187 69 19MB
German Pages [428] Year 1993
a m a Studienbuch
DJWü Juristische Ausbildung
Studienbuch herausgegeben von Prof. Dr. Dagmar Coester-Waltjen, München Prof. Dr. Hans-Uwe Erichsen, Münster Prof. Dr. Klaus Geppert, Berlin Prof. Dr. Philip Kunig, Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. Harro Otto, Bayreuth Prof. Dr. Klaus Schreiber, Bochum
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Einführung in die Kriminologie von
Hans Joachim Schneider 3., völlig neu bearbeitete Auflage
w DE
G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York · 1993
Dipl.-Psych., Dr. jur., Dr. h.c. Hans Joachim Schneider ist o. Professor an der Universität Münster/Westfalen. Die erste Auflage dieses Werkes ist 1974 in der S A M M L U N G G Ö S C H E N (Band 7012), die zweite Auflage 1977 in derselben Reihe (Band 2804) erschienen.
Rudolf Sieverts ( 1 9 0 3 - 1 9 8 0 ) in Dankbarkeit gewidmet.
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CIP-Einheitsaufnahme
Schneider, Hans Joachim: Einführung in die Kriminologie / von Hans Joachim Schneider. — 3., völlig neu bearb. Aufl. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1993 (Jura : Studienbuch) Bis 2. Aufl. u.d.T.: Schneider, Hans Joachim: Kriminologie ISBN 3-11-009756-7
© Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: WB-Druck, D-87669 Rieden am Forggensee Buchbinderei: Verlagsbuchbinderei Dieter Mikolai, D-10587 Berlin
Vorwort zur 3. Auflage
Die "Einführung in die Kriminologie" erscheint in neuer Ausstattung als Lehrbuch, mit erweitertem und vertieftem Inhalt, den ich auf jüngstem Forschungsstand völlig neu bearbeitet habe. Die erste Auflage des Buches ist im Jahre 1974, die zweite im Jahre 1977 veröffentlicht worden. Mit dem Buch verfolge ich das Ziel, den Leser anhand ausgewählter Beispiele mit den Grundlagen der Kriminologie vertraut zu machen. Den Inhalt der 14 Kapitel und der 23 Kästen habe ich hierbei nach dem aktuellen Diskussionsstand ausgewählt, wie er sich mir während nationaler und internationaler kriminologischer Kongresse und Konferenzen der letzten Jahre dargeboten hat. Es ist freilich nicht allein Sinn und Zweck des Buches, auf dem neuesten kriminologischen Forschungsstand zu informieren. Vielmehr strebt es auch an, zur aktiven eigenständigen Auseinandersetzung mit den Problemen anzuregen. Problementfaltung und -lösung sollen dazu ermuntern, weiterführende Literatur heranzuziehen und eigene Stellungnahmen zu entwickeln. Nicht nur zu Dokumentations- und Forschungszwecken, sondern auch im Verfolg dieses didaktischen Zieles habe ich mich bemüht, in zahlreichen Zitaten im Text und in einem umfangreichen Literaturverzeichnis auf Monographien, Zeitschriften- und Sammelwerkaufsätze zu den verschiedenen Problemen aufmerksam zu machen. Zur Veranschaulichung der Probleme, aber auch zur aktiven eigenständigen Auseinandersetzung mit ihnen habe ich eine zweite Informationskette eröffnet: Die Kästen sollen Schlaglichter auf Probleme werfen, zum Nachdenken und zum weiteren Studium anregen. Hierbei bieten die "Fenster zur Welt" internationale Ausblicke. In den Kästen, die ich "Im Blickpunkt" genannt habe, sind Kurzinformationen zu einzelnen Problemkomplexen zusammengestellt worden. Die Kästen schließlich, die "Im Blitzlicht" heißen, sollen durch Fälle und Beispiele auflockern und Anschauungsmaterial liefern. Angesichts der europäischen Vereinigung und der internationalen Verflechtung, die sich in gleicher Weise auf die Begehung wie auf die Kontrolle des Verbrechens bezieht, war eine Einordnung der deutschen kriminologischen Probleme in ihre internationalen Bezüge unbedingt erforder-
VI
Vorwort
lieh. Deshalb habe ich großen Wert darauf gelegt, bei der Diskussion kriminologischer Probleme den deutschen und den internationalen Forschungsstand zu berücksichtigen. Das Buch will nicht nur mit der deutschen, sondern auch mit der internationalen Kriminologie bekanntmachen. Die "Einführung in die Kriminologie", die auf meiner jahrzehntelangen kriminologischen Lehrtätigkeit an der Universität Münster und seit kurzem auch auf meiner Lehrtätigkeit an der Humboldt Universität Berlin beruht, ist vor allem für Studierende der Rechtswissenschaft, der Psychologie und Soziologie geschrieben. Sie kann freilich auch von Praktikern der Strafrechtspflege und von interessierten Laien benutzt werden. Meine wissenschaftlichen Mitarbeiter, die Herren Klaus Rainer Strunk und Jochen Niesing, haben mir bei der Sammlung des Materials geholfen. Herr Niesing hat darüber hinaus zusammen mit meiner Sekretärin, Frau Jutta Röwekamp, das Sachregister erarbeitet. Meine Frau, Hildegard Schneider, hat mir bei der Zusammenstellung des Abkürzungs- und Literaturverzeichnisses geholfen. Meine wissenschaftlichen Hilfskräfte, Frau Ina Freisleben und Herr Klaus Hullmann, sowie meine Frau und meine Sekretärin haben mich beim Lesen der Korrekturen unterstützt. Allen Genannten danke ich sehr herzlich für ihre Hilfe. Mein besonderer Dank gilt freilich meiner Sekretärin, Frau Röwekamp, dafür, daß sie die gesamte Druckvorlage dieses Buches erstellt hat. Herrn Dr. Ulrich Weber-Steinhaus danke ich schließlich für seine Unterstützung bei der Herstellung dieser Druckvorlage. Münster, im Juni 1993 Hans Joachim Schneider
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis und Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur XV Literaturverzeichnis xvn 1. Kapitel:
Kriminologie und Kriminalität
1. Abschnitt: Kriminologie als Human- und Sozialwissenschaft I. Definition, Gegenstände und Aufgaben Π. Autonomie, Interdisziplinarität, Wissenschaftlichkeit und Internationalist ΠΙ. Vorurteile und Tabus IV. Abgrenzungen 2. Abschnitt: Epochen der Kriminologiegeschichte I. Drei Epochen: Überblick Π. Die Klassische Schule im 18. Jahrhundert ΙΠ. Die Positivistische Schule zu Ende des 19. Jahrhunderts TV. Die moderne Schule der Mitte des 20. Jahrhunderts 3. Abschnitt: Methoden der Kriminologie I. Der Prozeß der empirisch-kriminologischen Forschung Π. Vergleichende und historische Forschung ΙΠ. Biographische Forschung IV. Kriminalphänomenologische Untersuchungen V. Querschnittstudien VI. Längsschnittuntersuchungen 4. Abschnitt: Institutionalisierung und Organisierung I. Kriminologische Forschung und Lehre in der Bundesrepublik . . . Π. Kriminologische Organisationen und Institute im deutschsprachigen Raum ΠΙ. Internationale kriminologische Organisationen IV. Beispiele kriminologischer Fakultäten, Institute und Organisationen des Auslandes 5. Abschnitt: Begriff und Erscheinungsformen der Kriminalität I. Verbrechensbegriff Π. Erscheinungsformen kriminellen Verhaltens Fenster zur Welt: Kriminalpolitik für Europa und die Welt Im Blitzlicht: Regierungskriminalität
2. Kapitel:
Kriminalstatistik und Dunkelfeldforschung
1. Abschnitt: 2. Abschnitt:
Begriff der Kriminalstatistik Geschichte der Kriminalstatistik
l 1 1 3 5 7 9 9 10 13 15 16 16 17 19 21 22 23 25 25 27 28 29 31 31 37 11 34
41 41 41
vm
Inhaltsverzeichnis 3. Abschnitt: 4. Abschnitt: 5. Abschnitt:
Aufgaben der Kriminalstatistik Formen der Kriminalstatistik Verfalschungseinflüsse der Kriminalstatistik
42 43 45
6. Abschnitt: 7. Abschnitt:
Dunkelfeldforschung: begriffliche Klärung Geschichtliche Entwicklung der Dunkelfeldforschung . . . .
47 48 49
8. Abschnitt:
Methoden der Dunkelfeldforschung
9. Abschnitt:
Aufgaben der Studien zum kriminellen Opferwerden
50
10. Abschnitt:
Erträge der Studien zum Opferwerden
51
11. Abschnitt:
Erträge der vergleichenden Dunkelfeldforschung
53
12. Abschnitt:
Verhältnis der Dunkelfeldforschung zur offiziellen Kriminalstatistik
57
Im Blickpunkt: Kriminalitätsanstieg in der sozioökonomischen lung
3. Kapitel:
Entwick54
Kriminalität: Ihr Umfang, ihre Struktur, ihre Verteilung, ihre Aufklärung und ihre Entwicklung
1. Abschnitt: 2. Abschnitt:
Umfang und Struktur der Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland Entwicklung der Kriminalität in der Bundesrepublik
60 60
Deutschland
61
3. Abschnitt: 4. Abschnitt:
Alters- und Geschlechtsverteilung der Kriminalität Kriminalität der großstädtischen Ballungsräume
62 64
5. Abschnitt: 6. Abschnitt: 7. Abschnitt:
Ausländerkriminalität Kriminalitätsaufklärung Kriminalität in Österreich und der Schweiz
67 74 75
Im Blickpunkt: Tourismus und Kriminalität Im Blickpunkt: Einbruchsdiebstahl
4. Kapitel:
68 76
Gewaltkriminalität
1. Abschnitt: Der Gewaltbegriff und das staatliche Gewaltmonopol I. Gewaltbegriff II. Staatliches Gewaltmonopol 2. Abschnitt:
85 ....
85 85 86
Bedeutung und Ausmaß der Gewalt im internationalen Vergleich 87 3. Abschnitt: Entwicklung der Gewalt und der Einstellung zur Gewalt . . 89 I. Historische Gewaltforschung 89 Π. Entwicklung der Gewalt seit dem Ende des 2. Weltkrieges 89 III. Entwicklung der Einstellung zur Gewalt 91 4. Abschnitt: Erscheinungsformen der Gewalt 97 I. Gewalt in der Familie 97 II. Gewalt in der Institution 100 III. Gewalt im Sport 103 IV. Kollektivgewalt 104
Inhaltsverzeichnis 5. Abschnitt: Ursachen der Gewalt I. Biologische und psychopathologische Ursachen Π. Gesellschaftliche Ursachen ΙΠ. Ursachen in der Familie IV. Ursachen in der Institution V. Ursachen der Gewalt im Sport VI. Ursachen der Kollektivgewalt VII. Gewalttäterkarriere Im Blickpunkt: Serien- und Massenmord Im Blitzlicht: Krawalle in Los Angeles Im Blickpunkt: Vollstreckung der Todesstrafe
5. Kapitel: Organisiertes Verbrechen 1. Abschnitt: Konzept des organisierten Verbrechens I. Definitionsversuch Π. Zehn Kriterien 2. Abschnitt: Erforschung des organisierten Verbrechens 3. Abschnitt: Aktivitäten des organisierten Verbrechens 4. Abschnitt: Zwei Beispiele ausländischer krimineller Organisationen . . I. Die Medellin- und Cali-Syndikate Π. Die Bauindustrie in New York City 5. Abschnitt: Organisationsstmktur und Praktiken des organisierten Verbrechens in der Bundesrepublik Deutschland I. Organisationsstruktur Π. Praktiken 1. Abtauchen in die Konspiration 2. Rekrutierung 3. Zusammenhalt 4. Konkurrenzkämpfe 5. Geldwäsche-Praktiken 6. Einwirkung auf die Behörden 7. Beeinflussung der Polizei 6. Abschnitt: Ursachen des organisierten Verbrechens I. Gesellschaftliche Ursachen II. Gruppenursachen ΙΠ. Täter- und Opferursachen 7. Abschnitt: Strafgesetzliche Maßnahmen gegen das organisierte Verbrechen und ihre Anwendung in den USA 8. Abschnitt: Entwicklung des organisierten Verbrechens in der Bundesrepublik Deutschland I. Trendverlauf II. Europäische Vereinigung ΙΠ. Unterentwickeltes Problembewußtsein IV. Mangelhafte Medienberichterstattung
IX 104 104 107 112 116 119 124 127 94 108 121
130 130 130 132 136 141 144 144 145 146 146 147 147 148 149 150 151 151 152 153 153 154 155 156 160 160 160 161 161
χ
Inhaltsverzeichnis V. Soziale Desorganisation 162 VI. Unterwandemngs- und Zersetzungserscheinungen 162 VII. Schwierigkeiten bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität 163 Im Blitzlicht: Der Mord an Richter Giovanni Falcone Im Blitzlicht: Die kriminelle Karriere des Pablo Escobar
6. Kapitel: Die Verursachung der Kriminalität Klassische, kriminalbiologische und psychopathologische Theorien 2. Abschnitt: Soziologische und sozialpsychologische Theorien I. Sozialstruktur und gesellschaftliche Lernprozesse Π. Wertkonflikt, Anomie und soziale Desorganisation ΠΙ. Subkulturbildung IV. Zwischenmenschliche Lem- und Interaktionsprozesse V. Prozesse der symbolischen Interaktion
140 157
165
1. Abschnitt:
Fenster zur Welt: Kriminologie der Befreiung in Südamerika
165 166 166 168 169 171 175 172
7. Kapitel: Sozialstrukturelle Ursachen niedriger Kriminalität: das Beispiel Japans 176 1. Abschnitt: 2. Abschnitt:
Theorie und Methode der Vergleichenden Kriminologie . . . Die Eignung Japans und der Bundesrepublik zum Kriminalitats vergleich 3. Abschnitt: Kriminalität in Japan und in der Bundesrepublik Deutschland 4. Abschnitt: Jugenddelinquenz in Japan und in der Bundesrepublik . . . . 5. Abschnitt: Kriminalitätsstruktur, Kriminalität der Frauen und der alten Menschen 6. Abschnitt: Organisiertes Verbrechen, Rauschmittelmißbrauch, Wirtschafts- und Umweltkriminalität 7. Abschnitt: Gründe für die relativ niedrige japanische Kriminalität . . . I. Zusammenarbeit in der Gruppe Π. Das Fehlen sozial desorganisierter Gebiete ΠΙ. Die "Schamkultur" IV. Beziehungen wechselseitiger Verpflichtung V. Wechselseitige Abhängigkeit und Duldsamkeit VI. Kriminalitätskontrolle als Gemeinschaftsproblem 8. Abschnitt: Einordnung der Ergebnisse des Kriminalitätsvergleichs in eine kriminologische Theorie I. Drei Merkmale für Länder mit niedriger Kriminalität II. Wertzusammenbnich und Werteübereinstimmung
176 177 178 179 182 183 184 187 188 188 189 189 190 191 191 195
Fenster zur Welt: Die Kriminalität der Aborigines in Zentralaustralien . . . 185 Fenster zur Welt: Kriminalität in China 192
Inhaltsverzeichnis
8. Kapitel:
XI
Frauen und Kriminalität
197
1. Abschnitt: Delinquenz der Mädchen und Kriminalität der Frauen I. Der Mädchen- und Frauenanteil an den Straftaten Π. Ursachen für die geringere Deliktsbeteiligung der Mädchen und Frauen ΙΠ. Deliktsstruktur der Mädchen und Frauen IV. Ursachen der Deliktsstruktur der Mädchen und Frauen V. Entwicklung der Mädchendelinquenz und der Frauenkriminalität . VI. Ursachen der Entwicklung der Mädchendelinquenz und der Frauenkriminalität VQ. Reaktion auf Mädchendelinquenz und Frauenkriminalität 2. Abschnitt: Kriminelles Opferwerden der Frauen: das Beispiel der Vergewaltigung I. Begriff, Umfang und Erscheinungsformen der Vergewaltigung . . Π. Typologie der Vergewaltigungstäter ΠΙ. Ursachen der Vergewaltigung IV. Opferschäden und -behandlung V. Das Vergewaltigungsopfer im Kriminaljustizsystem Fenster zur Welt: Junge Frauen in den Banden Im Blitzlicht: Das Verbrechensopfer in der Vergewaltigungssituation
9. Kapitel:
Kinder- und Jugenddelinquenz
1. Abschnitt: Wesen und Erscheinungsformen I. Konzept und historische Entwicklung des Konzepts der Kinderund Jugenddelinquenz 1. Konzept 2. Historische Entwicklung des Konzepts Π. Häufigkeit, Charakteristik, Entwicklung und Struktur der Kinderund Jugenddelinquenz 1. Häufigkeit 2. Charakteristik 3. Entwicklung 4. Struktur a. Kinderdelinquenz b. Delinquenz der Jugendlichen und Heranwachsenden 2. Abschnitt: Ursachen I. Allgemeine Verursachungsprobleme 1. Kombination von Ursachentheorien mittlerer Reichweite . . . . 2. Empirische Erforschung der Ursachen a. Unterschiede zwischen Querschnitt- und Längsschnittuntersuchungen b. Querschnittuntersuchungen c. Längsschnittuntersuchungen
197 197 198 200 201 202 202 205 208 208 210 211 217 218
204 . 214
220 220 220 220 221 223 223 224 226 228 228 230 231 231 231 234 234 235 237
ΧΠ
Inhaltsverzeichnis Π.
Besondere Verursachungsprobleme
238
1. Schicht 2. Arbeitslosigkeit
238 240
3. Familie
244
4. Religion 5. Baustruktur
246 247
3. Abschnitt:
Ausgewählte besondere Probleme der Kinder- und Jugenddelinquenz I. Bandendelinquenz II. Jugendvandalismus III. Drogendelinquenz 4. Abschnitt: Internationaler Vergleich 5. Abschnitt: Einige Gesichtspunkte der Verhütung und Kontrolle
248 248 252 257 258 260
Fenster zur Welt: Straßenkinder
241
Fenster zur Welt: Eine Gesellschaft ohne Jugendgefangnisse
254
10. Kapitel: Kriminalität alter Menschen und an alten Menschen . . 263 1. Abschnitt:
Begriffliche Klärung
263
2. Abschnitt:
Häufigkeit der Kriminalität alter Menschen und an alten Menschen
263
3. Abschnitt:
Gründe für das geringere Täter- und Opferwerden alter Menschen Struktur der Kriminalität alter Männer Kriminalität alter Frauen Erscheinungsformen der Viktimisierung alter Menschen . . . Ursachen der Kriminalität alter Menschen und an alten Menschen Mißhandlung alter Menschen Ursachen der Mißhandlung und Tötung alter Menschen . . . Verhütung der Kriminalität alter Menschen und an alten Menschen
274
Tötung alter Menschen auf der Intensivstation
272
4. 5. 6. 7.
Abschnitt: Abschnitt: Abschnitt: Abschnitt:
8. Abschnitt: 9. Abschnitt: 10. Abschnitt: Im Blitzlicht:
11. Kapitel: Kriminalität in den Massenmedien 1. Abschnitt: I. II.
Die Medienkriminalitätswelle
Erscheinungsform Mangelnde Tatsachengrundlage
III. Negative Folgen IV. Die Gründe 2. Abschnitt: Dynamisches, zweistufiges, symmetrisches Modell 3. Abschnitt: Konstruktion krimineller Wirklichkeit 4. Abschnitt: Mediendarstellung von Verbrechen und Kriminaljustiz . . . . I. Gewaltkriminalität unter Fremden II. Tatausführung und -aufklärung
264 265 267 268 268 269 270
276 276 276 276 278 278 279 280 287 287 288
Inhaltsverzeichnis
xm
ΠΙ. Der Täter IV. Das Opfer
288 289
V. Die Verbrechenskontrolle VI. Die Verbrechensursachen
289 290
5. Abschnitt:
Öffentliche Meinung über Kriminalität und Kriminaljustiz . 290
I.
Bedrohung von außen
II. m.
Angst vor Gewaltdelikten, die von Fremden begangen werden . . . 291 Androhung, Verhängung und Vollzug härterer Strafen 292
6. Abschnitt:
290
Negative Folgen in der Wirklichkeit
292
I.
Gewaltklima
293
II.
Mangel an friedlicher Verarbeitung von Konflikten
293
IH. Langzeitwirkung der Mediendarstellung der Gewalt IV. Aggressive Pornographie
294 295
V.
295
Selbstmord im Fernsehen
VI. Krawalldarstellung in den Massenmedien VII. Sportberichterstattung
296 297
VID. Strafgesetzgebung und -anwendung 7. Abschnitt:
298
Gründe für die realitätsverzenende Mediendarstellung der Kriminalität und der Kriminaljustiz
302
Im Blickpunkt: Verbrechensfurcht
283
Im Blickpunkt: Die Meinungen der Anti-Gewalt-Kommissionen zur Gewalt in den Massenmedien
299
12. Kapitel: Das Verbrechensopfer
304
1. Abschnitt: 2. Abschnitt:
Begriffe der Viktimologie und des Verbrechensopfers . . . . Methoden der Viktimologie
304 305
3. Abschnitt: 4. Abschnitt:
Forschungsergebnisse der Viktimologie Gesellschaftliche und persönliche Einflüsse im Kriminalisie-
306
rungs- und Viktimisierungsprozeß
309
5. Abschnitt:
Das Opfer in der Straftat-Situation
312
6. Abschnitt:
Das Opfer im Reaktionsprozeß auf sein Opferwerden
7. Abschnitt:
Chancen und Gefahren der Viktimologie
....
Fenster zur Welt: Opferschutz-Empfehlungen des Europarates und der Vereinten Nationen
13. Kapitel: Kriminalitätsvorbeugung
315 321 318
323
1. Abschnitt: 2. Abschnitt:
Begriff und Formen der Verbrechensvorbeugung Die primäre Verbrechensverhütung
323 324
3. Abschnitt: 4. Abschnitt:
Die sekundäre Verbrechensvorbeugung Die tertiäre Prävention
327 332
5. Abschnitt: 6. Abschnitt:
Grenzen der Verbrechensverhütung Wirksamkeit der Verbrechensverhütungsprogramme
334 335
Im Blitzlicht:
Die „Cambridge-Somerville-Jugend-Studie"
329
XIV
Inhaltsverzeichnis
14. Kapitel: Wiedergutmachung statt Strafe 1. Abschnitt: 2. Abschnitt: 3. Abschnitt: 4. Abschnitt: 5. Abschnitt: 6. Abschnitt: 7. Abschnitt: 8. Abschnitt: 9. Abschnitt: 10. Abschnitt: 11. Abschnitt: 12. Abschnitt: 13. Abschnitt:
Einleitung Die Krise der Kriminalpolitik Kriminalitätsverursachung in gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Lern- und Interaktionsprozessen Strafe zur Abschreckung und als Erziehungsmittel Die informelle Kriminalitätskontrolle Wiedergutmachung als kreative Persönlichkeits- und Sozialleistung Das soziale Wiedereingliederungsmodell Ausgleichs- und Schlichtungsverfahren Wiedergutmachung in der Gemeinschaft Wiedergutmachung in der Strafanstalt Beteiligung der Gesellschaft am Strafvollzug Strafvollzug als ständiger Weiterentwicklungsprozeß Strafvollzug als moderne Dienstleistungsorganisation
Im Blickpunkt: Strafvollzugspsychologie und -Soziologie
Sachregister
338 338 338 340 340 342 343 345 346 347 348 353 354 355 351
357
Abkürzungsverzeichnis und Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
a.A. a.D. AIDS Annales Aufl. bes. BGBl. BRD BritJournCrim. Col. Conn. D.C. D.Crim. DDR d.h. e.V. f. ff. H. HdK
Hrsg. IKV III. JGG JournCrim. JResCrimDel. JURA Kalif. KBZ Iat. Mass. MschrKrim. m.w.N. N.J. No., Nr. NRW
anderer Ansicht auBer Dienst Acquired Immune Deficiency Syndrome Annales Internationale de Criminologie Auflage besonders Bundesgesetzblatt Bundesrepublik Deutschland British Journal of Criminology Colorado, Staat der USA Connecticut, Staat der USA District of Columbia, Bundesbezirk der Vereinigten Staaten Doktor der Kriminologie, akademischer Titel in den Vereinigten Staaten Deutsche Demokratische Republik (1949 - 1990) das heißt eingetragener Verein folgende fortfolgende Heft Rudolf Sieverts, Hans Joachim Schneider (Hrsg.): Handwörterbuch der Kriminologie. 2. Aufl., 5 Bände. Berlin-New York 1966, 1975, 1977, 1979, 1983, 1991 Herausgeber Internationale Kriminalistische Vereinigung Illinois, Staat der USA Jugendgerichtsgesetz Journal of Criminal Law and Criminology Journal of Research in Crime and Delinquency Juristische Ausbildung Kalifornien, Staat der USA Kriminalitätsbelastungszahl lateinisch Massachusetts, Staat der USA Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform mit weiteren Nachweisen New Jersey, Staat der USA Nummer Land Nordrhein-Westfalen
XVI
Abkiirzungs Verzeichnis
N.Y. Pa. qkm
New York, Staat der USA Pennsylvania, Staat der USA Quadratkilometer
RICO
Racketeer Influenced and Corrupt Organizations Statute Seite(n) siehe siehe auch Sturmabteilung (nationalsozialistische Terrororganisation) Hans Joachim Schneider (Hrsg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band XIV: Auswirkungen auf die Kriminologie. Zürich 1981. Hans Joachim Schneider (Hrsg.): Kriminalität und abweichendes Verhalten. 2 Bände. Weinheim-Basel 1983. Schutzstaffel (kriminelle Terrororganisation der Nationalsozialisten) Strafgesetzbuch Trinitrotoluol unter anderem, und andere United Nations United Nations Asia and Far East Institute for the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders, das Institut der Vereinten Nationen in Asien und dem Fernen Osten für die Verbrechensverhütung und die Behandlung des Rechtsbrechers United States United States of America vergleiche
S. s. s.a. SA Schneider: Psychologie 1981 Schneider: Kriminalität 1983 SS StGB TNT u.a. UN UNAFEI
US USA vgl.
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xxxm
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1. Kapitel: Kriminologie und Kriminalität
1. Abschnitt: Kriminologie als Human- und Sozialwissenschaft I. Definition, Gegenstände und Aufgaben Die Kriminologie ist eine Human- und Sozialwissenschaft. Denn sie befaßt sich mit Einzelmenschen (ζ. B. Tätern, Opfern, Polizisten), aber auch mit der Gesellschaft und ihren Gruppen (ζ. B. mit der Familie, der Jugend und ihren Gruppen, der Wirtschaft, der Kriminaljustiz). Die Bezeichnung Kriminologie ist von dem italienischen Rechtsprofessor Raffaele Garofalo geprägt worden, der im Jahre 1885 ein Buch zum ersten Mal mit diesem Begriff (in Italienisch: Criminologia) benannte. Der französische Anthropologe Paul Topinard verwandte die Bezeichnung erstmalig im Jahre 1887 im Französischen (Criminologie). Die gebräuchlichste und am weitesten akzeptierte Definition der Kriminologie stammt von den nordamerikanischen Kriminologen Edwin H. Sutherland und Donald R. Cressey (1978, 3): Kriminologie ist die Gesamtheit des Wissens über Jugenddelinquenz und Erwachsenenkriminalität als soziale Phänomene. Ihr Bereich umfaßt die Prozesse der Gesetzgebung, der Gesetzesverletzung und der Reaktion auf Gesetzesverletzung. Diese Prozesse bilden drei Aspekte einer Abfolge von Interaktionen. Bestimmte Handlungen, die als unerwünscht gelten, werden durch die politische Gesellschaft als Delikte definiert. Trotz dieser Definitionen fahren einige Menschen in diesem Verhalten fort und begehen auf diese Weise Verbrechen. Die politische Gesellschaft reagiert mit Strafe, Behandlung oder Vorbeugung. Sutherland und Cressey sehen ihre drei wesentlichen Dimensionen: Gesetzgebung, Gesetzesverletzung und Reaktion auf Gesetzesverletzung in einem Interaktionsprozeß, also dynamisch verbunden. Das ist ein Vorteil. In ihrer Begriffsbestimmung kommen indessen Rechtsbrecher, Verbrechensopfer und Sozialabweichung (Verletzung von Verhaltensnormen) zu kurz. Bei der Reaktion auf die Gesetzesverletzung ist weiterhin nicht klargestellt, daß es sich nicht nur um soziale Kontrolle im positiven Sinne, sondern auch um verfehlte Reaktion auf Verbrechen handeln kann, die
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Kriminologie und Kriminalität
im Sinne der sekundären Kriminalisierung verbrechenserhaltend und -verstärkend und im Sinne der sekundären Viktimisierung erneut opferschädigend und -verletzend zu wirken vermag. Unter sekundärer Kriminalisierung versteht man nämlich die Kriminalitätsverursachung durch ungeeignete, schädliche Reaktion auf Kriminalität. Sekundäre Viktimisierung ist die Schädigung, die dem Opfer durch die unangemessene Reaktion auf seine Primärviktimisierung entsteht. Kriminologie ist die Human- und Sozialwissenschaft, die individuelle und gesellschaftliche Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozesse, ζ. B. Gesetzgebung, Gesetzesverletzung und Reaktion auf Gesetzesverletzung, theoretisch und empirisch erforscht und die ihre Erkenntnisse als Empfehlungen an Gesetzgeber und -anwender weitergibt. Ihre Gegenstände umfassen folgende Prozesse: — die Gesetzgebung, — das Verbrechen als Einzelphänomen und die Kriminalität als eine massenhafte Erscheinung in der Gesellschaft, — die Jugenddelinquenz, die Begehung von Straftaten durch Kinder, Jugendliche und Heranwachsende, — die Sozialabweichung, die Verletzung von Verhaltensnormen, — den Rechtsbrecher, seine psychische und soziale Persönlichkeitsdynamik, seine kriminelle Karriere und seine Behandlung, — das Verbrechensopfer, seine psychische und soziale Persönlichkeitsdynamik, seine viktimelle Karriere und seine Behandlung, — die Reaktion auf Erwachsenenkriminalität, Jugenddelinquenz und Sozialabweichung, und zwar — die informelle Sozialkontrolle durch soziale Gruppen, — die formelle Sozialkontrolle durch die Kriminaljustiz und — die sekundäre Sozialabweichung, Kriminalisierung und Viktimisierung durch verfehlte Reaktionen auf Primärabweichung, -kriminalisierung und -viktimisierung. Diese Prozesse beeinflussen sich gegenseitig und bilden als individuelle und gesellschaftliche Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozesse Abfolgen von Interaktionen. Die informelle Sozialkontrolle zielt hierbei auf die Einhaltung von Verhaltensnormen ab. Sie wird von staatlich nicht beauftragten sozialen Gruppen (ζ. B. der Familie) ausgeübt und bedient sich informeller Sanktionen, ζ. B. Spott, Kritik, Ausschluß aus der Gemeinschaft. Die formelle Sozialkontrolle zielt auf die Einhaltung von
Kriminologie als Human- und Sozialwissenschaft
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Strafgesetznormen ab. Sie wird von der staatlich beauftragten Kriminaljustiz ausgeübt und bedient sich formeller Sanktionen, ζ. B. Strafen, Maßregeln der Besserung und Sicherung. Die Kriminologie verfolgt die Zielsetzungen, den Umfang, die Struktur, die Erscheinungsformen, die Entwicklung und die Verteilung der Erwachsenenkriminalität, der Jugenddelinquenz und der Sozialabweichung, zu ermitteln (Kriminalphänomenologie) und die Ursachen der Erwachsenenkriminalität, der Jugenddelinquenz und der Sozialabweichung theoretisch und empirisch zu erforschen (Kriminalätiologie). Ihr obliegt schließlich die Aufgabe, Konzepte zur Vorbeugung und Kontrolle der Erwachsenenkriminalität, der Jugenddelinquenz und der Sozialabweichung (Kriminalprophylaxe) zu entwickeln (Brunen Holyst 1989, 27/8).
II. Autonomie, Interdisziplinarität, Wissenschaftlichkeit und Internationalität Die Kriminologie ist eine eigenständige interdisziplinäre Wissenschaft (Antonio Garcia-Pablos de Molina 1992, 24/5; 1988, 51/2; Luis Rodriguez Manzanero 1989, 39/40). Denn sie besitzt eine eigene Geschichte, eigene Methoden, weltweit eigene Zeitschriften, eigene Lehr- und Handbücher, eigene Institute und Organisationen. Die Kriminologie ist keine „Hilfswissenschaft" des Strafrechts oder der Soziologie. Sie besteht nicht nur in der Anwendung sozial wissenschaftlicher Methoden (z. B. des Interviews oder psychodiagnostischer Testverfahren) auf Rechtsbrecher, Verbrechensopfer, Polizisten, Strafrichter und Strafvollzugsbedienstete. Sie hat vielmehr die sozialwissenschaftlichen Methoden für eigene Zwecke so sehr verselbständigt, daß man von eigenständigen Methoden sprechen kann. Zur Kriminologie haben Wissenschaftler vieler Disziplinen beigetragen: Psychiater, Juristen, Soziologen, Psychologen, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler, Sozialpädagogen, neuerdings auch Historiker, Geographen und Architekten. Ihre Anregungen und Meinungen sind willkommen und werden begrüßt. Gleichwohl kommt es nicht nur auf die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern verschiedener Wissenschaftsbereiche (Multidisziplinarität) an. Die eigenständige kriminologische Perspektive (Interdisziplinarität) kommt vielmehr immer dann zum Vorschein, wenn die Beiträge der unterschiedlichen Wissenschaftsbereiche ineinander über-
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gehen. Das setzt voraus, daß die am Team beteiligten Wissenschaftler nicht nur von den Wissenschaftsbereichen anderer beteiligter Wissenschaftler etwas verstehen, sondern daß sie ein gutes Stück an Selbständigkeit ihrer eigenen Wissenschaft aufgeben und durch Integration der Beiträge aller beteiligten Wissenschaftsbereiche eine eigenständige kriminologische Perspektive entwickeln (C. Ray Jeffery 1990, 17-21; Harry E. Allen, Paul C. Friday, Julian B. Roebuck, Edward Sagarin 1981, 23; Marvin E. Wolfgang, Franco Ferracuti 1967, 2/3). Es geht hier nicht um Prestigedenken von Wissenschaftsgebieten, sondern darum, daß die Kriminalitätsprobleme moderner Gesellschaften nur durch kriminologische Interdisziplinarität gelöst werden können. Die Kriminologie ist eine empirische Wissenschaft (Martin Killias 1991, 23-30). Denn sie richtet ihre Erkenntnisse an der Erfahrung aus. Tatsachen können nicht einfach behauptet werden; mit ihnen darf man nicht nur spekulieren. Vielmehr müssen sie sich der Überprüfung durch wissenschaftlich zuverlässige Methoden unterziehen. Die Objektivität wissenschaftlicher Sätze liegt — nach Karl R. Popper (1989, 18) — indessen darin, daß sie intersubjektiv nachprüfbar sein müssen. Die kriminologischen Theorien müssen nicht nur empirisch begründet werden. Die empirisch-kriminologischen Untersuchungen unterliegen vielmehr — insbesondere in methodischer Hinsicht — wechselseitiger rationaler Kontrolle durch kritische Diskussion der Kriminologen auf internationaler Basis. Es ist für eine an den Tatsachen, an der Erfahrung ausgerichtete Kriminologie äußerst schwer, wissenschaftliche Objektivität zu erreichen. Zu viele Interessen stehen auf dem Spiel. Die Kriminologie soll sich auf die Seite des Täters (Howard S. Becker 1967; Nils Christie 1971, 140-145), des Opfers (Kurt Weis 1982) oder der Gesellschaft stellen. Kriminologische Forschungsergebnisse haben politische Auswirkungen. Gerade deshalb sollte sich die Kriminologie um möglichst unparteiische, unvoreingenommene Analysen, um wissenschaftliche Objektivität bemühen (Günther Kaiser 1988a, 94), wenn auch eine „wertfreie Neutralität" äußerst schwer erreichbar und vielleicht nicht einmal wünschbar erscheint (Arnold Binder, Gilbert Geis 1983, 17). Die Kriminologie strebt nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie erzählt keineswegs nur Begebenheiten, die sie nach den Kriterien der Kuriosität und der Merkwürdigkeit auswählt. Sie unterscheidet sich hierin von der „anekdotischen Kriminologie", der es nicht um die Herausarbeitung von Gesetzmäßigkeiten zum Zwecke der Verbrechensvorbeugung und der
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Behandlung des Rechtsbrechers und des Verbrechensopfers geht, sondern die vielmehr auf die Ausschmückung kurioser Einzelheiten spektakulärer Einzelfálle abzielt, die sie erzählt, um die Bevölkerung zu unterhalten. Gegen die anekdotische Kriminologie ist an sich nichts einzuwenden, wenn sie nicht durch Unrichtigkeiten nach Sensation strebt. Sie muß sich allerdings ihrer beschränkten Zielsetzung bewußt bleiben. Sie darf sich nicht den Anschein wissenschaftlicher Erkenntnis geben, der Kritiker der Kriminologie zu der Überzeugung verleiten könnte, die Kriminologie strebe wissenschaftliche Erkenntnis gar nicht an oder sie sei dazu außerstande. Um ihrer Glaubwürdigkeit willen muß sich die wissenschaftliche Kriminologie von der anekdotischen abgrenzen. Empirisch-kriminologische Untersuchungen sind kostspielig, personalintensiv und zeitaufwendig. Viele hochqualifizierte Spezialisten müssen jahrelang tätig sein, um Forschungsergebnisse zu erarbeiten, die — im Grunde genommen — nur für den Raum und für die Zeit gültig sind, in denen sie erhoben worden sind, und die wegen des schnellen sozialen Wandels bereits zu dem Zeitpunkt überholt sein können, in dem sie erzielt worden sind. Die Kriminologie ist deshalb eine internationale Wissenschaft (Raymond Gassin 1988, 32), zumal sich auch die Erscheinungsformen und Ursachen der Kriminalität — nicht zuletzt wegen der enormen Verbesserung der Verkehrsverbindungen — international einander immer mehr angleichen. Ein weiterer Grund kommt hinzu, der für die Internationalität der Kriminologie spricht: Wenn man den Umfang, die Erscheinungsformen und die Entwicklung der Kriminalität, der Delinquenz und der Sozialabweichung in der Bundesrepublik beurteilen will, muß man sie in einen internationalen Zusammenhang stellen. Sonst besitzt man keinen Maßstab. Wenn man Erscheinungen wie die politische, die WirtschaftsKriminalität oder das organisierte Verbrechen darstellen will, so kann man das wegen der internationalen politischen und wirtschaftlichen Verflechtung nicht tun, ohne ausländische kriminologische Erkenntnisse maßgeblich zu berücksichtigen.
III. Vorurteile und Tabus In der Gesellschaft reagiert man auf Kriminalität, Delinquenz und Sozialabweichung häufig irrational, moralisierend und gefühlsmäßig. Es haben sich Klischees, Stereotype, Vorurteile über Kriminalität, Straftäter, Ver-
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brechensopfer und auch über die Kriminologie und die Kriminologen gebildet: — Die Gesellschaft beurteilt die Straftäter als Fremd- und Außengruppe, die es nur zu fassen gilt. Dann ist das Kriminalitätsproblem schon gelöst. Diese falsche Beurteilung überträgt sich auch auf die Kriminologie, die als Kriminalistik mißverstanden wird, die sich mit der Aufklärung der Tat und der Überführung des Rechtsbrechers beschäftigt. Versucht die Kriminologie den Umfang, die Erscheinungsformen, die Entwicklung und die Ursachen der Kriminalität und Sozialabweichung rational verständlich zu machen und vernünftige Reaktionen auf Kriminalität und Sozialabweichung zu empfehlen, so wird sie als „Entschuldigungswissenschaft" herabgesetzt und in Verruf gebracht. — Sind die schweren Straftaten, ζ. B. Gewaltverbrechen, in der Wirklichkeit seltene Erscheinungen, so ist die Phantasie über solche Verbrechen ein ubiquitäres, überall verbreitetes Phänomen. Journalisten nehmen sich der Darstellung „merkwürdiger" Kriminalfälle an. Die Gesellschaft unterhält sich mit der Diskussion solcher Straftaten, die ihr rätselhaft erscheinen. Das Bild, das sie sich von der Kriminalität macht, überträgt sie auch auf die Kriminologie, die als „unseriöse Sensationswissenschaft" abgetan wird. — Für die Praktiker der Strafrechtspflege stehen verständlicherweise die Aufgaben im Vordergrund, die sie zu erfüllen haben. Die Kriminalpolizei muß die Tat aufklären und den Täter überführen. Das Strafgericht muß den Angeklagten im rechtsstaatlich einwandfreien Strafverfahren strafrechtlich richtig beurteilen. Der Strafvollzug muß die Freiheitsstrafe am Strafgefangenen in ordnungsgemäßer und sicherer Art und Weise vollziehen. Sie alle neigen dazu, die Kriminologie als Wissenschaft zu sehen, die sich von der konkreten Wirklichkeit, wie sie sie zu bewältigen haben, zu weit entfernt hat. Für die wichtigen Fragen der Beweiserhebung und -Würdigung, der Strafauswahl und -zumessung gibt man sich mit den Prinzipien der praktischen „Lebenserfahrung" und „Menschenkenntnis" zufrieden, die wissenschaftlich nicht abgesichert sind und die zu oft nur gesellschaftliche Stereotype darstellen. Der Vorwurf der „Praxisferne des kriminologischen Theoretikers" ist nicht gerechtfertigt, weil die Kriminologie die Aufgabe hat, die sozialen und psychischen Zusammenhänge der Kriminalität und der Sozialabweichung mit wissenschaftlichen Methoden zu erforschen. Sie kann die praktischen Fragen der Strafrechtspflege deshalb nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar beantworten. Alle ihre empi-
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rischen Forschungen und theoretischen Diskussionen sind freilich vor allem darauf ausgerichtet, der Kriminaljustiz Hilfe zu leisten. Die Kriminologie hat häufig Fragestellungen zu analysieren, die in der Gesellschaft affektiv und emotional besetzt und deshalb tabuisiert sind. Tabus ziehen Beschränkungen und Verbote nach sich, bestimmte Fragen zu stellen und bestimmte Gedanken zu äußern. Wissenschaft und Tabu ist ein Widerspruch in sich. Eine Wissenschaft, die sich durch Tabus beeinflussen läßt, ist wert- und sinnlos. Forschung gedeiht nur in einer Atmosphäre intellektueller Freiheit. Wahrheiten können und dürfen nicht für immer unterdrückt werden. Freilich führt man häufig ins Feld, daß es gerade im Hinblick auf die Kriminalität und Sozialabweichung „gefahrliche" Gedanken und Ideen gibt, die Kriminalität vorzubereiten und zu rechtfertigen geeignet sind. Es ist einerseits richtig, daß Gedanken und Ideen gefährliche Folgen in der Wirklichkeit haben können. Andererseits versucht man häufig mit dem Argument, es handele sich um „gefährliche" Gedanken, Tabus aufzurichten und durchzusetzen. Die Gefährlichkeit von Gedanken muß durch Argumentation deutlich gemacht werden. Denn vor allem das Unterdrücken von Gedanken ist gefährlich. Nicht nur Journalisten erschweren durch Appelle an das Gefühl mitunter den kriminologischen Forschungsprozeß. Kriminologen selbst können durch unangemessene Empörung über Gedanken ihrer Kollegen zu deren Tabuisierung beitragen. Wenig abgehandelt werden Fragen der Sexualkriminalität, weil sie allzu stark den menschlichen Intimbereich berühren. Die Probleme der Mitverursachung des Verbrechens durch das Opfer sind stark tabuisiert. Mit dem häufig zitierten Wort von der „Opferbeschuldigung" tut man in der Kriminologie ganze Kategorien der Forschung einfach ab. Sehr umstritten sind auch Fragen der Abtreibung. Die Abhandlung der politischen und der Wirtschafts-Kriminalität wird gemieden, weil staatlich und wirtschaftlich Mächtige häufig die Täter sind, die Definitions- und Stigmatisationsmacht besitzen.
IV. Abgrenzungen Rechtsmedizin, forensische (von Forum, lat.: Versammlungsplatz, Gericht) Psychiatrie, Rechtspsychologie und Rechtssoziologie sind der Kriminologie verwandte Wissenschaften. Die Rechtsmedizin wendet zur Klärung
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von Rechtsfragen, die für die Strafrechtsanwendung, insbesondere die Urteilsfindung, bedeutsam sind, medizinische Methoden an. Sie befaßt sich beispielsweise mit der Todes-, Todesursachen- und Todeszeitfeststellung, mit Spermen- und Blutalkoholuntersuchungen. Der forensischen Psychiatrie geht es um die tatsächlichen und möglichen Auswirkungen psychischer Krankheiten und Abnormitäten in den verschiedenen Bereichen der Rechtsordnung. Sie widmet sich vor allem der Persönlichkeitserforschung des psychisch kranken oder abnormen Rechtsbrechers, insbesondere im Rahmen der Begutachtung seiner Schuldfahigkeit (§§ 20, 21 StGB) und seiner Behandlung ( Wilfried Rasch 1986). Die Rechtspsychologie behandelt alle psychologischen Fragen, die mit der gesamten Gerichtspraxis zusammenhängen. So ist es beispielsweise ihre Aufgabe, die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen und die Verantwortungsreife (§§ 3, 105 JGG) des jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten zu begutachten (Harry Dettenborn, Hans-H. Fröhlich, Hans Szewczyk 1984). Die Rechtssoziologie bearbeitet Fragen der Rechtstatsachenforschung, der sozialen Wirklichkeit des Rechts: Aufgabe des Rechts innerhalb der Gesellschaft, Analyse von Verhaltens- und Rechtsnormen, Einfluß sozialer Prozesse auf das Recht und Wirkung von Rechtsnormen auf soziale Prozesse (Niklas Luhmann 1983). Als Kriminalwissenschaften sind die Kriminologie, eine Seinswissenschaft, und das Strafrecht, eine Sollenswissenschaft, historisch eng miteinander verbunden. Denn viele Kriminologen waren und sind auch Strafrechtler. Der Strafrechtler ist Dogmatiker, Systemdenker, der Kriminologe Zetetiker, Problemdenker. Das Strafrecht grenzt die Strafrechtsnormen voneinander ab, es legt sie aus, und es wendet sie an, indem es Lebenssachverhalte unter die Strafrechtsnormen subsumiert. Der Kriminologie geht es darum, kriminelles Verhalten zu verstehen, um ihm vorzubeugen. Das Strafrecht hat die Aufgabe, individuelle Schuld festzustellen, um den Rechtsbrecher zu bestrafen. Sorgt das materielle Strafrecht dafür, daß die Reaktion des Staates auf Kriminalität überhaupt und in rechtsstaatlicher Weise durchgesetzt wird, so ist es Aufgabe des formellen Strafrechts oder des Strafverfahrensrechts, daß dies in einer geordneten und rechtsstaatlichen Form geschieht. Daß im Strafverfahren der „wahre" Sachverhalt ermittelt wird, ist auch Sache der Kriminologie, die die Sozio- und Psychodynamik, also die sachlichen Grundlagen des Strafverfahrens, erforscht und die den tatsächlichen Prozeß der richterlichen Beweiswürdigung und Urteilsfindung — einschließlich der richterlichen Strafzumessung — kri-
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tisch analysiert. Fehlurteile kommen nämlich vor allem aufgrund falscher Tatsachenbewertung und nicht so sehr aufgrund verfehlter Strafrechtsauslegung zustande. Das Strafverfahrensrecht legt das Eingriffsrecht der Strafverfolgungsbehörden und die Grenzen dieses Eingriffsrechts zum Schutze der Freiheit des einzelnen fest.
2. Abschnitt: Epochen der Kriminologiegeschichte 1. Drei Epochen: Überblick In der Geschichte der Kriminologie kann man drei Epochen unterscheiden: die Klassische Schule des 18. Jahrhunderts, die Positivistische Schule zu Ende des 19. Jahrhunderts und die neuzeitliche Kriminologie der Mitte des 20. Jahrhunderts. Neben diesen Epochen und um sie herum haben sich zwar kriminalpsychologische und kriminalsoziologische Strömungen innerhalb der Kriminologie darum bemüht, die kriminelle Persönlichkeit zu erforschen und die Kriminalitätsursachen in der Gesellschaft zu erkunden (vgl. hierzu Hans Joachim Schneider 1987a, 90-141). Sie haben aber nicht so maßgeblichen Einfluß auf die heutige Gestalt der Kriminologie auszuüben vermocht wie gerade die drei genannten Epochen. Nach der Klassischen Schule des 18. Jahrhunderts sind Intelligenz und Vernunft die grundlegenden Kennzeichen des Menschen; sie sind die Basis der Erklärung seines individuellen und sozialen Verhaltens. Der Mensch kontrolliert sein eigenes Schicksal; er hat einen freien Willen. Die vernunftbestimmte Antwort der Gesellschaft auf das Verbrechen besteht in der Erhöhung der Kosten für seine Begehung und in der Verminderung seines Nutzens. Das so vor die Wahl gestellte Individuum wird sich in vernünftiger Weise konform verhalten. Die Positivistische Schule zu Ende des 19. Jahrhunderts teilt diesen Optimismus nicht: Menschliches Verhalten wird von körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren bestimmt, die nicht seiner Kontrolle unterliegen. Es ist die Aufgabe der Kriminologie, die physischen, psychischen und sozialen Merkmale des Rechtsbrechers empirisch zu untersuchen. Die Positivisten wollten Menschen wohlwollend zur Tugend, zu beruflichen Fähigkeiten und zur sozialen Disziplin zwingen. Blickt die Klassische Schule auf die Tat, in die Vergangenheit und auf die Schuld, so richtet die Positivistische Schule ihre Aufmerksamkeit auf den Täter, seine Zukunft und seine Ge-
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fährlichkeit. Ist die Klassische Schule rechtsstaatsorientiert, so ist die Positivistische Schule behandlungsorientiert. Die moderne Schule der Kriminologie der Mitte des 20. Jahrhunderts hat mit der Reaktion auf Sozialabweichung und Kriminalität neue Dimensionen erschlossen: das Verbrechensopfer und die Sozialkontrolle. Es wird nicht mehr nur in statischer Weise nach den Ursachen des Verbrechens gefragt. Die Kriminalitätsverursachung wird vielmehr als Sozialprozeß verstanden, an dem Täter, Opfer und Gesellschaft beteiligt sind. Gleichzeitig werden auch die Sozialprozesse untersucht, durch die Verhalten und Personen als kriminell definiert werden. Insofern interessiert sich die moderne Kriminologie nicht nur für das Verhalten von Personen, die von anderen als kriminell definiert werden, sondern auch für das Verhalten von Personen, die andere als kriminell definieren (ζ. B. Polizei, Gericht und Strafvollzug). Die moderne Kriminologie hat das Verbrechensopfer und die informelle und formelle Sozialkontrolle entdeckt, die nicht nur in ihrer kriminalitätsverhütenden Aufgabe gesehen, sondern auch in ihrer verbrechenserhaltenden und -fördernden Funktion kritisch beurteilt werden. Moderne Kriminologen verstehen „Kriminalität" und „Krimineller" als Benennungen, die auf Verhalten und Personen angewandt werden. Sie sehen auch ihre Zielsetzung darin, die Sozialprozesse zu analysieren, durch die von solchen Etikettierungen Gebrauch gemacht wird.
IL Die Klassische Schule im 18. Jahrhundert Im Jahre 1764 veröffentlichte der damals noch nicht 26jährige italienische Jurist Cesare Beccaria (1738 - 1794) ein schmales Bändchen unter dem Titel „Dei Delitti e delle Pene" (Über Verbrechen und Strafe), das ihn über Nacht weltbekannt machte, das in kürzester Zeit ins Französische, Englische, Deutsche, Holländische, Polnische, Spanische, Russische und Griechische übersetzt wurde und das mehr als 60 Auflagen erlebte. Beccaria stand unter dem geistigen Einfluß der Aufklärung. Jean-Jacques Rousseau (1712 - 1778), Charles de Montesquieu (1689 - 1755) und Francois-Marie Arouet (Voltaire) (1694 - 1778) waren seine philosophischen Vorbilder. Er war selbst überrascht von seinem frühen Bucherfolg, den er nicht mehr zu wiederholen vermochte. Denn er hatte eigentlich nichts Neues und nichts grundlegend Originelles gesagt, nichts, was nicht schon bekannt gewesen wäre.
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Fenster zur Welt: Kriminalpolitik für Europa und die Welt Im Herbst 1992 kamen kriminologische Experten aus Japan und aus den Entwicklungsländern Asiens, des Fernen Ostens, Afrikas und Lateinamerikas im „Asiatischen und Fernöstlichen Institut der Vereinten Nationen für Verbrechensverhütung und Behandlung des Rechtsbrechers" in Fuchu bei Tokio zusammen, um nach wirksamen Methoden der Kontrolle des organisierten Verbrechens zu forschen. Zum Netz der regionalen Ausbildungs- und Forschungsinstitute der Vereinten Nationen zählen - neben dem Asiatischen und Fernöstlichen Institut - Institute zur Verbrechensverhütung und Behandlung des Rechtsbrechers in San José, Costa Rica (für Lateinamerika), in Helsinki, Finnland (fiir Europa), in Kampala, Uganda (für Afrika) und in Riad, Saudi-Arabien (für die islamischen Länder). Ein kriminologisches Forschungsinstitut für die Welt unterhalten die Vereinten Nationen in Rom. Die Arbeit aller dieser Institute wird von der Abteilung für Verbrechensverhütung und Kriminaljustiz des Generalsekretariats der Vereinten Nationen geleitet, die im Zentrum der Vereinten Nationen in Wien ihren Sitz hat. Zusammen mit dem Komitee für Verbrechensverhütung und -kontrolle der Vereinten Nationen bereitet diese Abteilung die internationalen Kongresse vor, die zum Zwecke des Austausche von Kenntnissen und Erfahrungen und der internationalen Zusammenarbeit auf kriminologischem Gebiet alle fünf Jahre in verschiedenen Teilen der Welt stattfinden. Die regionalen Institute und die internationalen Kongresse der Vereinten Nationen bieten ein weltweites Forum zur Entwicklung einer Kriminalpolitik für die Welt. Die Resolutionen der Vereinten Nationen haben zwar nur den Charakter von Empfehlungen und Richtlinien. Sie stellen aber die Weltmeinung auf dem Gebiet der Verbrechensverhütung und -kontrolle dar. Die kriminologische Infrastruktur der Vereinten Nationen verschafft ihren Mitgliedsländern ferner alle fünf Jahre einen Über-
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blick über die Kriminalitätstrends in der Welt. Sie hat besonders auf dem Gebiet der Wahrung der Menschenrechte (ζ. B. Standard-Mindestgrundsätze für die Behandlung Strafgefangener, Deklarationen gegen die Folter und gegen die Todesstrafe) und auf dem Feld der Bekämpfung des Drogenhandels gearbeitet. Ein überregionaler Berater der Vereinten Nationen steht den Regierungen der Mitgliedsstaaten schließlich in fragen der Verbrechensverhütung und -kontrolle zur Verfügung. Das "Europäische Komitee für Kriminalitätsprobleme" läßt durch Unterausschüsse für den Ministerrat des Europarates in Strasbourg europäische Konventionen und Empfehlungen auf dem Gebiet der Verbrechensverhütung und der Behandlung des Rechtsbrechers entwerfen. Es bereitet die Konferenzen der Direktoren kriminologischer Forschungsinstitute und der Direktoren von Strafvollzugsverwaltungen sowie kriminologische Kolloquien vor, die dem Erfahrungsaustausch und der internationalen Zusammenarbeit dienen sollen. Ihm zur Seite steht in beratender Funktion der "Kriminologische Forschungsrat".
Will man die außerordentliche Wirkung verstehen, die Beccarias Buch in Europa und Nordamerika hatte, so ist es erforderlich, sich die Strafgerichtspraxis des 18. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen: Die Strafgesetze und ihre Anwendung waren grausam und unbestimmt. Korruption und Folter waren weit verbreitet. Todesstrafe und Körperstrafen wurden allenthalben angewandt. Gleichheit vor dem Gesetz war nicht verwirklicht. Zwischen Angeklagtem und Verurteiltem wurde kein Unterschied gemacht. In einigen Ländern Europas wurden immer noch Hexen gefoltert, verurteilt und verbrannt. Beccarias Buch war kurz, verständlich geschrieben und enthielt alle wesentlichen Gedanken zur Strafrechtsreform. Er verwandte klare Begriffe, begründete seine Empfehlungen mit logischen Argumenten und berichtete mit anspruchsloser Einfachheit und Genauigkeit. Gleichwohl erklären diese Vorzüge seines Buches seinen Erfolg noch nicht vollständig. Beccarias Buch traf auf eine Welt, die für seine Gedanken reif war. Er strebte das größte Glück einer möglichst großen Zahl von Menschen an. Er setzte sich für klare, einfache und genaue
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Strafgesetze ein. Er wandte sich gegen geheime Strafverfahren und gegen die Grausamkeit der Strafen. Er sprach den Menschen das Recht ab, mittels der Todesstrafe anderen Menschen das Leben zu nehmen. Die Abschaffung der barbarischen, grausamen Strafen wird dazu beitragen, daß die Menschen humaner und feinfühliger werden und daß sie weniger Verbrechen begehen. So argumentierte er. Nicht die Schwere der Strafandrohung, sondern die Bestimmtheit und Schnelligkeit, mit der die Strafe der Tat auf dem Fuße folgt, ist für ihre Wirksamkeit maßgebend. Ein Mensch ist so lange schuldlos, bis er vom Gericht verurteilt worden ist. Beccaria setzte sich dafür ein, daß Strafen notwendig waren, vom Strafgesetz angeordnet wurden und zur Straftat in einem vernünftigen Verhältnis standen und angemessen waren. Friedrich II. von Preußen, der 1740 die Folter abgeschafft hatte und den Beccaria „einen der weisesten Monarchen, einen Philosophen auf dem Thron" nannte, schrieb 1777 in einem Brief an Voltaire: Beccaria hat uns nichts zur Klärung übriggelassen. Wir haben nur dem zu folgen, was er geschrieben hat."
III. Die Positivistische Schule zu Ende des 19. Jahrhunderts Verdankt die moderne Kriminologie ihre Rechtsstaatsorientierung der Klassischen Schule, so ist ihr empirisches Methodenbewußtsein auf den Positivismus zurückzuführen, dessen geistiger Wegbereiter der französische Soziologe Auguste Comte (1798 - 1857) war. Positive Wissenschaft ist exakte Wissenschaft; sie ist methodisch kontrolliert; sie geht von empirischen Beobachtungen und Experimenten aus, und sie gelangt schließlich auf diesem Wege zur Erkenntnis allgemeingültiger Theorien. Die führenden Positivisten auf dem Gebiet der Kriminologie waren der italienische Gerichtsmediziner Cesare Lombroso (1835 - 1909) und die italienischen Juristen Raffaele Garofalo (1852 - 1934) und Enrico Ferri (1856 - 1929). Als Gefängnisarzt in Turin untersuchte Lombroso Tausende von Gefangenen klinisch und anthropologisch, indem er die Maßverhältnisse am menschlichen Körper exakt zu bestimmen versuchte; er nahm viele Leichenöffnungen vor. Sein zentrales Werk „L'Uomo delinquente" (Der kriminelle Mensch) erschien 1876 erstmalig. In unermüdlichem Fleiß arbeitete er an fünf Auflagen dieses Werkes.
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Lombrosos Theorie stützt sich auf vier Hauptaussagen: — Der Kriminelle unterscheidet sich vom Nichtkriminellen durch zahlreiche physische und psychische Anomalien. — Der Verbrecher ist eine Spielart der menschlichen Gattung, ein anthropologischer Typ, eine Entartungserscheinung. — Der Verbrecher ist ein Atavismus, eine „Rückartung" auf einen primitiven, untermenschlichen Typ eines Menschen. Verbrecher sind moderne „Wilde", körperliche und seelische Rückschläge in ein früheres Stadium der Menschheitsgeschichte, in phylogenetische Vergangenheit. Im Verbrecher treten physische und psychische Merkmale auf, die man entwicklungsgeschichtlich für überwunden glaubte. — Verbrechen vererbt sich; es entsteht aus einer kriminellen Anlage. Aus diesen Hauptaussagen wird der Einfluß deutlich, den Charles Robert Darwin (1809 - 1882) auf Lombroso ausgeübt hat. Darwin hat aufgrund sorgfältiger Beobachtungen 1859 einen Forschungsbericht über die „Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung begünstigter Rassen im Kampf ums Dasein" veröffentlicht. Er hat in diesem Werk seine Lehre von der ständigen Wandlung und Höherentwicklung der Arten dargelegt. Bereits Darwin stellte die Hypothese auf, daß es Menschen gäbe, die ihren primitiven Ahnen näherstünden als andere. Das Konzept des „natürlichen Verbrechens" entwickelte Garofalo, der 1885 zum ersten Mal ein Buch unter dem Titel „Kriminologie" veröffentlichte. Er verstand unter „natürlichem Verbrechen" die Verletzung des durchschnittlichen Maßes an Mitleid und Redlichkeit. Schließlich unterschied Ferri (1896, 125/6) zwischen organischen, psychischen und sozialen Einflüssen auf die Kriminalität, die er durch zahlreiche Faktoren (Mehrfaktorenansatz) verursacht sah. Er trat kriminalpolitisch für eine Abschaffung der Strafe und für eine individuelle Behandlung des Rechtsbrechers ein. Durch Maßnahmen sozialer Verteidigung sollte die Kriminalität nicht nur unmittelbar, sondern durch Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung auch mittelbar kontrolliert werden. Die Grundlehren von Lombroso, Garofalo und Ferri sind heute entweder überhaupt nicht mehr oder doch nur noch bedingt verwendbar. Gleichwohl kommt dem kriminologischen Positivismus das Verdienst zu, zum ersten Mal empirisches Methodenbewußtsein entwickelt und das Interesse auf die Verbrechensverhütung, auf die Persönlichkeit und auf die Behandlung des Rechtsbrechers gerichtet zu haben.
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IV. Die moderne Schule der Mitte des 20. Jahrhunderts Die neuzeitliche Kriminologie der Mitte des 20. Jahrhunderts ist durch die nordamerikanische Soziologie und Sozialpsychologie maßgeblich beeinflußt worden. Richtete der Positivismus sein Hauptaugenmerk auf den Rechtsbrecher, so wandte die Chikago-Schule von Clifford Shaw (1895 1957) und Henry D. McKay ihr Interesse auch sozialstrukturellen Ursachen der Kriminalität zu, und sie arbeitete heraus, daß Verbrechen in Sozialprozessen entstehen. Die Grundgedanken von Shaw und McKay stellen ebenso wie die Theorie von Edwin H. Sutherland (1883 - 1950), der kriminelles Verhalten als erlernt ansah, Anwendungen des sozialpsychologischen Systems dar, dem George Herbert Mead (1863 - 1931) den Weg gebahnt hat: Individuelles Verhalten und menschliches Bewußtsein können nur in Verbindung mit sozialen Prozessen hinreichend erfaßt werden. Für die Interaktionsprozesse zwischen Individuum und sozialer Umwelt sind Symbole von entscheidender Bedeutung. Im Sozialisationsprozeß werden Symbole verinnerlicht und Rollen gelernt. Menschen reagieren nicht nur auf die Handlungen anderer Menschen; sie interpretieren und definieren sie auch. Ihre Reaktionen gründen sich auf die Bedeutung", die sie ihren Reaktionen zumessen. Auf diese Weise wird menschliche Interaktion durch den Gebrauch von Symbolen, durch Interpretation, durch die Feststellung der Bedeutung der Handlungen anderer vermittelt. Zwischen Reiz und Reaktion wird im Falle menschlicher Interaktion eine Interpretation eingeschaltet, die etwas über die Bedeutung ihres jeweiligen Verhaltens für die Interaktionspartner aussagt. Bereits 1941 hatte Hans von Hentig auf die Interaktion zwischen Täter und Opfer aufmerksam gemacht. Er hat seine Ansicht später (1948, 436) verdeutlicht: „Das heimliche Einverständnis zwischen Täter und Opfer ist eine grundlegende Tatsache der Kriminologie. Natürlich gibt es keine Verständigung oder gar bewußte Teilhabe, aber eine Wechselbeziehung und einen Austausch verursachender Elemente." In seinem Konzept der Sekundärabweichung besitzt die soziale Reaktion für Edwin M. Lemert (1951) eine zentrale Bedeutung. Die Primärabweichung kann zahlreiche Ursachen haben. Der sekundär Abweichende ist indessen ein Mensch, dessen Leben und Identität von der Realität der Sozialabweichung, der Devianz, bestimmt wird. Im Jahre 1951 hat Lemert die Abfolge der Interaktion aufgezeigt, die zu sekundärer Sozialabweichung führt: primäre Sozialabweichung, soziales Strafen, weitere primäre Sozialabweichungen,
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stärkere Strafen und Zurückweisung, weitere Sozialabweichungen mit möglichen Feindseligkeiten und Ressentiments gegenüber den Strafenden, Toleranzkrise der Strafenden und Stigmatisation der Sozialabweichenden durch die Gesellschaft, verstärkte Sozialabweichung als Reaktion auf die Stigmatisation und die Bestrafung, endgültige Annahme des Status eines Sozialabweichenden und Anpassungsbemühungen auf der Grundlage der zugeordneten Rolle.
3. Abschnitt: Methoden der Kriminologie I. Der Prozeß der empirisch-kriminologischen Forschung Die kriminologischen Theorien müssen empirisch begründet werden; die empirisch-kriminologischen Untersuchungen müssen intersubjektiv nachprüfbar sein. Der Prozeß empirisch-kriminologischer Forschung kann folgendermaßen (Stephan Hurwitz, Karl O. Christiansen 1983, 10) beschrieben werden: Man geht von einer Theorie aus. Eine Theorie ist eine Wissenseinheit, in der in einem bestimmten Zusammenhang und mit bestimmten Grenzen eine Anzahl von Hypothesen über die Beziehungen und Wirkungen von Tatsachen zusammengefaßt sind. Aufgrund der Theorie formuliert man eine Hypothese, die eine Vermutung, eine vorläufige Unterstellung bildet. Eine Hypothese ist eine Aussage, mit der man versucht, in der sozialen Realität etwas Beobachtetes im Hinblick auf seine Ursache, seine Wirkung oder seinen Zusammenhang mit anderen Phänomenen zu erklären. Man legt eine Stichprobe, eine repräsentative Auswahl aus einer Grundgesamtheit, und die Forschungstechniken, ζ. B. Interview, biographische Methode, fest, mit denen man die Hypothese vorläufig verifizieren oder falsifizieren will. Man sammelt sodann die Daten und analysiert sie. Man ordnet die gefundenen Ergebnisse in die Theorie ein, von der man ausgegangen ist. In der Kriminologie kann man keine Hypothese ein für allemal beweisen; sie kann nur vorläufig gestützt werden (Karl Popper 1989, 8). Als Beispiele werden im folgenden fünf Forschungsstrategien vorgestellt.
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II. Vergleichende und historische Forschung Will man gesellschaftliche Prozesse der Kriminalitätsentstehung untersuchen, so kann man grundsätzlich zwei verschiedene Wege gehen: — Man kann einmal den Umfang, die Formen, die Entwicklung, die Verteilung der Kriminalität (objektive Sicherheitslage) und die Einstellung der Bevölkerung zum Verbrechen (subjektive Sicherheitslage) in zwei verschiedenen Gesellschaften der Gegenwart miteinander vergleichen. — Man kann ferner einen Vergleich der objektiven und subjektiven Sicherheitslage zwischen einer historischen Periode und der Gegenwart derselben Gesellschaft anstellen. Die Jugenddelinquenz in Indien und in den USA haben Clayton Α. Hartjen und S. Priyadarsini (1984) einander gegenübergestellt. Sie haben ihre empirischen Untersuchungen im indischen Staat Tamil Nadu, und zwar in dessen Hauptstadt Madras und in einem Dorf, durchgeführt. Sie stützen sich auf fünf Datenquellen. Sie befragten 517 Gymnasiasten und 306 Insassen von Erziehungsheimen, ob sie delinquente Handlungen begangen hätten. Sie interviewten 603 Erwachsene in Madras und 200 in dem von ihnen ausgewählten Dorf, um Meinungen, Kenntnisse und Einstellungen indischer Erwachsener zur Jugenddelinquenz zu erfahren. Sie befragten 25 indische Experten der Jugendstrafrechtspflege nach ihren Erfahrungen. Sie unterzogen drei Tageszeitungen, die in Madras erscheinen, der Inhaltsanalyse. Schließlich berücksichtigten sie die indische Kriminalstatistik. Sie kamen zu dem Ergebnis, daß Jugenddelinquenz in Indien kein so großes Problem wie in den Industrieländern ist. Hartjen und Priyadarsini erklären diesen Umstand folgendermaßen: In der westlichen Industriegesellschaft bildet die Jugend ein festgefügtes Subsystem, eine abgetrennte Altersgruppe, die vom Arbeitsmarkt und seinen Belohnungen ausgeschlossen und machtlos ist. Das Jugendalter ist eine abgrenzbare Lebensphase im Leben des Menschen (Jugendsubkultur). In dieser Phase muß sich der junge Mensch für das Leben als Erwachsener vorbereiten und lernen. Die Agrargesellschaft Indiens braucht demgegenüber ihre jungen Menschen als ungelernte Arbeiter. Kinder und Jugendliche sind ökonomisch nützlich. Junge Menschen sind in ein Netz von Rollenbeziehungen mit mannigfaltigen Verpflichtungen für ihre Familie eingeordnet; sie besitzen eine zwar niedrige, aber gesicherte Stellung in der Status-Macht-Hierarchie ihrer Familie und Unterkaste. Da Kinder und Jugendliche ständig mit
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Erwachsenen zusammen sind, finden sie ausreichend Rollenmodelle, mit denen sie sich identifizieren können, während dies in der abgetrennten Jugendsubkultur der Industrieländer nicht der Fall ist. Eine historisch-kriminologische Analyse hat Barbara A. Hanawalt (1979) vorgelegt. Sie sichtete 22 417 Gerichtsakten aus acht englischen Counties (Grafschaften), die im Zeitraum zwischen 1300 und 1348 angelegt worden waren. Sie kam zu den drei folgenden bemerkenswerten Ergebnissen: — In der Häufigkeit der Delikte befand sich nach Diebstahl und Einbruch die Tötungskriminalität an dritter Stelle mit 18,2 % Anteil an der Gesamtkriminalität. Im heutigen England macht sie weniger als 1 % der Gesamtkriminalität aus. Das Tabu gegen Eigentumsdelikte war im Mittelalter größer als das gegen Tötung. Während eines Krieges und nach einem Krieg stieg die Tötungskriminalität an, weil der Staat mit seiner Erlaubnis zum Töten von Feinden seinen Untergebenen ein schlechtes Vorbild gab. — Adel und Geistlichkeit waren verhältnismäßig stark an der Kriminalität, speziell an Gewaltverbrechen, ζ. B. am Raub von Wertsachen, beteiligt. Geistliche führten nicht selten Räuberbanden. Nicht wenige Adelige nutzten ihre Stellung als Krieger, örtliche Regierungsbeauftragte und Landeigentümer aus; sie benutzten ihre Privilegien für kriminelle Zwecke. Ihre Kriminalität kann als „Pelzkragenkriminalität" bezeichnet werden, weil sie vom König die Erlaubnis besaßen, Kragen mit Pelzbesatz zu tragen. Häufig waren Adelige in Strafvereitelung und Hehlerei verwickelt. Als Täter hinter dem Täter berieten und beschützten sie kriminelle Gefolgsleute, die für sie tätig waren. Von den Bauern, die ihnen untergeben waren, erpreßten sie Schutzgelder. Wegen ihres hohen Status entgingen sie meist der Bestrafung. — Die Verurteilungsrate war im Mittelalter gering. Weniger als ein Drittel der Angeklagten wurde verurteilt. Gründe hierfür liegen in der Schwere der Strafe (Todesstrafe für die meisten Delikte) und in dem negativen Einfluß zahlreicher krimineller Adeliger auf korrupte Richter. Weil die Gerichte in vielen leichten Fällen davor zurückschreckten, die Todesstrafe zu verhängen, kam es zu ungerechtfertigten Freisprüchen. Das Risiko, als Straftäter gefaßt und verurteilt zu werden, war im Mittelalter gering. Die Rechtsbrecher, die sich in den undurchdringlichen Wäldern verbergen wollten, hatten genug Zeit zur Flucht. Allerdings war das Leben in den Wäldern sehr hart.
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III. Biographische Forschung In der empirisch-kriminologischen Forschung bemüht sich die „Lebensbeschreibung", die biographische Methode, anhand persönlicher Dokumente (ζ. B. Autobiographien, Korrespondenzen) und Interviews (ζ. B. Bekenntnisse, Selbstanalysen) Einblicke in psychische Prozesse der Herausbildung und Beibehaltung von Einstellungen, in Meinungen und Verhaltensabläufe zu gewinnen. Die autobiographischen Materialien gewähren die Möglichkeit, die subjektive Seite der Wirklichkeit zu erkennen. Sie geben Aufschluß über den Interaktionsprozeß zwischen dem Straftäter und der sozialen Welt, in der er lebte, über seine Meinungen, über die soziale Situation, auf die er reagierte, und über den Ablauf der Erfahrungen und Erlebnisse im Leben des Rechtsbrechers. Die Erarbeitung der kriminellen Karriere hat den Vorteil, daß sie auf persönliche Eigenschaften und Eigenarten eingehen kann, die sich der objektiven Meßbarkeit entziehen (qualitative Studie). In der Kriminologie hat die biographische Methode eine gute Tradition. Die Lebensläufe delinquenter Jungen hat Clifford R. Shaw (1930, 1931) zusammen mit den delinquenten Jungen selbst herausgearbeitet. Die Studie über den Berufsdieb von Edwin H. Sutherland (1937) ist zum Vorbild für ähnliche biographische Untersuchungen in neuerer Zeit geworden. Zwei biographische Studien über jeweils einen Hehler haben Carl B. Klockars (1975) und Darrell J. Steffensmeier (1986) vorgelegt. Einen erfolgreichen Hehler beobachtete und befragte Klockars in seiner natürlichen Umgebung. Er interessierte sich für dessen Lebensgeschichte, Geschäftspraktiken und Selbstrechtfertigungen. Nach dem Durcharbeiten der gesamten bisher erschienenen Literatur zur Hehlerei bereitete sich Klockars für seine Untersuchung des Hehlers durch das Studium von Polizeiakten und die Befragung von Polizisten vor. Mit dem Hehler zusammen verbrachte er etwa vierhundert Stunden über einen Zeitraum von fünfzehn Monaten hinweg. Er sprach nicht nur mit ihm und stellte ihm Fragen, sondern er beobachtete auch seine Geschäfte, die er mit den Dieben und mit seinen Käufern machte. Er befragte seine Familienangehörigen und Freunde ebenfalls. Um die Réhabilitât (Zuverlässigkeit) und Validität (Gültigkeit) der Angaben des Hehlers zu überprüfen, interviewte er ihn über jeden Vorgang zweimal. Er ging seine gesamten Aufzeichnungen fünf bis sechs Monate nach dem ersten Durchgang ein zweites Mal durch. Über mehrere Jahre hinweg beobachtete Steffensmeier gleichfalls
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einen Hehler innerhalb und außerhalb der Strafanstalt. Er konzentrierte sich auf die Fragen, wie der Hehler zum Hehler wurde, in welches Netz sozialer Beziehungen er eingebettet war, wie er sich der Strafverfolgung entzog, warum er gleichwohl gefaßt und überfuhrt wurde und welchen Sinn er seiner Welt gab. Für die Art und Weise interessierte sich Steffensmeier, in der der Hehler mit Dieben und Käufern, mit anderen Hehlern, mit Menschen, die ihn bei der Hehlerei untersützten, mit Antiquitätenhändlern und -Sammlern und mit Bediensteten des Kriminaljustizsystems interagierte. Klockars und Steffensmeier kamen u. a. zu folgenden Ergebnissen: — Der Hehler lernt seine Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen. Er baut sich eine ständige Klientel auf, um regel- und routinemäßig gestohlenes Eigentum kaufen und verkaufen zu können. Es ist außerordentlich schwierig, den Kontakt zu Dieben aufzunehmen, die Waren von hohem Wert stehlen und dies relativ sicher tun. Noch schwerer sind die Aufnahme und die Aufrechterhaltung von Kontakten zu Händlern, denen der Hehler die gestohlenen Waren komplikationslos weiterverkaufen kann. — Ein Hehler kauft und verkauft legale und gestohlene Waren. Mit den legalen Waren tarnt er die entwendeten. Ein Hehler ist gleichzeitig ein Trödler, der beschädigte und unmoderne Waren kauft und verkauft, die im normalen Handel unverkäuflich geworden sind. Der wesentlichste Trick des Hehlers liegt darin, sein kriminelles Verhalten von seinen legalen Geschäftsaktivitäten nicht unterscheidbar zu machen. — Der Hehler rechtfertigt sein kriminelles Verhalten vor sich selbst und anderen in mannigfaltiger Art und Weise: „Ich bin ein Geschäftsmann. Ich habe nie in meinem Leben gestohlen. Man bietet mir entwendete Sachen an. Wenn ich sie nicht kaufe, tut es ein anderer. Das Kaufen und Verkaufen gestohlener Waren schädigt niemanden. Fast jeder ist heute versichert." Der Hehler verneint seine Verantwortlichkeit. Es kommen viele respektierte, geachtete Bürger, selbst Polizisten und Richter, zu ihm, um günstig einzukaufen. Die Wertschätzung, die diese Bürger genießen, verleiht dem Hehler selbst — in seinen Augen — sein persönliches Ansehen.
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IV. Kriminalphänomenologische
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Untersuchungen
Viele empirisch-kriminologische Studien beschränken sich darauf, die Erscheinungsformen des Verbrechens rein deskriptiv darzustellen. Es werden häufig Polizei- und Gerichtsakten benutzt, die allerdings nicht für wissenschaftliche Zwecke angelegt worden sind, die wenig Einblicke in die Ursachen der Kriminalität gewähren und die nur die bekanntgewordene Kriminalität erfassen. Diese kriminalphänomenologischen Untersuchungen vermitteln immerhin Einsichten in die räumliche Verteilung der Kriminalität in der Stadt, in die sozialen Hintergründe von Rechtsbrechern und Verbrechensopfern, in die Beziehungen zwischen Tätern und Opfern und in den Sozialprozeß, der zum Verbrechen führt. Die Erscheinungsformen der Tötungsdelikte hat Marvin E. Wolfgang (1958) in Philadelphia überprüft. Er hat die Akten der Mordkommission der Polizei in 588 Fällen mit 621 Tätern herangezogen. Die Tötungen waren in einem Zeitraum von fünf Jahren, zwischen dem 01.01.1949 und dem 31.12.1952, begangen worden. Wolfgang stellte fest, daß in 65 % seiner Fälle enge Täter-Opfer-Beziehungen vor der Tat bestanden hatten: enge Freundschaft, Familienzugehörigkeit, Liebschaft oder homosexuelle Partnerschaft. Verhältnismäßig enge Freundschaft (28 %) und Familienzugehörigkeit oder Verwandtschaft (25 %) bildeten die beiden häufigsten Beziehungen. Von 588 Fällen waren 150 (oder 26 %) durch das Opfer hervorgerufen. Es ist — nach Wolfgang — oft eine zum Getötetwerden neigende Person, d. h. jemand, der ständig in Situationen gebracht wird oder sich selbst in Situationen bringt, die gewaltsame körperliche Angriffe fördern. In vielen Fällen hat es dieselben persönlichen Merkmale wie der Täter. In einigen Fällen kommen zwei potentielle Täter in einer Tötungssituation zusammen, und es ist wahrscheinlich nur dem Zufall überlassen, wer Täter und wer Opfer wird. Die Forschungsdaten, die Wolfgang aus den Polizeiakten entnahm, konnten sich im wesentlichen nur auf beschreibende äußere Phänomene des Tathergangs, nicht aber auf die Ursachen der Tötungsdelikte beziehen. Denn die Polizeiakten werden nicht für wissenschaftliche Zwecke angelegt, und Polizeibeamte sind keine kriminologischen Forscher.
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V. Querschnittstudien Um die Ursachen der Kriminalität empirisch abzusichern, stellt man Gruppenvergleiche (quantitative Studien) an: Man vergleicht ζ. B. eine delinquente mit einer nichtdelinquenten Gruppe und ermittelt, welche Faktoren für die delinquente Gruppe charakteristisch sind. Einen der sorgfältigsten Gruppenvergleiche unternahmen Sheldon und Eleanor Glueck (1950), die 500 offiziell definierte (institutionalisierte) 11- bis 17jährige Delinquenten mit 500 gleichaltrigen („normalen") Nichtdelinquenten verglichen. Aufgrund der Durchsicht von Behördenakten, von Interviews, die Sozialarbeiter mit Familienmitgliedern führten, und aufgrund psychodiagnostischer Testverfahren der Delinquenten und der Nichtdelinquenten wurden die sozialen Umweltbedingungen, vor allem die Familienverhältnisse, und die Persönlichkeitsmerkmale der Jugendlichen aufgeklärt. Es wurde dann festgestellt, in welchen von 402 Merkmalen sich die Delinquenten von den Nichtdelinquenten signifikant unterschieden. Einen ähnlichen Forschungsansatz verfolgte die Tübinger JungtäterVergleichs-Untersuchung (Hans Göppinger 1983), deren Experimentalund Kontrollgruppe freilich kleiner war (jeweils 200 Probanden) und deren Probanden einer älteren Altersgruppe (20 bis 30 Jahre alt) angehörten. Die Glueckscbe Studie hat man in theoretischer wie methodischer Hinsicht kritisiert. Die beiden Haupteinwände gehen dahin, daß ihr keinerlei Theorie zugrunde liege und daß sie eine wesentliche methodische Verzerrung, nämlich die offizielle Definition der Delinquenten, enthalte. Beiden Einwänden versuchte Travis Hirschi (1969) in seiner Querschnittuntersuchung Rechnung zu tragen. Er übersetzte tiefenpsychologische Konzepte in empirisch nachprüfbare sozialpsychologische Begriffe und machte sie auf diese Weise operationalisierbar. Er untersuchte keine offiziell definierten Delinquenten, sondern Schüler(innen), nach deren Delinquenz er sie fragte, die er nach ihrem Selbstbericht (Delinquenz, Nichtdelinquenz) in zwei Gruppen teilte und die er dann miteinander verglich. Er entwickelte die Kontrolltheorie weiter, die in der mangelnden sozialen Bindung das wesentliche Kriterium für die Verursachung der Delinquenz sieht und die in den 70er und 80er Jahren zur weltweit am meisten zitierten und empirisch bestätigten Delinquenzverursachungstheorie geworden ist. Die Glueckschcn Originaldaten wurden erneut analysiert (John H. Laub, Robert J. Sampson 1988). Man fand heraus, daß die Familienpro-
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zeßvariablen, die Störungen der Familienfunktion die wichtigsten Vorhersagefaktoren für hartnäckige, schwere Jugenddelinquenz sind: mangelhafte Aufsicht der Mutter, fehlerhafter elterlicher Erziehungsstil und fehlende elterliche Zuneigung. Familienstrukturelle Hintergrundfaktoren, wie ζ. B. Unvollständigkeit der Familie, Arbeitslosigkeit des Vaters, sozioökonomischer Mangel, können den Familienprozeß empfindlich stören (und so indirekt Delinquenz hervorrufen), sie brauchen es aber nicht.
VI. Längsschnittuntersuchungen Während man mit der Querschnittuntersuchung die Ursachen für die Beteiligung an der Kriminalität herauszufinden versucht, geht es in der Längsschnittuntersuchung um die Feststellung der Ursachen der Häufigkeit und Intensität (Schwere) der Kriminalitätsbegehung. Man möchte den chronischen Rechtsbrecher in früher Kindheit und Jugend ermitteln, um durch freiwillige, helfende, nichtstigmatisierende Vorbeugungsprogramme einem Großteil der späteren schweren Rückfallkriminalität rechtzeitig zu begegnen. Es gibt die prospektive, vorausschauende Längsschnittuntersuchung, bei der die zu untersuchende Stichprobe von Probanden im voraus festgelegt wird, bevor die Ereignisse geschehen, für die man sich interessiert. Mit ihr kann man Ursache-Wirkungs-Mechanismen, Entwicklungsabläufe und die Effektivität von Interventionen des Kriminaljustizsystems besonders gut ermitteln. Von ihr zu unterscheiden ist die retrospektive, rückschauende Längsschnittuntersuchung, bei der die zu untersuchende Stichprobe von Probanden im nachhinein festgelegt wird, nachdem sich bereits die Geschehnisse ereignet haben, für die man sich interessiert. Diese Form der Längsschnittuntersuchung hat einen begrenzten Wert, da sie nur Daten über das offiziell bekanntgewordene Täterwerden aus Akten erheben kann. Eine spezielle Art der Längsschnittuntersuchung ist die Kohortenstudie, bei der die Probanden eine Gemeinsamkeit, ζ. B. das Geburtsjahr, miteinander teilen. Aufgrund von Schul- und Polizeiakten untersuchten Marvin E. Wolfgang, Robert M. Figlio und Thorsten Sellin (1972) retrospektiv eine Kohorte von 9 945 Jungen, die 1945 in Philadelphia geboren worden waren und die bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr dort gelebt hatten. 35 % der untersuchten Kohorte wurden delinquent; 3 475 Jungen begingen Straf-
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taten, die zu mindestens einem Polizeikontakt in jedem Fall geführt hatten, während 6 470 oder 65 % der Jungen niemals eine solche Erfahrung gemacht hatten. In dieser Kohortenstudie wurde ermittelt, daß die Wahrscheinlichkeit des Riickfalls mit jeder begangenen Straftat wächst und daß die 627 chronischen Rückfalltäter, die mehr als jeweils fünf Rechtsbrüche vor ihrem 18. Lebensjahr verübt hatten, 6 % der Kohorte und 18 % der delinquenten Gruppe ausmachten. Diese 627 Rezidivisten waren für 52 % der von den untersuchten Jungen begangenen Straftaten und für zwei Drittel der verübten Gewalttaten verantwortlich. Anhand von Polizeiakten haben Wolf gang, Terence P. Thornberry und Figlio (1987) eine Unterstichprobe von 975 jungen Männern nachuntersucht, die für die gesamte Geburtskohorte in ausreichender Weise repräsentativ war. Die offiziellen Daten wurden mit Erreichung des Kohortenalters von 26 und 30 Jahren erhoben. 567 Probanden (58,2 %) wurden persönlich interviewt. Man fand heraus, daß 45 % der chronischen Jungtäter ihre Straftaten in beharrlicher, hartnäckiger Weise auch während ihres Erwachsenenalters fortsetzten. Je früher der Junge mit seiner Delinquenz begann, desto mehr und desto schwerere Straftaten beging er später. Diejenigen Jungen, die mit ihrer delinquenten Karriere im Alter von 11 bis 12 Jahren anfingen, brachten es auf die höchste Durchschnittszahl von Verhaftungen pro Täter (nämlich zehn). Mit zunehmendem Alter verübten die chronischen Täter immer schwerere Delikte mit größer werdendem Schaden. Die Rückfallintervalle waren bei den chronischen Tätern kurz; je länger sich ein Rechtsbrecher sozialkonform verhielt, eine desto bessere Kriminalprognose hatte er. Bandenzugehörigkeit erwies sich als Prognosefaktor für spätere beharrliche Serientäterschaft. Die schwerrückfälligen Mehrfachtäter waren in höherem Maße als die Gelegenheitstäter Verbrechensopfer geworden. Unterstützung durch die delinquente Gruppe und die psychische und soziale Verletzung durch das Opferwerden spielen bei der Entstehung einer delinquenten Karriere eine große Rolle. Eine prospektive Längsschnittuntersuchung haben Donald J. West (1969, 1982) und David Ρ. Farrington (1979, 1982, 1987) durchgeführt. Ab 1961/62 haben sie 411 Jungen, die seinerzeit 8 oder 9 Jahre alt waren und die in einem mit Delinquenz hoch belasteten Arbeiterwohnviertel in London lebten, mit 8, mit 10, mit 14, mit 16, mit 18, mit 21, mit 25 und mit 32 Jahren interviewen und psychodiagnostisch testen lassen. Sie haben die offizielle Delinquenz ihrer Probanden erhoben. Sozialarbeiter haben auch die Eltern, die Lehrer, später im Erwachsenenalter die weib-
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liehen Partner ihrer Probanden befragt (vgl. auch West, Farrington 1973, 1977, 1990). Die Studie hat die folgenden drei Hauptergebnisse erzielt: — Nur 23 Jungen (weniger als 6 % der Stichprobe) waren für die Hälfte aller Verurteilungen wegen Straftaten verantwortlich, die bis zum 25. Geburtstag der Probanden ausgesprochen worden sind. Diese chronischen Mehrfachtäter hatten in höherem Umfang als die Gelegenheitstäter kriminelle Eltern, delinquente ältere Geschwister und delinquente Freunde. — Auf lediglich 4,5 % aller Familien war nahezu die Hälfte (48 %) aller Verurteilungen aller Familienmitglieder (Väter, Mütter, Söhne, Töchter) wegen Straftaten zurückzuführen. Das soziale Klima in diesen Familien konnte mit harter, unberechenbarer Strafenpraxis der Eltern, mit ihrer grausamen, vernachlässigenden Einstellung gegenüber ihren Kindern, mit unzureichender elterlicher Beaufsichtigung und mit einer hohen Zahl elterlicher Konflikte gekennzeichnet werden. Besonders beharrliche spätere Gewalttäter besaßen in hohem Maße Eltern mit kalter, harter, disharmonischer Einstellung, die ihre Jungen mangelhaft beaufsichtigten. Die Jungen ahmten das aggressive Verhalten ihrer Eltern nach. — Die Kinder und Jugendlichen, die in einem frühen Alter wegen einer Straftat oder auch wegen ständigen delinquenten Verhaltens im weiteren Sinne (z. B. Weglaufen aus dem Elternhaus, Schulschwänzen, Aggressivität) aufgefallen waren, entwickelten sich in hohem Maße zu hartnäckigen Rechtsbrechern. Mit jeder Verhaftung und Verurteilung wuchs die Wahrscheinlichkeit der Wiederverhaftung und -Verurteilung. Die offizielle Reaktion durch die Polizei, das Jugendgericht und den Jugendstrafvollzug hatte für die Entstehung der delinquenten Karriere große Bedeutung; sie wirkte sich nämlich eher abträglich auf das Selbstbild des Delinquenten aus; er entwickelte durch die formelle Sanktionierung eine delinquente Identität.
4. Abschnitt: Institutionalisierung und Organisierung I. Kriminologische Forschung und Lehre in der Bundesrepublik Zwar wurden an deutschen Universitäten schon im 19. Jahrhundert Lehrveranstaltungen über Kriminalpsychologie gelesen. Eine geordnete kriminologische Ausbildung entwickelte sich aber erst um die Mitte des
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20. Jahrhunderts. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wurde die Kriminologie als „Hilfswissenschaft des Strafrechts" verstanden. Ob eine kriminologische Vorlesung abgehalten wurde, blieb der Initiative eines Strafrechtslehrers überlassen, der dieses Fach gleichsam als „Liebhaberei" nebenbei mitvertrat. Die ersten kriminalwissenschaftlichen Institute, die Kriminologie in irgendeiner Form mit einschlossen, entstanden auf Initiative einzelner Strafrechtslehrer 1920 in Hamburg, 1923 in Köln, 1930 in Freiburg i.Br. und 1943 in Bonn. Nach dem 2. Weltkrieg kamen Institute 1953 in Saarbrücken, 1957 in Kiel und 1966 in Münster hinzu. Der erste kriminologische Lehrstuhl wurde 1959 in Heidelberg eingerichtet. Das erste empirisch-kriminologische Forschungsinstitut entstand 1962 in Tübingen. Nachdem die Justizministerkonferenz 1969 beschlossen hatte, den Prüfungsstoff für das erste juristische Staatsexamen unter sogenannten Pflichtfachern und Wahlfachgruppen aufzuteilen und nachdem Kriminologie das wesentlichste Wahlfach in der strafrechtlichen Wahlfachgruppe geworden war, entwickelte sich die kriminologische Lehre an den Universitäten der Bundesrepublik in den siebziger Jahren ungewöhnlich gut, zumal sie auf ein großes soziales Interesse und Engagement der Studierenden stieß. Viele neue kriminologische Lehrstühle wurden geschaffen. Heute wird Kriminologie an fast allen juristischen Fakultäten, darüber hinaus an sozial- und erziehungswissenschaftlichen Fachbereichen der Universitäten, an Fachhochschulen verschiedener Richtungen und an der Polizeiführungsakademie in Münster gelehrt. Als interdisziplinäre kriminologische Einrichtung gibt es allerdings im wesentlichen nur das kriminologische Aufbau- und Kontaktstudium an der Universität Hamburg, das seit 1984/85 aufgebaut wird. Das Aufbaustudium, das mit der Prüfung zum „Diplom-Kriminologen" abschließt, ist als viersemestriges Studium für Soziologen, Pädagogen, Psychologen, Juristen und Mediziner mit Studienabschluß entwickelt worden. Das ebenfalls viersemestrige Kontaktstudium ist für berufstätige Personen vorgesehen, die mit Kriminalitäts- und Devianzproblemen befaßt sind. Kriminologische Forschung wird hauptsächlich an den juristischen, psychologischen, soziologischen und medizinischen Fakultäten der Universitäten betrieben. Unabhängige außeruniversitäre Forschungsstätten sind ζ. B. die Institution der kriminologischen Forschungsgruppe des „Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht" in Freiburg i.Br., die eine Reihe „Kriminologische Forschungsberichte" herausbringt, und das „Kriminologische Forschungsinstitut Niedersach-
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sen e. V." in Hannover, das „Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung" veröffentlicht. Mehr behördeninterne Forschung betreibt die kriminalistisch-kriminologische Forschungsgruppe im Kriminalistischen Institut des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden. In der Forschungsreihe des Bundeskriminalamtes erscheinen bedeutsame kriminologische Untersuchungen. Neben dem kriminologischen Referat des Bundesministeriums der Justiz soll die „Kriminologische Zentralstelle e. V." in Wiesbaden die kriminologische Forschungstätigkeit in der Bundesrepublik koordinieren, fördern und leiten. Sie gibt eine Schriftenreihe unter dem Titel „Kriminologie und Praxis" heraus.
II. Kriminologische Organisationen und Institute im deutschsprachigen Raum In der „Kriminalbiologischen Gesellschaft", die 1927 in Wien gegründet worden ist, schlossen sich die Kriminologen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz zusammen. Diese Vereinigung, die sich seit 1969 „Gesellschaft für die gesamte Kriminologie" nannte, führte in der Regel jedes zweite Jahr eine Arbeitstagung durch. Die Ergebnisse dieser Tagungen wurden in der Schriftenreihe „Kriminologische Gegenwartsfragen" veröffentlicht. Da sich nicht alle deutschsprachigen Kriminologen in der „Gesellschaft für die gesamte Kriminologie" vertreten fühlten, gründete man im Jahre 1960 die „Deutsche Kriminologische Gesellschaft", die jährlich Arbeitstagungen durchführte, deren Ergebnisse sie in ihrer „Kriminologischen Schriftenreihe" veröffentlichte. Seit 1989 haben sich beide Gesellschaften in der,.Neuen Kriminologischen Gesellschaft" zusammengeschlossen, die ihren Sitz in Frankfurt/Main hat. Ende der sechziger Jahre bildete sich ein „Arbeitskreis Junger Kriminologen", der ein kritisches Selbstverständnis gegenüber der „alten, traditionellen" Kriminologie besitzt und der die Zeitschrift „Kriminologisches Journal" herausgibt. Am Aufbau der deutschsprachigen Kriminologie haben das 1912 in Graz eröffnete und das 1923 in Wien errichtete kriminologische Institut, die beide traditionell die Kriminalistik mit pflegten, maßgeblichen Anteil gehabt. Die österreichische Kriminologie der Gegenwart, die hauptsächlich an den juristischen Fakultäten der Universitäten gepflegt wird, hat ihre ehemals führende Position in der Welt nicht mehr zu bewahren vermocht. Das im Jahre 1972 gegründete „Ludwig-Boltzmann-Institut für
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Kriminalsoziologie" versucht, den Rückstand aufzuholen und wieder Weltniveau zu erringen. Es gibt seit 1974 eine „Kriminalsoziologische Bibliographie" heraus, in der auch Aufsätze veröffentlicht werden. Da Delinquenz und Kriminalität in der Schweiz keine dringenden gesellschaftlichen Probleme zu sein scheinen, hat man die kriminologische Forschung und Lehre dort nicht sehr stark gefördert. Immerhin ist seit 1974 eine „Arbeitsgruppe für Kriminologie" tätig, die Jahrestagungen veranstaltet, deren Referate in einer Schriftenreihe erscheinen. Darüber hinaus bringt sie die Zeitschrift „Kriminologisches Bulletin" heraus.
III. Internationale kriminologische Organisationen Eine verhältnismäßig enge internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Verbrechensbekämpfung kam bereits im 19. Jahrhundert zustande. Internationale kriminalanthropologische Kongresse wurden abgehalten, die allerdings zunächst noch nicht von einer internationalen kriminologischen Organisation getragen wurden. Eine „Internationale Kriminalistische Vereinigung" (IKV) bildete sich erst 1888 unter der Leitung von Franz von Liszt (Deutschland), Adolphe Prins (Belgien) und G. A. van Hamel (Holland). Diese Vereinigung, die über zahlreiche Landesgruppen in Europa und Nordamerika verfügte, führte vor dem 1. Weltkrieg zwölf internationale Kongresse durch. Sie gab „Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung" heraus. Der erste Weltkrieg (1914- 1918) unterbrach die internationale kriminologische Zusammenarbeit. Im Jahre 1934 gründete der italienische klinische Kriminologe Benigno di Tullio die „Internationale Gesellschaft für Kriminologie", die 1938 in Rom ihren ersten internationalen Kongreß veranstaltete. Der zweite Weltkrieg (1939 - 1945) machte erneut die internationale Kooperation zunichte. Die „Internationale Gesellschaft für Kriminologie", die in Paris ihren Sitz hat und eine Mitgliederzeitschrift (Annales Internationales de Criminologie) herausgibt, konnte ihren 2. internationalen Kongreß erst nach dem Ende des 2. Weltkriegs im Jahre 1950 in Paris abhalten. Sie veranstaltet seitdem alle fünf Jahre einen internationalen kriminologischen Kongreß und seit 1952 jährlich internationale kriminologische Kurse. Im Jahre 1969 errichtete die „Internationale Gesellschaft für Kriminologie" in Montreal in Zusammenarbeit mit der dortigen französischsprachigen Universität ein „Internationales Zentrum für Vergleichen-
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de Kriminologie", in dem derzeit zwanzig kriminologische Forscher im interdisziplinären Team arbeiten und das seine Aufmerksamkeit insbesondere auf die Erforschung der Delinquenz und Kriminalität der Entwicklungsländer richtet. Um die bisher vernachlässigte Erforschung des Verbrechensopfers und eine Kriminalpolitik aus seiner Sicht voranzutreiben, wurde 1979 in Münster die „Weltgesellschaft für Viktimologie" gegründet, die alle drei Jahre ein internationales Symposium (1988 in Jerusalem, 1991 in Rio de Janeiro, 1994 in Adelaide/Australien) veranstaltet.
IV. Beispiele kriminologischer Fakultäten, Institute und Organisationen des Auslandes Die Kriminologie in den Vereinigten Staaten ist traditionell mit der Soziologie verbunden. Sie entfaltet sich hauptsächlich an den soziologischen Abteilungen der nordamerikanischen Universitäten. Freilich hat auch die Sozialarbeit, die in Nordamerika eine Universitätsdisziplin ist, einen guten Anteil an der Entwicklung der Kriminologie. In Nordamerika ist die Kriminologie organisatorisch weiter entwickelt als in Deutschland. Eine ganze Reihe interdisziplinärer kriminologischer Fakultäten hat sich gebildet. Zwei dieser Programme sollen als Beispiele vorgestellt werden: die kriminologische Fakultät der Staatsuniversität von Florida in Tallahassee (School of Criminology) und die Fakultät für Kriminaljustiz der Rutgers Universität, der Staatsuniversität von New Jersey in Newark (School of Criminal Justice). Interdisziplinäre Teams von 15 bis 20 Soziologen, Psychologen, Juristen, Politik- und Wirtschaftswissenschaftlern bilden Praktiker der Kriminaljustiz und kriminologische Forscher aus. Die Verbindung von kriminologischer Forschung und Lehre ist sehr eng. Die Studierenden werden intensiv betreut. In dem Programm, das mit dem Magister in Kriminologie abschließt, sind etwa 75 Studierende eingeschrieben. Das Lehr- und Forschungsprogramm, das den Erwerb des kriminologischen Doktors (D. Crim.) zum Ziele hat, wird von etwa 25 Kandidaten besucht. Die großen Gesellschaften der nordamerikanischen Soziologen, die „American Sociological Association" (Zeitschrift: „American Sociological Review"), und der Sozialarbeiter, die „Society for the Study of Social Problems" (Zeitschrift: „Social Problems"), haben ihre kriminologischen Sektionen. In der „Amerikanischen Gesellschaft für Kriminologie" („American Society of Criminology"), einer interdisziplinä-
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ren Gesellschaft, die von August Vollmer im Jahre 1941 in Berkeley, Kalifornien, gegründet worden ist (Zeitschrift: „Criminology: an Interdisciplinary Journal"), sind vorwiegend akademisch ausgebildete Kriminologen der Vereinigten Staaten und Kanadas vereinigt. Die Kriminologie der USA beeinflußt nachhaltig die kriminologische Forschung und Lehre in Kanada, Australien, Neuseeland, Großbritannien, in Israel, in den Niederlanden, in den skandinavischen Ländern und teilweise auch in der Bundesrepublik. Obgleich sich die kanadischen Kriminologen in einer eigenen Gesellschaft („Canadian Criminal Justice Association") zusammengetan haben, die auch seit 1958 eine eigene Zeitschrift („Canadian Journal of Criminology") in Englisch und Französisch herausgibt, arbeiten sie eng mit den Kriminologen der USA in der „Amerikanischen Gesellschaft für Kriminologie" zusammen, die ihre Jahrestagungen auch in kanadischen Großstädten abhält. Im Gegensatz zur nordamerikanischen ist die australische Kriminologie organisatorisch fest mit den Rechtsfakultäten der Universitäten verbunden. Australien besitzt darüber hinaus ein kriminologisches Zentralinstitut („Australian Institute of Criminology") in Canberra, dessen Aufgabe in der kriminologischen Forschung und Weiterbildung besteht. Die Kriminologen Australiens und Neuseelands verfügen über eine eigene Organisation, die auch seit 1968 eine Zeitschrift („The Australian and New Zealand Journal of Criminology") veröffentlicht. In Großbritannien ist die Kriminologie hauptsächlich an den Universitäten Cambridge, Oxford und London vertreten. Eine Forschungsgruppe im englischen „Home Office" (Innenministerium), die seit 1957 besteht, finanziert kriminologische Untersuchungen und arbeitet selbst an eigenen kriminologischen Forschungen. Mit etwa fünfzig hauptamtlichen kriminologischen Forschern nimmt das interdisziplinäre Team des „Home Office" eine zentrale Stellung in der kriminologischen Forschung Großbritanniens ein. Das „Institut für das Studium und die Behandlung der Delinquenz" in London gibt seit 1950 eine kriminologische Zeitschrift („The British Journal of Criminology") heraus. Die Kriminologie hat an den Universitäten der Niederlande eine große Tradition. Dieses Land besitzt mit dem Forschungs- und Dokumentationszentrum seines Justizministeriums in Den Haag ein wirksames Instrument empirischkriminologischer Forschung. Seit 1958 gibt es in den Niederlanden eine kriminologische Zeitschrift („Tijdschrift voor Criminologie"). Die skandinavische Kriminologie verfügt an den Universitäten Kopenhagen, Arhus (Dänemark), Oslo und Stockholm über Universitätsinstitute und in Helsin-
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ki über ein Forschungsinstitut, das mit dem finnischen Justizministerium verbunden ist. In Stockholm leistet der Nationale Rat für Verbrechensvorbeugung (,.National Council on Crime Prevention") gute kriminologische Arbeit; er gibt seit 1992 die Studien über Kriminalität und Verbrechensvorbeugung („Studies on Crime and Crime Prevention") heraus, die jährlich erscheinen. Seit 1962 hat die skandinavische Kriminologie sich im „Skandinavischen Forschungsrat für Kriminologie" organisatorisch ein Gremium geschaffen, das die kriminologische Forschung in den skandinavischen Ländern koordiniert. Die skandinavischen Kriminologen geben gemeinsam eine Zeitschrift („Nordisk Tidsskrift for Kriminalvidenskab") und eine Schriftenreihe in englischer Sprache („Scandinavian Studies in Criminology") heraus.
5. Abschnitt: Begriff und Erscheinungsformen der Kriminalität I.
Verbrechensbegriff
Der Begriff „Verbrechen" (lateinisch: Crimen), mit dem man eine einzelne kriminelle Handlung oder Unterlassung bezeichnet, und der Ausdruck „Kriminalität", unter dem man eine Gesamtheit vieler Verbrechen innerhalb einer bestimmten Zeit und eines begrenzten Raumes versteht, sind unerträgliche Abstraktionen, obwohl sie im wissenschaftlichen wie im alltäglichen Sprachgebrauch ziemlich unbekümmert und unkritisch ständig verwandt werden. Die Dimensionen des „Verbrechens" reichen von relativ unbedeutenden Ladendiebstählen und Straßenverkehrsdelikten bis hin zu Straftaten wie Raub, Vergewaltigung und Mord, die in der Bevölkerung als schwere Rechtsbrüche empfunden werden und auf die die Öffentlichkeit empfindlich reagiert. Bedenkt man weiterhin, daß der Begriff „Kriminalität" so unterschiedliche Phänomene wie Straßenkriminalität, politische Kriminalität, organisierte Kriminalität, Wirtschaftskriminalität, Verkehrskriminalität und Berufskriminalität decken soll, so wird die große Schwierigkeit erkennbar, den Kriminalitätsbegriff zu definieren. Folgende Definitionen des Verbrechensbegriffs werden vorgeschlagen: Die naturrechtlich-ethische Definition geht davon aus, daß es eine von
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Raum und Zeit unabhängige Kriminalität gibt. Der italienische Kriminologe Raffaele Garofalo, der im Jahre 1885 erstmals ein Buch unter dem Titel „Kriminologie" veröffentlichte, setzte sich im ersten Kapitel dieses Buches für das Konzept des „natürlichen Verbrechens" ein, unter dem er alle Handlungen verstanden wissen wollte, die jede zivilisierte Gesellschaft als kriminell beurteilen muß. In der Verletzung des durchschnittlichen Maßes an Mitleid und Redlichkeit erblickte er das Wesen des „natürlichen Verbrechens". Dieses Konzept versucht, den Verbrechensbegriff aus einer ansichseienden Werteordnung heraus zu begründen. Eine solche „vorgegebene und hinzunehmende Ordnung der Werte", ein Wertobjektivismus (Nicolai Hartmann 1949; Max Scheler 1954) ist heute freilich nicht mehr allgemein anerkannt. Was Verbrechen ist, bestimmt sich nach der jeweiligen Struktur eines Gesellschaftssystems und nach der jeweiligen Lage, in dem sich der Gesellschaftsprozeß befindet. Ein „natürliches Verbrechen" gibt es nicht. Nach der strafgesetzlichen Definition ist Verbrechen ein Verhalten, das durch Strafgesetz verboten ist (Jerome Michael, Mortimer J. Adler 1933). Die strafgesetzliche Verbrechensdefinition hat den Vorteil größtmöglicher Bestimmtheit. Sie gibt den Bürgern eine rechtsstaatliche Garantie, die von großer Bedeutung und hohem Wert ist. Sie besitzt den Nachteil, daß sie zeitlich wie örtlich an eine bestimmte Rechtsordnung gebunden ist, so daß kriminologische Vergleichsuntersuchungen mit Ländern unmöglich werden, in denen eine andere Strafrechtsordnung herrscht. Schwerwiegender noch ist der Mangel, daß die Kriminologie als „strafrechtliche Hilfswissenschaft" das Zustandekommen, die Anwendung und die Wirkung von Strafgesetzen nicht zu untersuchen vermag. Die soziale Definition will Strafrechtsnormen durch Verhaltensnormen ersetzen. Nach Thorsten Sellin (1938) ist eine Verhaltensnorm eine Vorschrift, die einer bestimmten Person, deren Status innerhalb einer nonngebenden Gruppe festgelegt ist, eine bestimmte Art des Verhaltens unter bestimmten Lebensumständen gebietet oder verbietet. Verhaltensnormen kennt man nicht nur, man fühlt sie auch. Nach Stephan Hurwitz (1952), Hermann Mannheim (1974) und Armand Mergen (1978) soll der kriminologische Verbrechensbegriff durch die Antisozialität, durch die Sozialgefährlichkeit und die Sozialschädlichkeit des Verhaltens bestimmt werden. Die Flexibilität, Variabilität und Unbestimmtheit des sozialen Verbrechensbegriffs ist seine Stärke, aber auch seine Schwäche. In sozialen Gruppen können in unendlich mannigfaltiger Weise Verhaltensnormen
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entstehen. Solche Normen können sich nicht nur ergänzen, sondern auch widersprechen. Was in einer Gesellschaft als sozialabweichendes Verhalten gilt, hängt letztlich von der öffentlichen Meinung ab, d. h. von der Meinung, die man öffentlich äußern kann, ohne sich damit von seinen Mitmenschen zu isolieren (Elisabeth Noelle-Neumann 1979). Die strafgesetzlich-soziale Definition versucht, den Verbrechensbegriff in doppelter Weise festzulegen: durch die Antisozialität des Verhaltens und durch das Strafgesetz. Nach Willem Adriaan Bonger (1936) ist das Verbrechen eine schwerwiegende antisoziale Handlung, auf die der Staat dadurch reagiert, daß er sie mit Leiden (Strafen oder Maßregeln) belegt. Die Begriffe der Sozialabweichung und der Kriminalität dürfen nicht miteinander vermischt werden. Kennzeichnend für die Sozialabweichung (ζ. B. Prostitution, Alkoholismus, Selbstmord) sind die Verletzung von Verhaltensnormen und die informelle Reaktion auf solche Verletzung, also die Reaktion durch solche Gruppen, die nicht offiziell mit der Verbrechenskontrolle beauftragt sind. Zwischen Sozialabweichung und Kriminalität bestehen zwar mannigfaltige Wechselwirkungen. Sie fallen aber keineswegs stets zusammen. Sozialabweichung existiert vielmehr neben, vor und nach der Kriminalität. Aufgrund der konfliktorientierten Definition erwachsen Verbrechen und Strafen aus sozialen Konflikten. Nach Frank Tannenbaum (1938, 8) ist Verbrechen eine Nichtanpassung, die aus einem Konflikt zwischen einer Gruppe und der Gemeinschaft entsteht. John Lewis Gillin (1945, 9) definiert das Verbrechen als eine Handlung, die sich als sozialschädlich erwiesen hat oder von der diejenigen annehmen, daß sie sozialschädlich ist, die die Macht dazu haben, ihre Überzeugungen durchzusetzen, und die solches Verhalten unter strafgesetzliche Ächtung stellen. Hier nun setzt die marxistische Definition ein, indem sie konkret diejenigen benennt, die definieren, was sie für ein Verbrechen halten: die herrschende Klasse der Kapitalisten. Eine Ideologie des Verbrechens wird von der herrschenden Klasse entwickelt und verbreitet, um ihre Vorherrschaft zu sichern. Die konfliktorientierte Definition trägt — ebenso wie die marxistische — der Kompliziertheit der Strafgesetzgebungs- und -anwendungsprozesse nicht Rechnung. In der pluralistischen Gesellschaft westlicher Demokratien gibt es zahlreiche „herrschende" Gesellschaftsgruppen, deren Interessen im Widerstreit miteinander stehen und die sich im sozialen System gegenseitig kontrollieren. Aus Konflikten entstehen Strafrechtsnormen. Die Konflikte herrschen allerdings nur während des Strafgesetzgebungsprozes-
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Im Blitzlicht: Regierungskriminalität Es ist Mittagszeit (12.30 Uhr) am 30. Juni 1934. Ein rotbraunes Auto hält vor der Villa des Reichskanzlers a. D. Kurt von Schleicher in Neubabelsberg bei Berlin. Fünf Personen steigen aus und begeben sich zur Villa. Die Köchin öffnet die Haustür. Zwei Herren wollen Herrn von Schleicher sprechen. Nach längerem Hin- und Herreden erklärt sich die Köchin bereit, im Arbeitszimmer nachzusehen, ob Herr von Schleicher zu Hause sei. Einer der Herren folgt ihr auf dem Fuße und fragt den am Schreibtisch sitzenden Hausherrn, ob er von Schleicher sei. Kaum hat er die Frage bejaht, fallen die Schüsse. Herr von Schleicher und seine Frau sinken getroffen zur Erde. Ein eilig herbeigerufener Arzt schließt Selbstmord oder eine Erschießung in Notwehr aus. Der Gendarmerie von Neubabelsberg wird der Fall gemeldet. Die Mordkommission und die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Potsdam schalten sich ein. Am Nachmittag sagt der preußische Ministerpräsident Hermann Göring vor der Inlandspresse: Ein SA-Putsch Sei niedergeschlagen worden. Er habe seine „Aufgabe erweitert" und auch gegen die „Reaktion" zugeschlagen. Dabei sei es „selbstverständlich" gewesen, Herrn von Schleicher zu verhaften, der zu den „ewig unzufriedenen gestrigen Gestalten" gehört habe. „Er versuchte bei der Verhaftung einen blitzartigen Überfall zu machen auf die Leute, die ihn verhaften sollten. Er ist dabei ums Leben gekommen." Auf der Sitzung der Reichsregierung am 3. Juli 1934 legt der Reichskanzler Adolf Hitler den Entwurf eines „Staatsnotwehrgesetzes" vor. Er begründet diesen „Gesetzentwurf damit, er habe eine „Revolte" niederschlagen lassen; er habe das Reich gerettet; er habe das ganze Volk vor unermeßlichem Schaden bewahrt. Das „Gesetz" hatte einen einzigen Artikel: „Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens." Reichswehrminister von Blomberg dankte Hitler „für sein entschlossenes und muti-
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ges Handeln". Reichspräsident Hindenburg, der krank auf seinem Gut Neudeck weilte und der irreführend unterrichtet worden war, sandte Hitler ein Telegramm mit seiner Zustimmung. Am Abend des 13. Juli 1934 gab Hitler eine längere Erklärung im Reichstag ab. Er gab die Zahl der Opfer mit 77 an und sagte: „Wenn mir jemand einen Vorwurf entgegenhält, weshalb wir nicht die ordentlichen Gerichte zur Aburteilung herangezogen hätten, dann kann ich ihm nur sagen: In dieser Stunde war ich verantwortlich für das Schicksal der deutschen Nation und damit des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr." Er erhielt langanhaltenden tosenden Beifall. Die Anwesenden erhoben sich von ihren Plätzen und brachen in stürmische Heilrufe aus. Der seinerzeit führende Staatsrechtslehrer Carl Schmitt führte in einem Zeitschriftenaufsatz ani 1. August 1934 aus: „Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft." Die zeitgeschichtliche Forschung hat festgestellt, daß am 30. Juni 1934 kein Staatsstreich beabsichtigt war. Es bestand lediglich ein Konflikt zwischen der Reichswehr und der SA, einer paramilitärischen Organisation, die in der Weimarer Republik den Straßenterror gegen die Demokratie ausführte. Nach der „Machtergreifung" Hitlers besaß die SA keine Aufgabe mehr, und es bestanden Tendenzen bei der SA, die Reichswehr zu verdrängen. Hitler ließ seinen Freund Röhm fallen, der Stabschef der SA war. Himmler und Heydrich. die SS und die Geheime Staatspolizei, stellten Namenslisten derjenigen zusammen, die beseitigt werden sollten. Die wichtigsten höheren SAFührer wurden verhaftet, in die bayerische Strafanstalt Stadelheim gebracht und durch ein Exekutionskommando im Hof der Strafanstalt erschossen, nachdem ihnen eröffnet worden war, Hitler habe sie zum Tode verurteilt. Auf „Befehl des Führers" wurde Röhm in seiner Zelle erschossen. Der Reichskanzler a. D. von Schleicher und seine Frau hatten mit dem „Röhm-Putsch" nichts zu tun. Die näheren Motive für ihre Ermordung sind bis heute ungeklärt. Quelle: Lothar Gruchmann 1990, 443-458.
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ses vor. Mittel- und langfristig entwickelt sich durch Gruppeninteraktion Übereinstimmung (Konsens). Der psycho- und soziodynamischen, realistischen Definition kommt es darauf an, daß „kriminell" eine Benennung ist, die an ein menschliches Verhalten von außen herangetragen wird, und daß diese Benennung in einer Demokratie letztlich von der Mehrheit der Bevölkerung und in einer Diktatur vom Willen der Machthaber abhängt. Nach Hans von Hentig (1947, 6) richtet sich das, was kriminell ist, nach der Billigung der Mehrheit in einer Gesellschaft: Ob eine Handlung ein Verbrechen ist oder nicht, bestimmt sich nach den zahlenmäßigen Verhältnissen zwischen denen, die sich des Strafgesetzes zum Schutz der Gesellschaft bedienen, und denen, die es brechen. Die psycho- und soziodynamische, realistische Definition besitzt zwar den Vorteil einer raschen Anpassungsfähigkeit an gesellschaftliche Entwicklungsprozesse. Zudem orientiert sie sich an der kriminellen Wirklichkeit und beurteilt Kriminalität nicht nur als Endprodukt, sondern stellt deren prozeßhafte Entwicklung in den Mittelpunkt. Ihr fehlt jedoch das Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit, ohne die eine kriminologische Verbrechensdefinition nicht auszukommen vermag. Man muß zwischen Kriminalität im weiteren und engeren Sinne unterscheiden. Kriminalität im weiteren Sinne grenzt den Verbrechensbegriff durch ein formell- und materiell-rechtsstaatliches Strafgesetzgebungsverfahren ein. Kriminell ist damit ein Verhalten, das durch ein rechtsstaatliches Verfahren so benannt wurde. Hier geht die Reaktion — die Strafgesetzgebung — dem Verhalten voraus und grenzt es ein. Das hat zur Folge, daß zur Kriminalität im weiteren Sinne ein Handeln gehört, auf das die Instanzen der formellen Sozialkontrolle, die Strafgesetzanwendung, überhaupt nicht oder nicht erfolgreich reagiert haben, also auch die Kriminalität im Dunkel- und Graufeld, die nicht bekanntgewordene und die verborgen gebliebene Kriminalität. Von der Kriminalität im weiteren Sinne ist die Kriminalität im engeren Sinne dadurch zu trennen, daß solches Verhalten als kriminell verstanden wird, das strafgesetzlich in rechtsstaatlicher Weise als kriminell definiert und auf das mindestens informell, aber natürlich auch formell reagiert worden ist. Danach ist ein Verhalten erst dann kriminell, wenn es von den Instanzen der formellen Sozialkontrolle (ζ. B. den Gerichten) abschließend als „kriminell" benannt worden ist, wobei dies nur insoweit Geltung
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beanspruchen kann, wie ein formell- und materiell-rechtsstaatliches Strafverfahren eingehalten wurde. Die Vorteile des so entwickelten Verbrechensbegriffs bestehen in vier Merkmalen: — Die Kriminalität ist eine Benennung, die von außen an ein Verhalten herangetragen wird. Die Reaktion auf Verhalten wird also mitberücksichtigt. — Die Definition ist an der kriminellen Wirklichkeit orientiert. — Kriminalität wird nicht nur als ein irgendwie zustandegekommenes Endprodukt beurteilt, sondern ihre prozeßhafte Entwicklung und die Dynamik des Entstehungsprozesses werden mit beachtet. — Mit dem Merkmal der materiellen und formellen Rechtsstaatlichkeit der Reaktion erhält der Verbrechensbegriff sein entscheidendes Korrektiv, ohne das er — an der kriminellen Wirklichkeit orientiert — willkürlich wäre.
II. Erscheinungsformen kriminellen Verhaltens Nachdem der Begriff der Kriminalität definiert worden ist, gilt es im folgenden, die Abstraktion des Begriffs durch die konkretere Beschreibung der Haupterscheinungsformen kriminellen Verhaltens auszufüllen. Es kann hierbei nicht darum gehen, die ganze Variationsbreite kriminellen Verhaltens im einzelnen darzustellen. Es soll lediglich ein (unvollständiger) Überblick über die Hauptformen gegeben werden, die als Verhaltenssysteme (Marshall B. Clinard, Richard Quinney 1973, 14) verstanden werden und die sich durchaus überschneiden können. Unter dem Begriff der Gewaltkriminalität (vgl. 4. Kapitel) werden die Delikte zusammengefaßt, die mit dem Mittel illegaler Gewalt verübt werden und die zu einem physischen, psychischen oder sozialen Opferschaden oder zu einer Beeinträchtigung oder Zerstörung einer Sache führen. Zu den Gewaltdelikten, die nur einen kleinen Teil der konventionellen Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland ausmachen, gehören die Tötungsverbrechen, die Vergewaltigung, der Raub, die Körperverletzung, der erpresserische Menschenraub, die Geiselnahme, die Sachbeschädigung und die Brandstiftung. Die Sexualkriminalität schließt Überschreitungen des Kreises der erlaubten Sexualpartner und der zugelassenen sexuellen Handlungen, ζ. B. in Form des sexuellen Mißbrauchs von Kindern, des Inzests und der Ho-
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mosexualität, ein. Das Zurschaustellen menschlicher Sexualität kann als Exhibitionismus oder Pornographie in den Bereich der Sexualstraftaten fallen. Exhibitionistische Straftaten und sexueller Mißbrauch von Kindern machen den größten Teil der bekanntgewordenen Sexualkriminalität aus. Unter die Vermögenskriminalität fallen alle die Rechtsbrüche, durch die die vermögensrechtliche Lage des Opfers verschlechtert wird. Eine scharfe Trennungslinie zwischen Eigentums- und Vermögenskriminalität läßt sich kriminologisch nicht ziehen. Denn häufig ist mit dem Eingriff in das Eigentum des Opfers auch eine Verletzung seiner vermögensrechtlichen Stellung verbunden (Josef Kürzinger 1993, 107). Zu den Vermögensstraftaten zählen als Beispiele der Diebstahl, der Einbruch, der Betrug und die Hehlerei. Die verschiedenen Formen des Einbruchs und des Diebstahls (ζ. B. Laden- und Kraftfahrzeugdiebstahl) machen über die Hälfte der herkömmlichen Kriminalität aus. Unter Berufskriminalität versteht man alle Delikte, die in Ausübung eines legalen Berufs und zum persönlichen Nutzen des Täters verübt werden (Piers Beirne, James Messerschmidt 1991, 173). Beispiele sind die ungerechtfertigte Kommerzialisierung der medizinischen Behandlung (konkreter: unnötige Operationen aufgrund vorsätzlich falscher Diagnosen, überflüssige Anwendung medizinischer Instrumente und Apparate, Verordnung entbehrlicher Medikamente), die Durchführung nicht notwendiger Arbeiten bei der Autoreparatur, die Berechnung nicht ausgeführter handwerklicher Arbeiten oder Umwegfahrten von Taxichauffeuren. Von der Berufskriminalität ist das Berufsverbrechertum (die berufliche Karrierekriminalität) zu unterscheiden, durch das aus der Kriminalität ein Beruf gemacht wird. Das Berufsverbrechertum kann durch sechs Merkmale gekennzeichnet werden: — Der berufliche Karrierekriminelle zieht aus seinem kriminellen Verhalten wirtschaftlichen Gewinn; er bestreitet aus ihm seinen Lebensunterhalt. - Der berufliche Mehrfach- oder Vielfachtäter beherrscht kriminelle Techniken (ζ. B. Verbrechensausführungsarten) und Fähigkeiten meisterhaft. - Unter Kriminellen genießt der Berufsverbrecher hohes Ansehen (Prestige, Status). — Der berufliche Karrierekriminelle entwickelt eine kriminelle Einstellung; er ordnet sein Leben um seine Straftaten herum. Kriminalität ist sein Lebensinhalt und sein Sinnen und Trachten. Eine Verbrechersprache benutzt er nicht nur zur Tarnung, sondern in ihr kommt auch seine krimi-
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nelle Einstellung und sein kriminelles Zugehörigkeitsgefühl zum Ausdruck. — Der Berufsverbrecher hat es im Laufe der Zeit gelernt, die Aufklärung der von ihm begangenen Verbrechen zu verhindern und seine Überführung zu vermeiden. Er hat die Fähigkeit erworben, seinen kriminellen Lebensstil nicht sozial sichtbar werden zu lassen. — Der berufliche Mehrfach- und Vielfachtäter rechtfertigt sein kriminelles Verhalten vor sich und anderen: „Alle Menschen sind unehrlich. Wenn sie es könnten, würden sie alle Verbrechen begehen." Als Unternehmenskriminalität („Corporate Crime") bezeichnet man Straftaten, die auf Entscheidungen oder vorwerfbarer Fahrlässigkeit von Personen beruhen, die innerhalb der hierarchischen Struktur von Wirtschaftsunternehmen führende und verantwortliche Positionen als Direktoren oder Manager innehaben, und die zum Zwecke des Unternehmensprofits ausgeführt werden (Ronald C. Kramer 1984, 18; M. David Ermann, Richard J. Lundman 1982, 6-11). Unternehmen sind soziale Einheiten, soziale Systeme, die durch eine bestimmbare Anzahl von Mitgliedern, durch eine definierbare Grenze zwischen Innen- und Außenstruktur, durch eine Hierarchie von Macht- und Verantwortlichkeitspositionen und durch eine aufgaben- und arbeitsteilige Rollengliederung sowie eine zielorientierte Ordnung gekennzeichnet sind. Die Wirtschaftskriminalität wird durch die drei folgenden Merkmale bestimmt {H. J. Schneider 1987b): — Sie besteht aus kriminellem Verhalten, das die wirtschaftliche Ordnung als Ganze oder einige Teilbereiche dieser wirtschaftlichen Ordnung verletzt oder gefährdet. — Durch sie wird eine große Zahl anonymer Opfer getroffen, deren geringe gesellschaftliche Sichtbarkeit und deren großer sozialer Abstand zu ihrem Täter ihre Begehung wesentlich erleichtern. — Sie stellt einen Vertrauens- und Machtmißbrauch im Wirtschaftsleben dar. Unter Computerkriminalität versteht man Straftaten, bei denen elektronische Datenverarbeitungsanlagen als Tatwerkzeuge genutzt werden oder bei denen solche Anlagen Tatobjekte sind. Sie umfaßt vier Erscheinungsformen: Verfälschungen bei der Eingabe oder bei der Veränderung von Daten und/oder Datenprogrammen, Computerspionage, Computersabotage und Gebrauchs- oder Zeitdiebstahl (H. J. Schneider 1987a, 48-50).
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Umweltkriminalität besteht in der Verletzung von Straftatbeständen, die die Medien der Umwelt (Wasser, Luft, Boden) und einzelne Erscheinungsformen der Umwelt (Tier- und Pflanzenwelt) schützen. Freilich bewahrt man die Umwelt nicht um ihrer selbst willen, sondern zur Aufrechterhaltung humaner Lebensbedingungen. Zur Umweltkriminalität rechnet man Gewässer-, Luft- und Bodenverunreinigung, umweltgefährdende Abfallbeseitigung, ungenehmigten grenzüberschreitenden Ex- und Import gefährlicher Abfälle (Abfalltourismus), unerlaubten Umgang mit Kernbrennstoffen und schwere Gefährdung durch Freisetzen von Giften. Unter organisierter Kriminalität versteht man den dauerhaften und strukturierten Zusammenschluß von Berufskriminellen, die Kriminalität, Gewalt und Korruptionsbereitschaft nutzen, um Macht und Profit zu erlangen und zu erhalten (vgl. 5. Kapitel). Bei der politischen Kriminalität handelt es sich um Straftaten, die sich gegen den Staat richten und ihn schädigen, um Rechtsbrüche, die von Regierenden verübt werden (Regierungskriminalität), die ein kriminelles politisches System aufgerichtet haben, und um Delikte, die von Regierenden innerhalb eines demokratischen rechtsstaatlichen Systems begangen werden und die sich entweder gegen den eigenen Staat und seine Bürger oder gegen ausländische Staaten und deren Bürger richten. Das Staatsamt wird ζ. B. für eigene persönliche Zwecke ausgenutzt: Korruption. Die Geheimdienste, die den Staat schützen sollen, werden ferner dazu mißbraucht, innenpolitische Gegner zu bespitzeln, um ihnen im politischen Wettbewerb zu schaden. Das Kriminaljustizsystem wird schließlich als Waffe gegen den politischen Mitbewerber eingesetzt. Straftaten, ζ. B. Einbrüche, werden innerhalb des Kriminaljustizsystems geplant, um im politischen Wettbewerb, ζ. B. bei Wahlen, einen Vorsprung dem innenpolitischen Gegner gegenüber zu erlangen. Unter der Bezeichnung Verkehrsdelikte werden kriminelle Verhaltensweisen zusammengefaßt, die aus fahrlässiger Körperverletzung und Tötung, aus der Teilnahme am Straßenverkehr mit einem verbotenen Blutalkoholgehalt, aus der Unfallflucht, aus der Verkehrsgefährdung durch grob verkehrswidriges und rücksichtsloses Fahren und aus dem Fahren ohne Fahrerlaubnis bestehen.
2. Kapitel: Kriminalstatistik und Dunkelfeldforschung
1. Abschnitt: Begriff der Kriminalstatistik Unter Kriminalstatistik versteht man die regelmäßige und systematische Sammlung, Zusammenstellung, Vergleichung und mehr oder weniger öffentliche Verbreitung eines Zahlenwerks, in dem für einen bestimmten Zeitraum und ein bestimmtes Gebiet Angaben über Straftaten, Straftäter, Verbrechensopfer und die Reaktionen des Kriminaljustizsystems enthalten sind. Offizielle Kriminalstatistiken werden auf den verschiedenen Verwaltungsebenen (auf kommunaler, Länder- oder Bundesebene), durch die verschiedenen Instanzen der formellen Sozialkontrolle (Polizei, Gerichte, Bewährungshilfe, Strafvollzug) und in den verschiedenen Stationen des Kriminaljustizprozesses (Strafanzeige, gerichtliche Aburteilung und Verurteilung, Unterstellung unter die Aufsicht der Bewährungshilfe, Strafanstaltsaufenthalt) erstellt. Sie gründen sich auf die Ermittlungen und Aufzeichnungen (Akten) der Instanzen der formellen Sozialkontrolle, die von der Gesellschaft mit der Reaktion auf Kriminalität und Kriminelle beauftragt worden sind.
2. Abschnitt: Geschichte der Kriminalstatistik Die erste systematische gerichtliche Kriminalstatistik wurde im Jahre 1827 (auf kriminalstatistische Daten des Jahres 1825 bezogen) in Frankreich von Jacques Guerry de Champneuf (1788 - 1852) veröffentlicht, der Staatssekretär im französischen Ministerium der Justiz war. Andere Länder folgten dem französischen Beispiel: ζ. B. Schweden, das 1832 den ersten kriminalstatistischen Jahresbericht herausbrachte, der über das Jahr 1830 berichtete (Thorsten Sellin, Marvin E. Wolfgang 1964, 9). Der Sinn dieser frühen Sammlung kriminalstatistischer Daten bestand darin, den
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„moralischen Zustand" der Bevölkerung zu ermitteln (Moralstatistik). Aufgrund der deutschen Rechtszersplitterung (Kleinstaaterei) erschien eine einheitliche deutsche Kriminalstatistik (Verurteiltenstatistik) erst sehr spät ab 1882. Deutsche Einzelstaaten gaben aber bereits früh so etwas wie Kriminalstatistiken heraus. So stellte Bayern im Jahre 1803 ein Verzeichnis der Kriminalprozesse auf, die vor seinen Gerichtshöfen geführt worden waren. In den USA gab der Staat New York als erster im Jahre 1829 eine Rechtspflegestatistik heraus (Louis Newton Robinson 1911).
3. Abschnitt: Aufgaben der Kriminalstatistik Die Kriminalstatistik besitzt im wesentlichen die folgenden vier Aufgaben: — Sie ist ein Tätigkeitsbericht der Instanzen der formellen Sozialkontrolle, der Polizei, der Gerichte, der Bewährungshilfe und des Strafvollzugs, zum Zwecke ihrer Selbstdarstellung. Sie gibt Auskunft über die Arbeitsbelastung der Strafverfolgungsorgane. Sie ist ein offizieller Beleg über deren Ermittlungs- und Strafverfolgungstätigkeit. Sie dient als Entscheidungsgrundlage zur Verteilung staatlicher Personal- und Sachmittel. Sie ist ein Rechtfertigungs- und Beeinflussungsinstrument der Öffentlichkeit durch die Strafrechtspflege. — Die Kriminalstatistik ist ein Forschungsinstrument. Sie gibt ζ. B. an, in welchem Umfang die Bevölkerung an der Kriminalität beteiligt ist. Sie liefert die Datengrundlage für die Entwicklung von Hypothesen und Theorien der Kriminalitätsentstehung. Man kann aus ihr folgern, welche Bevölkerungsgruppen und welche Gebiete eines Staates überdurchschnittlich mit Kriminalität belastet sind. Die Kriminalstatistik ermöglicht geschichtliche und geographische Vergleiche. — Mit der Kriminalstatistik verfolgt man den Zweck, die Bevölkerung über Höhe, Art, Entwicklung und Verteilung der Kriminalität zu informieren, um sie auf die Gefahren und Wahrscheinlichkeiten des Opferwerdens hinzuweisen und ihr die Angst vor dem Verbrechen zu nehmen. Die Kriminalität vermindert die Lebensqualität und verursacht Kosten. Wie hoch solche Kosten sind und wie sie sich verteilen, kann man aus der Kriminalstatistik schließen. — Die Kriminalstatistik hat schließlich eine Kontroll-, eine Lenkungs- und
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Planungsaufgabe. Mit ihr stellt man die Wirksamkeit von Strafgesetzen fest. Sie gibt Auskunft über die Durchsetzbarkeit von Abschreckungs-, Vorbeugungs- und Behandlungsmaßnahmen. Sie dient der Reform des Kriminaljustizsystems und der Vorbereitung neuer Strafgesetze. Sie ermöglicht die Feststellung des zukünftigen Personal- und Sachmittelbedarfs der Strafrechtspflege und ihren gezielten örtlichen und zeitlichen Einsatz.
4. Abschnitt: Formen der Kriminalstatistik Auf der ersten Ebene des Reaktionsprozesses auf Kriminalität zählt man die Straftaten, die zwar begangen und wahrgenommen worden sind, die man aber den Strafverfolgungsbehörden, insbesondere der Polizei, nicht anzeigt und die deshalb in der offiziellen Kriminalstatistik nicht erscheinen (Dunkelfeldforschung). Auf der zweiten Ebene des Reaktionsprozesses werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik die Straftaten einschließlich der mit Strafe bedrohten Versuche registriert, die man der Polizei gemeldet hat und die von ihr bearbeitet worden sind. Das Zahlenmaterial wird dem Bundeskriminalamt von den Landeskriminalämtern übermittelt, die eigene Polizeiliche Kriminalstatistiken für ihre Länder veröffentlichen. Man findet in der Polizeilichen Kriminalstatistik einen Gesamtüberblick über die bekanntgewordenen Fälle. Die Häufigkeitszahl für das Berichtsjahr wird angegeben. Unter Häufigkeitszahl versteht man die Zahl der bekanntgewordenen Fälle insgesamt oder innerhalb einzelner Deliktsarten, die auf 100 000 Einwohner errechnet worden ist. Sie drückt die durch die Kriminalität verursachte Gefährdung aus. Für die Kriminologie wichtig ist ferner die Kriminalitätsstruktur, die Auskunft darüber gibt, in welcher Weise sich die einzelnen Delikte, z. B. Diebstahl, Betrug, anteilsmäßig auf die Gesamtkriminalität verteilen. Aus der Polizeilichen Kriminalstatistik ergibt sich weiterhin die zeitliche Entwicklung und die räumliche Verteilung des Verbrechens. Die Aufklärungsquoten sind in der Polizeilichen Kriminalstatistik ebenfalls verzeichnet. Unter Aufklärungsquote begreift man das prozentuale Verhältnis der aufgeklärten zu den bekanntgewordenen Fällen im Berichtszeitraum. Schließlich enthält die Polizeiliche Kriminalstatistik die ermittelten Täter, die Tatverdächtigen nach Lebensalter und Geschlecht. Unter einer oder einem Tatverdächtigen erfaßt man eine Person, die aufgrund des persönlichen Ermittlungsergebnisses hinreichend ver-
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dächtig ist, eine rechtswidrige Tat begangen zu haben. Kriminalitätsbelastungszahl ist die Zahl der ermittelten Tatverdächtigen, die auf 100 000 Einwohner des entsprechenden Bevölkerungsanteils errechnet worden ist. Auf der dritten Ebene verzeichnet die Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes die Verurteilten nach Hauptdeliktsgruppen, nach Altersgruppen und nach zuerkannten Strafen und Maßregeln. Die Strafverfolgungsstatistik gibt Verurteiltenzahlen an, mit denen sichtbar gemacht wird, wieviel Personen auf einhunderttausend Einwohner der Gesamtbevölkerung oder der entsprechenden Bevölkerungsanteile (ζ. B. der Jugendlichen, Heranwachsenden, Erwachsenen) verurteilt worden sind. In der Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes werden — im Gegensatz zur Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes — auch Zahlen zur Straßenverkehrskriminalität veröffentlicht. Auf der vierten Ebene werden in der Bewährungshilfestatistik die Unterstellungen und die Beendigungen der Bewährungsaufsichten nach dem Alter der Unterstellten und nach Unterstellungs- und Beendigungsgründen aufgeführt und beschrieben. Die Zahl der hauptamtlichen Bewährungshelfer wird angegeben. Die Strafvollzugsstatistik gibt auf derselben Ebene Auskunft über Belegungsfähigkeit, Belegung, Aufnahmen und Entlassungen der Gefangenen und Verwahrten in den Justizvollzugsanstalten der Bundesrepublik Deutschland. Unter der Strafgefangenenzahl versteht man die Anzahl der Strafgefangenen auf 100 000 Einwohner. Sie ermöglicht einen Vergleich darüber, wie häufig Straftäter in den verschiedenen Ländern zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, die sie in einer Strafanstalt verbüßen müssen. Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik und der Strafverfolgungsstatistik der Justiz (Verurteiltenstatistik) können nicht unmittelbar miteinander verglichen werden, da ihre Erfassungszeiträume (Abgabe der Ermittlungsvorgänge an die Staatsanwaltschaft, Zeitpunkt der Verurteilung durch das Gericht) verschieden voneinander sind, da sich ihre Erfassungsgrundsätze unterscheiden und da der einzelne Fall vor Gericht eine andere strafrechtliche Beurteilung erfahren kann als vor der Kriminalpolizei. Die wichtigsten Zahlen über Straftaten, Tatverdächtige, Abgeurteilte, Verurteilte, Bewährungshilfe und Strafvollzug finden sich auch in den Statistischen Jahrbüchern für die Bundesrepublik Deutschland.
Verfalschungseinfliisse der Kriminalstatistik
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5. Abschnitt: Verfälschungseinflüsse der Kriminalstatistik Die offiziellen Kriminalstatistiken haben Schwächen und Begrenzungen, die im folgenden nicht deshalb aufgeführt werden, um diese Statistiken in ihrem Wert herabzusetzen und in Verruf zu bringen, sondern um zur Vorsicht bei ihrer Benutzung zu mahnen: — Die zeitliche und räumliche Relativität des Verbrechensbegriffs zeigt die Grenzen der Verwertbarkeit der offiziellen Kriminalstatistiken mit aller Deutlichkeit auf. Die Eigenschaft „kriminell" wohnt nicht unabänderlich und ein für allemal einer Handlung oder Unterlassung inne. Das Verhalten wird vielmehr in einer zeitlich und räumlich begrenzten, konkreten Gesellschaftsordnung als „kriminell" bewertet. — Der Inhalt der offiziellen Kriminalstatistiken wird im wesentlichen durch die Verfolgungsenergie der Anzeigeerstatter bestimmt (Wolfgang Heinz 1977, 1985). Dieses Verhalten wird wiederum maßgeblich durch die Ertragungsfähigkeit, die Empfindlichkeit der Bevölkerung für Verbrechen (Leonard D. Savitz 1978, 75) und durch die Strafverfolgungsintensität der Instanzen der formellen Sozialkontrolle (Jan J. M. van Dijk 1982) beeinflußt. — Die Orientierung der offiziellen Kriminalstatistiken an der Legalordnung verbirgt häufig die kriminologischen Gesichtspunkte {Wolfgang Heinz 1972). Ein abstrakter Straftatbestand verdeckt einerseits eine Fülle konkreter Erscheinungsformen eines Delikts (vgl. ζ. B. die unzähligen Diebstahls- und Betrugsformen). Juristische Unterschiede zwischen einzelnen Deliktstypen sind andererseits häufig kriminologisch bedeutungslos. Die reine Häufigkeitsbetrachtung (das bloße Zählen der Vorgänge) läßt zudem die Abwägung, die Schwere des Delikts und der verschiedenen Erscheinungsformen innerhalb eines Delikts völlig unberücksichtigt. Aufgrund des Vorwiegens der juristischen Betrachtung kann das wirkliche Kriminalitätspotential in einem bestimmten Gebiet und in einer bestimmten Zeit durch die offiziellen Kriminalstatistiken nicht gemessen werden. Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsänderungen machen sich schließlich in ihnen voll bemerkbar. Amnestien führen zu Verfahrenseinstellungen und beeinträchtigen das kriminalstatistische Bild. — Straftaten werden zu verschiedenen Zeitpunkten entdeckt und angezeigt. Auf sie wird wiederum zu unterschiedlichen Zeitpunkten reagiert. Die
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Daten werden nicht nach einem einheitlichen Termin, ζ. B. nach der Begehungszeit der Delikte, geordnet. Die Kriminalitätsentwicklung ist deshalb nach den offiziellen Kriminalstatistiken schwer zu beurteilen. — Kriminalitätsdaten geben kein zureichendes Bild über Umfang, Struktur, Entwicklung und Verteilung des Verbrechens, solange sie nicht zu Daten über Umfang und Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung (Sozialstruktur) oder der Bevölkerung in bestimmten Gebieten oder Gruppen in Beziehung gesetzt werden (Wolfgang Heinz 1977, 102). Zur Polizeilichen Kriminalstatistik speziell werden folgende kritische Argumente vorgebracht: — Eine Verbrechensanzeige setzt Entdeckung und richtige Beurteilung der Straftat durch den Anzeigeerstatter voraus. Die Anzeige kann auf einer Lüge (Falschanzeige) oder auf einem Versehen beruhen. Sie kann sich im weiteren Gang des Strafverfahrens als unbegründet oder als unbeweisbar herausstellen. Alle diese „Straftaten" werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik zunächst mitgezählt. — Die Polizei beurteilt, ob eine Straftat vorliegt und gegebenenfalls welche. Sie entscheidet auch, ob die Tat aufgeklärt ist. Mit dieser Beurteilung durch die Polizeibeamten braucht keineswegs die Bewertung durch die Staatsanwaltschaft und das Gericht übereinzustimmen (Beurteilungsverlagerung). — Der Inhalt der Polizeilichen Kriminalstatistik ist auch abhängig von der Organisation der Polizei, ihrer Präsenz, ihrer Wirksamkeit, ihrer Motivation, ihrer Ausbildung, ihrer Ausstattung, ihrer Verfolgungs- und Entdeckungsaktivität und ihrer zielgerichteten Einsatzlenkung (ihrer Arbeitsökonomie). — Für die Polizeiliche Kriminalstatistik müssen wegen ihrer Orientierung am Strafgesetzbuch Zählregeln aufgestellt werden, die in sich problematisch sind. An einem Ereignis, das man als Verbrechen bewertet, kann ein Täter, es können an ihm aber auch mehrere Rechtsbrecher beteiligt sein. Es können durch denselben Vorfall mehrere Opfer und mehrere Straftatbestände verletzt werden. Ein Täter kann hintereinander mehrere Straftaten oder eine Straftat fortgesetzt begehen; es können mehrere Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet werden (Möglichkeit der Mehrfachzählung). Alle diese Beispiele zeigen, wie schwierig es ist, kriminelle Vorgänge und Täter zu zählen.
Dunkelfeldforschung: begriffliche Klärung
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6. Abschnitt: Dunkelfeldforschung: begriffliche Klärung Die der Polizei bekanntgewordene und von ihr registrierte Kriminalität ist nur die sichtbare Spitze des unsichtbaren Eisbergs der „wirklich verübten" Verbrechen. Unter Dunkelfeld versteht man die Summe der Straftaten, die zwar tatsächlich begangen, den Strafverfolgungsbehörden (Polizei, Justiz) aber nicht bekanntgeworden sind und die deshalb nicht in der offiziellen Kriminalstatistik erscheinen. Zum Dunkelfeld gehört freilich auch die Kriminalität, die zwar verübt, aber von niemandem als Kriminalität wahrgenommen und erkannt worden ist oder die von niemandem erinnert werden kann (absolutes Dunkelfeld). Zum doppelten Dunkelfeld zählt man die Straftaten, die vom Opfer nicht als Kriminalität, sondern als „Privatsache" beurteilt und die deshalb in Dunkelfeldbefragungen nicht angegeben werden. Zum (relativen) Dunkelfeld kann man eine große Zahl der Delikte rechnen, die man den Strafverfolgungsbehörden (Polizei, Justiz) gemeldet hat und die ihnen deshalb nicht verborgen geblieben sind: Ein großer Teil der Straftaten wird von der Polizei nicht aufgeklärt; die Täter bleiben also unbekannt. Ein anderer Teil der entdeckten Tatverdächtigen wird nicht abgeurteilt (Einstellung durch die Staatsanwaltschaft) oder kann nicht verurteilt werden (Freisprüche mangels Beweises durch die Gerichte). Die Delikte, deren Täter nicht ergriffen werden oder deren Täter nicht überführt werden können, zählt man zum Zwecke besserer Unterscheidung zum „Graufeld der Kriminalität", weil bei ihnen niemals geklärt werden wird, ob es sich wirklich um Verbrechen gehandelt hat oder nicht. Schließlich haben viele verurteilte Rechtsbrecher weit mehr Straftaten begangen, als die Strafverfolgungsbehörden entdeckt haben oder als sie ihnen nachweisen konnten. Diese Delikte bezeichnet man als „Dunkelfeld krimineller Karrieren", das für die Entdeckung von Rückfalltätern, Berufsverbrechern und gefährlichen Intensivtätern von großer kriminologischer Bedeutung ist. Das absolute Dunkelfeld und das (relative) Dunkelfeld (Graufeld der Kriminalität) sind von geringem kriminalstatistischem Interesse, weil beide schwerlich der Aufhellung bedürfen und wohl auch nicht aufgehellt werden können. Das „Dunkelfeld krimineller Karrieren" erfordert eine besondere kriminologische Zuwendung, weil Mehrfachtäter einerseits in
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Kriminalstatistik und Dunkelfeldforschung
der Bevölkerung selten vorkommen, weil aber andererseits ein verhältnismäßig großer Teil der Kriminalität von ihnen verursacht wird. Was hier interessiert, ist das kriminalstatistische Dunkelfeld der Straftaten, das die tatsächlich begangenen und wahrgenommenen, aber den Strafverfolgungsbehörden verborgen gebliebenen und von ihnen nicht registrierten Delikte enthält.
7. Abschnitt: Geschichtliche Entwicklung der Dunkelfeldforschung Das Dunkelfeld war von Anbeginn kriminologischer Forschung die „große Crux der Kriminalstatistik" (Franz Exner 1949, 15). Man erkannte es wohl. Man versuchte aber, es aus der kriminalstatistischen Betrachtung auszuklammern und einfach hinwegzuargumentieren. Das geschah vor allem durch Adolphe Jacques Quételet (1835), der das „Gesetz der konstanten Verhältnisse" erfand. Er ging nämlich davon aus, daß zwischen Hellfeld (offiziell bekanntgewordener Kriminalität) und Dunkelfeld (den Strafverfolgungsbehörden verborgen gebliebener Kriminalität) ein konstantes, feststehendes Verhältnis besteht, daß also bei den Delikten, bei denen das Hellfeld groß ist, auch das Dunkelfeld genauso groß ist, und daß bei den Straftatbeständen, bei denen das Hellfeld klein ist, auch das Dunkelfeld genauso klein ist. Die offiziell statistisch erfaßte Kriminalität hat demnach für die wirkliche Kriminalität symptomatische, ja sogar repräsentative Bedeutung, wie es Arnold Wadler (1908) und Georg von Mayr (1911/1912) ausdrückten. Zwar hat bereits Ernst Roesner (1936) erkannt, daß das Dunkelfeld bei den einzelnen strafrechtlichen Tatbeständen bemerkenswerte Unterschiede aufweist. Das „Gesetz der konstanten Verhältnisse" ist aber erst verhältnismäßig spät als falsch bezeichnet worden (Thorsten Sellin 1951; Inkeri Anttila 1966; Leonard D. Savitz 1978). Das Dunkelfeld ändert sich von Delikt zu Delikt und von Jahr zu Jahr. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhielt die Dunkelfeldforschung immer größere Aufmerksamkeit.-In seiner deutschen Dissertation benutzte der japanische Staatsanwalt Shigema Oba (1908) den Begriff der „Dunkelziffer" erstmalig, der sich dann in der deutschsprachigen kriminologischen Forschung einbürgerte. Er hatte die englische Bezeichnung
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„dark number" (Dunkelzahl) mit „Dunkelziffer" falsch übersetzt. Der „dark number" (Dunkelzahl) steht der Begriff „light number" (Lichtzahl) gegenüber, den man am besten mit Hellzahl oder Hellfeld übersetzt. Die empirische Dunkelfeldforschung fing mit Dunkelfeldschätzungen an, die Kurt Meyer (1941) und Bernd Wehner (1957) unternahmen. Diese Schätzungen beruhten keineswegs nur auf Intuition, auf Eingebung, sondern man legte ihnen kriminologisches Erfahrungswissen zugrunde. Die empirische Dunkelfeldforschung setzte in den USA mit Selbstberichtuntersuchungen („Self-Report-Surveys") ein. Im Gebiet von Fort Worth/Texas befragte Austin L. Porterfield (1943, 1949) College-Studenten und -Studentinnen und delinquente Jugendliche, die man vor ein Jugendgericht gebracht hatte. Beiden Gruppen wurden Fragen gestellt, ob sie bestimmte Delikte, die man in der Umgangssprache näher umschrieben hatte, in ihrem Leben begangen hätten. Beide Gruppen hatten zwar dieselben Straftaten verübt, die College-Studenten und -Studentinnen hatten die Rechtsbrüche allerdings weniger häufig begangen. Porterfield kam zu dem Schluß, daß die delinquenten Jugendlichen, die ohnehin durch Familien- und Nachbarschaftsdesorganisation benachteiligt waren, durch ihre Jugendgerichtserfahrung nur noch mehr zurückgesetzt und in delinquente Karrieren geradezu hineingetrieben würden. Neben den Selbstberichtuntersuchungen entwickelten sich die Studien zum Opferwerden („Victimization Surveys") in den USA nur wenig später. Eine kriminologische Sachverständigenkommission, die „Kommission des Präsidenten zur Rechtsdurchführung und Justizverwaltung" (U.S. President's Commission on Law Enforcement and Administration of Justice) regte sie Anfang der sechziger Jahre an. Man wollte ein Meßinstrument schaffen, das die Kriminalitätsdaten — unabhängig von den Strafverfolgungsbehörden — unmittelbar und allein für statistische Zwecke erhebt (Primärstatistik) und das die Kriminalität aus der Sicht des Verbrechensopfers darstellt.
8. Abschnitt: Methoden der Dunkelfeldforschung Das gebräuchlichste Verfahren der Kriminalitätsmessung ist — neben der offiziellen Kriminalstatistik — die indirekte, vermittelte Beobachtung, die Befragung einer möglichst repräsentativen Stichprobe von Personen nach ihrem Täterwerden (Selbstberichtuntersuchungen), nach ihrem Opferwer-
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den (Untersuchungen zum Opferwerden) und nach ihrer Beobachtung des Täter- und Opferwerdens anderer Personen (Informantenbefragung). Es handelt sich hierbei um Primärstatistik, weil Zahlen für kriminalstatistische Zwecke unmittelbar erhoben werden. Der Dunkelfeldforscher befragt Menschen nach Straftaten, die sie entweder selbst begangen oder selbst erlitten oder selbst beobachtet oder in anderer Weise erfahren haben. Er geht also nicht von der Zählung der Delikte aus, auf die die Polizei, die Gerichte und der Strafvollzug reagiert haben (Sekundärstatistik).
9. Abschnitt: Aufgaben der Studien zum kriminellen Opferwerden Die Untersuchungen zum kriminellen Opferwerden haben sich die folgenden Ziele zur Aufgabe gemacht: — Sie stellen Ausmaß, Verteilung und Entwicklung der Kriminalität fest. Sie ermitteln die Häufigkeit des Opferwerdens, Tatorte und -zeiten, Beziehungen zwischen Tätern und Opfern und die soziodemographischen Merkmale der Täter und Opfer. — Sie erforschen die Schäden des Opferwerdens. Sie erfragen das Ausmaß der körperlichen und seelischen Verletzung und den Umfang des materiellen Verlustes. Sie stellen Sicherheitsgefühl und Verbrechensfurcht von Opfern und Nichtopfern gegenüber. — Sie klären das Risiko des Opferwerdens auf. Sie vergleichen die soziodemographischen Merkmale von Opfern und Nichtopfern und die Unterschiedlichkeit ihrer Verhaltensstile. Sie ziehen Erkundigungen über die Verletzbarkeit einer Person oder einer sozialen Einheit (eines Haushaltes) für Verbrechen ein. Sie ermitteln die Erfahrungen des Opfers mit seinem Opferwerden. — Sie versuchen, Auskunft über die Arbeitsweise und die Wirksamkeit des Kriminaljustizsystems zu geben. Sie stellen fest, ob und warum die Bevölkerung Verbrechen anzeigt oder nicht. Sie erfragen die Teilnahme der Bevölkerung am Kriminaljustizsystem und ihre Einstellung gegenüber diesem System. Sie versuchen schließlich, die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit der Bevölkerung mit Polizei, Gerichten und Strafvollzug zu untersuchen. Sie bemühen sich, die Ursachen für solche Zufriedenheit oder Unzufriedenheit zu ergründen.
Erträge der Studien zum Opferwerden
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10. Abschnitt: Erträge der Studien zum Opferwerden Die Befragungen von Personen nach ihrem kriminellen Opferwerden und nach dem Opferwerden des Haushalts, in dem sie leben, haben in verschiedenen Ländern (vgl. Tabelle 4 bei H. J. Schneider 1987a, 203-207) zu im wesentlichen übereinstimmenden Ergebnissen geführt, die folgendermaßen zusammengefaßt werden können: — Es werden mehr als doppelt so viele Straftaten begangen, wie angezeigt werden. Die offizielle Kriminalstatistik zeigt nur einen Ausschnitt aus der Gesamtkriminalität, die sich aus Hellfeld und Dunkelfeld zusammensetzt. Das Dunkelfeld, das von Delikt zu Delikt und von Land zu Land unterschiedlich ist, ändert seinen Umfang und seine Struktur mit dem Zeitablauf (ζ. B. mit dem Wandel in der Anzeigebereitschaft der Bevölkerung, mit der Intensität der Verbrechenskontrolle). Die offizielle Kriminalstatistik erfaßt im wesentlichen die traditionellen Verbrechen, die am schwersten sind und die von den Straftätern am häufigsten begangen werden. — Während im öffentlichen Bewußtsein Kriminalität mit Gewalt gleichgesetzt wird, besteht in der tagtäglichen Erfahrung Kriminalität hauptsächlich aus Diebstahl und Einbruch. Schwerverbrechen (ζ. B. Raub, Vergewaltigung) kommen verhältnismäßig selten vor. — Das Opferwerden ist nicht gleichmäßig in der Bevölkerung verteilt. Das Risiko, Opfer einer Vergewaltigung oder eines Raubes zu werden, ist sehr selten. Das Opferwerden durch vandalistische Akte oder durch kleinere Diebstähle kommt häufig vor. Männer werden öfter Verbrechensopfer als Frauen. Junge Leute haben ein höheres Risiko des Opferwerdens als ältere Leute. Täter- und Opferwerden nehmen mit dem Älterwerden ab. Das Opferwerden von Ledigen, Geschiedenen und Getrenntlebenden ist höher als das Opferwerden der Verheirateten. Großstadtbewohner werden in größerem Umfang Verbrechensopfer als Land-, Klein-, Mittel- oder Vorstadtbewohner. Arbeitslose neigen mehr zum Opferwerden. — Nur ein kleiner Teil der Opfer von Gewaltverbrechen trägt schwere körperliche Verletzungen davon. Von ihnen bedürfen wiederum nur wenige einer Krankenhausbehandlung. Vermögensdelikte verursachen zumeist geringere materielle Schäden. Straftaten mit hohen materiellen Schäden sind selten. Einzige Ausnahme ist der Autodiebstahl, der — im
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Rahmen der Vermögensdelikte — die finanziell aufwendigste Straftat darstellt. Obwohl Gewalttaten (ζ. B. Vergewaltigung, Raub) in der Regel nur geringfügigere Körperschäden hervorrufen, sind ihre psychischen und sozialen Schäden für die Opfer und ihre Familien schwerwiegend. Frauen sind für die Viktimisierung durch Gewalttaten empfindlicher als Männer. Sie erleiden schwerere Schäden. — Das Dunkelfeld einiger Deliktsgruppen ist besonders hoch: Rauschmittelkriminalität, Wirtschaftsstraftaten, Gewaltanwendung und Sexualstraftaten in der Familie (Frauen- und Kindesmißhandlung, Vergewaltigung in der Ehe, Inzest) und Vandalismus. Rauschmittelkriminalität zeigt das Opfer nicht an, weil es ihr meist zustimmt. Wirtschaftskriminalität wird der Polizei nicht gemeldet, weil häufig eine große Zahl von Opfern einen Schaden erleidet, der nur als geringfügig oder überhaupt nicht wahrgenommen wird. Gewaltanwendung und Sexualstraftaten in der Familie werden entweder von den Opfern nicht als Kriminalität betrachtet oder aus Rücksicht gegenüber dem Familienzusammenhalt nicht gemeldet. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Polizei vandalistische Handlungen aufklärt, wird von der Bevölkerung als gering eingeschätzt. — Nahezu die Hälfte aller Straftaten wird angezeigt. Rechtsbrüche, durch die größere materielle Schäden und/oder schwerere körperliche Verletzungen verursacht worden sind, werden eher gemeldet als Rechtsbrüche mit geringeren materiellen Schäden und leichteren Verletzungen. Vollendete Straftaten werden mehr angezeigt als versuchte. — Mitglieder der Unterschicht werden eher Opfer von Gewaltverbrechen. Mit der Höhe des Familieneinkommens wächst die Wahrscheinlichkeit, Opfer persönlichen oder Haushaltsdiebstahls zu werden. — Die Arbeit der Polizei wird überwiegend als durchschnittlich oder gut eingeschätzt. Die positivste Einstellung zur Polizei haben ältere Personen, Frauen und Angehörige niedrigerer sozialer Schichten. Junge, unverheiratete Männer stehen der Polizei indessen häufig kritisch gegenüber. Die Einstellung der Bevölkerung zur Arbeit der Gerichte und zum Strafvollzug ist negativer als zur Polizei. Gerichte und Strafvollzug werden für zu milde dem Straftäter gegenüber gehalten. Etwa ein Fünftel der Opfer ist mit der Arbeit der Polizei unzufrieden. Man bemängelt die Untätigkeit der Polizei, die mangelnde Information durch die Polizei und ihr fehlendes Einfühlungsvermögen gegenüber dem Opfer. — Mehrfaches Opferwerden ist zwar selten (etwa 5 % des Opferwerdens); es kommt aber häufiger vor, als man es nach dem statistischen Zufall
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erwarten würde. Opferwerden erhöht die Wahrscheinlichkeit des erneuten Opferwerdens. — Nicht bio-psycho-soziale Zustände, ζ. B. körperliche und seelische Schwäche im Alter, sondern Lebensstile führen zum erhöhten Opferwerden. Unter Lebensstil versteht man tägliche Routinetätigkeiten im Beruf, bei der Haushaltsführung, in der Freizeit und beim Schulbesuch. Manche Personen besitzen eine höhere Anziehungskraft für Straftäter (ζ. B. durch ihren Besitz hochwertiger materieller Güter). Andere Menschen setzen sich dem Verbrechen vermehrt aus, indem sie sich ständig in viktimogene Situationen begeben, die leicht zum Opferwerden führen. Soziale Isolation (ζ. B. Ledigsein, Getrenntleben, Geschiedensein) macht opferanfällig. Die räumliche und zeitliche Nähe zum Kriminellen und zur Kriminalität rufen schließlich in erhöhtem Maße Opferwerden hervor.
11. Abschnitt: Erträge der vergleichenden Dunkelfeldforschung In vierzehn verschiedenen Ländern, nämlich in den Vereinigten Staaten, in Kanada, Australien, Frankreich, England und Wales, Schottland, Nordirland, Spanien, in der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Belgien, Norwegen und Finnland, hat man im Jahre 1988 eine Dunkelfeldforschung mit der Methode der computergestützten Telefonbefragung nach dem Opferwerden durchgeführt (Jan J. M. van Dijk, Pat Mayhew, Martin Killias 1990), die folgende wesentliche Ergebnisse erbracht hat: — Berücksichtigt man alle erhobenen Delikte, so lag 1988 das Opferrisiko am höchsten in den Vereinigten Staaten und in Kanada und Australien. In Europa stehen die Niederlande an der Spitze, gefolgt von Spanien und Deutschland. Am geringsten war das Opferrisiko in Finnland, Norwegen und der Schweiz und in Nordirland. — Insgesamt wurden von den berichteten Straftaten in 1988 50 % bei der Polizei angezeigt. Eigentumsdelikte werden häufiger bei der Polizei gemeldet: 93 % der Autodiebstähle, 77 % der Einbrüche und 60 % der Fahrraddiebstähle. Seltener angezeigt wurden Raub (49 %), übrige Diebstähle (41 %), tätliche Angriffe (31 %) und mutwillige Beschädigung von Autos (39 %). Von den sexuellen Angriffen wurden 10 % der Polizei be-
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Im Blickpunkt: Kriminalitätsanstieg in der sozioökonomischen Entwicklung In zahlreichen Entwicklungsländern hat man beobachtet, daß die Kriminalität mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung ansteigt {Yves Brillon 1980, 1986; William Clifford 1981; Marshall B. Clinard 1983; Hans Joachim Schneider 1990a). Die Vereinten Nationen bemühen sich deshalb darum, dieses Problem kriminologisch zu klären. Auf ihrem 7. Kongreß über Verbrechensverhütung und Behandlung des Rechtsbrechers in Mailand verabschiedeten die Experten der Vereinten Nationen im Jahre 1985 den „Aktionsplan Mailand" (United Nations 1986, 2, 3), in dem es heißt: „Entwicklung ist — für sich genommen — noch nicht kriminogen, kriminalitätsverursachend. Unausgeglichene, unzulänglich geplante Entwicklung trägt allerdings zur Entstehung von Kriminalität bei." Die Kriminologie versucht, konkret herauszufinden, was „unausgeglichene, unzulänglich geplante Entwicklung" bedeutet. Zur Frage der Kriminalitätsentstehung und -kontrolle durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung sind sechs Theorien aufgestellt worden. - Der kriminalstatistische Ansatz nimmt an, daß die Kriminalität während der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung nicht wirklich wächst, sondern daß sich das Dunkelfeld der nichtentdeckten, verborgen gebliebenen, nichtregistrierten Verbrechen vermindert. Die Bevölkerung wird empfindlicher gegenüber Straftaten, und sie zeigt mehr Verbrechen der Polizei an. Das Kriminaljustizsystem tritt weitgehend an die Stelle der informellen Sozialkontrolle durch die gesellschaftlichen Gruppen. Es registriert mehr Straftaten und klärt mehr Kriminalität offiziell auf. — Die Ökonomische Theorie ist auf der Grundlage empirischer Forschung in Indonesien. Korea, Thailand und auf den Philippinen herausgearbeitet worden (United Nations Asia and Far East Institute for the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders 1988). Durch den viel zu schnellen und unkontrollierten Bevölkerungszuzug
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in die großstädtischen Ballungsräume entstehen tiberbevölkerte, sozial desorganisierte Gebiete (Slums, Armengettos), in denen es an einer ausreichenden Infrastruktur fehlt und in denen sich in kriminellen Subkulturen deviante Verhaltensstile und Wertvorstellungen herausbilden. Zur gleichen Zeit veröden die ländlichen Gebiete in zunehmendem Maße; es sind nicht mehr genügend geeignete Arbeitskräfte in der Landwirtschaft vorhanden; die Infrastruktur zerfällt aufgrund der Unterbevölkerung. — Nach der Gelegenheitstheorie (United Nations 1988) ist der gehobene Lebensstandard aufgrund der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung dafür verantwortlich, daß sich die Gelegenheiten zur Verbrechensbegehung vermehren. Der starke Anstieg der Vermögensdelikte ist auf eine gewachsene Erreichbarkeit und soziale Sichtbarkeit materieller Güter und darauf zurückzuführen, daß die Kontrolle dieser materiellen Güter wegen der Anonymität der Lebensführung in großstädtischen Ballungsräumen schwieriger wird. Aufgrund dieser Anonymität wird die Begehung von Verbrechen erleichtert und die Kriminalitätsaufklärung sowie die Überführung und Verurteilung des Rechtsbrechers erschwert. Die leichte Erreichbarkeit materieller Güter ändert ihre Wertschätzung in der Bevölkerung. Potentielle Opfer achten nicht aufmerksam genug auf ihr Eigentum. - Die demographische Theorie ist verbunden mit der Jugendsubkultur-Theorie (Clayton Α. Hartjen, S. Priyadarsini 1984; Hartjen me-, Paul C. Friday 1980; Theodore Ν. Ferdinand 1980): Während der Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung nimmt die junge Bevölkerung, die mit Delinquenz hoch belastet zu sein pflegt, stark zu. Gleichzeitig entwickeln sich Jugendsubkulturen. Während nämlich in der Agrargesellschaft die Jugend gut in die Erwachsenengesellschaft eingeordnet ist, bildet sich in der Industrie-, Kommunikations- und Dienstleistungsgesellschaft die Jugendzeit als eine eigenständige Lebensphase heraus, die völlig auf die schulische und berufliche Ausbildung und die Vorbereitung auf das Leben als Erwachsener ausgerichtet ist. In dieser Lebensphase sind die jungen Men-
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sehen in ihrem Status verunsichert, und sie verfremden sich immer mehr der Erwachsenengesellschaft (Jugendidentitätskrise). Es entfalten sich Jugendsubkulturen, in denen die Begehung von Delinquenz geduldet und unterstützt wird. - Die Theorie der subjektiven Benachteiligung (Deprivationstheorie) 0Louise /. Shelley 1981, 1986) erklärt den Kriminalitätsanstieg in Zeiten wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung aus der „Revolution steigender Erwartungen". Mit der Entwicklung verbessern sich die Lebensbedingungen. Allerdings nehmen die Erwartungen an den Lebensstandard in so ungeahnte Höhen zu, daß sie objektiv nicht erfüllt werden können. Auf- wie Absteiger fühlen sich subjektiv benachteiligt: die Absteiger, weil sie objektive Zurücksetzung erfahren haben, die Aufsteiger, weil sie - ihrer Meinung nach - nicht hoch genug aufgestiegen sind. - Nach der Anomie-Synnomie-Theorie (Freda Adler 1983; Marshall B. Clinard 1978) wandeln sich mit der Änderung der Wirtschaftsund Gesellschaftsstruktur auch der Lebensstil und das Wert- und Verhaltenssystem der Gesellschaft. Aufgrund des gleichzeitigen Vorhandenseins traditioneller und progressiver Lebensstile und Verhaltensnormen kommt es zu einer Vermehrung von Konflikteft, die nicht unterdrückt und gewaltsam entschieden werden dürfen. Die Gesellschaft und ihre sozialen Gruppen müssen vielmehr lernen, solche Konflikte friedlich zu lösen. Zerstören die Konflikte die sozialen Gruppen und die Einzelpersönlichkeiten dadurch, daß sie zwar verinnerlieht, aber nicht psychisch und sozial verarbeitet werden, so ist Anomie, Wertezerfall die Folge. Gelingt die friedliche psychische und soziale Verarbeitung der Konflikte, so kann dies zu erneuertem psychischem und sozialem Zusammenhalt, zur Werteübereinstimmung (Synnomie) führen.
richtet. Gewaltsame sexuelle Angriffe wurden allerdings häufiger aufgedeckt (24 %), darunter insbesondere Vergewaltigungen (48 %). — Nur 3,8 % der Opfer von Straftaten, die die Polizei informiert haben, erhielten Hilfe von einer Opferberatungsstelle oder einer ähnlichen Opfer-
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hilfseinrichtung. Wesentlich höher war demgegenüber der Anteil der Opfer, die eine solche Hilfe begrüßt hätten (35 %). Am stärksten war der Wunsch nach Opferhilfe bei den Opfern sexueller Angriffe. — Die Häufigkeit von Fahrzeugdiebstählen hing wesentlich ab vom Ausmaß der Motorisierung. Länder mit geringem Opferrisiko zeichnen sich durch einen geringen Grad an Verstädterung aus. In Ländern mit vielen berufstätigen Frauen ist das Verbrechensrisiko für beide Geschlechter relativ ausgeglichen, während in Ländern mit niedriger Beschäftigungsquote der Frauen (Niederlande, Nordirland, Schweiz) das Opferrisiko für Frauen deutlich niedriger liegt als für Männer. Zwei Drittel der Befragten, die Anzeige erstattet hatten, zeigten sich mit der Arbeit der Polizei zufrieden.
12. Abschnitt: Verhältnis der Dunkelfeldforschung zur offiziellen Kriminalstatistik Es gibt keine Kriminalität und keine Delinquenz, die man losgelöst von ihrer Reaktion betrachten kann. Kriminalität im weiteren Sinne, die durch die Strafgesetzgebung bestimmt ist, wird durch die Dunkelfeldforschung erhoben. Kriminalität im engeren Sinne, die sich aus der Strafgesetzanwendung herleitet, wird von der offiziellen Kriminalstatistik festgestellt. Kriminalität besteht in Verläufen, die man wahrnehmen und auf die man reagieren muß. Sie ist ein Konstrukt, eine gedankliche Hilfskonstruktion, ob sie nun durch Dunkelfeldforschung oder durch die offizielle Kriminalstatistik ermittelt wird. Beide Erhebungsformen kriminalstatistischer Daten liefern sich nicht ausschließende, sondern sich vielmehr ergänzende, konvergierende, übereinstimmende Zahlen über Delinquenz und Kriminalität, die für die kriminologische Forschung von großem Wert sind. Aus folgenden Gründen sind offizielle Kriminalstatistik und Dunkelfeldforschung als sich ergänzende Datenquellen nebeneinander erforderlich: — In der offiziellen Kriminalstatistik kommen mehr Gesichtspunkte der Praxis der Strafrechtspflege zum Tragen. Bei der Dunkelfeldforschung werden mehr Aspekte der kriminologischen Forschung berücksichtigt. — Die Dunkelfeldforschung erfaßt die leichtere, die offizielle Kriminalstatistik die schwerere Kriminalität und Delinquenz besser. — Falls sich die Kriminalität nach der offiziellen Kriminalstatistik erhöht,
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kann es sich um ein wirkliches oder auch nur um ein scheinbares Wachsen handeln. Die Anzeigefreudigkeit der Bevölkerung und die Strafverfolgungsintensität der Instanzen der formellen Sozialkontrolle, der Polizei, der Gerichte, des Strafvollzugs, können größer und das Dunkelfeld kann demzufolge kleiner geworden sein. Im umgekehrten Fall kann ein scheinbares Sinken der Kriminalität (in Wirklichkeit: eine Vergrößerung des Dunkelfeldes) vorliegen. Durch Ermittlungen des Dunkelfeldes kann daher festgestellt werden, ob sich die Kriminalität tatsächlich oder nur scheinbar verändert hat. — Durch einen Vergleich der Ergebnisse der Dunkelfeldforschung mit denen der Kriminalstatistiken der Polizei, der Gerichte und des Strafvollzugs kann ermittelt werden, ob die Instanzen der formellen Sozialkontrolle erfolgreich gearbeitet haben oder weitgehend unwirksam geblieben sind. Bei einem scheinbaren Sinken der Kriminalität (bei einer Vergrößerung des Dunkelfeldes in Wirklichkeit) ist den Instanzen der formellen Sozialkontrolle der Erfolg versagt geblieben. — Opferbefragungen ermöglichen Einblicke in die subjektive Seite der Kriminalitätserhebung (in die subjektive Sicherheitslage): in die Verbrechensfurcht, die Verbrechensphantasie der Bevölkerung, in die Einstellung der Befragten gegenüber den Instanzen der formellen Sozialkontrolle. Da sich mit einem Wandel des Rechtsbewußtseins auch die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung ändert (ζ. B. werden im Zuge einer Liberalisierung sexueller Werthaltungen weniger Sexualdelikte angezeigt), können durch Dunkelfeldforschung Wandlungen im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung festgestellt werden. — Durch Dunkelfeldforschungen werden internationale Kriminalitätsvergleiche erleichtert, weil bei den Opferbefragungen nahezu alle methodischen Verfälschungen der Tatsachenerhebung wegfallen, die notwendigerweise bei den Zählungen der Polizei, der Gerichte, der Bewährungshilfe und des Strafvollzugs auftreten müssen (ζ. B. Verschiedenartigkeit der Strafgesetzgebung und -anwendung). Wie die objektive und subjektive Sicherheitslage in der Bevölkerung tatsächlich ist, kann — nach allen bisherigen kriminologischen Erkenntnissen — niemals vollständig und absolut richtig aufgeklärt werden. Da die objektive und subjektive Sicherheitslage jedoch die Grundlage jeder kriminologischen Theoriebildung und aller kriminalpolitischen Argumentationen darstellt, muß die kriminologische Tatsachenanalyse offizielle
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und inoffizielle Kriminalstatistiken, empirische Einzelforschungen, Erhebungen über die Praxis des Kriminaljustizsystems und alle demographischen und Wirtschaftsdaten heranziehen, um zu einigermaßen verläßlichen Aussagen zu gelangen. Die Stützung auf nur eine Datenquelle kann irreführende Ergebnisse zur Folge haben.
3. Kapitel: Kriminalität: Ihr Umfang, ihre Struktur, ihre Verteilung, ihre Aufklärung und ihre Entwicklung
1. Abschnitt: Umfang und Struktur der Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland Nach der „Polizeilichen Kriminalstatistik" (Bundeskriminalamt 1992) sind im Jahre 1991 in der Bundesrepublik bei einer Einwohnerzahl von 79,7 Millionen 5,3 Millionen Straftaten (ohne Straßenverkehrsdelikte) verübt worden. Die Häufigkeitszahl betrug 6 649, die Gesamtaufklärungsquote 44,1 %. Bei einem Vergleich mit anderen vergleichbaren Industriestaaten stellt sich heraus, daß der Umfang und die Schwere ihrer Kriminalität — gemessen an den Häufigkeitszahlen — mit der Kriminalität in Frankreich und in England und Wales — im großen und ganzen — übereinstimmen. Es gibt allerdings auch Industrieländer, deren Kriminalität — gemessen an den Zahlen der „Polizeilichen Kriminalstatistiken" — umfangreicher und schwerer (ζ. B. USA) und andere, deren Kriminalität wesentlich geringer und leichter ist (ζ. B. Japan) (National Police Agency, Government of Japan 1991, 143). Im Vergleich zu anderen Industriestaaten des Westens sind Gewaltdelikte wie Mord, Raub und Vergewaltigung in der Bundesrepublik kein zahlenmäßig hervorstechendes Problem (William Clifford, Richard W. Harding 1985, 46-49). Das schwerste Häufigkeitsproblem besteht vielmehr beim Einbruch. Mit 35,1 % liegt der schwere Diebstahl in der Bundesrepublik an der Spitze der traditionellen Delikte. Ihm folgen der einfache Diebstahl mit 26,1 %, die Sachbeschädigung mit 9,8 % und der Betrug mit 7,3 % der klassischen Kriminalität. Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer befinden sich mit 0,9 %, Vergewaltigung mit 0,1 % und Mord und Totschlag mit 0,1 % am Ende
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der Rangfolge der Straftaten. Aus einer Übersicht über die Kriminalitätsstruktur im Lande Nordrhein-Westfalen (Landeskriminalamt 1992a) wird ersichtlich, daß den Hauptanteil an der klassischen Kriminalität Diebstahlsdelikte (64,3 %) bilden, daß Diebstähle von, aus und an Kraftwagen, von Fahrrädern, Mopeds und Krafträdern und aus Warenhäusern wiederum den Hauptanteil an der Diebstahlskriminalität ausmachen und daß Gewaltdelikte mit 2,6 % und Sexualdelikte mit 0,8 % eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle in der Kriminalitätsstruktur spielen. Bei der Gewalt- und Sexualkriminalität handelt es sich allerdings in einem Großteil der Fälle um Beziehungsdelikte, d. h. um Straftaten zwischen Verwandten, Nachbarn, Bekannten oder Arbeitskollegen. Da solche Beziehungsdelikte weniger vom Opfer angezeigt zu werden pflegen als Straftaten, die von Fremden begangen werden, liegt ein größerer Anteil der Beziehungsdelikte als der Straftaten im Dunkelfeld, die Fremde verübt haben.
2. Abschnitt: Entwicklung der Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland Seit dem Jahre 1955 haben die Zahlen der polizeilich bekanntgewordenen Delikte in der Bundesrepublik jährlich — von einigen unbeachtlichen Ausnahmen abgesehen — zugenommen. Im Jahre 1955 betrug die Häufigkeitszahl 3 018, im Jahre 1990 7 108. Die Häufigkeitszahl der Gewaltkriminalität belief sich im Jahre 1955 auf 69, im Jahre 1990 auf 175. Im selben Zeitraum ist die Gesamtaufklärungsquote von 72,6 % auf 47 % und die Aufklärungsquote der Gewaltkriminalität von 84,9 % auf 69,9 % gesunken. Aus einem Vergleich der Entwicklung der angezeigten Kriminalität in verschiedenen Industrieländern zwischen 1979 und 1989 (Ministry of Justice, Government of Japan 1991, 7) folgt, daß es Länder mit einem noch steileren Anstieg (ζ. B. USA), aber auch Länder mit einem wesentlich flacheren Wachstum (ζ. B. Japan) als die Bundesrepublik gibt. Die Erhöhung der Kriminalität ist freilich nicht nur auf einen „tatsächlichen", ständigen, schleichenden Anstieg, sondern auch auf die Umstände zurückzuführen, daß die Bevölkerung für alltägliche zwischenmenschliche Gewaltanwendung (ζ. B. in der Familie) empfindlicher geworden ist und daß
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Bagatelldelikte, ζ. B. Laden- und Fahrraddiebstahl, Fahrgeldhinteiziehung, eher als früher angezeigt werden (Hans-Jürgen Kerner 1983, 266). Das Kriminalitätswachstum ist also zum Teil auf eine Verkleinerung des Dunkelfeldes zurückzuführen. Seit dem Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 hat sich die Kriminalitätsentwicklung etwas geändert. In der ehemaligen „Deutschen Demokratischen Republik" gab es weniger Kriminalität als in der Bundesrepublik. Das weist eine Dunkelfelduntersuchung aus, die im Jahre 1990 für einen Erhebungszeitraum von 1986 bis zur Wiedervereinigung durchgeführt worden ist (Helmut Kury, Uwe Dörmann, Harald Richter, Michael Würger 1992; Kury 1992). Die Gründe für die geringere Kriminalitätshöhe und -schwere in der ehemaligen DDR können beispielhaft und stichwortartig — wie folgt — umrissen werden: stärkere informelle und formelle Kontrolle, ζ. B. das Arbeitskollektiv als Kontrollinstanz, weniger Freiräume für den einzelnen, nicht so viele großstädtische Ballungsgebiete, ein geringerer Ausländeranteil und damit eine homogenere Bevölkerungsstruktur (weniger soziale Desorganisation), eine niedrigere gesellschaftliche Mobilität, weniger Massentourismus, geringere Motorisierung, weniger große Erreichbarkeit und soziale Sichtbarkeit materieller Güter (Hans Joachim Schneider 1991c). Seit der Vereinigung sind die Kriminalität und die Verbrechensfurcht in beiden Teilen Deutschlands gestiegen (Kury 1992; Heike Ludwig 1992). Mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung wird sich die Kriminalitätshöhe und -struktur in den neuen ostdeutschen Ländern und in Ost-Berlin langsam und allmählich der Kriminalitätshöhe und -struktur Westdeutschlands angleichen.
3. Abschnitt: Alters- und Geschlechtsverteilung der Kriminalität Die Altersverteilung der Kriminalität kann aus den Kriminalitätsbelastungszahlen geschlossen werden. Die durchschnittliche Kriminalitätsbelastungszahl betrug im Jahre 1991 in der Bundesrepublik 2 197. Am geringsten sind die alten, über 60jährigen Menschen (Rriminalitätsbelastungszahl im Jahre 1991: 543) mit Verbrechen belastet. Die stärkste Kriminalitätsbelastung zeigt sich in den Altersgruppen der 18- bis 21jähri-
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