Art der lexikographischen Information, nach dem sprachlichen Gegenstandsbereich oder auch schlicht nach äußeren Gesichtspunkten wie Format, Umfang, Medium vornehmen. Im zuletzt genannten Fall könnte man unterscheiden zwischen Handwörterbuch, Großwörterbuch, mehrbändigem Wörterbuch, elektronischem und gedrucktem Wörterbuch. Die Klassifikation von Hausmann (1989b: 973, 977), an die sich auch Engelberg/Lemnitzer (2004: 19–21) anlehnen, geht von einem Gegensatz zwischen einem „sozusagen merkmallosen Grundtyp“, der durch das sog. Allgemeinwörterbuch repräsentiert ist, und einem merkmalhaltigen Typ, dem sog. Spezialwörterbuch aus. Unter Allgemeinwörterbuch versteht Hausmann ein umfassendes Wörterbuch der Standardvarietät wie z. B. das WDG oder den zehnbändigen Duden. Hausmanns Typologie setzt vor allem bei den Spezialwörterbüchern an, da hier die größere Vielfalt zu beobachten ist. Folgende Arten von Spezialwörterbüchern können seiner Typologie folgend unterschieden werden (Hausmann 1989b: 977; vgl. auch Engelberg/Lemnitzer 2004: 20 f.):

Sprach- und Sachwörterbuch

Mischformen

Wörterbuchtypologie

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8. Wörterbücher

– Benutzergruppenorientierte Wörterbücher, z. B. Lernerwörterbücher, Schulwörterbücher, Kinderwörterbücher, – Wörterbücher, die auf bestimmte Texte bezogen sind (Autorenwörterbücher), – Wörterbücher, die auf bestimmte Informationstypen ausgerichtet sind, z. B. Kollokationswörterbücher, Sprichwortwörterbücher, Synonym- und Antonymwörterbücher, Wortfamilienwörterbücher, – Wörterbücher, die auf einen bestimmten Typ von Stichwörtern ausgerichtet sind (lemmatyporientierte Wörterbücher), z. B. Archaismenwörterbücher, Fremdwörterbücher, Schimpfwortwörterbücher. Für unsere Zwecke gehen wir von einer sehr einfachen und bei Weitem nicht vollständigen Mischklassifikation aus, für die vor allem der im Wörterbuch beschriebene Wortschatz (Wortschatz der Gegenwart, der Vergangenheit, der Varietäten usw.) sowie das Hauptziel des Wörterbuchs (Beschreibung vs. Normorientierung) leitend ist. Wir lassen die Art und Weise der Wortschatzdarstellung – ob diese alphabetisch, wortfamilienorientiert, relationenorientiert (wie z. B. bei einem Synonymenwörterbuch) erfolgt – in der Klassifikation außen vor.

8.2.2 Präskriptive Wörterbücher Alltägliche Nachschlagehandlungen

Normvergewisserung

das Wörterbuch der Académie française

Die Nachschlagehandlungen in einem einsprachigen Wörterbuch betreffen in der Regel sehr praktische Fragen im Umgang mit Sprache: Schreibt man Lexikographie mit -f- oder -ph- oder geht beides? Was bedeutet Blaustrumpf? Wird die Wendung (einer Sache) Herr werden mit dem Genitiv oder dem Dativ konstruiert? Heißt es der Gummi oder das Gummi? Welches andere Wort kann ich einsetzen, um eine Wiederholung im Text zu vermeiden? Wörterbücher mögen wissenschaftlich konzipiert und auch für die Lexikologie ein wichtiges Forschungsinstrument sein – in allererster Linie sind sie Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs. Die meisten der eben genannten Fragen betreffen die Norm, den korrekten Sprachgebrauch. Wörterbücher, die sich zur Aufgabe machen, richtige, d. h. den Normen der Standardvarietät entsprechende Angaben zu Schreibung, Bedeutung und auch zur Aussprache zu machen, bezeichnet man als normativ oder präskriptiv (zu lat. praescribere ,vorschreiben‘). Das berühmteste Beispiel für ein präskriptives Wörterbuch ist das Wörterbuch der Académie française, das seit dem 17. Jahrhundert in mehreren Bearbeitungen erschienen ist und die Norm des Französischen festzuschreiben sucht. Das Attribut ,präskriptiv‘ trägt dieses Werk zurecht, wie das folgende Zitat aus der aktuellen 9. Auflage des Dictionnaire deutlich macht. Der Lexikograph bzw. die Lexikographin geriert sich hier deutlich als Sprachrichter: „GÉRER v. tr. (…) On ne peut gérer que des biens matériels (…). L‘emploi extensif de ce verbe à d‘autres domaines, comme dans ,gérer un divorce, une maladie, un échec‘, etc., est de très mauvaise langue et doit Þtre proscrit“ („Nur materielle Gegenstände können verwaltet [gemanagt, bewirtschaftet] werden. Der extensive Gebrauch des Verbs in anderen Domänen, wie

8.2 Die Wörterbuchlandschaft

in ,eine Scheidung, eine Krankheit, eine Niederlage verwalten‘ usw. ist sehr schlechter Sprachgebrauch und muss geächtet werden“). DAF (s. v.) Im Unterschied zu diesem Beispiel finden sich im Rechtsschreib-Duden keine direkten Verbote oder Empfehlungen. Der Duden ist vielmehr präskriptiv in dem Sinn, dass er Orientierung über den korrekten Sprachgebrauch bietet. Die Angaben des Duden erstrecken sich in erster Linie auf die richtige Schreibung eines Wortes, die durch Fettdruck hervorgehoben ist, auf seine Betonung und die Trennung der Silben, die Homographen (s. Kap. 4.6.1) und das Genus. Daneben wird auch auf grammatische und semantische Besonderheiten eines Wortes eingegangen, zum Teil auch über einen Verweis auf den Regelteil, der am Anfang des Wörterbuches steht:

der RechtschreibDuden

„Ho.lk vgl. Hulk ho.l|la! Hol|la|bru.nn (österr. Stadt) Ho.l|land; 1Ho.l|län|der (ZR 147); – Käse; der Fliegende – (Oper; vgl. fliegen); 2Ho.l|län|der (Kinderfahrzeug; Holländermühle, vgl. d.); 3Ho.l|län|der der; -s, – (Käse); Ho.l|län|de|rin die; –, nen; Ho.l|län|der|müh|le (Zerkleinerungsmaschine für Papier); ho.l|län|dern ([ein Buch] mit Fäden heften, die im Buchrücken verleimt werden); ich …ere (ZR 22); (…)“ (Duden – Die Rechtschreibung 333) Bei präskriptiven Wörterbüchern stellt sich stets die Frage nach der Begründung ihrer Normierungsautorität. Das Wörterbuch der Académie hat diese Autorität von Staats wegen inne (zuerst im Auftrag ihres Gründers, des Kardinals Richelieu). Dem Duden ist die Autorität, die er heute immer noch einnimmt, seit der Gründung des Deutschen Reiches erst allmählich zugewachsen (dazu von Polenz 1999: 239 ff.). Dass die Rechtschreibung des Deutschen ausgerechnet in einem Wörterbuch kodifiziert ist, stellt allerdings keine Selbstverständlichkeit dar. Ein systematisch angelegtes Regelwerk wäre eigentlich ein besseres Instrument, die Rechtschreibung verständlich zu machen. Da das richtige Verständnis eines Regelwerks aber ein halbwegs eingehendes Studium voraussetzt, hat sich für das Deutsche die extensive Auflistung aller Einzelfälle in einem Wörterbuch als die übliche Form der orthographischen Normierung durchgesetzt. Hier reicht ein kurzes Nachschlagen normalerweise aus, um die sprachliche Unsicherheit zu beheben.

Normierungsautorität

8.2.3 Deskriptive Wörterbücher „Wir wollen kein Gesetzbuch machen, sondern die Sprache darstellen, wie sie sich selbst in dem Lauf von drei Jahrhunderten dargestellt hat“, so schrieb Wilhelm Grimm über das Deutsche Wörterbuch, das er gemeinsam mit seinem Bruder Jacob 1838 in Angriff genommen hatte (hier zitiert nach Harm 2014: 4). So wie das Grimmsche Wörterbuch sind die meisten deskriptiven Wörterbücher als Repräsentanten einer wissenschaftlichen, historisch-philologisch ausgerichteten Lexikographie zu sehen. Zu dieser Gruppe gehören in erster Linie Dialektwörterbücher, die den Wortschatz einer regionalen Varietät dokumentieren, sowie vergangenheitsbezogene

wissenschaftliche Lexikographie

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8. Wörterbücher

vergangenheitsbezogene Lexikographie

Epochenwörterbücher

Wörterbücher. Es gibt zwar auch gegenwartsbezogene deskriptive Wörterbücher, so etwa das Duden-Universalwörterbuch (DUW), dessen primäres Ziel die Beschreibung des usuellen Wortgebrauchs ist. Da Sprachteilhaber, wenn sie ein Wörterbuch zur Hand nehmen, aber auch dort eine Normierung erwarten, wo der Lexikograph unter Umständen einfach nur einen Sachverhalt beschreibt, werden bloß beschreibende Aussagen oftmals als normative Setzungen rezipiert. Lexikographen wissen in der Regel um diese Erwartungshaltung der Nutzer und reagieren zum Teil auch darauf, indem sie dann doch Angaben zur Norm machen oder gar das Prestige ihres Wörterbuchs durch den Hinweis auf seine normsetzende Autorität zu steigern suchen (,maßgeblich in allen Zweifelsfällen‘ – so lautete lange Zeit das Motto des Duden-Verlags). Hier findet also eine Wechselwirkung zwischen Rezeption und Produktion von Wörterbüchern statt (vgl. auch HaßZumkehr 2001: 334). Normorientierung und Gebrauchsbeschreibung vermischen sich in der gegenwartsbezogenen Lexikographie daher nicht selten. Bei der vergangenheitsbezogenen Lexikographie findet eine solche Vermischung naturgemäß nicht statt, sieht man vom Sonderfall des Grimmschen Wörterbuchs ab (Harm 2014: 4–6). Die Vergangenheit der Sprache kann entwicklungsbezogen, d. h. diachron (als Längsschnitt durch die Geschichte hindurch) beschrieben werden. Typisches Beispiel für ein diachrones Wörterbuch ist das Deutsche Wörterbuch von Hermann Paul (1897 zuerst erschienen, nach dem Tode Hermann Pauls mehrfach überarbeitet und ergänzt, zuletzt 2002). Von den entwicklungsbezogenen Wörterbüchern sind die Epochen- oder Sprachstufenwörterbücher zu unterscheiden. Sie stellen den Wortschatz einer bestimmten Zeit als Synchronie dar (der Gegensatz synchron vs. diachron ist entgegen einem verbreiteten Vorurteil nicht mit der Opposition gegenwarts- vs. vergangenheitsbezogen gleichzusetzen: ,synchron‘ meint schlicht ,in einem gleichen Zeitschnitt‘, während ,diachron‘ wörtlich ,durch die Zeit‘ bedeutet). Es gibt umfangreiche Epochenwörterbücher für das Althochdeutsche (8. Jh. bis ca. 1050), für das Mittelhochdeutsche (1050–1350) sowie für das Frühneuhochdeutsche (1350–1650). Lediglich für die Epoche des Neuhochdeutschen (ab 1650) gibt es noch keine eigene lexikographische Darstellung.

8.3 Der Aufbau von Wörterbüchern 8.3.1 Makrostrukturen Wie von allen anderen Gebrauchsgegenständen, so wird auch von Wörterbüchern erwartet, dass sie praktisch sind. Dieser Forderung zu entsprechen, ist angesichts der Komplexität des Gegenstands Sprache nicht immer leicht. Wichtigste Aufgabe des Wörterbuchmachers ist daher, die Komplexität seines Gegenstandes zu reduzieren und diesen zu strukturieren. Eine elementare Strukturierungsleistung besteht darin, die darzustellenden Lemmata überhaupt erst auffindbar zu machen, also die sog. Makrostruktur eines Wörterbuchs zu entwerfen (griech. makro- ,groß‘).

8.3 Der Aufbau von Wörterbüchern

Ein bewährtes Mittel, das Nachschlagen im Wörterbuch einfach und praktikabel zu gestalten, ist die alphabetische Anordnung der Stichwörter. Diese kann entweder glattalphabetisch oder nischenalphabetisch erfolgen. Eine glattalphabetisch angeordnete Stichwortreihe liegt in Abb. 30 vor. Eis Eisbein Eisen Eisenerz Eisenfresser eisern Eisfach Eishockey eisig eiskalt Eismann Eisprung Eisscholle Eisstock Eiszapfen Abb. 30: Glattalphabetische Anordnung einer Stichwortreihe

Ei Eisprung Eis Eisbahn Eisbein Eisfach Eishockey Eismann Eisen Eisenerz Eisenfresser Eisenhut (...) eisern eisig Abb. 31: Nestalphabetische Anordnung einer Stichwortreihe

Die glattalphabetische Abfolge erlaubt zwar den direktesten und schnellsten Zugriff auf das gesuchte Wort, hat aber den Nachteil, dass die Wortbildungszusammenhänge zerschlagen werden. So gehen in der glattalphabetischen Ordnung in Abb. 30 die Bildungen zum Substantiv Ei, Eis und Eisen durcheinander. Solche Zusammenhänge können durch eine nestalphabetische Anordnung besser sichtbar gemacht werden. Diese besteht darin, dass die Stichwörter in zwei alphabetischen Ordnungen sortiert werden; in der ersten Ordnung stehen die Simplizia und die Ableitungen, in der zweiten Ordnung die Komposita, s. Abb. 31. Eis Eisbahn Eisbein Eisen Eisenerz Eisenfresser (...) eisern Eisfach Eishockey eisig eiskalt Eisprung Abb. 32: Nischenalphabetische Anordnung einer Stichwortreihe

glattalphabetische Stichwortreihe

Kurzlebigkeit Zielstrebigkeit Dickleibigkeit Volleibigkeit Fettleibigkeit Einweibigkeit Mehrweibigkeit Einsilbigkeit Farbigkeit Abb. 33: Rückläufig-alphabetisches Wörterbuch (Mater 619)

nestalphabetische Stichwortreihe

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8. Wörterbücher nischenalphabetische Stichwortreihe

rückläufig-alphabetische Wörterbücher

onomasiologische Wörterbücher

Eine häufig genutzte Mischform zwischen der glattalphabetischen und der nestalphabetischen Stichwortfolge stellt die sog. nischenalphabetische Anordnung der Stichwörter dar. Hier werden die Wortfamilienzusammenhänge nur insoweit angegeben, wie sie die alphabetische Gesamtordnung nicht durchbrechen, vgl. Abb. 32. Dies erleichtert die Auffindbarkeit eines gesuchten Stichwortes im Alphabet. Es gibt auch Wörterbücher mit einem rückläufigen, von rechts zu lesenden Alphabet. Sie dienen vor allem als Basis für die Wortbildungslehre, da sie einen Zugriff auf die Suffixe bzw. die Grundwörter von morphologisch komplexen Wörtern ermöglichen, vgl. die Abb. 33, in der die für die Sortierung relevanten Buchstabenfolgen fett gesetzt sind. Die alphabetische Ordnung ist dabei nicht das einzige makrostrukturelle Prinzip, das es gibt. So wird bei den onomasiologischen Wörterbüchern nach einem übergeordneten Begriffssystem sortiert, dem Alphabet kommt nur eine nachgeordnete Funktion zu. Bekannte Wörterbücher dieses Typs sind etwa der Thesaurus of english words and phrases von Peter Mark Roget (zuerst 1852), Daniel Sanders’ Deutscher Sprachschatz (1873–1877), der Wehrle/Eggers (1961) und Franz Dornseiffs Deutscher Wortschatz nach Sachgruppen (1933, zuletzt grundlegend überarbeitet 2004).

8.3.2 Mikrostrukturen der Einzelartikel

Informationstypen und Textstrukturen

Wörterbuchkonzeption der Belegteil

Nicht wenige Nachschlagesituationen sind mit dem bloßen Auffinden des Stichwortes bereits abgeschlossen, etwa wenn man wissen will, ob es ein Wort überhaupt gibt, oder wenn man lediglich die richtige Schreibweise ermitteln will. In vielen Fällen erstreckt sich das Informationsbedürfnis aber auf weitergehende Fragen, zu denen das Stichwort nur den ,Aufhänger‘ bildet: Was bedeutet ein Wort? Wie wird es flektiert? Wo kommt es her? Wer hat es benutzt? Wie ist seine regionale Verbreitung? Die Fülle der möglichen Fragen macht deutlich, dass die eigentlich wichtige und interessante Information vieler Wörterbücher in dem Mikrokosmos des einzelnen Artikels enthalten ist – und dass die Informationen, je nachdem wie viele sprachliche Ebenen einbezogen sind, sehr vielfältig sein können. Es ist also wichtig für den Lexikographen, diesen Mikrokosmos so zu organisieren, dass das Nachschlagen möglichst rasch zu einem zufriedenstellenden Ergebnis führt. Die Erstellung einer sog. Mikrostruktur und deren möglichst konsistente Durchführung ist somit neben der Makrostruktur eine wichtige Anforderung an ein gelungenes Wörterbuch. Mikrostrukturen sind im Grunde nichts weiter als Formate für den Wörterbuchtext; sie geben vor, welcher Informationstyp an welcher Stelle im Text zu stehen hat. Damit machen sie die Information leichter auffindbar. Wie eine Mikrostruktur im Einzelnen aussieht, soll hier an einem Artikel aus der Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (2DWB) exemplarisch vorgeführt werden. Die mikrostrukturelle Ordnung eines Wörterbuchs steht im unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Konzeption. Das 2DWB versteht sich in erster Linie als ein diachrones Bedeutungswörterbuch. Es ist zudem als Grundlagenwerk für die Germanistik und andere vorwiegend geisteswissenschaftli-

8.3 Der Aufbau von Wörterbüchern

Abb. 34: Auszug aus dem Artikel Expedition (2DWB 8, 2507)

che Disziplinen konzipiert. Von dieser Ausrichtung und diesem Anspruch her ergeben sich bestimmte Schwerpunktsetzungen in der mikrostrukturellen Anlage: Der Bedeutungsteil nimmt wesentlich größeren Raum ein als der Formteil, und innerhalb des Bedeutungsteils dominieren die Belegblöcke. Dass das 2DWB nur relativ kurze Definitionen, dafür umso mehr Belege enthält, mag den Erwartungen an ein Wörterbuch, in dem man schnell auf Informationen zugreifen will, nicht entsprechen, da dies eine eingehende Lektüre erfordert. Dass Belege in diesem Umfang angegeben werden, hängt mit dem wissenschaftlichen Charakter des Werks zusammen (und geht letztlich auf Vorstellungen der Brüder Grimm als Begründer des Wörterbuchs zurück, dazu Harm 2014). Den Belegen kommt zunächst die Aufgabe zu, die Nachvollziehbarkeit der gebotenen Bedeutungserläuterung durch den Nutzer zu gewährleisten. Oft ist es so, dass sich gerade erst aus der Lektüre der Textstellen ein volles Verständnis der vorliegenden Bedeutung ergibt, während die lexikographische Definition für sich genommen zuweilen ungelenk und abstrakt wirkt. Die Belege sollen dem Nutzer ferner die Möglichkeit geben, die postulierte Bedeutung auf ihre Angemessenheit zu überprüfen: Hat die Lexikographin bzw. der Lexikograph tatsächlich die passende Definition gewählt? Hat sie oder er bestimmte Nuancen vielleicht übersehen oder falsch beurteilt? Neben diesen definitionsbezogenen Leistungen hat der Belegblock noch die Aufgabe, die Bezeugungsgeschichte des Stichwortes bzw. des jeweiligen Bedeutungsansatzes zu dokumentieren. Mit dem ältesten und dem rezentesten Beleg wird der jeweilige Bezeugungsrahmen innerhalb des Korpus abgesteckt, und ein Fehlen von Belegen in einem Jahrhundert deutet auf eine Lücke im Korpus. Da im 2DWB gerade im Bereich der Frühbezeugung danach gestrebt wird, den ältesten überhaupt verfügbaren Beleg zu bieten, wird hier das Korpus gelegentlich um nachgesammelte Textstellen ergänzt. Was Letztbelege betrifft, die ungefähr aus der Zeit der Fertigstellung der jeweiligen Wörterbuchlieferung stammen, so sind diese natürlich nicht als Endpunkte der jeweiligen Bedeutung zu verstehen, sondern dokumentieren

Funktion der Belege

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8. Wörterbücher

den anhaltenden Gebrauch des Wortes bzw. der Wortverwendung in der Sprache der Gegenwart. Definitionen

Zentraler Bestandteil der Mikrostruktur eines Bedeutungswörterbuchs sind naturgemäß die Bedeutungsangaben bzw. Definitionen. Die Angaben zur Bedeutung eines Wortes haben gewissen Anforderungen zu genügen: – Die Definitionen sollten alle notwendigen und hinreichenden Bedeutungsaspekte des Stichwortes bzw. der Stichwortverwendung enthalten. – Sie sollten einfacher und verständlicher sein als das, was sie beschreiben. – Sie sollten selbst nicht mehrdeutig sein, sondern eine möglichst monoseme Beschreibung bieten. – Gibt es mehrere Bedeutungsangaben zu einem Stichwort, sollten die Angaben untereinander maximal distinktiv sein; sie sollten sich also nicht überschneiden, sondern gut voneinander abgrenzbar sein. – In den Definitionen eines Wörterbuchs sollte Zirkularität (wie im Erläuterungstyp Geschick ,Schicksal‘ – Schicksal ,Geschick‘) vermieden werden, wobei man der Zirkularität prinzipiell nicht entkommt, wenn man natürlichsprachige Bedeutungsangaben wählt.

Definitionstypen

Die Formulierung von Bedeutungsangaben ist eine Kunst für sich. Bei der Erstellung lexikographischer Definitionen kann aber immerhin auf einige Grundmuster zurückgegriffen werden. Die folgenden sind als die wichtigsten zu nennen: Definitionstyp

Definitionsmerkmale

Beispiel

logische Definition

Oberbegriff – Unterbegriff (genus proximum – differentia specifica)

Stuhl: ,mit vier Beinen und einer Rückenlehne versehenes Sitzmöbel für eine Person‘

synonymische Definition

Synonymangabe

frisch: ,jung‘

antonymische Definition

Antonymangabe mit Negation (Satznegation, negierendes Präfix)

frisch: ,nicht alt, unreif‘

klassifikatorische Definition

Einordnung in ein vorgegebenes wissenschaftliches Ordnungssystem (bei Pflanzen, Tieren)

Frauenmantel: ,alchemilla vulgaris L.‘

prototypische Definition

blau: ,von der Farbe des Angabe eines prototypischen Eigenschaftsträgers (bei Adjekti- wolkenlosen Himmels‘ ven)

onomasiologische Definition

Explikation des Benennungsverhältnisses (,X dient zur Bezeichnung von Y‘)

Stuhl: zur Bezeichnung eines für eine Person bestimmten Sitzmöbels mit vier Beinen und einer Rückenlehne

morphosemantische Definition

(nur bei morphologisch komplexen Wörtern) Explikation der Wortbildung

Bürostuhl: ,Stuhl für das Büro‘

Tab. 7: Definitionstypen (vgl. auch Schlaefer 2009: 95 f.)

8.4 Digitale Wörterbücher

In der Beschreibungspraxis des 2DWB – wie wohl auch der meisten anderen Wörterbücher – werden die ersten drei Typen am häufigsten genutzt. Am problematischsten ist sicher die zuletzt genannte morphosemantische Definition, da hier die Zirkularität besonders ausgeprägt und die Erklärungskraft der Bedeutungsangabe dementsprechend gering ist.

8.3.3 Mediostrukturen: Verweise im Wörterbuch Verweise sind nicht selten eine ärgerliche Angelegenheit für den Nutzer eines Wörterbuchs: Man will etwas nachschlagen, stößt auf einen Verweis und muss dann blättern, bis das Gesuchte gefunden ist. Die Strukturebene, die durch die Verweise gebildet wird, bezeichnet man als Mediostruktur (zu lat. medius ,der mittlere; in der Mitte befindlich‘). Dieser Terminus ist insofern gut motiviert, als Verweise eine Art Zwischenebene bilden, die Mikround Makrostrukturen miteinander verbindet. Klassischer Fall eines Verweises ist der Stichwortverweis (Fux s. Fuchs): Fux stellt eine ältere orthographische Variante dar, von der man annimmt, dass ein Nutzer ihr begegnen könnte. Unter dem Verweisstichwort Fux ist kein Artikel zu finden, dieser steht unter dem Verweisziel Fuchs. Neben solchen Verweisen von Stichwort zu Stichwort, also auf makrostruktureller Ebene, gibt es auch Verweise, die von der Mikrostruktur ausgehen und auf ein Stichwort gerichtet sind (etwa im 2DWB-Artikel Frau: „2 verheiratete person weiblichen geschlechts (…), s. ehegattin f., -frau f., -weib n.“, 2DWB 9, 887). Gerade der zuletzt genannte Verweistyp geht über die Funktion einer bloßen Hilfe beim Auffinden eines Stichwortes hinaus. Im eben zitierten Fall des Verweises aus einer Bedeutungsposition heraus auf andere Stichwörter geht es vielmehr darum, lexikalische Strukturen sichtbar zu machen. Der Nutzer wird hier durch den Verweis dazu angehalten, eine bestimmte Bedeutungsposition bei einem Einzelwort im Lichte ihrer Synonyme und damit in ihrem Wortfeldzusammenhang zu betrachten. Besonders ausgebaut sind solche onomasiologischen Verweise im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (FWB). Hier ist in der Mikrostruktur eine feste Position „Bdv.“ (Bedeutungsverwandtschaft) vorgesehen, in der solche einzelwortübergreifenden Bezüge angesprochen werden.

Stichwortverweise

onomasiologische Verweise

8.4 Digitale Wörterbücher Im Zuge der digitalen Revolution haben sich die Herstellungs- und Nutzungsbedingungen für Wörterbücher radikal geändert. Zweisprachige Lernerwörterbücher werden zunehmend durch kostenlose Internet-Angebote verdrängt, und auch in der einsprachigen Gegenwartslexikographie des Deutschen, in der lange Zeit so glanzvolle Namen wie Duden oder Brockhaus-Wahrig den Ton angaben, findet ein Wechsel weg vom gedruckten Band, hin zur digitalen Präsentation statt. Auch in der wissenschaftlichen Lexikographie ist der Wandel vom Buch zum digitalen Informationssystem in vollem Gange. Die wissenschaftlichen Wörterbücher erscheinen in der Regel zwar als Printausgaben, nach Ablauf

Printausgabe vs. Online-Publikation

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8. Wörterbücher

einer Sperrfrist wird jedoch in den meisten Fällen auch eine im Internet zugängliche digitale Version bereitgestellt. Die Online-Publikation bringt (neben dem kostenfreien Zugang, den zumindest die deutschsprachigen Wörterbücher im Allgemeinen bieten) erhebliche Vorteile gegenüber der Druckversion (vgl. auch Plate 2009: 136 f.): – Die elektronische Version kann jederzeit aktualisiert werden. – Dem Nutzer ist eine Möglichkeit an die Hand gegeben, das Informationsangebot auf die eigenen Bedürfnisse zuzuschneiden, etwa durch Ausoder Einblenden unterschiedlicher Fenster (vgl. das Angebot des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache [DWDS] unter www.dwds.de). – Interne Vernetzungsmöglichkeiten erleichtern die Benutzung. Verweise müssen nicht durch Blättern aufgesucht werden, sondern werden einfach durch Anklicken aufgerufen; die Quellensiglen zu den Belegtexten können mit dem Quellenverzeichnis verlinkt und direkt angesteuert werden. – Die Verlinkung der Belegtexte mit den Quellendigitalisaten schafft die Möglichkeit weitergehender Recherche für den Nutzer. (Eine solche Verlinkung ist mustergültig durchgeführt in den Projekten Deutsches Rechtswörterbuch und Mittelhochdeutsches Wörterbuch: www.rzuser.uni-hei delberg.de/~cd2/drw/ sowie www.mhdwb-online.de). – Das Wörterbuch kann daneben auch extern vernetzt sein, so dass u. a. auch wörterbuchübergreifende Suchanfragen durchgeführt werden können (vgl. dazu die Angebote in www.woerterbuchnetz.de). – Wissenschaftliche Wörterbücher sind in der Regel teuer in der Anschaffung und werden daher nur in den größeren Bibliotheken vorgehalten; durch die Präsenz im Internet sind sie für jeden ohne Aufwand zugänglich.

Haltbarkeit

digitale und retrodigitale Wörterbücher

Viele digitale Wörterbücher sind somit nicht einfach nur elektronische Versionen der Printausgabe, sondern bilden ein umfassendes digitales und flexibel handhabbares Informationssystem. Gerade für lexikologische Fragestellungen, die ja vor allem auf Beziehungen zwischen Wörtern und Strukturen im Wortschatz gerichtet sind, können sie besonders wertvoll sein. Einen Vorteil des gedruckten Wörterbuchs kann ein digitales lexikographisches System freilich nicht aufwiegen, nämlich den der Haltbarkeit: Ein auf säurefreiem Papier gedrucktes Buch wird man vermutlich noch in 500 Jahren benutzen können, ein digitales Produkt unserer Tage dagegen wird dann sehr wahrscheinlich nur noch von Datenarchäologen entziffert werden können. Bei digitalen Wörterbüchern hat man grundsätzlich zwischen retrodigitalisierten und genuin digitalen Wörterbüchern zu unterscheiden (wobei gerade im letzten Fall von „Büchern“ strenggenommen nicht mehr die Rede sein kann). Ein Beispiel für ein retrodigitalisiertes Wörterbuch ist das 1DWB (durchsuchbar unter www.woerterbuchnetz.de); ein von Anfang an digital erarbeitetes Wörterbuch ist das Mittelhochdeutsche Wörterbuch (MWB) oder das gegenwartssprachliche Wörterbuchprojekt elexiko. Daneben gibt es auch digitale Wörterbücher, die von der Retrodigitalisierung eines Printwörterbuchs ausgehen und dieses nach und nach anreichern und ausbauen, so dass ein vom gedruckten Werk unabhängiges System entsteht (vgl. dazu das auf dem WDG aufbauende DWDS).

8.5 Digitale Textkorpora

Seit einiger Zeit gewinnen die kollaborativ erstellten Plattformen, die Wörterbücher, an denen prinzipiell jeder mitarbeiten kann, an Bedeutung (z. B. Wiktionary, leo.org). In diesen und vergleichbaren Portalen wird wortbezogenes Wissen zusammengetragen, das in aller Regel aus anderen digitalen und teils auch gedruckten Quellen stammt. Eine wissenschaftlich eigenständige Wörterbucharbeit auf der Basis systematischer Beleganalysen und Quellenprüfungen kann man von diesen – gelegentlich sicher hilfreichen – Produkten nicht erwarten, da hier überwiegend bereits Bekanntes wiederholt wird. Problematisch sind diese Portale (vor allem Wiktionary) insofern, als die Artikel oftmals keine kritische Gewichtung oder Kontextualisierung der gefundenen Informationen erkennen lassen. Diese Art der digitalen Lexikographie ist also vorwiegend kompilatorisch und deren Produkte sind mit Vorsicht zu genießen.

kollaborative Wörterbücher

8.5 Digitale Textkorpora Mit der Digitalisierung geht eine andere wichtige Neuerung für die Sprachwissenschaften einher, nämlich der Aufbau digitaler Textkorpora. Ein Korpus ist zunächst einmal schlicht eine Menge von sprachlichen Äußerungen, meist von Texten oder Textausschnitten, die unter einem bestimmten Gesichtspunkt zusammengestellt sind (lat. corpus ,Körper‘ ist eigentlich maskulinum, in der Sprachwissenschaft sagt man zur besseren Abgrenzung gegenüber anderen Verwendungen von Korpus übrigens meistens das Korpus). Man kann zwei Arten von Textkorpora unterscheiden: gerichtete und ungerichtete (unspezifische) Korpora (hierzu grundlegend Schulz 2007: 110–115). Bei gerichteten Korpora sind die Kriterien der Textauswahl sehr eng an eine bestimmte Fragestellung geknüpft: Wer z. B. etwas zum Diskurs der Frauenemanzipation im frühen 20. Jahrhundert herausfinden möchte, sollte gezielt bestimmte Texte aufnehmen, in denen das Untersuchungsthema schwerpunktmäßig behandelt wird. Ungerichtete, unspezifische Korpora sind dagegen Sammlungen, die nicht thematisch spezifiziert und daher meistens auch sehr umfassend sind. Diese Korpora enthalten im Idealfall eine möglichst breite und ausgewogene Auswahl an Texten eines bestimmten Zeitabschnitts, die den Verteilungen in der Sprachwirklichkeit nahekommt. Gerichtete und ungerichtete Korpora ergänzen einander. So sollte eine Themenstellung wie die eben genannte am besten sowohl in einem gerichteten als auch in einem ungerichteten Korpus untersucht werden. Auf diese Weise kann man herausfinden, wie das Thema sowohl in der einschlägigen diskursspezifischen Literatur als auch in der einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wurde und wie beide Bereiche miteinander interagieren. Dass sprachwissenschaftliche Befunde systematisch aus größeren Textsammlungen erhoben werden, ist grundsätzlich nichts Neues, zumal für die Lexikographie, die schon seit dem 19. Jahrhundert beträchtliche Erfahrungen mit dem Aufbau und der Auswertung von Textkorpora gesammelt hat. Gegenüber den traditionellen Korpora bieten die digitalen Textsammlungen, wie nicht anders zu erwarten, einige Vorteile. Diese liegen vor allem

gerichtete und ungerichtete Korpora

IDS-Korpora

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8. Wörterbücher

DWDS-Korpora

in der wesentlich besseren Durchsuchbarkeit der Korpora. In den Korpora des Instituts für deutsche Sprache (IDS) in Mannheim z. B. kann nicht nur nach Wortformen, sondern auch nach Lexemen gesucht werden (https:// cosmas2.ids-mannheim.de/cosmas2-web/). Die Abfragesyntax erlaubt aber auch komplexe Suchen zum gemeinsamen Vorkommen mehrerer Wörter im Satz- und Textzusammenhang oder den Einsatz von Platzhaltern. Weitere sehr gut benutzbare Korpora werden über die Homepage des DWDS zur Verfügung gestellt (www.dwds.de/ressourcen/korpora/). Dazu gehört ein umfassendes Zeitungskorpus sowie das ,Kernkorpus des 20. Jahrhunderts‘, das im Gegensatz zu den Textkorpora des IDS, die überwiegend aus Zeitungstexten bestehen, neben journalistischen Texten auch einen großen Anteil von Texten aus Belletristik, Gebrauchsliteratur und Wissenschaft enthält und damit eine ausgewogenere Textsortenverteilung aufweist. Für Recherchen zur Gegenwartssprache können aber grundsätzlich beide Korpora mit der Aussicht auf gute Ergebnisse durchsucht werden.

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Lektürehinweise

Erste Einführungen in die Lexikographie sind Schlaefer (2009: 71–147) und Reichmann (2001). Als breiter angelegte Darstellungen sind Engelberg/Lemnitzer (2004) und Herbst/Klotz (2003) sowie Reichmann (2012) speziell zur historischen Lexikographie zu empfehlen. Einen Überblick über wichtige Wörterbücher zum Deutschen bietet Haß-Zumkehr (2001), zu Wörterbüchern europäischer Sprachen kann der Sammelband von Haß (2012) herangezogen werden. Nähere Angaben zum Grimmschen Wörterbuch, das hier als Beispiel benutzt wurde, finden sich in Mederake/Schlaefer (2010), Kirkness/Kühn/ Wiegand (1991) sowie Dückert (1987). Einen kurzen Abriss der Geschichte des Wörterbuchs gibt Harm (2014).

- Übungsaufgaben 1. Welche Funktionen erfüllt der Belegblock im 2DWB? 2. Welche Definitionstypen finden sich in den untenstehenden Beschreibungen? (a) Mond: ,die Erde umkreisender natürlicher, an bestimmten Tagen sichtbarer Himmelskörper‘ (b) mokant: ,spöttisch‘ (c) traurig: ,nicht lustig‘ (d) Herd: ,Vorrichtung zum Kochen, Backen, Braten‘ (e) Nasenschleimhautentzündung: ,Entzündung der Nasenschleimhaut‘ (f) Blaustrumpf: ,abwertende Bezeichnung für eine Frau, die zugunsten geistiger Arbeit vermeintlich typische weibliche Eigenschaften verdrängt hat‘ (g) Bleiche: ,das Bleichsein‘ (h) Aal: ,Anguilla anguilla‘

8.5 Digitale Textkorpora

3. Wandeln Sie die folgende glattalphabetische Ordnung (a) in eine nischenalphabetische und (b) in eine nestalphabetische Abfolge um: Funk, Funkamateur, Funkanlage, Fünkchen, Funke, funkeln, Funker, Funkgerät, Funkie, Funkkolleg, Funksprechgerät, Funkstreife, Funktion 4. Vergleichen Sie die Artikel Beifuß und Farn im 2DWB. Beifuß wurde in der Berliner, Farn in der Göttinger 2DWB-Arbeitsstelle erstellt. Erkennen Sie Unterschiede in der Mikrostruktur? Ziehen Sie, wenn nötig, weitere Artikel heran, um ihre Beobachtungen abzusichern. 5. Analysieren und vergleichen Sie verschiedene Wiktionary-Einträge Ihrer Wahl. Versuchen Sie die jeweiligen Informationsquellen zu ermitteln und beschreiben Sie den Umgang mit diesen. Wie verhalten sich vor allem die Angaben zur Etymologie und Wortgeschichte zu den Informationen in gedruckten Wörterbüchern?

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Lösungen und Hinweise zu den Übungsaufgaben Kapitel 2 1. a) Wörter ist die Pluralform für ,Einzelwörter‘, Worte steht für ,zusammenhängende Äußerung, Aussage‘. Zudem gibt es wohl auch einen stilistischen Unterschied: Worte klingt gehoben und ist tendenziell schriftsprachlich (leib, seele sind nur worte / wechselnder wirklichkeit, Stefan George, zitiert nach 1DWB 14, 2, 1471), Wörter ist eher umgangssprachlich. Zur Beantwortung von b) und c) sind eigene Recherchen nötig. 2. a) drei Wortformen: Hunde, Hunden, Katzen, b) zwei syntaktische Wörter Hunde (Nom. und Akk. Pl.), ein syntaktisches Wort Hunden, drei syntaktische Wörter Katzen (Nom, Dat. und Akk. Pl.); c) zwei Lexeme Hund und Katze 3. In der Selbstaussage wird der Name als Klasse konstruiert, der zumindest hypothetisch noch andere Referenten angehören könnten. Dies geschieht mit Hilfe des unbestimmten Artikels ein, der das Einzigkeitspostulat, das mit dem Referenten von Namen verbunden ist, in Frage stellt. Vergleichbare Äußerungen wären z. B. Der junge Schriftsteller will ein Goethe sein, Wir haben heute keinen Goethe mehr. Die Konstruktion bedeutet ,So jemand wie X‘. 4. Adjektive haben grundsätzlich die Funktion, einem anderen Referenten eine Eigenschaft zuzuweisen. Insofern sind sie unselbstständig. Dennoch kann ihnen im Unterschied zu Synsemantika wie Pronomina oder Konjunktionen eine eigene Bedeutung zugewiesen werden, die prinzipiell auch unabhängig von den Bezuggrößen beschrieben werde kann. Überdies lassen sich bei Adjektiven kaum Paradigmen identifizieren, wie sie typischerweise bei Synsemantika vorliegen.

Kapitel 3 1. a. Präfixableitung (von Blendung) oder Suffixableitung (von verblenden), b. Kopulativkompositum, c. Possessivkompositum, d. Zusammenbildung, e. Ablautbildung, f. Konversion, g. Rektionskompositum, h. Zusammenrückung, i. (silbisches) Akronym, j. Zusammenbildung 2. (a) Ablautbildung, (b) Zirkumfigierung, (c) Transposition, (d) Konversion

Lösungen und Hinweise zu den Übungsaufgaben

Kapitel 4 1. Vorschlag: Getränk

alkoholisch

heiß

durch Kochen

durch Gärung

gepresst

aus Früchten

Bier

+

+





+





Wein

+

+





+



+

Tee

+



+

+







Kaffee

+



+

+







Sprudel

+













Saft

+









+

+

Einige Probleme: Man muss vom prototypischen Fall ausgehen (Glühwein!). – Merkmale, die z. B. für Saft relevant sind, spielen für Bier überhaut keine Rolle: Die Bedeutung von Bier ist nicht dadurch bestimmt, dass es die Eigenschaft [–gepresst] aufweist. Die Liste der möglichen Merkmale ist offen: Warum sollte man nicht z. B. auch die Merkmale [€fermentiert], [€geröstet] einführen? 2. übergeordnet: Kleidung; Basis: Schuhe, Hose; untergeordnet: Turnschuhe, Polohemd, Sneakers 3. (a) partielle Homonymie, (b) Homographie, (c) Homophonie, (d) partielle Homonymie 4. (1) Facetten, (2) Polysemie, (3) kontextuelle Variation, (4) Polysemie

Kapitel 5 1. (a) Meronymie, (b) Hyperonymie, (c) Antonymie, (d) Hyponymie, (e) Komplementarität/Reversivität, (f) Synonymie, (g) Konversivität, (h) Komplementarität, (i) Meronymie, (j) Kohyponymie, (k) Heteronymie 2. (a) sich brennendK interessierenB, (b) ein ErgebnisB erzielenK,(c) schwerK verletztB, (d) starkerK RaucherB, (e) probatesK MittelB 3. Hinweis: Putzen scheint gegenüber waschen überwiegend für kleine Gegenstände und entsprechende Bewegungsabläufe zu gelten. Reinigen bedeutet grundsätzlich ,Schmutz von etwas entfernen‘, ist also auf das regelmäßige Zähneputzen nicht anwendbar (Zähne müssen nicht verschmutzt sein, damit die geputzt werden können). Das spricht also eher für semantische Kongruenz. 4. Bloße Kookkurrenzen sind Ein Wort wie Freiheit, Liebe usw., Kollokationen sind u. a. Wort des Bedauerns, deutliches Wort.

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Lösungen und Hinweise zu den Übungsaufgaben

Kapitel 6 1. Bei einem Archisemem nimmt eine Bedeutung die höchste Position im Wortfeld ein, bei einem Archilexem ein Wort. 2. gehoben: seiner Wege gehen, entschweben (beides auch in ironischer Verwendung möglich); neutral: weggehen, gehen, fortgehen; umgangssprachlich: sich vom Acker machen, abdampfen; salopp: sich trollen, Leine ziehen, abziehen; vulgär: sich verpissen. Die Abgrenzung von ,umgangssprachlich‘ und ,salopp‘ ist schwierig, da manchmal nicht eindeutig festzustellen ist, ob eine negative emotionale Haltung gegeben ist. Fortgehen gehört laut Wanzeck (2010: 89 f.), die einen Überblick über dieses Feld gibt, zu einer besonderen Schicht, nämlich der ,kalkulierten Stilschicht‘. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass ein ,offizieller‘ Ausdruck für einen Sachverhalt gewählt wird (z. B. Kriminalpolizei statt Kripo). 3. Das hängt davon ab, ob die ,synchrone etymologische Kompetenz‘ einen Zusammenhang herstellt oder nicht. Bei trinken/tränken wird dieser Zusammenhang sicher hergestellt, auch wenn das Wortbildungsmuster nicht mehr produktiv ist; bei Blende und blind ist die Herstellung einer Verbindung sicher deutlich schwieriger. 4.

Für die Unterscheidung ,alkoholisches‘ vs. ,nicht-alkoholisches Getränk‘ gibt es kein eigenes Substantiv. Man kann daher von einer lexikalischen Lücke sprechen (was nicht bedeutet, dass es gar keinen Ausdruck dafür gibt). 7. Hier gibt es zunächst einfache Wortverwechslungen (Messer statt Gabel), dann kann man mit Leuninger (1993), (1998) auf der Lautebene verschiedene Formen unterscheiden: Ersetzungen durch ein lautähnliches Wort (detoniert statt demontiert), Vertauschungen einzelner Silben/Laute zwischen Wörtern (nasse Katze > kasse Natze), Vorwegnahmen und Nachklänge (nette Katze > natte Katze; sozialistische Sekten > sozialistische Zekten), Vertauschungen ähnlicher Wörter (Monumentarfilm < Dokumentarfilm/monumental). Daneben kommen häufig vermischte Idiome vor: Licht am Ende des Horizonts.

Kapitel 7 1. (a) Bedeutungsverallgemeinerung, (b) Bedeutungsverallgemeinerung, (c) Metapher, (d) Bedeutungsspezialisierung, (e) Kohyponymischer Wandel, (f) Bedeutungsverengung, (g) bis (j) Metonymie, (k) skalare Verschiebung, (l) Metonymie, (m) Metapher, (n) Metonymie 4. (a) Lehnschöpfung, (b) Lehnübersetzung, (c) Lehnübertragung, (d) Lehnwort, (e) Lehnbedeutung, (f) Fremdwort

Lösungen und Hinweise zu den Übungsaufgaben

Kapitel 8 1. (a) logische Definition, (b) synonymische Definition, (c) antonymische Definition, (d) logische Definition, (e) morphosemantische Definition, (f) onomasiologische Definition, (g) morphosemantische Definition, (h) klassifikatorische Definition

3. Der Berliner Artikel Beifuß weist einen wesentlich ausführlicheren etymologischen Teil auf als der Göttinger Artikel Farn. Wenn Sie die Bände, in denen die Artikel jeweils stehen, durchsehen, werden Sie diese Beobachtung bestätigt finden. Der Artikel Beifuß hat ferner keine eigene mikrostrukturelle Position für die Bedeutungsangabe, der Artikel Farn schon. Im Artikel Farn wird strikt ein Beleg pro Jahrhundert gegeben, der Artikel Beifuß variiert hier stärker.

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Verzeichnis der Tabellen Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5: Tab. 6: Tab. 7:

Merkmalmatrix ,Sitzmöbel‘ in Anlehnung an Pottier (1978: 404) Ausdrucksseitige Übereinstimmungen Stichwortumfänge in standardsprachlichen Wörterbüchern Beispiele für Helvetismen Beispiele für Austriazismen Bäuerlich geprägter Fachwortschatz Definitionstypen

S. 38 S. 49 S. 89 S. 98 S. 99 S. 103 S. 142

Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1: Grundtypen der Wortbildung Abb. 2: Semiotisches Dreieck (nach Odgen/Richards 1923) Abb. 3: Onomasiologie und Semasiologie Abb. 4: Probleme der Merkmalsemantik – das Beispiel ,Stuhl‘ Abb. 5: Tassen-Experiment nach Labov (1973) (Aitchison 1997: 60) Abb. 6: Die Bedeutungen von engl. bachelor (nach Katz/Fodor 1963: 190) Abb. 7: Die Kategorie ,Vogel‘ (Aitchison 1987: 68) Abb. 8: Ebenen der Kategorisierung Abb. 9: Mehrdeutigkeit (vgl. auch Murphy 2010: 91) Abb. 10: Das polyseme Netzwerk von Schule (Geeraerts et al. 2003: 38) Abb. 11: Mehrdeutigkeit von Lexemen Abb. 12: Die Hierarchie Fortbewegungsmittel Abb. 13: Rekursivität in der Hierarchie Fortbewegungsmittel Abb. 14: Wortwolke zu Wort aus dem DWDS Abb. 15: Die Ambiguität von Wortschatz Abb. 16: Das Wortfeld lachen (vgl. Schlaefer 1987: 517; 2009: 39) Abb. 17: Das Wortfeld ,Aufhören des Lebens‘ (Weisgerber 1971: 184) Abb. 18: Lexikalische Lücke im Wortfeld ,Wasserlauf‘ Abb. 19: Die Wortfamilie {bind}/{band}/{bund} Abb. 20: DWA-Karte Gurke, Umzeichnung aus König (2001: 225) Abb. 21: Farbwörter im Deutschen und Walisischen (vgl. Werlen 1989: 101) Abb. 22: Implikationshierarchie der Grundfarben nach Berlin/Kay (1969) Abb. 23: Das mentale Lexikon als Teil des Langzeitgedächtnisses Abb. 24: Der Badewanneneffekt (Aitchison 1997: 175) Abb. 25: Netzwerkmodell von Collins/Quillian (1969), hier nach Wessells (1990: 252) Abb. 26: Assoziatives Netzwerkmodell von Collins/Loftus (1975: 412) Abb. 27: Phasen des Bedeutungswandels (in Anlehnung an Job/Job 1997: 256) Abb. 28: Metonymische Motivation beim Bedeutungswandel von billig Abb. 29: Klassifikation des Lehnguts nach W. Betz (vgl. König 2001: 70) Abb. 30: Glattalphabetische Anordnung einer Stichwortreihe Abb. 31: Nestalphabetische Anordnung einer Stichwortreihe Abb. 32: Nischenalphabetische Anordnung einer Stichwortreihe Abb. 33: Rückläufig-alphabetisches Wörterbuch (Mater 619) Abb. 34: Auszug aus dem Artikel Expedition (2DWB 8, 2507)

S. 25 S. 32 S. 34 S. 38 S. 40 S. 41 S. 43 S. 45 S. 51 S. 58 S. 64 S. 71 S. 71 S. 83 S. 85 S. 91 S. 93 S. 94 S. 95 S. 100 S. 108 S. 108 S. 112 S. 113 S. 114 S. 115 S. 122 S. 123 S. 131 S. 139 S. 139 S. 139 S. 139 S. 141

Register Abkürzung 29 Ablautbildung 27 Ableitung 19, 26–29, 45, 128, 139 – explizite 27 – implizite 27 Affix 24, 103 Affixoid 27 f. Akronym 20, 29 Aktivationsausbreitung 115 f. Allgemeinwörterbuch 135 Amalgamierung, s. Wortkreuzung Ameliorisation 125 Anglizismus 15, 132 Anordung, alphabetische 139 – glattalphabetisch 139 – nestalphabetisch 139 – nischenalphabetische 139 f. Antonym, Antonymie 76 f., 136, 142 Aphasie 110 f., 113 Archaismus 120–122 Archilexem 91 f. Archisemem 38, 90, 92 Assoziation 110 Assoziationstest, -experiment 110 Austriazismus 98 f. Autosemantikon 17 f. Badewanneneffekt 112 f. Basis 26 f., 29, 81 f. Basisbedeutung 52, 54 Basisebene/-begriff 44 f., 73, 92 Bedeutung 35–41 – abstrakte 28, 54, 116 – konkrete 58 – lexikalische 35–37, 78, 120 Bedeutungsabschwächung 125 Bedeutungsangabe, s. Definition Bedeutungsbeziehungen, wesenhafte 78 f. Bedeutungserweiterung 124 Bedeutungsverbesserung 125 f. Bedeutungsverengung 124 f. Bedeutungsverschlechterung 125

Bedeutungsverstärkung 125 Bedeutungswandel 121–123, 125–127 – produktiver 121 – reduktiver 121 – Typen 123–126 Bedeutungsteil 141 Behördendeutsch 105 Beleg 141 Benennung 29, 39, 45, 55, 89, 106, 126, 142 Berufssprache 102 Broca-Aphasie 110 construal 55, 60 Definition 12 f., 15 f., 22, 44, 61, 67, 120, 134, 141 f. – Typen 142 Denotat, Denotation 31, 33, 66, 68, 121, 125 Denotatswandel 121 Derivation, s. Ableitung Determinativkompositum 25, 128 Dialekt 96–102 Dialektwörterbuch 101, 137 Dialektwortschatz 100 Dialekt-Standard-Kontinuum 100 Differenziallexik 97 Diskursuniversum 18 Distributionstest 12, 14 Dreieck, semiotisches 31 f. Dysphemismus 69, 104 Eigenname 18 Eigenschaftskonzept 114 Elaboration, lexikalische 102 f. Entlehnung 21, 49, 68, 101, 130–132 Enzyklopädie, s. Sachwörterbuch Epochenwörterbuch 138 Ereigniskonzept 114 f. Ersatzprobe 14 Ethnolekt 102 Etymologie, etymologisch 10, 49, 95 f., 132 Euphemismus, euphemistisch 68 f., 104 f., 119

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Register

Euphemismus-Tretmühle 105 Europäismus 131 f. Expressivität, expressiv 69 f., 123, 127, 130 Extension, extensional 32 f., 47, 55, 62 f., 66 f. Facette 59–64 Fachsprache, fachsprachlich 32, 88, 96, 102, 106 Fachwortschatz 89, 102 f., 121 Familienähnlichkeit 42, 52 Farbwort 107–109, 116 Festigkeit 13 f. Formenspeicher 111 f. Formteil 141 Fremdheitsmerkmale 130 Fremdwort 15, 45, 89, 130 f. Funktionalstil 105 Funktionswort, s. Synsemantikon fuzzy category 16, 43 Gebrauchsbedingungen 31, 74, 121 Gedächtnis 19, 22, 85, 111 f. Gegenstandskonzept 113, 115 Geheimsprache 102 Genderlekt 102 Generalisierung 57 f., 124 genus proximum vs. differentia specifica 37, 142 Gruppensprache 101 Hauptbedeutung 122, 128 Helvetismus 97 f. Heteronym, Heteronymie 69 Hierarchie 44 f., 71–73, 75, 90–92, 108, 114, 125 Historismus 121 Holonym, Holonymie 73 Homograph, Homographie 48 f., 137 Homonym, Homonymie 21 f., 46, 48–51, 59, 63 f. Homophon, Homophonie 48 f. Hyperonym, Hyperonymie 71, 73, 78, 90 f. Hyponym, Hyponymie 71–73, 75, 77 f., 90 Idiom 14, 18 f., 56, 81-83, 86, 88, 121 Idiomatisierung 82, 128 f. Implikation 92 Implikationshierarchie 108 f. Implikationsrelation 72, 92 Inhaltswort, s. Autosemantikon Inkompatibilität 75–77 Intension, intensional 32 f., 55, 62, 67 Internationalismus 132

Jugendsprache 102 f., 126 Kategorie 16 f., 19, 22, 27, 39, 40–47, 51 f., 55, 62, 71, 78, 83 Kategorisierung 41, 45 f., 71 Kernbedeutung 33, 35, 53 f., 58 f. Kernmorphem 95 „Kiezdeutsch“ 102 Klasse, offene vs. geschlossene 17 f. Kognitionswissenschaft 109 f. Kollokation 81–84, 106, 136 Kommunikationsmaximen 123, 127 Komplementarität 76 Komposition, Kompositum 13 f., 19, 25–28, 45, 56 f., 86, 95, 128–130, 139 Kongruenz, semantische 79 f. Konnotation, konnotativ 33 f., 68–70, 104, 126 Kontamination, s. Wortkreuzung Kontiguität, Kontiguitätsrelation 57, 59–61, 66, 73, 124 Kontra-Sprache, s. Geheimsprache Kontrast, Kontrastrelation 66, 70, 75, 77 Konversion 27 Konversivität 76 Konzept 16, 20, 31–35, 37, 42, 44, 54 f., 57, 111 f., 113–115, 123 f., 127 Konzeptspeicher 111, 113 Kookkurrenz 83 f. ,Kopfwort‘ 29 Kopulativkompositum 26 Korpus 83, 89, 141, 145 f. Kürzung 20, 24, 28 f. Laborexperiment 110 Lehnbedeutung 131 Lehnbildung 131 Lehnprägung 131 Lehnschöpfung 131 Lehnübersetzung 131 Lehnübertragung 131 Lehnwort 98, 118, 130 f. Leitvarietät 96 Lexem 21–24, 28 f. Lexik 85, 88 f., 97 f. Lexikalisierung 128 f. Lexikalismus 86 Lexikographie 9 f., 134, 137 f., 143–146 Lexikologie 9–18, 85, 87, 94, 109, 134–136 Lexikon, s. Sachwörterbuch Lexikon 19, 58, 71, 85–88, 129 Lexikon, mentales 85, 88, 109–116

Register

Linguistik, generative 40 f., 54 Linguistik, kognitive 54–56 long word 19 Lücke, lexikalische 94 Makrostruktur 138, 140, 143 Mediostruktur 143 Mehrdeutigkeit 39, 46 f., 49–64 Merkmal 16, 31, 36–46, 67–70, 78, 90–92, 101, 104, 114, 126 – obligatorisches 39, 67 – optionales 37, 39, 46 – semantisches 36 f., 46, 78 Merkmalanalyse 36–38, 44, 46, 64 Merkmalmatrix 38 f., 64 Merkmalsemantik 33, 36–39, 67 Meronym, Meronymie 73–75 Metapher, metaphorisch 54, 57 f., 103 Metonymie, metonymisch 57–59, 62, 122 f. Migrantendeutsch 102 Mikrobedeutung 61 Mikrostruktur 140–143 monosem, Monosemie 39, 50 f., 59, 62 f., 67, 121, 142 Morphem 15, 20, 24, 26 f., 36, 86, 88, 95 Motivation 55, 57 f., 122 f., 128, 130 Nähe, semantische 48–51, 58 f. Nebenbedeutung 122 Neologismus 119 f., 122 Netzwerk, -modell 52, 54–59, 64, 113–116 – assoziatives 115 – hierarchisches 113 f. Neubedeutung 118 Neulexem 118 Norm 98 f., 120, 136, 138 Oberbegriff 37, 50, 57, 114, 124 f., 142 Ökonomie 43, 114 Okkasionalismus 119 f. Onomasiologie, onomasiologisch 11, 34, 55, 91, 140, 142 f. Onomotopoetika 25 Organon-Modell 34 Orthographie 12, 137, 143 Paradigma 17, 21 f., 48, 92 Paraphrase 10, 31, 52, 82 Paronym, Paronymie 70 f. Partikelverb 12, 27 f. Pejorisierung 125

Plesionymie 69 f., 77 Polygenese, morphologische 128 Polysemie 21 f., 40, 46–64, 80, 103, 121 f., 128 – systematische 52 Possessivkompositum 26 Präfigierung 27 Präfixableitung 28 Prägnanz 42 Präposition 16 f. Primingeffekt 110, 113, 116 Produktivität 26 Prototyp 41–46, 135 Prototypensemantik 41, 43, 45 f., 52, 55 f. Prototypikalität 42 Psycholinguistik 109 Rechtschreibung, s. Orthographie Referent 14, 18, 31–34, 37, 39, 41–45, 47 f., 52, 55, 57, 62, 66 f., 71 f., 74 f., 78, 126, 130 Referenz 16 f., 32 f., 67, 69 f., 103 Rektionskompositum 25 Relation, – metaphorische 57 – metonymische 57, 122 – paradigmatische 65 f., 77 f., 90 – semantische 59, 65 – skalare 70, 77 f. – syntagmatische 65, 77–79 – taxonomische 57 Regiolekt 100 Register 104 Reizwort 110 Reliktwort 120 Rekursivität 71 Reversivität 76 f. Rotwelsch 102 Rückbildung 25, 29 Sachwörterbuch 135 Schimpfwort, s. Dysphemismus ,Schwanzwort‘ 29 Selektionsrestriktionen 40, 79 Semasiologie, semasiologisch 10 f., 34, 55, 91 Similarität, Similaritätsrelation 57, 61, 66 f., 71, 124 Simplex 19 Sinneinheit 14 f. Sinnrelation 11, 60, 65, 87, 109 Symptomwert 33–35 Skala 50, 62 f., 76 f. Sondersprache 102 f.

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Register

Soziolekt 102 Spezialisierung 57 f. Spezialwörterbuch 135 Sprachstufenwörterbuch, s. Epochenwörterbuch Sprachwandel 118, 127 Sprachwörterbuch 135 Sprachzeichen 17, 24, 35, 121, 128 Standardvarietät 96 f., 99 f., 135 f. Stilschicht 90, 92, 104, 120 Strukturalismus 10, 36, 40, 93, 107 Strukturverlust 128 f. Substitutionsklasse 66 Suffigierung 27 Synonym 90, 96, 104, 126, 136, 143 Synonymie, -relation 66–70, 67, 78, 90 Synsemantikon 17, 103 Teil-Ganzes-Relation 74 ,Teutonismus‘ 99 Textkorpus, s. Korpus Tip-of-the-Tongue-Phänomen 111 f. Transposition 25, 27 Typologie 101, 106 f., 135 – lexikalische 106 Umgangssprache 88, 96, 100 f., 103, 123 – regionale 100 Umstellbarkeit 14 Unika 18 f. Univerbierung 129 Unterbegriff 57, 113, 124 f., 142 Unterspezifikation, unterspezifiziert 51–54, 58 usuell, Usus 119, 126, 138 Vagheit 46–51, 59 f. Variation 109, 122 f., 62 f., 96, 99 – kontextuelle 62 f. – referenzielle 62 f. – restringierte 109, 122 f. Varietät 88, 96 f., 99, 100 f., 103, 117, 120 f., 127, 129, 136 f. – diaphasische 96, 103 f. – diastratische 96, 101 – diatopische 96 – regionale 100 Verb 12 f., 29, 40, 50, 62, 73–76, 78–80, 83, 86 f., 91, 96, 106, 114, 128, 136 Verschiebung 53, 125 f. – konzeptuelle 53 – skalare 125

Versprecher 110, 112, 125 Verständlichkeit 123, 127, 132 Verweis, s. Mediostruktur 17, 137, 143 f. Volksetymologie 129 Voraussetzungsrelation 79 Wandel 11, 118, 121–128, 130, 143 – konzeptueller 121 – pragmatischer 121 – semantischer 126, 128, 130 Wernicke-Aphasie 110 Wissen, enzyklopädisches 35, 53 – lexikalisches 35 Wort 12–23 – graphematisches 20 – phonologisches 20 – morphologisches 20 – syntaktisches 20 f. – lexikologisches 21 f. Wortart 21, 24, 27, 40, 48, 87, 90 Wörterbuch 89, 101, 134–146 – deskriptives 137 f. – digitales 89, 143 f. – onomasiologisches 140 – präskriptives 136 f. – kollaboratives 145 – retrodigitales 144 – rückläufig-alphabetisches 140 Wörterbuchtypen 135 Wörter-und-Sachen-Forschung 10 Wortfamilie 71, 87, 95 f., 109, 131, 136, 140 Wortfeld 87, 90–94, 107–109, 113, 116 f. Wortfeldtheorie 10, 92, 94, 107, 109, 117 Wortfeldvergleich 94, 107 Wortkreuzung 24, 28 f. Wortschatz 9–11, 15, 19, 22, 34, 37 f., 68, 85–95, 97–116, 118 f., 126, 130–138, 144 – aktiver vs. passiver 88 – der Alltagssprache 101, 120 – der Jugendsprache 102 f., 126 Wortwolke 83 Zentrum vs. Peripherie 16, 22, 41 f., 55, 97 Zeugma 50 Zeugma-Effekt, Zeugma-Test 49 f., 60, 62 Zielwort 110 Zirkumfigierung 27 Zone, aktive 59, 62 f. Zusammenbildung 27 Zusammenrückung 26