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German Pages 1086 Year 2009
Hans Joachim Schneider (Hrsg.) Internationales Handbuch der Kriminologie Band 2: Besondere Probleme der Kriminologie
Hans Joachim Schneider (Hrsg.)
Internationales Handbuch der Kriminologie Band 2: Besondere Probleme der Kriminologie
De Gruyter Recht · Berlin
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, ● das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt
Broschierte Ausgabe: ISBN 978-3-89949-129-6 Gebundene Ausgabe: ISBN 978-3-89949-131-9
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Gerhard O. W. Mueller (1926–2006) Thorsten Sellin (1896–1994) Marvin E.Wolfgang (1924–1998) in Dankbarkeit gewidmet
Vorwort Die empirischen und theoretischen Fragen, denen die Kriminologie sich nicht erst heutzutage zu stellen hat, sind außergewöhnlich zahlreich und vielgestaltig zugleich. Auf der einen Seite sind sie, wie alle anderen staatlichen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Phänomene, in ihrer konkreten historischen Entwicklung und aktuell gegenwärtigen Gestalt an lokale, regionale und nationale Eigentümlichkeiten gebunden. Dies wird etwa bei rechtlichen und namentlich strafrechtlichen Bezügen besonders deutlich, die in spätmodernen Staaten im Kern immer noch nationalstaatlich determiniert sind, auch wenn zunehmend transnationale (z. B. Europäische Union) oder internationale (z.B. UNO, Internationale Strafgerichtsbarkeit) Entwicklungen diesen Kern überlagern und umgestalten. Auf der anderen Seite sind die genannten Fragen strukturell betrachtet nicht an bestimmte Systeme gebunden: Sie reichen in anthropologische, ethologische, sozialpsychologische, entwicklungspsychologische, ökologische, soziologische und weitere hier nicht genannte Tiefenschichten hinein, aus denen sich zwei eng miteinander verwobenen Epiphänomene der „conditio humana“ seit alters her speisen: Verbrechen und Strafe. Einschlägige Stichworte auf höherer Aggregatebene, die der spezifischen makrokriminologischen wissenschaftlichen Bearbeitung bedürfen, sind hier beispielsweise Kriminalität, Kriminalisierung und Entkriminalisierung, transnationale und internationale Kriminalität wie Kriminalitätskontrolle. Bei Einzelnen und Gruppen lauten einschlägige Stichworte, die der spezifischen mikrokriminologischen wissenschaftlichen Bearbeitung bedürfen, beispielsweise Entstehungsbedingungen von Straftaten in der persönlichen Biographie, gespeist von interaktiven Elementen aus Persönlichkeit, sozialem Umfeld und der weiteren Umwelt; Werthaltungen, normative Einstellungen und Relevanzbezüge in ihrer Bedeutung für die Vermeidung von Straftaten einerseits, das Hineingleiten in eine so genannte kriminelle Karriere andererseits; die Rolle von Opfern bei Straftaten, in der Spannweite von absolut unschuldigem Ziel über unbewusste Zeichen der Opferanfälligkeit bis hin zur Mitverursachung; Möglichkeiten und Grenzen von Behandlung von Tätern, insbesondere von Therapie bei persönlichen und ggf. hartnäckigen Auffälligkeiten. Hinzu kommen, die Ebenen durchschneidend, Fragen der Implementation von Programmen der Kriminalitätskontrolle, Fragen der Strafwirkungen und ihrer Grenzen, schließlich Fragen der Verstärkung von Problemen eben durch Programme selbst und namentlich durch repressive Eingriffe, die in der Medizin seit langen Jahrzehnten strukturell unbefangen, wenngleich von den je konkret Betroffenen natürlich nicht
VII
Vorwort
durchweg persönlich neutral, unter dem Stichwort der „iatrogenen Krankheiten“ diskutiert und erforscht werden. In der (deutschen) Kriminologie wurden entsprechende Probleme erstmals in größerer Schärfe seit den späten 1960er Jahren thematisiert, namentlich durch die sozialpsychologischen Varianten der Etikettierungstheorie. Mit dem seit wenigen Jahren verstärkt aufkommenden international ausgerichteten Bewegungen von Täter-Opfer-Ausgleich, Mediation und Restorative Justice wird das klassische Verständnis von Reaktionen auf Kriminalität, das zwischen den Polen Abschreckung und Resozialisierung zeitbedingt oszilliert, in neue Bahnen zu lenken versucht, nämlich hin zu Konfliktausgleich, Schadenswiedergutmachung und im positiven Idealfall sogar Versöhnung, ggf. auch über die unmittelbar Betroffenen (Opfer und Täter) hinaus die Familie, die Nachbarschaft oder die örtliche Gemeinschaft als Ganzes betreffend. Alles dies und noch mehr in einem internationalen Handbuch „einfangen“ zu wollen, grenzt an eine heroische Aufgabe. Eine Auswahl ist unerlässlich, so oder so. Anreger und schließlich Herausgeber von solch groß angelegten Sammelwerken müssen darüber hinaus mit zahlreichen Herausforderungen, um nicht zu sagen auch Widrigkeiten, kreativ fertig werden, vom Gewinnen von Autoren angefangen, über das Sichern der, vor allem termingerechten, Abgabe von zugesagten Manuskripten, bis hin zur Abstimmung des Gesamtgehaltes der Beiträge. Hans Joachim Schneider, dem Herausgeber und zugleich mehrfachen Mitautor des „Internationalen Handbuchs der Kriminologie“, ist es in außergewöhnlichem Maße gelungen, die Herausforderungen zu meistern. In diesem 2. Band sind 33 Beiträge versammelt, die zum einen die Beiträge im 1. Band, zu dem David P. Farrington das Vorwort beigesteuert hat, bestens ergänzen, und die zum anderen ein eindrückliches Panorama der sozusagen modernen Landschaft von Verbrechen und Strafe sowie Kriminalität und Kriminalitätskontrolle zeichnen: Sie ordnen sich unter den Leitlinien Europa, Internationale Probleme, Politische und gesellschaftliche Probleme, Soziale- und Persönlichkeitsprobleme, Täter- und Opferprobleme, Gewaltprobleme, Sexualprobleme sowie schließlich Probleme der Bandendelinquenz. Es ist zu wünschen, dass dieses Handbuch hohe Verbreitung findet, national wie international, und dass es zu einem vertieften Verständnis von Kriminalität sowie zu einem rationalen und humanen Umgang mit Straftaten und Straftätern erfolgreich beiträgt. Tübingen, im Frühjahr 2009
VIII
Hans-Jürgen Kerner
Inhaltsübersicht Vorwort (Hans-Jürgen Kerner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
Einleitung Kriminologie in Europa (Hans Joachim Schneider) . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Internationale Probleme
1.1 1.2
Genozid (Völkermord) (Susanne Karstedt) . . . . . . . . . . . . . . . . . High-Tech-Verbrechen: Informations- und Kommunikationskriminalität / High-Tech-Crime: Information and Communication Related Crime (Peter Grabosky) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . International organisierte Schleusungskriminalität (Internationaler Handel mit Menschen) (Jürgen Stock) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der internationale Kriminalitätsvergleich mit Hilfe der Statistik (Hanns von Hofer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . International vergleichende Strafvollzugsforschung (Frieder Dünkel) . . . Die kriminologische Forschung im Rahmen der Vereinten Nationen / Criminological Research in the Framework of the United Nations (Jan J. M. van Dijk) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3 1.4 1.5 1.6
2
Politische und gesellschaftliche Probleme
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Kriminalität in den Massenmedien (Hans Joachim Schneider) Hass- und Vorurteilskriminalität (Hans Joachim Schneider) . Terrorismus (Jürgen Stock) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korruption (Britta Bannenberg) . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der Kriminalität (Günther Kaiser) . . . . . . . .
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73 103 121 145
227
255 297 339 359 385
3
Soziale und Persönlichkeitsprobleme
3.1
Kriminalität und Justiz in Skandinavien / Crime and Justice in Scandinavia (Ulla V. Bondeson) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migration und Kriminalität (Christian Grafl) . . . . . . . . . . . . . . .
413 435
3.2
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41
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1
IX
Inhaltsübersicht
3.3 3.4 3.5 3.6
Verbrechensfurcht und Einstellungen der Bevölkerung zur Kriminalität und ihrer Kontrolle (Joachim Obergfell-Fuchs/Helmut Kury) . . . . . . Gemeinschaftspolizeiarbeit / Community Policing (Wesley G. Skogan) . Die restaurative Justiz / Restorative Justice (John Braithwaite) . . . . . Drogen, Alkohol und Verbrechen (Irene Sagel-Grande) . . . . . . . . .
. . . .
455 481 497 507
4
Theorie- und Methodenprobleme
4.1 4.2 4.3
Erforschung der kriminellen Karriere / Criminal Career Research (Ineke Haen Marshall) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die kriminologische Verlaufsforschung (Klaus Boers) . . . . . . . . . . . Kriminalität in der Literatur (Heinz Müller-Dietz) . . . . . . . . . . . .
545 577 617
5
Gewaltprobleme
5.1 5.2 5.3 5.4
Tötungsdelikte / Homicides (Jenny Dimitra Mouzos) . . . . . . . . . Gewalt in der Familie (Hans Joachim Schneider) . . . . . . . . . . . . Gewalt in der Schule (Hans Joachim Schneider) . . . . . . . . . . . . Das (non-helping-)Bystander-Phänomen: Nichteingreifen bei Gewaltstraftaten (Hans-Dieter Schwind) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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647 667 727
. .
773
6
Sexual- und Gewaltprobleme
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
Sexuelle Kindesmisshandlung, sexueller Kindesmord (Barbara Krahé) . Vergewaltigung (Hans Joachim Schneider) . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualdelinquenz im Kindes- und Jugendalter (Hans Joachim Schneider) Rückfallprognose bei Sexualstraftätern (Hans Joachim Schneider) . . . Behandlung von Sexualstraftätern (Hans Joachim Schneider) . . . . . .
7
Probleme der Bandendelinquenz
7.1 7.2
Bandendelinquenz (Elmar G. M. Weitekamp) . . . . . . . . . . . . . . . Delinquente Netzwerke: gemeinschaftliche Tatbegehung Jugendlicher/ Delinquent Networks: Youth Co-Offending (Jerzy Sarnecki) . . . . . . .
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787 813 865 909 947
983 995
Schluss Die Freiheitsstrafe (Hans Joachim Schneider) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1025 Anhang Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1049 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1055 Inhaltsübersicht Band 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1075
X
Einleitung Kriminologie in Europa Kriminalität, Kriminologie und Kriminalpolitik Hans Joachim Schneider
Inhaltsübersicht 1 Die „European Society of Criminology (ESC)“ . . . . . . . . 1.1 Ihre historischen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die „American Society of Criminology (ASC)“ als Modell 1.3 Die Gründung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . .
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2 2 2 3
2 Entwicklungsstand der europäischen Kriminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Position der europäischen Kriminologie in der Weltkriminologie . . . . . . . 2.2 Die kriminologischen Schwerpunkte innerhalb Europas . . . . . . . . . . . . . .
3 5 6
3 Kriminalität in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Europäische Kriminalität aufgrund von Dunkelfelddaten 3.2 Kriminalitätsprofile einiger europäischer Länder . . . . 3.2.1 Kriminalität in England und Wales . . . . . . . . 3.2.2 Kriminalität in den Niederlanden . . . . . . . . . 3.2.3 Kriminalität in deutschsprachigen Ländern . . . 3.2.3.1 Kriminalität in Deutschland . . . . . . . 3.2.3.2 Kriminalität in der Schweiz . . . . . . . . 3.2.3.3 Kriminalität in Österreich . . . . . . . . . 3.2.4 Kriminalität in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Kriminalität in Frankreich . . . . . . . . . . . . .
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7 7 9 9 9 10 10 10 11 11 12
4 Kriminologie in einigen europäischen Ländern 4.1 Drei europäische Forschungs-Zentren . . . 4.2 Kriminologie im Vereinigten Königreich . . 4.2.1 Historische Entwicklung . . . . . . . 4.2.2 Gegenwärtige Lage . . . . . . . . . . 4.3 Kriminologie in den Niederlanden . . . . . 4.3.1 Historische Skizze . . . . . . . . . . 4.3.2 Heutiger Stand . . . . . . . . . . . . 4.4 Kriminologie in deutschsprachigen Ländern 4.4.1 Historische Entwicklung . . . . . . . 4.4.2 Gegenwärtige Lage . . . . . . . . . .
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12 12 12 12 13 14 14 14 15 15 16
Hans Joachim Schneider
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1
Einleitung 4.5 Kriminologie in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Kriminologie in Südeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 17
5 Einige kriminologische Forschungsschwerpunkte in Europa 5.1 Gewalt gegen Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Cambridge Längsschnitt-Studie . . . . . . . . . . 5.3 Die Peterborough Jugend-Studie . . . . . . . . . . . . 5.4 Das Eurogang-Paradox: Straßenbanden Jugendlicher 5.5 Das moralische Klima in Skandinavien . . . . . . . .
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18 18 20 21 21 23
6 Kriminalpolitik in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Determinanten der Kriminalpolitik . . . . . . . . . 6.1.1 Spekulative Interpretationsmodelle . . . . . . 6.1.2 Der Einfluss der Öffentlichen Meinung . . . . 6.1.3 Die Bedeutung gesellschaftlicher Lernprozesse 6.2 Kriminalpolitik in einigen europäischen Ländern . . 6.2.1 Kriminalpolitik in England und Wales . . . . 6.2.2 Kriminalpolitik in den Niederlanden . . . . . 6.2.3 Kriminalpolitik in Skandinavien . . . . . . . . 6.2.4 Kriminalpolitik in Deutschland . . . . . . . .
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7 Die Entwicklung der Hauptrichtung der Kriminologie in Europa
1
Die „European Society of Criminology (ESC)“
1.1
Ihre historischen Grundlagen
Ende des 18. und im 19. Jahrhundert ist die Kriminologie in Europa entstanden. Hierbei entwickelte sich die Kriminalbiologie hauptsächlich in Italien, die Kriminalsoziologie in Frankreich und die Kriminalpsychologie in Deutschland. Im Jahre 1903 veröffentlichte Gustav Aschaffenburg zum ersten Mal ein deutschsprachiges Lehrbuch der Kriminologie, das er „Das Verbrechen und seine Bekämpfung“ und in seinem Untertitel eine „Kriminalpsychologie“ nannte. In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts standen sich das „Kraepelin Paradigma“ 1, die Integration von Kriminalbiologie mit der Kriminalpsychologie, und das „Aschaffenburg Paradigma“, die Integration von Kriminalsoziologie mit der Kriminalpsychologie, in Deutschland gegenüber (Wetzell 2000, 69, 397). Unter dem Einfluss des Zeitgeistes des 2., 3. und 4. Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts entschieden sich die Kriminologen im deutschsprachigen Raum für das „Kraepelin Paradigma“, für die Kriminalbiologie und die Psychopathologie. Dieser Einfluss lebt bis heute im deutschsprachigen Raum fort. 1.2
Die „American Society of Criminology (ASC)“ als Modell
Ganz anders verlief die Entwicklung in den USA. Dort wurde eine englische Übersetzung des Buches von Gustav Aschaffenburg im Jahre 1913 veröffentlicht und im Jahre 1968 nachgedruckt. Aschaffenburgs Buch diente als Muster und Vorbild für
1 Nach Emil Kraepelin (1856–1926), Psychiatrie-Professor in Heidelberg und München.
2
Hans Joachim Schneider
Kriminologie in Europa
eine Reihe U.S.-amerikanischer kriminologischer Lehrbücher (so Reckless 1970, 4–20 und 1973, 691), die in den 20er, 30er, 40er und 50er Jahren erschienen (H.J. Schneider 2004a, 173). Die Entwicklung wurde durch die Chikago-Schule (Shaw/McKay 1931) und durch die grundlegenden Arbeiten von Edwin H. Sutherland (1947, 6–9) und Travis Hirschi (1969) ausgebaut (Laub 2004). Auf dieser Grundlage aufbauend, machte die U.S.-amerikanische Kriminologie in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts einen erstaunlichen Fortschritt, der sie an die Spitze der Weltkriminologie führte. Die Jahrestagungen der „Amerikanischen Gesellschaft für Kriminologie“ spielten bei dieser Entwicklung eine maßgebliche Rolle. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nahmen auf diesen Jahrestagungen von etwa 80 im Jahre 1965 auf nahezu 3.000 im Jahre 2000 zu. Im Jahre 1946 zählte die ASC 40 Mitglieder, im Jahre 2001 demgegenüber 3.400. Eine beeindruckende Buchproduktion, viele neue Zeitschriften, die Gründung von 60 Graduiertenschulen in Kriminaljustiz und Kriminologie und die beträchtlichen Ausgaben des „National Institute of Justice“ in Washington D.C. für die kriminologische Forschung haben die U.S.-amerikanische Kriminologie in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zur „Marktführerin“ in der Welt gemacht (vgl. H. J. Schneider 2005a). 1.3
Die Gründung der Gesellschaft
Nach dem Modell der „Amerikanischen Gesellschaft für Kriminologie“ ist die „Europäische Gesellschaft für Kriminologie“ am 7./8. April 2000 in Den Haag gegründet worden. Sie ist eine Gesellschaft nach englischem Recht. Ihr juristischer Sitz ist Cambridge/UK. Ihre Hauptaktivitäten bestehen in der Organisation von Jahrestagungen und in der Herausgabe eines Newsletter: „Criminology in Europe“ und einer Zeitschrift: „European Journal of Criminology“. Die „Europäische Gesellschaft für Kriminologie“ ist nicht nur deshalb gegründet worden, um die Beziehungen der nationalen Kriminologien innerhalb Europas zu stärken, sondern um eine europäische kriminologische Forschung und Lehre zu entwickeln und um auf diese Weise die Bedeutung der euopäischen Kriminologie nach außen zu beleben. Die europäische Kriminologie soll zur Partnerin der U.S.-amerikanischen Kriminologie werden und eine von ihr unabhängige Identität entfalten. Sie hat sich die Förderung der vergleichenden theoretischen und empirischen kriminologischen Forschung und Lehre und des europäischen kriminologischen Nachwuchses, z.B. durch Vortragswettbewerbe, zum Ziel gesetzt.
2
Entwicklungsstand der europäischen Kriminologie
Um die Bedeutung der europäischen Kriminologie zu ermessen, ist es notwendig, sie in die Weltkriminologie einzuordnen. Methodologische Grundlage der Beurteilung der Weltkriminologie sind – neben der internationalen kriminologischen Literatur – Erfahrungen während kriminologischer Vortrags- und Informationsreisen, die in vier Jahrzehnten in alle Teile Europas, besonders auch Osteuropas und Russlands, nach Nord- und Südamerika, nach Asien, besonders nach Japan, in den Nahen Osten, besonders nach Israel, nach Australien und Südafrika unternommen worden sind. Der Hans Joachim Schneider
3
Einleitung
Beurteilung liegt ferner die Teilnahme an fast allen Tagungen der „International Society of Criminology“ (ISC), der „American Society of Criminology“ (ASC) und der „European Society of Criminology“ (ESC) zugrunde. Die Daten der letzten Tagungen dieser drei größten kriminologischen Gesellschaften sind in den Tabellen 1 bis 3 zusammengefasst; sie können freilich nur als Indikatoren für die Beurteilung dienen. Die Qualität der Referate, die auf allen Tagungen dieser drei Gesellschaften gehalten worden sind, wird zur Bewertung der Kriminologie in den verschiedenen Weltregionen herangezogen. Tabelle 1: Internationale Gesellschaft für Kriminologie (Paris) Mitglieder: etwa 1000 in 50 Ländern Weltkongresse 1:
Seoul/Korea 1998; Rio de Janeiro 2003; Philadelphia 2005; Barcelona 2008
Teilnehmerinnen/ Teilnehmer:
1000 bis 2000 (davon international 200 bis 500)
Arbeitsgruppen:
50 bis 150
Vorträge:
150 bis 450
Themen:
25 bis 35
Die am meisten diskutieren Themen:
Polizeiforschung, Gewaltkriminalität, Viktimologie, restaurative Kriminaljustiz
Die am meisten vertretenen Länder:
USA; Vereinigtes Königreich, Deutschland
Charakteristikum:
Nationale Kongresse des Austragungslandes mit internationaler Beteiligung
1 Es wurden Durchschnittszahlen dieser Kongresse ermittelt. Diese Zahlen beziehen sich auf jeweils eine Tagung.
Tabelle 2: Amerikanische Gesellschaft für Kriminologie (Columbus/Ohio) Mitglieder: 3400 Jahrestagungen1:
Atlanta 2001; Chicago 2002; Denver 2003; Nashville/Tennessee 2004; Toronto/Kanada 2005; Atlanta 2007; St.Louis 2008
Teilnehmerinnen/ Teilnehmer:
2000 bis 3000 (davon international 50 bis 100)
Arbeitsgruppen:
400 bis 600
Vorträge:
etwa 2000
Themen:
40 bis 60
Die am meisten diskutieren Themen:
Ursachentheorien, Methodologie, Evaluationsforschung, Gewalt- und Drogendelikte
Länder:
etwa 15
4
Hans Joachim Schneider
Kriminologie in Europa
Die am meisten vertretenen Länder:
USA, Kanada, Vereinigtes Königreich, Australien
Charakteristikum:
Nationaler Kongress der USA mit begrenzter internationaler Beteiligung
1 Es wurden Durchschnittszahlen dieser Tagungen ermittelt. Diese Zahlen beziehen sich auf jeweils eine Tagung.
Tabelle 3: Europäische Gesellschaft für Kriminologie (Cambridge/UK) Mitglieder: 690 Jahrestagungen1:
Lausanne 2001; Toledo/Spanien 2002; Helsinki 2003; Amsterdam 2004; Krakau 2005; Tübingen 2006; Bologna 2007; Edinburgh 2008
Teilnehmerinnen/ Teilnehmer:
350 bis 800 (aus 32 europäischen und 13 außereuropäischen Ländern)
Arbeitsgruppen:
50 bis 150
Vorträge:
250 bis 500
Themen:
etwa 25
Die am meisten diskutieren Themen:
Polizei und Kriminaljustiz, Strafvollzug, Gewaltkriminalität, Jugenddelinquenz und -kriminaljustiz
Länder:
30 bis 45 (davon 13 außereuropäische Länder)
Die am meisten vertretenen Länder:
Vereinigtes Königreich, Niederlande, Belgien, Deutschland
Charakteristikum:
Europäischer Kongress mit begrenzter außereuropäischer Beteiligung
1 Es wurden Durchschnittszahlen dieser Tagungen ermittelt. Diese Zahlen beziehen sich auf jeweils eine Tagung.
2.1
Die Position der europäischen Kriminologie in der Weltkriminologie
In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Weltkriminologie – unter Führung der U.S.-amerikanischen Kriminologie – zu einer internationalen, interdisziplinären, autonomen Sozial- und Verhaltenswissenschaft entwickelt. Das wird nicht nur an den Zahlen der Referate und der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der ASC-Jahrestagungen deutlich (H. J. Schneider 2003c; 2005d; 2007b). Das zeigt sich auch an der Beteiligung der U.S.-amerikanischen Kriminologen an den Weltkongressen der ISC und an den ESC-Jahrestagungen. Während die ISC und die ASC fast gleichzeitig, die ISC in Rom 1938, die ASC in Berkeley/Kalifornien 1941, mit ihren Kongressen begonnen haben, fing die ESC erst im Jahre 2001 in Lausanne mit ihren Tagungen an. Die ISC erlebte in Europa ihre größten Erfolge in den 50er, 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Seit dem Ende der 70er Jahre und dem Anfang der 80er Jahre hat die ASC die ISC in den Zahlen ihrer Mitglieder, ihrer Tagungsreferate und -teilnehmer und in der Vielfalt ihrer Hans Joachim Schneider
5
Einleitung
behandelten Tagungsthemen eingeholt und überholt. Die Jahrestagungen der ASC sind zu den größten kriminologischen Kongressen in der Welt geworden. In ihren ersten acht Jahrestagungen hat die ESC eine enorme Entwicklung durchlaufen (H. J. Schneider 2003b; 2004c). Sie hat die Zahlen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, der Referate und der diskutierten Themen der Weltkongresse der ISC fast schon erreicht. Die Kriminologie hat sich allerdings nicht so gut entfaltet wie in den USA. Das zeigt ein Vergleich der Referats- und Teilnahme-Zahlen im Rahmen der Jahrestagungen der ASC und der ESC. Die Referate- und Teilnahme-Zahlen der ESC-Jahrestagungen machen nicht einmal ein Drittel der ASC-Jahrestagungen aus. Die Variationsbreite der behandelten Themen ist auf den ASC-Jahrestagungen (40 bis 60 je Tagung) größer als auf den ESC-Jahrestagungen (etwa 25 je Tagung). Aus diesem Vergleich der Entwicklung der drei großen kriminologischen Gesellschaften ergibt sich: Die U.S.-amerikanische Kriminologie hat die Führung in der Weltkriminologie und insbesondere in den englischsprachigen Ländern, z.B. Kanada, Australien, übernommen. Damit hat sich die sozialwissenschaftlich-pragmatische, evaluative Richtung der Kriminologie als Hauptrichtung durchgesetzt. Die kritisch-radikale Schule ist eine Nebenrichtung geblieben. Die psychopathologische, multifaktorielle Richtung spielt keine Rolle mehr. Die europäische Kriminologie entwickelt sich sehr schnell unter dem Einfluss der U.S.-amerikanischen Hauptrichtung. Sie ist – wie die U.S.-amerikanische – soziologisch, sozialpsychologisch und psychologisch orientiert. In den USA stehen die Kriminalitätstheorien und die kriminologische Methodologie: Karriere-, Längsschnitt- und Evaluationsforschung mehr im Zentrum des Interesses, während in Europa die Kriminalphänomenologie und die Sanktionsforschung überwiegend Beachtung findet. Während die ersten Weltkongresse der ISC (Rom 1938; Paris 1950; London 1955; Den Haag 1960; Montreal 1965; Madrid 1070) sehr stark klinisch-kriminologisch, psychopathologisch ausgerichtet waren und der multifaktoriellen Richtung folgten, haben Kriminalsoziologie, Sozialpsychologie und Psychologie seit dem ISC-Kongress in Belgrad (1973) eine zunehmende Bedeutung auf den ISC-Tagungen erlangt (H.J. Schneider 2003a; 2005c). Die europäische Kriminologie entwickelt sich indessen hauptsächlich auf den Jahrestagungen der ESC, während die ISC sich mehr auf die Länder, in denen Kriminologie sich noch in ihren Anfängen befindet, z.B. Japan, Südafrika, und auf die Entwicklungsländer Asiens, Südamerikas und Afrikas konzentriert. 2.2
Die kriminologischen Schwerpunkte innerhalb Europas
Über die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den ESC-Jahrestagungen kommt aus dem Vereinigten Königreich, aus Italien, den USA, Belgien, den Niederlanden und Deutschland (Nobli/Crocitti 2008). Das sind auch die Länder mit den höchsten Mitgliederzahlen in der ESC (Aebi/Kronicz 2008). Der Schwerpunkt der europäischen Kriminologie liegt auf diesen Ländern. An den Prozentsätzen der Teil-
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Hans Joachim Schneider
Kriminologie in Europa
nehmerzahlen an der ESC-Jahrestagung in Bologna (2007) kann man die Gewichtsverteilung innerhalb dieser Schwerpunktländer ermessen (Nobli/Crocitti 2008): Vereinigtes Königreich (23,3 %), Italien (13,8 %), USA (6,8 %), Belgien (6,2%), Niederlande (5,8 %) und Deutschland (5,1 %). Italien ist freilich übergewichtet, weil es das Austragungsland der ESC-Tagung in Bologna war. Die Kriminologie ist auch stark in den skandinavischen Ländern vertreten. Ihr Gewicht in der Schweiz (Eisner/Killias 2004) und Österreich ist durchschnittlich. Relativ schwach sind die französischen (Maillard/Roché 2004) und russischen Einflüsse. Unterentwickelt ist die Kriminologie in den ost- und südeuropäischen Ländern. Ausnahmen bilden lediglich Italien, Griechenland (Lambropoulou 2005), die Tschechische Republik, Polen (Krajewski 2004), Ungarn (Kerezsi/Lévay 2008) und Slowenien.
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Kriminalität in Europa
3.1
Europäische Kriminalität aufgrund von Dunkelfelddaten
Darstellung und Vergleiche der europäischen Kriminalität, gemessen an offiziellen Kriminalstatistiken (Aebi/Aromaa u.a. 2006), sind problematisch (Dijk 2008, 41/42). Denn die offizielle Reaktion auf Kriminalität, die den amtlichen Kriminalstatistiken innewohnt, wirkt sich wirklichkeitsverzerrend aus. Die polizeiliche Kriminalstatistik ist z.B. sehr stark von der Anzeigebereitschaft der Bevölkerung und der Kontrollintensität der Polizei abhängig. Deshalb gibt es seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts Viktimisierungsstudien (Untersuchungen der Bevölkerung in ihr Opferwerden), die in die folgenden zwei Typen eingeteilt werden können (Westfelt/Estrada 2005, Tonry/Farrington 2005): – Nationale Viktimisierungs-Studien (z.B. die „British Crime Survey“) und – Internationale Viktimisierungs-Studien (z.B. die „International Crime Victims Survey“/ICVS). Die ICV ist zuletzt 2004/2005 erhoben worden (Dijk/Kestereen/Smit 2007); sie ist für Europa im Jahre 2005 in der „European Crime and Safety Survey“ (EU ICS) fortgeführt worden (Dijk/Manchin/Kesteren/Hideg 2007). Zwar erfassen die Viktimisierungsstudien auch nicht die volle Realität der Kriminalität. Denn mannigfache methodische Schwächen können ihnen nachgewiesen werden (Dijk 2008, 13). Für Kriminalitätsvergleiche sind sie indessen derzeit das beste Mittel. Der „Europäische Kriminalitäts- und Sicherheitsüberblick“ (EU ICS) umfasst die folgenden 18 Länder: Österreich, Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Polen, Portugal, Spanien, Schweden und das Vereinigte Königreich. In jedem Land sind im Jahr 2005 etwa 2000 Telefoninterviews (zusammen 37.764 Interviews) durchgeführt worden. Es wurden Personen über 16 Jahren nach folgenden Delikten gefragt: Kraftfahrzeugdelikte (Autodiebstahl, Diebstahl aus Kraftfahrzeugen, Motorraddiebstahl), Fahrraddiebstahl, Diebstahl und Einbruchsdiebstahl, Taschendiebstahl, Kontaktdelikte (Raub, sexuelle Übergriffe (unter Einschluss der Vergewaltigung), Körperverletzung, Bedrohung) und Hassverbrechen. Die Antwortrate betrug 48,3 %. Die Anzeigequote belief sich im Jahre 2000 auf 52 % für Europa (Frate 2004, 66). In den Hans Joachim Schneider
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Einleitung
meisten Ländern wurden fast alle Kraftfahrzeugdiebstähle (Versicherung!), mehr als die Hälfte der Fahrraddiebstähle und Raubüberfälle, aber nur etwa ein Drittel der Körperverletzungen und Bedrohungen bei der Polizei angezeigt. Am wenigsten wurden sexuelle Übergriffe der Polizei zur Kenntnis gebracht (im Durchschnitt 15 %). Frauen enthüllen – auch bei allgemeinen Dunkelfeldbefragungen – nur ungern und selten sexuelle Viktimsierungen (Baldry 2002, 262). Die wichtigsten Gründe für die Nichtanzeige aller Delikte waren: Das Delikt war nicht schwer genug. Es ist kein Schaden entstanden. Der Konflikt wurde einvernehmlich gelöst. Eine Strafanzeige wäre unangemessen gewesen. Die Polizei konnte nichts tun. Opferhilfsdienste waren im Vereinigten Königreich (16 %) am meisten vorhanden. Vergleichsweise hohe Raten der Opferhilfe fand man auch in den Niederlanden (14 %), in Österreich (13 %), in Belgien (12 %), in Dänemark (10 %) und Schweden (9 %) vor. Wenig Opferhilfe gab es demgegenüber in Ungarn (0,4 %), in Finnland (2 %), in Deutschland (2 %), in Griechenland (2 %), in Italien (3 %) und in Spanien (3 %). Fast 15 Prozent der Bevölkerung in den 18 EU-Ländern sind im Jahr 2004 Verbrechensopfer geworden. Die Viktimisierungsrate hat sich seit 1988 – wie folgt – verändert: Die Durchschnitts-Viktimisierungs-Rate stieg von 16,9 % im Jahre 1988 auf 21,6 % in den Jahren 1992 und 1996. Sie sank leicht auf 19,3 % im Jahr 2000 und ging jäh auf 14,9 % im Jahre 2004 zurück. Die Höhe der Viktimisierung kann in Europa im Jahr 2004 auf drei Ländergruppen – wie folgt – aufgeteilt werden (Dijk/Manchin/ Kesteren/Hideg 2007): – Unter hohen, überdurchschnittlichen Viktimisierungsraten leiden die Länder: Vereinigtes Königreich, Estland, die Niederlande, Dänemark und Belgien. – Durchschnittliche Viktimisierungsraten weisen die Länder: Polen, Schweden, Deutschland und Luxemburg auf. – Niedriger, unterdurchschnittlicher Viktimisierungsraten erfreuen sich die Länder: Spanien, Ungarn, Portugal, Frankreich, Österreich und Griechenland. Zwischen armen und reichen Ländern einerseits und Kriminalitätshöhe andererseits fand man keine Beziehung. Es gab sowohl arme wie reiche Länder mit niedriger und hoher Kriminalität. Hassverbrechen, die wegen der Nationalität, der Rasse, der Religion oder der sexuellen Orientierung des Opfers begangen werden, fielen 3 % der europäischen Bevölkerung und 10 % der Immigranten zum Opfer (Dijk 2008, 82). Sie wurden am häufigsten in Frankreich verübt. Ost- und westeuropäische Großstädte unterscheiden sich in ihrer Viktimisierungsrate nicht voneinander (Frate/Kesteren 2002, 63). Wenn man die europäischen Viktimisierungsraten mit denen außereuropäischer Länder vergleicht, so ergibt sich Folgendes (Dijk/Kesteren/Smit 2007, 158): – Die Viktimisierung wegen Einbruchs, Raubes, Körperverletzung und Bedrohung ist in den USA nicht höher als in den meisten Teilen Westeuropas. – Die Viktimisierung in Kanada und Australien liegt etwas unter dem Durchschnitt der „Europäischen Union“.
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Hans Joachim Schneider
Kriminologie in Europa
3.2. Kriminalitätsprofile einiger europäischer Länder Die Kriminalitätshäufigkeit und -struktur eines Landes kann man nur ermessen, wenn man sie zum Umfang und zur Art der Kriminalität anderer Länder in Beziehung setzt. Deshalb werden – hauptsächlich aufgrund der Daten des „Europäischen Kriminalitäts- und Sicherheitsüberblicks“ (EU ICS) (Dijk/Manchin/Kesteren/Hideg 2007) – die Kriminalitätsprofile einiger europäischer Länder im Folgenden skizziert. 3.2.1 Kriminalität in England und Wales England (mit Wales) ist ein Land mit hoher Kriminalität im europäischen Maßstab, aber mit mittlerer Kriminalität im Weltmaßstab (Dijk 2008, 51). Kraftfahrzeugdelikte, Diebstahl und Einbruchsdiebstahl sowie Taschendiebstahl sind weit verbreitet, Kontaktdelikte, insbesondere Sexualdelikte gegen Frauen, sind beträchtlich, und Fahrraddiebstahl, Drogen- und Hassdelikte liegen über dem europäischen Durchschnitt. Tötungsdelikte befinden sich allerdings im Welt-Mittel-Feld (Dijk 2008, 78). Die Bevölkerung fühlt sich nicht sehr sicher. Sie ist einigermaßen mit ihrer Polizei zufrieden. Ihre Punitivität, gemessen an ihrer Befürwortung der Freiheitsstrafe, ist überaus hoch. Demgegenüber hält sie nichts von der Sanktion der gemeinnützigen Arbeit. Die Viktimisierungsrate betrug in den Jahren 2004/2005 24 %. Sie ist von 40 % im Jahr 1995 auf 24 % in den Jahren 2004/2005 gefallen (Nicholas/Povey/Walker/Kershaw 2005). Gleichwohl nehmen 61% der Bevölkerung an, dass die Kriminalität gestiegen ist, und 27 % sind sogar der Meinung, dass der Anstieg sehr hoch ist. Diese falsche Annahme wird auf den Einfluss der Massenmedien zurückgeführt (Wiles 2004). Die Kriminalitätsstruktur sieht folgendermaßen aus: 78 % Vermögens- und 22 % Gewaltkriminalität. Mehrfach-Viktimisierung ist bei Gewalt in der Familie am meisten verbreitet: 46 % zwei- und mehrfach, 24 % drei- und mehrfach. Die Anzeigequote betrug 2004/2005 43 % (Nicholas/Povey/Walker/Kershaw 2005). Im Legalitätsindex (Index of Lawfulness) 2 gehört das Vereinigte Königreich zu den Ländern mit einer hohen Punktzahl (Dijk 2008, 301). 3.2.2 Kriminalität in den Niederlanden Die Niederlande sind ein Land mit scheinbar hoher Kriminalität. Denn nur die Fahrraddiebstähle, also eine leichtere Form der Kriminalität, sind sehr stark verbreitet. Kraftfahrzeugdelikte, Taschendiebstahl, Drogen- und Hassverbrechen liegen etwas über, Diebstahl und Einbruchsdiebstahl erheblich unter dem europäischen Durchschnitt. Kontaktdelikte werden im europäischen Maßstab wenig verübt. Tötungsdelikte gehören in das Welt-Mittel-Feld. Die Kriminalität hat überhaupt im Welt-Maßstab ein mittleres Niveau (Dijk 2008, 51, 78). Die Bevölkerung fühlt sich ziemlich sicher; sie ist – alles in allem – mit ihrer Polizei zufrieden. Die Punitivität ist
2 Den Legalitätsindex (Index of Lawfulness) hat Jan J.M. van Dijk (2006) entwickelt. In ihm sind die Indikatoren für Polizeileistung, Rechtsstaatlichkeit und drei Kriminalitätstypen: konventionelles und Organisiertes Verbrechen sowie Korruption kombiniert. Hohe Punktwerte zeigen ein hohes Niveau der Justiz und ein niedriges Niveau der Kriminalität an. Hans Joachim Schneider
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Einleitung
sehr ausgeprägt; gemeinnützige Arbeit wird mehrheitlich abgelehnt. Vorbeugend (Einbruchsalarmsystem) wird nicht sehr viel gegen Kriminalität unternommen. Die Vermögenskriminalität ließ in den späten 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts, die Gewaltkriminalität Mitte der 80er und nochmals Mitte der 90er Jahre nach (Tonry/ Bijleveld 2007, 21/22). Im Dunkelfeld sind im Jahr 1999 980.000 Gewaltstraftaten begangen worden, von denen 86.000 (weniger als 10 %) der Polizei angezeigt worden sind (Boutellier 2004, 62). Im Legalitätsindex zählen die Niederlande zu den Ländern mit den höchsten Punktwerten (Dijk 2008, 301). 3.2.3
Kriminalität in deutschsprachigen Ländern
3.2.3.1 Kriminalität in Deutschland Die Kriminalität in Deutschland liegt – alles in allem – im europäischen Durchschnitt (H. J. Schneider 2005b, 643). Nord- und Ostdeutschland sind mit mehr Kriminalität belastet als Süd- und Westdeutschland. Physische und sexuelle Gewalt gegenüber Frauen sind weit verbreitet (Aromaa/Leppä 2003, 80; Yodanis 2002, 273). Tötungsund Sexualdelikte gehen allerdings über den Weltdurchschnitt nicht hinaus (Dijk 2008, 78, 85). Fahrraddiebstähle liegen etwas über, Taschendiebstähle, Hass- und Drogendelikte unter dem europäischen Durchschnitt. Kraftfahrzeug- und Kontaktdelikte sowie Diebstahl und Einbruchsdiebstahl werden – nach europäischem Maßstab – wenig verübt. Die Bevölkerung fühlt sich ziemlich sicher. Sie ist mit ihrer Polizei hoch zufrieden. Die Punitivität, gemessen an der Befürwortung der Freiheitsstrafe, ist nicht sehr ausgeprägt. Für die gemeinnützige Arbeit als Sanktion spricht man sich mehrheitlich aus. Die Bemühungen um die Verbrechensvorbeugung liegen im europäischen Durchschnitt. Nach dem Legalitätsindex gehört Deutschland zu den Ländern mit hohen Punktwerten (Dijk 2008, 301). 3.2.3.2 Kriminalität in der Schweiz Die Schweiz ist im „Europäischen Kriminalitäts- und Sicherheitsüberblick“ (EU ICS) nicht enthalten. Mit einer Gesamtstichprobe von 3.898 Telefoninterviews ist allerdings im Jahre 2005 in der Schweiz eine selbstständige Viktimisierungsstudie durchgeführt worden (Killias/Haymoz/Lamon 2007), deren Ergebnisse mit den Daten der europäischen Länder: Frankreich, Deutschland, Italien und Österreich vergleichbar sind. Es ist nach Einbrüchen (mit Versuchen), nach Auto-, Motorrad- und Fahrraddiebstählen, nach Diebstählen aus Autos, nach einfachen Diebstählen, nach Raub, Gewalt und Drohung, sexuellen Übergriffen und betrügerischen Machenschaften gefragt worden. Die Schweiz galt jahrzehntelang als Land mit geringer Kriminalität (so Clinard 1978; Adler 1983, 15–23; Dijk/Mayhew/Killias 1990; kritisch Balvig 1988). Das soll neuerdings nicht mehr zutreffen. Die Schweiz soll heute ein Land sein, dessen Kriminalität nur geringfügig unter dem europäischen Durchschnitt liegt (Killias 2005, 1630). Diese Einschätzung wird damit begründet, dass die Schweiz bei sechs von elf in der Viktimisierungsstudie berücksichtigten Straftaten im Vergleich zu Frankreich und Deutschland Höchstwerte aufweist (Killias/Haymoz/Lamon 2007, 139). Bei diesen Straftaten handelt es sich um Einbrüche, Motorrad- und Fahrrad-
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Kriminologie in Europa
diebstähle, einfache Diebstähle, Raub und sexuelle Übergriffe auf Frauen. Im Weltmaßstab zählt die Schweiz zu den Ländern mit mittlerem Kriminalitätsniveau (Dijk 2008, 51). Die Viktimisierungsstudie in der Schweiz hat im Jahre 2005 noch folgende wesentliche Ergebnisse erbracht: Frauen sind vom Opferwerden nicht weniger betroffen als Männer, vor allem wenn sexuelle Viktimisierungen mitberücksichtigt werden. Vermögensdelikte werden weit häufiger bei der Polizei angezeigt als Straftaten gegen die Person. Am wenigsten gemeldet werden sexuelle Übergriffe gegenüber Frauen (16,7 % bei einem Anzeige-Durchschnitt von 52 %). Die Schweizer haben Vertrauen zu ihrer Polizei; sie äußern die Meinung, dass sie recht gute Arbeit leistet (44,3 %) oder sogar sehr gute Leistung erbringt (24,2 %). Rund ein Viertel der Befragten fühlen sich abends zu Fuß im eigenen Wohnquartier unsicher, und über ein Drittel vermeidet vorsichtshalber dort gewisse Straßen, Orte oder Personen. Der Legalitätsindex rechnet die Schweiz zu den Ländern mit hohen Punktwerten (Dijk 2008, 301). 3.2.3.3 Kriminalität in Österreich Österreich ist im europäischen wie im Weltmaßstab ein Land mit geringer Kriminalität (Dijk 2008, 51). Nur Sexualdelikte gegen Frauen sind sehr häufig (Yodanis 2002, 273); im Weltmaßstab liegen sie freilich im mittleren Bereich (Dijk 2008, 85). Fahrradund Taschendiebstähle, Hass- und Drogenverbrechen werden – nach europäischen Maßstäben – unterdurchschnittlich begangen. Kraftfahrzeugdelikte, Diebstahl und Einbruchsdiebstahl sowie Kontaktdelikte sind gering verbreitet. Tötungsdelikte sind im Weltmaßstab sehr selten (Dijk 2008, 78). Die Bevölkerung fühlt sich überaus sicher, und sie ist mit ihrer Polizei hoch zufrieden. Die Kriminalitäts-Anzeige-Rate ist hoch, und die Punitivität gering. Man ist mehr für die Sanktion der gemeinnützigen Arbeit als für die Freiheitsstrafe. Vorbeugemaßnahmen gegen Kriminalität werden in geringem Ausmaß getroffen. Der Legalitätsindex weist Österreich als ein Land aus, das hohe Punktwerte besitzt (Dijk 2008, 301). 3.2.4
Kriminalität in Polen
Polen ist ein Land mit durchschnittlicher Kriminalität. Kontaktdelikte, Korruption und Drogendelikte sind überdurchschnittlich hoch. Demgegenüber liegen Kraftfahrzeugdelikte, Diebstähle, Einbruchs-, Taschen- und Fahrraddiebstähle sowie Sexualdelikte gegen Frauen unter dem europäischen Durchschnitt. Die Bevölkerung fühlt sich unsicher, und sie ist mit ihrer Polizei überhaupt nicht zufrieden. Vorbeugungsmaßnahmen sind selten, und die Punitivität ist sehr ausgeprägt. Man spricht sich für die Freiheitsstrafe und gegen die Sanktion der gemeinnützigen Arbeit aus. Die Entwicklung der Kriminalität in Polen kann – wie folgt – skizziert werden (Krajewski 2004): Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus erlebte Polen in den Jahren 1989/ 1990 und in den 90er-Jahren in quantitativer Hinsicht eine substanzielle und beständige Zunahme der registrierten Kriminalität. Qualitativ breiteten sich Organisiertes Verbrechen und schwere Wirtschaftskriminalität aus. Gewaltkriminalität, einschließlich ihrer schweren Formen mit Waffen, wuchs immer mehr an. Die Jugenddelinquenz wurde gewaltsamer. Ebenso etablierte sich der Gebrauch illegaler Drogen in ziemlich ähnlicher Weise wie in den Ländern Westeuropas. Drei ViktimisierungsHans Joachim Schneider
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Einleitung
überblicke wurden in Polen durchgeführt. In vergleichender Perspektive gehört es nicht zu den Ländern mit einem hohen Grad an Viktimisierung; es liegt vielmehr nahe am Durchschnitt. Raub ist allerdings eine Ausnahme. Sowohl in 1991 wie in 1995 befand sich Polen – was Raub betrifft – an der Spitze, selbst vor Ländern wie den Vereinigten Staaten und vor dem Vereinigten Königreich. Polen erzielte extrem hohe Grade an Verbrechensfurcht. Mit 34 Prozent Anzeigerate erreichte es bei weitem nicht den Durchschnitt der Länder der Viktimisierungsstudien, nämlich 52 Prozent. Gewalt ist in Krakaus Schulen weit verbreitet. In einer Selbstberichtstudie räumten 51 Prozent der Schülerinnen und Schüler ein, dass sie in ihrem Leben schon einmal in eine Schlägerei verwickelt gewesen seien. 39 Prozent gaben zu, schon einmal jemanden in ihrem Leben körperlich angegriffen zu haben. 13 Prozent hatten sich schon einmal an einer Schlägerei oder an einem körperlichen Angriff beteiligt, bei denen Waffen, Messer und gefährliche Objekte angewendet worden waren. 3.2.5 Kriminalität in Frankreich Frankreich ist im europäischen wie im Weltmaßstab ein Land mit niedriger Kriminalität (Dijk 2008, 51). Nur Hassverbrechen, die wegen der Nationalität, der Rasse, der Religion oder der sexuellen Orientierung des Opfers begangen werden, sind sehr weit verbreitet. Demgegenüber liegen Kraftfahrzeugdelikte, Diebstähle, Einbruchs- und Taschendiebstähle, Kontakt- und Drogendelikte unter dem europäischen Durchschnitt. Fahrraddiebstähle und Sexualdelikte gegenüber Frauen sind sehr niedrig ausgeprägt. Die Bevölkerung fühlt sich relativ sicher; sie ist mit ihrer Polizei aber nicht zufrieden. Ihre Punitivität ist sehr gering. Man befürwortet überaus stark die gemeinnützige Arbeit als Sanktion und spricht sich ganz überwiegend gegen die Freiheitsstrafe aus. Im Legalitätsindex bekommt Frankreich allerdings nur mäßig hohe Punktwerte (Dijk 2008, 301).
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Kriminologie in einigen europäischen Ländern
4.1
Drei europäische Forschungs-Zentren
Die europäische kriminologische Forschung und Kriminalpolitik werden von drei Zentren aus koordiniert und gefördert: – von dem den Vereinten Nationen angegliederten „Europäischen Institut für Verbrechensverhütung und -kontrolle“ (HEUNI) in Helsinki, – von dem „Interregionalen Forschungsinstitut für Kriminaljustiz der Vereinten Nationen“ (UNICRI) in Turin/Italien und – von dem kriminologischen Wissenschaftsrat des Europarats (CSC) in Strasbourg. 4.2
Kriminologie im Vereinigten Königreich
4.2.1 Historische Entwicklung Kriminologie als universitäre Disziplin existierte in England vor 1935 überhaupt nicht (Garland 1988). Die Gründungsväter der britischen Kriminologie waren drei Immigranten: Hermann Mannheim, Leon Radzinowicz und Max Grünhut (Hood
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Kriminologie in Europa
2004). Mannheim und Grünhut wanderten aus Deutschland ein, Radzinowicz aus Polen. London, Cambridge und Oxford wurden in den 50er- und 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts zu Zentren der Kriminologie. Mannheim, der im Jahre 1934 nach England kam, lehrte an der „London School of Economics and Political Science“. Er legte die wissenschaftlichen Grundlagen für eine pragmatische, empirische, sozialwissenschaftlich orientierte Kriminologie (Mannheim 1969; vgl. auch H. J. Schneider 1969a; 1974). Radzinowicz, Kriminologe mit internationaler Erfahrung, tat sich weniger als Lehrer und Forscher denn als Organisator hervor. Er gründete im Jahre 1959 das erste britische Institut für Kriminologie in Cambridge, das das derzeit angesehenste europäische kriminologische Universitätsinstitut in der Welt ist. Vor der Gründung des Instituts in Cambridge unternahm Radzinowicz eine vier Monate lange Reise durch 15 seinerzeit führende kriminologische Zentren in Italien, Österreich, Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Dänemark, und in Teilen der USA (Radzinowicz 1961). Er sprach mit 125 kriminologischen Experten. Die USA bezeichnete er als „ein riesiges Laboratorium“. Die deutschen Institute schätzte er als Seminare ein, die von einem Strafrechtsprofessor mit kriminalwissenschaftlichen Interessen geleitet wurden. In Cambridge baute er ein kriminologisches Institut nach seinen internationalen Erfahrungen und Vorstellungen auf. In Oxford arbeitete der frühere Bonner Universitätsprofessor Grünhut (1948) an der Entwicklung der Kriminologie. 4.2.2 Gegenwärtige Lage In den 40er- und 50er-Jahren und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Kriminologie in England zur Führung in Europa. Auf alle bisherigen Jahrestagungen der ESC entsandte England die meisten Kriminologen. Es gibt im Vereinigten Königreich über eintausend kriminologische Forscher (Shapland 1994). Die britische Gesellschaft für Kriminologie besitzt etwa 900 Mitglieder, die deutschsprachige kriminologische Gesellschaft demgegenüber nur zweihundert (Baars-Schuyt 2001, 311). Die britische Kriminologie bringt in Europa die meiste kriminologische Forschung und die meisten kriminologischen Publikationen hervor (vgl. die Beiträge in: Maguire/Morgan/Reiner 2007). An fast allen juristischen und sozialwissenschaftlichen Fakultäten wird im Vereinigten Königreich Kriminologie gelehrt (Radzinowicz 1999, 464). Die „Home Office Research and Planing Unit“ unternimmt viel eigene kriminologische Forschung und finanziert in beachtlichem Maße universitäre kriminologische Untersuchungen. Kriminalstatistik und regelmäßige Befragungen in das Opferwerden (Nicholas/Povey/Walker/Kershaw 2005) befinden sich auf einem hohen Niveau. Die Kriminalpsychologie (Hollin 2007; vgl. auch die Beiträge in der Zeitschrift „Legal and Criminological Psychology“ der „British Psychological Society“) und die Polizeiforschung (Newburn/Reiner 2007) sind besonders erfreulich entwickelt. Die Hauptrichtung der britischen Kriminologie, die sich stark an der U.S.amerikanischen orientiert, ohne freilich deren hohes personelles und finanzielles Niveau zu erreichen, sieht das Verbrechen und den Verbrecher als normale psychische und soziale Erscheinung an. Genauso wie die U.S.-amerikanische Kriminologie ist die britische von einer Pathologisierung der Kriminalität und des Kriminellen („PerHans Joachim Schneider
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Einleitung
sönlichkeitsstörung“) weit entfernt. Die Kriminologie bildet die Grundlage für eine informierte Kriminalpolitik (Zedner 2003, 206). 4.3
Kriminologie in den Niederlanden
4.3.1 Historische Skizze Ein niederländischer Kriminologe von europäischem Rang war Willem Andriaan Bonger (1876–1940), Professor an der Universität Amsterdam, der von der französischen kriminalsoziologischen Schule stark beeinflusst war und der die Kriminologie als Unterdisziplin der Soziologie verstand. Er veröffentlichte drei kriminologisch bedeutsame Werke (Bonger 1936, 1943, 1969), die für die Entstehung der niederländischen Kriminologie von grundlegender Bedeutung sind. Seine Methode war hauptsächlich die Analyse statistischer Daten, und er etablierte die Kriminologie in den Niederlanden als empirische Sozialwissenschaft (Junger-Tas/Junger 2007, 125). Zwar entwickelte sich in den 50er bis 70er Jahren in der Utrecht-Schule ein psychiatrischholistischer Ansatz (Willem Pompe (1893–1986), Gerrit Theodoor Kempe), der seine philosophische Ausrichtung von Jean-Paul Sartre und Martin Heidegger erhalten hatte. Auch der ideologische Labelling Approach übte in den 60er und 70er Jahren eine Fundamentalkritik am Kriminaljustizsystem aus (Herman Bianchi, Loek Hulsman, Peter Hoefnagels). Diese Richtungen setzten sich allerdings nicht durch. Die empirisch-sozialwissenschaftliche Kriminologie ist vielmehr zur Hauptrichtung der Kriminologie in den Niederlanden geworden, die unter starkem U.S.-amerikanischem Einfluss steht und die hauptsächlich Untersuchungen mit der quantitativen Methode vorgelegt hat (Junger-Tas/Junger 2007, 146/147). 4.3.2 Heutiger Stand Die „Tijdschrift voor Criminologie“, die niederländische Zeitschrift für Kriminologie, erscheint seit 1959. Die niederländische Gesellschaft für Kriminologie, die etwa 150 Mitglieder besitzt (Baars-Schuyt 2001, 311), ist im Jahre 1974 entstanden. Gegenwärtig arbeiten etwa 220 bis 250 kriminologische Forscher in den Niederlanden (Swaaningen 2006, 464). Fast alle Rechtsfakultäten der Universitäten haben kriminologische Institute, die allerdings innerhalb der Rechtsfakultäten marginale Rollen spielen. Es mangelt ihnen insbesondere an finanzieller und personeller Ausstattung, um sinnvoll empirisch arbeiten zu können. Solche Studien mit internationaler Bedeutung werden vor allem von zwei Institutionen durchgeführt: – vom „Wetenschappelijk Onderzoek-en Documentatiecentrum“ (WODC), vom Forschungs- und Dokumentations-Zentrum des niederländischen Justizministeriums in Den Haag, das im Jahre 1973 ins Leben gerufen worden ist, – vom „Niederländischen Institut für das Studium der Kriminalität und der Rechtsdurchsetzung“ (NSCR), das im Jahre 1992 errichtet worden ist und das 25 Vollzeitstellen zur Verfügung hat. Das Forschungs- und Dokumentations-Zentrum des niederländischen Justizministeriums unternimmt die beiden folgenden international bedeutsamen Forschungsprojekte:
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Kriminologie in Europa
– den Internationalen Viktimisierungs-Überblick (International Crime Victims Survey/ICVS) (Dijk/Mayhew/Killias 1990; Dijk/Mayhew 1992; Mayhew/Dijk 1997; Kesteren/Mayhew/Nieuwbeerta 2000; Dijk/Kesteren/Smit 2007; vgl. auch die Beiträge in: Nieuwbeerta 2002), – die Internationale Selbstbericht-Delinquenz Studie (International Self-Reported Delinquency Study/ISRD) (Junger-Tas/Terlouw/Klein 1994; Junger-Tas/Marshall/Ribeaud 2003; Barbaret/Bowling/Junger-Tas/Rechea-Alberola/Kesteren/Zurawan 2004). Von internationaler Bedeutung sind schließlich die niederländischen Studien zur Entwicklungs- und Lebenslaufkriminologie (vgl. die Beiträge in Blokland/Nieuwbeerta 2006). 4.4
Kriminologie in deutschsprachigen Ländern
4.4.1 Historische Entwicklung Im Jahre 1923 hat Kurt Schneider erstmalig sein Buch „Die psychopathischen Persönlichkeiten“ (K. Schneider 1950; vgl. auch K. Schneider 1992) veröffentlicht, in dem er zehn Psychopathentypen aus klinischer Erfahrung beschrieb, u.a. selbstunsichere, fanatische, geltungsbedürftige, stimmungslabile, gemütlose und willenlose Psychopathen. Die führenden deutschsprachigen Kriminologen der 20er, 30er und 40 Jahre des vorigen Jahrhunderts, die Österreicher Adolf Lenz (1927; 1936) und Ernst Seelig (1936) sowie die Deutschen Franz Exner (1939, 1944) und Edmund Mezger (1944) zogen die Psychopathenlehre ganz wesentlich zum „Verstehen“ der Kriminalität heran. Zwar gab es auch sozialstrukturelle Studien in den 20er und 30er Jahren (Exner 1926, 1927; Liepmann 1930). Die Mehrheit der deutschsprachigen Kriminologen schloss sich indessen in der „Kriminalbiologischen Gesellschaft“ zusammen, die man im Jahre 1927 in Wien gegründet hatte. Nach dem 2. Weltkrieg (1939–1945) legte Karl S. Bader (1949) eine kriminalsoziologische Studie vor. Gleichwohl blieb die Psychopathologie nach wie vor dominierend. Die kriminologischen Lehrbücher, die in den 30er und zu Beginn der 40er Jahren erschienen waren, kamen auf ihrer psychopathologischen Grundlage unverändert in den späten 40er und in den 50er Jahren erneut heraus (Seelig/Bellavic 1950; Mezger 1951; Exner 1949). Der schweizerische Jurist Erwin Frey (1951) stellte in einer empirischen Studie sehr enge Beziehungen zwischen Psychopathie und Rückfallverbrechertum und eine überragende Bedeutung biologischer Faktoren für die Rückfälligkeit fest. Nach Armand Mergen (1967, 1978, 1995) war das Psychopathenproblem eines der wichtigsten Probleme in der Kriminologie. Mit seinem Konzept des „Täters in seinen sozialen Bezügen“ gab der Psychiater Hans Göppinger (1971, 1973, 1976, 1980), der wesentlich durch die Psychopathologie beeinflusst war (Göppinger 1962), in den 70er Jahren in der deutschsprachigen Kriminologie den Ton an. Demgegenüber versuchte der Soziologe Fritz Sack (1974, 1978), mit einer stark vereinfachten und ideologisierten Form des Labeling Ansatzes die deutschsprachige Kriminologie zu verändern. Er entwickelte die „marxistisch-interaktionistische Theorie“ der Kriminalitäts-Entstehung. In seiner Sicht erscheint es angebracht, „die sozialen Kontrollinstanzen einer Gesellschaft, also Polizei, Gerichte und Gefängnisse oder Anstalten, Hans Joachim Schneider
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Einleitung
als die Rekrutierungsinstitutionen in den Status des Abweichenden zu betrachten“ (Sack 1978, 342). Die pragmatisch-sozialwissenschaftliche Richtung der Kriminologie, die sich ab der 60er Jahre in der U.S.-amerikanischen und englischsprachigen Kriminologie aufbaute, versuchte Hans Joachim Schneider (1966, 1969b) im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen, was auf heftige Kritik stieß (Kaiser/Schellhoss 1966). 4.4.2 Gegenwärtige Lage Gegenwärtig zählt man im deutschsprachigen Raum drei kriminologische Richtungen. Denn die psychoanalytische Kriminologie hatte hier niemals eine reelle Chance (vgl. hierzu H. J. Schneider 1981): – Mit seinem multifaktoriellen, täterorientierten Ansatz knüpft Michael Bock (2007, 2008) an Göppingers Konzept vom „Täter in seinen sozialen Bezügen“ an. Er vertritt eine „verstehende Psychopathologie und Soziologie“ (Bock 2008, 30; dazu kritisch H. J. Schneider 2008). Seine angewandte Kriminologie soll den Praktiker der Kriminaljustiz in die Lage versetzen, ohne psychologische und psychiatrische Sachkompetenz den Einzelfall kriminologisch zu erfassen. – In Anschluss an Sack verstehen Peter Alexis Albrecht (2005) und Karl-Ludwig Kunz (2004) die Kriminologie als eine „kritisch-reflexive Strafrechtssoziologie“. Nicht die Kriminalität schafft das Problem, sondern die Kriminalisierung (die Reaktion auf Kriminalität). Eine neue kriminologische „Nachdenklichkeit“ muss sich als Leitthema die „Rolle des Strafrechts“ vornehmen. „Die Instanzen der Kriminalitätskontrolle können als etikettierende, stigmatisierende und isolierende Institutionen angesehen werden, die die Probleme für die Gesellschaft und ihre Außenseiter nur verschlimmern“ (Kunz 2004, 173/174). – In Übereinstimmung mit der Hauptrichtung der europäischen, internationalen und U.S.-amerikanischen Kriminologie betrachtet der deutschsprachige kriminologische Mainstream die Kriminologie als eine empirische, an der systematischen Erforschung der tatsächlichen Gegebenheiten orientierte Human- und Sozialwissenschaft, die die kriminalsoziologischen und -psychologischen Kriminalitätstheorien favorisiert (H. J. Schneider 1987, 2001a; Kaiser 1996; Schwind 2008; B. D. Meier 2007; Killias 2002). Kognitiv-soziale Lerntheorie und Kontrolltheorien werden ebenso bevorzugt wie Lebenslauf- und Entwicklungstheorien in jüngster Zeit. Der situative Aspekt kommt in der Routine-Aktivitäts-Theorie zum Tragen. Täter, Opfer und Gesellschaft werden in gleicher Weise berücksichtigt. Die auf das Individuum ausgerichteten Theorien haben sozialstrukturelle Grundlagen. Die theoriegeleitete, explanatorische Forschung nach den Ursachen und Wirkungen kriminellen Verhaltens steht im Mittelpunkt des Interesses. Diese Forschung wird durch evaluative Studien ergänzt, die die Zuverlässigkeit und Gültigkeit empirischer und experimenteller Forschungsarbeiten und Interventionsmethoden bewerten. Sie kontrollieren auf diese Weise die empirische und experimentelle kriminologische Forschung methodologisch (vgl. H. J. Schneider 2007a). Zu der Hauptrichtung der deutschen Kriminologie rechnet man auch die vier Hauptzentren empirisch-kriminologischer Forschung:
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Hans Joachim Schneider
Kriminologie in Europa
– das „Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht“ in Freiburg i.Br., – die „Kriminologische Zentralstelle“ in Wiesbaden, – das „Kriminalistische Institut“ im Bundeskriminalamt in Wiesbaden und – das „Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen“ (KFN) in Hannover. Die wesentlichsten kriminologischen Zeitschriften im deutschsprachigen Raum sind die „Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform“, das „Kriminologische Journal“ und die „Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie“. Die schweizerischen Kriminologen haben sich in der „Schweizerischen Arbeitsgruppe für Kriminologie“ (SAK) zusammengeschlossen, die seit 1974 Jahrestagungen durchführt (H. J. Schneider 2004b). Die deutschsprachige „Kriminologische Gesellschaft“ (KrimG), die wissenschaftliche Vereinigung deutscher, österreichischer und schweizerischer Kriminologen, versammelt sich alle zwei Jahre zu Arbeitstagungen (Lösel/Bender/Jehle 2007). 4.5
Kriminologie in Frankreich
Kriminologie existiert in Frankreich nicht als selbständige akademische Disziplin (Maillard/Roché 2004). Die Polizeistatistiken gehen zurück bis zum Jahr 1950; Studien zum Opferwerden begannen im Jahr 1985; Selbstberichtuntersuchungen gibt es seit 1999. Die Studien zum Opferwerden haben gezeigt, wie wenig Kriminalität der Polizei angezeigt wird. Selbstberichtuntersuchungen in der Schule (Roché 2001; Ballion 2000) haben eine Überrepräsentation junger delinquenter Menschen mit Eltern nordafrikanischer Herkunft ergeben, selbst wenn der sozioökonomische Status unter den jungen Gewalttätern konstant gehalten wird. Die französische Polizeiforschung hat ähnliche Ergebnisse erbracht wie die U.S.-amerikanische und die britische Polizeiforschung vor zwanzig oder dreißig Jahren. „Police de Proximité“ (Gemeinschaftspolizeiarbeit) wird diskutiert. Delinquenz in „Banlieues“, in sensiblen Großstadtzonen, deprivierten Gebieten in Außenbezirken der Großstädte, die ökonomische, Erziehungs- und Sicherheitsprobleme haben, wird mit territorialem Ausschluss, mit Marginalisation erklärt. Die Überblicke einzelner Großstädte zeigen, dass Unordentlichkeiten als Bedrohung empfunden werden und dass sie Verbrechensfurcht eher hervorrufen als persönliche Erfahrungen mit Verbrechen (Roché 2002). 4.6
Kriminologie in Südeuropa
Kriminologie als empirische, interdisziplinäre, internationale, autonome Human- und Sozialwissenschaft befindet sich in Südeuropa in ihren Anfängen. Man löst sich immer mehr aus dem beherrschenden Einfluss des Strafrechts und der Psychiatrie, die die europäische Tradition der Kriminologie begründeten. Das Interesse der Studierenden an der Kriminologie als empirische Human- und Sozialwissenschaft ist riesig. Sie studieren die Kriminologie in großer Zahl. Demgemäß gibt es viele kriminologische Lehrbücher (vgl. für Spanien z.B. Garcia-Pablos de Molina 2001; Garrido/Stangeland/Redondo 2001; Serrano Maillo 2003). In Italien lehnt man eine Kombination eines ideologischen Ansatzes mit einer methodologischen Ignoranz ab und fordert Hans Joachim Schneider
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Einleitung
eine Integration von Recht, Medizin und Sozialwissenschaften (Savona 2002). Eine sozialwissenschaftlich orientierte Kriminologie entwickelt sich an den Rechtsfakultäten der Universitäten Mailand, Bologna, Macerata und Teramo. In Spanien duldete die faschistische Diktatur von General Francisco Franco (1939–1975) keine Kriminologie als Sozialwissenschaft (Barberet 2005, 344). Gegenwärtig wird eine wachsende Bewegung zur Wiederbelebung der Kriminologie als empirische Sozialwissenschaft beobachtet (Stangeland 2003). Die Kriminologie wird an 39 spanischen Universitäten gelehrt. Nicht weniger als 8.283 Studierende besitzen ein Diplom in Kriminologie. In der Universität Alicante sind allein 800 Studierende in Kriminologie eingeschrieben. Demgegenüber ist die kriminologische Forschung so gut wie nicht existent. Strafrechtsreformen werden auf anekdotischer oder ideologischer Grundlage, jedenfalls ohne die Berücksichtigung empirisch-kriminologischer Forschung durchgeführt. Zwei Forschungsarbeiten verdienen hervorgehoben zu werden: – die europäische Metaanalyse zur Effektivität von Behandlungsprogrammen zur Verminderung des Rückfalls (Redondo/Garrido/Sanchez-Meca 1999) und – der nationale Überblick über die Partnergewalt in Spanien (Medina/Barberet 2003). Die griechische Kriminologie geht bis in die 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück. Sie folgte zunächst der europäischen Tradition des juristisch-medizinischen Ansatzes. Seit den 80er und 90er Jahren expandiert die sozialwissenschaftlich orientierte, kriminologische Lehre. Seit den 90er Jahren wird der kriminologische Rat bei kriminalpolitischen Vorhaben immer mehr nachgefragt. Die stärkste Konzentration kriminologischer Forschung und Lehre findet man gegenwärtig in der soziologischen Abteilung der Panteion Universität in Athen (Lambropoulou 2005, 216). Die griechische Gesellschaft für Kriminologie besitzt 300, die griechische Gesellschaft für Viktimologie 216 Mitglieder.
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Einige Forschungsschwerpunkte in Europa
5.1
Gewalt gegen Frauen
Ein europäisch wichtiges Thema ist die Gewalt gegen Frauen. Nach der Dunkelfeldforschung ist sie in den deutschsprachigen Ländern weit verbreitet (Aromaa/Leppä 2003, 80; Yodanis 2002, 273). Eine „International Violence against Women Survey“ (IVAWS) ist in elf Ländern durchgeführt worden. Ergebnisse aus neun Ländern liegen vor (Johnson/Ollus/Nevala 2008). Davon waren vier europäische Länder. In den neun Ländern, von denen Resultate vorhanden sind, wurden 23.050 Frauen im Alter zwischen 18 und 69 Jahren befragt. Es wurde nach körperlicher und sexueller Gewalt gefragt, die durch Partner oder Bekannte der Frauen oder durch Fremde verübt worden sind. Der Umfang der Gewaltanwendung gegen Frauen in den vier europäischen Ländern kann aus Tabelle 4 entnommen werden. Nationale Viktimisierungsstudien über Gewalt gegen Frauen sind in Finnland (Heiskanen/Piispa 2008) und Italien (Muratore/Corazziari 2008) unternommen worden. In Finnland waren 43,5 % aller 18 bis 74 Jahre alten Frauen Opfer von sexueller oder körperlicher Gewalt oder Gewaltdrohung. In Italien belief sich der Umfang der Viktimisierung aller 16 bis 70-jährigen
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Kriminologie in Europa
Frauen auf 23,7 % sexuelle und 18,8 % physische Gewalt. Die Frauen tendieren dazu, dem Interviewer der Dunkelfeldstudie physische Gewalt eher zu berichten als sexuelle Gewalt. Als Konsequenzen der Gewaltanwendung wurde Folgendes ermittelt: physische Verletzungen, chronische Schmerzen, Kopfschmerzen, Migräne, Gedächtnisverlust, Unterleibsschmerzen, Magen- und Darmprobleme, gynäkologische Probleme, Depression, Alkohol- und Drogenmissbrauch, geringe Selbstachtung, Furcht, Angst, posttraumatisches Syndrom, Selbstmordversuche. Zu diesen Viktimisierungsfolgen kommen die Schädigungen noch hinzu, die durch die Sekundärviktimisierung durch Familienangehörige, Freunde, soziale und Kriminaljustiz-Institutionen entstehen können, an die sich die viktimisierten Frauen nach der Tat um Hilfe, Schutz und Unterstützung wenden. Opfer-Beschuldigungs-Einstellungen kommen häufig vor. Man behauptet, die Verbrechensopfer hätten den Angriff selbst verschuldet; ihre Schädigungen seien nicht so schlimm. Solche Sekundärviktimisierungen können zur Vermeidung persönlicher Kontakte und zu negativen Beeinträchtigungen des Selbstbewusstseins und der Genesung (Wiederherstellung) des Verbrechensopfers führen. Tabelle 4: Gewalt-Viktimisierung von 18 bis 69 Jahre alten Frauen in vier europäischen Ländern (in Prozent)
Land
Anzahl der befragten Frauen
Körperliche Gewalt in Prozent
Sexuelle Gewalt in Prozent
Tschechische Republik
1980
51
35
Dänemark
3589
38
28
Polen
2009
30
17
Schweiz
1975
26,6
25,2
Quellen: Johnson/Ollus/Nevala 2008, 36–38; Killias/Simonin/DePuy 2005, 24, 36.
Nach der kognitiv-sozialen Lerntheorie wird Gewalt durch die Erfahrung körperlicher Strafe und durch die Beobachtung der Gewaltausübung durch andere gelernt. Man erwirbt gewaltsames Verhalten in einer Umgebung, in der seine Konsequenzen positiv beurteilt werden (z.B. durch gewaltsame Konfliktlösung oder die Betonung männlichen Status’ und männlicher Autorität) und in der die Möglichkeiten des Lernens friedlicher Alternativen minimal sind, vollständig fehlen oder nicht belohnt werden. Die Quelle der Beobachtung und des Lernens geht über die Familie hinaus und erfasst auch Subkulturen und Massenmedien, die Frauen als menschliche Wesen abbilden, die geringeren Wert als Männer haben und die weniger Respekt als Männer verdienen (Johnson/Ollus/Nevala 2008, 80). Die Ergebnisse der IVAWS bestätigen, dass nur eine Minderheit von Fällen der Gewalt gegen Frauen der Polizei berichtet wird. In allen neun Ländern zeigten weniger als ein Drittel ihre gewaltsame Viktimisierung der Polizei an. Frauen melden der Polizei weniger Gewalt durch Partner als Gewalt durch Fremde. Selbst schwere Gewalt durch Partner wird der Polizei nicht berichtet. In Italien bleiben 82,7 % der Vergewaltigungen im Dunkelfeld (Maffei/Merzagora Betsos 2007, 473). Von der Minderheit Hans Joachim Schneider
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Einleitung
der Fälle, die angezeigt werden, klagt man ein noch beträchtlicheres Minimum an. Von den Angeklagten wird nur ein kleiner Teil verurteilt. Die Wahrscheinlichkeit, dass angezeigte Gewalt gegen Frauen in einer Verurteilung endet, beträgt ein bis fünf Prozent. So werden in der Schweiz 23,4 % der gewaltsamen Viktimisierungen von Frauen der Polizei angezeigt; von diesen angezeigten Viktimisierungen enden 2,6 % in einer Verurteilung (Killias/Simonin/DePuy 2005, 84). 5.2
Die Cambridge Längsschnitt-Studie
Die Cambridge-Studie der delinquenten Entwicklung, eine herausragende empirische Untersuchung der britischen Kriminologie, ist eine prospektive (vorausschauende) Längsschnittuntersuchung des Täterwerdens und des antisozialen Verhaltens von 411 Jungen, die zumeist im Jahre 1953 in Süd-London geboren worden waren (Piquero/ Farrington/Blumstein 2007). In nahezu allen Fällen (94 %) hatte der Familien-Broterwerber in 1961/1962 (für gewöhnlich der Vater) einen Arbeiter-Klasse-Beruf. Die meisten Jungen (87 %) waren weiß und britischen Ursprungs. Diese Jungen sind von ihrem 8. bis zu ihrem 48. Lebensjahr in persönlichen Interviews befragt worden. Die Forschungsarbeit begann im Jahre 1961 und dauert an. Der Hauptfokus dieser Arbeit lag auf der Kontinuität und Diskontinuität in der Verhaltensentwicklung, auf den Wirkungen der Lebensereignisse auf die Entwicklung und auf der Vorhersage des zukünftigen Verhaltens. Die Jungen wurden interviewt und in ihren Schulen psychologisch getestet. Ihre Eltern, speziell ihre Mütter, wurden befragt. Ihre Lehrer füllten Fragebogen aus. Schließlich wurden ihre Straftaten anhand des zentralen „Criminal Record Office“ in London festgestellt. Folgende Hauptergebnisse sind erzielt worden (Farrington/Coid/Harnett/Jolliffe/Soteriou/Turner/West 2006): – Nicht weniger als 41 % der Männer sind verurteilt worden. Die DurchschnittsVerurteilungs-Karriere dauerte vom 19. bis zum 28. Lebensjahr und enthielt fünf Verurteilungen. – Ein kleiner Bruchteil der Männer (7 %) – die chronischen Rechtsbrecher – waren für über die Hälfte der offiziell berichteten Delikte (52 %) verantwortlich. Jeder dieser Männer hatte wenigstens zehn Verurteilungen. Ihre Verurteilungs-Karrieren währten im Durchschnitt vom 14. bis zum 35. Lebensjahr. – Die Männer, die in einem frühen Lebensalter zum ersten Mal verurteilt worden waren, hatten später im Erwachsenenalter die meisten Verurteilungen und die längsten kriminellen Karrieren. – Im Selbstbericht räumten fast alle Männer (93 %) wenigstens eine von acht Straftaten ein: u.a. Diebstahl, Einbruchsdiebstahl, Körperverletzung, Drogenmissbrauch, Vandalismus. – Nahezu die Hälfte aller selbstberichteten Straftaten sind von nichtverurteilten Männern begangen worden. Wenn sich die Analyse auf verurteilte Männer beschränkte, entfielen im Durchschnitt 22 selbstberichtete Straftaten auf jede Verurteilung (Dunkelfeld krimineller Karrieren). – Die wichtigsten Kindheits-Risikofaktoren für das spätere Täterwerden sind im Alter zwischen 8 und 10 Jahren: Familien-Kriminalität, Wagnis- und Risiko-Verhal-
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Kriminologie in Europa
ten, niedrige Schulleistungen, Armut und schlechte Kinderbetreuung (Mangel an elterlicher Aufsicht) (Farrington 2007). – Weil die meisten Intensivtäter früh beginnen, sollte das wichtigste kriminalpolitische Ziel darin bestehen, den Anfang der Delinquenz zu verhüten. Kognitiv-behavioristisches Fähigkeitstraining, Elternerziehung, vorschulische intellektuelle Bereicherungsprogramme und häusliche Besuchsprogramme sind in der frühen Vorbeugung effektiv (Farrington/Welsh 2007). 5.3
Die Peterborough-Jugend-Studie
Die Peterborough-Jugend-Studie ist eine empirische Querschnittsuntersuchung (Wikström/Butterworth 2006). Es sind 14 bis 15 Jahre alte Jugendliche in 13 staatlichen Schulen Peterboroughs befragt worden. Peterborough ist eine mittelgroße Stadt 80 Meilen nördlich von London. In einer Selbstbericht- und Viktimisierungsstudie (Fragebogenuntersuchung) (1957 Jugendliche) ist nach dem Täter- und Opferwerden gefragt worden. In einer Interviewstudie (339 Jugendliche) interessierte man sich für die Aktivitäten (den Lebensstil) der Jugendlichen. In der Fragebogenstudie ging es um Vermögensdelikte (Einbrüche, Diebstähle von und aus Kraftfahrzeugen, Raubüberfälle) und Körperverletzungen sowie Vandalismus. Über einige wesentliche Ergebnisse wird berichtet: – Mehr als ein Drittel der Jugendlichen verübt im Durchschnitt vier Delikte. Nahezu ein Zehntel begeht sechs und mehr Straftaten. Tatort für eine große Anzahl von Körperverletzungen (40,3 %) ist die Schule. Die Anzeigerate liegt bei 7 % bis 15 %. Delinquenz ist mehr bei männlichen (44,8 %) als bei weiblichen Jugendlichen (30,6 %) verbreitet. Ausnahme ist der Ladendiebstahl. – Mehr als die Hälfte der Jugendlichen wird viktimisiert. Die meisten von ihnen (65 %) werden mehr als einmal Verbrechensopfer. Diebstahl-Viktimisierung kommt bei einem Drittel von ihnen, Gewalt-Viktimisierung bei einem Viertel und Vandalismus-Viktimisierung bei einem Zehntel vor. Von Mehrfachviktimisierung sind 68 % der viktimisierten männlichen und 61 % der viktimisierten weiblichen Jugendlichen betroffen. Ort der Viktimisierung ist am häufigsten die Schule. – Je schwächer die Familien- und Schulbeziehungen sind, desto höher ist das Delinquenz-Risiko. Jugendliche mit niedriger Selbstkontrolle und einem hohen RisikoLebensstil begehen mehr Delikte als andere. – Tätersein, insbesondere häufiges Tätersein, erhöht das Operrisiko. Die Beziehung ist insbesondere zwischen Gewalt-Täter- und Gewalt-Opfer-Werden stark. Jugendliche mit einem hohen Grad an Aktivitäten mit Gleichaltrigen und einem niedrigen Grad an Aktivitäten mit ihrer Familie tendieren mehr zu Delinquenz. 5.4
Das Eurogang-Paradox: Straßenbanden Jugendlicher
Das Eurogang Paradox besteht darin, die Existenz von Straßenbanden Jugendlicher in Europa zu leugnen, weil sie nicht in das Medienstereotyp U.S.-amerikanischer Jugendbanden passen. Dieses Stereotyp geht von einem U.S.-amerikanischen Muster hoch strukturierter, fest zusammenhaltender, gewaltsamer Banden aus. U.S.-ameHans Joachim Schneider
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Einleitung
rikanische Kriminologen sind bei ihren Forschungen zu dem Ergebnis gekommen, dass die meisten U.S.-amerikanischen Jugendbanden nicht in dieses Muster passen (Klein 2001). In Bremen und in Denver/Colorado hat man jeweils eine Kohorte delinquenter Jugendlicher untersucht (Huizinga/Schumann 2001). In Bremen sind 13 Prozent der Kohorte für mindestens ein Jahr in der Zeitspanne von 1990 bis 1994 Mitglieder einer Bande gewesen; in Denver waren es 14 Prozent in der Zeitspanne von 1988 bis 1992. Eine weitere Vergleichsuntersuchung zweier Schulsamples 11- bis 16-jähriger Jugendlicher in den USA (N = 5935) und in den Niederlanden (N = 1978) kommt zu demselben Ergebnis (Esbensen/Weerman 2005). Die Jugendlichen haben Fragebogen mit ähnlichen Fragestellungen ausgefüllt. Man ging von folgender Definition der Jugendbande aus: Eine Bande ist eine dauerhafte, straßenorientierte Jugendgruppe, deren Verwicklung in illegale Aktivität Teil ihrer Gruppenidentität ist. Sechs Prozent des niederländischen und acht Prozent des U.S.-amerikanischen Samples waren Bandenmitglieder. Damit kann man nicht mehr in Abrede stellen, dass es in Europa ähnliche Straßenbanden wie in den USA gibt. Die niederländischen Jugendbanden hatten nicht unverhältnismäßig viele nichtniederländische Mitglieder. Bandenbildung und -mitgliedschaft können in den Niederlanden wie in den USA mit Konstrukten der Selbstkontrolle, des kognitiv-sozialen Lernens und der sozialen Kontrolle (Bindungstheorie) erklärt werden. Die illegalen Aktivitäten der niederländischen und der U.S.amerikanischen Jugendbanden ähneln einander. Zwar sind die niederländischen Banden kleiner und lockerer organisiert als die U.S.-amerikanischen Banden. Die äußere Erscheinung der niederländischen und U.S.-amerikanischen Banden mag zudem ziemlich unterschiedlich sein. Immerhin stimmen aber ihre Mitglieder im Hinblick auf Demographie und Risikofaktoren in bemerkenswerter Weise überein. In einer dritten Studie (Sarnecki 2001) hat man in Stockholm und Kopenhagen zentrale Netzwerke delinquenter Jugendlicher entdeckt. Eine Bande ist als eine Gruppe von Individuen definiert worden, die ein Symbol ihr Eigen nennen, das ihre Mitgliedschaft anzeigt, die eine besondere Form der Kommunikation praktizieren und deren Mitgliedschaft von einer gewissen Dauer ist. Sie erheben einen Gebietsanspruch und begehen Delinquenz. Von der Bande unterscheidet man das soziale Netzwerk. Es setzt sich aus einer begrenzten Zahl Handelnder und aus den Beziehungen zwischen diesen Handelnden zusammen. Aufgrund von Daten des Stockholmer Polizei-Registers hat man eine soziale Netzwerk-Analyse erstellt. Man fand in Stockholm 5.710 Netzwerke verschiedener Größe. Das größte umfasste 151 Individuen; die kleinsten (N = 3.681) hatten sich aus jeweils zwei Personen gebildet. Jugenddelinquenz ist zum großen Teil ein Gruppenphänomen, das als gemeinsame Tatbegehung (Co-offending) beschrieben werden kann. Die Netzwerke sind in einem beständigen Zustand der Fluktuation. Sie besitzen eine begrenzte Zahl von Mitgliedern, eine relativ lokere Struktur, eine vage Führerschaft und eine relativ kurze Dauer. Der vorübergehende Charakter ihrer gemeinsamen Tatbegehung und die Instabilität ihrer delinquenten Beziehungen sind für sie wesentlich. Sowohl in den USA wie in Europa ist dies der verbreitetste Bandentyp delinquenter Jugendlicher und nicht die hoch strukturierte Jugendbande mit engem Bandenzusammenhalt.
22
Hans Joachim Schneider
Kriminologie in Europa
5.5
Das moralische Klima in Skandinavien
Als wichtigstes Mittel zur Erforschung des nordischen moralischen Klimas, in die Island nicht mit einbezogen war, setzte man standardisierte persönliche Interviews ein (Bondeson 2003). Die repräsentativen Stichproben bestanden aus jeweils wenigstens fünfhundert Erwachsenen in Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden, also aus insgesamt mehr als zweitausend Versuchspersonen. Die persönlichen Interviews dauerten etwa eine Stunde. Folgende Ergebnisse skizzieren als Beispiele das moralische Klima in den nordischen Ländern: Die drei Institutionen mit dem höchsten Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger waren das Gesundheitswesen (86 %), die Polizei (85 %) und das Legalsystem. Das geringste Vertrauen der Bürger besaßen das Strafvollzugssystem, die Gewerkschaften und die Presse. Bei der Frage nach der Institution, die für die Unterstützung der Moralität am wichtigsten ist, war die Familie die klare erste Wahl mit 72 Prozent der Antworten. Es folgte die Schule. Die Rangordnung wahrgenommener Schwere unterschiedlicher Verbrechenstypen ging dahin, dass Gewaltdelikte am schwersten eingeschätzt wurden, gefolgt von Drogen-, Umwelt-, Eigentumsdelikten, am leichtesten wurden Wirtschaftsstraftaten gesehen. Die Öffentlichkeit ist nicht härter in ihrer Bestrafungstendenz als die Gerichte und die Kriminaljustiz-Professionals; die Politiker haben eine übertriebene Vorstellung von der Punitivität der Öffentlichkeit. Gemeinnützige Arbeit ist populär in den nordischen Ländern. Ebenso genießt die Wiedergutmachung als Sanktion eine sehr hohe Akzeptanz, obgleich sie bisher noch nicht als Sanktion praktiziert werden kann. Man erfragte die Objekte des nationalen Stolzes: Hat dieses Land irgendetwas, auf das es stolz sein kann? Es antworteten: die Natur (69 %), den Lebensstandard (53 %), das soziale Wohlfahrtssystem (47 %) und den hohen Grad der Erziehung (44 %). Mit Bezug auf die geographische Bindung fühlten sich in allen vier Ländern die Befragten der Stadt oder der Gemeinde, in der sie lebten, mehr zugeneigt als ihrem Land oder ihrer Region. Die Bindung an Europa war sehr gering in den vier nordischen Ländern. Zukunftsängste waren Gegenstand der standardisierten Interviews. Die Zerstörung der Umwelt (62 %), Krieg (47 %) und das Anwachsen des Umfangs und der Schwere der Kriminalität (41 %) wurden am meisten gefürchtet. Ökonomische Krise, Arbeitslosigkeit (30 %) und persönliche Krankheit, Alterungsprozess und Sterben (21%) waren in geringerem Umfang Gegenstände der Zukunftsangst. Nach den offiziellen Kriminalstatistiken nimmt die Kriminalität in allen vier Ländern zu. Die Aufklärungsquoten sind demgegenüber drastisch gefallen; sie haben sich in den letzten fünfzig Jahren nahezu halbiert. Finnland hat allerdings eine fast doppelt so hohe Aufklärungsquote wie die übrigen Länder. Nach der Dunkelfeldforschung liegen hinsichtlich der Kriminalitätshäufigkeit Schweden und Dänemark im oberen Mittelfeld der untersuchten Industriestaaten. Finnland hat an sich keine so hohe Kriminalität; seine Gewaltdelikte bilden freilich eine Ausnahme. Die nordischen Länder haben 183 Polizisten auf 100.000 Einwohner, während der europäische Durchschnitt bei 291 liegt. Hans Joachim Schneider
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Einleitung
6
Kriminalpolitik in Europa
6.1
Determinanten der Kriminalpolitik
Der Entwicklungsprozess der Kriminalität und der kriminalpolitische Prozess der Reaktion auf Kriminalität sind zwei verschiedene, voneinander unabhängige Prozesse. Mit dem Wachsen der Kriminalität ist keine automatisch „härter“ werdende Kriminalpolitik, mit dem Kriminalitätsabfall keine automatisch mildere, „weichere“ Kriminalpolitik verbunden. Ein Beispiel bildet die Anwendung der Freiheitsstrafe in Finnland, den Niederlanden und Schweden im letzten halben Jahrhundert (Hofer 2003). Diese Länder erlebten ähnliche ökonomische und soziale Entwicklungen sowie ähnliche Kriminalitätstrends. Während die registrierte Kriminalität in allen drei Ländern anstieg, ging die Anwendung der Freiheitsstrafe in Finnland zurück, in Schweden blieb sie gleich, und die Niederlande hatten eine u-förmige Entwicklung zu verzeichnen. In diesem Land ließ die Anwendung der Freiheitsstrafe zunächst nach; danach war ein Anwachsen der Freiheitsstrafe zu beobachten. Kriminalpolitische Maßnahmen sind politische Konstrukte. Sie sind zu einem großen Teil eine Funktion der Kriminaljustiz und der Sozialpolitik, die den Gebrauch einer kriminalpolitischen Maßnahme er- oder entmutigen (Aebi/Kuhn 2000). Konkrete Kriminalpolitik ist das Ergebnis von Entscheidungen. Wir haben die freie Wahl (Christie 2000, 14). Demgegenüber haben sich Korrelationen zwischen dem Gebrauch der Freiheitsstrafe und dem politischen Wandel in einer Gesellschaft, der demographischen Entwicklung, den ökonomischen Bedingungen, insbesondere der Arbeitslosigkeit, und dem Umfang des Konsums illegaler Drogen nicht bestätigt (Zimring/Hawkins 1991). 6.1.1 Spekulative Interpretationsmodelle Angesichts einer angeblichen „kriminalpolitischen Wende“ und einer behaupteten „neuen Straflust“ ist die kriminologische Diskussion über die Ursachen kriminalpolitischer Veränderungen entbrannt. Spekulative Interpretationsmodelle sind zuhauf entwickelt worden, von denen einige Beispiele genannt werden: – In Ländern mit politischen Konfliktkulturen ist eine „harte“ Kriminalpolitik wahrscheinlicher als in Staaten mit politischen Konsenskulturen. Eine Konfliktkultur ist durch zwei große politische Parteien gekennzeichnet, die konträre kriminalpolitische Positionen vertreten. In Konsens-Systemen sorgen mehrere politische Parteien (Koalitionen) für kriminalpolitische Kontinuität mit maßvollen Veränderungen (Tonry 2007, 18/19). – In Ländern, in denen Staatsanwälte und Richter gewählt werden, sind harte kriminalpolitische Maßnahmen häufiger. Staatsanwälte und Richter tragen der angeblich punitiven öffentlichen Meinung Rechnung, um wiedergewählt zu werden (Tonry 2004, 34). – Unsicherheit und soziale Isolation sind in Risikogesellschaften so stark ausgeprägt, dass traditionelle Werte wie Fairness, Gerechtigkeit und Gleichheit im Strafverfahren zu unerreichbarem Luxus geworden sind (Beck 2004). – Eine harte Kriminalpolitik ist eine unabwendbare Nebenerscheinung der Modernität (Bauman 1991). Die Variationsbreite der ökonomischen, sozialen und kultu-
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Kriminologie in Europa
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rellen Wandlungen haben die Menschen ängstlich, risikoscheu und unsicher gemacht. Das Verbrechen bedroht die Mittelschicht, die Staatsanwälte, Richter, Bewährungshelfer und Strafvollzugsbeamte stellt (Garland 2003, 47 ff.; 2001, 148 ff.). Die Distanz zwischen Mittelschicht und Kriminalität ist geschwunden; Kriminalität ist für die Mittelschicht zu einer Quelle der Angst, der Frustration und des Ärgers geworden. Anstelle des Straftäters ist das Verbrechensopfer in den Mittelpunkt des Strafverfahrens gerückt. Die Kombination zwischen größerer Aufgeschlossenheit für die Viktimisierung und der höheren Erwartung an die öffentliche Sicherheit ist für die härtere Gangart in der Kriminalpolitik verantwortlich (Downes 2001). Öffentliche Sensibilitäten bestimmen die Häufigkeit des Gebrauchs einer kriminalpolitischen Maßnahme. Sensibilitäten beruhen auf sozialen Werten, Einstellungen und Glaubenssätzen. Der Zeitgeist (Hegel) formt und gestaltet die Sensibilitäten (Tonry 2004, 4/5, 70/71). Einkommensungleichheit, ein schwaches soziales Wohlfahrtssystem und ein niedriger Grad angenommener Legitimität staatlicher Institutionen können für eine harte Kriminalpolitik verantwortlich sein (Tonry 2007, 18).
Alle diese Spekulationen, die uferlos fortgesetzt werden können, haben sich bisher empirisch nicht bestätigen lassen. 6.1.2 Der Einfluss der Öffentlichen Meinung Die Härte der Kriminalpolitik wird immer wieder allein oder vor allem auf die Punitivität der Öffentlichkeit zurückgeführt. Hierbei wird die Punitivität mit der Häufigkeit der Befürwortung der Freiheitsstrafe gemessen. Zwar wird die Inhaftierungsrate von der Punitivität der Öffentlichkeit mitbestimmt. Die Korrelation zwischen der Untersütztung der Freiheitsstrafe durch die Öffentlichkeit und der Häufigkeit ihrer Verhängung ist indessen äußerst schwach (Mayhew/Kesteren 2002, 74). Dafür, dass die Öffentlichkeit punitiv orientiert ist, beruft man sich stets erneut auf Meinungsbefragungen. Aus ihnen folgt nicht selten eine simplifizierte, manchmal stark irreführende Meinung über die öffentliche Reaktion auf Verbrechen. 96 Prozent der Bevölkerung beziehen ihre Informationen über Kriminalität und Kriminaljustiz aus den Massenmedien (Roberts/Stalans 1997), die Stereotype formen und pflegen. Man hält deshalb in der Bevölkerung abscheuliche, scheußliche Verbrechen, über die die Massenmedien ausführlich berichten, fälschlicherweise für die Norm. Man glaubt an den Kriminalitätsanstieg, obwohl die Kriminalität in Wirklichkeit fällt. Die populärste Sanktion ist in den Massenmedien und in der Öffentlichen Meinung die Freiheitsstrafe (Shinkai/Zvekic 1999, 89). Alternativen zur Freiheitsstrafe kennt die Bevölkerung kaum, weil selten über sie berichtet wird. In Wirklichkeit ist die Öffentliche Meinung kriminalpolitisch weder monolithisch noch einseitig punitiv orientiert. Man muss zwischen Öffentlicher Meinung, die eine erste spontane, oberflächliche, durch die Massenmedien beeinflusste Reaktion in Hans Joachim Schneider
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Einleitung
Meinungsumfragen darstellt, und öffentlicher Beurteilung unterscheiden, die als informierte Reaktion gesehen werden muss (Tonry 2004, 35). – Vier kriminalpolitische Ziele, Bestrafung, Wiedergutmachung, Abschreckung und Behandlung, werden in der Bevölkerung – genauso wie bei Experten – für wichtig gehalten. Eine starke Befürwortung von Alternativen zur Freiheitsstrafe koexistiert neben punitiven Einstellungen (Doble 2002, 153). In einer neuerlichen empirischen Studie in den USA sprachen sich 55 % der Stichprobe dafür aus, dass die Rehabilitation das Hauptziel der Strafanstalt sein sollte (Cullen/Pealer/Fisher/Applegate/ Santana 2002, 140). Die öffentliche Unterstützung für die erzieherische Behandlung delinquenter Jugendlicher ist stark. – Nur etwas mehr als ein Viertel der Befragten befürwortet in Europa die Freiheitsstrafe, aber 46 Prozent sprechen sich für die gemeinnützige Arbeit aus (Mayhew/ Kesteren 2002, 72). In 23 von 58 Ländern unterstützen weltweit mehr Menschen die gemeinnützige Arbeit als die Freiheitsstrafe. – Die Öffentlichkeit ist in ihrer Bestrafungstendenz nicht härter als die Gerichte (Bondeson 2007, 186). Die Richter verhängen unnötig punitive Urteile, weil sie fälschlicherweise davon ausgehen, dass die Öffentlichkeit das so will. Die Politiker haben eine übertriebene Vorstellung von der Punitivität der Öffentlichkeit. – Die Erfahrung der Viktimisierung verstärkt nicht die Verhängung der Freiheitsstrafe (Mayhew/Kesteren 2002, 84). Verbrechensopfer sind in ihrer Mehrheit nicht rachedurstig, sondern sie setzen sich für Wiedergutmachung ein. Für die Arbeit der Kriminaljustiz ist das öffentliche Vertrauen wichtig. Ohne die Kooperation der Bevölkerung, speziell des Verbrechensopfers, scheitert die Kriminaljustiz (Roberts 2007). Deshalb darf sich die gerichtliche Strafzumessung nicht zu sehr von der Öffentlichen Meinung entfernen. In der Demokratie muss das Volk von der Richtigkeit der gerichtlichen Strafzumessung überzeugt werden. 6.1.3 Die Bedeutung gesellschaftlicher Lernprozesse Anstieg und Abfall der Kriminalität und Änderung der Kriminalpolitik, z.B. Wachsen und Nachlassen der Verhängung der Freiheitsstrafe, sind zwei voneinander unabhängige Sozialprozesse. Die Art der Kriminalpolitik hängt von der freien Wahl in einer Gesellschaft ab. Sie wird nur indirekt beeinflusst vom politischen Wandel, von demographischen Entwicklungen und ökonomischen Bedingungen. Die Verhängung der Freiheitsstrafe entsteht oder vergeht z.B. in gesellschaftlichen Lernprozessen, an denen Gesetzgebung (Politiker), Gesetzanwendung (Kriminaljustiz-Professionals), Öffentliche Meinung (Journalisten) und Wissenschaft (Experten) maßgeblichen Anteil haben. Fehllaufende Lernprozesse werden häufig durch „moralische Panik“, durch grauenvolle, entsetzliche Verbrechensereignisse, die von den Massenmedien dramatisiert werden und die öffentliche Emotionen, Sorge und Überreaktion verursachen, oder durch wissenschaftliche Erkenntnisse hervorgerufen, die falsch verstanden oder durch die Massenmedien verfälscht werden. Der empirische Nachweis für einen positiven, gelungenen Lernprozess ist das Nachlassen der Freiheitsstrafe in Finnland (Lappi-Seppälä 2008; 2007; 2006). Zu Be-
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ginn der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hatte Finnland eine Inhaftierungsrate (Zahl der Gefangenen auf 100.000 Einwohner) von 200, während sich die Gefangenenraten in Schweden, Dänemark und Norwegen um 50 bewegten. Selbst in den 70er Jahren war die Einsperrungsrate in Finnland unter den höchsten in Westeuropa. Zu Beginn der 90er Jahre war die finnische Gefangenenrate auf die nordische Höhe gesunken. Aufgrund eines humanen, neoklassizistischen, pragmatisch-rationalen Ansatzes hatten finnische Kriminologen Alternativen zur Freiheitsstrafe vertreten: z.B. die Ausweitung der Geldstrafe, der Bewährungshilfe, der Aussetzung des Strafrestes, die Einschränkung der Ersatzfreiheitsstrafe, die Einführung der gemeinnützigen Arbeit. Der Gesetzgeber, der sich für eine Senkung der Verhängung der Freiheitsstrafe einsetzte, wurde durch die Richterschaft unterstützt. Unter den Politikern herrschte Konsens, die Gefangenenzahl zu reduzieren. Innere Sicherheit war kein zentrales Thema in Wahlkampagnen. In Finnland bewahrten die Massenmedien eine sachorientierte, nüchterne, vernünftige Einstellung zu kriminalpolitischen Problemen. Die Öffentliche Meinung war davon überzeugt worden, eine „nordische Identität“ bei der Strafzumessung anzunehmen. Das Vertrauen der finnischen Öffentlichkeit in ihre Kriminaljustiz ist sehr groß: Bei einem europäischen Durchschnitt von 45 Prozent haben in Finnland 66 Prozent der Bevölkerung großes Vertrauen (Roberts 2007, 167). Es ist also gelungen, die Bevölkerung im Lernprozess „mitzunehmen“. Vertrauen schafft soziales Kapital, das für die Stärkung der informellen Kontrolle wesentlich ist. 6.2
Kriminalpolitik in einigen europäischen Ländern
6.2.1 Kriminalpolitik in England und Wales Gegenwärtig haben England und Wales die höchste Inhaftierungsrate in Westeuropa. Im Jahre 2003 betrug sie 139.1. Im Vergleich dazu sind die Gefangenenzahlen in Frankreich (93.1), Deutschland (96.4) und Italien (101.7) niedriger (Aebi 2006, 29). Seit Mitte der 90er Jahre geht die Viktimisierungsrate nach der „British Crime Survey“ (Nicholas/Povey/Walker/Kershaw 2005, 17) zurück. Sie ist von 40 Prozent in 1995 auf 24 Prozent in den Jahren 2004/2005 gefallen. Demgegenüber glauben 61 Prozent der Öffentlichkeit, dass die Kriminalität gestiegen ist, und 27 Prozent nehmen sogar an, dass sie stark gewachsen ist. Die Gefangenenzahlen haben von 88 im Jahr 1992 auf 141 im Jahr 2004 zugenommen. Zwischen 1980 und 2006 sind 26 neue Strafanstalten errichtet und 14.285 neue Strafanstaltsplätze geschaffen worden. Ende 2005 waren von 142 Gefängnissen 33 überbelegt (Morgan/Liebling 2007). Man führt das Wachsen der Freiheitsstrafe auf eine Änderung der Urteilspraxis zurück, die auf der Debatte über einen in der Öffentlichkeit angenommenen Kriminalitätsanstieg beruht (Wiles 2004). Für diese Irreführung der Öffentlichkeit werden die Mediendarstellung der Kriminalitätsentwicklung und die Politisierung der Kriminalitätskontrolle verantwortlich gemacht (Newburn 2007). Seit 1993/94 legen beide große Parteien Härte in der Kriminalitätskontrolle („Tough on Crime“) an den Tag. Sie beeinflussen die Öffentlichkeit, geben allerdings vor, sie seien durch die Öffentlichkeit beeinflusst.
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6.2.2 Kriminalpolitik in den Niederlanden Die Inhaftierungsrate der Niederlande im Jahre 2004 ist mit 123 relativ hoch; sie liegt über dem westeuropäischen Durchschnitt. Das war nicht immer so. Jahrzehntelang besaßen die Niederlande eine der niedrigsten Gefangenenzahlen in Europa. Sie waren durch ihr moralisches Klima der Toleranz bekannt. In der Zeitspanne zwischen 1947 und 1974, in der das Prinzip der Resozialisierung herrschend war, ging die Freiheitsstrafe zurück. Die Behandlung in der Psychiatrischen Beobachtungsklinik in Utrecht wurde als ideal angesehen. Das änderte sich im Jahrzehnt von 1975 bis 1985. Eine Ernüchterung, eine Desillusionierung trat ein. Man verlor das Vertrauen zur Kriminaljustiz, deren Erfolg nicht hoch eingeschätzt wurde. Waren die Gefangenenzahlen 1973 noch 18 und 1987 noch 33 gewesen, so kletterten sie bis zum Jahre 2004 auf 123. Strafgesetzgebung und -anwendung nahmen eine punitivere Einstellung an, um verloren gegangenes Vertrauen wiederzugewinnen. Dieser Wandel wird auch mit einer Emotionalisierung des Kriminalitätsproblems durch die Massenmedien und mit der Politisierung der Kriminalitätskontrolle erklärt (Downes/Swaaningen 2007). 6.2.3 Kriminalpolitik in Skandinavien Die skandinavischen Länder befinden sich unter den Staaten in der Welt, die die niedrigsten Inhaftierungsraten haben. Im Jahre 2004 hatten Schweden 81, Norwegen 65, Dänemark 70 und Finnland 66 Gefangene auf 100.000 Einwohner. Die Freiheitsstrafe ist allerdings zwischen 1999 und 2002 um 25 Prozent gestiegen. Eine härtere Drogen- und Gewaltkontrolle sollen für 75 % bis 80 % des Anstiegs verantwortlich sein (Lappi-Seppälä 2007, 287). Trotz dieses (mäßigen) Wachsens der Freiheitsstrafe gehören die nordischen Staaten vor wie nach zu den Ländern mit der niedrigsten Anwendung der Freiheitsstrafe. Sie verfolgen in der Kriminalpolitik einen humanen Neo-Klassizismus, einen pragmatisch-rationalen Ansatz, der sich sowohl gegen die Behandlungsideologie wie gegen die Repression und Retribution (Vergeltung) richtet. Gegen die Effektivität der Freiheitsstrafe herrscht ein tiefes Misstrauen, ob sie nun Vergeltung, Abschreckung oder Behandlung zum Ziel hat. Die geringe Anwendung der Freiheitsstrafe wird im Wesentlichen auf zwei Gründe zurückgeführt (Lappi-Seppälä 2008; 2007; 2006): – Das Strafrecht wird nur als ein Mittel der Kriminalitätskontrolle und nicht einmal als das wichtigste angesehen. Viel bedeutsamer ist die informelle Kontrolle durch die sozialen Gruppen, z.B. durch die Familie. Deshalb tritt man für Maßnahmen gegen soziale Marginalisation ein. Ziele der nordischen Kriminalpolitik sind eine Minimierung der Freiheitsstrafe und ein fairer Ausgleich aller Schäden, die Täter, Opfer und Gesellschaft durch die Kriminalität entstanden sind. Minimierung der Leiden, die durch die Kriminalitätskontrolle verursacht werden, und die moralschaffende und werteformende Wirkung der Sanktionen werden betont. – Die Rolle nicht-freiheitsentziehender Sanktionen wird gestärkt. Geldstrafe ist die wichtigste Hauptstrafe. Gemeinnützige Arbeit ersetzt 35 Prozent der kurzzeitigen Freiheitsstrafen. Strafaussetzung zur Bewährung und elektronisch überwachter Hausarrest werden häufig angewandt. Das Verbrechensopfer hat traditionell eine
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Kriminologie in Europa
starke Position, die sich in der Restaurativen Justiz für junge Straftäter ausgewirkt hat. Gemeinnützige Arbeit und Wiedergutmachung des dem Opfer entstandenen Schadens durch den Täter sind in der Bevölkerung der skandinavischen Länder populär (Bondeson 2003, 100, 106). 6.2.4 Kriminalpolitik in Deutschland Im Jahre 2005 wurden in Deutschland 780.659 Straftäter verurteilt. Davon erhielten rund 70 Prozent eine Geldstrafe (Tagessatzsystem). Zu Freiheitsstrafe wurden 16 Prozent verurteilt. Von diesen Freiheitsstrafen wurden allerdings gut zwei Drittel zur Bewährung ausgesetzt (Statistisches Bundesamt 2007, 44, 49). Am 31. März 2006 hatte Deutschland 64.137 Strafgefangene. Die Anzahl der Strafgefangenen ist zwischen 1991 und 2006 gestiegen. Die Inhaftierungsrate belief sich im Jahre 2004 auf 98 und bewegte sich damit im westeuropäischen Durchschnitt. Die relativ niedrige Einsperrungsrate in Deutschland (98) gegenüber der Gefangenenrate in den USA (723) wird mit zwei Gründen zu erklären versucht (Whitman 2003): – Europäische Staatsapparate werden von Bürokratien gesteuert, die von demokratischen Prozessen isolierter sind als U.S.-amerikanische Bürokratien. Europäische Bürokratien schotten den Staat von Druckphänomenen demokratischer Politik ab. – In Europa verlangt die Theorie der Individualisierung, dass das Ziel der Kriminalpolitik nicht Taten, sondern Täter, nicht Handlungen, sondern Personen sein sollen. Individualisierung unterstützt das Verständnis für die individuelle Persönlichkeit des Täters. Im U.S.-amerikanischen Strafrecht haben Personen nicht so sehr die Bedeutung wie Personen in Deutschland. Alle Personen erhalten in den USA dieselbe Strafe (egalitäre Urteilsphilosophie). Beide hoch spekulativen und empirisch nicht nachgewiesenen Gründe überzeugen nicht. Demokratische Druckphänomene im Hinblick auf retributive, repressive Kriminalpolitik sind eine einseitige Erklärung. Die Bevölkerung ist gegenüber guten kriminalpolitischen Argumenten durchaus aufgeschlossen. In Deutschland wird die Freiheitsstrafe zwar mäßig angewandt. Im Vergleich zu den skandinavischen Ländern besteht aber immer noch Spielraum. Deshalb hat das Bundesjustizministerium eine Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems eingesetzt, die u.a. die Erweiterung der Strafaussetzung zur Bewährung, die Vermeidung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafen, die Stärkung des Täter-Opfer-Ausgleichs und die Einführung der gemeinnützigen Arbeit als selbstständige Sanktion beraten sollte. Die in ihrer Mehrheit mit Strafrechtsdogmatikern und -praktikern zusammengesetzte Kommission hat alle die Freiheitsstrafe einschränkenden Vorschläge abgelehnt (Bundesministerium der Justiz 2000). Der Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums zur Einführung der gemeinnützigen Arbeit als selbstständige Sanktion ist z.B. mit den Begründungen verworfen worden, der gemeinnützigen Arbeit fehle der „Strafcharakter“, Erfahrungen im Ausland mit der gemeinnützigen Arbeit seien auf deutsche Verhältnisse nicht übertragbar (Isolationsargument) und die gemeinnützige Arbeit könne in die bestehende Sanktionsdogmatik nicht ohne Hans Joachim Schneider
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systematische Brüche eingefügt werden. Hier hat sich erneut gezeigt, dass die Mehrheit der deutschen Strafrechtsdogmatik und -praxis gegenüber allen kriminalpolitischen Reformen abgeneigt ist, die Strafgesetzgebung und öffentliche Meinung befürworten (vgl. auch Sessar 1992).
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Die Entwicklung der Hauptrichtung der Kriminologie in Europa
In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Kriminologie zu einer internationalen, interdisziplinären, autonomen, empirischen Human- und Sozialwissenschaft entwickelt. Durch einen Meinung-Bildungs-Prozess, der auf den Ergebnissen empirischer Forschung beruht, hat sich während der Weltkongresse für Kriminologie und Viktimologie (H. J. Schneider 2003a; 2005c; 2006) und während der Jahrestagungen der „Europäischen Gesellschaft für Kriminologie“ (H. J. Schneider 2003b; 2004c; 2009) und der „Amerikanischen Gesellschaft für Kriminologie“ (H. J. Schneider 2003c; 2005d; 2007b) im Laufe eines halben Jahrhunderts eine kriminologische Hauptrichtung herausgebildet, die folgende Fortschritte gemacht hat (H. J. Schneider 2007a): – An die Stelle des Täters und seiner Persönlichkeit sind der Täter, das Opfer, der soziale Nahraum und die Gesellschaft getreten. Strafgesetzgebung und Kriminaljustiz werden empirisch-kriminologisch untersucht. Die klinische Kriminologie hat der strukturellen und vergleichenden Platz gemacht. Psychopathologie und Mehrfaktorenansatz haben ihre Bedeutung für die Kriminologie verloren. Die Mehrheit der Kriminologen stimmt darin überein, dass empirische und experimentelle Forschungen theoriegeleitet sein sollten. Die psychoanalytische Kriminologie ist sozialpsychologisch weiterentwickelt worden. Kritisch-radikale Theorien haben sich mehrheitlich nicht durchgesetzt; sie sind Nebenrichtungen geblieben. – Internationale, nationale, lokale und auf soziale Institutionen und einzelne Delikte spezialisierte Befragungen der Bevölkerung in ihr Opferwerden (Viktimisierungstudien) haben die kriminologische Phänomenologie erheblich erweitert. Umfang und Struktur der begangenen, aber nicht angezeigten Kriminalität (das Dunkelfeld) sind deutlich geworden. Viktimisierungsstudien haben Vergleiche über Ausmaß und Art der Viktimisierung (des Opferwerdens) in verschiedenen Gesellschaften ermöglicht. Die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung, ihr Sicherheitsgefühl, ihre Verbrechensfurcht und das Risiko des Opferwerdens sind ermittelt worden. Mit der zweiten viktimologischen Methode, der Opferbefragung (der Befragung von Verbrechensopfern), sind Erfahrungen mit dem und Reaktionen auf das Opferwerden, Opferschäden und -bedürfnisse, Re- und Sekundärviktimisierung festgestellt worden. – Die Kriminologie hat in der Vergangenheit ihre Aufmerksamkeit zu sehr auf die Delinquenz im Jugendalter konzentriert. Das hat sich mit der Lebenslauf- und Entwicklungskriminologie geändert. Man interessiert sich jetzt mehr für Längsschnittmuster, für Beständigkeit und Wandel des Kriminellwerdens. Kognitiv-soziales Lernen ist ein Interaktionsprozess, in dem die Sozialstruktur das kriminelle und prosoziale (konforme) Verhalten beeinflusst. In der Lebensbahn führen schwache soziale Bindungen und ein Mangel an informeller sozialer Kontrolle zu hoher de-
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linquenter Verwicklung. Beginn der Kriminalität, ihre Dauer, ihre Häufigkeit im Einzelfall und ihr Ende werden genauso empirisch untersucht wie ihre Hartnäckigkeit, ihre Beharrlichkeit, die Wendepunkte im Lebenslauf des Rechtsbrechers und sein Abstandnehmen von Kriminalität. – Strafrechtliche Meinungs- und klinische Erfahrungskriminologie sind methodologisch nicht mehr ausreichend. Die Kriminologie der Gegenwart legt auf sozialwissenschaftlich-methodische Exaktheit bei der realitätsnahen Erfassung der kriminellen Wirklichkeit großen Wert. Evaluationsforschung steht im Zentrum der modernen Kriminologie. Sie wird als Aktivität einer Sozialwissenschaft verstanden, die auf die Sammlung, Analyse, Interpretation und Kommunikation über das Funktionieren und die Effektivität sozialer Programme gerichtet ist. In systematischen Überblicken und Metaanalysen werden die besten empirischen und experimentellen Studien ermittelt. Zur Überprüfung von Vorbeugungs- und Behandlungsprogrammen erlangt das Experiment in der Kriminologie eine immer größer werdende Bedeutung. Die Anzahl der Experimente hat sich in der internationalen Kriminologie von 37 in den Jahren 1957 bis 1981 auf 85 in den Jahren 1982 bis 2004 verdoppelt (Farrington/Welsh 2006, 111). – Spekulation, ideologische Überzeugungen, subjektive Erfahrungen, Meinungen und Eindrücke spielen bei kriminalpolitischen Entscheidungen keine Rolle mehr. Die kriminologische Hauptrichtung hat sich dahingehend entschieden, dass Kriminalpolitik auf evaluierten Vorbeugungs- und Behandlungsexperimenten beruhen soll. Bei der Vorbeugung steht die Entwicklungsprävention im Vordergrund, die sich auf den Beweis gründet, dass delinquente Aktivität durch Verhaltens- und Einstellungsmuster hervorgerufen wird, die während der individuellen Lebensbahn gelernt werden. Man benutzt Präventions-Methoden, die den Eltern und Lehrern helfen, die körperliche, kognitive und sozioemotionale Entwicklung ihrer Kinder zu unterstützen, und die die Selbst- und Impuls-Kontrolle der Kinder verbessern. Bei der Behandlung des Rechtsbrechers hat sich die Ideologie überholt, die davon ausging, jede Art von Straftäter-Behandlung sei erfolgversprechend. Man differenziert heute vielmehr zwischen erfolgreichen, erfolgversprechenden, irrelevanten und erfolglosen Behandlungsmethoden. Über den Effekt und seine Stärke entscheiden Evaluationsstudien. Es geht darum, welche Behandlungsmethoden am besten für welchen Täter, unter welchen Bedingungen und in welchem sozialen Kontext wirken. Kognitiv-behavioristische Ansätze, die auf die kognitiv-soziale Lerntheorie gegründet sind, haben sich als am wirksamsten erwiesen. Kriminelles Verhalten ist erlernt und kann durch motivierte Rechtsbrecher wieder „verlernt“ werden.
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Internationale Probleme
1.1 Genozid (Völkermord) Susanne Karstedt
Inhaltsübersicht 1 2 3 4 5
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Genozid im „Zeitalter der Extreme“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genozid: Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dimensionen des Genozid: Täter und Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dimensionen des Genozid: Periodisierung, Typen, elementare Merkmale und Prozesse Ansätze zur Erklärung von Genozid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Genozid, Moderne und Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Strukturelle und psychosoziale Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Genozid als Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuschauer, Zeugen und Profiteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strafverfolgung und Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention und Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle der Kriminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41 44 46 48 51 52 54 57 58 61 62 66 68
Genozid im „Zeitalter der Extreme“
Genozid kann als das Verbrechen des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden. Es hat diesem „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm 1994) seinen Stempel in vielfacher Weise aufgedrückt. In diesem Jahrhundert wurde der Begriff geprägt, Genozid rechtlich definiert und damit endgültig kriminalisiert und strafbar gemacht. Das Jahrhundert war Zeuge, als sich die internationale Völkergemeinschaft unter dem Eindruck des Holocaust an den europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland dazu verpflichtete, von Genozid gefährdete Völker zu schützen und das Verbrechen des Völkermords zu verhindern, sowie jene zu verfolgen und zu bestrafen, die für die Massentötungen verantwortlich waren – sei es, indem sie die Befehle gaben, sei es, dass sie selbst an der Durchführung beteiligt waren. Das ist in einer Reihe von Verfahren gegen hochrangige Täter im Nachkriegs-Deutschland gelungen. Der Prozess gegen die Elite des NS-Staates im Nürnberger Prozess gehört zu den machtvollen Symbolen und eindrücklichen Bildern, die das Jahrhundert prägten. Seine Erfolge und sein Scheitern haben die Debatte seither bestimmt. Die Strafverfolgung der zahlSusanne Karstedt
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1 Internationale Probleme
reichen Täter, die sich an Massentötungen beteiligten, wird hingegen als weniger erfolgreich und höchst problematisch eingeschätzt – trotz einer Vielzahl von Verfahren seit dem Ende des zweiten Weltkriegs und den historischen Entscheidungen des Nürnberger Prozesses. Dieser behandelte zwar in der Substanz Genozid, verwendete jedoch die Terminologie nicht. Es hat dann schließlich bis zum Ende des Jahrhunderts gedauert, dass die internationale Völkergemeinschaft ihr Versprechen eingelöst hat, Genozid zu verhüten, und begann, aktiv zu intervenieren wie im Kosovo im früheren Jugoslawien. Gleichwohl steht der Völkermord in Ruanda zu Beginn der 1990er Jahre für das Versagen der internationalen Gemeinschaft, die zahlreichen Warnzeichen wahrzunehmen und dem Morden rechtzeitig Einhalt zu gebieten (Melvern 2004). Schliesslich war das 20. das Jahrhundert desjenigen Genozid-Verbrechens, das das Bild des Genozid in der Moderne unauslöschlich und als Paradigma geprägt hat. Der Holocaust an den europäischen Juden gilt als singuläres Menschheitsverbrechen in der bekannten Geschichte, und er hat die wissenschaftliche Untersuchung des Genozid während der vergangenen Jahrzehnte entscheidend geprägt. Diese Fixierung auf den Holocaust als Urbild des Genozid wird derzeit abgelöst durch neue Perspektiven, die veränderten Konstellationen und Formen des Genozid zu Beginn des 21. Jahrhunderts stärker Rechnung zu tragen versuchen. Es gibt jedoch wenig Zweifel, dass das 20. Jahrhundert, selbst wenn es nicht die höchste Zahl von Genozid-Ereignissen zu verzeichnen hat, doch die höchste Zahl an Opfern von Völkermord in der gesamten bekannten Menschheitsgeschichte zu beklagen hat. In der Tat symbolisieren das Verbrechen des Genozid und die Versuche zur Prävention und Strafverfolgung die „Extreme“, das Scheitern und die Erfolge des Jahrhunderts. In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Genozid hat die Kriminologie bislang eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Neben historischen, soziologischen, politikwissenschaftlichen und eher sozialpsychologisch orientierten Untersuchungen, die sich mit den Ursachen und dem Prozess des Genozid auseinandersetzen, nimmt sich der Beitrag der Kriminologie selbst eher bescheiden aus. In den meisten deutschsprachigen Lehrbüchern finden wir keine (Killias 2002) oder nur eher beiläufige Erwähnungen (Eisenberg 1990). Eine bemerkenswerte Ausnahme ist daher Schneiders „Kriminologie“ (1986), in der Völkermord unter politischer Kriminalität abgehandelt wird. Ohlemacher und Lüdemann widmen in ihrer „Soziologie der Kriminalität“ (2002) Kriegsverbrechen und Völkermord ein Kapitel, das sich überwiegend mit der Sozialpsychologie der Täter befasst. In den führenden englischsprachigen Lehrbüchern finden sich allenfalls kurze Abrisse unter den Rubriken „political crime“ (Hagan 2002) oder „comparative criminology“ bei Byrne und Messerschmidt (2000), immerhin in einem Lehrbuch, das sich ausgesprochen einer kritisch-kriminologischen Perspektive verpflichtet. Insofern gebührt Jägers explizit kriminologischer Untersuchung der „Verbrechen unter nationalsozialistischer Herrschaft“ aus dem Jahr 1967 bis heute auch international eine Sonderstellung. Sie ging zeitlich den meisten soziologischen und politikwissenschaftlichen Abhandlungen voraus, auch wenn die strafrechtliche Perspektive dominant und die sozialwissenschaftliche Analyse schmal blieb. Jäger hat später Genozid als „Makrokriminalität“ (1989) untersucht, wobei
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Susanne Karstedt
1.1 Genozid (Völkermord)
Genozid als Form politischer Kriminalität – ebenso wie Terrorismus – behandelt wird (siehe auch Reese 2004). Diesen Zusammenhang hat kürzlich Kressel (2002) aufgegriffen, indem er beide Formen von Kriminalität als Ausdruck von Hass begreift, der in einer Gruppe massenhaft um sich greift („mass hate“). Jüngeren Datums sind Hagans kriminologische Untersuchungen zum International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY) (Hagan 2003) sowie zur Viktimisierung von ethnischen Gruppen in Darfur in Afrika (Hagan, Rymond-Richmond and Parker 2005). In der Tat beginnen Kriminologinnen und Kriminologen erst jetzt, sich mit der internationalen Strafgerichtsbarkeit eingehender zu befassen (vgl. Neubacher 2005). Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich das am individuellen Täter und seinem Umfeld entwickelte theoretische Instrumentarium der Kriminologie weder dafür eignet, Formen kollektiver Gewalt zu erklären, noch dazu beitragen kann, die Frage zu beantworten, warum ganz „normale Menschen“ – zumeist und mit nur wenigen Ausnahmen Männer – unter bestimmten Bedingungen zu Massenmördern werden, um anschließend wiederum ein friedliches Leben zu führen. Die wenigen vorliegenden Versuche sind kaum befriedigend 1. Eine Kriminologie des Genozid, wie sie derzeit in Umrissen erkennbar wird, muss sich zur Beantwortung dieser für die Forschung zentralen Fragen daher ganz weitgehend auf die führenden Studien aus Soziologie und Sozialpsychologie, aus Geschichts- und Politikwissenschaft stützen. Genozid stellt ferner eine Herausforderung für die Kriminologie dar, als sie zur internationalen und vergleichenden Analyse gezwungen wird, ein Feld, das bislang eher marginal geblieben ist. Seit dem bahnbrechenden Werk von Kuper (1981) sind die wesentlichen Erkenntnisse zur Entstehung, zum Verlauf und zur Prävention von Völkermord der vergleichenden Perspektive zu verdanken. Jedoch kann die Kriminologie einen analytischen Rahmen zur Verfügung stellen, der diese unterschiedlichen Perspektiven integriert. Seit Sutherlands berühmter Definition der Kriminologie als „the study of the making of laws, the breaking of laws and reactions to the breaking of laws“ (1947:1) bestimmen die drei Felder der Definition von Kriminalität, ihrer strafrechtlichen Verfolgung und moralischen Verurteilung, sowie der Erforschung ihrer Ursachen die kriminologische Disziplin. In einem ganz elementaren Sinn befasst sich die Kriminologie mit Fragen der Gerechtigkeit (making of laws and reactions to the breaking of laws) und als Ätiologie mit der sozialen Ordnung. Die komplexe Problematik des Genozid stellt ohne Zweifel erhebliche Anforderungen an diesen Rahmen: Wie ist Genozid als kollektives Phänomen und als Verbrechen der Mächtigen und des Staates einzuordnen? Welche Rolle spielen schweigende Unterstützung und Mitläufertum, die vielen Zuschauer und Zeugen unsäglicher Verbrechen? Ist es möglich, eine so grosse Zahl von Tätern zu verfolgen und zu sanktionieren, wie kann individuelle Schuld zugerechnet werden, und den Opfern Gerechtigkeit
1 Vgl. den Versuch von Brannigan und Hardwick (2003), Gottfredsons und Hirschis General Theory zur Erklärung von Genozid heran zu ziehen. Dieser fällt allerdings weit hinter die in anderen Disziplinen entwickelten Ansätze zurück, so dass er hier nicht weiter diskutiert wird. Day und Vandiver (2000) beziehen sich in erster Linie auf Sykes und Matzas Techniken der Neutralisation. Susanne Karstedt
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1 Internationale Probleme
geschehen? Diese Darstellung wird dem kriminologischen Rahmen im weitesten Sinne folgen. Zunächst wird die rechtliche Definition von Genozid in ihrer historischen Entwicklung dargestellt, und der derzeit gebräuchlichen wissenschaftlichen Terminologie gegenübergestellt. Anschließend wird ein Überblick über das Vorkommen von Genozid, sowie über Schätzungen der Täter- und Opferzahlen gegeben. Dem folgt die Darstellung der entscheidenden analytischen Dimensionen sowie der wichtigsten Erklärungsansätze zur Entstehung von Genozid. Weiterhin werden Untersuchungen zur Beteiligung am Genozid vorgestellt, und zwar für Täter und Zeugen. Strafverfolgung, Prävention und Intervention behandeln die Fragen von Recht und Gerechtigkeit, insonderheit für die Überlebenden und die Opfer.
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Genozid: Terminologie
Der Begriff „Genozid“ wurde von Raphael Lemkin, einem Juristen polnisch-jüdischer Herkunft 1944 geprägt. Er hat sich in vielfältiger und unermüdlicher Weise dafür eingesetzt, dass die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands geahndet wurden, dass die Vereinten Nationen Völkermord als ein Verbrechen gemäß internationalem Recht deklarierten, und die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords von den Mitgliedstaaten ratifiziert wurde, nicht zuletzt in den USA (Rubinstein 2004 : 306 ff). Bereits 1946 hatte die Generalversammlung der Vereinten Nationen in einer Resolution proklamiert, dass Genozid ein Verbrechen ist, das einer Gruppe das Recht auf Leben in dergleichen Weise abspricht, wie ein Mord das Recht eines einzelnen Menschen auf Leben verneint (Rubinstein 2004: 308 ff). Diese Resolution wie auch die im Dezember 1948 angenommene und im Januar 1951 in Kraft getretene „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ (United Nations Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide) standen ganz unter dem Zeichen des Holocaust und der Nürnberger Prozesse gegen die hochrangigen Täter des nationalsozialistischen Staates. Die Mitgliedstaaten gaben der Überzeugung Ausdruck, dass Völkermord ein Verbrechen sei, „das dem Geist und den Zielen der Vereinten Nationen zuwiderläuft und von der zivilisierten Welt verurteilt wird“, und „dass zur Befreiung der Menschheit von einer solch verabscheuungswürdigen Geißel internationale Zusammenarbeit erforderlich ist“ (zit. nach Deutsche UNESCO-Kommission 1980: 55). Der Beginn des kalten Krieges verhinderte dann, dass die Konvention unmittelbar eine entscheidende Rolle im internationalen Recht und der Politik spielen konnte, zumal die USA die Konvention erst in den 1980er Jahren unterzeichneten. Jedoch gewann sie – auch im Zusammenhang mit der Fortentwicklung der Menschenrechte in zwei entscheidenden Konventionen 1966 – seit den 1970er Jahren zunehmend an Gewicht, als der Genozid in Kambodscha und in Zentralafrika sowie der Massenmord an politischen Gegnern in lateinamerikanischen Staaten der internationalen Gemeinschaft klarmachten, dass Genozid eine dauerhafte und globale Bedrohung sein würde. Mit der Rückkehr des Genozid nach Europa in das ehemalige Jugoslawien, dem Völkermord in Ruanda sowie weiteren ständigen Krisenherden in Afrika und Asien sind die internationale Staatengemeinschaft und ihre Organisationen mehr
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1.1 Genozid (Völkermord)
denn je damit konfrontiert, die ein halbes Jahrhundert vorher gegebene Verpflichtung, Genozid zu verfolgen und zu verhindern, einzulösen. Die Konvention definiert Genozid als Handlungen, die in der Absicht begangen werden, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ (ebenda: 56). Darunter fallen die folgenden Handlungen: Tötung von Mitgliedern der Gruppe; Verursachung von schweren körperlichen und seelischen Schäden an Mitgliedern dieser Gruppe; die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die geeignet sind, die teilweise oder gänzliche Vernichtung der Gruppe herbeizuführen; die Verhängung von Massnahmen, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern; sowie die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere (Artikel II). Strafbar sind nach der Konvention neben dem Völkermord selbst die Verschwörung, das Verbrechen zu begehen, die unmittelbare und öffentliche Anreizung zum Völkermord, der Versuch und die Teilnahme (Artikel III). Insofern ist auch der Kreis der von der Strafandrohung betroffenen Täter weit gefasst. Er umschließt Mitglieder der Regierung, öffentliche Beamte und private Einzelpersonen (Artikel IV). Diese Definition ist unter mehreren Aspekten bemerkenswert, und sie reflektiert deutlich die einzelnen Schritte und Aktionen, die in ihrer Summe den historischen Holocaust ausmachten. Zunächst wird nicht die vollständige Zerstörung der Gruppe vorausgesetzt. Darüber hinaus trägt die Konvention mit dem Katalog von Massnahmen dem Prozesscharakter des Völkermords Rechnung, sowie der Tatsache, dass Genozid aus einer Kette von Handlungen und Massnahmen von Regierungen oder Gruppen besteht, die aufeinander aufbauend schliesslich zum Ziel der gänzlichen oder teilweisen Vernichtung führen (Valentino 2004). Schliesslich fasst sie den Kreis der potentiellen Täter weit, und erkennt damit an, dass Völkermord in organisierten, oft staatlich-bürokratischen oder militärischen Zusammenhängen geplant und durchgeführt wird. Wenn auch nicht explizit, so ist letzten Endes auch die Regierung, die einen Genozid zulässt und vorantreibt, durch ihre Repräsentanten in den Kreis der Täter eingeschlossen. Weder diejenigen, die von Schreibtischen aus Befehle erteilen, noch diejenigen, die sich als mehr oder weniger anonyme Befehlsempfänger an der Ausführung beteiligen, sollen sich der Verantwortung entziehen können. In den Verfahren vor dem ICTY hat man versucht, diesen Kreis noch einmal durch die Gruppe derjenigen zu erweitern, die die Verbrechen als unmittelbare Zeugen geschehen lassen ohne einzugreifen (siehe kritisch dazu Osiel 2005). Andererseits schränkte die Konvention jedoch mit der Auflistung der Gruppen den Geltungsbreich von Völkermord entscheidend ein. So waren weder der Massenmord an einer sozialen Gruppe oder Klasse noch an Mitgliedern politischer Gruppierungen eingeschlossen, beides ein Resultat der Intervention der damaligen Sowjetunion und des kalten Krieges. Damit setzte sich die Konvention von Beginn an in einen unhaltbaren Gegensatz zu der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem gleichen Jahr, die ausdrücklich auf politische und soziale Gruppierungen Bezug nimmt, sowie die weiteren Menschenrechtskonventionen, die als Bestandteil der International Bill of Rights Diskriminierungen dieser Gruppierungen als Verletzungen der Menschenrechte deklarieren (Shaw 2003: 36). Letzten Endes hat sich die auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte basierende Definition zumindest in der Wissenschaft, aber auch im Bereich der internationalen Politik und im internationalen Recht durchgesetzt. Die Massenmmorde an Bauern in der UDSSR unter Stalins Regime, oder an Städtern und gebildeten Eliten durch die Khmer Rouge in Kambodscha, die als Genozid am eigenen Volk bezeichnet werden können, werden derzeit von den meisten Autoren als Völkermord eingestuft. Für die Verfolgung und Bestrafung der Täter ist es jedoch immer noch entscheidend, dass die Susanne Karstedt
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1 Internationale Probleme Opfer aufgrund ihrer Mitgliedschaft in einer spezifischen ethnischen und/oder religiösen Gruppe ausgesucht werden, auch wenn die Kriterien derzeit weiter gefasst werden. (Amann 2002; Hagan, Rymond-Richmond and Parker 2005). Aus diesen Beschränkungen der Konvention hat sich eine bis heute fortdauernde Debatte über die Definition von Genozid ergeben. Derzeit finden wir Begriffe wie „Massenmorde“ („mass killings“, Valentino 2004), oder „massenhafte Gewalttaten“ („mass atrocities“, Osiel 1997). Der von Rummel (1994, 1998) geprägte Begriff des „Demozid“ bezieht sich ausschliesslich auf den von Regierungsorganisationen durchgeführten Genozid. Ebenso stellt der von Harff und Gurr (1996) benutzte Begriff „politicide“ auf die Täterschaft des Staates selbst ab (Fein 1999). Mann (2005) schliesst mit „murderous ethnic cleansing“ („eliminatorische ethnische Säuberungen“, Mann 2000) die gewalttätigen und auf Vernichtung zielenden Vertreibungen ein. Einige dieser Begriffe dehnen den Kreis der potentiell betroffenen Gruppen über diejenigen hinaus aus, denen die Konvention bis heute einen Sonderstatus verleiht. Obwohl Genozid sich sowohl rechtlich als auch in seinen Erscheinungsformen von Kriegsverbrechen unterscheidet, beziehen eine Reihe von Autoren bestimmte Kriegshandlungen, die gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sind und auf die Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen zielen, in den Völkermord mit ein (vgl. Kuper 1981; Rubinstein 2004). Auch wenn sich Genozid durch seine durch die Konvention erklärte Illegalität von Kriegshandlungen generell unterscheidet, und zudem in der Regel eher verdeckt und unter Geheimhaltung durchgeführt wird, so ist kaum zu übersehen, dass Völkermord im Zusammenhang mit Kriegen geschieht, Kriege mit genozidalen Zielen geführt werden, oder die Massenvernichtung selbst als Krieg definiert wird. Shaw (2003) nennt als typische genozidale „Ereignisse (episodes)“ im Zusammenhang mit Kriegen den Genozid an den Armeniern als Prototyp, den Holocaust und den Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands im Osten Europas, den Krieg der Japaner auf dem chinesischen Festland oder den Krieg in Jugoslawien in den 1990er Jahren. Die Reichweite der Definition von Genozid hat entscheidende Konsequenzen für die Schätzungen der Zahlen von Opfern und Tätern, und darüber hinaus für die Geschichtsschreibung des Genozid, insbesondere für die Einschätzung der Sonderstellung des 20. Jahrhunderts.
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Dimensionen des Genozid: Täter und Opfer Genozid ist gekennzeichnet durch die Spannung zwischen einer eindeutig diskriminierenden Wahl der Zielgruppe, und der dann erfolgenden unterschiedslosen Tötung oder Gewaltanwendung gegen alle Mitglieder dieser Gruppe, Männer und Frauen, Alte wie Kinder, unabhängig von sozialer Herkunft oder Stellung (Shaw 2003: 6; kritisch Verwimp 2005). Genozid ist geradezu definiert durch unfassbare Opferzahlen, denen dann eine im Vergleich dazu geringe Zahl an Tätern gegenübersteht, auch wenn diese Gruppe wiederum den Rahmen einer auf individueller Schuld basierenden Kriminaljustiz sprengt. Die Schätzungen der Opfer – denn nur Schätzungen sind möglich – beziehen in der Regel nur die Toten ein, nicht jedoch die körperlich verstümmelten und seelisch beschädigten Menschen, die sich aus dem Inferno des Genozid retten können. Je nach der Reichweite der zugrunde gelegten Definition von Genozid differieren die Opferschätzungen erheblich. Dabei ist die Identifikation von Genozidereignissen (episodes) entscheidend: Wieweit sollen die Opfer von vorsätzlich oder zumindest fahrlässig herbeigeführten Hungersnöten einbezogen werden, wie sie sich im Rahmen der Kollektivierung der Landwirtschaft in der UDSSR unter Stalin oder in China unter Mao abspielten? Wieweit die Opfer in einem Bürgerkrieg wie in Guatemala, oder in einer staatlich gesteuerten Kampagne wie der Kulturrevolution in China? Valentino (2004: Kap. 3) benennt für vier Typen von Genozidereignissen im 20. Jahrhundert – kommunistische, ethnische, koloniale und gegen Guerilla gerichtete Massenmorde – die jeweils eindeutigen wie auch die „möglichen Fälle“, für die die Klassifizierung als Genozid umstritten ist.
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1.1 Genozid (Völkermord) Die Schätzungen für die Opfer von Völkermord – unterschieden von den Kriegsopfern unter der Zivilbevölkerung – variieren allein für das 20. Jahrhundert zwischen 60 und 150 Millionen Toten, wobei die meisten Schätzungen etwa 80 Millionen Tote angeben (Valentino 2004: 1). Die höchsten und am meisten divergierenden Schätzungen erzielt Rummel (1998) auf der Basis einer Definition von „Demozid“, der von Regierungen bzw. deren Handlangern und Beauftragten ausgeführt wird. Sie reichen von 76 bis zu 360 Millionen Menschen, wobei er als konservative und vorsichtige Schätzung 170 Millionen Tote angibt. Andere Autoren fügen ca. 44 Millionen Tote hinzu, die Opfer von vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführten Hungersnöten sind (Valentino 2004: 255). Harff und Gurr (1996) sowie Gurr (1993: 2000) arbeiten mit einer deutlich eingeschränkten Definition. Sie schätzen, dass allein in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von 1945 bis 1998 in nahezu 50 Genozidfällen zwischen 9 und 20 Millionen Menschen ums Leben kamen. Betrachtet man die Einzelereignisse allein im 20. Jahrhundert, dann haben Genozidaktionen in der Sowjetunion zwischen 1927 und 1945 10 bis 20 Millionen Menschen das Leben gekostet, sowie in China zwischen 1949 und 1972 wahrscheinlich bis zu 46 Millionen Menschen (Valentino 2004: 75). Der Vernichtungskrieg in Osteuropa, den Deutschland im 2. Weltkrieg führte, hatte 10 bis 15 Millionen Tote (ohne Kriegstote) zur Folge. Der Holocaust unter den europäischen Juden hatte bis zu 6,8 Millionen Opfer. Die Toten des Genozid in Kambodscha werden auf 1 bis 2 Millionen geschätzt, in Bangladesch auf bis zu 3 Millionen. Dies sind die mit Abstand größten Genozidfälle im 20. Jahrhundert, gemessen an der Zahl der Opfer. Dem steht die vergleichsweise geringe Zahl der Täter gegenüber. Wie Shaw (2003: 48) feststellt, wird Genozid zumeist geheimgehalten, die Täter werden zur Geheimhaltung verpflichtet oder die Gebiete abgesperrt und anderweitig unwegsam gemacht. Auch die Planungen geschehen verdeckt, die Befehlsketten werden nicht offen gelegt. Kennzeichnend ist hier die berüchtigte Rede Himmlers vor SS-Führern, in der er auf absoluter Geheimhaltung des Holocaust bestand und seinen Zuhörern klarmachte, dass erst spätere Generationen von dem Morden Kenntnis erhalten dürften. Auch für die Täter müssen die Schätzungen darauf beruhen, welche Ereignisse als Genozid gekennzeichnet werden. Wie kann beispielsweise eine individuelle Verantworlichkeit für Hungersnöte festgestellt werden? Allerdings gibt die Konvention Anlass, für den zwar begrenzten Kerntatbestand des Genozid den Kreis der Täter und der inkriminierten Handlungen durchaus weit zu ziehen, ohne den Boden rechtlich eindeutiger Definitionen zu verlassen; als Täter kommen nicht nur alle Ränge einer staatlichen oder militärischen Hierarchie in Frage, sondern auch diejenigen, die planten, vorbereiteten oder auf andere Weise den Genozid unterstützen. So variieren die Schätzungen für diejenigen, die direkt an der Planung und Ausführung des Holocaust beteiligt waren, zwischen 100.000 und 250.000. Die sehr konservative Schätzung von Goldhagen (1996: 164, 167) muss sicherlich um Mitglieder der Gestapo und der Waffen-SS ergänzt werden, die jeweils 50.000 und 400.000 zählten. Im ehemaligen Jugoslawien schätzt man ca. 10.000 Täter, die töteten, vergewaltigten oder anderweitig Gewalt anwendeten, gegenüber bis zu 155.000 Toten. Für Ruanda wird angenommen, dass mehr als 200.000 unmittelbar beteiligte Täter bis zu 800.000 Opfer umbrachten (Osiel 2005: 1752f, Valentino 2004: Kap. 3). Für die vielen anderen Genozidfälle des Jahrhunderts liegen praktisch keine Kenntnisse über Täter vor. Nicht zufällig sind die Fälle, in denen Täterschätzungen vorgenommen werden können, auch diejenigen, in denen Täter tatsächlich auch strafrechtlich verfolgt wurden bzw. derzeit werden. Die historischen Darstellungen von Rummel (1998) und Rubinstein (2004) stellen den Genozid im 20. Jahrhundert in einen historischen Zusammenhang. Rummel bestaetigt mit seinen Berechnungen die meisten Schätzungen, dass im 20. Jahrhundert wahrscheinlich mehr Menschen durch Genozid umkamen als in allen früheren historischen Epochen zusammengenommen (proportional zur Bevölkerungszahl). Rubinstein (2004) hält dagegen Susanne Karstedt
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1 Internationale Probleme das 20. Jahrhundert nicht für gewaltsamer als frühere Epochen, sondern im Gegenteil. Insgesamt unternauern die vorliegenden Schätzungen jedoch das Argument für einen Zusammenhang zwischen Genozid und Moderne.
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Dimensionen des Genozid: Periodisierung, Typen, elementare Merkmale und Prozesse
Der Holocaust an den europäischen Juden bestimmt als Urbild des Genozid alle Debatten um seine entscheidenden Merkmale, Typenbildung und historische Periodisierung. Wie wir bereits gesehen haben, haben die einzigartigen Merkmale des Holocaust die rechtliche Definition von Völkermord diktiert. Insofern ist die Frage, ob der Holocaust ein singuläres Genozidverbrechen war, zentral für alle Versuche einer Systematisierung, Typisierung und Erklärung gewesen, und hat insbesondere in Deutschland zu einer weithin beachteten öffentlichen Diskussion geführt (vgl. Schneider 1986). Die Befürworter dieser Auffassung weisen daraufhin, dass der Holocaust den einzigen wirklichen Versuch darstellt, eine gesamte Bevölkerungsgruppe auszulöschen, und dass er das einzige Beispiel für eine eigens geschaffene und eingerichtete Maschinerie des Todes in der modernen Geschichte darstellt. Die Gegner dieser Auffassung nehmen in Anspruch, dass der Holocaust weder einzigartig hinsichtlich seiner Merkmale noch hinsichtlich der Zahl der Opfer gewesen sei, vor allem im langfristigen historischen Kontext über den Zeithorizont des 20. Jahrhunderts hinaus (Rubinstein 2004: 2). Dabei ist insbesondere problematisch, dass diese Frage häufig politisch und ideologisch missbraucht worden ist, um Völkermord zu leugnen, oder die Anerkennung des geschehenen Unrechts zu verhindern (Fein 1993: 55f). Insofern hat auch die vergleichende wissenschaftliche Perspektive politische Implikationen, wie sich unschwer an der in Deutschland geführten Debatte nachzeichnen lässt. Ungeachtet des nicht zu bestreitenden Einflusses, den der Holocaust als Paradigma des Völkermords auf alle Versuche der Beschreibung und Erklärung ausgeübt hat, geht die derzeitige Forschung doch deutlich von exemplarischen Fällen und einer vergleichenden Perspektive aus. Danach ist – historisch gesehen – jeder einzelne Fall von Genozid zwar singulär, jedoch lassen sich aus der vergleichenden Perspektive grundlegende Merkmale und Typen herauskristallisieren. Rubinstein (2004:6) unterscheidet die folgenden historischen Typen: (a) Genozid in traditionellen Gesellschaften; (b) Genozid im Zeitalter der Imperien und Religionskriege bis 1492; (c) Kolonialer Genozid 1492 bis 1914; (d) Genozid im Zeitalter des Totalitarismus 1914–1979; und (e) die gegenwärtige Phase der ethnischen Säuberungen und Genozide seit 1945. Diese Typisierung nutzt mehrere Kriterien, und zwar den Gesellschaftstypus, die spezifische Zielsetzung wie z.B. bei den kolonialen, totalitären oder auf bestimmte ethnische Gruppen zielende Genozide, und den ideologischen Hintergrund wie vor allem im Hinblick auf das Zeitalter der Religionskriege oder des Totalitarismus. Auffällig ist ferner, dass drei der historischen Typen im 20. Jahrhundert auftreten. Die herausragenden und exemplarischen Genozidfälle unterstreichen die Charakteristika der jeweiligen Epochen. Die Auslöschung Karthagos durch die Römer oder die Vernichtungszüge von Dschingis Khan kennzeichnen den
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1.1 Genozid (Völkermord)
imperialen Genozid, die Hexenverfolgung und die Inquisition sind Beispiele für den religiös motivierten Genozid. Das Koloniale Zeitalter ist durch die Auslöschung der Indianer Süd- und Nordamerikas, der Aborigines in Australien, den Sklavenhandel, die Hungersnot in Irland und den Genozid an den Hereros durch die deutschen Kolonialherren gekennzeichnet. Die Taiping Rebellion in China Mitte des 19. Jahrhunderts, möglicherweise einer der größten Genozide der Geschichte, wird dabei im kolonialen Kontext analysiert. Dem Zeitalter und Typus des totalitären Genozid rechnet Rubinstein den Völkermord an den Armeniern, den Holocaust, die Massenmorde unter dem stalinistischen Regime und in China sowie den Genozid in Kambodscha exemplarisch zu. Zu den gewaltsamen ethnischen Säuberungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehören der Genozid in Bangladesch, in Uganda, in Jugoslawien und in Ruanda. Valentino (2004: Kap. 3) entwickelt eine Typologie für das 20. Jahrhundert, die explizit auf das zugrunde liegende Rationale, die Zielsetzung und Motivation sowie den spezifischen Kontext abstellt. Er unterscheidet zwei Typen: enteigenende Massenmorde (dispossessive mass killings), die auf das Eigentum, das Land und das Leben einer Gruppe zielen, sowie Massenmorde, die als Zwangsmittel und in der Ausübung von Terror eingesetzt werden (coercive mass killings). Zu der ersten Gruppe gehören (a) der innenpolitisch motivierte Völkermord unter kommunistischen Regimes; (b) ethnische Säuberungen; und (c) territorial motivierter Völkermord im Rahmen von kolonialem und kriegerischem Expansionismus. Zu der zweiten Gruppe gehören (d) Genozid im Zusammenhang mit Guerillakriegen, (e) Flächenbombardements, Auslösung von Hungersnöten und Terror als Strategie der Guerilla; und (f) Genozid im Zusammenhang mit imperialistischer Kriegführung und Besetzung. Bei seiner Klassifizierung zeigt sich, dass sich Motivation und Zielsetzung häufig überschneiden, oder dieselben Akteure mehrere Zielsetzungen verfolgen. Bei allem Zweifel an derartigen Typologien haben sie einen unbestreitbaren Wert, wenn es um die Identifizierung von spezifischen Situationen und Interventionsmöglichkeiten geht, und ebenso bieten sie eine Reihe von Möglichkeiten, Frühwarnsysteme zu entwickeln (siehe unten Abschnitt 8). Es schälen sich jedoch aus diesen Typologien distinkte Elemente des Genozid heraus, die ihrerseits die Grundlage für alle Versuche bilden, zu erklären, warum sich ganz „normale Männer“ (Browning 1996) – und nur sehr selten Frauen – an der unterschiedslosen Tötung von Männern, Frauen und Kindern beteiligen, die möglicherweise bis vor kurzem ihre Nachbarn gewesen sind. Während Valentino vor allem nach einer zugrundeliegenden rationalen Handlungsstrategie sucht, geht Shaw davon aus, dass es für die Entstehung und Durchführung von Genozid entscheidend ist, ihn den potentiellen Tätern als „rational erscheinen“ zu lassen und ihrem Tun einen „Sinn“ zu geben. Er identifiziert daher die folgenden notwendigen Elemente oder Bedingungen: (1) „Die Identifizierung einer sozialen Gruppe als Feind in einem grundlegend militärischen Sinn (statt in einem bloss politischen, ökonomischen oder kulturellen) – d.h. als eine Gruppe, gegen die systematische Gewaltanwendung gerechtfertigt ist.“ (2) „Die Intention, die reale oder auch nur angenommene Macht der feindlichen Gruppe zu zerstören, einschließlich ihrer ökonomischen, politischen, kulturellen und Susanne Karstedt
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ideologischen Macht, sowie ferner die Möglichkeit auszuschliessen, dieser Vernichtung Widerstand entgegen zu setzen“. (3) „Der faktische Einsatz von Gewalt, um die Macht dieser Feindgruppe zu zerstören, indem eine erhebliche Zahl ihrer Mitglieder getötet oder, ihnen körperlicher Schaden zugefügt wird, sowie von anderen Massnahmen“ (Shaw 2003: 37; Hervorhebungen vom Verfasser; Übersetzung S. K.). Diese Elemente zeichnen gleichzeitig den Prozess des Genozid nach. Ebenso wie Valentino (2004) sieht Shaw den Genozid als eine „endgültige Lösung“ (final solution), dem einzelne Schritte, die auf die Vernichtung der Gruppe gerichtet sind, vorausgehen. Diese beinhalten vor allem die ersten beiden Elemente, und es ändert nichts an der Tatsache des Genozid, wenn der dritte Schritt nur teilweise oder nicht erfolgreich ausgeführt wird. Genozid darf nicht ausschliesslich durch den Zustand seiner faktischen Vollendung definiert werden, sondern muss vielmehr als ein Prozess verstanden werden, der letztlich zu diesem Ergebnis führt. Beide Autoren berufen sich hier im übrigen auf den Holocaust. Die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung kann nicht allein als die letztendliche und faktische Durchführung des Massenmords begriffen werden, und es ist keineswegs klar, wieweit das vor 1941 tatsächlich intendiert war. Jedoch gibt es eine Kontinuität zwischen den vorangehenden Phasen der Ausschließung, Erniedrigung und Gewalt, in denen sich der Wille zur Vernichtung manifestierte, und der dann vollzogenen „Endlösung“. Der Prozess, der schliesslich im massenhaften Töten endete, hatte weit früher mit anderen Massnahmen begonnen, die weniger endgültig und umfassend in ihrer Gewaltanwendung waren, jedoch die potenziellen Opfer massiv terrorisierten (Shaw 2003: 37; Valentino 2004: 70 ff). Während sich die beiden Prozesselemente, die der Anwendung tödlicher Gewalt vorangehen, über einen längeren Zeitraum erstrecken können, findet der eigentliche Genozid meist in einem erschreckend kurzen Zeitraum statt. Die Täter vollziehen das Töten in grosser Hast und grausamer Geschwindigkeit, auch um ihren Opfern jede Möglichkeit des Widerstands zu nehmen, oder sogar auszuschliessen, dass diese die Bedrohung wahrnehmen. Das gilt für den ersten grossen Genozid des Jahrhunderts an den Armeniern ebenso wie für den Holocaust, die Genozide in Kambodscha und Ruanda und die Massenmorde während der Kulturrevolution in China. Auch wenn der Holocaust an den europäischen Juden bis zum Ende des 2. Weltkrieges dauerte, töteten die Deutschen 3,8 Millionen jüdische Menschen in den achtzehn Monaten zwischen dem Sommer 1941 und dem Ende des Jahres 1942. Der Massenmord an 500,000 bis 800,000 Tutsi in Ruanda vollzog sich in vier Monaten, und die meisten Opfer wurden in den ersten 30 Tagen getötet. Diese kurze Frist, in der sich der eigentliche Genozid abspielt, trägt dazu bei, dass selbst eine Intervention in den ersten Wochen oder Monaten kaum die Mehrheit der Opfer retten kann (Valentino 2004: 241). Der Prozess, der letztendlich in das genozidale Massaker mündet, und die Massnahmen, die ihn – unabhängig davon, ob der eigentliche Genozid intendiert ist oder nicht – vorantreiben, können sich in vergleichsweise stabilen Gesellschaften vollziehen, oder sogar unter Umständen zur Stabilisierung eines Regimes beitragen, wie ohne Zweifel im nationalsozialistischen Deutschland geschehen. Der Kontext, in dem der eigentliche Genozid dann tatsächlich ausgelöst und durchgeführt wird, ist jedoch durch zunehmende soziale und politische Krisen gekennzeichnet, bis hin zum totalen
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1.1 Genozid (Völkermord)
Zusammenbruch der sozialen Ordnung, wozu der Genozid dann seinerseits beiträgt (Staub 1989). Wie auch die dargestellten historischen Periodisierungen und Typisierungen ausweisen, steht Genozid in Zusammenhang mit Kriegen, von imperialen, kolonialen oder expansionistischen bis hin zu Bürger- und Guerillakriegen. Der Zusammenbruch der sozialen Ordnung in Kriegssituationen und die Verfügungsmöglichkeiten über entsprechende systematische Vernichtungstechniken stellen dabei den äußeren Rahmen dar. Entscheidend ist jedoch auch, dass Kriege den Legitimationshintergrund und die Rechtfertigung dafür bieten, die Opfergruppe als Feind in einem grundlegend militärischen Sinn zu identifizieren, gegen die der Einsatz einer militärisch-systematischen Vernichtungstechnik dann denkbar und als notwendig deklariert werden kann. Shaw (2003) geht hier einen Schritt weiter und bezeichnet Genozid als eine „Form des Krieges“. Bei aller Problematik, mit denen die vergleichende und historische Genozid-Forschung belastet ist, so hat sie vor allem dazu beigetragen, den Blick für neue Formen, Prozesse und Konstellationen, die charakteristisch für die jüngsten Genozidfälle sind, zu schärfen. Wie Fein (1993: 56) hervorhebt, ist es entscheidend, über den ideologisch belasteten Vergleich zwischen dem Holocaust und dem stalinistischen Gulag hinaus zu gelangen. Der systematische wissenschaftliche Vergleich hat diesen Schritt vollzogen und klare Fortschritte bei den genauen Unterscheidungen von historischen Typen, der funktionalen Zuordnung von vergleichbaren Ereignissen, und der Identifizierung derjenigen sozialen Strukturen und kulturellen Kontexte gebracht, die einen Genozid vorbereiten und auslösen.
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Ansätze zur Erklärung von Genozid
Das Geschehen des Holocaust hat alle Versuche, das Unerklärliche kausal zu verstehen, während der letzten 50 Jahre eindeutig dominiert. Der Holocaust hat als Paradigma so unterschiedliche Ansätze wie den der „autoritären Persönlichkeit“ (Adorno u.a. 1950) aus der Frankfurter Schule, die historisch-politkwissenschaftliche Analyse von Raul Hilberg (1967), die „Milgram-Experimente“ oder Zygmunt Baumans (2002/ 1989) Thesen bestimmt. Erst die neueren Ansätze von Staub (1989), Shaw (2003), Valentino (2004) oder Mann (2005) lösen sich aus seinem historischen Schatten. Es lassen sich grundsätzlich drei einflussreiche Strömungen in den theoretischen Erklärungen von Genozid identifizieren. Die funktionale oder Modernisierungsperspektive begreift Genozid als ein Produkt der Moderne und bürokratischer Innovation; ihr derzeit prominentester Vertreter ist Zygmunt Bauman (2002). Sie ist im Vergleich zu den beiden anderen Ansätzen am deutlichsten dem Paradigma des Holocaust verhaftet. Die strukturelle und psychosoziale Perspektive stellt auf ein breites Spektrum von sozialen, kulturellen und politischen Faktoren ab, die als ursächlich für Genozid identifiziert werden; die Untersuchungen von Kuper (1981), Staub (1989), und Fein (1993) lassen sich neben vielen anderen diesem Ansatz zurechnen; als frühe Vertreter sind Adorno u.a. (1950) zu nennen. Die intentionale oder strategische Perspektive macht spezifische politisch-militärische Zielsetzungen und Strategien von politischen und militärischen Führern für die Auslösung eines Genozid verantwortlich; Hilberg Susanne Karstedt
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hat diese Perspektive im Hinblick auf den Holocaust vertreten, Valentino (2004) gewinnt sie aus einer vergleichenden Analyse, die vor allem auf die jüngsten Genozidereignisse abstellt. 5.1
Genozid, Moderne und Zivilisation
Der Holocaust stellte nicht nur Wissenschaftler vor die Frage, wie im Zeitalter des technischen Fortschritts, zunehmenden industriellen Reichtums und der Ausdehung von politischen und sozialen Rechten ein genozidales Massaker überhaupt möglich sein konnte. Wie konnte (und kann) der „Rückfall in die Barbarei“ in einer Welt, die sich im Grossen und Ganzen als zivilisiert begriff, möglich sein? Die Antwort, die Bauman gibt, ist mit dem deutschen Titel seines Werks „Dialektik der Ordnung“ (2002; orig 1989: Modernity and the Holocaust) recht genau umrissen. Er knüpft damit unmittelbar an die „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer (1944/1969) an, die den (damals noch nicht so bezeichneten) Holocaust als Ausgeburt der „instrumentellen Vernunft“ der Aufklärung ansahen. Für Bauman sind es die spezifischen Errungenschaften der Moderne, die „gleicherweise ihren Glanz wie ihr Elend zeichnen“ (Bauman 1998: 85), und die besonderen Eigenschaften ihrer sozialen und politischen Ordnung, die den Genozid produzieren. Dies ist zunächst die Fähigkeit, komplexe und effiziente bürokratische Apparate zu errichten und zu unterhalten. Dazu gehört, dass Handlungen von Menschen innerhalb und von hierarchischen Institutionen geregelt werden, was einerseits personale moralische Verantwortung fragmentiert, und andererseits ermöglicht, grosse Gruppen der Bevölkerung durchgreifend zu reglementieren. Beides ist Ausdruck eines Strebens nach einer „künstlichen, rational gestalteten Ordnung“ (ebenda), die auf Vereinheitlichung drängt, Kategorisierungen schafft und auf den Ausschluss des Andersartigen zugeschnitten ist. Diese spezifischen Eigenschaften der Moderne produzieren die „hochtechnisierte, schnelle und effiziente Art des Mordens“ (ebenda) in einem „wissenschaftlich geplanten und verwalteten“ Akt des Genozid. Sie finden ihren unmittelbaren Ausdruck im „Lager“, das gewissermassen die Ordnung der Moderne direkt für den Genozid funktional wirksam macht. Bauman hat deshalb auch vorgeschlagen, das 20. das „Jahrhundert der Lager“ zu nennen, und in der Tat gehören Auschwitz und der Archipel Gulag zu den Symbolen dieses Jahrhunderts, die seine zukünftige Ikonographie bestimmen. Genozid ist nicht die Folge des Zusammenbruchs der modernen Zivilisation, sondern in schrecklicher Weise ihre Apotheose, und folgt man Bauman, auch im Prinzip unvermeidlich. Es ist unverkennbar, dass die spezifischen und singulären Züge des Holocaust, insbesondere die bürokratische Planung und seine technisierte Durchführung für Bauman ein universelles Paradigma manifestieren und ihn auf diese Weise mit der Moderne untrennbar verbinden. Dass Genozid dagegen durch einen sich beschleunigenden Zusammenbruch moderner Zivilisation in Gang gesetzt wird, und letztlich ein spezifischer Fall ihres Zusammenbruchs ist, ist die Auffassung, die Elias (1992) und seine Schüler (vgl. de Swaan 2001) diesem Modernisierungstheorem entgegensetzen. Genozid, und vor allem der Holocaust stellen eine Herausforderung für Elias’ Theorie der Zivilisation dar: Unter welchen Bedingungen kann es zu einem derartigen Zusammenbruch moderner Zivili-
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1.1 Genozid (Völkermord)
sation kommen, und wie verletzlich ist sie tatsächlich? Aus den beiden Säulen des Zivilationsparadigmas von Elias ergeben sich unterschiedliche Antworten. Die Monopolisierung der Gewalt durch einen immer mächtiger werdenden modernen Zentralstaat ist eine Voraussetzung für das Ingangsetzen eines technisierten genozidalen Tötungsapparates, und hier befindet sich Elias in Übereinstimmung mit Bauman. Jedoch ist der Zivilisationsprozess ebenso geprägt durch den Integrationsprozess moderner Gesellschaften, der sich sozial und räumlich durchsetzt. Die komplexen und weitreichenden Netzwerke der Integration und die damit verbundene Habitusentwicklung produzieren zwar schwache Bindungen zwischen Individuen, sie lösen jedoch auch die starken und gruppenbetonten Bindungen und Ausschlussprozesse ab. Der Zusammenbruch der Zivilisation oder „Dyszivilisationsprozess“ (de Swaan 2001) ist dann durch die Auflösung der schwachen Bindungen zugunsten von Inklusionsund Exklusionsprozessen gekennzeichnet, die zur sozialen und räumlichen Segregation von Außenseitern führen. Beide Prozesse, die Etablierung des zentralstaatlichen Gewaltmonopols wie die Zivilisierung der Gesellschaft, können unabhängig voneinander variieren (de Swaan 2001: 272). Elias selbst führt die Etablierung des nationalsozialistischen Regimes auf einen Verlust des staatlichen Gewaltmonopols in der Weimarer Republik zurück, der den anschließenden Prozess der Dyszivilisierung möglich machte. Welche Rolle die Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols in einem schwachen Staat auch spielt, so wird der zivilisatorische Zusammenbruch entscheidend durch Prozesse der Segregation, Aussonderung und „Dis-Identifikation“ (de Swaan 1997) einer Bevölkerungsgruppe mit einer anderen vorangetrieben, und die Gesellschaft wird in „zivilisierte“ und „dezivilisierte“ Sphären aufgeteilt. Die Orte des genozidalen Massakers selbst werden dann zu „dezivilisierten“ Räumen.2 Eine deutlich differenziertere Position nimmt Mann (2005) ein. Er sieht gewalttätige ethnische Säuberungen („murderous ethnic cleansing“) als die „düstere Seite der Demokratie“ („dark side of democracy“) und stellt damit auf die politische Organisation in der Moderne ab. Mann entwickelt diese Perspektive aus der Beobachtung der Genozid-Ereignisse am Ende des 20. Jahrhunderts und wendet sie gewissermaßen rückblickend auf den Holocaust und den Genozid unter stalinistischem Regime an. In der Tat war die sogenannte dritte Welle der Demokratisierung seit den 1980er Jahren von gewalttätigen ethnischen Säuberungen bis hin zum Genozid zunächst in der südlichen und später in der nördlichen Hemisphäre begleitet (Gurr 1993, 2000). Demokratien tendieren strukturell und ideologisch zur Homogenisierung der Nationalbevölkerung, zum einen in Hinblick auf ethnische Homogenisierung, zum anderen in Form der Durchsetzung egalitärer Werte und Lebensbedingungen. Gerade instabile oder sich in einem Transformationsprozess entwickelnde Demokratien laufen daher Gefahr, ethnische Homogenisierung bis hin zum Genozid gewaltsam durchzusetzen, oder in totalitärem Egalitarismus zu münden. Politische Eliten und die mittleren
2 Tatsächlich nahmen die Täter des Holocaust dies auch so wahr, und sahen sich als Vertreter der Zivilisation an den von ihnen selbst geschaffenen Orten der Dezivilisierung. Die in der Gedenkstätte in Auschwitz ausgestellten Tagebuchnotizen von Ärzten legen davon ein makabres Zeugnis ab.
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Schichten der Gesellschaft spielen in dieser Dynamik der Entdemokratisierung eine wichtige Rolle. Mann (2005: 4) hält im Prinzip Autokratien für erfolgreicher im Umgang mit ethnischen Spannungen und Machtansprüchen einzelner Gruppen. Er betont, dass Genozid nicht in Demokratien selbst durchgeführt wird – da damit eine Demokratie de facto aufhört zu existieren –, sondern dass im Gegenteil der Zusammenbruch und die Instabilität von Demokratien jene inhärente Dynamik auslösen, die zu eliminatorischen ethnischen Säuberungen führen kann. Ohne Zweifel sprechen die Zahl der Genozidereignisse und die Zahlen der Opfer im 20. Jahrhundert dafür, einen Zusammenhang zwischen Moderne und Genozid anzunehmen. Jedoch scheint es, auch angesichts der jüngsten genozidalen Massaker nicht berechtigt zu sein, aus der Koinzidenz von Erscheinungsformen des Holocaust als Prototyp und der Organisationsformen der Moderne unmittelbar auf einen kausalen Zusammenhang zu schliessen. Diese haben sich häufig in einem weit weniger technisierten und bürokratisch geplanten Kontext abgespielt, und öfter in Situationen des Zusammenbruchs einer gesellschaftlichen Ordnung oder im Rahmen von militärischen Konflikten. Ferner verweisen Kritiker auf die Tatsache, dass selbst der Holocaust weniger ein Ergebnis der formalen modernen Bürokratie an sich ist, sondern vielmehr von einer Bürokratie ausgeführt wurde, die von Nationalsozialisten erobert und okkupiert worden war, und ihren verbrecherischen Zielen dienstbar gemacht werden konnte (vgl. Vetlesen 2005). Auch in der historischen Rückschau verliert die „Moderne“ als kausale Erklärung ihre Schärfe und Zuspitzung, wenn die gesamte Geschichte von vormodernen genozidalen Massakern, gewaltsamen Bevölkerungsbewegungen und Kriegen mit genozidalen Zielsetzungen in den Blick genommen wird. Die für die Moderne typischen Formen politischer und gesellschaftlicher Organisation stehen offenbar in einem jeweils unabhängigen und gegenseitig variablen Zusammenhang mit Genozid. Es ist eher die der Moderne eigene Instabilität ihrer sozialen und politischen Organisation, die Genozid verursacht, als die scheinbare Stabilität ihrer technischen und bürokratischen Formierung. 5.2
Strukturelle und psychosoziale Faktoren
Die hier zusammengefassten Ansätze haben weniger den Anspruch, ein kohärentes Theoriegebäude zu entwickeln, als vielmehr jene kausalen Faktoren zu systematisieren, die einen gesellschaftlichen Kontext und eine Situation kennzeichnen, die die Wahrscheinlichkeit eines genozidalen Massakers erhöhen. Sie suchen daher nach sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen, die einem Genozid zeitlich unter Umständen weit vorausgehen können, und die – auch wenn sie weder universell notwendige noch hinreichende Bedingungen darstellen – das Risiko eines Genozid erhöhen. Sie suchen Antworten auf die Fragen, warum es möglich ist, Gewalt gegen eine ethnische oder soziale Gruppe zu legitimieren, bis hin zu deren Auslöschung, welche Rolle dabei spezifische kulturelle Muster oder modale Persönlichkeitstypen spielen, ob und inwieweit Verteilungskämpfe von Bedeutung sind, und wieweit bestimmte politische Regimes verantwortlich sind. Als wichtigster struktureller Faktor gilt das Ausmass der sozialen, politischen und ökonomischen Diskriminierung einer sozialen, religiösen oder ethnischen Gruppie-
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1.1 Genozid (Völkermord)
rung innerhalb einer Gesellschaft. Die bereits bestehende Diskriminierung bereitet dann den Boden, diese Gruppe als Feind zu definieren und es legitim erscheinen zu lassen, ihre auch nur angenommene Macht auszulöschen. Dazu gehört nach Shaw (2003: 41), dass pseudo-wissenschaftliche, phantastische und irrationale Überzeugungen über diese Gruppe verbreitet werden können und in der Bevölkerung in unterschiedlichem Ausmaß bereitwillig aufgenommen werden (vgl. Fein 1993: 57; siehe auch Goldhagen 1996). Diese Überzeugungen geben jedoch dem Tun der Täter auf allen Ebenen einen Sinn, und ein entsprechendes Rationale. Das ruft wahrscheinlich weniger starke Emotionen als vielmehr eine moralische Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal dieser Gruppe hervor, die zur Erosion der Normen der sozialen Verantwortlichkeit und Solidarität führt. Wie Kershaw (1987) zeigt, gestattete vor allem diese moralische Indifferenz der deutschen Bevölkerung, der Deportation und Vernichtung der Juden teilnahmslos zuzuschauen (vgl. auch Welzer, Moller und Tschuggnall 2002). Damit einher geht eine zunehmende Durchsetzung von Exklusion aus dem sozialen, politischen und ökonomischen Leben, und die staatliche Erzwingung von sozialer Ungleichheit („superimposition of inequalities“, Kuper 1981: 57–58). Unter den kulturellen Faktoren, die das Risiko eines Genozid erhöhen, sind es vor allem tief verwurzelte rassistische und generell diskriminierende Überzeugungen in der Bevölkerung, die in dem zum Genozid führenden Prozess in besonderer Weise aktiviert und verstärkt werden können. Die Konvention gegen Völkermord erkennt das implizit an, und die Erklärung der Menschenrechte und die nachfolgenden Menschenrechtskonventionen deklarieren rassistische Diskriminierung explizit als Menschenrechtsverletzung. Kulturelle Faktoren oder kulturspezifisch modale Persönlichkeiten können nur als Risikofaktoren in einem sehr weiten Sinne begriffen werden, es kommt vielmehr darauf an, ob und wie sie im genozidalen Prozess tatsächlich aktiviert werden und eine Rolle spielen. Die einflussreiche Theorie der autoritären Persönlichkeit, die von Adorno und seinen Mitarbeitern bereits Ende der 1940er Jahre entwickelt wurde, zielte in erster Linie auf eine Erklärung des Holocaust. Sie entwirft ein typisches Muster an Faktoren, die diskriminierende Einstellungen gegenüber Minderheiten, Intoleranz und Unsicherheit, sowie autoritäre Einstellungen des fraglosen Gehorsams miteinander verbindet, Faktoren, die heute eher als jeweils einzeln wirksam verstanden werden (vgl. Staub 1989). Sofern dieses Muster einen kulturtypischen Habitus kennzeichnet, ist er das Produkt von Sozialisation und weit verbreiteten Handlungspraktiken in einer Gesellschaft. Historische empirische Untersuchungen haben dies allerdings kaum in der angenommenen Reichweite bestätigen können.3 Wieweit allgemein verbreitete Einstellungen von Intoleranz und diskriminierender Aggressivität schliesslich in jene de-humanisierenden, und von moralischer Veranwortlichkeit und Verbindlichkeit gegenüber der Opfergruppe entbindenden Einstellungen einmünden, die den Genozid dann tatsächlich legitimieren, ist abhängig von dem je spezifischen politischen und sozialen Kontext, in dem der Genozid dann tatsächlich stattfindet.
3 Vgl. dazu die Untersuchung von Merkl (1975) für frühe Mitglieder der NSDAP.
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Staub (1989) hat die Auffassung vertreten, dass soziale und politische Krisen den genozidalen Prozess auslösen. In seiner „Psychologie der schwierigen Zeiten“ („psychology of hard times“ Kap. 3) zeigt er, wie unter solchen Bedingungen Sündenböcke gesucht werden, wie aggressive Durchsetzung bei Einzelnen und in Gruppen gefördert wird, und schließlich de-humanisierende Praktiken auch als Überlebenstechniken wahrgenommen werden. In Krisenzeiten wird der gesellschaftliche Zusammenhalt ganz generell gelockert bis hin zu seiner Auflösung, während die starken Gruppenbindungen übernehmen. Sie bereiten den fruchtbaren Boden für die Dynamik der kulturell angelegten Ausschließungsprozesse, die zum Genozid führen. Staub wendet dieses analytische Paradigma auf den Holocaust, den Genozid in Kambodscha und die Massaker in Argentinien in den 1970er Jahren an. Ebenso wie Shaw (2003) stellt er eine enge Verbindung zwischen militärischen Konflikten und Genozid her. Der „Krisenansatz“ macht vor allem auf ein lange Zeit in der Forschung vernachlässigtes Merkmal des Genozid aufmerksam, nämlich die Rolle von Verteilungskämpfen (Dobkowski und Wallimann 1998). Auch wenn Genozid durch „irrationale und phantastische“ Überzeugungen legitimiert wird, so darf eine „rationale“ Strategie der Tätergruppe, sich selbst individuell oder insgesamt zu bereichern und ihre Macht zu festigen, keinesfalls unterschätzt werden. Aly (2005) hat überzeugend nachgewiesen, dass der NS-Staat den Genozid an den europäischen Juden von Beginn an strategisch zur Finanzierung des Krieges und zur wohlfahrtsstaatlichen Pazifizierung der heimischen Bevölkerung genutzt hat.4 Ebenso finden sich überzeugende Belege für die Rolle von Verteilungskämpfen in den Dörfern Ruandas, wie Verwimp (2005) anhand eines Haushaltspanels feststellen konnte. Derzeit sind vor allem jene Gebiete weltweit durch genozidale Massaker gefährdet, in denen Bevölkerungsdruck sowie ökologische, soziale und politische Krisen insgesamt eine brisante Risikokonstellation heraufbeschwören, wie in Zentralafrika, im Sudan, oder im pazifischen Raum (Diamond 2005). Die Rolle des politischen Regimes bei der Erzwingung sozialer und politischer Ungleichheit, und der Durchsetzung und Durchführung des genozidalen Massakers hat Rummel (1997) untersucht. Er kommt zu dem Schluss, dass autoritäre und nicht-demokratische Regime für die Mehrzahl der genozidalen Massentötungen im 20. Jahrhundert verantwortlich sind. Damit stellt er sich in einen partiellen Gegensatz zu Mann (2005), der zwar die „düstere Seite“ der Demokratie und ihr Versagen, nicht jedoch das demokratische Regime selbst für tödliche ethnische Säuberungen verantwortlich macht. Auch wenn die Evidenz für das 20. Jahrhundert eher für Rummels These spricht, ist die Rolle der westlichen Demokratien nicht zu unterschätzen. Sie
4 Diese Strategie der Bereicherung ist auf allen Ebenen der Tötungsmaschinerie des Holocaust evident, so in den Listen von erbeutetem Eigentum, in den den Genozid implizit anerkennenden Anforderungen von Luxusgütern durch höchste Wehrmachtsgeneräle, in der Komplizenschaft von Banken und anderen finanziellen Institutionen, und schliesslich in der schreckenerregenden Sammlung der letzten Habe der Opfer in den Todeslagern (vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung 2002).
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1.1 Genozid (Völkermord)
haben zugeschaut, unter Umständen das für den Genozid verantwortliche Regime gestützt, oder auf andere Weise den genozidalen Prozess ermöglicht (Jones 2004; Melvern 2004). 5.3
Genozid als Strategie
Die strategische Perspektive unterscheidet sich von den beiden anderen Ansätzen, als sie sich explizit auf situative und Prozessfaktoren sowie politisch-ideologische Konstellationen konzentriert. Insofern beschränkt sie den zeitlichen Rahmen auf den eigentlichen genozidalen Prozess und damit auf einen deutlich kürzeren Zeithorizont als weit ausgreifende historische und kulturelle Erklärungen. Im Gegensatz zu strukturellen und kulturellen Ansätzen, die langfristige kollektive Prozesse als Erklärung favorisieren, geht es hier um den strategischen Entscheidungsprozess einer relativ kleinen Gruppe von Eliten und Gefolgsleuten. Entscheidend ist, dass Genozid als geplant, angeordnet, und strategisch nutzbar erscheint. Aus dieser Perspektive ist Genozid ein wirkungsvolles militärisches und politisches Machtmittel, das von militärischen Führern, politischen und sozialen Eliten und ihren unmittelbaren Gefolgsleuten eingesetzt wird, um spezifische strategische Ziele zu erreichen, vor allem die Ausschaltung von bestimmten Gruppen. Hilberg (1967) ist mit seiner gross angelegten Studie zur Vernichtung der europäischen Juden der erste Vertreter dieses Ansatzes. Er ging davon aus, dass der Holocaust von Hitler direkt autorisiert war, und dass der Herrschaftsapparat des NS-Staates weithin auf dieses Ziel hin ausgerichtet wurde (kritisch Fein 1993: 57 ff; eher bestätigend Vetlesen 2005). Insofern stand und fiel die intentional-strategische Perspektive mit der faktischen historischen Evidenz für diesen Genozid. Valentino (2004) gründet seinen strategischen Ansatz dagegen auf systematische Fallstudien, die das gesamte 20. Jahrhundert abdecken. Danach geht der direkte und ursprüngliche Anstoss zum Genozid von einer vergleichsweise kleinen Gruppe von militärischen und politischen Führern aus, für die das genozidale Massaker Betandteil einer umfassenden militärischen oder politischen Strategie ist, und für die es ein klares Motiv gibt, Genozid als „endgültige Lösung“ für die reale oder angenommene Bedrohung durch eine andere Gruppe einzusetzen. Entsprechend wird der genozidale Prozess durch eine Reihe strategischer Entscheidungen und durch unter Umständen erfolglose „Problemlösungen“ vorangetrieben. Nach Valentino bereiten verschärfte Ausschließung, ideologische Diskriminierung oder gewaltsame Umsiedlungen und Zwangsmaßnahmen den Genozid zwar vor, sie sind jedoch aus Sicht der Akteure eher „verfehlte Lösungen“ des wahrgenommenen „Problems“. Auf der Grundlage des Scheiterns dieser militärischen oder politischen Strategien wird dann der Genozid als „endgültige Lösung“ („final solution“) zu einer auch deshalb realistischen Option, weil er durch die anderen Schritte wenn auch nicht intendiert, so doch vorbereitet wurde. Auf der Grundlage der strategischen Zielsetzung und jeweiligen Motivation der Akteure entwickelt Valentino dann die in Abschnitt 4 vorgestellte Typologie. „Enteignender Genozid“ ist dem strategischen Ziel verpflichtet, große Bevölkerungsgruppen ihrer sozialen und vermeintlichen oder realen Machtbasis zu berauben, bis hin zu der Zerstörung ihrer gesamten Lebensbedingungen. Kollektivierung unter kommunistiSusanne Karstedt
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schen Regimen und politischer Terror, ethnische „Säuberung“, kolonialer und militärischer Expansionismus sind diesem strategisch-motivationalen Komplex zuzuordnen. Genozidale Massaker als „Zwangsmaßnahme“ kommen dann zum Einsatz, wenn politische und militärische Führer große Gruppen der Zivilbevölkerung unter ihren Einfluss bringen wollen, und wenn diese Strategie entsprechend eskaliert. Gegen eine Guerilla gerichtete militärische Kampagnen, die massiv gegen eine mögliche Unterstützung durch die Zivilbevölkerung vorgeht, terroristische und imperialistisch motivierte Massenmorde werden hier subsumiert. In der Tat ist die von Valentino entwickelte strategische Perspektive ein radikaler Bruch mit der Tradition der Genozid-Forschung, nach Erklärungen in historisch komplexen und langfristig wirksamen Faktorenkonstellationen kollektiver Natur zu suchen, die die gesamte Gruppe, aus der sich die Täter rekrutieren, einbeziehen. Sie hat daher weitreichende Implikationen für die Rolle und Persönlichkeit der Täter und den Stellenwert der expliziten Unterstützung oder stillschweigenden Duldung durch die Bevölkerung. Sie hat ferner Implikationen für die Fragen der Verantwortlichkeit des Staates, der politischen Führung, und die Rolle individuellen Handelns. Valentino kann sich auf durchaus überzeugendes Datenmaterial vor allem aus den neueren Genozid-Ereignissen stützen, wie im ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda, oder Kambodscha, Burundi, El Salvador oder Vietnam. Die strategische Perspektive scheint den anderen Erklärungsversuchen vor allem dort überlegen zu sein, wo sie ganz explizit Ansatzpunkte für ein Instrumentarium zur Prävention und Intervention bietet.
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Täter
Der Holocaust hat das Bild der Täter des Genozid unauslöschlich und paradigmatisch geprägt. Das gilt für alle Ebenen von den direkt an den Massakern und in den Todeslagern an der Ermordung der jüdischen Männer, Frauen und Kinder Beteiligten bis hin zu denjenigen, die als verantwortliche Schreibtischtäter den Genozid planten und organisierten. Für keinen anderen Genozid ist die Strafverfolgung der Täter so lange und intensiv gewesen, und daher ist diese Täterpopulation auch am besten dokumentiert. Über die Tätergruppe liegen aus den Untersuchungs- und Prozessakten eine Fülle von Daten vor, die sowohl einzelnen wie auch Tätertypen eine Kontur geben. Die Nürnberger Prozesse, der Eichmann- und Auschwitzprozess haben den Tätern die Identität gegeben, die den namenlosen Opfern versagt geblieben ist. So wie Eichmann die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt) verkörperte, stehen der hohe SS- und Gestapo-Führer Best für den akademisch gebildeten und ideologischen Schreibtischtäter (Herbert 1996), oder der Kommandant des Todeslagers Treblinka Franz Stangl für den Karrieristen (Sereny 1995). Beide Typen repräsentieren die moralische Bedenkenlosigkeit gegenüber der Opfergruppe, die dennoch eingebettet ist in einen eigenen, kaum nachzuvollziehenden Handlungs- und Werte-Code (Welzer 2004). Das für den Holocaust repräsentative Bild der Täter als ganz „normale Männer“ und Familienväter, die nach dem Krieg, so gut es ging, diese Rollen wieder aufnahmen, beruht auf den Untersuchungen von Browning (1996), Goldhagen (1996), und Welzer (2005) über die Reservebataillone der Polizei, die neben den „Einsatzgruppen“ den
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Massenmord an den Juden in Osteuropa vollzogen (vgl. auch Schneider (1986) zu Untersuchungen in anderen europäischen Ländern). Dabei handelte es sich eher um ältere Männer, die aus einem normalen Familien- und Berufsleben eingezogen wurden, vorher ein unauffälliges Leben geführt hatten, weniger aktive Nationalsozialisten als indifferente Mitläufer gewesen waren und die dann mit der Aufgabe konfrontiert wurden, die genozidalen Massaker durchzuführen (vgl. Browning 1996; Welzer 2005). Dieses Bild des Genozidtäters ist in einigen Fällen ergänzt und teilweise, wenn auch nicht grundlegend in Frage gestellt worden. Merkl (1975) kommt in einer Analyse von ca. 600 Biographien von frühen Mitgliedern der NSDAP zu dem Ergebnis, dass ein überproportional hoher Anteil derjenigen, die kurz vor 1933 als gewalttätige Straßenkämpfer zur NS-Partei stießen, später in untergeordnete Positionen in Konzentrations- und Todeslagern sowie in die SS rekrutiert wurden, und vermutet eine Kontinuität der Gewalt in der individuellen Biographie. Unter den Angeklagten im Majdanek-Prozess befand sich eine vergleichsweise große Gruppe, deren Lebensweg durch Auffälligkeiten, Abweichungen und Vorstrafen gekennzeichnet war (insbesondere der Frauen, Roos und Quandt 1996). Die von Mann (2005) durchgeführte systematische Analyse von 1.500 Tätern, die alle Ränge des NS-Staates umfasst und aus Gerichtsakten aus europäischen Ländern zusammengetragen ist, unterstreicht Merkls Ergebnis. Er charakterisiert diese „Kern-Täter“ (hard core perpetrators) zusammenfassend folgendermassen (2005: 239): Sie rekrutierten sich überwiegend aus denjenigen sozialen Gruppen, aus denen die Nationalsozialisten ihre Anhängerschaft gewannen, ferner aus den radikalen rechten und linken Parteien, und viele hatten bereits eine Karriere der Gewalt hinter sich – in der Partei und anderen Organisationen. Sie kamen überproportional aus Grenzregionen, in denen die Deutschen eine Minderheitengruppe waren, und rekrutierten sich aus institutionellen und professionellen Subkulturen, die gewaltsame Maßnahmen zur Lösung sozialer Probleme nicht ausschlossen oder favorisierten. In Übereinstimmung mit Merkls Befunden stellt er fest, dass ca. zwei Drittel eine gewalttätige Karriere innerhalb oder außerhalb der Nazi-Partei durchlaufen hatten. Im Gegensatz zu Merkl kommt Mann jedoch zu dem Schluss, dass es sich um ideologisch hochmotivierte Täter handelte, deren Motivation dann in dem genozidalen Prozess kontinuierlich verstärkt wurde. Offensichtlich waren beide Gruppen – „normale“ und ideologisch eher indifferente Täter wie auch ideologisch und gewalt-motivierte Täter – an der Durchführung des Holocaust beteiligt, wobei das proportionale Verhältnis der beiden Tätergruppen unklar ist. Es ist jedoch fraglich, wieweit diese Tätergruppen universelle Prototypen von Genozidtätern sind, oder nicht vielmehr die singuläre Tötungsmaschinerie des Holocaust reflektieren. Selbst wenn das Bild des durch und durch „normalen“ Täters für den Holocaust korrekt ist, und auf die innerhalb der Normalität liegenden äußersten Möglichkeiten des Handelns verweist, so geben die Genozidvorfälle der vergangenen Dekaden Anlass, dieses Bild des normalen Täters einschließlich der Versuche, genau dies zu erklären, einer Revision zu unterziehen. Tatsächlich sind in vielen Fällen deutlich jüngere Täter um die 20 Jahre beteiligt. In einer Reihe von Fällen handelt es sich um Milizen, die ihre Mitglieder aus dem grossen Reservoir von jungen Männern ohne Susanne Karstedt
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Arbeit rekrutieren, z.T in sehr jugendlichem Alter, und für die Krieg und Bürgerkrieg die einzige Einkommensquelle ist und den einzigen sozialen Bezugsrahmen darstellt. Sie haben eine sehr frühe und intensive Sozialisation der Gewalt durchlaufen. Dies kennzeichnet mit geringen Abweichungen die Täter z.B. in Kambodscha, in Jugoslawien und anderen genozidalen Massakern (vgl. Valentino (2004) zu Kambodscha und Ruanda; Verwimp 2005 zu Ruanda; Basic (2004) zu Jugoslawien; Dowdney 2005). An dem Genozid in Ruanda haben nicht nur diese Gruppen, sondern auch in historisch beispielloser Weise Frauen als Täterinnen teilgenommen, und zwar durchaus in strategischen Rollen (Jones 2002). Für die strukturelle und kulturelle Perspektive, die langfristig wirksame Konstellationen und kollektive Prozesse in den Mittelpunkt stellt, ist es das Verhalten des unauffälligen und „normalen“ Genozidtäters, das es zu erklären gilt. Entsprechend produzieren soziale und kulturelle Bedingungen ein Reservoir an potenziellen Tätern, so dass schliesslich jeder in der einen oder anderen Form bereit ist, sich aktiv an Massentötungen zu beteiligen, wenn eine solche Situation entsteht. Angesichts der spezifischen Merkmale der Tötungsmaschinerie des Holocaust und des miliärischen Kontexts, in dem er durchgeführt wurde, stellte sich die Frage, welche Rolle Autoritätsdruck und Gehorsam in der Situation des genozidalen Massakers spielen, eine Frage, die bereits Adorno u.a. (1950) in der Theorie der autoritären Persönlichkeit zu beantworten versucht hatten.5 Die einflussreichen Milgram-Experimente (vgl. Lüdemann und Ohlemacher 2002, Welzer 2005) konstruierten ein Szenario, das in der Tat bestätigte, dass mit wachsendem Autoritätsdruck ganz normale Menschen bereit waren, eine für ein Opfer tödliche Handlung als „Bestrafung“ auszuführen. Dieses Szenario ließ die Transformation von ganz normalen Menschen in unbedenkliche (Massen)Mörder als jederzeit und überall möglich erscheinen. Es kann daher genozidale Massaker vor allem in einem militärischen Kontext erklären, in dem neben dem erwarteten Gehorsam auch sozialer Druck durch die Gruppe erhebliche Wirkungen entfaltet (Browning 1996; Welzer 2005). Für die von Mann identifizierte ideologisch hoch motivierte Tätergruppe, z.T. mit Gewaltkarrieren, versagt dagegen das auf Autorität und Gehorsam fokussierte Erklärungsparadigma (vgl. kritisch Kressel 2002). Aus Sicht der kurzfristig angelegten strategischen Perspektive kommt es dagegen nicht darauf an, dass ein großes Reservoir potenzieller Täter zur Verfügung steht. Genozidale Massaker müssen sich weniger auf aktive Unterstützung als vielmehr auf passive Indifferenz in der Bevölkerung stützen können, die durch Propaganda verstärkt wird. Diese Perspektive lenkt vor allem den Blick auf staatliche und Regierungsorganisationen, die den Genozid aktiv vorbereiten und vorantreiben, und somit stärker auf hochrangige Täter (Valentino 2004, vgl. Alavarez 2001). Die ausführenden
5 Tatsächlich gibt es keinen einzigen nachgewiesenen Fall, in dem der Versuch, sich dem genozidalen Massaker zu entziehen, eine lebensbedrohliche Gefährdung für den Täter gewesen wäre, und selbst für geringere negative Konsequenzen gibt es keine Anhaltspunkte (vgl. Browning 1996, Welzer 2005). Wieweit die Täter dies so wahrgenommen haben, oder im Nachhinein als Rechtfertigungs- und Neutralisationsstrategien für sich nutzten, kann nicht entschieden werden, da nur Daten aus den späteren Verfahren zur Verfügung stehen.
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1.1 Genozid (Völkermord)
Täter in den unteren Rängen hingegen werden gezielt rekrutiert, und zwar auf der Grundlage ihres ideologischen Fanatismus und ihrer Gewaltkarrieren. Gruppendruck, spezifische Anreize sowie situativer Druck und Manipulation sind, so Valentino (2004: 6) am besten geeignet, das Verhalten dieser Täter zu erklären. Diese Faktorenkonstellation scheint vor allem für die jüngeren Genozidereignisse vorzuliegen, die durch eigens rekrutierte Milizen wie in Ruanda, oder Bürgerkriegstruppen wie in Kambodscha oder Jugoslawien durchgeführt wurden. Der Kontext dieser sogennanten „degenerierten“ (Shaw 2003) oder „neuen“ Kriege (Kaldor 2001) bestimmt den Genozid der letzten Jahrzehnte. Die historische Beweislage und die Befunde aus einzelnen Studien legen nahe, dass im Prinzip wahrscheinlich beide Tätertypen direkt am genozidalen Massaker beteiligt sind, wobei die spezifische Situation und Durchführung des Genozid ihr jeweiliges Verhältnis zueinander bestimmt. Die Täter durchlaufen einen Prozess der schrittweisen Vorbereitung und Gewöhnung (siehe vor allem Browning 1996, Welzer 2005, Waller 2002), sowie verschiedene Stadien der moralischen Entpflichtung gegenüber der Opfergruppe und der Rechtfertigung ihrer Handlungen, in denen Anreize, Gruppendruck wie auch wahrgenommene Bedrohungen eine Rolle spielen. Auf diese Weise wird ein Handlungscode gefestigt, der auch weit über das eigentliche Geschehen hinaus später den Tätern als Rechtfertigungsrahmen dient. Für die Täter, die den Genozid mitplanten und vorbereiteten, und an entscheidender Stelle die Befehle gaben, stehen ideologische Rechtfertigungen im Vordergrund (vgl. Herbert 1996). Die Mehrzahl der nach dem Holocaust verfolgten und verurteilten Täter haben zumindest öffentlich nie Einsicht oder Reue gezeigt.
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Zuschauer, Zeugen und Profiteure Die unmittelbaren Vorbereitungen und die genozidalen Massentötungen selbst geschehen soweit als möglich verdeckt. Die Organisation des Tötens und die Maschinerie des Todes werden im Geheimen errichtet, direkt vor oder im Zuge ihrer tatsächlichen Nutzung (Shaw 2003: 47). Insofern wird wahrscheinlich eher nur eine Minderheit der Bevölkerung zu unmittelbaren Zeugen des Mordens; die moralische Indifferenz gegenüber dem Geschehen, und das Fehlen zumeist jeglicher Unterstützung für die todgeweihten Opfer sind sicherlich auch dem militärischen Kontext zuzuschreiben, in dem der Massenmord stattfindet (Valentino 2004: Kap. 3; Hatzfeld 2005 für Ruanda). Das trifft jedoch nicht für die ersten Phasen der ideologischen Vorbereitung und der Intensivierung aller Massnahmen zu, die auf den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ausschluss der Opfergruppe zielen. Hier wird die Bevölkerung über einen längeren Zeitraum zu Zeugen, wie Menschen ihrer Lebensgrundlage beraubt und vertrieben werden, die Nachbarn, Mitschüler, Kolleginnen oder gar Freunde waren. Für die Opfer ist das Erlebnis der vollständigen Entsolidarisierung zutiefst traumatisch (Hatzfeld 2005). Auch hier ist der Holocaust der am besten dokumentierte Genozid. Verschiedene Studien beschreiben, dass weniger besonders ausgeprägter Antisemitismus als vielmehr moralische Indifferenz gegenüber der schrittweisen Entrechtung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung die Haltung der deutschen Bevölkerung bestimmte, und die Unterstützung für die der Nationalsozialisten und ihre Popularität vor allem auf dem wohlfahrtsstaatlichen Totalitarismus beruhte (Johnson und Reuband 2005; Kershaw 1987). Auch wenn die indirekten Profite, die der NS-Staat aus der Beraubung der Juden Deutschlands und
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1 Internationale Probleme Europas zog (Aly 2005), für die Mehrheit nicht unmittelbar offenlagen, so waren in den dafür verantwortlichen Bürokratien und in der Wirtschaft nicht unbeträchtliche Gruppen als direkte Zeugen und verantwortliche Organisatoren beteiligt. Nach der Konvention gehört dies zu den konstitutiven Merkmalen des Genozid, und insofern können zumindest die aktive Organisation und möglicherweise das aktive Profitieren durchaus im Sinne der Konvention potenziell inkriminierbare Handlungen darstellen. Für die Bevölkerung sichtbar war ferner, dass viele direkt von jüdischem Vermögen profitierten, und die Tatsache, dass dies über Jahrzehnte nach Kriegsende gerechtfertigt werden konnte, spricht für die tiefgreifende moralische Entsolidarisierung mit der Opfergruppe. Ferner liessen sich die Massenmorde gegenüber der heimischen Bevölkerung nicht verbergen. Die Berichte der Frontsoldaten, Andeutungen oder sogar offene Schilderungen in Briefen von der Front (Müller 2005) vermittelten mindestens 30 % der erwachsenen Bevölkerung direkte oder Kenntnisse vom Hörensagen, wie Johnson und Reuband (2005: 369) in Befragungen während der 1990er Jahre feststellten, in denen naturgemäß nur noch die jüngeren Generationen erfasst werden konnten. Im Rahmen von Befragungen zu Beginn des Nürnberger Prozess gaben ca. zwei Drittel an, von Todes- und Konzentrationslagern zum ersten Mal durch den Prozess gehört zu haben (Karstedt 1996), was prinzipiell mit den viel späteren Befragungsdaten von Johnson und Reuband koinzidiert. Ebenso war bekannt, dass die der ausgebombten Bevölkerung zur Verfügung gestellten Haushaltsgegenstände aus dem Eigentum der europäischen Juden stammten.6
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Strafverfolgung und Alternativen Die UN Konvention verpflichtet die internationale Gemeinschaft, die Täter zu verfolgen und zu bestrafen, und ermöglicht es damit, individuelle Täter auf allen Ebenen nach internationalem Recht zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen. Nach Artikel IV der Konvention gehören dazu Regierende, öffentliche Beamte und private Einzelpersonen, also die gesamte Hierarchie der Täter. Die Konvention verpflichtet die Signatarstaaten, Völkermord unabhängig vom Ort und Land des Geschehens auf ihrem eigenen Territorium zu verfolgen. Artikel V legt fest, „die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zu ergreifen, um die Anwendung der Bestimmungen dieser Konvention sicherzustellen und insbesondere wirksame Strafen für Personen vorzusehen, die sich des Völkermords … schuldig gemacht haben.“ ( Deutsche UNESCO-Kommission 1980: 56). In Artikel VI wird bestimmt, dass die Täter vor ein zuständiges Gericht des Staates, in dessen Gebiet die Handlung begangen worden ist, oder vor ein internationales Strafgericht gestellt werden, das als zuständig anerkannt wird. Artikel VII fordert die vertragschließenden Staaten auf, Täter auszuliefern. Die Bundesrepublik Deutschland trat der Konvention 1954 bei, und mit Inkrafttreten 1955 wurde § 220a in das Strafgesetzbuch eingefügt, der 1974 seine bis heute gültige Fassung erhielt (in der DDR trat die Konvention 1973 in Kraft); wegen des Rückwirkungsverbots konnte er jedoch nicht gegen am Holocaust beteiligte Täter eingesetzt werden. Die UN-Konvention folgte damit weitgehend den Prinzipien, die 1945 die Verfolgung und Bestrafung der Täter des Holocaust geleitet hatten. Sie schloss eine Kollektivschuld aus, und setzte damit anerkannte strafrechtliche Prinzipien in Kraft. Das Internationale
6 Vgl. hierzu die Schilderung einer Hamburger Bürgerin, dass aus vielen Anzeichen wie Monogrammen, Gravierungen u.a. die Herkunft dieser Gegenstände keinem Zweifel unterliegen konnte (Aly 2005).
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1.1 Genozid (Völkermord) Tribunal in Nürnberg 1945–1946, das die Elite des NS-Staates abgeurteilt hatte, die in den europäischen Ländern durchgeführten Verfahren gegen Täter, die in diesen Ländern beteiligt gewesen waren, sowie die weiteren Nachfolgeverfahren in Nürnberg gegen einzelne Organisationen des NS-Staates waren ein durchaus erfolgreiches Modell, an dem sich die Konvention orientierte.7 Jedoch gelang es erst mit dem Ende des Kalten Krieges und in den vergangenen zwei Jahrzehnten, die notwendige institutionelle Struktur auf internationaler Ebene zu etablieren, also jene internationalen Strafgerichte einzurichten, auf die Artikel VI der Konvention Bezug nimmt. Meilensteine auf diesem Weg waren die Internationalen Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda, sowie schließlich die Annahme des Statuts von Rom 1998, das 2002 dann zur Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs führte (Schabas 2004). Auch wenn die Strafverfolgung und Verurteilung der Täter des Holocaust den wahrscheinlich historisch erfolgreichsten Versuch darstellt, die Verantwortlichen auf allen Ebenen zur Rechenschaft zu ziehen, so demonstrieren die Unzulänglichkeiten und das Versagen der Justiz in vielen Fällen und Bereichen die zahlreichen rechtlichen und prozeduralen Probleme der Strafverfolgung von Genozid, die auch in den derzeit laufenden Verfahren wieder offensichtlich werden. Die Zahl der Opfer und Täter stellt vor allem ein weniger entwickeltes Justizsystem vor unüberwindliche Schwierigkeiten, wie derzeit in Ruanda sichtbar. Die Langwierigkeit der Verfahren wie beim Internationalen Tribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag verweist auf die mannigfaltigen Probleme der internationalen Strafverfolgung, ihre Anliegen nicht nur der internationalen Gemeinschaft sichtbar zu machen, sondern auch die Unterstützung der ursprünglich betroffenen Bevölkerung zu gewinnen (vgl. Hagan 2003, Hagan und Ivkovic 2006; Goldstone 2000). Wurde der Genozid im Zusammenhang mit einer sozialen oder politischen Krise begangen, im Rahmen eines Bürgerkrieges wie in den lateinamerikanischen Staaten oder im Kontext eines „failed state“, dann kann die strafrechtliche Verfolgung die dem Genozid zugrundeliegenden Gruppenkonflikte verschärfen und so letztlich einer Bewältigung der Krise entgegenstehen. In solchen Fällen scheint es viel wichtiger zu sein, die Täter und Opfer wieder in einem Gemeinwesen zusammenzubringen. Die Strafverfolgung von Genozid bedarf der Verschränkung des Globalen mit dem Lokalen, um Wirkung zu entfalten, und das Zusammenspiel und Ausbalancieren von internationaler und lokaler Strafverfolgung ist entscheidend für die Lösung der lokalen Konflikte (vgl. Stover und Weinstein 2004). Die Strafverfolgung der Täter des Holocaust, die sich über ein halbes Jahrhundert hinzog, macht deutlich, dass der Übergang von der internationalen zur nationalen Strafverfolgung ein schwieriger und Generationen übergreifender Prozess ist. Nach dem Beginn mit dem Internationalen Tribunal in Nürnberg, das von der klaren Mehrheit der Bevölkerung in der amerikanischen Zone unterstützt wurde (Karstedt 1996), und anderen von den Alliierten und in den europäischen Ländern durchgeführten Verfahren, kam die Strafverfolgung in der Bundesrepublik nach 1949 praktisch zum Stillstand, wozu auch der Misserfolg der Entnazifizierung sowie mehrere Amnestien (wenn auch ausdrücklich nicht für am Genozid Beteiligte) noch vor und nach 1949 beitrugen. Die Politik zielte auf Integration der großen Zahl derjenigen, die durch ideologische Unterstützung, Duldung oder mittelbar in staatlichen Organisationen einschließlich des Militärs den Holocaust möglich gemacht hatten. Die anfängliche Unterstützung der Bevölkerung für die Strafverfolgung wich einer ausgesprochen ablehnenden Haltung, je mehr die „normalen“ Täter und nicht die Eliten des vormaligen NS-Staates von der Strafverfolgung betroffen waren (Karstedt 1996). Ganz entscheidend für das Versagen der Strafverfolgung in der
7 Das an dem Nürnberger Prozess orientierte Tribunal in Tokio gilt allgemein als ein Misserfolg und als Beispiel von offener Siegerjustiz (vgl. Dower 1999). Susanne Karstedt
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1 Internationale Probleme Bundesrepublik war die Weigerung der Regierung 1952, die europäische Menschenrechtskonvention zu unterzeichnen, eine Entscheidung, die erst von der sozialliberalen Regierung unter Willy Brandt rückgängig gemacht wurde. Das hätte nämlich ermöglicht, Taten zu verfolgen, die als legal unter NS-Herrschaft galten. Erst 1958 begann mit der Einrichtung der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg und kurze Zeit später von Zentralstellen bei Staatsanwaltschaften eine Wiederaufnahme der systematischen Strafverfolgung der Täter (Rückerl 1984). Die Debatte um die Aufhebung der Verjährung zog sich durch die 1960er und 1970er Jahre, bis 1979 die Verjährungsfrist für Mord endgültig aufgehoben wurde. In diese Zeit fielen der Eichmann-Prozess und der Auschwitz-Prozess, die zum ersten Mal den Opfern eine Stimme verliehen. Ebenso wie der Majdanek-Prozess von 1975 bis 1981 haben diese Prozesse das Bewusstsein der Öffentlichkeit, vor allem in der jüngeren Generation nachhaltig geprägt (vgl. kritisch Silbermann und Stoffers 2000). Von den Gerichten der Alliierten und im europäischen Ausland wurden wahrscheinlich ca. 50.000 Täter zur Verantwortung gezogen, wobei hierunter (und ebenso für die folgenden Angaben) auch andere Kriegsverbrechen fallen. Im Westen Deutschlands, bzw. in der späteren Bundesrepublik waren es knapp 6.500 Täter. Insgesamt wurden auf dem Gebiet der (damaligen) Bundesrepublik Deutschland seit 1945 knapp 90.000 Verfahren eingeleitet. In mehr als 80.000 der Fälle endeten die Verfahren nicht mit einer Verurteilung, u.a. weil in den Organisationen, die den Genozid durchführten, eine individuelle Verantwortung nicht nachweisbar war, weil die Beschuldigten den Krieg nicht überlebt hatten, bereits in Verfahren im Ausland verurteilt worden waren, oder in Länder geflohen waren, die sie nicht auslieferten (Rückerl 1984). Viele der Haupttäter wurden begnadigt oder vorzeitig entlassen, nur ein kleiner Bruchteil erhielt lebenslängliche Freiheitsstrafen, die häufig in Zeitstrafen umgewandelt wurden. Viele Verfahren mussten eingestellt werden, weil die Beschuldigten auf Verhandlungsunfähigkeit plädierten, dem zwar wohl nicht ungerechtfertigt, aber gleichwohl öfter als in normalen Straffällen nachgegeben wurde (Herbert 1996: 517 f). Für das Versagen der Strafverfolgung gegen diejenigen, die die soziale, politische und ökonomische Ausschließung der jüdischen Bevölkerung vorangetrieben und ihr die Lebensgrundlage entzogen sowie den Holocaust an entscheidender Stelle in den besetzten Ländern eingeleitet und orchestriert hatten, standen ehemalige hochrangige NS-Führer, die wieder entsprechende Positionen im neu gegründeten Staat einnehmen konnten. Nach der Konvention wäre dies strafbar gewesen, jedoch das Rückwirkungsverbot schloss eine Strafverfolgung auf der Grundlage des § 220a aus. Gerade diejenigen Täter, die den Holocaust ideologisch und strategisch vorbereitet und durchgeführt hatten, haben sich wahrscheinlich mehr als andere der Strafverfolgung in der Bundesrepublik entziehen können. Insgesamt kann die Strafverfolgung der Holocaust-Täter dennoch als relativ erfolgreich eingestuft werden. Bei dieser Bewertung ist zu berücksichtigen, dass sie durchaus singuläre Züge hatte und unter besonderen Bedingungen stattfand, die für die Genozidfälle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so nicht zutreffen. So wurde die Strafverfolgung von einer internationalen Besatzungsmacht vorangetrieben, die die Täter zunächst gründlich entmachtet hatte. Da die wenigen überlebenden Opfer de facto nicht präsent sein konnten – zumindest in den auf deutschem Boden geführten Verfahren –, standen sich Täter und Opfer nicht als Konfliktgruppen gegenüber. Das führte dazu, dass zunächst Kriegsverbrechen, nicht jedoch der Holocaust das Bild der Deutschen von den Verbrechen bestimmte. Weiterhin wurden Amnestien bis in die 1950er Jahre von den westlichen Alliierten beobachtet und in einem Fall unterbunden. Der internationale Druck auf Strafverfolgung ist bislang nicht abgerissen, und hat die nationale Strafverfolgung vorangetrieben. Die Situation der strafrechtlichen Bearbeitung des Holocaust unterscheidet sich damit deutlich von
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1.1 Genozid (Völkermord) der im ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda, oder in lateinamerikanischen Ländern. Hier hat die strafrechtliche Verfolgung auch die Aufgabe, Racheakte zu verhindern. Die spezifischen Probleme der Strafverfolgung im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda haben in diesen beiden Fällen dazu geführt, dass – anders als beim Nürnberger Prozess – beide Tribunale außerhalb des jeweiligen nationalen und ethnischen Territoriums angesiedelt sind. Gleichwohl gelang es in den Internationalen Tribunalen für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda, erstmals ein Staatsoberhaupt zur Verantwortung zu ziehen, und im Fall von Ruanda zu lebenslänglicher Haft zu verurteilen (Swaak-Goldmann 2001). Insgesamt haben die Probleme der internationalen Gerichtsbarkeit vor allem in Ländern, in denen eine Strafverfolgung in einer Konfliktsituation stattfinden muss, in den vergangenen Jahren zur Entwicklung von Alternativen geführt. Diese Alternativen versuchen, die Probleme zu lösen, die sich aus der Spannung von internationaler Gerichtsbarkeit und lokaler Konfliktsituation ergeben, sowie einer Reihe von kritischen Einwänden zu begegnen. Während die internationale Strafverfolgung den Appell an die Bevölkerunggruppe der Täter häufig verfehlt und als nicht legitim angesehen wird, läuft die lokale und nationale Strafverfolgung Gefahr, gemäß den sozialen, politischen und ethnischen Konfliktlinien höchst ungleichgewichtig gegen Tätergruppen vorzugehen, und ist mit kaum überwindbaren Problemen bei der Ermittlung konfrontiert. Die internationale und generell justizielle Form der Verfolgung von Genozidverbrechen hat sich seit dem Nürnberger Tribunal mit den folgenden kritischen Einwänden auseinanderzusetzen: dass es sich um „Siegerjustiz“ handele; dass die Strafverfolgung der vergleichsweise geringen Zahl von Tätern die vielen, die den Genozid stillschweigend geduldet oder sogar davon profitiert haben, von Schuld entlaste; dass das juristische Verfahren den Opfern kaum gerecht werden kann und sie traumatischen Erfahrungen aussetze; und schliesslich dass das Geschehen in ein rechtliches Schema gezwungen werde, das ihm nicht gerecht wird. Indem Schuld und Unschuld festgestellt werden, bestimmt ein rechtliches Verfahren, was und wer „gerechterweise“ vergessen werden darf („lawful amnesia“, Osiel 1997: 175). Die Alternativen nutzen jedoch auch, was die strafrechtlichen Verfahren einzigartig macht. Sie sind in den Worten von Osiel (1997: 3) „monumentale Schauspiele“, und konstitutive Momente für die Gesellschaft, indem sie eine moralische Botschaft über die Vergangenheit und Zukunft vermitteln. Sie sind historisch in einem vielfachen Sinne, indem sie die Vergangenheit rekonstruieren – wenn auch nur juristisch –, die Strafverfolgung de facto historische Archive zusammenstellt, Historiker zu gerichtlichen Zeugen werden und dies schliesslich das Bild des Geschehens im kollektiven Gedächtnis formt, und zwar für die Täter- wie die Opfergruppe (vgl. Karstedt 2009). Insbesondere die Gestaltung des gemeinsamen kollektiven Gedächtnisses, die für Post-Konflikt-Situationen so entscheidend ist, ist das grundlegende Anliegen der Alternativen zur justiziellen Strafverfolgung. Sie stellen jedoch die „Wahrheitsfindung“ und nicht die endgültige Bestrafung in den Mittelpunkt, und sind daher häufig mit Amnestieverfahren verknüpft. Wahrheit erscheint nach Cohen (2001) in zwei Formen: als eher am juristischen Modell orientierte Erhebung von Sachverhalten („recovery“) und als moralische Klärung („clarification“). Die Alternativen behalten daher in jedem Fall eine rechtliche Form bei und nutzen die machtvolle Symbolik des Rechts. Das gilt für die Wahrheitskommissionen ebenso wie für die Tribunale, die von NGOs durchgeführt werden, um individuelle und staatliche Verantwortung festzustellen (Chinkin 2001). Tribunale und Wahrheitskommissionen sind vor allem in Lateinamerika eingesetzt worden, um die genozidalen Massaker der 1970er und 1980er Jahre aufzuarbeiten, bevor eine reguläre Strafverfolgung möglich wurde. Insofern haben sie weniger die Funktion gehabt, strafrechtliche Verfahren völlig zu ersetzen, als die Öffentlichkeit aufzurütteln und Verfahren erst in Gang zu bringen. Wieweit tatsächlich auf die justizielle Strafverfolgung verzichtet werden sollte, ist ebenso umstritten wie der Einsatz von Formen der „restorative justice (Mendez 2009; vgl. Braithwaite 2005). Ge-
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1 Internationale Probleme genwärtig wird in Ruanda mit den gacaca-Gerichten der Versuch gemacht, Formen lokaler und traditionell eher restituierender als retributiver Justiz für die Verfolgung von Genozidtätern zu nutzen. Sie sind sowohl eine Reaktion auf die völlige Überforderung einer teilweise zerstörten Justiz in diesem Land, wie auch auf die Unzulänglichkeiten des Internationalen Tribunals. Auch wenn mit einem engen Mandat ausgestattet und alleine für die Strafverfolgung der hochrangigen Verantwortlichen des Genozid verantwortlich, so entzog die Dauer und geringe Zahl der Verfahren (15 Verfahren in 10 Jahren) ihm weitgehend die Legitimation. Während ca. 5.500 Einzeltäter von den zuständigen Gerichten wegen Teilnahme am Genozid abgeurteilt worden waren, warteten 2003 noch ca. 125.000 Täter in den Gefängnissen auf ihr Verfahren, von denen dann 40.000 entlassen wurden. Die gacaca-Gerichte wurden 2002 eingerichtet und folgten dem traditionellen Modell von gemeindlichen Schlichtungsstellen, vor denen das Erscheinen freiwillig war. Sie wichen allerdings in diesem und anderen Punkten von dem traditionellen Verfahren ab, entscheidend indem das Verfahren nicht in der Gemeinde des Täters, sondern dort stattfindet, wo das Delikt verübt wurde.8 Die gacaca-Verfahren sind wegen des Fehlens grundlegender prozeduraler und Evidenzregeln kritisiert worden, u.a. von Amnesty International (Corey und Joireman 2004: 84), jedoch vor allem auch, weil bislang die Mitglieder der Opfergruppe der Tutsi, die sich ihrerseits an Massakern beteiligten, nicht zur Verantwortung gezogen werden (ebenda). Gacaca-Verfahren scheinen daher eher retributiv vorzugehen und die ethnischen Konfliklinien zu bestärken. Eine zunehmende Rolle spielen in internationalen Interventionen daher auch flankierende Maßnahmen, die insgesamt eine neue Legitimationsbasis für Recht und Zusammenleben schaffen (vgl. Stover und Weinstein 2004).
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Prävention und Intervention
Der Nürnberger Prozess war von großen Hoffnungen begleitet. Allein die Tatsache, dass sich von nun an alle, die einen Genozid planten, vorbereiteten und schließlich ausführten, in Zukunft international der strafrechtlichen Verantwortung stellen müssten, würde, so glaubte man voller Optimismus, abschreckende Wirkungen entfalten (vgl. Karstedt 1996). Es ist nicht auszuschließen, dass dies tatsächlich der Fall gewesen sein kann, jedoch angesichts der zahlreichen Genozidereignisse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eher unwahrscheinlich. Auch im Hinblick auf die Schwierigkeiten der internationalen und nationalen Strafverfolgung und eine insgesamt günstigere internationale Situation wird derzeit zunehmend die Verpflichtung zur „Verhütung“ von Völkermord ernst genommen, die die Konvention in Artikel I noch vor der Bestrafung als Ziel festlegt. Das schließt präventive Maßnahmen und Intervention in das aktuelle Geschehen ein. Beide erfordern die Identifzierung und Beobachtung von kritischen Situationen und Warnsignalen. Aus Sicht des strukturellen und kulturellen Ansatzes, der auf ein breites Spektrum von grundlegenden Kausalfaktoren zielt, sind langfristige Maßnahmen erforderlich, während der strategische Ansatz eher auf Prävention eines sich unmittelbar abzeichnenden Genozid setzt. Kuper (1984/1982, 1985) legte als erster ein umfassendes Programm zur Verhinderung von Genozid vor, das sowohl kurz- wie langfristige Maßnahmen einschloss. Er setzte 8 Die Delikte umfassen neben Mord auch Diebstahl, Plünderung und Zerstörung von Eigentum.
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1.1 Genozid (Völkermord)
in erster Linie auf den Ausbau der internationalen Organisationen, die die Einhaltung von Menschenrechten überwachen und die internationale Gemeinschaft zu Aktionen veranlassen sollten. Dafür bot sich zunächst die Weiterentwicklung der bestehenden Instrumente innerhalb der Vereinten Nationen an. Daneben sah Kuper jedoch eine entscheidende Rolle für ein dichtes Netzwerk von unabhängigen NGOs, die sich vor allem der Überwachung von gefährdeten Völkern und Krisenherden sowie der Aktivierung der Weltöffentlichkeit widmen sollten. Insgesamt sollten die stetige Verbesserung der Einhaltung der Menschenrechte, die Förderung von Minderheitenrechten, rechtsstaatliche Verfassungen und demokratische Regime Genozid auf Dauer verhindern. Seit den 1980er Jahren hat es in der Tat eine „Normenkaskade“ (Sunstein 1997) im internationalen und humanitären Recht gegeben, und es hat sich ein dichtes Netzwerk von internationalen Organisationen und NGOs entwickelt. Stetige Beobachtung, die Alarmierung der Weltöffentlichkeit, konzentrierte Aktionen gegen Staaten, die gegen Menschenrechte verstoßen, einschließlich von Boykottmaßnahmen, haben in einer Reihe von Fällen zu beachtlichen generellen Erfolgen hinsichtlich der Grundursachen von Genozid geführt (Risse, Ropp und Sikkink 1999). Allerdings ist nicht zu übersehen, dass Genozid häufig im Gefolge von fehlgeschlagenen Demokratisierungsversuchen verübt worden ist wie in Deutschland, Jugoslawien, der Sowjetunion oder Ruanda (vgl. Mann 2005). Der strategische Ansatz macht im Prinzip keinen Unterschied zwischen präventiven und Interventionsmaßnahmen, sondern staffelt eine Reihe von Maßnahmen je nach Phasen und unmittelbarer Gefahr. Dazu gehören die bereits genannten Instrumente der Prognose und Aufdeckung von Genozid, Formen von internationalem diplomatischen und wirtschaftlichen Druck, verdeckte Aktionen wie militärische und humanitäre Hilfe für bedrohte Gruppen, Friedenssicherung durch internationale Truppen, und schließlich auch militärische Intervention (Heidenreich 2001). Für alle kurzfristigeren Maßnahmen ist es entscheidend, dass Risikosituationen klar identifiziert werden und Warnzeichen Beachtung finden. Als besondere Gefährdung haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Anti-Guerilla-Kampagnen, Bürgerkriege und niedrigschwellige Konflikte herausgestellt, unter anderem auch deshalb, weil die internationalen Konventionen in dieser Form der Kriegführung keine Rolle spielen, und in der Folge Kriegsverbrechen und Genozid ununterscheidbar werden (Shaw 2003). Es gilt, rasch einzugreifen, den Genozid zu lokalisieren und die Gruppe derjenigen, die ihn strategisch vorantreiben, zu entmachten (Valentino 2004: 234 ff). Zu den Interventionsmaßnahmen gehören auch die Hilfeleistungen nach einem Genozid. Es gilt, Racheakte zu verhindern, für die bedrohte Bevölkerungsgruppe (und die Tätergruppe) alltägliche Sicherheit wieder herzustellen, und die Grundlagen dafür zu legen, dass die beiden Gruppen zu einem Gemeinwesen zurückfinden. Das schließt auch die Wiederherstellung staatlicher Institutionen ein, wobei dem Rechtssystem und der Polizei eine entscheidende Rolle zukommt. In diesem Kontext symbolisiert die internationale und nationale Strafverfolgung des Genozid die Rückkehr von Recht, Gerechtigkeit und die (Wieder)Herstellung von Rechtsstaatlichkeit, die der Legitimation und Anerkennung beider Bevölkerungsgruppen bedarf. Die Zusammensetzung des Personals gerade dieser Institutionen nach den ethnischen Gruppen Susanne Karstedt
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ist daher ein erklärtes Ziel solcher Maßnahmen des „nation-building“ unmittelbar nach dem Genozid (Wilson 2006 für Kosovo; Stover und Weinstein 2004).
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Die Rolle der Kriminologie
Für die Kriminologie eröffnet sich ein weites und auch neues Forschungsfeld im Bereich des internationalen Strafrechts. Dazu gehören die Normgenese und der Aufbau von Institutionen im internationalen Strafrecht, die Untersuchung von Genozid, den Tätern und Opfern, die Identifizierung von Risikosituationen und Präventionsmaßnahmen, und die Frage, welche Wirkungen die Strafverfolgung tatsächlich entfaltet und mit welchen Problemen sie belastet ist. Hagan u.a. (2005) haben kürzlich für Darfur demonstriert, wie durch Opferbefragungen die für die rechtliche Definition des Genozid und die Strafverfolgung so entscheidende Intention der Täter festgestellt werden kann. Das theroretische Instrumentarium der Kriminologie kann eingesetzt werden, um insbesondere in Risikosituationen, die durch „failed states“ entstehen, gefährliche Verknüpfungen zwischen Krieg, organisierter und Regierungskriminalität festzustellen (Braithwaite 2005). Sie kann dazu beitragen, das Gefährdungspotential, das Armeen junger Männer in einer solchen Situation darstellen, auszumachen und Interventionen zu entwickeln. Kriminologen verfügen ferner über Kenntnisse und Instrumente aus dem Bereich des „community policing“, wie und mit welchen innovativen Ansätzen Sicherheit für die Bevölkerung gewährleistet und „Inseln der Sicherheit“ geschaffen werden können, auch unter höchst problematischen Bedingungen. Beim Aufbau von demokratischen Institutionen und im Prozess des „nation building“ nach einem Genozid kommt der Entwicklung des Rechts- und Strafjustizsystems eine entscheidende Rolle zu (für Kosovo Wilson 2006). Formen von „restorative justice“ bieten sich sowohl für die Entschärfung von Risikosituationen an wie auch für Aussöhnung nach dem Genozid. In der Auseinandersetzung mit den Problemen, mit denen Genozid uns auch im 21. Jahrhundert konfrontieren wird, zeichnet sich für die Kriminologie eine neue und größere Rolle als bisher ab. Literatur Adorno, T. W./Horkheimer, M. (1944): Dialektik der Aufklärung. New York: Social Studies Inc. (1969: Frankfurt: S. Fischer Verlag). Adorno, T. W./Frenkel-Brunswick, E./Levinson, D. J./Sanford, R. N. (1950): The Authoritarian Personality. New York: Harper & Brothers. Alvarez, A. (2001): Governments, Citizens and Genocide. Bloomington: University of Indiana Press. Aly, G. (2005): Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt: Fischer. Amann, D. M. (2002): Group Mentality, Expressivism and Genocide. In: International Criminal Law Review. 2, 93–143. Basic, N. (2004): Krieg als Abenteuer. Feindbilder und Gewalt aus der Perspektive ex-jugoslawischer Soldaten 1991–1995. Heidelberg: Psycho-Sozial Verlag.
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1.2 High Tech Crime: Information and Communication Related Crime Peter Grabosky Table of Contents 1 Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Varieties of High-Tech Crime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Digital technology as the tool or the instrument of crime . . . 2.1.1 Child Pornography . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Stalking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Music, Video, and Software Piracy . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Forgery . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Fraud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.6 Offensive communications . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Computers as the target of criminal activity . . . . . . . . . . 2.2.1 Hacking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Theft of Services . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Malicious Code . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Distributed Denial of Service Attacks . . . . . . . . . . 2.2.5 Espionage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 Cyber terrorism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Information systems as incidental to criminal activity . . . . . 2.3.1 Communications in Furtherance of Crime and Terrorism 2.3.1.1 Intelligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.2 Propaganda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.3 Psychological Warfare . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.4 Fund Raising and Recruitment . . . . . . . . . 2.3.1.5 Training . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Record Keeping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Causes of computer crime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Opportunity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Guardianship . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 The Incidence, Prevalence and Distribution of Computer Crime . 5 The Impacts of Computer Crime . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Productivity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Confidence in Markets and Commerce . . . . . . . . . . . . . 5.3 Lost Revenue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Harm to Individuals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 National Security . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Computer Crime Legislation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Investigation of Computer Crime . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Forensic Computing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Grabosky
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7.1.1 Communications . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Preservation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Analysis and Interpretation . . . . . . . . . 7.1.4 Presentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Encryption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Cross-national issues . . . . . . . . . . . . . . . . Prosecution of Computer Criminals . . . . . . . . . . . Sentencing Convicted Offenders . . . . . . . . . . . . . Preventing High-Tech Crime . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Motivations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Opportunities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Capable Guardians . . . . . . . . . . . . . . . . . Current and Emerging Trends in Cybercrime . . . . . . 11.1 Sophistication . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Commercialization . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusions: What’s Different About High Tech Crime? Non State Responses . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Introduction
The growth and convergence in computing and communications over the past three decades have revolutionized the way we live. Our work, our entertainment, our education, our transportation, our commerce, and much else, all depend on digital technology. But computers have also revolutionized the way we commit crime. Twenty years ago, the widespread dissemination of false rumours for the purpose of manipulating shares on a major stock exchange was beyond the capacity of most people. Today it is not. Internet chatrooms and websites abound with misleading information, and gullible people act on this to their subsequent regret. Until very recently, a great deal of time and money was required to send a million letters soliciting investments in worthless schemes. Today it can be done in a few seconds at negligible cost. It was once impossible for a teenager acting alone from his own bedroom to shut down the operations of a major retailer. This is no longer the case. We will begin with a definition of the activity that is the subject of this essay, and then provide an overview of the types of offending that may be described with the term “computer crime.” While most of these are traditional offences committed with new high tech tools, some are uniquely modern. We will then explain how high tech crime can occur, by using the framework of routine activity theory (Cohen and Felson 1979). Computer crime, in other words, arises from the conjunction of three factors: a supply of motivated offenders, the availability of suitable targets (or victims), and the absence of capable guardians. We will then see how computer crime is distributed around the world, and the costs that it imposes on its victims. This will be followed by a discussion of the development of legislation relating to computer crime, from the initial efforts to protect the privacy of individuals, to more recent legislation adopted for such diverse aims as the investigation of terrorism, and the prohibition of unsolicited commercial advertisements, or “spam.”
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The next challenge to be discussed is investigation. While the basic principles of investigation are the same for both high tech and terrestrial offences, there are some important differences. Not least of these is the potential for vast physical distance between victim and offender. It has become trite to suggest that “cyberspace knows no national borders.” Indeed, a computer crime may be committed from the other side of the world as easily as from next door. This poses significant challenges for those responsible for the investigation, as well as for the prosecutor. In the relatively few cybercrimes that result in the conviction of an offender, the challenge is to determine an appropriate sentence. We will see some of the novel concerns encountered by sentencing authorities. The following section on prevention returns to the theme of routine activity theory, and suggests some of the basic strategies for the prevention of high-tech crime. We then discuss some of the current and emerging trends in cybercrime, noting its increasing sophistication, commercialization, and tendency towards combination of multiple offences in furtherance of a criminal enterprise. Finally, the concluding section will make some comparisons between computer crime and “ordinary crime” and answer the fundamental question, “What is different about computer crime?”
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Varieties of High-Tech Crime
One sees many different words used to refer to high-tech crime. These include such terms as computer crime, cyber crime, and digital crime. We will use these terms interchangeably in the pages that follow. Three general types of activity are the subject of this essay. We are concerned with digital technology (computers and telecommunications) 1) as the tool or the instrument of crime; 2) as the target of criminal activity; and 3) as incidental to criminal activity. The following section provides illustrative examples of these different types. 2.1
Digital technology as the tool or the instrument of crime
Many conventional crimes can be committed with digital technology. As you will see, new technology greatly facilitates the commission of these crimes. 2.1.1 Child Pornography The advent of personal videocameras and digital photography enable child pornography to be produced, copied, stored, and transmitted quickly and unobtrusively, and with perfect accuracy (Grant et al 1997). When posted in cyberspace, it is potentially available to anyone, anywhere in the world. Much activity relating to child pornography involves the electronic exchange of files between individuals. Some of this activity is highly organized. In 1998, a global seizure of paedophile material took place in ‘Operation Cathedral’. This involved police in 15 countries who uncovered Peter Grabosky
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the activities of the Wonderland Club, an international network with members in Europe, North America, and Australia who used the Internet to download and exchange child pornography including real-time video images. The Club used a secure network with regularly changed passwords and encrypted content. In 2003, another joint investigation uncovered a commercial child pornography operation involving member-paid websites operated from Minsk, Belarus, and credit card processing services based in Fort Lauderdale, Florida. Thousands of subscribers from numerous countries around the world were then targeted for investigation by law enforcement agencies in their home countries for possessing illegal images. Around 400 search warrants were executed in Australia alone (Ashcroft 2004; Blenkin 2004). 2.1.2 Stalking The internet can also be used for harassing, threatening or intrusive communications, from the traditional obscene telephone call to its contemporary manifestation in “cyber-stalking”, in which persistent messages are sent to an unwilling recipient. A more sinister manifestation occurs when a stalker obtains access to a victim’s computer by hacking into it, and is able to view not only the contents of the computer’s hard drive, but to record every keystroke, and to view the computer’s desktop in real time (Ogilvie 2000). The problem is compounded by the availability of a great deal of personal information that can be accessed through the Internet and the World Wide Web. Confronting an individual with details of their personal life can be extremely unnerving. Cyberstalking may also occur indirectly, as when an offender posts a victim’s contact details on the web, and invites others to communicate. 2.1.3 Music, Video, and Software Piracy Digital technology permits perfect reproduction and easy dissemination of print, graphics, sound, video, and multimedia combinations. It is now possible, for example, to download music from the latest compact disks and feature films from the Internet. The temptation to reproduce copyright material for personal use, for sale at a lower price, or indeed, for free distribution, has proven irresistible to many. When creators of a work, in whatever medium, are unable to profit from their creations, there can be a chilling effect on creative effort generally, in addition to financial loss. Industry data suggests that in some countries, the vast majority of software is pirated. Table 2.1: Top ten countries by piracy rate, 2003 (%) Vietnam China Ukraine Indonesia Russia
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Zimbabwe Algeria Nigeria Pakistan Paraguay
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Source: Business Software Alliance (2004)
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1.2 High Tech Crime: Information and Communication Related Crime
The software and entertainment industries, well resourced and well organized, have claimed that piracy has cost them billions of dollars. 2.1.4 Forgery Digital technology also permits perfect reproduction of documents such as birth certificates or other papers that may be used to construct a false identity for use in a variety of subsequent criminal activities, as well as the counterfeiting of currency and other negotiable instruments. Even designer labels can be perfectly forged. Sophisticated scanning devices and graphics software are commercially available and reasonably priced. Identity-related crime has become a serious problem around the world, and Southeast Asia is renowned as a centre for document forgery. 2.1.5 Fraud Fraud is a broad concept that in general refers to obtaining something of value by deception. The varieties of criminal activities that it embraces are many and diverse. Just when the use of the telephone for fraudulent sales pitches, deceptive charitable solicitations, or bogus investment overtures became increasingly common, internet and web technology created new opportunities for fraud. As electronic commerce becomes more prevalent and increasingly diverse, the application of digital technology to fraudulent endeavours has become that much greater (Grabosky, Smith and Dempsey 2001; Newman and Clarke 2003). Electronic funds transfer systems have begun to proliferate, and so has the risk that such transactions may be intercepted and diverted. Valid credit card numbers can be intercepted electronically, as well as physically; the digital information stored on a card can be counterfeited and used illegally. Another common ploy is to send messages purporting to come from a legitimate financial institution, requesting verification of the addressee’s account and password details. The following paragraph contains a typical example. (The name of the bank has been concealed). 20 April 2004 Dear valued (xxx) Customer! Due to the increased fraudulent activity within our site we are undertaking a review of our member accounts. You are requested to visit our site by following the link given below. This is required for us to continue to offer you a safe and risk free environment to send and receive money online. Be sure to enter both Customer Registration Number & Password otherwise your account will not be verified and your access to the account will be blocked. Thank you. https://www.(xxx).com/inetbank/bankmain.asp
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A variation on this involves a message stating that a specified amount has been withdrawn from one’s account in a particular bank, with an apparent weblink to the bank positioned at the foot of the message. Clicking on the link allows the fraudster access to one’s computer, and all the information contained therein. Other sophisticated forms of fraud have entailed unauthorized access to the servers of banks and the transfer of funds from unwitting account holders to (and quick withdrawal from) an account controlled by the offender (Grabosky and Smith 1998, 162). Fraudsters now enjoy direct access to millions of prospective victims around the world, instantaneously and at minimal cost. Variations on the Nigerian advance free fraud have lent themselves nicely to electronic communication. Typically, the perpetrator of such a fraud would send a letter introducing him or herself, and requesting assistance in transferring funds from one country to another, in return for a sizeable fee (Smith et al 1999). The perpetrator will either request an up-front payment to “assist in transferring the funds” or will request access to the victim’s bank account, ostensibly for purpose of effecting payment of the “fee.” In years past, the logistics of sending such requests by post or fax to a significant number of recipients were formidable. Internet technology has vastly enhanced the capacity of criminals to contact prospective victims. Millions of items are offered for sale on the Internet, either privately or through organized auctions. By 2001 online auctions became an increasing source of consumer complaints, where the vendor delivers inferior products or none at all, or when the purchaser fails to pay for the product. The technology of the World Wide Web is ideally suited to investment solicitations. In the words of two staff of the US Securities and Exchange Commission, “At very little cost, and from the privacy of a basement office or living room, the fraudster can produce a home page that looks better and more sophisticated than that of a Fortune 500 company” (Cella and Stark 1997, 822). Until very recently, the ability to manipulate sharemarkets was limited to people with substantial publishing resources or high social prominence. Today, the advent of do-ityourself electronic share trading and the proliferation of internet chat rooms devoted to financial markets has enabled teenagers to spread false rumours, and thereby influence share prices. 2.1.6 Offensive communications Material regarded as offensive or objectionable abounds in cyberspace, although there is no universal consensus about what should be defined as criminal or not. Some nations make it a crime to disseminate Nazi propaganda; others prohibit the possession or sending of erotic images; others abhor blasphemy or gambling; and some take great offense at what they regard as treasonous or seditious content. A number of nations have begun to object to unsolicited bulk electronic mail (often referred to as “spam”). In some jurisdictions, the distribution of defamatory content will attract the criminal sanction.
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The lack of consensus from one country to another regarding what offensive conduct should be deemed criminal is noteworthy, for co-operation between nations depends on a degree of harmonization in the criminal law. 2.2
Computers as the target of criminal activity
As never before, industrial society is dependent on complex data-processing and telecommunications systems. Damage to, or interference with, any of these systems can have catastrophic consequences. Whether motivated by curiosity or vindictiveness, electronic intruders cause inconvenience at best, and have the potential for inflicting massive harm. 2.2.1 Hacking The term “hacker” originally referred to an individual who would obtain unauthorized access to computer systems, for educational, remedial, or other constructive purposes. Those who engaged in malicious or destructive activity were known as “crackers.” Today, the term “hacker” is used to refer to both kinds. As computers became networked, hackers would gain access, and either browse the target computer, or engage in disruptive activity of one kind or another, such as erasing or concealing files, or shutting down the computer or the network. In some cases, hackers would obtain confidential material from the target computer and disseminate it widely, or call its existence and its accessibility to public attention. The advent of the World Wide Web created new opportunities for hackers, who were able to access websites and deface them electronically. For example, the home page of the Central Intelligence Agency was modified to read “Welcome to the Central Stupidity Agency” (Neumann 1996). Indeed, many examples of hacked websited are archived on the web (See: http://www.onething.com/archive/). Hackers may also target the systems that are regulated by computers. In 1998 a juvenile in Massachusetts pleaded guilty to disabling a telephone company computer servicing the control tower at Worcester airport. This put out of action both the main radio transmitter and a circuit that enabled approaching aircraft to send signals activating the runway lights (CNN 1998). More recently, an Australian hacker manipulated a local council’s computer system, deliberately releasing hundreds of thousands of litres of raw sewage into public waterways, killing marine life and causing offensive smells (Slay/Miller 2008). 2.2.2 Theft of Services By gaining access to an organization’s telephone switchboard or computer server, offenders may obtain access to dial-in/dial-out circuits and then make their own calls or sell call time to third parties. The proliferation of internet services has also made them an attractive target for theft. Theft of services causes significant revenue loss to service providers.
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2.2.3 Malicious Code In the early days of the Internet, computer scientists began experimenting with computer programs referred to as “viruses” or “worms” that spread rapidly across networks with the effect of overloading them and causing them to shut down. The ‘Melissa’ ‘Love Bug’ and ‘Anna Kournikova’ viruses disrupted computer systems around the world at the beginning of the new millennium. Few computer users have been unaffected. It was reported that about 85 per cent of computers in China were infected with a computer virus during 2003 (BBC 2003). The Sobig.F worm, which struck in August of that year and spread with unprecedented speed, was estimated to have quickly infected one-third of the nation’s computers. Given the dependence of individuals and organizations on digital technology, the loss of productivity arising from these incidents has been enormous. 2.2.4 Distributed Denial of Service Attacks (DDOS) By accessing a number of computer systems, harnessing their power, and directing them against a specific target, one can disrupt the target’s normal functioning. Such was the work of a 15 year old Canadian boy who launched distributed denial of service attacks against Amazon.com, Yahoo, and other prominent e-commerce sites in February 2000. Not long thereafter, the Mydoom virus took the technology of viruses and distributed denial of service attacks one step further by effectively combining them (Mail Utilities 2003). Much of Estonia’s electronic infrastructure was disrupted by a DDOS in April, 2007. 2.2.5 Espionage Offenders may also attack computer systems in furtherance of espionage. The famous case of the Cuckoo’s Egg (Stoll 1991) involved German students, under contract to the KGB, hacking into US defence computers. Because of the commercial value of the information that they hold, businesses may also be the targets of espionage, at the hands of competitor businesses, governments, or entrepreneurial individuals. In years past, much of this information was recorded on paper or in the minds of executives and employees. Industrial spies could infiltrate a company, persuade a company employee to reveal valuable company secrets, sift through waste paper, a practice known as “dumpster diving.” Today, trade secrets or strategic information about a company’s business plans will exist in digital form, and will be targeted in storage or in transit. Reliance on traditional methods of bribery may still exist, and can include means of obtaining computer passwords and other means of access to information systems. 2.2.6 Cyber terrorism The potential to inflict widespread catastrophic damage by means of the techniques described above has been apparent for some time. While this potential has yet to be
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fully realised, experience to date gives some indication of the scope of risk. While the term “cyber terrorism” has attracted attention in the post September 11 environment, it is often used casually, without conceptual rigor. It is preferable to use Denning’s (2000, 10) definition of cyberterrorism: “unlawful attacks against computers, networks and the information stored therein when done to intimidate or coerce a government or its people in furtherance of political or social objectives.” There is no question that much of the critical infrastructure of advanced industrial societies, such as electric power, water supply, air traffic control, communications, and financial systems are all dependent on high technology, and are all theoretically vulnerable to a terrorist attack. While there have been documented examples of individual attacks on infrastructure (see 2.2.1 above), there has been nothing even remotely approximating an “electronic September 11”. If the potential to do harm in cyberspace were harnessed, concerted and concentrated on the critical infrastructure of one nation, one could envisage a scenario the consequences of which would approximate the effects of terrorism. Risk assessments have identified these contingencies as plausible, but to date, such an event has not occurred. As Dorothy Denning (2001) suggests, for the time being, terrorists continue to prefer truck bombs over logic bombs. While attacks on critical infrastructure alone might not be regarded as terrorism, they could, when combined with traditional tactics, enhance the overall intimidating and coercive effect of a terrorist attack. For example, the detonation of a bomb, combined with a disruption of electric power supplies, air traffic control systems, or telephone service, would highlight multiple vulnerabilities and thus appear more fearsome. 2.3
Information systems as incidental to criminal activity
Just as legitimate businesses use digital technology to enhance the efficiency and effectiveness of their operations, so too do criminals. Digital technology has become so pervasive that its use by dishonest individuals as well as by honest individuals, has become part of everyday life. 2.3.1 Communications in Furtherance of Crime and Terrorism For years now, drug dealers have used pagers and mobile phones to arrange transactions. Goodman (1997, 474) relates how the Cali cartel used computers to identify callers to the US Embassy in Colombia in order to recognize persons who were cooperating with drug enforcement efforts. Well before September 11, 2001 it was noted that major terrorist organizations, „including Hizbollah, HAMAS, the Abu Nidal organization, and Bin Laden’s al Qa’ida organization [were] using computerized files, e-mail, and encryption to support their operations.“ (Quoted in Freeh 2000). The nature of the Internet and World Wide Web are ideally suited to communications across widely dispersed elements of a network. Other applications of digital technology to terrorist activity includes the following (Thomas 2003): Peter Grabosky
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2.3.1.1 Intelligence Terrorists may seek to acquire open source intelligence on an adversary, or collect classified information by hacking into the adversary’s computer systems. 2.3.1.2 Propaganda Terrorist groups may communicate directly to a general worldwide audience, or to specialist target audiences, bypassing journalistic editing and government censorship. This may include inflammatory hate speech intended to legitimize violence against specified adversaries. 2.3.1.3 Psychological Warfare The internet may be used as a means of tactical deception by terrorist organizations. By generating anomalous patterns of traffic they can give the erroneous impression that an operation may be imminent. The fabrication of “chatter” may distract law enforcement and intelligence services from true terrorist activity. Another form of psychological warfare can involve general or specific threats or displays of force. Webcasts of hostages, and even hostage executions, can reach the world. These may be coupled with threats against nationals of specific countries who may be identified with causes anathema to the terrorist organization. 2.3.1.4 Fund Raising and Recruitment Terrorist groups may raise funds through charity and other front organizations, or they may actively seek to recruit new members. The cities of Europe house many young unemployed, marginalized and resentful Muslim males. Some of them may well be attracted to militant causes. 2.3.1.5 Training Terrorist groups may use the Internet and the Web for instructional purposes, to teach attack techniques and skills. For example, an Al Qaeda Training Manual (in English translation) is posted on the website of the US Department of Justice http:// www.usdoj.gov/ag/trainingmanual.htm (Visited 9 August 2004). 2.3.2
Record Keeping
Criminals also use digital technology for the everyday storage and retrieval of information. Records of illicit transactions, whether drug deals or the business of illegal bookmakers and loan sharks, once kept in ledger books, are now maintained on personal computers. The use of digital technology in furtherance of criminal activity may provide law enforcement authorities with opportunities for detection and investigation. The location of cell phones may now be tracked. As we move further into the digital age, with increasing interconnection of wireless technology, and the advent of radio frequency
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identification technology, an increasing number of ordinary crime scenes will contain some digital evidence.
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Causes of computer crime
Perhaps the most convenient way to explain computer crime is to use routine activity theory, as set out by Cohen and Felson (1979). Computer crime, and indeed all crime, can be explained by the conjunction of three factors: • The supply of motivated offenders; • The availability of suitable targets or victims; and • The absence of a “capable guardian” – in other words, someone or something to exercise surveillance of offenders and targets. 3.1
Motivation
Motives for computer crime will vary depending upon the nature of the crime in question, and most of these motives are hardly new. Various forms of theft tend to be motivated by greed. Offenses relating to sexually explicit materials are driven to varying degrees by lust. The desire to inflict loss or damage on another may also spring from revenge, as when a disgruntled employee shuts down an employer’s computer system, or to ideology, as when one defaces the web page of an institution that one regards as abhorrent. Much activity on the electronic frontier entails an element of adventure, the exploration of the unknown. The very fact that some activities in cyberspace are likely to elicit official condemnation is sufficient to attract the defiant, the rebellious, or the irresistibly curious, those who desire to taste forbidden fruit. Given the degree of technical competence required to commit many computer-related crimes, there is one other motivational dimension worth noting here. This, of course, is the intellectual challenge of mastering complex systems. None of the above motivations is new. The element of novelty resides in the unprecedented capacity of technology to facilitate acting on these motivations. Over 1,5 billion people were estimated to be online in 2008. This figure had increased fivefold since the turn of the century (Internet World Stats 2009). The greater the takeup of digital technology, the greater the pool of potential offenders (for whatever motive). And the use of digital technology, at least in advanced industrial societies, has increased exponentially in the past two decades. 3.2
Opportunity
But crime follows opportunity. The exponential growth in the takeup of digital technology around the world means that the number of prospective victims (or suitable targets) has increased as well. E-commerce revenue is estimated to reach $6501 billion worldwide in 2006, a tenfold increase from 2001. The increasing number of e-commerce sites means that there is an increasing number of prospective targets. The greater the number of on-line banking Peter Grabosky
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sites, the more opportunities there are to attack them or to defraud legitimate customers. The greater the number of chatrooms devoted to on-line trading on stock exchanges, or frequented by curious children, the greater the number of potential victims. The capacity of prospective offenders has been dramatically enhanced by digital technology, which now enables them to do things that were unthinkable only a few years ago. Today, an ordinary individual can communicate with millions, and can mobilize massive computing power against a target. Hacker software is available for downloading from the World Wide Web, providing even relatively unsophisticated people with the instruments of computer intrusion. The derisive term for them is “script kiddies.” 3.3
Guardianship
The term guardianship implies a degree of surveillance, which if properly exercised, will discourage or deflect criminal designs. Guardianship can be human or it can be technologically based, and it can take many forms. The most obvious manifestation of guardianship entails a degree of personal surveillance – looking after one’s own interests. Just as good parents have always kept themselves aware of what their children read, watch on television, or who their friends are, so too do good parents in the digital age keep an eye on their children’s activities in cyberspace. Parental supervision will help ensure that their children do not access harmful material or do not establish relations with predators. In larger organizations, systems administrators are in a position to oversee use of the computer system, and to discern whether the system is being misused by insiders or outsiders. A variety of technologies assist in the exercise of capable guardianship. Their use has long been enshrined in the basic principles of computer security. They include access restrictions requiring passwords, and intrusion detection technology and other software that identifies anomalous transaction patterns that may be indicative of fraud. Obviously, the degree of guardianship that is appropriate to a given setting will depend upon the value of the assets at stake. One’s home computer may need little more than anti-virus software. Large financial institutions or other elements of critical infrastructure, by contrast, may require a number of individuals dedicated to information security, as well as sophisticated firewalls and intrusion detection systems.
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The Incidence, Prevalence and Distribution of Computer Crime
Statistics on computer crime are notoriously elusive. There are many steps that occur between the occurrence of a computer crime and its transformation into an official statistic. Victims of computer crime must first become aware that they have been victimized. This is not as simple as it may sound, because the circumstances behind a computer failure may not be apparent. Many adverse experiences may result from software “glitches”, i.e. defective programs.
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1.2 High Tech Crime: Information and Communication Related Crime
Of those who have been the victim of computer crime, some may be disinclined to report it to police. Some businesses, particularly financial institutions, may not wish the public to know that their systems are vulnerable. The cost of restoring one’s image after an episode of adverse publicity can be greater than the financial loss incurred as the result of crime. Similarly, individuals may be embarrassed at having been the gullible victims of a fraud, and wish to keep their misfortune to themselves. In addition, victims may have a realistic understanding of the limits of law enforcement in the digital age. Law enforcement agencies are ill-equiped to investigate high tech crimes (Goodman 1997). There is therefore a “dark figure of computer crime” not unlike the dark figure of ordinary crime. But even those computer crimes that are recorded may not be classified as such. The offence may be categorized as a fraud, or as malicious damage, without regard to the instrument or the target of the offence. Because the methods and rules for counting crime can differ widely over time and place, comparisons and totals may be meaningless or deceptive. Smith, Grabosky and Urbas (2004) discuss the various surveys that have been conducted around the world in order to estimate the costs of cybercrime. It should be noted that in addition to the direct costs of cybercrime, the costs of cybercrime prevention are very significant. Information security is a multibillion dollar global industry.
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The Impacts of Computer Crime
Because of the pervasiveness of digital technology and its importance to so many aspects of life in modern industrial societies, computer crimes can be serious indeed. The impact of computer crime is varied. 5.1
Productivity
As we have noted, one virus can disrupt millions of computer systems around the world, reducing productivity in workplaces. Unfortunately, statistics on the costs of computer crime may not be terribly informative, because computer crime is significantly underreported. Estimates of the cost may be vulnerable to exaggeration by those who have a vested interest in the appearance of a crisis. Estimates suggest that the economic impact of virus attacks on information systems around the world amounted to US$12.1 billion in 1999 and 17.1 billion in 2000 (Business Wire 2000; Computer Economics 2002). The person who pleaded guilty to releasing the Melissa virus of 1999 admitted to causing US$80 million in damage, the highest point on the scale of United States sentencing guidelines. Estimates of the full losses attributable to the Melissa virus ranged up to US$393 million in lost productivity (Bloomberg News 1999). Unsolicited email, colloquially referred to as “spam,” may also detract from workplace productivity. According to one estimate, spam accounts for 15 billion e-mail messages per day, and some US$20 billion in lost productivity per year (Blackman 2003). Peter Grabosky
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1 Internationale Probleme
5.2
Confidence in Markets and Commerce
In cyberspace, as in terrestrial space, confidence in markets and in financial institutions is essential to a healthy economy. If people think sharemarkets and auctions are rigged, or if they think that their assets are not safe in banks, these institutions of finance and commerce will not flourish. This applies in cyberspace, no less than “on the ground.” Similarly, theft of credit card details, or other attempts to exploit online payment systems, can discourage online commerce. To the extent that the economies of advanced industrial societies will be based on electronic commerce, any activity that threatens the confidence of prospective consumers is cause for concern. 5.3
Lost Revenue
Of particular concern to the software and entertainment industries are the lost sales attributable to piracy. The Business Software Alliance (2008) estimates that its members lost US$ 48 billion to software pirates in 2007. The music industry claims to have lost 180 million pound sterling in one year in the UK alone (IFPI 2009). The Motion Picture Industry Asssociation (2009) estimates losses in excess of $18 billion in 2005 due to piracy. Theft of services can eat into the profits of Internet and other service providers (Grabosky and Smith 1998, Ch 4). 5.4
Harm to Individuals
More difficult to quantify but no less significant are the impacts of child pornography, and “hate speech” which may do real psychological harm to those who are exposed. 5.5
National Security
Massed armies and aerial bombardment are no longer the only threats to national security. We noted above how critical infrastructure can be put out of commission. Although no catastrophic examples have occurred to date, nations may be vulnerable to electronic attack against their communications, water supply, energy, and financial systems, inter alia. The 2007 experience of Estonia is illustrativ.
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Computer Crime Legislation
Sovereign states make their own criminal laws, which define the kinds of behaviour that are prohibited, and punishable. Because, as we have seen, some forms of computer misconduct (such as forgery committed with digital technology) are common crimes committed with new tools, traditional criminal legislation may be sufficient to deal with them. Relatively new forms of harmful behaviour (such as hacking or the release of digital viruses) may require new laws to explicitly define them as criminal. These boundaries distinguish conduct that is legal from that which is criminal. They will change over time and differ over space. The rapid development of digital technology, and its uneven adoption in the world today, have presented us with abundant examples of legislative efforts to keep abreast.
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1.2 High Tech Crime: Information and Communication Related Crime
Technology evolves faster than does the law. There are, moreover, significant differences across nations in both technological and legal developments. The German scholar Sieber (1998) identified six historical waves of computer crime legislation. The first, which began in the 1970s in Sweden and other western democracies, related to privacy. It was inspired by the recognition that developments in information storage and retrieval had begun to provide governments with unprecedented capacity to collect, store and analyse vast quantities of information about individuals. The second wave, arising in the 1980s from the realisation that unauthorized manipulation of computer functions could cause significant economic loss, prohibited such acts as unauthorized access to a computer, or damage to computer data. The third wave expanded existing regimes of intellectual property protection to address the very significant threat to the software and entertainment industries posed by unauthorized copying. The fourth wave identified by Sieber dealt with offensive content such as pornography, hate speech or defamation over the Internet. As noted above, there is wide variation across nations in the type of conduct that is proscribed. Even the type of content where there is the greatest agreement regarding prohibition, child pornography, jurisdictions differ regarding the definintion of a child; the definition of pornography; and whether a “virtual” image that has been digitally created (rather than depicting an actual human subject) should be illegal. The fifth wave of computer crime legislation involved criminal procedural law, most notably procedures for searching and seizing electronically stored evidence. The sixth and most recent wave of legislation relates to security law, specifically the law relating to surveillance, search and seizure in the shadow of terrorism. The digital age is never static, however, and one sees continuing developments in both cyber crime and in efforts to control it. Most commonly, this will entail further developments in one or more of the “waves” observed above. In 2003, for example, unsolicited commercial email, colloquially termed “spam,” became an increasingly troublesome issue. A number of jurisdictions sought to respond to the problem by prohibiting the sending of such communications. The basic issue, that of content regulation, is one with which authorities are already familiar. One can appreciate that the continued diversification of cybercrime will lead to new legal responses, or at the least the continuing modification of old ones.
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Investigation of Computer Crime
In the physical world, many crimes “solve themselves.” Offenders may be caught with a proverbial “smoking gun” and in these cases, investigators are faced with a relatively easy task. In the digital world, investigation can be much more difficult. The offender may have been situated in one jurisdiction, the victim in another, and evidence of the crime may be found in a third. Skilled offenders may attack a target by Peter Grabosky
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circuitous means, “looping” and “weaving” through a number of sovereign jurisdictions, whose law enforcement officials may lack the capacity or motivation to assist in an investigation. Under these circumstances the chain of law enforcement cooperation is only as strong as its weakest link. Digital evidence is often evanescent, as internet service providers may not retain transaction records, much less the content of those communications. Tracing the origins of a computer crime, and identifying the perpetrator, can be difficult even when the criminal activity occurs within one jurisdiction. 7.1
Forensic Computing
Once a computer crime has been called to the attention of the authorities, the fundamental challenges facing those who would investigate it are fourfold: 7.1.1 Communications First, they must identify the available digital evidence, its location, and the means by which it is stored. This may be even more difficult if the offending communication has traveled indirectly from the offender to the victim, passing through one or more intermediary computer systems en route. 7.1.2 Preservation Second, they must preserve the evidence. Maintaining a proper chain of evidence is of great importance, in order to neutralize the possible defence challenge that the evidence was altered or tampered with. It may be important to demonstrate that the evidence in question was subject to minimal handling from the time it was seized until it was introduced in court. 7.1.3 Analysis and Interpretation The processing and interpretation of digital information may figure prominently in an investigation. For example, it may not be sufficient to prove that an illicit image was stored on a particular computer. The accused, after all, may claim that he was unaware that the image was even there, and could have been inserted by an unknown third party. It may be necessary to prove that the offending image was downloaded on multiple occasions by an individual using the same password as the accused. 7.1.4 Presentation Finally, the evidence must be presented in a manner that will be admissible in court (McKemmish 1999). It must also be presented in such a manner as to be comprehensible to a judge and or a jury, not all of whom will be technologically sophisticated. Fortunately for law enforcement, special investigative tools have been developed to facilitate evidence collection and preservation.
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1.2 High Tech Crime: Information and Communication Related Crime
7.2
Encryption
The issue of encrypted evidence has met with varying responses across nations, depending on the prevailing legal and constitutional culture. In the United States, the Fifth Amendment to the Constitution protects an accused from self-incrimination. He or she may not be compelled to disclose an encryption key. In the United Kingdom and Australia by contrast, individuals are required to disclose encryption keys or face criminal charges. In the United Kingdom, this can entail imprisonment for up to two years, in Australia, six months (Regulation of Investigatory Powers Act (2000) ss 49–55; Crimes Act, s. 3LA.). In Europe, Article 6 of the Rome Convention could be a barrier to such compulsory disclosure, although the European Commission on Human Rights has restricted the scope of the article to oral statements. Nevertheless, European procedures for compulsory decryption would have to be formulated precisely in order to withstand judicial scrutiny. Ironically, Constitutional protections in the United States have led to arguably more draconian solutions, including telecommunications interception and other intrusive searches. In one case, investigators in search of computerized records of illegal gambling transactions obtained a warrant for a surreptitious entry (literally a break-in of the suspect’s offices). They then installed a device developed by FBI engineers known as a key logger system (KLS) on the suspect’s computer in order to record the password to the encrypted file. The investigators successfully obtained access to the encrypted file, and based on the evidence obtained therein, charged him with a number of offences (Electronic Privacy Information Center 2003). Technology now enables such searches to be done remotely. In those nations whose laws permit such investigative practices, law enforcement agents may go undercover, taking on the identity of another person in order to collect evidence against the target of an investigation. These practices are quite common in drug investigations. If anything, undercover work is easier in the online environment, where physical appearance and face-to-face communication don’t matter. This is perhaps most common in those cases involving adults who seek illicit relationships with children. It is now quite common, especially in the United States, for law enforcement officers to pose as children online. When they are approached by an individual seeking a meeting for apparently illicit purposes, a meeting is arranged, but instead of a child, the target of an investigation is met by a law enforcement officer. 7.3
Cross-national issues
The fact that a great deal of computer crime is committed across national borders poses a number of problems. Most important of these is to determine who will investigate, and who will prosecute the crime in question. First of all, criminal laws differ substantially across nations. Some nations, primarily in the developing world, have yet to enact computer crime laws. Even in nations that do have a legal basis for investigation and prosecution, the skills and capacity for effective investigation may be inadequate. Where a suspect is identified, there remains the question of who will do Peter Grabosky
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the actual work of prosecution: the country in which the suspect resided at the time of the offence; the country (or countries) where the impact of the offence was most acute; or the country or countries through which the offending communication may have transited on the way to the target. Enlisting the assistance of investigators in a foreign country may not always be easy. Informal cooperation may be possible between countries with a history of close working relationships. Formal cooperation may depend on the existence of treaties between respective countries. Extradition usually requires “dual criminality” that is, similar legislation between the two countries. The love bug or “I love you” virus that originated in the Philippines in May 2000 spread rapidly around the world, and infected hundreds of thousands of computers. Authorities in the United States would have preferred bringing the perpetrator to justice in a US court. Although a suspect in the Philippines was identified, there was no provision in Philippine law relating to the release of a virus, and therefore no offence with which he could be charged. Extradition to the United States, where there was a firm legal basis for prosecution, was not possible. The Council of Europe’s Convention on Cybercrime is the most significant achievement of the international response to high tech crime. Its goals of harmonizing substantive and procedural criminal law, and of establishing mechanisms for expedited mutual assistance, are of critical importance given the transnational nature of much cyber crime. The Convention was over four years in preparation, involving 27 drafts. Even during its development it provided a benchmark to assist national legislatures around the world to develop their own legislation. The Convention on Cybercrime was formally adopted by the Council of Europe in Budapest in November 2001. The Convention received its 5th ratification (from Lithuania) on 18 March 2004 and is therefore now in force (http://conventions.coe.int/).
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Prosecution of Computer Criminals
The prosecutor’s involvement with cybercrime will vary from one country to another depending upon the prosecutor’s role in the criminal justice system and on constitutional issues more generally. In civil law countries, the decision to begin an investigation may rest with the prosecutor, depending on whether coercive measures are necessary or special proceedings are required. Japanese prosecutors routinely direct investigations (Johnson 2002). Prosecutors also play a central investigative role in Korea and China (UNAFEI 1995). In the United States, especially at the Federal level, prosecutors are involved well ‘upstream’ of the criminal charge, and are often engaged in the planning, organization and execution of criminal investigations. This early involvement tends to arise from constitutional restraints on criminal investigation that invite detailed and exacting prosecutorial oversight. The first challenge facing prosecutors is to determine that there is a valid law that fits the alleged crime in question. Unauthorized access to a computer system has not always been illegal everywhere. In some countries, the criminal law is sufficiently flexible that it can cover certain kinds of activity. For example, in the United King-
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1.2 High Tech Crime: Information and Communication Related Crime
dom, the traditional law of malicious damage was used to prosecute offenders who destroyed intangible property. Depending on the nature of the alleged offence and the circumstances of the investigation, an accused may claim: 1. That he or she was not the person who did the act; 2. That the act or acts in question were not intentional; 3. That the evidence in question was improperly obtained, and should be suppressed; or 4. That the evidence in question was altered or interfered with, and therefore not credible. Prosecutors in most jurisdictions usually have more cases than they can handle. As a result, they tend to be selective in choosing cases to prosecute. For the most part, the decision to prosecute or not is determined by two factors: the seriousness of the offence and the sufficiency of the evidence. The first of these is fairly objective; the available sentence will give some relative indication of the gravity with which an offence is regarded. Sufficiency of evidence requires a bit more judgment, although experienced prosecutors will be able to assess the probability of conviction with a fair degree of accuracy. In some cases, prosecutors will depart from these criteria slightly, in order to demonstrate the seriousness of a matter. The strategy of mounting an exemplary prosecution occurs with ordinary crimes and is not unique to cybercrime.
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Sentencing Convicted Offenders
We have seen that many computer crime cases are never reported to police, many that are reported are never investigated, many that are investigated never lead to prosecution, and not all prosecutions lead to conviction. Those cases where sentences are imposed are just the tip of the iceberg, most likely to be unrepresentative of the totality of computer crime. Systematic study of sentencing cyber criminals remains in its infancy. Preliminary research (Smith, Grabosky and Urbas 2004) suggests that the use of a computer does not significantly affect the sentence imposed, nor the aggravating and mitigating factors raised at the time of sentencing. But this conclusion can only be regarded as tentative. Certain types of crime, particularly attempts to exploit the vulnerability of critical infrastructure, or those that threaten public confidence in e-commerce, may well attract harsher sentences. In any given jurisdiction the severity of sentencing imposed in cybercrime cases tends to reflect the severity of sentencing in general. In relatively punitive jurisdictions such as the United States where the power of the software and entertainment industries are significant, Congress has provided for harsh penalties for intellectual property theft.
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Preventing High-Tech Crime
As discussed above, high tech crime results from the intersection of three factors: a supply of motivated offenders, the availability of suitable targets and victims, and the absence of capable guardians. Successful prevention strategies must target at least one of these. But not all are tractable. 10.1 Motivations We observed that human motivations are very durable, and that it was unlikely that greed, lust or revenge will soon disappear from society. This does not mean that we should give up entirely on improving the moral quality of our fellow man, but that we should not expect to produce dramatic changes. Having said that, imparting the basic principles of computer ethics in such places as homes, schools and workplaces, is a worthwhile goal. 10.2 Opportunities A country that sought the total elimination of high tech crime at all costs would “pull the plug” and prohibit the use of digital technology altogether. Such an option is out of the question, not only for advanced industrial societies, but also for developing nations. Given the fact that high technology is here to stay, and that an increasing proportion of the world’s population will be using it, how does one foreclose opportunities to commit computer crime? Opportunity reduction is a traditional crime prevention strategy. The term commonly applied is “target hardening” referred to such practices as the use of improved locks on doors and windows, and the installation of immobilizers on motor vehicles. A number of technologies have been developed that limit opportunities to commit high tech crime (Newman and Clarke 2003). The most prominent of these are authentication technologies that limit access to a computer system. From the most basic technology, that of password protection, authentication methods have evolved to include biometric technologies. These record a person’s precise physical characteristics, such as a fingerprint or retinal image, and restrict access to a user with those unique identifiers. Encryption technologies, which perform mathematical transformation of digital information so that it can only be read by a person who possesses a decryption “key,” are another important form of opportunity reduction. Such technologies permit the transmission of credit card details over the internet, for example, and significantly enhance the security of electronic commerce. Other technologies for electronic target hardening include firewalls that prevent unuthorised access to one’s computer system, and blocking and filtering software that screen out specified content.
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10.3 Capable Guardians The most promising strategies for controlling computer crime lie in enhancing capable guardianship. The first line of defence is the exercise of vigilance by the individual computer user. An individual user can secure his computer system just as he will secure his residence. In the terrestrial world, one locks the door to one’s house, and one does not leave a key on the doorstep. In the computer world, one’s computer and files are password protected, and one keeps one’s password secure. A parent can supervise and record children’s computer use, and can prohibit a child’s access to certain sites. Just as concerned law abiding citizens keep an eye open for unusual activity in their neighbourhood, so too do law abiding computer users. Many search the web looking for illegal content. Large corporations, who would be understandably concerned about online activity that would besmirch their corporate image, often hire private firms to scan the internet and the web for false rumours about the company, for attempts to counterfeit their company website, and for corporate references in general. Private individuals and organizations also exercise a degree of vigilance over the internet (Rustad 2001), and a number of regimes for regulating the internet now depend to a significant extent on citizen reporting. In Australia, the Broadcasting Services Amendment (Online Services) Act 1999 (Cth) seeks to regulate content through the adoption of a complaints mechanism based on industry codes of practice. Complaints-based regulation is the main strategy of response to online gambling and pornography. Securities and consumer affairs regulators in the advanced industrial nations now “surf the web” for investment solicitations that are “too good to be true,” and monitor chatrooms for false rumours. Where the content in question appears to originate in another jurisdiction, they rely on their international network of contacts and refer the case to the appropriate authorities. Online auctions provide escrow services that will hold an item that has been sold until it has received payment from the successful bidder. The service will then forward the payment to the vendor, and the purchased item to the buyer. Guardianship can also be exercised by technologies on behalf of individuals. Denning (1999) describes various technologies for detecting attempted intrusions of information systems. Alarms can indicate when repeated login attempts fail because of incorrect passwords, or when access is sought outside of normal working hours. Other anomaly detection devices will identify unusual patterns of system use, including atypical destination and duration of telephone calls, or unusual spending patterns using credit cards. The growing prevalence of computer viruses has given rise to the proliferation of virus detectors. Guardianship can also be enhanced by market forces. A market is currently emerging for privacy enhancing technologies to provide secure platforms for electronic commerce, as well as to protect consumers against invasions of privacy. The policing of terrestrial space is now very much a pluralistic endeavour, and so too is the policing of cyberspace. Responsibilities for the control of computer crime are Peter Grabosky
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similarly shared between agents of the state, information security specialists in the private sector, and the individual user.
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Current and Emerging Trends in Cybercrime
One can identify three basic trends in cybercrime, each evident today and each likely to persist. We shall call them sophistication, commercialization, and integration. 11.1 Sophistication Cyber crime is becoming more sophisticated. Thompson (2004) describes the highly creative virus writers who design malicious code of great complexity. Here are some general examples: • The speed with which viruses infect computers around the world has increased dramatically in recent years. • Hacking tools are becoming more powerful and easier to use. The term “intelligent malware” has been used to describe malicious code that seeks out vulnerable systems and/or covers its own tracks. The best terrestrial criminals tend to be resourceful and adaptive; the best cybercriminals are no less so. Thus one may expect to see continuing refinements of cybercrime techniques, at least on the part of the most competent cybercriminals. The term “arms race” has been used to refer to the ongoing technological competition between cyber criminals and law enforcement agencies. Since “Crime Follows Opportunity,” each new development in digital technology will be accompanied by new forms of crime. The advent of wireless technology, for all its benefits, is creating new criminal opportunities. Wireless local area networks (LANS) are vulnerable to penetration. All one needs to access an internal wireless network is a computer, a wireless local area network card that costs about 75 Euros, and software that is downloadable from the Web. The term “War Driving” has been coined to refer to the act of locating and logging wireless access points (or “hot spots”) while in motion. Toward the end of 2003, one began to see prosecutions for unauthorized access to wireless systems from “mobile hackers.” In November of that year, two men in Michigan were charged with accessing a home improvement store’s nationwide network from a car parked outside one of the stores (Poulsen 2003). The following news item is also illustrative: “Toronto police said they stopped a car last week for a traffic infraction when they found the driver naked from the waist down with a laptop computer on the front seat, playing a pornographic video that had apparently been streamed over a residential wireless hot spot. The driver was charged with possession, distribution and creation of child pornography, as well as theft of telecommunications – a first in Canada, according to local authorities.” (Shim 2003)
The article neglected to mention whether any charges relating to the traffic infraction were also laid.
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Continuing refinements in digital technology mean that increasingly powerful devices are becoming more widely available and within the financial means of offenders. The increasing use of automatic teller machines (ATMs) has been accompanied by the refinement of devices designed to deceive users. Unobtrusive attachments to ATMs including skimming devices, cameras with memory, and wireless transmitters now enable offenders to remotely capture credit card and pin numbers. The advent of internet telephony will make it easier for a hacker to shut down an organization’s phone system, or to eavesdrop on voice communications. The implications for corporate espionage go without saying. Software already exists that will scan files in a server in search of packets of internet phone data. One of these programs is called VOMIT (Voice Over Misconfigured Internet Telephony) (Belson 2004). 11.2 Commercialization If crime does follow opportunity, one can be confident that where there is money to be made, cyber criminals will try their hand. Today, more and more commercial activity occurs in an online environment. By definition, this creates an increasing number of opportunities for criminal exploitation. It follows that the incidence of cybercrime with a financial motive may be expected to increase. Cyberspace illegalities that have not previously been characterized by commercialism are becoming increasingly subject to financial motivation. Consider child pornography. The earliest forms of internet child pornography entailed noncommercial exchange or barter between collectors. Little if any commercial activity was evident (Grant, David and Grabosky 1997). More recently commercial exchange has become apparent, including service providers who are able and willing to refer users to illicit content sites for a fee (BBC News 2002). Similar patterns characterized unauthorized access to computer systems, and the dissemination of malicious code. At the dawn of the digital age, hackers and virus writers were amateurs (albeit sometimes very competent ones). Today the term “hackers-for-hire” is becoming more familiar, and there are those virus writers who work on a fee-for-service basis. The ability to communicate instantaneously with millions of people at negligible cost is not lost on legitimate marketers or on criminal fraudsters. If a message sent to a million recipients elicits responses from a mere one tenth of one percent of them, still adds up to one thousand prospective victims. The collection and sale of active email addresses serves a niche market. There are entrepreneurs who harvest valid email addresses for sale to legitimate as well as criminal entrepreneurs. The numerous opportunities for criminal exploitation of cyberspace are not lost on criminal organizations. One may expect to see organized crime embrace digital technology with increasing enthusiasm in the years ahead (Williams, nd). 11.3 Integration The third important trend in cybercrime is integration. As is the case with terrestrial crime, cybercrimes are not always committed in isolation. For example, armed robPeter Grabosky
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bers may steal a motor vehicle to travel to the robbery and to facilitate a getaway. So it is that certain types of cybercrime will entail a combination of different criminal acts. A recent development has seen the integration of distinct forms of computer crime to achieve synergies. Consider the following: Unsolicited electronic mail or “Spam” may contain malicious code, that can be activated if the mail is opened or if the recipient clicks on a link (such as one that reads “Click Here For Free Teen Sex Pix”). This code can be designed so, if activated, it will allow the offender to “commandeer” the infected computer and use it in furtherance of criminal purposes. This can entail recording the victim’s password and credit card details, or it may entail directing the victim computer against another target. This latter scenario combines the scope of a virus infection with the intensity of a distributed denial of service attack. Such an attack may in turn be an element of extortion. Computer-related crime may be compound in nature, combining two or more of the generic forms outlined above. For example, hacking into a bank’s computer system may be a prelude to fraud. Consider also the offense of extortion: a demand for money (or something else of value) accompanied by the threat of unpleasant consequences at some time in the future. The extortionist may use digital technology to communicate an extortion threat. Information systems themselves may be specified as the target in the event that the demand is not met. In circumstances where an extortion threat involves public disclosure of embarrassing or harmful information, digital technology, especially Internet related technology, can be the medium through which this information is communicated. When an extortion entails some financial consideration, electronic payment systems may be used to facilitate the payment of the proceeds of extortion or to conceal such payments. And finally, information technology may be incidental to the offence in question, such as when it may be used to gather information about a prospective victim (Grabosky, Smith and Dempsey 2001, Ch 3).
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Conclusions: What’s Different About High Tech Crime?
Three factors differentiate computer crime from “ordinary crime.” The first is the ease with which offending can transcend international borders. Technology is such that cross-border offending is more common; one can hack into a computer on the other side of the world as easily as if it were across town. As the world continues to “shrink,” this will remain a distinctive characteristic. Efforts by such bodies as the Council of Europe to achieve a modicum of standardization have gone a long way. Similarly, the United Nations has made considerable progress in building knowledge and capacity in those nations that remain on the disadvantaged side of the digital divide. The second characteristic that differentiates high tech crime from ordinary terrestrial crime is the sheer capacity for harm which digital technology bestows upon its users. Today, teenagers can manipulate the price of shares traded on stock exchanges and shut down major retailers. It is now possible to send fraudulent investment offers in-
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stantaneously to millions of potential victims, at negligible cost. The vulnerability of critical systems to mischief-makers, or to those with more sinister motives, has given rise to an entire new industry-information security. A third factor is the volatility or evanescence of much evidence of computer crime. Internet service providers do not store their data permanently. While it would be convenient for law enforcement if ISPs kept all of the messages to and from their subscribers, the cost of storage, would be prohibitive. Even though it is possible to recover some computer files that have been erased, assembling sufficient evidence and presenting it in admissible form remains a significant challenge. The fact that there are few eyewitnesses to computer crime means that many cases depend on circumstantial evidence. The storage capacity of today’s computers is such that the search and seizure of relevant evidence poses substantial legal and logistical challenges. Millions of pages of information can now be stored in a single personal computer, and storage capacity continues to increase with each generation of computers. Crimes that were impossible and even unimaginable two decades ago are now commonplace, or even quaint. And the pace of technology continues unabated. The emergence of wireless technology, the integration of digital technology into household appliances (and much else), and the increasing interconnectivity of systems will create new criminal opportunities that we have yet to anticipate. A growing appreciation for the ethical use of computers may have some civilizing impact on the adventurous, but it will not dampen the age old motives that inspire so much computer crime. The need for vigilant guardians, human as well as technological in form, will be even greater.
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Non State Responses
One of the most noteworthy aspects of high technology crime is the role of non-state actors in both its facilitation and its control. The basic software with which one accesses the internet is designed first and foremost to be “user-friendly”. From the earliest days of communications between university scientists, convenience was valued more than security. As the number of people accessing the internet increased geometrically, the basic vulnerabilities became more apparent. Only recently have the manufacturers of mass-market software technologies such as Microsoft begun to incorporate more robust security into their products. Changes in the nature of economic life since the last quarter of the 19th century have seen much of the critical infrastructure of many countries pass from the state to the private sector. This organizational dispersion may make economic sense, but it does complicate the flow of communications. Not only may diverse institutions with similar experiences of intrusion be unaware of their mutual problems, they may be disinclined to alert governmental authorities. Non state actors have a significant role to play in responding to cybercrime as well. Law enforcement resources are limited at the best of time, and much computer-relatPeter Grabosky
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ed illegality lies beyond the capacity of contemporary law enforcement alone to control. In the climate of fiscal restraint that prevails in all countries today, it is just as unrealistic to have a police officer monitor every chatroom as it is to expect a police officer on every streetcorner. The growth of information technology since the early 1990s saw tremendous vocational opportunities in the private sector. With public sector employment no longer accompanied by the guarantee of a job for life, private sector salaries became increasingly attractive by comparison. While the bursting of the “tech bubble” in 2000 may have arrested this trend, the public sector is hard pressed to compete with the private sector. For those who begin their careers with government, the lure of higher salaries in the private sector may be irresistible. The “brain drain” of those of public employees with expertise in information security and computer forensics continues. There are, moreover certain professions who are in a position to assist law enforcement. Computer repair personnel may come across illegal images in the course of affecting a repair. While this is basically no different from the situation faced by the employee of a courier service who comes across a consignment containing illicit drugs, the interface of private actors and cybercrime will continue to provide opportunities for prevention and control. Private civil remedies may also contribute to the control of cyber crime. Just as terrestrial offences such as drug dealing can be attacked by using private civil remedies such as nuisance laws, so too can a variety of cybercrimes. Among the virtues of civil remedies are that they require a significantly lower burden of proof – in common law countries, the balance of probability rather than reasonable doubt. Perhaps the most visible example of the state creating specified rights, conferring them upon private parties, and leaving it up to those private parties to enforce, may be seen in the area of intellectual property. Where the capacity and the priorities of public police preclude criminal investigation of music, video or software piracy, a victim of piracy may be able to seek civil remedies. For example, in 2003, the Motion Picture Association (MPA) achieved resolution of two civil actions in relation to DVD piracy in the Beijing Second Intermediate People’s Court, and six cases in the People’s Courts of Shanghai. The terms of the settlements included: ceasing further replication and destroying all copies; making formal apologies; the payment of penalties averaging US$10 000 per case; and an agreement to pay increased penalties if unauthorised replication recurs (MPA 2003). In the United States in 2004, four major Internet providers filed a series of lawsuits meant to shut down some major senders of unsolicited junk e-mail known as spam. The suits are among the first to invoke the federal Can-Spam Act, which went into effect on Jan. 1 (http://www.nytimes.com/2004/03/10/technology/10CND- PAM.html). Obviously, the resources required to mobilize civil law can be substantial, and may lie beyond the reach of many individuals. Suffice it to say that the prevention and control of cybercrime will remain a pluralistic endeavour, too great for the state alone to undertake, an one in which the private sector is destined to play a significant, if not a leading role.
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1.2 High Tech Crime: Information and Communication Related Crime
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1.3 International organisierte Schleusungskriminalität (Internationaler Handel mit Menschen) Jürgen Stock
Inhaltsübersicht 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Definitionsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Phänomenbeschreibung Menschenhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Historischer Abriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Darstellung der Lage im Hellfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Lagebilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Empirische Untersuchungen zum Dunkelfeld und zu phänomenspezifischen Problemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Modi Operandi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Ursachen für illegale Migration und damit verbundene Schleuserkriminalität 4 Rahmenbedingungen nach deutschem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Bekämpfungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Bekämpfungsansätze auf internationaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Bekämpfungsansätze der deutschen Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ansätze zur Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Kriminelle Aktivitäten von Schleusern und Menschenhändlern sind spätestens seit Ende der 1990er Jahre fast täglich Gegenstand zahlreicher Medienberichte – in Deutschland und europaweit. Dabei werden Begriffe scheinbar wahllos zur Bezeichnung dieser Phänomene verwendet, die mit einer juristischen Bewertung wenig gemeinsam haben. So sind „Menschenschmuggel“ und „Zwangsprostitution“ im öffentlichen Diskurs häufig verwendete Begriffe, die im Strafgesetzbuch allerdings keine Entsprechung finden. Strafrechtlich sanktioniert sind „Menschenhandel“ und „Schleusung“. In der kriminologischen Fachliteratur lassen sich zu den genannten Deliktsfeldern vergleichsweise wenige Beiträge finden, was vermutlich an einem erschwerten Datenzugang liegt. Umfangreiche empirische Untersuchungen und Expertisen, die kürzlich Jürgen Stock
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1 Internationale Probleme
durchgeführt wurden, lassen jedoch die Vermutung zu, dass sich die Kriminologie dieser Thematik in Zukunft verstärkt widmen wird.
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Definitionsansätze
Ausgangspunkt jeder Auseinandersetzung mit Schleusungskriminalität und Menschenhandel muss eine Abgrenzung der Begriffe sein. Schleusung wird seit dem 01.01.2005 in §§ 96, 97 Aufenthaltsgesetz (davor: §§ 92a, 92b Ausländergesetz) unter Strafe gestellt. Zur Erfüllung des objektiven Tatbestandes muss eine Person eine andere Person dazu anstiften oder diese dabei unterstützen, illegal nach Deutschland einzureisen, sich dort aufzuhalten oder einen Aufenthaltstitel zu erschleichen. Geschütztes Rechtsgut ist die Integrität der Staatsgrenzen, was zugleich bedeutet, dass es in der Regel kein klassisches Opfer gibt. Allerdings kann eine Person im Zuge ihrer Schleusung einer Gefährdung ausgesetzt werden, die bis zum Tod führt. Menschenhandel wird gemäß §§ 232, 233 StGB begangen, wenn eine Person – gegebenenfalls, aber nicht notwendigerweise mit Zwang oder Gewalt – dazu gebracht wird, in der Prostitution oder in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen zu arbeiten. Der Tatbestand ist nur erfüllt, wenn eine Zwangslage oder die Hilflosigkeit der Betroffenen ausgenutzt wird. Geschütztes Rechtsgut ist hier das Selbstbestimmungsrecht des Opfers, also der Person, die in die Prostitution oder ein ausbeuterisches Arbeitsverhältnis gebracht wird. Außerdem unterscheidet die mittlerweile herrschende Terminologie (insbesondere im Polizeigebrauch) zwischen Schleuser- und Schleusungskriminalität (Geisler/Steinbrenner 2001, 413; Minthe 2002, 19–20). Unter Schleuserkriminalität versteht man solche Verhaltensweisen, die sich als Beteiligung an der unerlaubten Einreise und dem unerlaubten Aufenthalt i.S.d. § 96 (Einschleusen von Ausländern) und § 97 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) darstellen. Der Begriff ist somit sehr eng gefasst und in direkter Anlehnung an die unmittelbar einschlägigen Strafnormen definiert. Dazu gezählt werden zum Teil auch § 84 (Missbräuchliche Asylantragsstellung) und § 84a (Gewerbs- und bandenmäßige Verleitung zur missbräuchlichen Asylantragsstellung) Asylverfahrensgesetz (AsylVerfG), da sie mit den vorgenannten Vorschriften in engem Zusammenhang stehen (Minthe 2002, 20). Unter Schleusungskriminalität sind alle mit der unerlaubten Einreise bzw. Einschleusung von Ausländern im Zusammenhang stehenden Delikte (Urkundendelikte, illegale Beschäftigung usw.) zu subsumieren. In diesem Sinne sind hier alle Aktivitäten einzuordnen, die regelmäßig im Zuge von Schlepperaktivitäten begangen werden. Somit wird Schleusungskriminalität häufig als Oberbegriff für Schleuserkriminalität und Schleusungskriminalität im engeren Sinne verwendet. Diese Einteilung, wonach Menschenhandel eine Variante der Schleusungskriminalität ist, soll im Folgenden übernommen werden.
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1.3 International organisierte Schleusungskriminalität
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Phänomenbeschreibung Menschenhandel
3.1
Historischer Abriss
Menschenhandel wird in der Bundesrepublik erst seit Mitte der 1990er Jahre als Problem wahrgenommen. Insbesondere der Mädchenhandel hat allerdings eine lange Tradition. Schon in Homers „Ilias“, dem ältesten literarischen Zeugnis Europas, ist nachzulesen, dass Agamemnon, der griechische Heerführer, vor Troja versuchte, seinen Helden Achilles zum Weiterkämpfen zu bewegen, indem er versprach, ihm dafür Frauen aus Lesbos und Troja in seinen Front-Harem zu schicken. Ebenso lässt sich feststellen, dass auch in späteren Epochen Frauen als Sexualobjekte „erbeutet“, geraubt, in fremde Länder verschleppt und gewinnbringend in die Sklaverei verkauft wurden (Mentz 2001, 37). Die heutige Form des Menschenhandels wird oft zu Recht als „moderne Sklaverei“ bezeichnet. 3.2
Darstellung der Lage im Hellfeld
3.2.1 Grundlagen Über das Ausmaß des Menschenhandels wird, bedingt durch eine verstärkte Besetzung dieses Themas durch die Medien, häufig in der Öffentlichkeit diskutiert. Dabei werden verschiedene Vermutungen über die Anzahl der Opfer angestellt, die jeweils stark voneinander abweichen. Dies ist auf den Umstand zurückzuführen, dass es auch Experten unmöglich ist, die Zahlen genau zu benennen. Auch wenn die Zahl der durch das Opfer initiierten Strafverfahren wegen Menschenhandels zunimmt (BKA 2006b, 4), sind sowohl Schleuserkriminalität als auch Menschenhandel nach wie vor als Kontrolldelikte einzustufen, die zumeist nur im Rahmen gezielter Überprüfungen durch die Polizei aufgedeckt werden (Herz/Minthe 2006, 7). Den Geschädigten fällt es aufgrund einer Reihe von Ursachen schwer, sich an die Strafverfolgungsbehörden zu wenden. Mangelnde Sprachkenntnisse, die Furcht vor Abschiebung bzw. Haft spielen dabei eine ebenso große Rolle wie negative Erfahrungen mit den Behörden im Herkunftsland (Schmidbauer 2004, 27). Lagebilder und die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) können nur das Hellfeld wiedergeben. Aussagen über das Dunkelfeld nehmen den Charakter von Spekulationen an, wenn sie nicht systematischen, fachlich fundierten Überlegungen folgen. 3.2.2 Lagebilder Eine Darstellung des Hellfeldes im Phänomenbereich Menschenhandel in der Bundesrepublik bietet ein Lagebild, das vom BKA jährlich erstellt wird. Es ist in erster Linie für die polizeiliche Praxis gedacht, kann aber auch als fundierte Grundlage für kriminologische Forschungen dienen. Seit dem Jahr 2005 werden darin ebenso wie in der PKS ausschließlich abgeschlossene Ermittlungsverfahren als Grundlage für die Lageanalyse herangezogen. Hinsichtlich des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung basieren die Aussagen des Lagebildes demnach auf den Meldungen der Landeskriminalämter zu den im Berichtsjahr abgeschlossenen polizeilichen Ermittlungsverfahren gemäß §§ 232, 233a StGB. Menschenhandel zum Zwecke der Jürgen Stock
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Ausbeutung der Arbeitskraft wird auf der Grundlage der Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) betrachtet. 2003 wurden im Lagebild Menschenhandel erstmals auch Straftaten zum Nachteil deutscher Opfer erfasst, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass nicht nur Ausländer als Opfer in Frage kommen. Die wesentlichen Eckpunkte des „Bundeslagebildes Menschenhandel 2007“ können wie folgt benannt werden (BKA 2007b, 3–10): – Im Jahr 2007 wurden insgesamt 454 Ermittlungsverfahren wegen Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung abgeschlossen, davon 136 mit ausschließlich deutschen Opfern. Gegenüber dem Vorjahr (353 Ermittlungsverfahren) ist die Anzahl der Verfahren damit um rund 29 % angestiegen. Ursächlich für den deutlichen Anstieg der Anzahl der abgeschlossenen Verfahren sind die gestiegenen Fallzahlen in Berlin und Niedersachsen, was insbesondere auf die stringente Anwendung des § 232 Abs. 1 Satz 2 zurückzuführen sein dürfte. – Der im Zusammenhang mit der WM 2006 prognostizierte Anstieg von Fällen des illegalen Aufenthaltes im Zusammenhang mit der Prostitutionsausübung und von Fällen des Menschenhandels ist ausgeblieben. Die verstärkte Polizeipräsenz vor und während des Großereignisses hatte offenbar eine abschreckende und damit präventive Wirkung. Auch die Informations- und Aufklärungsarbeit der Nichtregierungsorganisationen hat sich offenbar positiv ausgewirkt. – Von den für das Jahr 2007 gemeldeten 454 Ermittlungsverfahren wurden 145 Verfahren (32 %) durch Anzeigen der Opfer und 76 Verfahren (17 %) durch Anzeigen Dritter eingeleitet. Etwas mehr als die Hälfte der Ermittlungsverfahren resultierten aus polizeilichen Kontrollmaßnahmen, geringfügig mehr als im Vorjahr (37 %). Trotz des hohen Anteils von Ermittlungsverfahren, die auf der Grundlage von Anzeigen eingeleitet werden, haben polizeiliche Initiativermittlungen (z.B. in Form von Kontrollen im Rotlichtmilieu) nach wie vor eine sehr große Bedeutung für die Identifizierung von Opfern des Menschenhandels und damit für die Aufhellung des Dunkelfeldes. – Im Rahmen der im Jahr 2007 abgeschlossenen Verfahren wurden 714 Tatverdächtige und damit 8 % mehr als im Vorjahr registriert, davon 78 % Männer. Deutsche Tatverdächtige (344) dominierten mit einem Anteil von rund 48 %. Rund 20 % der deutschen Staatsangehörigen hatten abweichende Geburtsländer, darunter Polen (20), Kasachstan (14), Russland (10) und die Türkei (6). – Im Jahr 2007 wurden insgesamt 689 Opfer des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung festgestellt. Gegenüber dem Vorjahr (757 Opfer) ist die Zahl der Opfer damit um rund 11 % zurückgegangen. Der Anstieg korrespondiert mit dem Anstieg der Anzahl der im Jahr 2006 gemeldeten Ermittlungsverfahren. Mit 95 % waren wie in den Vorjahren fast ausschließlich weibliche Opfer betroffen. – Deutsche Opfer hatten einen Anteil von rund 27 %, vier Prozentpunkte mehr als im Vorjahr. Entsprechend der Entwicklungen in den letzten Jahren stammte auch 2007 der Großteil der Opfer aus dem europäischen Raum. Die größte Anzahl ausländischer Opfer stammte aus Bulgarien. – Zum Menschenhandel zum Zwecke der Ausbeutung der Arbeitskraft (§ 233 StGB) und zur Förderung des Menschenhandels (§ 233a StGB) liegen sowohl bei den
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Staatsanwaltschaften und Gerichten als auch bei Polizeibehörden bislang nur geringe Erfahrungswerte zu dem Deliktsbereich vor. Nach bisherigen Erkenntnissen werden Delikte nach §§ 233, 233a StGB vielfach im Gaststättengewerbe zum Nachteil sich illegal in der Bundesrepublik aufhaltender Ausländer verübt oder die Opfer als Haushaltskräfte ausgebeutet. Häufiger Auslöser der Einreise in die westlichen EU-Staaten zur illegalen Arbeitsaufnahme sind Werbemaßnahmen in den Herkunftsländern (z.B. Polen, Rumänien) der Arbeitsmigranten, die in vielfältiger Art und Weise über alle zur Verfügung stehenden Medien (TV, Flugblätter, Zeitungen etc.) durchgeführt werden. In der PKS wurden für das Jahr 2007 insgesamt 92 Fälle des § 233 StGB registriert. Dies stellt eine Steigerung der Fallzahlen um 18 % gegenüber dem Vorjahr dar. Wegen Förderung des Menschenhandels zwecks Ausbeutung der Arbeitskraft wurden wie im Vorjahr lediglich drei Straftaten erfasst. Erkenntnisse zur Schleuserkriminalität werden vom BKA in Zusammenarbeit mit der Bundespolizei ebenfalls in einem umfassenden Lagebild erfasst, um neue Trends erkennen und den daraus resultierenden Handlungsbedarf sowie mögliche Bekämpfungsansätze aufzeigen zu können. Dabei fließen auch Themenbeiträge der Bundesländer ein, sofern sie von bundesweiter Relevanz sind. Entwicklungen im Bereich der (organisierten) Schleuserkriminalität und des Menschenhandels werden auch vom Bundeslagebild zur Organisierten Kriminalität (OK) nachgezeichnet, das seit 1991 ebenfalls jährlich vom BKA in Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern, der Bundespolizei und dem Zollkriminalamt herausgegeben wird. Es spiegelt die Situation der OK-Bekämpfung in Deutschland wider und zielt darauf ab, Entwicklungen und Brennpunkte im Bereich der OK darzustellen sowie die Strafverfolgungsbehörden bundesweit für neue Trends zu sensibilisieren, um polizeiliche Führungsinformationen zu liefern, so dass ein aus diesen Feldern resultierender Handlungsbedarf abgeleitet und Vorschläge zur Bekämpfung aufgezeigt werden können. Dagegen stellt der Zweite Periodische Sicherheitsbericht (PSB) der Bundesregierung (BMI/BMJ 2006) einen Überblick über die gesamte Sicherheitslage – also auch die allgemeine Kriminalität – dar. Er wurde wie schon der Erste PSB, der 2001 erschien, mit der Zielsetzung erstellt, ein möglichst umfassendes Bild der Kriminalitätslage zu zeichnen, das Erkenntnisse aus den vorhandenen amtlichen Datensammlungen – also auch den erwähnten Lagebildern des BKA – erstmalig in einem Bericht zusammenfasst. Diese wurden zugleich mit Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen zu Erscheinungsformen und Ursachen von Kriminalität verknüpft. Allerdings unterscheidet sich die herangezogene Datenbasis nicht von den bereits vom BKA erfassten Zahlen. Das Bundeslagebild zur Organisierten Kriminalität (OK) gibt zur Lage im Phänomenbereich Menschenhandel erwartungsgemäß keine Details preis, die nicht bereits im Lagebild Menschenhandel zu finden wären. Zur Schleuserkriminalität wird bezogen auf das Jahr 2007 dargestellt, dass 42 OK-Verfahren mit diesem deliktischen Schwerpunkt geführt worden seien (BKA 2007a, 22). Dies entspräche einem Anteil von 7 % (2006: 8,2 %) der OK-Verfahren. Außerdem lässt das Bundeslagebild zur OrJürgen Stock
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ganisierten Kriminalität eine auffällige ethnische Vielfalt der Tatverdächtigen erkennen. Die in den Verfahren ermittelten Geschleusten kamen hauptsächlich aus Vietnam und aus dem Irak. China spielte als Herkunftsland der Geschleusten lediglich in drei (2006: in Zehn) Verfahren eine Rolle. Zum Teil seien die Geschleusten in andere europäische Länder, insbesondere nach Italien, in die Niederlande, nach Belgien und Großbritannien durchgeschleust. Zielstaat für irakische Staatsangehörige sei vornehmlich Schweden. 3.3
Empirische Untersuchungen zum Dunkelfeld und zu phänomenspezifischen Problemen
Mit der Zielsetzung, das Dunkelfeld zu erhellen und weitere Zusammenhänge aufzuklären, die alleine aus einer Erfassung der Rohdaten nicht zu erschließen sind, wurden in den vergangenen Jahren mehrere empirische Untersuchungen, insbesondere zum Menschenhandel, durchgeführt. So bildeten wiederholte Anfragen im Deutschen Bundestag und in den Länderparlamenten zum Thema „Prostitutionstourismus, Heiratsvermittlung und Menschenhandel mit ausländischen Frauen“ den Anlass für eine Studie, die im Auftrag des Bundesministeriums für Frauen und Jugend zum „Umfeld und Ausmaß des Menschenhandels mit ausländischen Mädchen und Frauen“ durchgeführt wurde (HeineWiedenmann/Ackermann/Mahnkopf 1991). Die Analyse hatte sich zum Ziel gesetzt, die bisherige Praxis und Erfahrung von Behörden und Beratungsstellen im Umgang mit Menschenhandel zu erfassen und daraus praktische Maßnahmenvorschläge für die Polizei zu erarbeiten. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die Gründe, die einer Anklage bzw. Verurteilung wegen Menschenhandels entgegenstünden, in erster Linie die Komplexität der – häufig grenzüberschreitenden – Fallkonstellationen sowie Beweisschwierigkeiten sind. Außerdem konnte eine Reihe von Faktoren herausgefiltert werden, die sich im Zusammenhang mit den Betroffenen nachteilig auswirken (HeineWiedenmann/Ackermann/Mahnkopf 1991, 181–185): – die häufig noch vor der richterlichen Vernehmung erfolgte Abschiebung der Opfer bzw. Opferzeugen im Ermittlungsverfahren, – die „Nähe der Opfer zum Milieu“ im Sinne einer vorherigen oder noch während des Strafverfahrens andauernden Prostitutionsausübung sowie – widersprüchliche Aussagen der Zeugen und kulturell bedingte Missverständnisse bei den Vernehmungen. Es konnte nachgewiesen werden, dass ein grenzüberschreitendes, arbeitsteiliges Zusammenwirken der Täter den Tatnachweis häufig verhindert. Im Hinblick auf die Verurteilungspraxis der Gerichte wurden die Bedeutung von Prozessabsprachen sowie eine Voreingenommenheit gegenüber Opfern von Menschenhandel bzw. der Justiziabilität von Menschenhandelsfällen festgestellt. Die Studie schließt mit Handlungsempfehlungen an den Gesetzgeber und die Strafverfolgungsbehörden. So wird auf die Schwierigkeiten im Umgang mit Opferzeugen verwiesen, die sich durch deren Doppelrolle als Opfer einer Straftat und zugleich Beschuldigte wegen Verstoßes gegen das Ausländergesetz ergeben. Aufgrund dieser besonderen Lage wird empfohlen, von Abschiebehaft abzusehen (Heine-Wiedenmann/Ackermann/Mahnkopf 1991, 227).
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1.3 International organisierte Schleusungskriminalität
In organisatorischer Hinsicht wurde eine Professionalisierung der Strafverfolgungsbehörden gefordert und eine engere Zusammenarbeit aller bei Menschenhandelsverfahren beteiligten Behörden angemahnt. Gemeint waren vor allem die Zusammenarbeit zwischen der Polizei, den Fachberatungsstellen und den Ausländerbehörden (Heine-Wiedenmann/Ackermann/Mahnkopf 1991, S. 230–231). Als allgemeine Strategie zur Eindämmung von Menschenhandel schlugen die Autoren unter anderem eine weitergehende Liberalisierung (und Entkriminalisierung) der durch Ausländer praktizierten Prostitution vor, indem ihnen unter anderem ermöglicht wird, nach einer Anmeldung, in staatlich kontrollierten Bordellen der Prostitution nachzugehen (HeineWiedenmann/Ackermann/Mahnkopf 1991, 337). 2002 erschien eine von der Hilfsorganisation „Solidarität mit Frauen in Not“ (Solwodi) in Auftrag gegebene Analyse von Gerichtsakten, die den Problemen der Strafverfolgung und des Opferzeuginnenschutzes in Menschenhandelsprozessen auf den Grund ging. Als Anlass der Untersuchung wurden die in zahlreichen Veröffentlichungen beklagten Missstände im Bereich Menschenhandel aufgegriffen. Seltene Verurteilungen, die Beobachtung, dass das Strafmaß selten ausgeschöpft wird, häufige Ausweisungen der Opferzeugen vor Prozessbeginn und ein mangelnder Schutz von Opferzeuginnen veranlassten die Autoren der Studie dazu, den Ursachen dieser Entwicklungen nachzugehen. Probleme in Ermittlungsverfahren und Prozessverläufen, bei der Kooperation der involvierten Behörden und Fachberatungsstellen sowie bei der Betreuung der Opferzeugen sollten aufgezeigt werden. Die Ergebnisse der Studie lassen sich wie folgt zusammenfassen (Koelges/Thoma/Welter-Kaschub 2002, S. 140 ff): – Eine erfolgreiche Strafverfolgung hängt entscheidend von einer professionellen Betreuung der Opferzeugen und deren rechtlichem Beistand ab. – Eine frühzeitige Abschiebung der Opfer hat negative Auswirkungen auf den Prozessverlauf. – Das Strafmaß wird selten ausgeschöpft und es kommt kaum zu einer Einziehung der Gewinne der Täter. – Das Fehlen einer einheitlichen Regelung der Kostenübernahme für die Betreuung der Opferzeuginnen und die Finanzierung ihres Aufenthalts erweist sich als Hindernis für einen reibungslosen Prozessverlauf. – Es besteht eine dringende Notwendigkeit für eine verstärkte Kooperation der Strafverfolgungsbehörden mit den Beratungsstellen. 2004 entstand in Zusammenarbeit zwischen dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht und der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden eine umfassende Analyse mit dem Titel „Straftatbestand Menschenhandel – Verfahrenszahlen und Determinanten der Strafverfolgung“ (Herz/Minthe 2006). Das im Auftrag des Bundesministeriums des Innern und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführte Forschungsprojekt setzte sich zum Ziel, vor allem zwei Fragen zu beantworten: – Warum unterliegen die Fall- und Verfahrenszahlen zum Menschenhandel nach der PKS und den Lagebildern Menschenhandel des BKA nach §§ 180b, 181 a.F. StGB jährlichen Schwankungen und sind tendenziell rückläufig? Jürgen Stock
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1 Internationale Probleme
– Aus welchen Gründen gibt es regionale Unterschiede in den Fall- und Verfahrenszahlen? Darüber hinaus lagen der Untersuchung noch zahlreiche Leitfragen zugrunde, die sich u.a. auf die Faktoren bezogen, die typischerweise die Verfahrensauslösung und die Verfahrensführung bei Menschenhandel beeinflussen. Ein zentrales Ergebnis der Studie bezieht sich auf das Dunkelfeld des Deliktes Menschenhandel. Es wird von den Vertretern der Polizei auf durchschnittlich 91 % geschätzt, wobei die statistisch erfassten Fall- und Verfahrenszahlen weniger als ein Indikator für die tatsächliche Verbreitung des Delikts Menschenhandel, sondern vielmehr für das Ausmaß der Ermittlungsaktivitäten der Strafverfolgungsbehörden gesehen werden. Dieser Zusammenhang wird auch als Grund für jährliche Schwankungen in den Ermittlungszahlen angesehen. Folgerichtig beziehen sich auch die wichtigsten Empfehlungen der Forscher auf eine Erhöhung der für die Durchführung proaktiver Ermittlungen nötigen personellen Ressourcen. Erforderlich sei aber zugleich ein hoher Professionalisierungsgrad der eingesetzten Sachbearbeiter (Herz/ Minthe 2006, 315–318). Im Auftrag des Sachverständigenrats für Zuwanderung und Integration wurde 2004 eine umfangreiche Expertise zum Menschenschmuggel erstellt, wobei die Autoren einleitend darauf hinweisen, dass damit Schleusungsaktivitäten gemeint seien und keineswegs Menschenhandel (Neske/Heckmann/Rühl 2004, 3). Bei den Entwicklungen in dem untersuchten Deliktsbereich wird in den vergangenen Jahren eine Abnahme von Schleusungen nach Deutschland festgestellt. Die Bundesrepublik sei zunehmend zum Transitland geworden, wobei vor allem fehlende familiäre Bindungen der wichtigsten Herkunftsnationalitäten und fehlende Arbeitsmöglichkeiten als Ursache für diese Entwicklung ausgemacht wurden. Zwischen staatlichen Verfolgungsbehörden und Schleusern habe sich in den vergangenen Jahren ein „Wettrüsten“ entwickelt. Den zunehmenden staatlichen Bemühungen stünde eine zunehmende Professionalisierung der Schleuser durch Methodeninnovation gegenüber (Neske/Heckmann/Rühl 2004, 3). 3.4
Modi Operandi
Eine nähere Betrachtung der Modi Operandi von Schleuserkriminalität und Menschenhandel lässt schnell erkennen, dass große Überschneidungen vorliegen. So hat ein Täter, der Frauen in die Bundesrepublik bzw. in den Schengen-Raum bringen will, um sie der Prostitution zuzuführen, weitgehend gleiche logistische Herausforderungen wie ein Schleuser zu überwinden, der illegal Migranten gegen Entgelt in einen anderen Staat bringt. Bei Schleusungen reicht die „Angebotspalette“ – je nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten des Interessenten – von der einfachen Fußschleusung mit Finanzierungsmodellen, bei der die Geschleusten ihre „Schulden“ abarbeiten müssen, über die so genannte Garantieschleusung, bei der eine fehlgeschlagene Schleusung bis zum „Erfolg“ mehrmals wiederholt wird, bis hin zur „Luxusschleusung“ per Flugzeug (Minthe 2002, 4).
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1.3 International organisierte Schleusungskriminalität
Wichtige Informationen zur Logistik des Menschenhandels kann eine zu Beginn der 1990er Jahre im Auftrag des BKA durchgeführte Studie bieten (Sieber/Bögel 1993). Die Autoren hatten sich zum Ziel gesetzt, einen Beitrag zur Klärung von Struktur und Verbreitung der Organisierten Kriminalität und darauf aufbauend die Entwicklung von Präventionsansätzen und -möglichkeiten zu leisten. Die Analyse evaluiert in Teilbereichen organisierte Kriminalitätsstrukturen „im Zusammenhang mit dem Nachtleben“. Im Fokus der Untersuchung steht bei der Ausbeutung von Prostituierten die Rolle von Zuhältern und Bordellbetreibern in Deutschland, während bei den Ausführungen zum Menschenhandel vor allem der Prozess der Anwerbung und Verbringung der Betroffenen in die jeweiligen Zielländer untersucht wird. Nach Erkenntnissen der Studie unterscheidet sich OK von traditioneller (Banden-) Kriminalität vor allem durch eine spezielle Logistik. In allen untersuchten Deliktsbereichen würden komplexe Tätergruppen mit Hilfe einer ausgefeilten Logistik geschäftsähnlich agieren und dadurch erhebliche Finanz- und Machtpositionen erreichen. Den Tätern sei es gelungen, mit Hilfe von Korruption in einzelne Bereiche der Verwaltung einzudringen. Die Autoren der Studie kommen zu dem Ergebnis, dass die Verbringung von Opfern von Menschenhandel regelmäßig von internationalen Schlepperorganisationen, die aus ungefähr 20 Personen bestehen, geplant und durchgeführt wird. Die Mitglieder der Täterverbindungen hätten zumeist dieselbe Nationalität wie die geschleusten Personen und bedienten sich jeweils auch der Mitarbeit von Personen aus den Herkunftsländern der Betroffenen sowie den Transit- und Zielländern. Die Führungsebene der Organisationen befinde sich typischerweise außerhalb Deutschlands. Als zentrales Logistikelement wurde der Aufbau von „Schleusungsschienen“ und die Organisation der Anwerbung und Verbringung der Geschleusten in die jeweiligen Zielländer erkannt. In Deutschland angekommen, würden den Frauen regelmäßig die Ausweispapiere abgenommen und ihnen erklärt, was die Bordellbetreiber, denen sie anschließend für eine „Aufwandsentschädigung“ überlassen werden, von ihnen erwarteten (Sieber/ Bögel 1993, 230ff). Die Ergebnisse der Studie von Sieber und Bögel dürften 16 Jahre nach ihrer Veröffentlichung zwar in Teilbereichen überholt sein, können aber aufgrund der Tiefe der Untersuchung noch wertvolle Erkenntnisse liefern. Die Expertise zum Menschenschmuggel macht deutlich, dass die Schleuser in der Mehrzahl der Fälle die Migranten nicht mobilisierten, ihr Heimatland zu verlassen, sondern nur ihre logistischen Möglichkeiten anpriesen. Die Einschleusung von Migranten würde in vielen Fällen von bereits im Zielland ansässigen Angehörigen in Auftrag gegeben und finanziert. Die Arbeit der Schleuser sei in der Regel kurz nach der Ankunft im Zielland beendet. Unter den verschiedenen Abläufen der Schleusung dominierten internationale Formen der Etappenschleusung (Neske/Heckmann/Rühl 2004, 3).
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1 Internationale Probleme
3.5
Ursachen für illegale Migration und damit verbundene Schleuserkriminalität
Unter den zahlreichen, miteinander in engem Zusammenhang stehenden Ursachen für Schleuserkriminalität ist zunächst die Profitorientierung der Schleuser mit dem Ziel einer Gewinnmaximierung ohne jeden Skrupel zu nennen. Die Täter profitieren davon, dass sie durch ihre kriminellen Aktivitäten in diesem Deliktsfeld sehr schnell sehr viel Geld verdienen können, ohne zuvor aufwändige Investitionen tätigen zu müssen. Darüber hinaus sind sozioökonomische Gründe wie Armut, Arbeitslosigkeit, Verschuldung und ähnliche Probleme in den Herkunftsländern entscheidend. Durch diese bleibt die Nachfrage nach den „Dienstleistungen“ der Schleuser bestehen, mit deren Hilfe sich die potenziellen Kunden entweder eine neue Existenz in Deutschland bzw. einem anderen EU-Mitgliedstaat aufbauen wollen oder nur für einen begrenzten Zeitraum einem illegalen Beschäftigungsverhältnis nachgehen wollen (Aronowitz 2001, 169–171). Voraussetzung für die Einschleusung von Migranten ist die Existenz staatlicher Migrationsbarrieren. Im Extremfall völliger Freizügigkeit wäre die Zuwanderung von Migranten völlig ungehindert möglich, was eine Schleusung grundsätzlich überflüssig machen und eine Viktimisierung der Migrationswilligen vermeiden würde (Neske/ Heckmann/Rühl 2004, 9; Albrecht 2002b, 39; Aronowitz 2001, 163–195; Muus 2001, 42). Von diesen Überlegungen ausgehend eine weitgehende Umkehrung des Grundgedankens des Schengener Vertragswerkes (Freizügigkeit nach innen – dafür rigoroser Schutz der Außengrenzen) zu fordern, wäre allerdings falsch. Massive, unkontrollierte Migrationbewegungen in die Staaten der Europäischen Union, die zu erwarten wären, hätten nicht nur für die Arbeitsmärkte der Mitgliedstaaten, sondern auch für die innere Sicherheit nicht absehbare Folgen. Ursachen für Menschenhandel sind zunächst ebenfalls in dem Profitstreben der Täter zu sehen, wobei für die Opfer wiederum ökonomische Gründe eine Rolle spielen. Sie lassen sich zumeist ahnungslos für eine Reise in den Westen anwerben, weil sie als Tänzerinnen, Bardamen u.ä. arbeiten wollen, um ihren von zahlreichen Entbehrungen geprägten Lebensumständen zu entfliehen (Cantzler 2004, 24–26). Allerdings schafft erst die Nachfrage nach Prostituierten den Markt für die Ausbeutung der Opfer.
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Rahmenbedingungen nach deutschem Recht
Wie einleitend erwähnt, sind die einschlägigen Vorschriften, die Schleusungskriminalität im weitesten Sinne unter Strafe stellen, sowohl im Strafgesetzbuch (§§ 232, 233, § 233a StBG), als auch im Aufenthaltsgesetz (AufenthG) (§§ 96, 97 AufenthG) bzw. im Asylverfahrensgesetz (AsylVerfG) (§§ 84, 84a AsylVerfG) enthalten. Sowohl die Vorschriften zum Menschenhandel, als auch jene zur Schleuserkriminalität wurden 2005 geändert. Am 01.01.2005 wurde das Ausländergesetz (AuslG) durch Inkrafttreten des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts
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1.3 International organisierte Schleusungskriminalität
und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30.07.2004 aufgehoben. Anstelle des AuslG trat das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz). Damit wird eine Pönalisierung der Schleusung seit Beginn des Jahres 2005 durch § 96 AufenthG (Einschleusen von Ausländern) und § 97 AufenthG (Einschleusen mit Todesfolge; gewerbs- und bandenmäßiges Einschleusen) gewährleistet. Am 19.02.2005 trat das 37. Strafrechtsänderungsgesetz (Gesetz zur Änderung der Strafvorschriften zum Menschenhandel) in Kraft (BT-Drs. 15/4048). Die §§ 180b, 181 StGB wurden in den 18. Abschnitt „Straftaten gegen die persönliche Freiheit“ des Besonderen Teils des StGB überführt und dort mit Teilbereichen des § 234 (Menschenraub) zu einheitlichen und erweiterten Strafvorschriften gegen Menschenhandel zusammengefasst. Das 37. Strafrechtsänderungsgesetz führt dabei die beiden Tatbestände des Menschenhandels (§ 180b a.F.) und des schweren Menschenhandels (§ 181 a.F.) zu einer einheitlichen Strafvorschrift (§ 232 StGB neu, Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung) zusammen und führt als neue Straftatbestände den Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft (§ 233 StGB neu) und die Förderung des Menschenhandels (§ 233a StGB neu) ein. Somit umfasst der Straftatbestand des Menschenhandels seit 2005 neben dem Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung auch den Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft (Art. 1 StrÄG).
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Bekämpfungsstrategien
5.1
Bekämpfungsansätze auf internationaler Ebene
Die Bekämpfung von Schleuserkriminalität und Menschenhandel kann nicht ausschließlich als Aufgabe der deutschen Polizei betrachtet werden. Erforderlich ist ein umfassender, koordinierter und grenzübergreifender Ansatz, der alle „3Ps“ – prevention, prosecution und protection – gleichermaßen beinhaltet. Es liegt auf der Hand, dass angesichts der internationalen Dimension der Phänomene ein allein nationalstaatlicher Ansatz nicht greifen kann. Internationale Organisationen – staatliche wie die Vereinten Nationen (VN) und zahlreiche Nichtregierungsorganisationen – haben sich der Bekämpfung der international organisierten Schleusungskriminalität und insbesondere des internationalen Handels mit Menschen in den vergangenen Jahren auf vielfältige Weise angenommen. So enthält das so genannte „Palermo-Protokoll“ der VN (eigentlich „Übereinkommen A/55/383 der VN gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität“) vom 15.11.2000 zwei Zusatzprotokolle. Eines bezieht sich auf die Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, das andere betrifft die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg. Beide Zusatzabkommen sollen durch Definitionen der grundlegenden Begriffe zu einer weltweiten Rechtsharmonisierung beitragen, indem die Mitgliedstaaten der VN sie als Richtschnur für eine Pönalisierung der betreffenden Delikte im eigenen Staat anerkennen. Jürgen Stock
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1 Internationale Probleme
Die Europäische Union setzte die Bekämpfung des Menschenhandels im Februar 2001 erstmals in den Mittelpunkt eines informellen Treffens der Justiz- und Innenminister. Daraufhin wurde dieses gesamteuropäische Problem (Smartt 2003, 164–165) zu „einem der wichtigsten Ziele“ erklärt (Oberloher 2003, 23). Die Erstellung von Analysen zu den Deliktsfeldern Menschenhandel und Schleuserkriminalität gehört mittlerweile zu den Prioritäten im Tätigkeitsbereich der europäischen Polizeibehörde Europol, während mit Hilfe des Rahmenprogramms AGIS konkrete Projekte unterstützt werden, die der Förderung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen dienen. Darüber hinaus widmet sich das Programm „Daphne II“ direkt der Bekämpfung von Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und Frauen bzw. des Menschenhandels und der sexuellen Ausbeutung von Kindern. Der Europäische Rat einigte sich bereits 1998 auf eine Definition von „Menschenhandel“, die mit Wirkung vom 01.01.1999 für verbindlich erklärt wurde. Diese Definition diente als Grundlage für den am 19.07.2002 verabschiedeten Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung des Menschenhandels. Er wurde mittlerweile in fast allen EU-Mitgliedstaaten umgesetzt, die sich dadurch verpflichten, neben der sexuellen Ausbeutung auch die Ausbeutung der Arbeitskraft strafrechtlich unter Menschenhandel zu fassen. Eine kohärente Bekämpfung der Schleuserkriminalität wird im Wege einer Harmonisierung der Strafvorschriften der EU-Mitgliedstaaten angestrebt. Die Definition von Tatbeständen ist eine wichtige Voraussetzung, um auf der Basis eines gemeinsamen Verständnisses auch gemeinsame Maßnahmen einleiten zu können. So wurde mit der Richtlinie 2002/90/EG des Rates vom 28.11.2002 eine EU-weite Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt geregelt. Nach Art. 1 dieser Richtlinie wird jeder Mitgliedstaat verpflichtet, „angemessene Sanktionen“ für Beihilfetatbestände festzulegen. Am 28.11.2002 wurde auch der Rahmenbeschluss des Rates 2002/946/JI „betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt“ gefasst. Dabei standen dem Rat mit den Ergebnissen des Forschungsprojekts „Strafverfolgung und Opferschutz bei Menschenhandel“ wertvolle Erkenntnisse über die verschiedenen Rechtssysteme und Implementationsformen einer Reihe europäischer Staaten zur Verfügung (Niesner/Jones-Pauly 2001). Der Rahmenbeschluss trat am 05.12.2002 in Kraft und verpflichtet die Mitgliedstaaten, „die erforderlichen Maßnahmen zu treffen“, um den Vorgaben aus Brüssel nachzukommen. Dieser Rahmenbeschluss enthält keine gesonderte Definition der zu bestrafenden Taten, sondern bezieht sich auf die Definition der Richtlinie. Zu erwähnen ist darüber hinaus die Südosteuropäische Kooperationsinitiative (SECI) mit Sitz in Bukarest, zu deren Arbeitschwerpunkten die Bekämpfung des Menschenhandels in Südosteuropa gehört (Müller 2003, 43–44). Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) sowie die Baltic Sea Task-Force on Organised Crime widmen sich der Bekämpfung des Menschenhandels intensiv. Sinnvoll erscheinen insbesondere Bemühungen des Europarates um eine Koordinierung der Aktivitäten einzelner westeuropäischer Regierungen, internationaler –
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1.3 International organisierte Schleusungskriminalität
staatlicher sowie nichtstaatlicher – Organisationen und der Regierungen einiger südosteuropäischen Länder (Kartusch/Knaus/Reiter 2000, 80). So wichtig das Zusammenwirken zahlreicher Akteure angesichts der Vielschichtigkeit der Probleme und angesichts der hohen Zahl an Straftaten erscheint, bedarf dieses einer gelegentlichen Überprüfung unter Effektivitätsgesichtspunkten. Soweit es möglich ist, sollten die einzelnen Organisationen ihre Kompetenzen gegeneinander abgrenzen, um kontraproduktive ressourcenvergeudende Überlappungen zu vermeiden (Oberloher 2003, 19). 5.2
Bekämpfungsansätze der deutschen Polizei
Die deutsche Polizei setzt bei der Bekämpfung der Schleuserkriminalität im Bereich der operativen Maßnahmen unter anderem auf gemeinsame Ermittlungsgruppen von Polizei und Bundespolizei. Dieser Ansatz beruht auf der Erkenntnis, dass man der behörden- und ressortübergreifenden Materie nur durch konzertierte Aktivitäten wirksam begegnen kann. Daher werden auch die Ausländerbehörden, der Zoll, die Landeskriminalämter und die Justiz regelmäßig eingebunden. Außerdem kommen modernste technische Mittel wie Infrarot-Nachtsichtgeräte, Wärmebildkameras, CO2-Spürgeräte usw. zum Einsatz (Minthe 2002, 20). Durch unterschiedliche Maßnahmen soll die Tatgelegenheitsstruktur für Schleuser ständig verschlechtert und eine Verunsicherung bei den Tätern erreicht werden (Einmann 2002, 39). Allerdings sind auch konzeptionell-analytische Ansätze unverzichtbar. Erst durch eine konsequente Intelligence-Arbeit können Täterstrukturen umfassend aufgedeckt und die Entwicklungen an den klassischen Routen beobachtet werden. Insgesamt ist ein interdisziplinärer Ansatz gefordert. So kann die Entwicklung wirksamer Lösungsansätze für die Bekämpfung der Kriminalität nur dann erfolgreich vorangetrieben werden, wenn zunächst eine breit gefächerte Bestandsaufnahme der damit zusammenhängenden Probleme und Ursachen erfolgt. Mit dieser Zielsetzung erstellt das BKA jährlich die bereits erwähnten Lagebilder zum Menschenhandel und zur Organisierten Kriminalität. Darüber hinaus muss auch die Betreuung der Opferzeuginnen ernst genommen werden. An dieser Stelle arbeitet die Polizei seit Jahren erfolgreich mit Hilfsorganisationen zusammen, die sich der spezifischen Probleme der Opfer annehmen.
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Ansätze zur Prävention
Präventionsansätze im Bereich der Schleusungskriminalität erscheinen sehr schwierig, so lange zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und den Staaten jenseits der Außengrenzen ein großes wirtschaftliches Gefälle bestehen bleibt. Auch wenn man für die ökonomische Entwicklung in den Staaten in der unmittelbaren Nachbarschaft des Schengen-Raumes eine optimistische Prognose zugrundelegt, ist auf lange Sicht mit (illegaler) Migration aus anderen Teilen der Welt zu rechnen. Damit verbunden ist ein bleibender Anreiz für Schleuser, ihre „Dienstleistung“ anzubieten. Angesichts der Dimension dieser Problematik dürften lokal bzw. national begrenzte Präventionsansätze wenig Aussicht auf Erfolg haben. Zu begrüßen ist daher Jürgen Stock
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1 Internationale Probleme
die von der EU verfolgte Nachbarschaftspolitik, wonach ein „Ring befreundeter Länder“ unter anderem in langfristige Überlegungen zur inneren Sicherheit einbezogen werden soll. Zu den „Neuen Nachbarn“ sind enge, friedliche Beziehungen zu pflegen (Europäische Kommission: Mitteilung vom 12.05.2004 zum Thema „Europäische Nachbarschaftspolitik – Strategiepapier“, KOM (2004) 373). Präventionsansätze, die im Deliktsbereich Menschenhandel (insbesondere dem „Handel“ mit Frauen, die der Prostitution zugeführt werden) greifen sollen, müssen das Phänomen als gesamtgesellschaftliches Problem betrachten. Man darf nicht außer Acht lassen, dass die Frage nach den Ursachen letztlich zu dem Zusammenhang zwischen Angebot und Nachfrage führt. Damit wird deutlich, dass man mit Ansätzen zur Prävention auch die potenziellen Kunden erreichen muss, denen vor Augen zu führen ist, dass sie nicht eine ganz normale Dienstleistung in Anspruch nehmen, sondern unter Umständen zu einem Glied in der Kette von Verschleppung, Ausbeutung und Gewaltausübung gegen unschuldige Opfer werden (Aronowitz 2002, 185–190). Eine Sensibilisierung der Gesellschaft für das Thema Menschenhandel und die damit verbundene Erniedrigung der Frauen als bloßes Lustobjekt ist unabdingbar. Hier können vor allem Nichtregierungsorganisationen, die sich der Opfer seit Jahren annehmen und mit der Problematik bestens vertraut sind sowie (politische) Stiftungen – vor allem in Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen – wertvolle Aufklärungsarbeit leisten. Besonders wichtig erscheint auch die regelmäßige Präsenz der Polizei im Milieu. Erst dadurch wird es möglich, milieutypische Straftaten aufzudecken und zu unterbinden. Durch regelmäßige Kontrollen der einschlägigen Prostitutionsbetriebe und Anbahnungsgebiete kann die Polizei nicht nur mögliche Opfer aus der Abhängigkeit befreien, sondern durch den Kontrolldruck auch einen Beitrag zur Generalprävention leisten. Schon eine Verunsicherung potenzieller Täter kann dazu beitragen, dem Menschenhandel den Nährboden zu entziehen. Präventionsansätze im Deliktsfeld Menschenhandel würden jedoch zu kurz greifen, würden sie sich lediglich auf die Zielländer konzentrieren. Eine intensive Präventionsarbeit in den Herkunftsländern erscheint dringend geboten, weil man durch eine erfolgreiche Aufklärung verhindern kann, dass Frauen und Mädchen überhaupt unter Vorspiegelung falscher Tatsachen angeworben werden können und auch potenzielle Opfer eines ausbeuterischen Arbeitsverhältnisses eine Chance bekommen, sich gar nicht erst auf ein Angebot einzulassen. Hilfsorganisationen, die sich dieses Aspekts der Prävention angenommen haben, erscheinen die täglichen Bemühungen zumeist als Sisyphusarbeit. Zwar können mit großen Plakataktionen, z.B. in der Republik Moldova, zahlreiche potenzielle Opfer erreicht werden. Andererseits glauben insbesondere junge Mädchen den Versprechen der Täter, sie als Bardame, Tänzerin etc. zu engagieren. Vertreter von Hilfsorganisationen bekommen oft von Frauen zu hören, dass ihnen „so etwas nicht passieren“ würde. Diese für potenzielle Opfer von Zwangsprostitution typische Realitätsfurcht lässt sich auf ein Phänomen zurückführen, das bei Hilfsorganisationen, wie der Internationalen Organisation für Migration (IOM), als „Prinzessinnen-Komplex“ bekannt ist. Junge Osteuropäerinnen fühlen, dass sie etwas Besseres verdient hätten, als die desolate, chancenlose und triste Realität ihres
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1.3 International organisierte Schleusungskriminalität
Alltags. Sie meinen, ihnen läge die Zukunft zu Füßen und so lassen sie sich auf Schmeicheleien und Zukunftsversprechen der Menschenhändler ein (Bell/Haneke 2004, 104). Trotz der zahlreichen Probleme, die eine Umsetzung von Präventionsvorhaben erschweren, müssen diese konsequent fortgesetzt werden. Auf neue Entwicklungen muss mit Ansätzen reagiert werden, die den Erfordernissen der Zeit entsprechen.
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Ausblick
Wie aufgezeigt werden konnte, ist Schleusungskriminalität ein Deliktsfeld, dessen Ursachen eng mit den sozioökonomischen Verhältnissen in den Herkunftsländern der geschleusten bzw. „verkauften“ Personen zusammenhängen. Demzufolge werden künftige Entwicklungen mit den wirtschaftlichen Verhältnissen in den Staaten jenseits der EU-Außengrenzen korrelieren. Zu beobachten bleibt in diesem Zusammenhang, ob die Osterweiterung einen nachweisbaren Effekt auf das Kriminalitätsaufkommen in dem hier relevanten Phänomenbereich haben wird. Anzunehmen ist, dass das Wohlstandsgefälle innerhalb der EU abnehmen wird. Bereits heute können die neuen Mitgliedstaaten nicht mehr zu den „Problemländern“ gerechnet werden. Durch die Verlagerung der EU-Außengrenzen befinden sich nun jedoch Staaten in unmittelbarer Nachbarschaft der „Festung Europa“, in denen Armut und eine von vielen Menschen empfundene Perspektivlosigkeit „Push-Faktoren“ für einen hohen Migrationsdruck darstellen (Hansen 2002, 79). Kinderhandel – ein Thema, das immer öfter in Medienberichten Erwähnung findet, wird in Zukunft ebenfalls mit verstärkter Aufmerksamkeit zu beobachten sein. Zwar geben die Lagebilder derzeit keine Hinweise auf alarmierende Entwicklungen in diesem Bereich. Allerdings könnte Adoptionshandel aktuell werden – gewissermaßen als „Begleiterscheinung“ der Lebensentwürfe vieler Menschen in modernen Industriegesellschaften, die sich erst zu einem sehr späten Zeitpunkt für Kinder entscheiden (Hofmann 2002, 41). Auch hier erscheint nur ein multiperspektivischer und interdisziplinärer Bekämpfungsansatz erfolgversprechend. So beobachtet das Bundeskriminalamt die Entwicklungen hier wie in vielen anderen Bereichen nicht im Alleingang, sondern arbeitet konstruktiv mit den Länderpolizeien zusammen und steht in engem Dialog mit Fachberatungsstellen. Abschließend sei bemerkt, dass die Bekämpfung von Schleusungskriminalität konsequent und mit großer Intensität betrieben werden muss. Es gilt nicht nur, Delikte zu ahnden, bei denen die Täter zum Teil mit bespielloser Brutalität und Menschenverachtung vorgehen und zahllose menschliche Einzelschicksale betroffen sind. Es muss vermieden werden, dass kriminelle Machtstrukturen ausgebaut und Gewinne aus dem Bereich der Schleusungskriminalität in den legalen Wirtschaftskreislauf zurückfließen können. Darin ist eine der großen gesamteuropäischen Herausforderungen zu sehen, deren Ziel es sein muss, im Geiste des Amsterdamer Vertrages, dem Ideal eines europäischen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts einen bedeutenden Schritt näher zu kommen. Jürgen Stock
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1 Internationale Probleme
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1.3 International organisierte Schleusungskriminalität Mentz, U. (2001): Frauenhandel als migrationsrechtliches Problem. Europäische Hochschulschriften, Reihe II, Rechtswissenschaft, Bd. 3150. Frankfurt a.M./Berlin/Bern u.a.: Peter Lang. Minthe, E. (2002): Illegale Migration und Schleusungskriminalität: Einige einführende Anmerkungen. In: Minthe, E. (Hrsg.): Illegale Migration und Schleusungskriminalität. Kriminologie und Praxis (KUP) – Schriftenreihe der Kriminologischen Zentralstelle e.V. (KrimZ), Band 37. Wiesbaden: KrimZ, S. 17–28. Minthe, E. (2007): Zur Rechtstatsächlichkeit des Straftatbestandes Menschenhandel. Empirische Beobachtungen zu einer effektiven Strafverfolgung. In: Monatszeitschrift für Kriminologie. 90. Jg., Heft 5, S. 374–387. Muus, P. (2001): International Migration and the European Union, Trends and Consequences. In: European Journal on Criminal Policy and Research. 9. Jg., Nr. 1, S. 31– 49. Müller, R. (2003): Südosteuropäische Kooperationsinitiative (SECI). In: Die neue Polizei. Die aktuelle Fachzeitschrift für die Aus- und Fortbildung, 52. Jg., Nr. 4, S. 43–44. Neske, M./Heckmann, F./Rühl, S. (2004): Menschenschmuggel. Expertise im Auftrag des Sachverständigenrats für Zuwanderung und Integration. In: http://www.bamf.de/template/ zuwanderungsrat/expertisen/expertise_heckmann.pdf. Niesner, E./Jones-Pauly, C. (2001): Frauenhandel in Europa. Strafverfolgung und Opferschutz im europäischen Vergleich. Eine Studie des Frankfurter Instituts für Frauenforschung (FIF). Wissenschaftliche Reihe, Band 129. Bielefeld: Kleine. Oberloher, R. F. (2003): Das transnational organisierte Netz der Menschenhandelsverbrechen – Eine neue Herausforderung für die internationale Gemeinschaft in Sachen umfassender Sicherheitspolitik. Arbeitspapier Nr. 45 des Österreichischen Instituts für Internationale Politik. Wien: oiip. Schmidbauer, W. (2004): Kampf der Polizei gegen den Menschenhandel. In: Politische Studien, 55. Jg., Heft 395, S. 26–35. Schroeder, F.-C.: Das 37. Strafrechtsänderungsgesetz: Neue Vorschriften zur Bekämpfung des „Menschenhandels“. In: Neue Juristische Wochenschrift, 58. Jg., Nr. 20, S. 1393–1456. Sieber, U./Bögel, M. (1993): Logistik der Organisierten Kriminalität. Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsansatz und Pilotstudie zur Internationalen KfZ-Verschiebung, zur Ausbeutung von Prostitution, zum Menschenhandel und zum illegalen Glücksspiel. Wiesbaden: BKA. Smartt, U. (2003): Human Trafficking: Simply a European Problem? In: European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice, 11. Jg., Nr. 2, S. 164 –177.
Jürgen Stock
119
1.4 Der internationale Kriminalitätsvergleich mit Hilfe der Statistik Hanns von Hofer
Inhaltsübersicht 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Quellen der internationalen Kriminalstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Daten der Internationalen Kriminalpolizeiorganisation – Interpol . . . . . 2.2 Die Untersuchungen der Vereinten Nationen – UNCS . . . . . . . . . . . 2.3 European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics – European Sourcebook . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Internationale Opferbefragungen – ICVS/EU ICS . . . . . . . . . . . . . 2.5 Internationale Untersuchungen über selbstberichtete Kriminalität – ISRD 2.6 Europäische Strafvollzugsstatistik (SPACE I und SPACE II) . . . . . . . . 2.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Methodenprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Allgemeine Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Spezielle Methodenprobleme kriminalstatistischer Untersuchungen . . . . 3.3 Spezielle Methodenprobleme nicht-offizieller statistischer Untersuchungen 4 Einige Resultate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Selbstberichtete Kriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Opferbefragungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Reaktionsstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Internationale Gefangenenraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Internationale Rückfallstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Wie andere Wissenschaftsbereiche auch hat sich die empirische Kriminologie die Aufgabe gestellt, ihren Gegenstandsbereich systematisch zu untersuchen. In diesem Prozess kann die Kriminalstatistik eine wichtige Rolle spielen. Kriminalität, Reaktionen auf Kriminalität und andere relevante kriminologische Aspekte lassen sich heute im nationalen Zusammenhang unter anderem mit Hilfe der Polizei-, Gerichts- und Strafvollzugsstatistik (d.h. der offiziellen Kriminalstatistik) analysieren. Neuerdings stehen auch Untersuchungen über selbstberichtete Kriminalität und Opferbefragungen (d.h. nicht-offizielle Kriminalstatistik) zur Verfügung. Prinzipiell gilt für den internationalen Bereich nichts anderes; auch hier können offizielle und nicht-offizielle kriminalstatistische Daten verwendet werden. Hanns von Hofer
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1 Internationale Probleme
International vergleichende Studien haben gegenüber nationalen Studien, die im Prinzip immer Einzelfallstudien sind, den Vorteil, dass sie eher den Schluss zulassen, ob bestimmte Verhältnisse Ausdruck von mehr übergreifenden Regelmäßigkeiten sind oder nicht. Es ist Kaiser (1996:166) zuzustimmen, wonach vergleichende Studien dazu zwingen, Theorien und Modelle, die in einem bestimmten kulturellen System entstanden sind, hinsichtlich ihrer empirischen Bedeutsamkeit und Gültigkeit auch für andere Systeme zu überprüfen. Für die praktische Durchführung vergleichender kriminalstatistischer Projekte ist es von großer Bedeutung, dass Daten von hinreichender Qualität leicht zugänglich sind. Deshalb beginnt dieser Beitrag mit einer übersichtlichen Beschreibung der Quellen der internationalen Kriminalstatistik (s. auch Neapolitan, 1997; Howard, Newman & Pridemore, 2000; United Nations, 2003; Westfelt & Estrada, 2005; Killias, 2005; Licu, Barberet & Fisher, 2005). Ausgangspunkt bildet dabei ein weiter Begriff der Kriminalstatistik, der nicht nur die Polizeistatistik umfasst, sondern auch Gerichts- und Strafvollzugsstatistik sowie nicht-offizielle Quellen wie Opferbefragungen und Untersuchungen über selbstberichtete Kriminalität.
2
Die Quellen der internationalen Kriminalstatistik
Aus Raumgründen beschränkt sich der folgende Text auf sechs Quellen (Interpol, die Vereinten Nationen, das European Sourcebook, die internationalen Studien über selbstberichtete Kriminalität (ISRD) bzw. Viktimisierung (ICVS/EU ICS) sowie die Strafvollzugsstatistik des Europarates (SPACE)). Andere Quellen, wie beispielsweise die Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) über gewaltsame Todesfälle,1 die Zusammenstellungen des Home Office (Barclay & Tavares, 2003) 2 oder die des amerikanischen Justizministeriums (Farrington, Langan & Tonry, 2004; Tonry & Farrington, 2005) werden dagegen nicht näher behandelt. Gleiches gilt für die zusammenfassenden Berichte der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA),3 des „World Drug Report“,4 des „Global Report on Violence and Health“ (WHO, 2002), des „World Youth Report“ 5 und der Transcrime Studie betreffend Korruption, Betrug, illegalem Handel mit Kulturgütern, Missbrauch von Warenzeichen und sexuellem Missbrauch von Kindern (Savona & Vettori, 2006).
1 http://www.who.dk/hfadb. Diese und alle anderen Referenzen zu Internetadressen waren am 15. Dezember 2007 gültig. 2 S. nun auch Tavares & Thomas (2007) sowie die EUROSTAT-Datenbank http://epp.eurostat. ec.europa.eu/portal/page?_pageid=1996,45323734&_dad=portal&_schema=PORTAL&screen= welcomeref&open=/&product=EU_MASTER_crime&depth=2 3 http://www.emcdda.europa.eu/html.cfm/index419EN.html 4 http://www.unodc.org/unodc/en/data-and-analysis/WDR.html 5 http://www.un.org/esa/socdev/unyin/wyr03.htm
122
Hanns von Hofer
1.4 Der internationale Kriminalitätsvergleich mit Hilfe der Statistik
2.1
Daten der Internationalen Kriminalpolizeiorganisation – Interpol
Die Statistik von Interpol, der Internationalen Kriminalpolizeiorganisation, ist die älteste Zusammenstellung von Daten auf diesem Gebiet. Die Daten, die sich seit 1950 finden und gut zehn verschiedene Straftaten umfassen, beziehen sich auf angemeldete Straftaten sowie auf verdächtigte Personen. Die Daten werden von den nationalen Polizeiorganisationen geliefert und von Interpol ohne nähere Qualitätskontrollen und unkommentiert veröffentlicht. Nach Angaben von Neapolitan (1997: 14) haben über 150 Nationen zumindest einmal an den Untersuchungen teilgenommen. Seit 2004 sind die Daten jedoch nicht mehr allgemein zugänglich,6 womöglich wegen der Kritik, die gegen die Datenqualität erhoben worden ist (z.B. Aebi, Killias & Tavares, 2002). Festzuhalten bleibt, dass die Interpoldaten Ausgangspunkt für zahlreiche kriminologische Studien gewesen sind. Beispielsweise verzeichnet die kriminologische Datenbank Criminal Justice Abstracts für die Jahrgänge 1968–2006 mindestens 26 international vergleichende Studien, die auf Interpoldaten basieren. 2.2
Die Untersuchungen der Vereinten Nationen – UNCS
Seit den 1970er Jahren veröffentlichen die Vereinten Nationen (UNO) kriminalstatistische Daten von ihren Mitgliedsländern. Die Datenerhebung erfolgt mit Hilfe von Fragebögen, die über die diplomatischen Dienste verschickt und von den zuständigen nationalen Behörden ausgefüllt werden. Die Daten umfassen Polizei-, Gerichts- und Strafvollzugsstatistik, Daten über Personalstärken in verschiedenen Bereichen des Rechtswesens sowie Haushaltsdaten. Gewisse Qualitätskontrollen werden durchgeführt. Das Projekt läuft unter dem Namen United Nations Surveys of Crime Trends und Operations of Criminal Justice Systems (UNCS/CTS) und ist gegenwärtig dem Office on Drugs and Crime – Centre for International Crime Prevention (UNODC) der UNO in Wien organisatorisch zugeordnet. Bis Ende 2008 wurden zehn Untersuchungen durchgeführt, die zusammen die Jahre 1970–2006 umfassen. Insgesamt haben 109 Länder zumindest einmal an den Untersuchungen zwischen 1980 und 1997 teilgenommen; 92 Länder nahmen an der siebten, 65 Länder an der achten, 71 Länder an der neunten und 86 Länder an der zehnten Untersuchung teil. An der zehnten Untersuchung wird gegenwärtig gearbeitet. Daten und Zwischenberichte sind im Internet abrufbar.7 Eine beschreibende Analyse beinhaltet der „Global Report on Crime and Justice“ (Newman, 1999). Für die europäische Region ist das European Institute for Crime Prevention and Control, affiliated with the United Nations (HEUNI) in Helsinki zuständig (s. etwa Aromaa, Leppä, Nevala & Ollus, 2003).8 6 http://www.interpol.int/public/ICPO/GeneralAssembly/AGN75/resolutions/AGN75RES19. asp – Es bleibt abzuwarten, ob die kürzlich publizierte EUROSTAT-Datenbank (s. Fn 2 oben) die entstandene Lücke für Europa schließen wird. 7 http://www.unodc.org/unodc/en/data-and-analysis/United-Nations-Surveys-on-CrimeTrends-and-the-Operations-of-Criminal-Justice-Systems.html 8 http://www.heuni.fi/. Andere Institute sind UNAFEI (http://www.unafei.or.jp/english/), das für Asien zuständig ist; UNAFRI (http://www.unafri.or.ug/) für Afrika und ILANUD (http:// ilanud.org.br/) für Südamerika. S. auch UNICRI in Turin (http://www.unicri.it). Hanns von Hofer
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1 Internationale Probleme
2.3
European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics – European Sourcebook
Im Jahr 1993 begann eine Gruppe von Experten innerhalb des Europarates in Straßburg mit der Arbeit, pan-europäische kriminalstatistische Daten zusammenzustellen, die nicht nur Polizei-, Gerichts- und Strafvollzugsstatistik umfassen sollten, sondern auch Daten über das staatsanwaltschaftliche Verfahren und Rückfallstatistik, Personal- und Haushaltsdaten sowie Untersuchungen über selbstberichtete Kriminalität und Opferuntersuchungen. Als Vorbild diente das Sourcebook of Criminal Justice Statistics, das vom U.S.-amerikanischen Justizministerium herausgegeben wird.9 Der weitgesteckte Ambitionsrahmen hat sich in der Praxis nicht verwirklichen lassen und der Europarat fungiert auch nicht mehr als Schirmherr des Projektes. Trotz Finanzierungsprobleme sind dennoch bislang vier Zusammenstellungen veröffentlicht worden (Council of Europe, 1995; Council of Europe, 1999; WODC, 2003; WODC, 2006), die die Jahre 1990–2002/03 umfassen. Im Gegensatz zu Interpol und der UNO werden die Daten für das European Sourcebook nicht von den zuständigen nationalen Behörden selbst zusammengestellt, sondern von einem Netzwerk nationaler Korrespondenten, von denen ein Teil Experten auf dem Gebiet der Kriminalstatistik sind. Systematische Qualitätskontrollen werden vorgenommen (Killias & Rau, 2000:7–9; WODC, 2006: 18–20). Daten sind im Internet abrufbar.10 An der vierten Auflage wird gegenwärtig gearbeitet. 2.4
Internationale Opferbefragungen – ICVS/EU ICS
Seit Ende der 1980er Jahre ist der erfolgreiche Versuch unternommen worden, international vergleichbare Opferbefragungen durchzuführen. Die Initiative ging von der Forschungsabteilung des niederländischen Justizministeriums aus und fand Unterstützung von UNICRI. Opferbefragungen zielen darauf ab zu untersuchen, in welchem Maß die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit oder bestimmte Teile der Bevölkerung Opfer von Straftaten geworden ist. Darüber hinaus werden in dem hier beschriebenen Projekt auch Fragen über die Einstellung zur Polizei, dem Rechtssystem und zu Gefühlen der (Un)Sicherheit gestellt. Das Projekt lief ursprünglich unter dem Namen International Crime Victims Survey (ICVS), ein Name der dem U.S.-amerikanischen National Crime Victimization Survey (NCVS) des Census Bureaus nachgebildet war. Nunmehr ist der Name European Crime and Safety Survey (EU ICS). Bisher sind fünf Untersuchungen durchgeführt worden, die die Jahre 1988, 1991, 1995, 1999 und 2004 betreffen (van Dijk, Mayhew & Killias, 1990; Alvazzi del Frate, Zvekic & van Dijk, 1993; Mayhew & van Dijk, 1997; van Kesteren, Mayhew & Nieuwbeerta, 2000; van Dijk et al., 2007).11 Besonders hervorzuheben ist, dass sich die Untersuchungen nicht auf westliche Länder beschränkt haben, sondern auch Zentral- und Osteuropa und Städte in der Dritten Welt um-
9 http://www.albany.edu/sourcebook/ 10 S. http://www.europeansourcebook.org/ 11 S. auch http://www.unicri.it/wwd/analysis/icvs/index.php
124
Hanns von Hofer
1.4 Der internationale Kriminalitätsvergleich mit Hilfe der Statistik
fassten (Newman, 1999; Nieuwbeerta, 2002; Gruszczynska, 2004). Insgesamt haben bislang über 70 Länder zumindest einmal an einer der Untersuchungen teilgenommen (Alvazzi del Frate, 2004: 137). Weitere Informationen und Daten finden sich im Internet.12 Da der ICVS Haushalte befragt und damit auf die Erfassung von Kriminalität im Privatbereich abstellt, wurde 1994 der International Commercial Crime Survey (ICCS) gestartet (van Dijk & Terlouw, 1996), der Viktimisierungserfahrungen u.ä. im Kleinhandelsbereich untersucht. Der ICCS hat seinerseits zu Erweiterungen geführt, wobei besonders Fragen zum Vorkommen von Korruption hervorzuheben sind. Diese Untersuchungen – unter dem Namen International Crime Business Survey (ICBS) – sind speziell in osteuropäischen Städten zum Einsatz gekommen (Alvazzi del Frate, 2004). In Zusammenarbeit zwischen UNOCD und UNIDO ist diese Initiative zu einem standardisierten „Crime and Corruption Business Survey“ (CCBS) weiter entwickelt worden, der sich auf Fragen der Bestechung, Korruption, Betrug, Erpressung und andere Formen von Kriminalität konzentriert, die sich gegen das Wirtschaftsleben richten.13 In diesem Zusammenhang sind auch die globalen Economic Crime Surveys zu nennen, die sich seit 2001 in der Regie von PricewaterhouseCoopers 14 an mittlere und große Unternehmen wenden (Bussmann, 2005), sowie die internationalen Korruptionsindices, die regelmäßig von Transparency International15 publiziert werden. Als eine andere wichtige Erweiterung der internationalen Opferbefragungen ist der International Violence Against Women Survey (IVAWS) zu betrachten, der den kanadischen Untersuchungen aus den 1990er Jahren nachgebildet ist (Johnson, 1996). Wie der Name besagt, ist es Ziel dieses Projekts, die Gewalterfahrungen von Frauen zu untersuchen (Ollus & Nevala, 2005; Nevala, 2005). Das Projekt befindet sich noch immer im Durchführungsstadium, weshalb vergleichende Resultate bislang fehlen.16 Jedoch sind inzwischen einige nationale Studien veröffentlicht worden, die auf dem IVAWS basieren, so z.B. Killias, Simonin & DePuy (2004) für die Schweiz, Mouzos & Makkai (2004) für Australien und Balvig & Kyvsgaard (2006) für Dänemark. In diesem Zusammenhang kann auch auf Resultate der WHO Multi-country Study on Women’s Health and Domestic Violence against Women (Garcia-Moreno et al., 2005) verwiesen werden. Wissenschaftliche Studien, die auf Daten des ICVS zurückgreifen, haben beispielsweise Alvazzi del Frate, Zvekic & van Dijk (1993), Nieuwbeerta (2002) und Kury (2003) zusammengestellt.17 Die Frage, welche der vier bisher beschriebenen Projekte die qualitativ besseren Daten liefert, ist in der Literatur untersucht worden. Abgesehen davon, dass der
12 http://www.unicri.it/icvs/ und nun auch http://www.europeansafetyobservatory.eu/ 13 http://www.unodc.org/unodc/en/data-and-analysis/Crime-and-Corruption-BusinessSurveys.html 14 http://www.pwc.com/extweb/pwcpublications.nsf/docid/1E0890149345149E8525737000705AF1 15 http://www.transparency.de/Korruptionsindices.382.0.html 16 http://www.heuni.fi/12859.htm. S. doch nun auch Johnson, Ollus & Nevala (2008). 17 S. auch http://rechten.uvt.nl/icvs/ und http://www.europeansafetyobservatory.eu/euics_rp.htm Hanns von Hofer
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1 Internationale Probleme
statistische Qualitätsbegriff weiter zu fassen ist als nur begriffliche und zahlenmäßige Genauigkeit, sind Aebi, Killias & Tavares (2002) der Auffassung, dass das European Sourcebook Projekt bessere Daten liefert als Interpol. Die Untersuchung von Howard & Smith (2003), die Daten von Interpol, des UNCS, des European Sourcebook und des ICVS verglichen haben, findet dagegen wenig substantielle Unterschiede zwischen Interpol- und Sourcebookdaten (ähnlich auch Bennett & Lynch (1990) und Westfelt (2001)). 2.5
Internationale Untersuchungen über selbstberichtete Kriminalität – ISRD
Untersuchungen über selbstberichtete Kriminalität haben unter anderem den Zweck, das Vorkommen von Kriminalität und anderen problematischen Verhaltensweisen zu studieren. Untersuchungen, die die gesamte Bevölkerung betreffen, existieren kaum. Demgegenüber gibt es eine Anzahl von Studien, die sich auf Schüler oder junge Erwachsene (z.B. Wehrpflichtige) beziehen. Regelmäßig wiederkehrende nationale Untersuchungen über selbstberichtete Kriminalität sind relativ selten. Es gibt sie unter anderem in England, Finnland, Holland, Schweden und den USA (vgl. Killias, 2002: 67). Vergleiche zwischen solchen nationalen Studien sind aus verständlichen Gründen mit einer Reihe von Problemen verknüpft. Auf eine internationale Initiative hin startete deshalb das holländische Justizministerium ein Projekt, in dem versucht wurde, ein mehr oder weniger einheitliches Untersuchungsinstrument in den verschiedenen Teilnehmerländern anzuwenden, um Niveau und Struktur der Jugendkriminalität zu messen. Daten wurden in 11 europäischen Ländern und in Nebraska erhoben. Ein umfassender Report von diesem Projekt – International Self-Report Delinquency Study, ISRD – erschien 1994 (Junger-Tas, Terlouw & Klein, 1994; s. nun auch Barberet, Bowling, Junger-Tas et al., 2004 und Junger-Tas, Haen Marshall & Ribaud, 2003). Eine Wiederholung dieser Untersuchung (ISRD-2) ist durchgeführt worden (Junger-Tas, 2005; 2007; Kivivuori, 2007). Eine dem Umfang nach bescheidenere, aber vergleichbare internationale Initiative ist eine Schülerbefragung in den Ländern des Ostseeraums unter Leitung der Universität Greifswald (Dünkel, Gebauer & Kestermann, 2005). Das Projekt hat Gewalterfahrungen und selbstberichtete Gewalt und andere Delinquenz zum Gegenstand. Der dabei verwendete Fragebogen entspricht in groben Zügen dem Fragebogen, der am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN)18 für entsprechende nationale Untersuchungen entwickelt worden ist. 2.6
Europäische Strafvollzugsstatistik (SPACE I und SPACE II)
Europäische Gefängnisstatistik und andere Strafvollzugsdaten existieren in variierendem Ausmaß seit den 1970er Jahren. In diesem Zusammenhang hat der Europarat eine zentrale Rolle gespielt. Laufende Zugangs- und Querschnittsdaten über den geschlossenen Vollzug finden sich seit 1983 (Statistique Penale Annuelle du Conseil de
18 http://www.kfn.de
126
Hanns von Hofer
1.4 Der internationale Kriminalitätsvergleich mit Hilfe der Statistik
l’Europe – SPACE I) 19 und mehr sporadisch auch für ambulante Maßnahmen (SPACE II).20 Walmsley (2001; 2003; 2005; 2007) stellt seit Ende der 1990er Jahre eine globale Liste der Gefangenenraten zusammen. Gefangenenraten werden auch in den wiederkehrenden UNO-Untersuchungen und im European Sourcebook veröffentlicht (s. oben 1.2 und 1.3). Aktuelle Daten (doch ohne Qualitätsdeklarationen) veröffentlicht das International Centre for Prison Studies.21 2.7
Zusammenfassung
Insgesamt zeigt die Übersicht, dass es heute ein reichhaltiges kriminalstatistisches Material gibt, mit dessen Hilfe internationale Vergleiche vorgenommen werden können. Ein großer Sprung vorwärts geschah in den 1980er und vor allen Dingen in den 1990er Jahren (vgl. Hardic-Bick, Sheptycki & Wardak, 2005), wobei internationale Organisationen (z.B. UNICRI), aber auch Initiativen einzelner Länder (z.B. Holland, England und Schweiz) eine wichtige Rolle gespielt haben. Weiterhin zeigt sich, dass internationale Vergleiche heute weit mehr umfassen als nur die Frage, ob die Kriminalitätsraten in verschiedenen Ländern höher oder niedriger sind. Verglichen werden kann, in welchem Ausmaß Bevölkerungen über Kriminalität berichten und deren Einstellungen zu Fragen von Kriminalität, Sanktionen und Behörden. Weiterhin werden Aufklärungsquoten (Smit, Meijer & Groen, 2004) untersucht, die Polizeidichte, das staatsanwaltschaftliche Verfahren (Jehle, 2000), die Verteilung von Sanktionen (Barclay, 2000), die Länge verhängter Gefängnisstrafen, ambulante Maßnahmen, Belegungen in den Strafanstalten und Rückfall (Council of Europe, 1995) oder die Funktionsweisen von Strafverfolgungssystemen im Allgemeinen (Sung, 2006). Einige Resultate davon werden unten unter Punkt 4 näher dargestellt. Auf theoretischem Gebiet haben besonders zwei Fragen im Vordergrund gestanden: Erklärungen der zeitlichen und räumlichen Variationen von Kriminalitäts- bzw. von Gefangenenraten. Übersichten über den Stand der Forschung finden sich beispielsweise bei Neuman & Berger (1988), Neapolitan (1997: 68 ff) und Howard, Newman & Pridemore (2000: 148 ff). Was die Gefangenenraten anbetrifft, sei auf die vielfältigen Nachweise bei Sutton (2004), Ruddell (2005) und Lappi-Seppälä (2007) verwiesen. Der Vorteil von internationalen Vergleichen liegt auf der Hand. Er ist nicht nur von methodologischer und theoretischer, sondern auch kriminalpolitischer Art. Mit der zunehmenden Politisierung der Kriminalpolitik (s. etwa Lautmann, Klimke & Sack, 2004) werden konkurrierende Problembilder und Erklärungsversuche in den nationalen Debatten gegenüber gestellt. Dabei wird zumeist stillschweigend davon ausgegangen, dass es nationale Verhältnisse sind, die Problembilder und Lösungen bestimmen. Internationale Vergleiche können demgegenüber zeigen, dass gleichartige Probleme auch in anderen Ländern existieren – trotz teilweise anderer Rahmenbedingungen. 19 http://www.coe.int/T/E/Legal_affairs/Legal_co-operation/Prisons_and_alternatives/ Statistics_SPACE_I/ 20 http://www.coe.int/T/E/Legal_affairs/Legal_co-operation/Prisons_and_alternatives/ Statistics_SPACE_II/ 21 http://www.prisonstudies.org/ Hanns von Hofer
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1 Internationale Probleme
Gleichzeitig kann sich herausstellen, dass – trotz gleicher Problemlage und gleichen Rahmenbedingungen – andere Lösungen gewählt wurden. Internationale Vergleiche ermöglichen somit, Kenntnisse und Einsichten zu erwerben, die einer rein nationalen Sichtweise verschlossen bleiben können (vgl. Schneider, 2001: 262 ff). Es ist aber auch der Einfluss angloamerikanischen Effektivitätsdenkens (vgl. etwa die Begriffe bench marking und managerialism (Clarke & Newman, 1997)), der den Ruf nach international vergleichbaren Daten hat wachsen lassen. Ausdruck dafür sind etwa die Arbeiten von van Dijk & de Waard (2000), Blank et al. (2004), Kuhry et al. (2004) oder die des Europarates (Council of Europe, 2004, 2006), die Kosten und Effektivität der Strafverfolgungsapparate analysieren. Auch innerhalb der EU formieren sich nun solche Interessen (vgl. Lewis, Barclay, Aubusson de Cavarlay et al., 2004: 218 ff). Historisch gesehen ist der Wunsch nach international vergleichbaren Daten ungefähr eben so alt wie die Kriminalstatistik selbst. Die Bestrebungen gehen in der Tat bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück (Vetere-Newman, 1977; Beirne & Nelken, 1997; Bennett, 2004; Killias, 2005). Die Anschaffung von Daten hat zwar, wie dargestellt, zwischenzeitlich große Fortschritte gemacht. Dennoch fragt sich nach wie vor, ob die Daten denn auch wirklich vergleichbar und anwendbar sind. Die Diskussion darüber schwankt gewöhnlich zwischen Optimismus und Pessimismus (Young, 2005).
3
Methodenprobleme
3.1
Allgemeine Probleme
Internationale Vergleiche, die auf kriminalstatistische Daten zurückgreifen, erfordern zwar nicht identische, aber doch vergleichbare Begriffe, Erhebungs- und Darstellungsmethoden. Vergleichbarkeit kann auf verschiedene Weisen erreicht werden. Entweder werden speziell gerichtete Erhebungen durchgeführt, wie beispielsweise die oben genannten Studien über selbstberichtete Kriminalität (ISRD) oder die internationalen Opferbefragungen (ICVS/EU ICS), die auf einem gemeinsamen Befragungsinstrument aufbauen. Oder es werden bereits national veröffentlichte Daten sekundärstatistisch aufgearbeitet und mit Hilfe von Kommentaren und Erklärungen einigermaßen vergleichbar gemacht (so z.B. die Veröffentlichungen der UNO oder die des Europarates; ein neueres deutsches Beispiel ist die Arbeit von Thome & Birkel (2007) über die Entwicklung der Gewaltkriminalität in Deutschland, England & Wales und Schweden). Die letztere Methode ist die gewöhnlichere, obwohl sie regelmäßig weniger zuverlässige Resultate liefert. Ein Nachteil internationaler kriminalstatistischer Daten ist, dass sie sich zumeist auf einige wenige Deliktstypen beschränken und die Daten in der Regel stark aggregiert sind, was ihren Nutzen für kriminalpolitische Problemidentifikationen und Planung erheblich begrenzt. Der Detailreichtum, den beispielsweise rechtsvergleichende Studien aufweisen können, ist auf dem Gebiet der Kriminalstatistik nicht erreichbar, besonders dann nicht, wenn eine Vielzahl von Ländern in die Untersuchung einbezogen wird. Um ein Beispiel zu geben: Die oben genannte Arbeitsgruppe des Europarates
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Hanns von Hofer
1.4 Der internationale Kriminalitätsvergleich mit Hilfe der Statistik
nahm Mitte der 1990er Jahre Kontakt zu 37 europäischen Ländern auf, von denen 28 Daten lieferten. Dabei verfügten 23 Länder über Daten bezüglich polizeilich registrierten Raubs; zwanzig Länder waren darüber hinaus in der Lage, Auskunft über bewaffneten Raub zu geben, aber nur 10 Länder konnten angeben, wie viele Personen für bewaffneten Raub bestraft worden sind. Internationale Zusammenstellungen von Statistik kennzeichnen darüber hinaus oft auch Lücken und Diskontinuitäten. Es ist ein Qualitätsmerkmal für gute Statistik, dass sie vollständig und aktuell ist. Internationale Vergleiche sind oft weder vollständig 22 noch aktuell. Die Daten des Mitte 2006 erschienenen European Sourcebook (3. Aufl.) betrafen beispielsweise 2002 und 2003. Zwar soll das Aktualitätsgebot nicht übertrieben werden, vor allem dann nicht, wenn es um wissenschaftliche Fragestellungen geht. Für den politischen und journalistischen Gebrauch sind derartige Zeitverschiebungen jedoch nicht unproblematisch. Von solchen allgemeinen Problemen abgesehen, finden sich eine Reihe von speziellen Problemen, die verschieden ausfallen, je nach dem ob es sich um kriminalstatistische oder um Surveyuntersuchungen handelt. 3.2
Spezielle Methodenprobleme kriminalstatistischer Untersuchungen
Die Frage, ob sich Daten, die aus offiziellen kriminalstatistischen Publikationen stammen, in kriminalpolitischen und wissenschaftlichen Zusammenhängen verwenden lassen, gehört zu den klassischen Fragen der Kriminologie. Eine eindeutige Antwort kann nicht gegeben werden. Es lässt sich jedoch sagen, dass die Frage nicht mit theoretischen Analysen beantwortet werden kann. Das Problem ist empirisch, d.h. es ist der konkrete Anwendungsfall selbst, der entscheidet, ob Daten aus offiziellen Kriminalstatistiken verwendet werden können oder nicht (vgl. Bennett, 2004; Sheptycki 2005). Dabei lassen sich drei Fragetypen unterscheiden (von Hofer, 1980): • Strukturvergleiche, • Niveauvergleiche und • Entwicklungsvergleiche Strukturvergleiche beziehen sich auf Fragen wie: Dominieren Eigentumsdelikte in den Polizeistatistiken verschiedener Länder? Wie sieht die Altersverteilung der Tatverdächtigten in den 15 alten EU-Staaten aus? Bei Niveauvergleichen dagegen wird beispielsweise untersucht, welche Länder die höchsten Raubfrequenzen aufweisen oder wie die Geldstrafen verbreitet sind. Entwicklungsvergleiche versuchen schließlich Fragen zu beantworten, wie sich die Jugendkriminalität in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelt hat oder ob Gefängnispopulationen steigen oder sinken. Ehe solche Fragen beantwortet werden können, muss Folgendes beachtet werden. Kriminalstatistische Daten, unabhängig davon ob es sich um Polizei-, Reaktions-
22 S. beispielsweise die Zusammenstellung der UNO von Kriminalitätsraten weltweit zwischen 1980 und 1997: http://www.unodc.org/pdf/crime/sixthsurvey/TotalRecordedCrime.pdf
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1 Internationale Probleme
oder Strafvollzugsstatistik handelt, setzen sich aus drei Komponenten zusammen, nämlich • faktischen Verhältnissen wie Kriminalitätsneigung, Gelegenheitsstruktur, Aufdeckungsrisiken, Anzeigeverhalten der Bevölkerung oder der Behörden; • rechtlichen Verhältnissen wie Strafgesetzgebung, Strafprozessordnung und andere relevante Rechtsverhältnisse und die formale Organisation des Rechtswesen einerseits sowie die praktische (informale) Anwendung des Rechts und die praktische Arbeitsweise der Behörden andererseits; • statistischen Verhältnissen, d.h. welche formalen Erhebungs- und Bearbeitungsmethoden gelten und wie sie praktisch umgesetzt werden. Zuverlässige Struktur- und Niveauvergleiche setzen voraus, dass der Analytiker hinreichende Kontrolle über die Verschiedenheiten von rechtlichen und statistischen Regeln hat, ehe beurteilt werden kann, ob observierte Gleich- oder Verschiedenheiten tatsächlich existieren, d.h. auf faktische Verhältnisse zurückzuführen sind. Bei Trendvergleichen ist die Sachlage etwas anders. Hier sind eventuelle Niveauunterschiede vorderhand nicht von Bedeutung. Es reicht aus, dass sich Veränderungen in den rechtlichen und statistischen Verhältnissen hinreichend kontrollieren lassen. Das ist natürlich keine leichte Aufgabe, besonders dann nicht, wenn es sich um informelle Änderungen handelt. Im Allgemeinen ist es leichter, plötzliche Veränderungen in den Griff zu bekommen, die als Stufen in einer Zeitreihe auftreten, als wenn es sich um schleichende Veränderungen handelt (vgl. Birkel & Thome, 2004: 37). Die grundlegende Entscheidungsregel für die Interpretation von Zeitreihen lautet, dass eventuelle Veränderungen den faktischen Verhältnissen als real zugeschrieben werden, soweit sich Veränderungen in rechtlichen und statistischen Bereichen mit hinreichender Gewissheit ausschließen lassen. Es sind also zwei Probleme, die eine vergleichende Trendanalyse lösen muss: das Kontinuitäts- und das Kongruenzproblem. Das Kontinuitätsproblem gilt der Frage, inwieweit eine bestimmte Zeitreihe (z.B. Raub zwischen 1980 und 2000 in Land A) den gleichen rechtlichen und statistischen Inhalt betrifft und wie eventuelle Veränderungen einzuschätzen sind. Das Kongruenzproblem (das auch für Struktur- und Niveauvergleiche gilt) betrifft dagegen die Frage, inwieweit die Daten zwischen den Ländern deckungsgleich, also vergleichbar sind. Ein anschauliches Beispiel dafür, wie Veränderungen im rechtlichen und statistischen Bereich den Verlauf von Zeitreihen beeinflussen können, stellt die schwedische Vergewaltigungsstatistik dar, die seit langem in monatlichen Intervallen verfügbar ist (vgl. von Hofer, 2000). Aus dem Schaubild lässt sich ersehen, dass statistische (1975 und 1988) und rechtliche Veränderungen (1984, 1992, 1998 und 2005) den Verlauf polizeilich registrierter Vergewaltigungen beeinflusst haben dürften. Die Verfasser des European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics haben sechs Faustregeln aufgestellt, die bei dem Gebrauch internationaler Daten beachtet werden sollten (WODC, 2006: 23). 1. Daten sollten nur dann verwendet werden, wenn man sich vorher vergewissert hat, welche technischen Voraussetzungen für sie gelten.
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1.4 Der internationale Kriminalitätsvergleich mit Hilfe der Statistik
2. Kleine Unterschiede sollten nicht überbetont werden. 3. Gleiches gilt für sehr große Unterschiede. 4. Es ist besser, ein einzelnes Land mit einer Gruppe von Ländern zu vergleichen als mit nur einem einzigen anderen Land. 5. Daten aus den polizeilichen Kriminalstatistiken eignen sich im Allgemeinen schlecht für Niveauvergleiche zwischen verschieden Ländern. 6. Plötzliche große Veränderungen zwischen zwei aufeinander folgenden Jahren hängen in der Regel nicht mit faktischen Veränderungen, sondern meistens mit Veränderungen in den zugrunde liegenden statistischen oder rechtlichen Voraussetzungen zusammen.
Figur 1: Polizeilich registrierte Vergewaltigungen in Schweden, 1965–2005 (Quartalsdaten); statistische[S] und rechtliche [R] Veränderungen markiert.
Es sei auch noch auf ein wenig beachtetes Darstellungsproblem hingewiesen, das die grafische Interpretation von Zeitreihenvergleichen erschweren kann (Falck, von Hofer & Storgaard, 2003). Es ist nicht ungewöhnlich, dass Zeitreihen verschiedener Länder auf verschiedenen Niveaus liegen. Auch wenn Interpretationen der Entwicklung selbst unabhängig von Niveauunterschieden erfolgen können (s. oben), haben Niveauunterschiede für die grafische Darstellung dennoch erhebliche Bedeutung. Dies lässt sich an dem hier gegebenen Beispiel ersehen, das die Entwicklung der Körperverletzungsdelikte in Dänemark und Finnland betrifft. Davon abhängig, welche Darstellungsform gewählt wird, fällt der optische Vergleich zwischen den Ländern verschieden aus. Das Darstellungsproblem beruht darauf, dass die finnische Statistik im Startjahr 1950 auf einem wesentlich höheren Niveau liegt (148 registrierte Körperverletzungen pro 100 000 der Wohnbevölkerung) als die dänische Statistik (38 pro 100 000 der Wohnbevölkerung) und beide Länder danach erhebliche Steigerungen aufweisen. Hanns von Hofer
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1 Internationale Probleme Typ Typ1:1: Lineare LineareSkala Skala
Typ 2: 2: Semilogarithmische Semilogarithmische Skala Typ Skala
Typ Typ3:3: Index Index1950–1955 1950-1955= =1 1
Typ 4: z-Transformationen z-Transformationen Typ4:
Figur 2: Vier grafische Modelle zur Darstellung der Kriminalitätsentwicklung (hier: Körperverletzung gem. der Polizeistatistik) in Dänemark und Finnland, 1950–2006, pro 100 000 der Wohnbevölkerung. Quelle: Falck, von Hofer & Storgaard (2003: 24), aktualisiert.
Es lässt sich nicht ohne weiteres sagen, welches Modell im vorliegenden Fall vorzuziehen sei. Dennoch wird im Vergleich deutlich, dass die lineare Skala (Typ 1) zu interpretatorischen Verzerrungen führt, auch wenn die Steigerungen selbst in den untersuchten Ländern jeweils mehr oder weniger linear verlaufen. 3.3
Spezielle Methodenprobleme nicht-offizieller statistischer Untersuchungen
Von einer Darstellung der allgemeinen Probleme, die Surveyuntersuchungen mit sich führen, muss hier abgesehen werden (s. dazu etwa Killias, 2002: 57 ff). Dagegen soll auf vier spezielle Probleme aufmerksam gemacht werden, die den internationalen Opferuntersuchungen anhaften (vgl. Lynch, 2002). Sie gelten sinngemäß auch für Untersuchungen über selbstberichtete Kriminalität (s. Junger-Tas & Marshall (1999) für eine Übersicht). (1) Aus Kostengründen ist die Stichprobengröße in den ICVS-Untersuchungen in den meisten Ländern gering.23 Sie liegt durchschnittlich zwischen etwa 1900 bis 2300 23 Hinsichtlich des EU ICS s. http://www.europeansafetyobservatory.eu/downloads/WP_ methodology.pdf
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Hanns von Hofer
1.4 Der internationale Kriminalitätsvergleich mit Hilfe der Statistik
Befragten (vgl. etwa Appendix 1, Tabelle 1 in van Kesteren, Mayhew & Nieuwbeerta, 2000: 116), was zu relativ großen Vertrauensintervallen führt. Dies beeinträchtigt sowohl Vergleiche zwischen verschiedenen Ländern als auch Veränderungsschätzungen innerhalb einzelner Länder. In beiden Fällen können eventuell existierende räumliche oder zeitliche Unterschiede unterschätzt werden. (2) Die Ausschöpfungsrate ist durchschnittlich niedrig (51– 69 Prozent) und variierend (maximale Variationsbreite 33–96 Prozent), was das Risiko für Verzerrungen erhöht, falls die Ausschöpfungen systematisch variieren. (3) Wenig Aufmerksamkeit ist bislang auf die Fragen gerichtet worden, was es bedeutet, dass die Fragebögen in verschiedene Sprachen übersetzt werden müssen (vgl. Jaquier, Fisher & Killias, 2006: 102; Eisner & Ribaud, 2007) und die Qualität nationaler Befragungsinstitute aller Wahrscheinlichkeit nach schwankt. (4) Schließlich ist nicht sicher, ob die Fragen des Untersuchungsinstruments (besonders was Gewalt und sexuelle Übergriffe betrifft (s. etwa Schneider, 1998: 319)) tatsächlich auch gleichartig verstanden und beantwortet werden (können). Trotz derartiger Probleme müssen sowohl ICVS/EU ICS als auch ISRD als wesentliche Fortschritte auf dem Gebiet der empirischen komparativen Kriminologie gewertet werden (z.B. Thornberry & Krohn, 2000; Hough & Maxfield, 2007; aber auch Aromaa, 2007) – was jedoch eine mehr grundsätzliche Kritik solcher Untersuchungsansätze nicht ausschließt, (s. etwa Wetzels, 1996).
4
Einige Resultate
4.1
Selbstberichtete Kriminalität
Internationale Untersuchungen bestätigen, dass Jugendkriminalität in westlichen Ländern zumindest in drei typischen Erscheinungsformen auftritt. Jugendkriminalität ist weit verbreitet; sie ist schief verteilt und zumeist episodenhaft (Barberet et al., 2004: 94 ff). Auch scheinen die Korrelate der Jugendkriminalität keine größeren internationalen Unterschiede aufzuweisen. Mangels verfügbarer vergleichender Selbstbefragungsstudien kann zwar direkt nichts über die zeitliche Entwicklung der Jugendkriminalität gesagt werden. Dennoch stimmen Vergleiche, die sich auf die offizielle Kriminalstatistik stützen, darin überein, dass Eigentumsdelikte unter (vor allen Dingen männlichen) Jugendlichen nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen westlichen Ländern stark gestiegen sind (Estrada, 1999 m.w.N.), sich aber häufig auf einem höheren Niveau eingependelt haben. Demgegenüber ist die Entwicklung der Gewaltdelikte umstritten (Estrada, 2001 m.w.N.). Hier zeigt sich deutlich der Nutzen von wiederkehrenden Untersuchungen über selbstberichtete Kriminalität und Opferuntersuchungen. Sie könnten wesentlich zur Schlichtung derartiger Streitfragen beitragen. Mit Hinblick auf internationale Vergleiche spricht auch vieles dafür (Tonry & Doob, 2004: 20), dass die konkrete Ausformung der Reaktionssysteme höchst geringen Einfluss auf Gesetzesübertretungen Jugendlicher haben. Die Vergleiche zeigen auch, dass bisher kein Konsensus darüber erzielt worden ist, wie am besten auf Jugendkriminalität zu reagieren sei. Hanns von Hofer
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1 Internationale Probleme
4.2
Opferbefragungen
Schneider (1998) hat die Verteilungen von Opferrisiken in globaler Perspektive zusammengefasst. Beschränkt auf Industrieländer kennzeichnen unterdurchschnittliche Opfer- bzw. Kriminalitätsraten u.a. Japan und die Schweiz, überdurchschnittliche Australien. Gleichzeitig sind es aber vor allem Alter, Freizeitaktivitäten, Gelegenheitsstruktur und Urbanisierungsgrad, die Viktimisierungsrisiken bestimmen und nicht, in welchem Land man wohnt (van Kesteren, Mayhew & Nieuwbeerta, 2000: 60; Dolmén, 2001: 52). Auch die Kriminalitätsentwicklung weist starke Parallelen in den westlichen Industrieländern auf (Proband, 2007). Die meisten Länder verzeichnen Steigerungen der Eigentumskriminalität, die entweder in den 1950er oder 1960er Jahren eingesetzt haben. Eigentumsdelikte scheinen sich gegenwärtig auf hohem Niveau eingependelt zu haben. Demgegenüber steigen Drogen- und Gewaltkriminalität sowohl in der Polizeiwie in der Gerichtsstatistik nach wie vor an (Council of Europe, 1999; WODC, 2003; WODC, 2006). Es ist umstritten, inwieweit diese Steigerungen auf veränderten Sensibilitäten, Anzeigeverhalten, Kontollstrategien und/oder geändertem Verhalten beruhen, da in nationalen Opferuntersuchungen beispielsweise der Anstieg von Gewalt oft weit weniger eindeutig hervortritt (vgl. Wittebrood & Junger, 2002; Köllisch & Oberwittler, 2004; Westfelt & Estrada, 2005; Walker, Kershew & Nicholas, 2006). – Hinsichtlich von Mord und Totschlag ist die historische Parallelität für den west- und nordeuropäischen Bereich von Eisner (z.B. 2001; 2003) ausführlich dokumentiert und analysiert worden. 4.3
Reaktionsstatistik
Im Gegensatz zur Kriminalitätsentwicklung sind auf dem Gebiet der Strafverfolgung erhebliche Unterschiede auszumachen (Kuhry et al., 2004). Beispielsweise variiert die Stärke der Polizeikräfte deutlich (Barclay & Tavares, 2003) ebenso wie die Einstellungen der Bevölkerung zur Polizei und zu Fragen der eigenen Sicherheit (Kury et al., 2002; Quann & Hung, 2002; Wittebrood, 2002) oder zur Punitivität (Kuhn, 1993; Besserer, 2002; Kühnrich & Kania, 2005). Ebenso variiert die Sanktionshäufigkeit in Europa stark wie auch der Gebrauch und die Länge von Freiheitsstrafen (Barclay, 2000). Mit Hinblick auf die großen internationalen Ähnlichkeiten des Kriminalitätsbildes und der Kriminalitätsentwicklung einerseits und die Verschiedenheiten der strafrechtlichen Reaktionen andererseits, deutet vieles darauf hin, dass traditionelle Kriminalität gegen sanktionspolitische Maßnahmen stark resistent ist. Dies hat erhebliche Bedeutung für die nationalen Kriminalpolitiken. Beispielsweise stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit und Legitimität von hohen und steigenden Gefangenenraten (vgl. Kaiser, 1996:166; Killias, 2005: 208). 4.4
Internationale Gefangenenraten
Gefängnisse sind heute fast überall auf der Welt anzutreffen; es existieren aber, wie sich aus Figur 3 ergibt, erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Anzahl der Gefangenen in den verschiedenen Ländern.
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1.4 Der internationale Kriminalitätsvergleich mit Hilfe der Statistik
Figur 3. „World Prison Population“, zirka 2007. Quelle: www.prisonstudies.org (15. Dezember 2007). Median 125 Gefangene pro 100 000 der Wohnbevölkerung (gebrochene Linie).
Die Mehrzahl der 15 EU-Länder befindet sich im unteren Ende der Verteilung, die USA nehmen die Spitzenposition ein. Sowohl in Europa als auch in vielen anderen Teilen der Welt steigen gegenwärtig die Gefangenenraten (Walmsley, 2007; Aebi & Stadnic, 2007). Bestimmend für die Größe von Gefangenenraten ist nicht das allgemeine gesellschaftliche Kriminalitätsniveau, sondern die Länge der Verweildauer (Aebi & Kuhn, 2000 m.w.N.). Die Verweildauer wird seinerseits bestimmt (1) vom Ausmaß der Untersuchungshaft; (2) wie viele Personen zu längeren Freiheitsstrafen verurteilt werden; sowie (3) dem Ausmaß vorzeitiger Entlassung. Keine Einigkeit findet sich in der Literatur darüber, inwieweit diese Faktoren vorderhand als kriminalpolitisch bestimmt oder als strukturell beeinflusst zu betrachten sind.
4.5
Internationale Rückfallstatistik
Nationale Rückfallstudien zeigen, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit mit verschiedenen Faktoren korreliert (s. etwa Heinz & Jehle, 2004). Beispielsweise beeinflusst die Wahl der untersuchten Population Rückfallraten. Gilt die Untersuchung allen Straffälligen, sind die Raten im Allgemeinen geringer, als wenn nur bereits Rückfällige untersucht werden. Gleicherweise spielt die Zeitspanne der Observationsperiode („Rückfallintervall“) eine Rolle: je kürzer sie gewählt wird desto niedriger die Rückfallraten. Rückfallraten werden auch davon beeinflusst, was als Rückfall qualifizierend gilt: jede neuerliche Straftat oder nur bestimmte Straftaten. Es spielt auch die Effektivität des jeweiligen Strafverfolgungssystems für die Messung der RückfallhäuHanns von Hofer
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1 Internationale Probleme
figkeit eine Rolle. Da Rückfallstatistiken meistens 24 auf der Justizstatistik aufbauen, sind Rückfallstatistiken als „catch and re-catch“-Statistiken von Faktoren abhängig wie Aufdeckungsrisiken und Sanktionierungswahrscheinlichkeiten. Strafverfolgungssysteme, die sich beispielsweise großen Vertrauens seitens der Bevölkerung erfreuen, die über eine effektive Polizei verfügen oder die auf dem Legalitätsprinzip aufbauen, „produzieren“ statistisch höhere Rückfallwahrscheinlichkeiten als Systeme mit den entgegengesetzten Merkmalen. Diese Umstände dürften der Grund dafür sein, weshalb es bislang keine standardisierten Datenerhebungen hinsichtlich internationaler Rückfallstatistik gibt (vgl. Wartna & Nijssen, 2005). Gegenwärig arbeitet jedoch eine European Research Group on National Reconviction Rates (ERNR) mit dem Ziel, kommentierte Rückfallstatistik aus europäischen Ländern zu publizieren (ERNR, 2007). Dagegen lassen sich nationale Rückfallstatistiken hinsichtlich typischer Verteilungsmuster vergleichen. In der ersten Auflage des European Sourcebook wurde ein solcher rudimentärer Versuch unternommen (vgl. etwa Gendreau, Little & Goggin, 1996). Sechs typische Verteilungsmuster wurden genannt (Council of Europe, 1995: 150–159). • Die Vorstrafenbelastung ist der bedeutendste Indikator für die Voraussage von Rückfallrisiken. Diejenigen, die die höchste Rückfallwahrscheinlichkeiten aufweisen, sind auch diejenigen, die die höchste Vorstrafenbelastung haben. • Männer werden häufiger rückfällig als Frauen. Dieser Unterschied ist aber bedingt abhängig von Alter und Vorstrafenbelastung. • Das Risiko rückfällig zu werden ist höher kurz nach der Verurteilung oder kurz nach der Strafentlassung als später. • Es lässt sich die Tendenz erkennen, dass die Wahl der Sanktion – unter im Übrigen vergleichbaren Voraussetzungen – geringen oder keinen Einfluss auf die Rückfallwahrscheinlichkeit ausübt. • Es besteht kein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Schwere der Vortat und der Rückfallwahrscheinlichkeit. In einer Reihe von Ländern zeigen sich niedrige Rückfallrisiken für schwere Straftaten. • Es besteht auch kein einfacher Zusammenhang zwischen Vortat und Rückfalltat. Spezialisierung nach Art und Schwere ist eher Ausnahme als Regel.
5
Ressourcen
Abschließend seien einige Quellen der internationalen kriminalstatistischen Literatur in ein paar Punkten zusammengefasst, um den Einstieg in die hier dargestellte Materie zu erleichtern. Die Dominanz des englischen Sprachbereichs ist ins Auge fallend und die Abgrenzung zur allgemeinen vergleichenden Kriminologie fließend.
24 Ausnahmen bilden Untersuchungen über selbstberichtete Kriminalität unter Festgenommenen (z.B. das International Arrestee Drug Abuse Monitoring Program (I-ADAM), Taylor, 2002) oder Strafgefangenen.
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1.4 Der internationale Kriminalitätsvergleich mit Hilfe der Statistik
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Hanns von Hofer
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung Frieder Dünkel
Inhaltsübersicht 1 Historische Vorläufer: John Howard und Heinrich von Wagnitz . . . . . . . . . . . . 2 International vergleichende Strafvollzugsanalysen seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. . 2.1 Die Bedeutung internationaler Menschenrechtsstandards für die Entwicklung vergleichender Strafvollzugsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Fragestellungen vergleichender Strafvollzugsforschung . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Rechtsvergleichung und sekundärstatistische Analysen: Gefangenenraten und ihre Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Empirisch vergleichende Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Lebensbedingungen und Rechte von Gefangenen: Straf- und Untersuchungshaftvollzug allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Einzelprobleme und besondere Vollzugsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Gefängnisarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 „Gefährliche“ Gefangene und Gefangene mit langen/lebenslänglichen Freiheitsstrafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Jugendstrafvollzug und freiheitsentziehende Sanktionen gegenüber jungen Rechtsbrechern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Frauenstrafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Ausländer im Strafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Empirisch vergleichende Vollzugsforschung am Lehrstuhl für Kriminologie in Greifswald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Mare-Balticum-Prison-Survey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Frauenstrafvollzug im europäischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Langstrafenvollzug im europäischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Freiheitsentzug für junge Straffällige in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Perspektiven: Die Evaluation von Menschenrechtsstandards und die Verbreitung von „best practices“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Historische Vorläufer: John Howard und Heinrich von Wagnitz International vergleichende Analysen des Strafvollzugs stehen am Anfang der Strafvollzugswissenschaft (bzw. der Pönologie) überhaupt. Vor mehr als 200 Jahren legten der als Gefängnisreformer in die Geschichte eingegangene John Howard in England 1 und im Ge-
1 Mit dem 1777 erschienen Buch „The States of the Prisons in England and Wales with preliminary Observations and an Account of some Foreign Prisons and Hospitals.“ Frieder Dünkel
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1 Internationale Probleme folge von ihm der deutsche Heinrich von Wagnitz 2 erste empirische Bestandsaufnahmen der Missstände des Gefängniswesens jener Zeit vor, die wesentlich die Gefängnisreform bzw. entsprechende Versuche im 19. Jahrhundert beeinflussten. Howard und von Wagnitz hatten selbstverständlich nicht die methodischen Instrumentarien heutiger quantitativals auch qualitativ-empirischer Sozialforschung zur Verfügung, so etwa im Hinblick auf die Gütekriterien der Gültigkeit (Validität) und Zuverlässigkeit (Reliabilität) erhobener Daten, jedoch waren die Missstände so evident, dass bereits die nach heutigem Verständnis eher qualitative Beschreibung des Ist-Zustandes die damaligen Herrschenden aufzurütteln vermochte. Bemerkenswert an den international vergleichenden Beobachtungen John Howards ist, dass bereits in jener Zeit der niederländische Strafvollzug sich in seiner Qualität deutlich vom englischen, aber auch deutschen Vollzug abhob.3 Der relativ gute Standard der heutigen niederländischen Gefängnisse beruht demgemäß auf einer Jahrhunderte alten Tradition. Die Methode bestand schlicht darin, im Rahmen der Beobachtung Anstaltszustände zu erfassen, zu beschreiben und verschiedene Länder und Anstalten zu vergleichen. Sie unterscheidet sich damit nicht wesentlich von der Vorgehensweise, die heutzutage das sog. Anti-Folterkomitee des Europarats oder andere Inspektionsgremien praktizieren und die die qualitativ orientierte Strafvollzugsforschung anwendet.4
2
International vergleichende Strafvollzugsanalysen in der zweiten Hälfte des 20. Jh.
2.1
Die Bedeutung internationaler Menschenrechtsstandards für die Entwicklung vergleichender Strafvollzugsanalysen
Das Interesse an international vergleichenden Strafvollzugsanalysen ist durchaus auch im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wach geblieben. So enthielten die großen pönologischen Werke von Bumke (1928) oder von Kriegmanns (1912) jeweils Kapitel oder Abschnitte über den ausländischen Strafvollzug, jedoch blieb die vergleichende Analyse eher Anhängsel und stand jedenfalls nicht im Zentrum des Forschungsinteresses. Erst mit der Verabschiedung der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung von Gefangenen im Jahr 1955 und den daraus resultierenden Berichtspflichten zur Einhaltung dieser Standards wurde Material gesammelt, das empirische Vergleiche ermöglichte. Das wird besonders deutlich an den Bemühungen des Europarats, der 1973 mit den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen eine Europäische Version der Minimum Standards vorlegte. Seit 1983 veröffentlichte der Europarat mit dem Prison Information Bulletin (später: Penological Information Bulletin) eine statistische Datensammlung, die über Gefangenenraten und bestimmte Populationsmerkmale der Länder des Europarats Vergleiche ermöglichte. Auch auf dieser Ebene wurden die Mitgliedsländer immer wieder um Auskunft über die Menschenrechtslage gebeten. Unbefriedigend war allenfalls, dass es sich hierbei nicht um unabhängige Forschung, sondern um Selbstauskünfte der Justiz- oder In2 Mit den 1791 in Deutschland veröffentlichten „Historischen Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser.“ 3 Vgl. hierzu auch Dünkel 1983. 4 Vgl. zum methodischen Ansatz des Mare-Balticum-Prison-Survey Dünkel/Kestermann/Morgenstern 2006; Dünkel 2007 und unten 5.1.
146
Frieder Dünkel
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung
nenverwaltungen handelte, von denen man allzu selbstkritische Berichte nicht erwarten durfte. Insoweit brachten die Verabschiedung der Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen im Jahr 1984,5 der Interamerikanischen Anti-Folterkonvention und der entsprechenden Konvention des Europarats im Jahr 1987,6 die 1989 in Kraft trat, einen wesentlichen Fortschritt. Nunmehr waren es unabhängige Gremien, die sog. AntiFolter-Ausschüsse, die die Länder bereisten und die bis heute ausgesprochen kritische Analysen der Menschenrechtssituation nicht nur im Hinblick auf Folter, sondern auch auf erniedrigende oder unmenschliche Behandlungsformen vorlegen.7 Das Anti-Folter-Komitee des Europarats hat auf der Basis der wesentlichen Kritikpunkte und der Jahresberichte sog CPT-Standards zusammengestellt,8 die den Mitgliedsländern als Orientierung oder gar „Checkliste“ bei der Überprüfung ihres Gefängnissystems dienen sollen. 2.2
Fragestellungen vergleichender Strafvollzugsforschung
Soweit Strafvollzugsforscher sich international vergleichender Strafvollzugsforschung annahmen, ging es eigentlich immer um zwei Dimensionen: Kann man den Zustand der Gefängnisse als Beispiel einer überlegenen oder unterlegenen Ausformung der Kriminalpolitik oder des Gesellschaftssystems insgesamt heranziehen? Und/oder: Welches Land oder welche Anstalt kann man im Sinne des „Best-practice-Ansatzes“ als Vorbild nehmen? Andererseits: welche Strafvollzugssysteme sind insgesamt oder in bestimmten Vollzugsbereichen als unzulänglich oder gar als menschenrechtswidrig anzusehen? Um einige prominente Beispiele zu nennen, könnte man auf die zu Recht kritisierten Formen der sibirischen Gefängnisse (die als GULAG bezeichnet wurden) verweisen,9 mit denen das gesamte unmenschliche System der (stalinistischen) Sowjetunion gebrandmarkt wurde. Die Bemühungen von Nicht-Regierungs-Organisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch, Helsinki-Komitee u.a., die unmenschliche Haftbedingungen kritisieren, gehen in die gleiche Richtung.10 Allerdings steht hierbei 5 Abgedruckt in EuGRZ 12 (1985), S. 131 ff.; vgl. hierzu Kaiser 1998; Kaiser/Schöch 2002, S. 75 f. 6 Abgedruckt in EuGRZ 16 (1989), S. 502 ff.; vgl. hierzu Kaiser 1996; 1998; Kaiser/Schöch 2002, S. 75 f. 7 Vgl. hierzu Bank 1996; Kaiser 1996; 1999; Morgan 2001; Morgan/Evans 2001; die Berichte des Anti-Folter-Ausschusses des Europarats sind unter www.coe.int im Internet zugänglich; zur Entwicklung in den mittel- und osteuropäischen Ländern vgl. Walmsley 1996; 2003; zu den im Mare-Balticum-Prison-Survey erfassten Ländern des Ostseeraums vgl. Dünkel 2007. 8 Vgl. European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) 2004. 9 Vgl. hierzu Applebaum 2004; Kizny 2004; zu der schwierigen, aber sich in einem deutlichen Umbruch und Menschenrechtsdialog befindlichen Situation des gegenwärtigen russischen Strafvollzugs vgl. Piacentini 2004; Rieckhof 2008. 10 Nils Christie spricht im Hinblick auf die in den USA und anderen Staaten besonders erhöhten Gefangenenraten von der notwendigen Politik eines „Re-integrative Shaming of National States“, vgl. Christie 2004, S. 4 ff.; ähnliche Kritik findet sich u.a. bei Stern 1998; Chambliss 1999; Wacquant 2005; vgl. ferner die Beiträge in Garland 2001. Frieder Dünkel
147
1 Internationale Probleme
nicht so sehr die vergleichende Strafvollzugsanalyse, als vielmehr die Beschreibung einzelner Vollzugssysteme, häufig auch von Einzelfällen Inhaftierter, im Vordergrund. Vergleichende Strafvollzugsforschung hat sich auch in geschichtswissenschaftlicher Perspektive entwickelt, die aber im vorliegenden Beitrag nicht weiter vertieft werden kann. So geht die „Oxford History of the Prison“ nicht nur auf die Entwicklung in England und den USA ein, sondern bezieht in mehreren Kapiteln auch die Geschichte in den kontinentaleuropäischen Ländern vergleichend mit ein.11 Ein weiteres Beispiel für eine international vergleichende Herangehensweise war die Darstellung der sozialtherapeutischen Einrichtungen in den Niederlanden und in Dänemark, die zur Behandlungseuphorie der 1960er Jahre in Deutschland beitrug und deren Konzepte bei den Beratungen zur Einführung der Sozialtherapie in Deutschland eine wesentliche Rolle spielten.12 2.3
Rechtsvergleichung und sekundärstatistische Analysen: Gefangenenraten und ihre Erklärung Seit Ende der 1960er Jahre wurden im Zuge der Arbeiten zur Verabschiedung des Strafvollzugsgesetzes in Deutschland auch international vergleichende Fragestellungen des Strafvollzugs aufgegriffen. Dabei ging es aber in erster Linie um rechtsvergleichende Fragen,13 allenfalls um sekundärstatistische Auswertungen der Gefangenen- und Inhaftierungsraten, um eine Abschätzung unterschiedlich punitiver Sanktionsstile vorzunehmen.14 Statistische Kenntnisse über den europäischen Strafvollzug vermittelte das seit 1983 vom Europarat veröffentlichte „Prison Information Bulletin“, später umbenannt in Penological Information Bulletin,15 das wiederum weitgehende Überschneidungen mit dem statistischen Informationssystem SPACE und dem Projekt eines regelmäßig erscheinenden European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Satistics16 aufweist. In die Kategorie rechtsvergleichender und sekundärstatistischer Bestandsaufnahmen gehören die beachtliche Zahl von Sammelbänden bzw. Readern, in denen Berichte über nationale Sanktionensysteme, Vollzugssysteme und -praktiken beschrieben werden.17 Auch aus unterschiedlicher nationaler Perspektive vergleichende Analysen bestimmter Problembereiche gehören dazu.18 Spezifische Fragestellungen betrafen beispielsweise die Beschwerderechte von Gefangenen bzw. die Kontrolle des Strafvollzugs durch Inspektionen, Ombudsleute etc.19, die Isolation von Gefangenen im Rahmen von Disziplinar- und Sicherheitsmaßnahmen,20 die Gefängnisarbeit,21 Vollzugslockerungen und bedingte Ent-
11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21
Vgl. Morris/Rothman 1995 (vgl. u.a. O’Brien, S. 199 ff.). Vgl. Dünkel 1980; Drenkhahn 2007. Vgl. insbesondere die systematische und umfassende Bestandsaufnahme von Kaiser 1983. Zu Recht zurückhaltend schon Kaiser 1980; vgl. ferner Buck/Pease 1993. Vgl. zuletzt Council of Europe 2002; 2003. Vgl. Council of Europe, Committee of Experts 2003; Aebi u.a. 2006. Vgl. z.B. Muncie/Sparks 1992; King/Maguire 1994; Ruggiero/Ryan/Sim 1995; Weiss/South 1998; van Zyl Smit/Dünkel 2001, Erstauflage 1991; Winterdyck 2004; Roth 2005; Céré/Japiassú 2007. Vgl. z.B. Céré 2002. Vgl. Koeppel 1999; Penal Reform International 1997; Vagg 1994. Vgl. Zingoni-Fernandez/Giovannini 2004; zu einem Rechtsvergleich bzgl. der Systeme von Disziplinarstrafen vgl. Ministère de la Justice 2002. Vgl. Beckett/Western 1997; Dünkel/van Zyl Smit 1998; van Zyl Smit/Dünkel 1999; Shea 2005 und unten 5.1.
148
Frieder Dünkel
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung lassung 22 oder die medizinische Versorgung im Strafvollzug.23 Gelegentlich finden sich Beiträge über Behandlungsmodelle in verschiedenen (vorwiegend europäischen) Ländern in der sozialwissenschaftlichen Literatur.24 Während die amerikanische Lehrbuchliteratur zumeist lediglich den Strafvollzug im eigenen Land reflektiert, ist die deutsche Literatur teilweise international orientiert. Dies gilt in besonderem Maß für das Lehrbuch von Kaiser und Schöch, das sich in einem umfangreichen Kapitel dem „Strafvollzug im internationalen Vergleich“ widmet.25 Ein Hauptaspekt sekundärstatistischer Analysen betrifft die Beschreibung und Erklärung von Gefangenenraten. Neben den o.g. Datenquellen des Europarats und des European Sourcebook ist hier insbesondere die Internetseite des Londoner Kings College zu nennen, die von Roy Walmsley betreut und ständig aktualisiert wird.26 Ungeachtet der weltweit nahezu einhellig formulierten Zielsetzung, dass Freiheitsentzug Ausnahmecharakter und letztes Mittel bei schweren Gewalttaten oder wiederholten Straftaten bleiben muss, wird im Querschnitts- wie Längsschnittvergleich deutlich, dass Gefangenenraten (sowohl bezüglich verurteilter Gefangener wie von Untersuchungsgefangenen) erheblich variieren.27 Die sehr hohen Gefangenenraten in den USA und Russland (USA: 31.12.2003 714; Russland: 1.9.2008: 630 pro 100.000 der Bevölkerung) im Vergleich zu den Gefangenenraten in Westeuropa und die Unterschiede im Vergleich der europäischen Länder mit jeweils ähnlichen Kriminalitätsraten können als Indikator für unterschiedliche Sanktionsstile und eine andersgeartete Kriminalpolitik im Hinblick auf den Gebrauch der Freiheitsstrafe gewertet werden. Die russischen Gefangenenraten werden vor dem Hintergrund der extrem hohen Strafschärfungen im Falle des Rückfalls 28 verständlich, in den USA führt die Kriminalpolitik eines „Three-strikes-and-you’re-out“ (ggf. lebenslange Freiheitsstrafe bei einem dritten, u.U. nur geringfügigen Delikt) bzw. des „Truth in sentencing“ (Vollstreckung von mindestens 85 % der verhängten Freiheitsstrafe ohne Möglichkeit einer früheren vorzeitigen Entlassung) zu einem vergleichbaren Ergebnis.29 Unter Gefangenenraten versteht man die stichtagsbezogene Belegung pro 100.000 der Wohnbevölkerung. Demgegenüber bedeuten Inhaftierungsraten die entsprechende Zahl von jährlichen Aufnahmen im Vollzug, also ein Maß für den jährlichen Durchlauf. Die Gefangenenraten ergeben sich aus den jährlichen Inhaftierungsraten in Verbindung mit der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer im Vollzug.
22 23 24 25
26 27
28 29
Vgl. Dünkel 2005; 2005a; Fritsche 2005; Dünkel/Fritsche 2005. Vgl. MacDonald 2005. Vgl. z.B. Wischka u.a. 2002. Vgl. Kaiser/Schöch 2002, S. 61–119 (§ 3). Das Lehrbuch von Laubenthal geht immerhin kurz auf die internationalen Rechtsquellen und vereinzelt thematisch auf ausländische Literatur ein (z.B. bzgl. der Privatisierung und der Geschichte des Strafvollzugs), vgl. Laubenthal 2008, S. 20 ff., 25 ff., 47 ff., während die Lehrbücher von Böhm (2003) und Höflich/Schriever (2003) ausschließlich die (Rechts-)Lage in Deutschland behandeln. Gleiches gilt für das Kriminologielehrbuch von Eisenberg (2005), soweit es in § 36 auf die „Freiheitsstrafe“ eingeht. Das stärker sozialwissenschaftlich orientierte Lehrbuch von Walter (1999) bezieht die angloamerikanische Literatur (z.B. bzgl. der Behandlungsforschung) umfassend mit ein. Die Internetadresse lautet: www.kcl.ac.uk/depsta/rel/icps/home.html. Vgl. z.B. Doleschal 1977; Doleschal/Newton 1979; HEUNI 1997; Walmsley 1996; 2001; Stern 1998; United Nations 1999; Dünkel/van Zyl Smit in van Zyl Smit/Dünkel 2001; Dünkel/ Snacken 2001; 2005; von Hofer 2004; Lappi-Seppälä 2007; 2009; Tonry 2007 m. jew. w. N. Vgl. Dünkel 2009, § 38, Rn. 46 (Tabelle 1). Vgl. zusammenfassend Dünkel/Snacken 2001; 2005; van Zyl Smit/Dünkel 2001 m.w.N.
Frieder Dünkel
149
1 Internationale Probleme Bei Betrachtung der jeweils nationalen Gefangenenraten darf nicht außer acht gelassen werden, dass auch innerhalb eines Landes, vor allem wenn es sich um föderale Strukturen wie in Deutschland oder in den USA handelt, erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Regionen oder Bundesstaaten auftreten.30 Im europäischen Vergleich variierte die Gefangenenrate im Jahr 2008 zwischen 44 pro 100.000 der Bevölkerung in Island und 630 in Russland: 31 Man kann auf der einen Seite Länder unterscheiden mit sehr niedrigen Gefangenenraten (bis zu 80 pro 100.000 der Bevölkerung) wie Island (44), Slowenien (65), Irland (76), oder die Schweiz (76) und die skandinavischen Länder (Dänemark, 63; Finnland, 64; Norwegen, 69; Schweden, 74). Es folgt eine Gruppe von Ländern mit bis zu 100 Gefangenen pro 100.000 der Wohnbevölkerung. Hierunter fallen zahlreiche westeuropäische Länder (Italien, 83; Belgien, 95; Deutschland, 89; Griechenland, 99; Frankreich, 96; Österreich, 95), aber auch Kroatien (93). Die nächste Gruppe von Ländern mit einer Gefangenenrate zwischen 100 und 160 pro 100.000 der Bevölkerung bilden England/Wales (153), die Niederlande (100), Portugal (103), Schottland (155), Spanien (157), Bulgarien (134), Slovakei (148) und Ungarn (149). Schließlich ist eine Ländergruppe auszumachen, die ausschließlich die mittel- und osteuropäischen Länder umfasst mit Gefangenenraten, die i.d.R. mehr als doppelt bis dreifach so hoch liegen als der westeuropäische Durchschnitt. Hierunter fallen Polen mit 222, Tschechien mit 182, die baltischen Staaten mit 259 pro 100.000 der Bevölkerung in Estland, 288 in Lettland und 234 in Litauen. „Spitzenreiter“ sind die Ukraine mit 323, Weißrussland mit 426, Georgien mit 415 und die Russische Föderation mit 630 Gefangenen pro 100.000 der Bevölkerung (vgl. Abbildung 1).32 Die vom Europarat und vom Kings College, International Center for Prison Studies, in London recherchierten und veröffentlichten Daten verdeutlichen, dass in den letzten 15 Jahren die Gefangenenraten in den meisten westeuropäischen Ländern angestiegen sind (vgl. Abbildung 2). Besonders starke Zuwachsraten sind für die Niederlande, Portugal und Spanien erkennbar, wo sich die Gefangenenrate seit 1984 jeweils nahezu verdoppelt bis im Falle der Niederlande vervierfacht hat. In den Niederlanden stieg die Gefangenenrate im Zeitraum von 1984–2006 von 31 auf 128 (sank bis 2008 allerdings auf 100),33 in Portugal von 69 auf 147 (1998) mit einem Rückgang auf 103 bis 2008. In Spanien stieg die Gefangenenrate von 38 auf 157 im Jahr 2008. Demgegenüber sind die Gefangenenraten in den skandinavischen Ländern bis vor kurzem stabil geblieben. Finnland hat sogar seine Gefängnispopulation – begleitet von verschiedenen Gesetzesreformen – von 190 im Jahr 1950 auf 110 im Jahr 1977 und 55 im Jahr 1998 erheblich reduzieren können (2008 lag die Gefangenenrate mit 64 geringfügig darüber).34 Beachtliche Zuwachsraten von bis nahezu 50 % bzw. 70 % weisen auch Belgien (seit 1986), und England/Wales (seit 1993) auf. In Deutschland nahm die stichtagsbezogene
30 Vgl. Zimring/Hawkins 1993; Dünkel/Rössner in van Zyl Smit/Dünkel 2001; Dünkel/Morgenstern 2001; Dünkel/Geng 2003; 2007 m. jew. w. N. 31 Vgl. Abbildung 1 und Tabelle 1; die Daten beziehen sich vereinzelt auf 2006 und Anfang 2008, überwiegend jedoch auf das Jahr 2007, auf das im Text einheitlich Bezug genommen wird; zu früheren Daten bis Ende der 1990er Jahre vgl. Tournier 2002, S. 10; Dünkel/Snacken 2001; Walmsley 2001. 32 Vgl. Abbildung 1; zu Vergleichswerten bis 1999 vgl. Dünkel/Snacken 2001. 33 Im Jahr 2006 wurde mit 128 Gefangenen pro 100.000 der Wohnbevölkerung ein historischer Höchstwert erreicht. 34 Zu den Ursachen einer vermehrten Anordnung von Ersatzfreiheitsstrafen und Problemen mit bestimmten Zuwanderergruppen vgl. Lappi-Seppälä 2007; 2009.
150
Frieder Dünkel
Abbildung 1
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung
Frieder Dünkel
151
Abbildung 2
1 Internationale Probleme
152
Frieder Dünkel
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung Gefangenenrate in den 1980er Jahren von 104 auf 81 ab, stieg aber seit Mitte der 1990er Jahre und insbesondere seit 1998 (u.a. infolge der Gesetzesverschärfungen gegenüber Gewalt- und Sexualtätern und der Zunahme der registrierten Gewaltkriminalität) deutlich an (vorübergehend betrug die Gefangenenrate sogar 98), sank inzwischen aber wieder auf 89 pro 100.000 der Wohnbevölkerung.35 Eine vergleichbare Entwicklung gab es in Österreich. Dort haben in den 1980er Jahren unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung Reformgesetze zu einer erheblichen Verminderung der Belegung geführt (Rückgang der Gefangenenrate von 114 im Jahr 1984 auf 77 im Jahr 1988). Nach einem vorübergehenden Anstieg Anfang der 1990er Jahre lag die Gefangenenrate nach umfassenden Begnadigungen 1995 bei lediglich 76, stieg danach zunächst moderat und seit 2001 deutlich an. Der jüngste Anstieg wird teilweise im Zusammenhang mit der vermehrten Verurteilung von Ausländern (vorwiegend Eigentums- und Drogendelikte) gesehen und damit ungelösten sozialen Integrationsproblemen osteuropäischer und afrikanischer Zuwanderer bzw. Migranten.36 Im Übrigen scheint auch bei weniger schweren Delikten die Haftdauer und in diesem Zusammenhang die Untersuchungshaftanordnung zugenommen zu haben. Allerdings hat sich das Problem 2008 nach der Reform der gesetzlichen Regelungen zur bedingten Entlassung bei einer Gefangenenrate von 95 wieder relativiert. Die Entwicklungen in Deutschland, Österreich und Finnland, die in den 1980er und 1990er Jahren ihre Vollzugspopulation reduzieren konnten, danach aber zeitweise gegenläufige Entwicklungen erlebten, zeigen beispielhaft auf, dass haftvermeidende oder -reduzierende kriminalpolitische Bestrebungen von „externen“ Rahmenbedingungen wie z.B. Migrationsproblemen oder ökonomischen Problemen (vgl. den Anstieg der Ersatzfreiheitsstrafen im Zusammenhang mit nicht bezahlten Geldstrafen) überlagert bzw. konterkariert werden können. Die Entwicklung von Gefangenenraten beruht damit auf einem komplexen Bedingungsgefüge, das auch innerhalb eines Landes von gegensätzlichen kriminalpolitischen Strömungen gekennzeichnet sein kann. So wurden z.B. in Deutschland – wie erwähnt – 1998 die Strafen bei Gewalt- und Sexualdelikten verschärft (faktisch hat man zusätzlich die bedingte Entlassung erschwert), andererseits bemüht man sich gleichzeitig um einen Ausbau der gemeinnützigen Arbeit und eine Reduzierung der kurzen Freiheitsentziehungen (einschließlich der Untersuchungshaft),37 was im Endeffekt – wie das französische Beispiel in den 1980er Jahren belegt – zu einer relativ stabilen, in ihrer strukturellen Zusammensetzung aber sich verändernden Vollzugspopulation führen kann. In einigen mittel- und osteuropäischen Ländern waren nach den politischen und sozialen Umwälzungen Ende der 1980er Jahre die Gefängnisse angesichts weit reichender Amnestien Anfang der 1990er Jahre fast leer (vgl. z.B. Tschechien, hierzu auch Abbildung 3). Allerdings wuchs die Gefängnispopulation innerhalb kurzer Zeit wieder erheblich an, teilweise bedingt durch einen starken Anstieg der Kriminalität, insbesondere der Gewaltkriminalität. Jedoch gelang es einigen Ländern wie beispielsweise Bulgarien, Ungarn, Moldawien und Polen (dort bis Ende der 1990er Jahre, seither stieg die Belegung allerdings drastisch an) die Gefangenenraten auf einem niedrigeren Niveau als in den 1980er Jahren zu stabilisieren, im Falle von Slowenien sogar die Gefängnispopulation deutlich zu reduzieren (vgl. Abbildung 3). In einigen Ländern sind Reformüberlegungen mit der Zielsetzung, die Gefängnispopulation zu vermindern, allerdings auf heftigen Widerstand in der öffentlichen Meinung gestoßen (z.B. in Russland und bis vor Kurzem in Estland). Das Klima für eine liberale Strafvollzugs- und Strafrechtspolitik scheint z.T. eher ungünstig. Dennoch gelang es in Russland, u.a. durch eine weit reichende Amnestie, 35 Vgl. Dünkel/Snacken 2001; 2005; Dünkel/Morgenstern 2001; 2009 m. jew. w. N. und Abbildung 2. 36 Vgl. Pilgram 2003, S. 150 ff.; 2009. 37 Vgl. Dünkel/Morgenstern 2003. Frieder Dünkel
153
Abbildung 3
1 Internationale Probleme
154
Frieder Dünkel
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung die Vollzugspopulation von 730 im Jahr 1999 auf 548 im Jahr 2004, d.h. um 25 % zu reduzieren. Andererseits deuten die jüngsten Zahlen auf eine erneute Verschärfung des Sanktionsklimas an, mit dem Ergebnis der nach den USA weltweit höchsten Gefangenenrate von 630 im Jahr 2008. Die aktuellen Entwicklungen in den baltischen Ländern zeigen, dass man sich erfolgreich von der sowjetischen Vergangenheit löst und durch gezielte Reformen die Gefangenenraten signifikant reduzieren kann. In Litauen hat sich die auf eine Ausweitung der Geldstrafe, der Bewährungsstrafe und anderer Alternativen zur Freiheitsstrafe ausgerichtete Strafrechtsreform von 2003 positiv ausgewirkt: Die Gefängnisbelegung ging seit 1999 von 396 auf 234 (2008), d.h. um ca. 40%, zurück. Auch in Lettland wurde seit 2006 eine Gefangenenrate von unter 300 erreicht (1.1.2008: 288). Jüngstes Beispiel ist Estland, das mit der Einführung der Verbüßung eines Strafrests i.V.m. elektronisch überwachtem Hausarrest innerhalb eines Jahres eine Reduzierung von 321 auf 259 Gefangene pro 100.000 der Wohnbevölkerung erreichte (– 19 %; 2001 lag die Gefangenenrate in Estland noch bei 351, d.h. um 36 % höher als 2008).38 Die Gefängnispopulation ist im letzten Jahrzehnt nicht nur in Europa gestiegen, sondern auch in zahlreichen außereuropäischen Ländern. Jedoch kann dieser Entwicklungstrend andererseits nicht auf alle Länder verallgemeinert werden. Verschiedene afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Länder haben ihre Gefängnispopulation in den letzten 10–20 Jahren relativ stabil halten können. Dies gilt für Japan sogar für die letzten 30 Jahre.39 Vergleiche von Gefangenenraten, die auf einen spezifischen Stichtag bezogen sind, ermöglichen nur eine begrenzte Aussage über den Umfang der Anwendung freiheitsentziehender Sanktionen. Hierfür wäre vielmehr eine längerfristige statistische Analyse des jährlichen Inputs und Durchlaufs von Gefangenen notwendig.40 Anhand der vom Europarat veröffentlichten Daten werden in Tabelle 1 die neuesten zur Verfügung stehenden jährlichen Erstaufnahmen im Vollzug (d.h. die Inhaftierungsraten pro 100.000 der Wohnbevölkerung) für das Jahr 2005 aufgeführt. So zeigen beispielsweise die Strafverfolgungsund Gefängnisstatistiken, dass in Norwegen, Schweden oder Irland mehr Personen jährlich inhaftiert werden als in Deutschland. Überprüft man allerdings die Gefängnispopulation zu einem bestimmten Stichtag, so ist diese signifikant geringer, weil die durchschnittliche Zeit, die im Gefängnis verbracht wird, mit weniger als vier Monaten gegenüber knapp sieben Monaten in Deutschland erheblich kürzer ist (vgl. Tabelle 1). Allerdings sind die in Tabelle 1 ausgewiesenen Daten zur Inhaftierungsrate, d.h. der jährlichen Erstaufnahmen im Strafvollzug ebenfalls teilweise mit methodischen Mängeln behaftet, so dass man sie letztlich nur mit der gebotenen Zurückhaltung als Indikatoren der Strafzumessungspraxis werten kann.41 Trotz aller Vorbehalte darf man die stichtagsbezogenen Gefangenenraten in Ergänzung mit den jährlichen Inhaftierungsraten wie sie in Tabelle 1 ausgewiesen sind, als einigermaßen zuverlässige Indikatoren für die Punitivität eines Landes heranziehen.42 38 Vgl. Sootak/Markina 2009. 39 Vgl. zusammenfassend Dünkel/Snacken 2001, S. 196; Dünkel/van Zyl Smit in van Zyl Smit/ Dünkel 2001, S. 796 ff., 807 ff. 40 Vgl. hierzu Kuhn/Tournier/Walmsley 1999; Aebi/Kuhn 2000, die die Notwendigkeit einer Betrachtung des jährlichen Durchlaufs besonders betonen; das European Sourcebook ist hierfür eine ausgezeichnete Datenquelle, vgl. Aebi u.a. 2006. 41 Vgl. Beispiele unzulänglicher Erfassungen (z.B. Zählung von Verlegungen als „Erstaufnahmen“ in der Schweiz oder die Mehrfachzählung von kumulativen Verurteilungen desselben Inhaftierten in Schottland) bei Aebi/Ahbusson de Cavarlay/Stadnic 2007, S. 8. 42 Vgl. hierzu bereits Kaiser 1980, S. 366 ff. Frieder Dünkel
155
1 Internationale Probleme Tabelle 1: Straf- und Untersuchungsgefangene im europäischen Vergleich, 2007 Stichtag
Albanien
GefangenenAnteil von rate U-Gefange(pro 100.000 nen (%) der Wohnbev.)
Inhaftierungsrate (Inhaftierungen pro 100.000 der Wohnbev) (2005)
Indikator für die durchschnittliche Inhaftierungszeit (Monate) (2005)
1.6.2008
159
39,0
–
Belgien
17.6.2008
93
36,1
145,7
Bosnien u. Herzegowina
30.4.2008
67
19,4
–
–
Bulgarien
1.1.2008
134
9,3
–
–
Dänemark
4.9.2008
63
34,4
340,3
2,6
31.8.2008
89
16,0
149,1
6,8 (2001)
England/Wales 26.9.2008
153
16,5
–
–
Estland
1.1.2008
259
26,4
–
–
Finnland
1.1.2008
64
14,0
143,5
Deutschland
Frankreich
– 7,3
6,2
1.7.2008
96
27,7
135,4
31.1.2008
415
16,1
–
–
1.11.2007
99
28,6
–
–
Irland
26.10.2007
76
20,0
258,8
3,5
Island
1.9.2008
44
7,1
108,2
4,3
Italien
1.1.2008
83
58,1
152,9
Georgien Griechenland
8,4
–
Kroatien
1.7.2007
93
29,9
292,8
Lettland
1.1.2008
288
26,6
–
Litauen
1.1.2008
234
12,1
335,6
Luxemburg
1.9.2007
155
42,0
281,6
Malta
1.7.2007
95
31,3
154,9
Mazedonien
1.3.2008
107
15,9
358,2
Moldawien
1.9.2006
246
20,6
631,2
–
Montenegro
1.9.2003
108
38,1
–
–
Niederlande
31.8.2008
100
34,7
273,0
4,2
Nordirland
29.9.2008
88
37,3
279,9
2,2
Norwegen
1.8.2008
69
21,1
253,2
3,1
Österreich
1.8.2008
95
20,0
172,7
7,8
Polen
31.8.2008
222
11,3
247,9
9,9
Portugal
15.9.2008
103
28,9
53,1
Rumänien
16.9.2008
126
10,0
73,2
156
2,9 – 8,4 6,3 – 4,0
9,9 (2001) 29,1
Frieder Dünkel
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung
Stichtag
Russland Schottland
GefangenenAnteil von rate U-Gefange(pro 100.000 nen (%) der Wohnbev.)
Inhaftierungsrate (Inhaftierungen pro 100.000 der Wohnbev) (2005)
Indikator für die durchschnittliche Inhaftierungszeit (Monate) (2005)
1.9.2008
630
15,6
478,4
26.9.2008
155
21,2
753,9
– 2,1
74
22,2
240,7
3,6
Schweden
1.10.2007
Schweiz
5.9.2007
76
37,9
–
–
Serbien
1.3.2007
116
30,4
180,6
–
Slowakei
1.1.2008
148
23,2
131,8
–
Slowenien Spanien Tschechien
1.9.2008
65
22,2
258,5
6,2
26.9.2008
157
25,0
89,3
18,6
1.1.2008
182
11,9
185,9
–
Türkei
1.4.2008
135
60,9
161,4
Ukraine
1.1.2008
323
21,5
–
–
6,7
Ungarn
2.9.2008
149
28,9
124,2
16,9
Weißrussland
1.1.2006
426
19,6
–
–
31.8.2008
83
15,4
261,7
Zypern
2,9 (2001)
Quellen: Gefangenenraten: International Center for Prison Studies, World Prison Brief, Internet- Publikation, http//www.kcl. ac.uk/depsta/rel/icps/worldbrief/world_brief.html (letzte Abfrage 12.2.2009); Inhaftierungsraten: Council of Europe, Hrsg., Annual Penal Statistics – SPACE I – 2006, Strasbourg 2007, S. 55, 58.
Die für Westeuropa relativ hohen Gefangenenraten in Portugal und Spanien sind durch die überdurchschnittlich langen Inhaftierungszeiten (9,9 Monate 2001, bzw. 18,6 Monate im Jahr 2005), nicht durch eine besonders hohe Inhaftierungsrate pro 100.000 der Wohnbevölkerung erklärbar. Mit anderen Worten: es gelangen in diesen Ländern deutlich weniger Personen in den Strafvollzug als beispielsweise in Deutschland, jedoch verbleiben die Inhaftierten erheblich länger im Strafvollzug mit der Folge einer erhöhten stichtagsbezogenen Gefangenenrate. In Spanien hat die Abschaffung der sog. „Good-time“ im Jahr 1997, d.h. einer automatischen Haftzeitreduzierung für arbeitende Gefangene, wesentlich zur Verlängerung der Verbüßungsdauer und damit Erhöhung der Gefangenenraten beigetragen.43 Die Situation in Russland ist zugleich im Kontext der dort vorgesehenen Strafrahmen zu interpretieren. Die Inhaftierungsrate unterschied sich nach früheren Angaben des Europarats nicht wesentlich von derjenigen in Deutschland, jedoch war die durchschnittliche Aufenthaltsdauer etwa viermal so hoch, was die entsprechend erhöhte Gefangenenrate erklärt. Die sehr langen Haftstrafen in Russland dürften vor allem durch die drastischen Strafschärfungen bei Rückfalltätern zustande kommen. Berücksichtigt werden muss ferner, dass die Gefangenenraten teilweise aufgrund sehr unterschiedlicher Anteile von Untersuchungsgefangenen variieren. In Belgien (36,1 %),
43 Vgl. Cid/Larrauri in Dünkel u.a. 2009; der Anstieg im Zeitraum 1980–1994 ist dagegen auf einen Zuwachs der Verurteiltenzahlen zurückzuführen, d.h. er ist mit dem Kriminalitätsanstieg erklärbar. Frieder Dünkel
157
1 Internationale Probleme Frankreich (27,7 %), Griechenland (28,6 %), Italien (58,1 %), Luxemburg (42,0 %), den Niederlanden (34,7 %), Nordirland (37,3 %) und in der Türkei (60,9 %) befanden sich 2008 jeweils nahezu oder mehr als 30 % bis zu über 50 % der Inhaftierten in Untersuchungshaft. Deutschland liegt hier im unterdurchschnittlichen Bereich (16,0 %, vgl. i.e. Tabelle 1). Besonders niedrige U-Haftanteile wiesen Finnland (14,0 %) und Island (7,1 %) auf. Nimmt man zur Beurteilung der Punitivität eines Landes die Zahl der Aufnahmen in den Vollzug zum Maßstab, so liegt Deutschland hier im Mittelfeld, d.h. der Personenkreis, der jährlich zu Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt oder in Untersuchungshaft genommen wird, ist im internationalen Vergleich eher gering. Damit wird Deutschland dem Anspruch einer Anwendung der Freiheitsstrafe lediglich i.S. einer ultima ratio in größerem Umfang gerecht als zahlreiche andere Länder. Dies um so mehr, wenn man die jährlichen Zugänge von Ersatzfreiheitsstrafenverbüßenden herausrechnen würde, die zwar Strafantritte im Strafvollzug, nicht aber originäre Verurteilungen zu Freiheitsstrafe darstellen. Veränderungen der Gefangenenraten werden oft als direktes Ergebnis veränderter Kriminalitätsraten gesehen, insbesondere von Politikern und Strafrechtspraktikern. Allerdings zeigt die internationale Literatur, dass dies bestenfalls eine vereinfachende und zumeist unzulängliche Erklärung ist. Selbst Untersuchungen, die entsprechende Vergleiche auf schwere Kriminalität konzentrieren, die normalerweise eher mit der Verhängung freiheitsentziehender Sanktionen (Untersuchungshaft- und Freiheitsstrafe) verbunden ist, oder Studien, die Aufklärungsraten der Polizei überprüft haben, haben keinen konsistenten Zusammenhang zwischen veränderten Kriminalitätsraten und Gefangenenraten nachweisen können.44 Der internationale Vergleich verdeutlicht, dass Gefangenenraten nicht durch einen Faktor erklärbar sind, sondern das Resultat einer komplexen Interaktion verschiedener Ursachen darstellen. Man kann unterscheiden zwischen externen Faktoren (sozialer Umbruch und Transformationsprozesse, gesellschaftspolitische Reformen, Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, demographischer Strukturwandel usw.) und internen Faktoren (des Strafverfolgungssystems und der Kriminalpolitik) sowie Faktoren, die zwischen diesen beiden Systemen liegen und eine moderierende Wirkung haben können.45 Demographische Veränderungen wirken sich zwar sicherlich auf die Gefangenenrate aus, allerdings ist der Einfluss der altersmäßigen Zusammensetzung einer Bevölkerung auf die Gefängnispopulation sehr viel weniger ausgeprägt als vermutet.46 Im Hinblick auf demographische Faktoren spielen die Migration und der Anteil ethnischer Minderheiten oder auch von Ausländern eine bedeutende Rolle.47 Der Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu ethnischen Minderheiten und Kriminalität ist bekanntlich umstritten. Angehörige ethnischer Minderheiten und Ausländer sind allerdings häufig in den Gefängnissen überrepräsentiert, jedoch kann dies auch das Ergebnis einer selektiven Strafjustiz sein.48 Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass viele westeuropäische Länder wie beispielsweise Frankreich mit einer zweiten und dritten Einwanderergeneration konfrontiert sind, die zunehmend eine ökonomisch und sozial deprivierte Gruppe darstellen.
44 Vgl. Aebi/Kuhn 2000; Dünkel/Snacken 2001; Lappi-Seppälä 2007; 2009 m. jew. w. N. 45 Öffentliche Meinung, allgemeine Politikströmungen, Massenmedien; vgl. zusammenfassend Lappi-Seppälä 2007, 2009; Snacken 2007; Dünkel/Snacken 2001; 2005; Snacken in Dünkel u.a. 2009. 46 Vgl. Zimring/Hawkins 1993. 47 Vgl. zusammenfassend van Kalmthout/ Hofstee-van der Meulen/Dünkel 2007, S. 10 ff.; Morgenstern 2007, S. 139 ff. 48 Vgl. für die USA Chambliss 1999, S. 63 ff.; Mauer 1999, S. 118 ff.; Blumstein/Beck 1999; für die europäischen Länder Wacquant 2000 und eher zurückhaltend Ashworth 2000.
158
Frieder Dünkel
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung Was den Zusammenhang von ökonomischen Bedingungen und Kriminalität anbelangt, so gibt es hierzu widersprüchliche Befunde, insbesondere zum Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Eindeutigere Ergebnisse finden sich allerdings im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen zunehmenden Einkommensunterschieden und Eigentumsdelikten, vermutlich spielt hier das subjektive Erleben relativer Deprivation eine besondere Rolle.49 Nicht nur europäische und nordamerikanische Staaten sind gegenwärtig mit einer Entwicklung konfrontiert, die man mit einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft beschreiben könnte, im Rahmen derer der wachsende Reichtum der oberen sozialen Schichten von einer Vergrößerung der Einkommensunterschiede begleitet ist (Stichwort: Zwei-Drittel-Gesellschaft). Einige Studien haben aufgezeigt, dass sich verschlechternde ökonomische Bedingungen direkt in einer ansteigenden Gefängnispopulation niederschlagen, ohne dass dies mit einem entsprechenden Anstieg der Kriminalitätsraten zusammenhängt. Ökonomische Faktoren und die Diskriminierung von ethnischen Minderheiten können in diesem Zusammenhang einen kumulierenden Effekt haben. Ausländer, ethnische Minderheiten und Zuwanderer spielen mehr und mehr eine wichtige Rolle im Rahmen des (auch) strafjustiziellen „Managements“ der Armut und werden aus kritischer Perspektive als „bequeme Feinde“ angesehen.50 Die Bedeutung des Strafverfolgungssystems sowie von kriminalpolitischen Einstellungen der dortigen Entscheidungsträger muss vor dem Hintergrund der genannten sozialen und ökonomischen Faktoren gesehen werden. Inhaftierungsraten werden beeinflusst von Entscheidungen und kriminalpolitischen Orientierungen, die im Laufe des Strafverfahrens wirksam werden: polizeiliche Strafverfolgung, staatsanwaltschaftliche Erledigung und Strafzumessung. Von besonderer Bedeutung für die Zusammensetzung der Gefangenenpopulation ist in diesem Zusammenhang eine in den westeuropäischen Ländern zu beobachtende Strategie, die im Englischen mit „bifurcation“, im Französischen mit „dualisation“ umschrieben wird. Seit den 1970er Jahren werden vermehrt alternative Sanktionen einschließlich der Diversion für weniger schwere Eigentums- und Vermögenskriminalität angewendet, während gegenüber Gewalttätern, Drogen- und Sexualdelinquenten zunehmend längere Gefängnisstrafen verhängt werden (so z.B. in den USA, in Frankreich, Belgien, England und den Niederlanden). So hat beispielsweise die Einführung von erhöhten Mindeststrafen oder von Mindestverbüßungszeiten dazu geführt, dass die durchschnittlich zu verbüßende Haftzeit sich verlängert hat. Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang ist die kriminalpolitische Orientierung im Sinne eines „truth in sentencing“ in den USA, Kanada, England und Wales sowie die Einführung von sog. „peines incompressibles“ in Frankreich. In Deutschland hat sich allerdings die Strafzumessungspraxis nicht wesentlich verändert (Ausnahme: bei der gefährlichen Körperverletzung werden seit der Gesetzesänderung 1998 vermehrt Bewährungs- anstatt Geldstrafen verhängt). Der Zuwachs der Gefängnisbelegung beruht hier auf dem Anstieg der Verurteiltenzahlen und (vermutlich) einer selteneren bzw. späteren bedingten Entlassung.51 Eine verschärfte Drogenpolitik im Laufe der 1980er und 1990er Jahre hat in vielen Ländern zu höheren Gefangenenraten geführt, insbesondere im Hinblick auf Ausländer und ethnische Minderheiten, die oft im Rahmen des Drogenhandels (zumeist auf unterer und mittlerer Ebene) tätig werden. Eindrucksvoll haben Blumstein und Beck für die USA nachgewiesen, dass der Anstieg der Gefangenenpopulation in den 1990er Jahren im Wesentlichen auf der vermehrten Inhaftierung von Drogentätern beruhte.52 In den 1990er Jahren haben vor allem Gewalt- und Sexualdelikte eine besondere Aufmerksamkeit gefunden, und Gesetzesverschärfungen sind nicht nur in Belgien im Anschluss an den „Du49 50 51 52
Vgl. Box 1987; Weber 2000, S. 17. Vgl. Wacquant 2000. Vgl. Dünkel/Morgenstern 2009. Vgl. Blumstein/Beck 1999, S. 20 ff., 53 ff.
Frieder Dünkel
159
1 Internationale Probleme troux-Fall“ verabschiedet worden (z.B. in Deutschland 1998). Dies belegt die Bedeutung von intervenierenden Variablen wie der „öffentlichen Meinung“ und des politischen Klimas, die ihrerseits wiederum stark von den Massenmedien beeinflusst sind. Im Unterschied hierzu sind die skandinavischen Länder ein gutes Beispiel für eine bewusste Planung und Gestaltung des Gefängniswesens auch hinsichtlich der Größenordnung der anzustrebenden Gefangenenrate. Wie erwähnt hat Finnland erfolgreich die Gefangenenraten durch verschiedene Gesetzesreformen von 190 pro 100.000 Einwohner im Jahr 1950 auf 110 im Jahr 1977 und 55 im Jahr 2000 reduzieren können.53 Die Niederlande stellen demgegenüber ein eindrucksvolles Beispiel für eine expansive Gefängnispolitik dar. Der frühere „liberale“ Vorreiter im Hinblick auf einen zurückhaltenden Gebrauch der Gefängnisstrafe hat seine Führungsposition verloren und vor allem durch eine härtere Strafzumessungspolitik im Bereich des Drogenhandels und bei Gewalttaten die Gefängnispopulation seit Mitte der 1980er Jahre etwa vervierfacht, wenngleich neuerdings gegenläufige Tendenzen erkennbar werden (vgl. oben Abbildung 2). Auch für Spanien und Portugal deuten die Indizes in den Erhebungen des Europarates an, dass vor allem die durchschnittliche Straflänge bzw. Verweildauer im Vollzug angestiegen ist, nicht so sehr die Zahl der Erstaufnahmen im Vollzug.54 Für Frankreich wurde nachgewiesen, dass der Anstieg der Gefängnispopulation in den 1970er Jahren auf einer Zunahme der Neuzugänge im Strafvollzug beruhte, während in den 1980er Jahren die durchschnittliche Verweildauer deutlich anstieg. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Freiheitsstrafen von kürzerer Dauer durch die 1983 eingeführte gemeinnützige Arbeit und eine Ausweitung der Strafaussetzung zur Bewährung reduziert wurden. Im Zeitraum 1988–95 stieg die durchschnittliche Verweildauer weiter an, jedoch kam es bis Ende der 1990er Jahre zu keinem nennenswerten Anstieg der Gefängnispopulation, weil jährlich zum Nationalfeiertag (14. Juli) Amnestien verkündet wurden, die die Vollzugspopulation stabil hielten.55 Eine ähnliche Entwicklung ist in Deutschland zu beobachten, wo der Rückgang der Gefangenenrate in den 1980er Jahren vor allem durch die vermehrte Strafaussetzung zur Bewährung von längeren Freiheitsstrafen zwischen einem und zwei Jahren und im Bereich des Jugendstrafrechts (für 14 –21-Jährige) durch die Ausweitung von ambulanten Sanktionen bedingt war.56 In den 1990er Jahren beruhte der Anstieg der Gefangenenrate vor allem auf den vermehrten Verurteilungen wegen Gewalt- und Drogendelikten und nicht auf durchschnittlich längeren Freiheitsstrafen.57 Auffällig ist, dass seit 1998 die Verweildauer im Strafvollzug aufgrund einer restriktiveren Entlassungspraxis angestiegen ist. War der Anstieg der Gefängnispopulation Anfang der 1990er Jahre noch vor allem durch einen vermehrten Gebrauch der Untersuchungshaft (vor allem gegenüber Ausländern) bedingt,58 so ging nach der Änderung der Asylgesetzgebung die Zahl der Untersuchungsgefangenen wieder deutlich zurück. Seither ist im Gegensatz dazu jedoch die Strafgefangenenrate aus o.g. Gründen angestiegen. Dementsprechend ist das Problem der Überbelegung auch in Deutschland wieder aktuell geworden.59
53 Vgl. hierzu Lappi-Seppälä 1998; 2004; 2007; 2009. 54 In Spanien stiegen in den 1980er Jahren bis 1994 allerdings auch die Erstaufnahmen im Vollzug, vgl. Cid/Larrauri in Dünkel u.a. 2009. 55 Vgl. Kensey/Tournier 1999, S. 100 f.; nachdem der neu gewählte Präsident Sarkozy 2007 und 2008 die jährlichen Amnestien ausgesetzt hat, ist die Gefangenenrate deutlich angestiegen (s.o. Abbildung 2). 56 Vgl. Dünkel/Rössner in van Zyl Smit/Dünkel 2001, S. 288 ff. 57 Vgl. Dünkel/Morgenstern 2009. 58 Vgl. hierzu kritisch Dünkel 1994. 59 Vgl. Dünkel/Morgenstern 2001; 2009; Weber 2000. In jüngster Zeit hat sich die Situation allerdings etwas entspannt, was vor allem mit rückläufigen Zahlen bei der Gewaltdelinquenz
160
Frieder Dünkel
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung Einen interessanten Erklärungsversuch der unterschiedlichen Gefangenenraten in Europa und in den USA sowie Neuseeland, Australien, Südafrika und Japan haben Cavadino und Dignan unter Bezugnahme auf politikwissenschaftliche Konzepte unternommen.60 Sie unterscheiden nach sozio-ökonomischen und strafrechtsorientierten Indizes vier verschiedene Gesellschaftstypen: den neo-liberalen, den konservativ-korporatistischen, den sozialdemokratisch-korporatistischen und den östlichen korporatistischen Typus. Beispiele für den neo-liberalen Gesellschaftstyp sind die USA, England und Wales, Australien, Neuseeland und Südafrika. Der konservativ-korporatistische Gesellschaftstyp wird von Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden repräsentiert, der sozialdemokratisch-korporatistische Typ von Schweden und Finnland. Als Beispiel des östlichen Korporatismus dient Japan.61 Im Ergebnis kommen die neo-liberalen Staaten (mit extremen Einkommensunterschieden und einer Law-and-Order-Politik mit starker „Exklusion“) auf erheblich höhere Gefangenenraten als die konservativ-korporatistischen Staaten und vor allem die (wohlfahrtsstaatlich und egalitär bzw. auf „Inklusion“ orientierten) skandinavischen Länder. Noch niedriger ist traditionell die japanische Gefangenenrate. Dass die Gefangenenrate in neo-liberalen Ländern schon wegen der rigiden Bestrafungspolitik („getting tough on crime“) höher ist als in moderateren Strafrechtssystemen, insbesondere den skandinavischen Ländern, erscheint plausibel. Allerdings ist die Zuordnung z.T. fragwürdig, denn die niederländische Gefangenrate (2007: 117) hatte das „neo-liberale“ Australien (2002: 115) zeitweise überholt. Auch passen Spanien oder Portugal, die vergleichbare Gefangenenraten wie England und Wales aufweisen, weniger in das „neo-liberale“ als das konservativ-korporatistische Cluster. Auch müsste man mit Blick auf die mittelund osteuropäischen Länder möglicherweise ein eigenständiges Cluster „ehemals sozialistischer“ Transformationsstaaten mit einer z.T. rigiden, in jedem Fall stärker auf Freiheitsentzug orientierten Strafrechtspolitik konzipieren. Aber auch hier ist die Entwicklung im Fluss, wie die o.g. Beispiele der baltischen Länder zeigen. Zudem gilt der Befund erhöhter Gefangenenraten nicht für Kroatien und Slowenien, die ohne als „Wohlfahrtsstaaten“ im engeren Sinne gelten zu können, vergleichbar niedrige Gefangenenraten wie die skandinavischen Länder aufweisen. Entscheidende Faktoren zur Erklärung unterschiedlicher Gefangenraten dürften vor allem die grundsätzliche kriminalpolitische Orientierung und Praxis sein. Dies zeigen aktuelle Vergleiche von Lappi-Sepälä, von Hofer und von Blumstein, Farrington und Van Ness, wobei diese Orientierungen selbstverständlich auch mit gesamtgesellschaftlichen und sozioökonomischen Entwicklungen zusammenhängen.62 Läppi-Sepälä zeigt in einer differenzierten Analyse gesamtgesellschaftlicher Faktoren (u.a. Indizes zur sozialen Ungleichheit und andere sozio-ökonomische Variablen) im Vergleich zu kriminalpolitischen Faktoren auf, dass letztere entscheidend die unterschiedlichen Gefangenenraten erklären können.63 Blumstein, Tonry und Van Ness zeigen eine deutlich höhere Punitivität der USA im Vergleich mit europäischen Ländern, Kanada und Australien anhand einer deliktsspezifisch differenzierten Analyse der Rechtspflegedaten auf.64 Australien und England/Wales wiesen die nach den USA höchsten Punitivitätswerte auf, während Schweden und die Schweiz am anderen Ende der Punitivitätsskala rangierten.65 Insbesondere für England/
60 61 62 63 64 65
zusammenhängen dürfte, vgl. zur Gesamtentwicklung der registrierten Kriminalität in Deutschland den 2. Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung, BMJ/BMI 2006. Vgl. Cavadino/Dignan 2006. Vgl. Cavadino/Dignan 2006, S. 3 ff., 15. Vgl. Lappi-Seppälä 2007; von Hofer 2004; Blumstein/Tonry/Van Ness 2005; Lacey 2008. Vgl. Lappi-Seppälä 2007; ähnlich für Belgien Snacken 2007; zusammenfassend Lacey 2008. Vgl. Blumstein/Tonry/van Ness 2005, S. 347 ff., 353 ff. Zur Messung der Punitivität wurden verschiedene Indikatoren gebildet. Berücksichtigt wurden die Anzahl registrierter Delikte, die Zahl der Verurteilten wegen eines spezifischen De-
Frieder Dünkel
161
1 Internationale Probleme Wales zeigte sich ein Trend zur Verhängung längerer Strafen bei fast allen erfassten Deliktsgruppen (Tötungs-, Raub-, Vergewaltigungs- und Einbruchsdelikte), in den Niederlanden nur bei sexueller Gewalt.66 Die Studie kann zum Verständnis der erheblich höheren Gefangenenraten in den USA und dem Anstieg der Gefängnisbelegung in England/ Wales und in den Niederlanden beitragen. Während in England und Wales die Strafhärte zunahm, kann man das in den Niederlanden (noch) nicht durchgängig sehen (das Strafenniveau liegt zumeist immer noch unter dem europäischen Durchschnitt), allerdings war in den Niederlanden die Zahl der Verurteilten (d.h. die Kriminalitätsrate und die Wahrscheinlichkeit zu einer Freiheitsstrafe verurteilt zu werden) erhöht. Möglicherweise hätten die Autoren noch deutlichere Unterschiede und Erklärungsansätze gefunden, wenn sie auch die Verurteilungen wegen Drogendelikten einbezogen hätten. Der internationale Vergleich ebenso wie die Analyse der Entwicklung der bundesdeutschen Sanktionspraxis machen deutlich, dass eine Reduzierung der Gefängnisbelegung – je nach vorherrschender Sanktionspraxis – auf unterschiedliche Weise erreicht werden kann (sog. Front-door- oder Back-door-Strategien).67 In Deutschland erscheint dies vor allem über eine Verkürzung der durchschnittlichen Haftzeiten erreichbar. Dies könnte einmal im Wege einer Reduzierung der von Gerichten ausgesprochenen Strafen (Minderung der Strafrahmen, Einschränkung erhöhter Mindeststrafen) erfolgen oder durch eine Verkürzung der verbüßten Haftzeit infolge der Ausweitung der bedingten Entlassung.68 Aber auch die Senkung der Zahl jährlichen Inhaftierungen im Bereich kurzer Freiheitsund Ersatzfreiheitsstrafen könnte Entlastung verschaffen.69 Der Ausbau oder die Reduzierung des Gefängniswesens und der Umfang des Gebrauchs von Freiheitsstrafen stellen sich vor allem als Resultat kriminalpolitischer Entscheidungen und nicht so sehr der Kriminalitätsentwicklung dar.70 Die Entwicklung in den westeuropäischen Ländern im Laufe der letzten 20 Jahre zeigt, dass einem Anstieg der Gefangenenraten durch spezifische kriminalpolitische Maßnahmen wirksam begegnet werden kann. Als beispielhaft können hier die Entwicklung in Schweden (jedenfalls bis zum Jahr 2000) mit der Ausweitung von bedingten Entlassungen und neuerdings der Einführung des elektronisch überwachten Hausarrests bei kurzen Freiheitsstrafen genannt werden sowie die in Dänemark mehrfach im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte vorgenommenen Änderungen der Strafrahmen, die einen ansonsten nicht zu vermeidenden Ausbau der Haftplatzkapazitäten verhindert haben. Ein weiteres Beispiel ist Finnland, das mit einer Kumulation von kriminalpolitischen „Back-“ und „Front-door“-Strategien (d.h. Reduzierung des „Inputs“ durch weniger verhängte Freiheitsstrafen von ggf. kürzerer Dauer und Erhöhung des „Outputs“ durch vermehrte bedingte Entlassungen) eine erhebliche Reduzierung der Gefangenenraten erreicht hat.71
66
67 68 69 70 71
likts, die Anzahl der zu unbedingter Freiheitsstrafe Verurteilen und die Dauer der diesbezüglich verbüßten Haftzeit, vgl. Blumstein/Tonry/Van Ness 2005, S. 353 ff. Vgl. Blumstein/Tonry/Van Ness 2005, S. 371 ff.; In der Schweiz gab es bei Tötungs- und Raubdelikten ausgehend von einem niedrigeren Niveau ebenfalls einen signifikanten Aufwärtstrend, in Schottland und Kanada teilweise aber eine abnehmende Straflänge. Vgl. Snacken/Beyens/Tubex 1995; Dünkel/Geng 2003; Dünkel 2005; 2009; Dünkel/Snacken 2005. Verstärkte Nutzung der Entlassung bereits nach Verbüßung der Hälfte der Strafe gem. § 57 Abs. 2 StGB; vgl. zu Vorschlägen de lege ferenda Dünkel 2005; 2009 § 57 Rn. 132 f. Vgl. hierzu Dünkel/Scheel/Grosser 2002; Dünkel/Scheel 2004; 2006. Vgl. zusammenfassend Dünkel/Snacken 2001; von Hofer 2004; Lappi-Seppälä 2007; 2009. Vgl. zusammenfassend HEUNI 1997; Dünkel/Snacken 2001; Lappi-Seppälä 2004; 2007 (auch zu den Ursachen des zwischenzeitlichen Anstiegs von 55 auf ca. 70 Gefangene pro 100.000 der Wohnbevölkerung in Finnland).
162
Frieder Dünkel
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung
2.4
Empirisch vergleichende Arbeiten
Eine der ersten heutigen empirisch-methodischen Ansprüchen genügenden international vergleichenden Strafvollzugsstudien war die Untersuchung von Akers, Hayner und Gruninger über Phänomene der Prisonisierung in fünf Ländern aus dem Jahr 1977.72 In ihrem theoretischen Konzept bezogen sich die Autoren auf die klassischen gefängnissoziologischen Ansätze insbesondere von Clemmer (1938) und Wheeler (1961), die den Prozess der Anpassung von Insassen an eine resozialisierungsfeindliche Gefängnissubkultur in amerikanischen Gefängnissen der 1930er bzw. 1950er Jahre beschrieben hatten. Dem sog. Deprivationsmodell, das die Subkultur als Reaktion auf die Entbehrungen der Inhaftierungen ansieht, steht das „Importmodel“ gegenüber, das die Einstellungen und Werthaltungen der Inhaftierten mit ihrer vorinstitutionellen Biographie (Sozialisation) erklärt. Akers/Hayner/Gruninger untersuchten Insassen in 7 Gefängnissen in den USA, 8 in Mexiko, 3 in Westdeutschland, 2 in England und 2 in Spanien. Die Ergebnisse konnten – jenseits kultureller Unterschiede – als Bestätigung einer Kombination beider theoretischer Erklärungsansätze der Subkultur bewertet werden. Darüber hinaus interessant war die Feststellung, dass die amerikanischen Vollzugsverhältnisse mehr als die europäischen (Deutschland, England, Spanien) und vor allem als die mexikanischen zur Ausbildung subkultureller Erscheinungen beitrugen. Andererseits fand die Hypothese, dass mit zunehmend behandlungsorientierter (versus „kustodialer“) Ausgestaltung des Vollzugs die negativen Einstellungen i.S. der Subkultur abnähmen, nur teilweise Bestätigung.73 Die Unterschiede im Vergleich der verschiedenen Länder waren größer als diejenigen zwischen unterschiedlichen Anstaltsarten innerhalb eines Landes. Die Prisonisierung war in Deutschland und Spanien stärker mit dem Anstaltstyp (Deprivationsmodell), in Mexiko und England stärker mit der Kriminalitätsbelastung der Insassen (Importmodell) assoziiert. In einigen wichtigen Dimensionen wird jedoch die Bedeutung der Vollzugsgestaltung hervorgehoben. Eine positivere Einstellung zum Vollzug und zu Resozialisierungsangeboten wurde bei weniger repressiven und stärker behandlungsorientierten Anstalten deutlich. Die Öffnung des Vollzugs (z.B. Vollzugslockerungen) trägt offensichtlich auch zu einer Reduzierung sexuell devianter Verhaltensweisen, des Drogenkonsums bzw. gewalttätiger subkultureller Hierarchien bei.74 In der Folge gab es auf nationaler Ebene immer wieder Replikationen der amerikanischen Gefängnissubkulturforschung,75 jedoch – soweit ersichtlich – nicht im Sinne einer interkulturell bzw. international vergleichenden Forschungsperspektive. Quantitativ empirisch vergleichende Strafvollzugsforschung im Sinne primärer Datenerhebung in unterschiedlichen Ländern hat im Übrigen Seltenheitswert. Immerhin gibt es jedoch vereinzelt Projekte wie die Studie zum Jugendstrafvollzug in Deutsch-
72 73 74 75
Vgl. Akers/Hayner/Gruninger 1977, S. 527 ff. Vgl. Akers/Hayner/Gruninger 1977, S. 537 ff. Vgl. Akers/Hayner/Gruninger 1977, S. 549. Vgl. für Deutschland Waldmann 1968; Harbordt 1972; Hürlimann 1993.
Frieder Dünkel
163
1 Internationale Probleme
land und Griechenkland auf der Basis einer Kooperation der Universitäten Köln (Michael Walter) und Thessaloniki (Angelika Pitsela). Die eher qualitative Befragung von insgesamt 12 Jugendstrafgefangenen in Deutschland (Siegburg) und in einer griechischen Jugendanstalt ergab einige interessante Befunde zu den Lebensbedingungen und deren Einschätzung durch die Gefangenen. Bemerkenswert erscheint, dass in der griechischen Anstalt, obwohl in Griechenland keine Arbeitspflicht besteht, alle Gefangenen in Arbeit oder Ausbildungsmaßnahmen integriert waren, während in Siegburg (bei bestehender Arbeitspflicht) weniger als 60 % beschäftigt waren.76 Die beiden Anstalten wiesen jeweils unterschiedliche Vorzüge auf. Das griechische an eine Erwachsenenanstalt (insgesamt 122 Plätze) angegliederte Jugendhaus mit 45 Plätzen zeichnete sich durch eine informelle und sehr positive Atmosphäre zwischen Bediensteten und Gefangenen, zahlreiche Außenkontakte und freie Bewegungsmöglichkeiten innerhalb der Anstalt aus. Allerdings waren die schulischen und beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten und die Entlassungsvorbereitung unzulänglich, während in Siegburg, d.h. einer der größten Jugendanstalten in Europa (700 Haftplätze), die Ausbildungs-, Freizeit- und Sportmöglichkeiten vielfältiger waren. Die Außenkontakte und interne Freizügigkeit war in Deutschland dafür sehr begrenzt, die Atmosphäre eher unpersönlich.77 Die Verfasser betonen, dass der internationale Vergleich die anstaltsspezifischen Problemlagen deutlicher gemacht habe und sehen u.a. darin einen Vorzug ihres Ansatzes.78 Auf die aktuellen empirisch-vergleichenden Arbeiten am Greifswalder Lehrstuhl für Kriminologie wird unter 5.1–5.4 ausführlicher eingegangen, auf die international vergleichenden Studien über psychiatrische Auffälligkeiten bei Strafgefangenen unter 5.1. und 5.3. Ein besonders interessantes Thema im Zusammenhang mit psychischen Auffälligkeiten ist das Thema des Selbstmords im Vollzug. Hier hat eine von Konrad berichtete Studie ergeben, dass die Schwankungen im internationalen Vergleich erheblich sind und zugleich im Längsschnittvergleich Veränderungen beobachtet werden können.79 Im Vergleich der Zeiträume 1983/86 mit 1995/98 ergaben sich besonders hohe Zuwachsraten (Verdoppelung bis mehr als Verdreifachung) der Suizide im Vollzug in Irland, der Slowakei und England/Wales, in Deutschland blieben die Zahlen stabil, in Spanien, Dänemark, Estland und Mazedonien gingen sie zurück. Interessant erscheint der weitere statistische Vergleich, inwiefern die Suizidraten im Vollzug gegenüber den Selbstmorden in der männlichen Allgemeinbevölkerung erhöht sind. Hierbei kamen Griechenland, Portugal und Italien auf eine knapp 20-fach bzw. 14– 15-fach erhöhte Selbstmordrate im Vollzug. In Deutschland war sie „nur“ ca. 6-fach erhöht, nur Rumänien und Ungarn wiesen im Vollzug kaum erhöhte Selbstmordraten auf.80 Die Interpretation der Daten ist schwierig, da es sowohl Konkordanzen wie
76 77 78 79 80
Vgl. Neubacher/Walter/Pitsela 2003, S. 20. Vgl. Neubacher/Walter/Pitsela 2003, S. 23. Vgl. Neubacher/Walter/Pitsela 2003, S. 23. Vgl. Konrad 2001, S. 103 ff. Vgl. Konrad 2001, S. 104, 107.
164
Frieder Dünkel
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung
Diskordanzen bei der Entwicklung von Selbstmordraten innerhalb und außerhalb des Vollzugs gab. Insofern sind möglicherweise differenziertere auf einzelne Länder bezogene Studien notwendig.81
3
Lebensbedingungen und Rechte von Gefangenen: Straf- und Untersuchungshaftvollzug allgemein Die Beobachtung, dass sich die kriminologische bzw. pönologische Forschung im Laufe der 1980er Jahre zunehmend aus dem Strafvollzug zurückzog, hat bei einigen Vollzugsforschern anlässlich des Weltkongresses für Kriminologie 1988 in Hamburg eine Gegenreaktion ausgelöst. In der Folge wurden Fragen der Einhaltung von Mindeststandards einer humanen Behandlung sowie der Rechte und Lebensbedingungen von Gefangenen zum Thema mehrerer internationaler Expertenseminare gemacht. 1989 in Freiburg, 1990 in Kazimierz/Polen und 1992 in Prag (seinerzeit noch Tschechoslowakei) wurden Berichte aus jeweils ca. 25 (auch außereuropäischen) Ländern über die Entwicklung des Strafvollzugs allgemein, der Untersuchungshaft und des Untersuchungshaftvollzugs sowie über den Langstrafenvollzug (u.a. bei sog. „gefährlichen“ Gefangenen) erarbeitet. Der Anspruch der Forschergruppe ging dahin, den Entwicklungsstand und die Probleme der Strafvollzugsreform aus kritischer Sicht als Kontrast zur in internationalen Gremien der Vereinten Nationen und des Europarats üblichen Berichterstattung aus der Sicht von Ministerien der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Ergebnisse der ersten drei Tagungen wurden im Zeitraum bis 1995 veröffentlicht.82 Eine weitere Expertentagung zum Thema der Gefangenenarbeit wurde 1996 durchgeführt. Die Ergebnisse sind ebenso veröffentlicht 83 wie die wiederholten rechtsvergleichenden Analysen und sekundärstatistischen Auswertungen zum Jugendstrafvollzug im internationalen Vergleich.84 Die Arbeitsweise der Forschergruppe und Struktur der Sammelbände war jeweils gleich. Nach einem vorgegebenen Schema wurden von Experten der jeweiligen Länder Landesberichte erarbeitet, die von den Herausgebern zusammenfassend ausgewertet und rechtspolitisch bewertet wurden. Schon in der ersten von van Zyl Smit und Dünkel 1991 herausgegebenen Auflage der allgemeinen Bestandsaufnahme von Strafvollzugssystemen wurde die Unterschiedlichkeit des Entwicklungsstands der rechtlichen und tatsächlichen Ausgestaltung des Strafvollzugs deutlich, insbesondere wenn man die vertretenen nichteuropäischen Länder China, Hongkong, Südafrika und USA mit einbezieht. Auch Kapitel über den DDR-Vollzug und die ehemalige Sowjetunion waren noch enthalten.85 Die dynamische Entwicklung vor allem in den mittel- und osteuropäischen Ländern im Laufe der 1990er Jahre machte eine vollständige Neukonzeption und Überarbeitung des international vergleichenden Sammelbandes „Imprisonment Today and Tomorrow – International Perspectives on Prisoners’ Rights and Prison Conditions“ erforderlich, die 2001 vorgelegt wurde.
81 Vgl. hierzu die Studie von Liebling 1992 bzgl. England. 82 Vgl. van Zyl Smit/Dünkel 2001 (Erstauflage 1991); Dünkel/Vagg 1994; Dünkel/van Zyl Smit 1995. 83 Vgl. van Zyl Smit/Dünkel 1999. 84 Vgl. Dünkel 1990; 1999; vgl. zu Behandlungsangeboten im Jugendvollzug im internationalen Vergleich Weiß 2002. 85 Vgl. Weis bzw. Uss in van Zyl Smit/Dünkel 1991. Frieder Dünkel
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1 Internationale Probleme Der Sammelband enthält insgesamt 26 Länderberichte,86 die jeweils nach einem einheitlichen Schema aufgebaut sind. Nach einer Einführung in das jeweilige Sanktionensystem und die Bedeutung der Freiheitsstrafe darin folgen ein Überblick zur Organisationsstruktur sowie zur theoretischen und rechtlichen Konzeption des Strafvollzugssystems. Ein viertes Hauptkapitel widmet sich spezifischen Problemen wie Beschwerderechten und Kontrollmechanismen anderer Art, der medizinischen Versorgung von Gefangenen, der Gefängnisarbeit, Disziplinar- und Sicherheitsmaßnahmen, Besuchen, Vollzugslockerungen und offenem Vollzug sowie der bedingten Entlassung. Ein fünftes Hauptkapitel behandelt spezifische Problemgruppen im Strafvollzug wie Gefangene in Hochsicherheitsanstalten bzw. im Langstrafenvollzug, Frauen, junge Gefangene, Drogenabhängige und Ausländer bzw. ethnische Minderheiten.87 Abgesehen von diesen Landesberichten enthält der Band Einzelbeiträge von Morgan zur Arbeit des Europäischen Anti-Folterausschusses, von Coyle über die Arbeit von Nicht-Regierungsorganisationen (NGO’s), von Bouloukos und Dammann zur Arbeit der Vereinten Nationen und von Walmsley zum statistischen Vergleich von Gefangenenraten weltweit. Die vergleichende Analyse erfolgte in der als „conclusion“ bezeichneten Zusammenfassung durch die Herausgeber.88 Neben einer stärkeren Verrechtlichung und verbesserter rechtsstaatlicher Kontrollmechanismen (gerichtlich überprüfbare Individualrechte, Ombudsleute und Inspektionen durch unabhängige Gremien bis hin zu der in den 1990er Jahren sich stark ausweitenden Arbeit des Anti-Folterkomitees des Europarats) 89 stellten die Herausgeber vor allem in den mittel- und osteuropäischen Ländern eine allmähliche Verbesserung der Haftbedingungen fest, die allerdings teilweise durch die im Laufe der 1990er Jahre in vielen Ländern zunehmende Überbelegung konterkariert wurde. Daher schlugen die Autoren in Übereinstimmung mit den Empfehlungen des Europarats 90 verschiedene Maßnahmen zur Reduzierung von Gefangenenraten vor. Hierbei geht es um die bereits erwähnten Front-door- und Back-door-Strategien, die entweder den „Input“, d.h. die Zahl der zu Freiheitsstrafe Verurteilten, reduzieren (z.B. durch Ausweitung von alternativen Sanktionen) oder den „Output“ erhöhen, z.B. durch vermehrte bedingte Entlassungen.91 Aber auch im Hinblick auf die Lebensbedingungen der Strafgefangenen wurden weitgehend übereinstimmende Defizite und Probleme festgestellt, insbesondere in Bezug auf einige besondere bzw. besonders vulnerable Gefangenengruppen wie Ausländer, Frauen, Langzeitgefangene, junge Gefangene, Drogen- und Gewalttäter etc.92 Der Sammelband zur Untersuchungshaft und zum Untersuchungshaftvollzug offenbarte die besonderen Problemlagen dieser Gefangenengruppe.93 International übereinstimmend konnte festgestellt werden, dass die Haftbedingungen der Untersuchungsgefangenen, ob-
86 Der Band enthält mit Belgien, Dänemark, Deutschland, England/Wales, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Österreich, Spanien, Schweden und der Schweiz 11 Landesberichte westeuropäischer Länder, mit Estland, Litauen, Polen, Russland, Tschechien, Ungarn 6 mittelund osteuropäische Länder und mit Botswana, Brasilien, Indien, Japan, Kanada, Mozambique, Südafrika, USA und Venezuela 9 Landesberichte nicht-europäischer Länder. 87 Vgl. van Zyl Smit/Dünkel 2001. 88 Vgl. Dünkel/van Zyl Smit in van Zyl Smit/Dünkel 2001, S. 796–859. 89 Vgl. hierzu Bank 1996; Kaiser 1996; Morgan/Evans 2001; Dünkel/Snacken 2005, S. 54 ff. 90 Vgl. die “Recommendation No. R (1999) 22 concerning prison overcrowding and prison population inflation”; ferner Kuhn/Tournier 1999. 91 Zur Situation und möglichen rechtspolitischen Empfehlungen auf der Basis eines europäischen Rechtsvergleichs zur bedingten Entlassung vgl. Dünkel 2005; 2009, § 57 Rn. 90 ff., 134 ff. 92 Vgl. Dünkel/van Zyl Smit in van Zyl Smit/Dünkel 2001, S. 842 ff. 93 Vgl. Dünkel/Vagg 1994.
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1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung wohl diese als unschuldig gelten, in der Regel schlechter sind als diejenigen von Strafgefangenen. Gravierend erscheint dies vor allem aufgrund des nicht nur für Deutschland zutreffenden Befunds, dass ein beachtlicher Anteil (in Deutschland etwa die Hälfte) von Untersuchungshäftlingen später nicht zu einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe verurteilt wird, die U-Haft damit oft die einzige Erfahrung von Freiheitsentzug bleibt. Angesichts fehlender Arbeitsmöglichkeiten und Resozialisierungsangebote, geschweige denn einer auch nur einigermaßen planbaren Entlassungsvorbereitung sind die schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs hier besonders prekär.94 Auch in der Untersuchungshaft sind „vulnerable“ Inhaftiertengruppen zu beachten wie z.B. Jugendliche, Frauen, Ausländer, Angehörige ethnischer Minderheiten, Drogenabhängige und Gefangene mit psychischen Auffälligkeiten, die besonders geschützt werden müssen und ggf. Maßnahmen der Krisenintervention bedürfen.95 In einigen Ländern gab es gute Praxisansätze bei der Untersuchungshaftvermeidung und der Ausgestaltung des Untersuchungshaftvollzugs, wie beispielsweise im Rahmen des in der Schweiz möglichen (freiwilligen) vorzeitigen Strafantritts, der eine frühzeitige Integration in Ausbildungs- oder Behandlungsmaßnahmen ermöglicht.96 Andere international vergleichende Sammelbände zum Strafvollzug haben von den erfassten Ländern und in der Fragestellung teilweise andere Akzentsetzungen gewählt. Weiss und South haben den Autoren offenbar keine strikten Vorgaben gemacht mit der Folge, dass die Beiträge inhaltlich heterogen erscheinen. Generell wird ein stärkerer Akzent auf die strafrechtliche Sanktionspraxis und die Folgen für die Gefangenenraten gelegt, weniger auf organisatorische Fragen der Vollzugsgestaltung. Die erheblichen Unterschiede in der Bestrafungspolitik der einbezogenen amerikanischen, europäischen, asiatischen Länder 97 sowie von Australien und Südafrika waren schon aufgrund der sehr unterschiedlichen kulturellen Traditionen erwartbar.98 Hinzu kommt die Umbruchsituation in Südafrika und Polen.99 Der Grundtenor von Weiss und South bleibt trotz einzelner hoffnungsvoller Ansätze in der Entwicklung von Menschenrechtsstandards angesichts der Globalisierung und damit verbundener zunehmender Armuts- und anderer Probleme eher pessimistisch.100 Die meisten anderen auf den Strafvollzug bezogenen Vergleichsstudien bzw. den Strafvollzug insgesamt thematisierenden Sammelbände behandeln ebenso wie Weiss/South in erster Linie die unterschiedlichen Sanktionensysteme, die Bestrafungspolitik und die Inhaftierungsraten.101 Gelegentlich finden sich auch lediglich „bilaterale“ oder auf wenige Länder beschränkte Vergleiche, die in ihrer Aussage naturgemäß begrenzt bleiben und zudem relativ veraltet sind.102
94 95 96 97
98 99 100 101 102
Vgl. Dünkel/Vagg 1994, S. 869 ff. Vgl. Dünkel/Vagg 1994, S. 894 ff. Vgl. Baechtold in Dünkel/Vagg 1994, S. 593 f. In der Studie einbezogen wurden Berichte über die USA, Kanada, Mexiko, vier Andenstaaten (Ekuador, Kolumbien, Peru und Venezuela), die Niederlande, England/Wales, Deutschland, Polen, Volksrepublik China, Japan, Australien und Südafrika, vgl. Weiss/ South 1998. Vgl. beispielsweise den von Johnson vorgenommenen Vergleich zwischen den USA und Japan in Weiss/South 1998, S. 337 ff. Vgl. van Zyl Smit bzw. Pl atek in Weiss/South 1998, S. 401 ff., 263 ff. Vgl. Weiss in Weiss/South 1998, S. 463 ff. Vgl. insbesondere Doleschal 1977; Doleschal/Newton 1979; Ruggiero/Ryan/Sim 1995. Vgl. z.B. Cooper 1972 (Vergleich Peru/USA); Marnell 1972 (Vergleich Schweden/USA); Bensinger 1984 (Vergleich Israel/USA); Lynch 1988 (Vergleich von Gefangenenraten in England, Kanada, Westdeutschland und den USA).
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1 Internationale Probleme In der Anlage dem o.g. Band von van Zyl Smit und Dünkel vergleichbarer ist der Sammelband von Winterdyk.103 Er enthält Beiträge über 9 Länder (Belgien, Deutschland, Finnland, Indien, Iran, Japan, Kanada, Namibia und Rumänien). Der Sammelband ist didaktisch gut aufbereitet, zumal er als Studienmaterial für Studenten gedacht ist. Abgesehen von einer Einführung fehlt allerdings ein abschließender Systemvergleich. Die wohl profundeste und materialreichste Darstellung der Situation des Strafvollzugs in den mittel- und osteuropäischen Staaten findet sich bei Walmsley.104 Den Übergang vom harten Regime der Sowjet-Ära in eine Zeit der Umstrukturierung (u.a. den Transfer des Strafvollzugs vom Innenministerium in die Zuständigkeit des Justizministeriums in allen mittel- und osteuropäischen Ländern mit Ausnahme Weißrusslands)105 und (wenngleich auf problematischem Ausgangsniveau) der Orientierung an Menschenrechtsstandards hatte Walmsley 1996 in einer ersten Bestandsaufnahme beschrieben.106 2003 legte er nunmehr ein als „Enzyklopädie“ des Strafvollzugs in Osteuropa anzusehendes Werk vor. In 20 übergreifenden Kapiteln werden als Themen dargestellt: die Entwicklung und Situation der Gesetzesreformen, die Organisationsstruktur, Gefangenenzahlen, U-Haft, die Differenzierung, Unterbringung, Hygiene, Gesundheitsfürsorge, Disziplinarmaßnahmen, Kontakte mit der Außenwelt, das Vollzugspersonal, Behandlungsangebote einschließlich Maßnahmen der Entlassungsvorbereitung, Gefängnisarbeit und Ausbildung, Inspektionen und Aufsicht bzw. Kontrolle des Strafvollzugs, Gefängnisbudgets, die Mitarbeit von NGO’s und die internationale Kooperation. Die einzelnen Aspekte wurden anhand eigener Recherchen vor Ort, zahlreichen Interviews mit den Verantwortlichen der Vollzugsverwaltungen und der Auswertung statistischen Materials vertieft. Am Ende seines Überblicks werden die aktuellen Entwicklungen, Probleme, ausstehenden Reformen, aber auch die positiven Leistungen, das Erreichte, zusammengefasst.107 In seiner Analyse nimmt Walmsley immer wieder auf die Inspektionen des AntiFolter-Ausschusses des Europarats Bezug und die daraufhin eingeleiteten Veränderungen bzw. nach wie vor bestehenden Defizite (Beispiel: Moldawien, vgl. S. 46). Die Heterogenität des osteuropäischen Strafvollzugs wird in den insgesamt 24 Länderkapiteln (von Albanien bis Serbien etc.) deutlich. Es würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen, wollte man die überaus verdienstvolle Arbeit von Walmsley inhaltlich detailliert vorstellen. Zwei Beispiele mögen genügen: Im Abschnitt über „Inspection, monitoring and availability of the international standards“ wird deutlich, dass 18 der 24 Länder die Institution eines Ombudsmann eingeführt haben, in 10 Ländern sind internationale NGO’s wie das Helsinki Committee aktiv bzw. zugelassen. In 19 Ländern sind unabhängige justizielle Kontrollen vorgesehen. Keinerlei unabhängige Inspektionen wurden nur für Estland, Kroatien und Montenegro angegeben.108 Das zweite Beispiel betrifft die Personalstruktur in den osteuropäischen Ländern. Als Westeuropäer ist man gewohnt neidvoll auf die skandinavischen Länder zu blicken, die häufig ein Verhältnis der Anzahl von Personalstellen zu Gefangenen von ca. 1: 1 angaben. Nicht unerwartet ist eine sehr viel schlechtere Relation von ca. 1 : 4 (oder mehr) in Weißrussland, der Ukraine, Moldawien, Rumänien oder Litauen. Unbekannt dürfte jedoch sein, dass Kroatien, Montenegro oder Slowenien 2001 auf einen Schlüssel von ca. 1:1 kamen. Natürlich besagt das noch nichts über die Auswahl und Qualifikation des Personals, zudem muss man – um die Qualität der Behandlung einschätzen zu können – 103 104 105 106 107
Vgl. Winterdyk 2004. Vgl. Walmsley 1996; 2003. Vgl. Walmsley 2003, S. 6 f. Vgl. Walmsley 1996. Vgl. Walmsley 2003, S. 97 ff.; zur Entwicklung und Situation in Litauen vgl. nunmehr Sakalauskas 2006, bzgl. Russland Rieckhof 2008. 108 Vgl. Walmsley 2003, S. 84.
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1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung die sog. Fachdienste (Sozialarbeiter, Psychologen und Lehrer) näher betrachten, ein Bereich, in dem überall noch Nachholbedarf besteht. Die Beispiele sollen lediglich verdeutlichen, dass auch jenseits des nicht mehr existierenden „eisernen Vorhangs“ eine sehr differenziert zu betrachtende „Strafvollzugswelt“ entstanden ist mit teils fortschrittlichen (z.B. Kroatien, Slowenien, Ungarn), teils noch immer sehr rückständigen Systemen (z.B. Ukraine, Weißrussland). Ein im Wesentlichen auf das Strafvollzugsrecht bezogener Sammelband mit Berichten über 19 vorwiegend europäische und südamerikanische Länder (andere Kontinente sind mit Berichten über Marokko, Südafrika, Japan, Iran und USA vertreten) enthält leider keinerlei vergleichende Analyse.109 Auch begrenzt der fehlende rechtstatsächliche oder empirische Bezug der einzelnen Landesberichte den Erkenntnisgewinn beträchtlich. Des weiteren finden sich einzelne Sammelwerke, die sich spezifischen Problemen wie beispielsweise der Drogenbehandlung oder der Gesundheitsfürsorge widmen. Die Ergebnisse eines 1999 abgehaltenen Seminars der sog. Pompidou-Gruppe des Europarats zur Bekämpfung des Drogenmissbrauchs110 zeigten, dass die meisten Länder des Europarats (allerdings zumeist erst seit Ende der 1980er Jahre) Drogentherapie in verschiedenen Formen vorsehen.111 Hatten schon die Berichte von Walmsley angesichts hoher Zahlen von Gefangenen mit Tuberkulose-Erkrankungen sowie anderen gesundheitlichen Problemen wie Alkohol- und Drogenabhängigkeit, HIV-Infizierungen etc. und z.T. unhaltbarer hygienischer Zustände auf die problematische Situation der Gesundheitsfürsorge in den mittel- und osteuropäischen Ländern hingewiesen,112 so wurde seine Bestandsaufnahme in 10 mittel- und osteuropäischen Ländern durch eine Studie von MacDonald weiter vertieft.113 Übereinstimmend wurde bestätigt, dass der illegale Drogenkonsum zunehmend auch in Osteuropa eine Rolle spielt, darüber hinaus aber auch Alkoholprobleme weit verbreitet sind. Systematische Behandlungsprogramme wurden noch nicht überall entwickelt (z.B. nicht in Litauen). Vielfach wurden jedoch drogenfreie Abteilungen eingerichtet und andere spezielle aus dem Westen importierte Programme oder Elemente davon übernommen. Allerdings scheinen diese – wenn entsprechende NGO’s nicht in der Lage sind, ihre Arbeit fortzusetzen – auch wieder eingestellt zu werden. Von einer nachhaltigen Drogenbehandlungsstrategie kann daher noch nicht gesprochen werden.114
4
Einzelprobleme und besondere Vollzugsformen
4.1
Gefängnisarbeit Gefängnisarbeit war historisch gesehen mit den Anfängen des modernen Gefängniswesens aufs Engste verbunden. Ob mehr der Disziplinierungs- und Ausbeutungscharakter oder der Besserungsgedanke das entscheidende Motiv waren, lässt sich nicht eindeutig
109 Vgl. Céré/Japiassú 2007. 110 Vgl. Council of Europe 2000. 111 20 der 26 Länder, die den Fragebogen beantworteten (= 77 %), gaben an, spezifische drogenpolitische Maßnahmen im Strafvollzug entwickelt zu haben, vgl. Turnbull/McSweeney 2000, S. 41 ff., 46. 112 Vgl. Walmsley 2003, S. 33 ff.; vgl. schon zu Beginn der 1990er Jahre: Tomasˇevski 1992. 113 Vgl. MacDonald 2005. Erfasst wurden folgende 10 Länder: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn. 114 Vgl. MacDonald 2005, S. 139 ff., 160. Frieder Dünkel
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1 Internationale Probleme ausmachen. Die Geschichte hat gezeigt, dass beide Elemente in unterschiedlichen Epochen eine mehr oder weniger starke Akzentuierung erfuhren. Diese Ambivalenz spiegelt sich im Titel eines Sammelbandes wieder, der die Ergebnisse einer 1996 in Oñati/Spanien organisierten Tagung zusammenfasst: „Prison Labour – Salvation or Slavery?“ 115 Gefängnisarbeit ist in den meisten Ländern Pflicht (Ausnahme z.B. Frankreich).116 Paradoxerweise gelingt es häufig nur in sehr geringem Umfang bzw. immer weniger, ausreichend Arbeit zur Verfügung zu stellen. Dies gilt nicht nur für die mittel- und osteuropäischen Länder, wo die Gefängnisarbeit Teil der staatlichen Wirtschaft war und mit den sozialen und ökonomischen Veränderungen weitgehend entfallen ist. Noch weniger befriedigend ist die Situation, wenn man die Art der angebotenen Arbeit oder den Umfang bzw. die Art berufsausbildender Maßnahmen betrachtet. Von wirtschaftlich ergiebiger Arbeit kann angesichts der nicht nur in Deutschland minimalen Entlohnung i.d.R. nicht gesprochen werden. Immerhin gab es in England und Wales, in einigen skandinavischen Anstalten und in Deutschland 117 Ansätze einer Neustrukturierung der Gefangenenarbeit nach modernen betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten, die teilweise auch eine deutlich verbesserte Gefangenentlohnung ermöglichte. Allerdings wird eine erhöhte Produktivität, wie die Beispiele in Japan und in den USA zeigten, nicht immer mit einer „Normalisierung“ auch bei der Gefangenenentlohnung verknüpft.118 Andererseits zeigen die wenigen Ansätze einer nicht materiellen Entlohnung im Sinne der sog. Good-time-Regelungen (Strafverkürzungen für arbeitende Gefangene) das Potenzial von Gefangenenarbeit in einem weiter gefassten Kontext der Resozialisierung. Dass angemessen entlohnte Gefangenenarbeit sogar als verfassungsrechtlich gebotener Ausfluss des Resozialisierungsgedankens angesehen werden kann, hat das deutsche BVerfG in seiner wegweisenden Entscheidung aus dem Jahr 1998 verdeutlicht.119 Die geringe Arbeitsentlohnung ist nicht nur in Deutschland ein Problem, substanziellere Entlohnungsformen sind bislang die Ausnahme (vgl. Österreich). Das österreichische Beispiel mit einer volltariflichen Entlohnung unter Einbehalt von 75 % für Unterbringung, Ernährung etc. hätte Vorbild für die vom BVerfG als notwendig erachtete Erhöhung des Arbeitsentgelts in Deutschland sein können.120 Eine deutlich bessere Entlohnung als in Deutschland existiert auch in der Schweiz und in einzelnen Anstalten in skandinavischen Ländern, insbesondere Schweden.121 Auch in aktuellen Kodifikationen mitteleuropäischer Länder ist die Entlohnung relativ gesehen besser: In Slowenien und Kroatien (vgl. das Gesetz von 2001) beträgt sie 25 % des Durchschnittslohns, d.h. sie liegt mehr als doppelt so hoch als in Deutschland. Die zum 1.1.2001 in Kraft getretene Reform in Deutschland hat mit der Erhöhung von 5 % auf 9 % des Durchschnittslohns der Sozialversicherten zwar eine Verbesserung gebracht, im Vergleich zu den als verfassungsrechtlich notwendig eingeschätzten Erhöhungen auf 20– 40 %122 oder wenigstens 15 % (so der Entwurf des Bundesjustizministeriums) bleibt die Reform bescheiden und nur als Kompromiss angesichts der Haushaltslage der Länder verständlich.123 Das BVerfG hat die jetzt
115 116 117 118 119 120 121 122 123
Vgl. van Zyl Smit/Dünkel 1999; Dünkel/van Zyl Smit 1998. Vgl. Hammerschick 1997, S. 72. Vgl. Vagg/Smartt and Dünkel in van Zyl Smit/Dünkel 1999, S. 37 ff., 77 ff. Vgl. van Zyl Smit/Dünkel 1999, S. 342 ff. Vgl. BVerfG ZfStrVo 1998, S. 242 ff.; hierzu Dünkel 1998, S. 14 f. Vgl. BVerfG ZfStrVo 1998, S. 242 = NStZ 1998, S. 478. Vgl. zusammenfassend Dünkel/van Zyl Smit 1998. Vgl. Dünkel 1998, S. 14 f.; Däubler/Spaniol in Feest 2000, Rn. 7 zu § 43. Ein für Deutschland gesetzgeberisches Novum ist die mit 6 Tagen Hafturlaub oder vorverlegter Entlassung – „good time“ – pro Jahr Arbeitstätigkeit des Gefangenen zu honorierende „nichtmonetäre“ Komponente der Arbeitsentlohnung. In einigen ausländischen
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1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung getroffene Regelung als gerade noch verfassungsgemäß angesehen124 und den Gesetzgeber hierbei ermahnt, die Möglichkeiten einer weiteren Anhebung ständig zu prüfen. Die Bemühungen um Reformen in diesem Bereich beziehen sich vor allem auch auf eine Reorganisation des gesamten Gefängnisarbeitswesens unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten (vgl. z.B. England/Wales, Österreich, Schweiz, Deutschland).124a Beim Versuch, die Gefängnisbetriebe wirtschaftlicher und produktiver zu gestalten, treffen Vollzugsverwaltungen allerdings auf erhebliche strukturelle Nachteile. Gefängnisse sind oft weit ab von Industriezentren gelegen und haben es schwer, investives Kapital anzulocken. Häufig existieren auch Beschränkungen des Zugangs zum Markt, und schließlich besteht ein weiteres Handicap darin, dass Gefangene in aller Regel schlecht ausgebildet und wenig arbeitsmotiviert sind.125
4.2
„Gefährliche“ Gefangene und Gefangene mit langen/lebenslänglichen Freiheitsstrafen Das Thema von Langzeitgefangenen wird oft in einem Atemzug mit der Problematik sog. gefährlicher Gefangener behandelt. Hierbei muss klar gestellt werden, dass allenfalls eine Teilkongruenz insoweit besteht, als beispielsweise erheblich gewalttätige und rückfallgefährdete Gefangene häufiger auch lange Freiheitsstrafen verbüßen (insbesondere wenn sie anschließend in Sicherungsverwahrung genommen werden). Andererseits sind Gefangene z.B. mit lebenslangen Freiheitsstrafen, die wegen einer einmaligen Konflikttat verurteilt wurden, im Allgemeinen nicht als „gefährlich“ einzustufen. Der Europarat hat sich wiederholt mit derartigen Problemgruppen befasst, zunächst schon 1976 in der Recommendation No. (76) 2 über „The treatment of long-term prisoners“, dann 1982 im Rahmen der Recommendation No. R (82) 17 über „Custody and treatment of dangerous prisoners“ und dann im Jahr 2003 mit der Empfehlung No. R (2003) 23 über „The administration of long-term and life imprisonment“. Die Lösungen sind im internationalen Vergleich unterschiedlich, wenngleich sich in Anlehnung an die Europaratsempfehlungen ein Konzept der sog. dynamischen Sicherheit gegenüber einer lediglich auf bauliche und technische Außensicherung orientierten Sicherheitsphilosophie durchzusetzen scheint. Dynamische Sicherheit setzt demgegenüber auf das Prinzip „Menschen statt Mauern“ und die Verhinderung von Entweichungen auf der Basis zwischenmenschlicher Kommunikation und Bindung. In zahlreichen europäischen Ländern ist die Gefangenenrate im Gefolge der Zunahme der Gruppe von Gefangenen mit langen Haftstrafen angestiegen (s.o. 2.3). Als „Langstrafer“ gelten – je nach nationaler Tradition unterschiedlich – Gefangene mit Freiheitsstrafen von mehr als zwei, drei, zumeist aber mehr als 5 Jahren.126 Der Europarat bezeichnet in seiner Resolution Nr. 76 (2) bzw. der Empfehlung Rec (2003) 23 aus den Jahren 1976 bzw. 2003 Freiheitsstrafen von mehr als 5 Jahren als Langstrafenvollzug. Der Trend zu längeren Freiheitsstrafen kann – abgesehen von einer Zunahme der wegen bestimmter
124 124a 125 126
Rechtsordnungen gibt es sehr viel weitergehende Regelungen: In Griechenland zählt ein Arbeitstag 1,5- bis 2,5-fach, d.h. der arbeitende Gefangene erhält eine Reduktion von bis zu 1,5 Jahren nach Verbüßung von einem Jahr Freiheitsstrafe. In Spanien können arbeitende Gefangene nach zwei Dritteln anstatt drei Vierteln der Strafe bedingt entlassen werden. In Frankreich ist eine Reduzierung von 7 Tagen pro Monat bzw. maximal drei Monaten pro Jahr möglich, vgl. Dünkel 2009, § 57 Rn. 91 (Tabelle 1). Vgl. BVerfG StV 2002, S. 374. Vgl. für Deutschland zusammenfassend Hillebrand 2009. Vgl. auch Dünkel/van Zyl Smit 1998; Hammerschick 1997. Vgl. i.e. Dünkel/van Zyl Smit 1995; Council of Europe 2002, S. 11 f.; 2003a.
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1 Internationale Probleme Gewaltdelikte Verurteilter – durch eine härtere Strafzumessungspraxis,127 durch die Abschaffung der Todesstrafe in den mittel- und osteuropäischen Ländern (mit der Folge eines Anstiegs der Zahl von Gefangenen mit lebenslangen Freiheitsstrafen) und durch Einschränkungen der bedingten Entlassung (vgl. z.B. Deutschland) bedingt sein. Nach einer Erhebung des Europarats treffen letztere Bedingungen in besonderem Maß auf Bulgarien, Frankreich, Irland, Großbritannien, Portugal und Rumänien zu.128 Zumeist für schwere Delikte verurteilte Langzeitgefangene sind nicht notwendig „gefährlich“ innerhalb des Vollzugs, weder für Mitgefangene noch für Vollzugsbedienstete. Im Gegenteil tragen sie häufig zur Stabilität des Vollzugs wesentlich bei, da sie daran interessiert sind, das Vollzugsleben so friedlich wie möglich zu organisieren. Da allerdings die eingangs erwähnten Haftdeprivationen und schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs ebenso wie die entsprechenden Verarbeitungsmechanismen (coping) mit zunehmender Haftdauer sich stärker auswirken, sollte Langzeitgefangenen von Seiten der Vollzugsverwaltung besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Um die negativen Folgen des langen Freiheitsentzugs zu minimieren, sollte das Vollzugsregime so ausgestaltet werden, dass während und nach der Haftzeit eine bestimmte Mindestversorgung und die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse gewährleistet sind.129 Hierbei handelt es sich um • die grundlegende Versorgung („comfort“) mit Nahrung, Unterkunft, medizinischen Diensten und Schutz vor körperlichem Schaden, Zugang zu motorischer, sensorischer und kognitiver Anregung, Ausgestaltungen des Vollzugs, die dem Grundbedürfnis nach Anerkennung des sozialen Status sowie durch andere Menschen, Unabhängigkeit und Schutz Rechnung tragen. • Selbstwirksamkeit („control“): Das grundlegende Bedürfnis jedes Menschen, dass er in bestimmtem Umfang die Kontrolle über sein Schicksal und seine Umgebung ausüben kann. Dies kann erreicht werden, wenn dem Gefangenen Wahlmöglichkeiten eröffnet werden, z.B. an welchem Freizeit- oder Behandlungsprogramm er teilnehmen will, wie er mit anderen Gefangenen kommuniziert etc. und wenn er zur aktiven Mitgestaltung des Alltagslebens in der Anstalt angeregt wird. • Sinnhaftigkeit („meaning“): Jeder Mensch braucht das Gefühl, dass sein Leben einen Sinn hat. Dies schließt religiöse, philosophische und lebenspraktische Fragen ein. Erziehungs- und Trainingsprogramme können den Gefangenen Langzeitorientierungen und Motivationen vermitteln, die ihnen helfen, ihr Wertebewusstsein und Selbstwertgefühl zu erhalten. Man darf davon ausgehen, dass Gefangene, welche die Befriedigung der genannten existentiellen Bedürfnisse in der legitimen offiziellen Gefängnisstruktur nicht vorfinden, diese anderswo suchen werden, insbesondere in der Subkultur der Gefangenen.130 Eine „gute Praxis“ in diesem Sinne wurde in der Empfehlung des Europarats Nr. R 76 (2) über die Behandlung von Langzeitgefangenen hervorgehoben und lässt sich in einigen Gefängnissen europaweit beobachten, indem den in geschlossenen (teilweise hoch gesicherten) Anstalten untergebrachten Gefangenen bei starker Außensicherung der Anstalt im Inneren ein „aktives“ und liberales Regime angeboten wird.131 Offene Zellen und damit weit reichende Kommunikationsmöglichkeiten finden sich z.B. in Belgien oder Tschechien. Eine Vielzahl von höher qualifizierten Gefängnisarbeitsmöglichkeiten, schulischen 127 128 129 130 131
Vgl. hierzu Ashworth 2000. Vgl. Kuhn/Tournier/Walmsley 1999, S. 22. Vgl. McKay u.a. 1979. Vgl. McKay u.a. 1979, S. 55. Ebenso die Empfehlung Rec (2003) 23; vgl. zu einem empirischen international vergleichenden Projekt zum Langstrafenvollzug in Europa unten 5.3.
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1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung und beruflichen Ausbildungsprogrammen, die ggf. von Institutionen außerhalb der Anstalt angeboten werden und die zu offiziellen Abschlüssen führen, finden sich ebenfalls in zahlreichen Ländern (z.B. Belgien, Deutschland). Weitere Beispiele einer positiv zu bewertenden Beteiligung von Gefangenen sind die gewählten Gefangenenkomitees in einigen niederländischen Gefängnissen oder die intensive Kommunikation von Vollzugspersonal und Gefangenen im Wohngruppenvollzug in dänischen oder deutschen Gefängnissen. Die Erfahrung in westeuropäischen Gefängnissen zeigt, dass eine Trennung von „Lebenslänglichen“ von anderen Langzeitgefangenen nicht notwendig ist, da das Vollzugsregime und Sicherheitsanforderungen ähnlich auszugestalten sind.132 Obwohl der Begriff in der Strafrechts- und Strafvollzugspraxis weit verbreitet ist, wird das Konzept der „Gefährlichkeit“ kontrovers behandelt, zumal es in verschiedenen Ländern und Zeitepochen unterschiedlich definiert wurde und wird. So bezog sich das Label „gefährlicher Straftäter“ im 19. Jahrhundert auf Delinquentengruppen wie Jugendliche, Nichtsesshafte, Geisteskranke und Wiederholungstäter bei Eigentumsdelikten (Gewohnheitsdieben), während man am Ende des 20. Jahrhunderts in den westlichen Ländern vor allem Gewalt- und Sexualtäter, in anderen Ländern politische Gegner oder Wirtschaftssowie Umweltstraftäter damit meint. Auch innerhalb der Strafrechtspflege wird deutlich, dass das Konzept der „Gefährlichkeit“ eine soziale Konstruktion darstellt, die unter verschiedenen Rahmenbedingungen nach Kriterien erfolgt, welche für das jeweilige System funktional sind. Straftäter, die von der Gesellschaft und den Gerichten als „gefährlich“ eingestuft werden, weil sie eine schwere Gewalttat verübt haben, werden im Allgemeinen zu langen Haftstrafen verurteilt. Der Strafvollzug wird diese Verurteilten aber nicht notwendig als „gefährlich“ einstufen, weil sie wesentliche Funktionen des Vollzugssystems nicht bedrohen, wie beispielsweise die Sicherung vor Entweichungen, die Gewährleistung von Ordnung und Disziplin, die Vorstellung der Öffentlichkeit von einem rationalen, legitimen und effizienten Vollzug, etc. Zahlreiche Wissenschaftler fordern daher einen Verzicht auf das Konzept der „gefährlichen Täterpersönlichkeit“, das sie als unwissenschaftlich bezeichnen, und ziehen es vor, auf „gefährliche“ Situationen oder Interaktionen hinzuweisen.133 In Bezug auf Gefangene sollte man daher zwischen „gefährlichen“ Insassen (die wegen besonders schwerer, ggf. wiederholter Delikte verurteilt sind), fluchtgefährdeten Insassen (die ein Sicherheitsproblem darstellen) und schwierigen Insassen (die ein „Kontrollproblem“ darstellen) unterscheiden.134 In diesem Sinne „gefährliche“ Gefangene sind regelmäßig Langzeitgefangene, auf deren Behandlung schon oben eingegangen wurde. Eine systematische Überbetonung des Sicherheitsgedankens auf der Basis der früheren Delikte kann zu erheblichen Problemen innerhalb des Vollzugs führen. Fluchtgefährdete Gefangene sind nicht notwendig „Langstrafer“, allerdings ist die Empörung in der Öffentlichkeit besonders groß, wenn ein Gewalt- oder Sexualtäter entweicht. Entsprechende Gefangene werden daher häufig unter besonders strengen Sicherungsvorkehrungen untergebracht. Hierbei sind unterschiedliche Konzepte zu unterscheiden: Die Konzentration von schweren Delinquenten in einer Hochsicherheitsanstalt oder -abteilung, entweder mit strenger Isolation der einzelnen Gefangenen oder im Rahmen eines intern liberalen und offenen Regimes, die Integration von „gefährlichen“ Gefangenen 132 So auch die Empfehlungen des Europarats in der Recommendation Nr. 76 (2); einen Überblick über die Situation des Langstrafenvollzugs gaben die Europäischen Justizministerien anlässlich einer Tagung im Vorfeld der Verabschiedung der Recommendation No. Rec (2003) 23 in Moskau 2001, der im Penological Information Bulletin veröffentlicht wurde, vgl. Council of Europe 2002, S. 16 ff. 133 Vgl. Floud 1982; Nash 1992. 134 Vgl. hierzu auch die Erläuterungen zur Empfehlung Nr. R (82) 17 des Europarats. Frieder Dünkel
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1 Internationale Probleme in den Normalvollzug mit oder ohne systematische Verlegungen i.S. eines „Karussellvollzugs“ oder die Absonderung von anderen Gefangenen. Das Anti-Folter-Komitee des Europarats hat seine gravierenden Bedenken an der Praxis langfristiger Isolation einzelner Gefangener und der regelmäßigen „Reihum-Verlegungen“ problematischer Gefangener im Sinne des „Karussellsystems“ geäußert 135 und einige Vollzugsregime mit extremer Isolation als inhumane und erniedrigende Behandlung kritisiert, die zu psychischen Langzeitschäden der Betroffenen führe. Ein besonders gesicherter Vollzug sollte daher durch ein aktives Regime, intensive Kommunikationsbeziehungen zwischen Personal und Insassen sowie regelmäßige Überprüfung (der weiteren Notwendigkeit der Sicherungsmaßnahmen) „kompensiert“ werden. Das Konzept des „schwierigen“ Gefangenen zeigt erneut Bezüge zu verschiedenen Problemen: aggressives Verhalten gegenüber Vollzugsbediensteten und/oder Mitgefangenen, widerspenstige Gefangene und Gefangene mit zahlreichen Disziplinarverfahren. Die Forschung und die Erfahrung von Vollzugspraktikern zeigen, dass derartiges Verhalten mit der Umgebung des Gefangenen zusammenhängt. Ein Gefangener kann in einer Anstalt ein schwer oder kaum handhabbares Kontrollproblem darstellen, während er in einer anderen Anstalt keinerlei Probleme macht. Die Zusammenlegung von derart schwierigen Gefangenen in besonderen Abteilungen hat eine bewegte Geschichte in zahlreichen Ländern: Abteilungen mit einem intern offenen und liberalen Regime erzielten regelmäßig gute Ergebnisse, erschienen allerdings nach außen wie eine Belohnung für schlechtes Verhalten. Demgegenüber sind die Auswirkungen sehr strenger und auf Absonderung angelegter Vollzugsregime eher negativ, indem die Ablehnung des Vollzugs durch den Gefangenen noch bestärkt wird und die Behandlung als unmenschlich kritisierbar wird. Da nur eine kleine Zahl von Gefangenen permanente Probleme macht, die im Zusammenhang mit Persönlichkeitsproblemen vermutet werden, sollte ein professioneller Umgang des Behandlungspersonals im Normalvollzug gefördert und ein konsistentes sowie faires Beschwerde- und Disziplinarverfahren praktiziert werden. In Notfällen, wenn die Konflikte eskalieren, kann eine Verlegung der schwierigsten Gefangenen zu einer Beruhigung führen. Verletzbare Gefangene, wie in der Hierarchie der Gefängnissubkultur verachtete Sexualtäter, können zumeist im Normalvollzug verbleiben, wenn die Vollzugsbediensteten unmissverständlich deutlich machen, dass Mobbing nicht toleriert und zu einschneidenden Einbußen für die Täter führen wird. Diese Probleme sind allerdings in den großen Schlafsälen der mittel- und osteuropäischen Gefängnisse nur schwer zu kontrollieren. Die 1992 in Prag organisierte Expertentagung über Langzeit- und „gefährliche“ Gefangene kam im Ergebnis zu vergleichbaren Schlussfolgerungen wie die verschiedenen Empfehlungen des Europarats zuvor und später (vgl. die Empfehlung von 2003).136 Es bedarf einer differenzierten Sichtweise und in besonderem Maß sensiblen und qualifizierten Vollzugsorganisation, um einen optimalen Weg zwischen (notwendiger) Sicherung und dennoch konsequenter Hinführung zu einer Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu finden. Glücklicherweise gibt es in Europa (im Gegensatz zu den USA) trotz des Anstiegs von Langzeitgefangenen nur sehr vereinzelt Insassen, bei denen man aufgrund ihrer Gefährlichkeit mit einer tatsächlich lebenslangen Vollstreckung von Freiheitsentzug rechnen muss.137 135 Vgl. den zweiten General Report des Antifolterkomitees, CPT/Inf (92) 3. 136 Vgl. Dünkel/van Zyl Smit 1995. 137 Als Beispiel könnte hier die nachträgliche Sicherungsverwahrung in Deutschland genannt werden, die allerdings nach den Entscheidungen des BVerfG ebenso wie die lebenslange Freiheitsstrafe unter dem Primat des Resozialisierungsgedankens steht und dem Gefangenen jederzeit die Hoffnung belassen muss, die Freiheit wieder zu erlangen, andernfalls wäre ein Verstoß gegen die Menschenwürde anzunehmen, vgl. z.B. BVerfGE 45, S. 187 ff.; 72, S. 105 ff.; 86, S. 288 ff. (zur lebenslangen Freiheitsstrafe); BVerfG NJW 2004, S. 750 ff. (zur nachträglichen Sicherungsverwahrung).
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Frieder Dünkel
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung Eine international vergleichende Studie zur lebenslangen Freiheitsstrafe in den USA, England/Wales, Deutschland und im internationalen Strafrecht mit Bezugnahmen auf zahlreiche andere Länder legte van Zyl Smit vor.138 Seine differenzierte rechtswissenschaftliche Analyse zeigt auf, dass die ungelösten dogmatischen und verfassungsrechtlichen Probleme sowie die rechtstatsächlichen Unterschiede in Strafzumessung und Vollzug es notwendig erscheinen lassen, intensiver über die Verhängung und Vollzugspraxis nachzudenken.
4.3
Jugendstrafvollzug und freiheitsentziehende Sanktionen gegenüber jungen Rechtsbrechern International vergleichende Analysen des Jugendstrafvollzugs stehen vor der Schwierigkeit, die je nach vorherrschendem Jugendrechtssystem vorhandenen funktionalen Äquivalente für die in Deutschland existierenden Jugendstrafanstalten zu identifizieren. Denn in wohlfahrtsstaatlich orientierten Jugendrechtssystemen werden Jugendliche in Heimen oder ähnlichen Einrichtungen untergebracht, die nicht als Gefängnisse bezeichnet werden (vgl. z.B. in den wohlfahrtsrechtlichen Jugendrechtssystemen in Belgien, Polen und Schottland), aber durchaus vergleichbare Funktionen erfüllen wie Jugendstrafanstalten in Deutschland.139 Hinzu kommt das Problem der Untersuchungshaft, die häufig die Jugendstrafe überlagert und faktisch als kurze Freiheitsstrafe fungiert.140 Allerdings variieren die Altersgrenzen allein im europäischen Vergleich beträchtlich. Während die wohlfahrtsrechtlich organisierte Heimunterbringung regelmäßig mit Vollendung des 18. Lebensjahrs endet, bezieht der Jugendstrafvollzug überwiegend die Altersgruppe der Heranwachsenden (zumeist allerdings nur soweit sie als Jugendliche bereits verurteilt wurden) mit ein, z.T. auch junge Erwachsene bis zum Alter von 24 oder 25 Jahren. In Deutschland werden auch 18–21-jährige Heranwachsende ins Jugendstrafrecht einbezogen und damit im Vollzug die Altersgruppe bis zu 24 Jahren, die insgesamt ca. 90 % der Jugendstrafvollzugsinsassen ausmachen.141 Auch in anderen Ländern ist Jugendstrafvollzug – z.T. überwiegend – zu einem besonderen Strafvollzug für junge Erwachsene geworden (zumeist im Alter von bis zu 21, teilweise aber bis zu 27 Jahren, vgl. Österreich), der sich allerdings nach inhaltlicher Ausgestaltung und behandlungs- bzw. ausbildungsorientierter Ausstattung klar vom Erwachsenenstrafvollzug unterscheidet. Andererseits gibt es auch Länder, in denen Jugendstrafvollzug tatsächlich nur Jugendliche i.e.S. (d.h. unter 18-Jährige) betrifft, wie beispielsweise in England/Wales (vgl. hierzu Tabelle 2 mit einer Übersicht der Altersgrenzen jugendstrafrechtlicher Verantwortlichkeit und der Altersgruppen des Jugendstrafvollzugs bzw. von vergleichbaren Einrichtungen). Jugendstrafanstalten oder vergleichbare Einrichtungen sind weltweit vorrangig auf Ziele der Erziehung, Besserung, Resozialisierung u.ä. ausgerichtet. Vom theoretischen Anspruch her wird das Prinzip einer zunehmenden Öffnung gegen Ende der Haftzeit angestrebt und stehen schulische und berufliche Bildungsmaßnahmen in den west- ebenso wie
138 Vgl. van Zyl Smit 2002. 139 Die Vergleichbarkeit wird noch schwieriger, wenn man besondere Vollzugsarten wie den Jugendarrest mit einbezieht, der in den meisten Ländern nicht als eigenständige Vollzugsart existiert, die dafür aber auch kein erhöhtes Mindestmaß der Jugendstrafe kennen und demgemäß kurze Freiheitsstrafen für Jugendliche ohne weiteres verhängen können, z.B. Frankreich und Österreich, vgl. Dünkel 1990; 1999. 140 Deshalb hat der von Dünkel 1990 vorgelegte internationale Vergleich alle Formen jugendstrafrechtlicher Freiheitsentziehung (wie Jugendstrafe, Jugendarrest und U-Haft) einbezogen, vgl. Dünkel 1990. 141 Vgl. Dünkel 2003a; 2006. Frieder Dünkel
175
1 Internationale Probleme Tabelle 2: Vergleich der Altersgrenzen strafrechtlicher Verantwortlichkeit und der Altersgruppen im Jugendstrafvollzug bzw. vergleichbaren Einrichtungen in Europa Land
Strafmündigkeitsalter
Alter, ab dem Erwachsenenstrafrecht angewendet werden kann/muss
Altersgruppen im Jugendstrafvollzug o.ä.
Belgien Bulgarien Dänemark* Deutschland England/Wales Estland Finnland* Frankreich Griechenland Irland Italien Kroatien Lettland Litauen Montenegro Niederlande Nordirland Norwegen* Österreich Polen Portugal Rumänien Russland Schweden* Schweiz Schottland Serbien Slowakei Slowenien Spanien Tschechien Türkei Ungarn Zypern
16***/****/18 14 15 14 10/12/15** 14 15 10******/13 8******/13 12/16** 14 14/16** 14 14****/16 14/16** 12 10 15 14 13***** 12*****/16 14/16 14****/16 15 10 8*****/16 14/16** 14/15 14****/16 14 15 12 14 10/14**
16/18 18 15/18/21 18/21 18 18 15/18 18 18/21 18 18/21 18/21 18 18/21 18/21 16/18/21 17/18 18 18/21 15/17/18 16/21 18/(20) 18/21 15/18/21 18******* 16/21 18/21 18/21 18/21 18 18/18 + 15/18 18 16
–18 (nur Erziehungsheime) 14–21 15–23 14–24 10/15–18/21 14–21 15–21 13–18 + 6 Mon./23 13–21/25 10/12/16–18/21 14–21 14–21 14–21 14–21 14–21 12–21 10–21 15–21 14–27 13–18/15–21 12/16–21 16–21 14–21 15–25–22 10/15 16–21 14–23 14–18 14–23 14–21 15–19 12–18/21 14–24 14–21
* ** *** **** *****
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Nur Strafmilderungen im allg. Strafrecht ****** Nur Erziehungsmaßnahmen (sanctions éducatives) Bestrafungsmündigkeit – Jugendstrafvollzug; ******* Das schweizerische Erwachsenenstrafrecht sieht als spezielle Nur für Straßenverkehrsdelikte (erzieherische) Maßnahme die Unterbringung 18–25-JähriNur für einige besonders schwere Delikte ger in einer Anstalt für junge Erwachsene vor, in der sie bis Anwendung des Jugendrechts, keine strafrechtliche zur Vollendung des 30. Lebensjahrs verbleiben können, vgl. Verantwortlichkeit i.e.S. Art. 61 schwStGB.
Frieder Dünkel
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung osteuropäischen Ländern, Lateinamerika, Japan und Nordamerika im Vordergrund. In Ländern mit einer vergleichsweise kurzen Inhaftierungszeit wie etwa den Niederlanden oder Dänemark, Norwegen und Schweden sind entsprechende Ausbildungsangebote vielfach aus der Anstalt herausverlagert, und es werden die Gemeinden stärker in die Resozialisierungsarbeit eingebunden. Zu beachten ist, dass u.U. geschlossene Heime (obwohl unter der Regie der Jugend- oder Wohlfahrtsbehörden stehend) zu einem funktionalen Äquivalent zur Jugendstrafe werden können. Dies ist in wohlfahrtsstaatlich organisierten Jugendrechtssystemen wie Belgien, Polen oder Schottland vorgegeben. Allerdings wurden auch in am Justizmodell orientierten Systemen wie England seit 1998 einige sog. secure training centres für 10–14-jährige Wiederholungstäter („persistent offenders“) eingerichtet.142 In Frankreich wurden seit 2006 ebenfalls einige geschlossene Erziehungsheime eröffnet (geplant sind 30 Heime mit insgesamt ca. 300 Plätzen) 143 und in Deutschland gibt es ca. 260 geschlossene Plätze in der Heimerziehung, in die u.U. auch unter 14-Jährige eingewiesen werden können.144 Nicht zuletzt sind die anglo-amerikanischen „Verirrungen“ militärisch organisierter Anstalten wie der sog. Boot-camps zu nennen, die allerdings weder die gesetzten spezialpräventiven Erwartungen noch menschenrechtliche Standards zu erfüllen vermögen.145 In Europa gibt es demgemäß – soweit ersichtlich – keine Befürworter der Übernahme derartiger Anstalten. Für die konsequente Weiterentwicklung eines erzieherischen bzw. resozialisierungsorientierten und zugleich rechtsstaatlichen Jugendstrafvollzugs (ebenso wie der Heimerziehung o.ä.) werden die im November 2008 beschlossenen „European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions and Measures“ von herausragender Bedeutung sein.145a
4.4
Frauenstrafvollzug Schon vor der Greifswalder Untersuchung zum „Frauenstrafvollzug im europäischen Vergleich“ (s.u. 5.2) war der Frauenstrafvollzug immer wieder Gegenstand empirischer Untersuchungen. So führte eine Gruppe verschiedener NGOs unter der Federführung der katalanischen Organisation SURT eine qualitative Studie zu den beruflichen Wiedereingliederungschancen inhaftierter Frauen durch. Mit inhaftierten Frauen wurden qualitative Interviews in folgenden Ländern geführt: Deutschland, England/Wales, Frankreich, Schottland, Spanien. Die Untersuchung ergab deutliche Unterschiede zwischen und innerhalb
142 Vgl. zu den unterschiedlichen Modellen Dünkel 2003b; ferner und zur Entwicklung in England/Wales Cavadino/Dignan 2006, S. 199 ff., 220 ff. 143 Die centres fermés éducatifs in Frankreich sind für 13- bis 18-jährige Jugendliche vorgesehen und beinhalten ein striktes erzieherisches Regime, sind allerdings nicht alle entweichungssicher. Im ersten 2006 eingerichteten Heim in Saverne gibt es lediglich einen knapp 2 m hohen Zaun als „Entweichungssicherung“. Es wird ein sehr personalintensives pädagogisches Erziehungs- und Betreuungskonzept verwirklicht (16 Erzieher etc. auf 10 Heiminsassen). Die Kosten betrugen im Jahr 2006 565,– € pro Tag und Bewohner. Seit 2007 werden zusätzlich 7 Jugendstrafanstalten (mit jeweils 60 Plätzen) eingerichtet, womit die Trennung Jugendlicher und Erwachsener im Strafvollzug gewährleistet werden kann, vgl. Dünkel/Pruin 2009 m.w.N. 144 Rechtsgrundlage ist insoweit das Familienrecht, vgl. §§ 1631b, 1666 BGB, zur Zahl der geschlossenen Einrichtungen vgl. auch Sonnen 2002, S. 326 ff., 330. Die geschlossenen Heimplätze machen allerdings nur etwa 0,3 % der jugendhilferechtlichen Heimerziehung aus, vgl. Dünkel 2008b. 145 Vgl. Gescher 1998; Dünkel 1999, S. 117 ff. m jew. w. N. 145a Vgl. Rec (2008) 11; hierzu Dünkel 2008; 2008a; Dünkel/Pruin 2009. Frieder Dünkel
177
1 Internationale Probleme der Länder und deckte zahlreiche Unzulänglichkeiten der beruflichen Vorbereitung auf die Entlassung bzw. der Berufschancen nach der Entlassung auf.146 Eine breit angelegte Studie unter der Leitung der Universität Montréal befasste sich Mitte der 1990er Jahre mit dem Strafvollzug in insgesamt 16 geschlossenen und 8 offenen Frauenanstalten in Kanada (7), den USA (6), England/Wales (2), Schottland (1), Deutschland (3, Bützow, Vechta und Bremen), Dänemark (1), Finnland (1) und Norwegen (2). Der qualitative methodische Ansatz ging von einem Lebensweltkonzept aus und umfasste ein bis mehrtägige Anstaltsbegehungen durch i.d.R. Teams von nationalen (und z.T. ausländischen) Forschern, die qualitative Interviews mit Inhaftierten und Bediensteten durchführten.
4.5
Ausländer im Strafvollzug Die wohl umfassendste Bestandsaufnahme des Strafvollzugs gegenüber Ausländern im internationalen Vergleich wurde 2007 von van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel vorgelegt. Das zweibändige Werk enthält 25 nach einem einheitlichen Gliederungsschema vorgelegte Landesberichte und 6 Berichte von Nicht-Regierungsorganisationen (NGO’s) wie dem Jesuit Refugee Service Europe (JRS-Europe), der sich vor allem mit der Problematik der Abschiebungshaft befasst, dem vor allem in Osteuropa tätigen Aire Centre, das Beschwerden vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte begleitet und unterstützt, oder der Britischen Organisation „Prisoners Abroad“.147 Die von der Europäischen Union im Rahmen des AGIS-Progarmms geförderte rechtliche und sekundärstatistische Bestandsaufnahme war bewusst auf Probleme von staatsrechtlich als Ausländer zu definierenden Gefangenen begrenzt, bei denen sich u.U. Fragen der Abschiebung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe im Heimatland stellen können.148 Im Übrigen wurde ein Hauptaugenmerk auf die rechtliche und tatsächliche Vollzugssituation, insbesondere hinsichtlich spezifischer Behandlungsangebote etc. gelegt. Im Ergebnis ergaben sich sehr unterschiedliche Verhältnisse im europäischen Vergleich. Bereits der Anteil von Ausländern im Strafvollzug variiert nach den Erhebungen des Europarats ganz erheblich und verdeutlicht die unterschiedliche Ausprägung der Ausländerkriminalität und der Zuwanderersituation mit den damit zusammenhängenden (Folge-) Problemen auch im Strafvollzug in Europa. Der Anteil von Ausländern beträgt in einigen Ländern über 30 % (Italien, Malta, Niederlande, Spanien), in Belgien, Griechenland und Österreich sogar über 40 %. Eine sehr spezielle Situation herrscht in Luxemburg, wo 71 % der Gefängnisinsassen ausländischer Herkunft waren (vgl. Tabelle 3). Die Studie ergab weiter, dass die Situation von Ausländern im Strafvollzug wegen häufig fehlender oder unzureichender spezifischer Behandlungsangebote besonders schwierig ist, zumal sie faktisch – solange die Frage des Verbleibs im Gastland bzw. der Ausweisung noch ungeklärt ist – von den regulären Integrationsmaßnahmen, insbesondere Lockerungen zur Entlassungsvorbereitung, ausgeschlossen sind. Als besonders prekärer Bereich wurde die Abschiebungshaft bzgl. Asylbewerbern etc. identifiziert. Hier ist die Datenlage häufig unzulänglich und die Praxis, Abschiebungshäftlinge im Strafvollzug unterzubringen, noch immer weit verbreitet.149
146 Vgl. SURT 2005. 147 Vgl. van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel 2007. 148 Nicht berücksichtigt sind damit die Gefangenen mit einem Migrationshintergrund, die zwar über einen nationalen Pass verfügen (in Deutschland z.B. die Aussiedler vorwiegend aus der ehemaligen Sowjetunion), jedoch häufig gleichfalls erhebliche Integrationsprobleme aufweisen. 149 Vgl. zusammenfassend van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel 2007, S. 50 ff.
178
Frieder Dünkel
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung Tabelle 3: Ausländer im Strafvollzug in Europa, 2005 Ausländer im Strafvollzug Land
Belgien Dänemark Deutschland Estland150 Finnland Franreich Griechenland GB: England und Wales GB: Nordirland GB: Schottland Irland Italien Lettland Litauen Luxemburg Malta Niederlande Österreich Polen Portugal Schweden Slowakei Slowenien Spanien Tschechien Ungarn Zypern
Anzahl von Ausländern insgesamt (einschließlich U-Häftlinge)
% von Ausländern bzgl. der Gesamtpopulation des Strafvollzugs
Davon: Ausländische U-Häftlinge (abs.)
% von Ausländern im U-Haftvollzug
3.860 754 22.095 1.780 286 11.820 3.990 9.650
41,2 18,2 28,0 40,4 7,5 20,5 41,6 12,7
1.670 363 6.954 466 114 k. A. k. A. 2.271
43,3 48,1 31,5 26,2 39,9 – – 23,5
38 71 3.080 19.656 26 67 495 91 5.818 3.979 750 2.386 1.475 220 144 18.436 1.652 631 241
2,8 1,0 9 33,0 0,4 0,8 71,4 30,5 32,9 45,4 0,9 18,5 20,9 2,4 12,7 30,1 8,7 3,8 45,6
15 15 277 9.655 k. A. 14 273 35 1.666 1.199 408 1.005 k. A. 147 69 7.285 721 k. A. 57
39,5 21,1 49,1 – 20,9 55,2 38,5 28,6 30,1 54,4 42,1 – 66,8 47,9 39,5 43,6 – 23,7
Quelle: Aebi, M., Stadnic, N. (2007): SPACE I. Council of Europe Annual Penal Statistics. Survey 2005. Internet-publication www.coe.int.151
150 Die Zahl der „Ausländer“ enthält offensichtlich Russen ohne estnischen Pass, die gleichwohl zumeist in Estland geboren und aufgewachsen sind. 151 Die Statistiken zur Gesamtzahl der Gefangenen sind nicht vollständig, da in einigen Ländern die Zahlen der in verwaltungsrechtlicher Abschiebungshaft (u.U. auch im Strafvollzug) Untergebrachten nicht (vollständig) enthalten sind. Frieder Dünkel
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1 Internationale Probleme
5
Empirisch vergleichende Vollzugsforschung
Im Folgenden wird auf die empirisch vergleichenden Strafvollzugsforschungsprojekte am Lehrstuhl für Kriminologie in Greifswald eingegangen. „Empirisch vergleichend“ meint in diesem Zusammenhang Studien, die mit einer identischen methodischen Herangehensweise Insassen oder Bedienstete in verschiedenen Ländern untersucht haben.152 Dies beinhaltet beispielsweise Befragungen zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen von Gefangenen und Bediensteten sowie zu deren Einstellungen und Werthaltungen. Da diese Forschungstradition in Deutschland und im überschaubaren Ausland noch relativ wenig entwickelt ist, kann im Wesentlichen lediglich über vier größer angelegte Studien des Greifswalder Lehrstuhls für Kriminologie berichtet werden. Zum einen handelt es sich um eine vom Bildungsministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern geförderte Studie zum Männererwachsenenstrafvollzug in den Ostseeanrainerstaaten, die in den Jahren 2002–2005 durchgeführt wurde (vgl. 5.1), zum anderen um eine 2003–2005 im Rahmen des europäischen AGIS-Programms geförderte, auch andere europäische Regionen einbeziehende internationale Studie zum Frauenstrafvollzug (vgl. 5.2). Weiterhin wird über zwei derzeit laufende international vergleichende Studien zum sog. Langstrafenvollzug und zum Jugendstrafvollzug (im Kontext eines umfassenden Systemvergleichs des Jugendstrafrechts) berichtet (vgl. 5.3 und 5.4). Auch insoweit handelt es sich um von der Europäischen Union im Rahmen des AGIS-Programms geförderte Projekte. 5.1
Mare-Balticum-Prison-Survey (2002–2005): Strafvollzug und die Beachtung der Menschenrechte: aktuelle Entwicklungen der Lebens- und Haftbedingungen im internationalen Vergleich
Das Projekt Strafvollzug und die Beachtung der Menschenrechte strebte die Förderung eines humanen Strafvollzugs unter Berücksichtigung menschenrechtlicher Normen und Standards in den Ostseeanrainerstaaten an. Gegenstand der Untersuchung war eine Bestandsaufnahme der tatsächlichen Lebens- und Haftbedingungen der Gefangenen in jeweils mindestens zwei für den geschlossenen Männererwachsenenvollzug repräsentativ ausgewählten Strafvollzugsanstalten aus Polen, Litauen, Lettland, Estland, Russland, Finnland, Schweden sowie zwei norddeutschen Bundesländern (Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein). Die Wahrung der Menschenwürde und Beachtung der Menschenrechte im Strafvollzug stellen die wesentlichen Grundsätze der europäischen Strafvollzugsphilosophie seit dem 2. Weltkrieg dar.153 So verbietet die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950 (durch Bundesgesetz von 7.8.1952 in Deutschland in nationales Recht transformiert) in Art. 3 Folter und andere unmenschliche oder erniedrigende Strafen oder Behandlung und Art. 8 ff. schreiben die Achtung grundlegender Freiheitsrechte vor. Die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze von 2006154 bilden zwar 152 Vgl. zu den wenigen Studien im Übrigen oben 2.4. 153 Vgl. Neale 1991, S. 206. 154 European Prison Rules, vgl. Council of Europe, Recommendation (2006) 2 vom 11. Januar 2006, siehe www.coe.int.
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Frieder Dünkel
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung
nur eine Empfehlung, regeln jedoch Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen im Vollzug, die (schon in ihrer Fassung von 1987) in zahlreichen nationalen Gesetzgebungen Eingang gefunden haben oder im Rahmen der Auslegung von Strafvollzugsnormen eine bedeutende Rolle spielen. Die sog. Anti-Folter-Konvention des Europarats von 1989 (European Convention for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment) und die vom sog. Anti-Folterkomitee (CPT) aufgrund der regelmäßigen Inspektionen in den Unterzeichnerstaaten der Anti-Folter-Konvention formulierten Standards beinhalten weitere der EMRK vergleichbare Mindestgrundsätze. Um Angleichung an europäische Standards und den an Grundsätzen der Menschenrechte ausgerichteten Strafvollzug nach dem Zerfall des Ostblocks bemüht, haben die mittel- und osteuropäischen Länder die EMRK sowie die Anti-Folter-Konvention unterzeichnet und sie in nationales Recht transformiert. Gleichwohl haben nicht nur diese Länder erhebliche Probleme, die EMRK und die Mindeststandards eines humanen Strafvollzuges umzusetzen. Zwar haben Amnestien nach dem Fall des Ostblocks zu einer erheblichen Reduzierung der Gefangenenzahlen geführt, und es gab auch einen Austausch des Vollzugspersonals.155 In allen Ländern, insbesondere in Estland, Lettland, Litauen und Russland sind seitdem die Gefangenenraten jedoch wieder angestiegen und lagen Ende der 1990er Jahre weit über dem westeuropäischen Niveau.156 Der wirtschaftliche und soziale Umbruch hat soziale Probleme ausgelöst und als Folge davon Kriminalität als eine im Ausmaß und der Struktur neue Dimension in der Gesellschaft erscheinen lassen. Der Anstieg der Kriminalität und das Fehlen alternativer ambulanter Sanktionen haben zu dem deutlichen Anstieg der Gefangenenzahlen in den meisten osteuropäischen Ländern beigetragen.157 Nach einer Studie von 1994 sind die Folgen der hohen Gefangenenzahlen in einer erheblichen Überbelegung der Vollzugsanstalten zu sehen, was erhebliche Versorgungsprobleme auslöste.158 Marode Vollzugsanstalten und fehlende Ressourcen verschärften diese Haftbedingungen. Hinzu kommen teilweise unhaltbare hygienische Zustände sowie die Gefahr der Verbreitung von Tuberkulose. Gleichzeitig haben sich neben der veränderten sozialen Situation auch für die Bediensteten die Arbeitsstrukturen hinsichtlich Entlohnung und sozialer Anerkennung verschlechtert.159 Diese inhumanen Vollzugsbedingungen haben sich teilweise zwar verbessert, insbesondere, weil es einzelnen Ländern (z.B. Russland und Litauen) gelang, die Überbelegung abzubauen. Dennoch zeigen auch die aktuellen Beobachtungen und Analysen von Walmsley aus dem Jahr 2003, dass es nach wie vor erhebliche Defizite bei der Umsetzung menschenrechtlicher Standards gibt.160 Jedoch 155 Vgl. Walmsley 1995, S. 7; 1996; 2003. 156 Vgl. Dünkel/Snacken 2000, S. 33; Dünkel/van Zyl Smit in van Zyl Smit/Dünkel 2001, S. 796 ff.; nur in wenigen Ländern, wie z.B. den baltischen Staaten, ist seither ein deutlicher Rückgang der Gefangenenraten zu verzeichnen (vgl. oben 2.3). 157 Vgl. für Litauen: Justickis/Peckaitis in van Zyl Smit/Dünkel 2001; Sakalauskes 2006; für Russland: Uss/Pergataia in van Zyl Smit/Dünkel 2001; Rieckhof 2008; insgesamt van Zyl Smit/Dünkel 2001; vgl. ferner bereits Walmsley 1995, S. 17. 158 Vgl. Walmsley 1996, S. 66 ff. 159 Vgl. Walmsley 1996, S. 118 ff. 160 Vgl. Walmsley 2003. Frieder Dünkel
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1 Internationale Probleme
lagen bis vor Kurzem (vgl. die unter 5.1 und 5.2 beschriebenen Studien) keine vergleichenden quantitativ-empirischen Analysen zu den Lebens- und Haftbedingungen der Gefangenen vor, die zur Förderung der Angleichung der Lebensverhältnisse im Strafvollzug der Ostseeanrainerstaaten beitragen könnten. Das methodische Vorgehen beinhaltete einen multi-methodischen Ansatz mit unterschiedlichen Zugängen zur Vollzugswirklichkeit.160a Die übergeordnete Zielsetzung der Projektstudie bestand darin, vor dem Hintergrund der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze und anderen Mindeststandards für die Behandlung von Strafgefangenen des Europarats die besonderen Lebens- und Haftbedingungen im Strafvollzug in den Ostseeanrainerstaaten zu erfassen. Die untersuchungsleitenden Fragestellungen waren: Welche strukturellen Rahmenbedingungen kennzeichnen das Lebensumfeld und die Lebenssituation der Gefangenen? Wie schätzen die Gefangenen ihre Lebensbedingungen und ihre Lebensqualität ein? Welche kognitiven Repräsentationen haben Bedienstete von ihren Arbeitsbedingungen und ihrer beruflichen Rolle? Als theoretischer Hintergrund dienten neben den Europäischen Regelwerken insbesondere theoretische Ansätze und empirische Studien zum Anstaltsklima, Konzepte wie „Healthy Prison“ und „Restorative Justice“ bzw. „Restorative Prison“, Theorien zur Arbeitsmotivation, Zielsetzungstheorie und nicht zuletzt Fragen der Ressourcenorientierung und des „Empowerments“. Zur Erfassung der genannten Aspekte wurde ein multi-methodisches Vorgehen gewählt: 1. Einbeziehung von anstalts- sowie länderspezifischem Datenmaterial, 2. schriftliche, standardisierte Befragung von Gefangenen, 3. schriftliche, teilstandardisierte Befragung von Bediensteten (hier des allgemeinen Vollzugsdiensts) und 4. Anstaltsbegehungen (inkl. Gespräche mit der Gefängnisleitung).
Die erste Fragestellung der empirischen Studie befasste sich mit den strukturellen Rahmenbedingungen der zu untersuchenden Haftanstalten. Der hierzu entwickelte Basisfragebogen wurde in den jeweiligen Strafvollzugsanstalten eingesetzt und der Gefängnisleitung vorgelegt. Neben der Erhebung allgemeiner Informationen wurden insbesondere jene Faktoren fokussiert, die unmittelbar die Lebenssituation der Gefangenen betreffen: Größe der Anstalt und der Hafträume, Belegungsdichte, Vollzugsformen, Grundbedingungen (Hygiene, Ernährung, Zellen), medizinische und psychosoziale Versorgung, Arbeit und Programme für Gefangene, Anzahl und Qualifizierung der Bediensteten etc. Der Fragebogen für Inhaftierte (2. Untersuchungsteil) wurde wie die anderen Instrumente eigens für dieses Projekt unter juristischer, psychologischer und soziologischer Perspektive erarbeitet. Als theoretische Ausgangsbasis für die Entwicklung des Fragebogens dienten die oben angeführten Ansätze und Konzepte. Darüber hinaus wurden Methoden und Ergebnisse bereits vorliegender empirischer Untersuchungen geprüft 160a Vgl. i.E. Dünkel 2007, S. 104 ff.
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Frieder Dünkel
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung
und insbesondere das Expertenwissen der internationalen Kooperationspartner über den Strafvollzug im eigenen Land genutzt. Insgesamt wurden folgende Aspekte erhoben: • soziodemographische Daten der Gefangenen und Informationen zur Inhaftierung (Vollzugstyp, Haftdauer, evtl. Entlassungsvorbereitung), • Bewertung der konkreten Haftbedingungen (z.B. Unterbringung, Verpflegung, medizinische Versorgung, Vollzugsangebote, Transparenz eigener Rechte), • psychisches und physisches Wohlbefinden (z.B. Gesundheit, Suchtproblematik) und Einschätzung des Anstaltsklimas, • Möglichkeiten zur Interaktion: intra- und extramurale Kontakte, Umgang mit Bediensteten, • Möglichkeiten zu sinnhaften Aktivitäten und Einschätzung der persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten: Arbeit, Aus- und Weiterbildung, Trainings- und andere Programme sowie die Gestaltung freier Zeit, • Umgang mit Konflikten; Viktimisierungsfurcht und -erfahrungen, • Mitbestimmung, Rechte, Disziplinarmaßnahmen.
Die Befragung der Bediensteten (3. Untersuchungsteil) diente der Erfassung zentraler handlungsleitender Einstellungen gegenüber Gefangenen, zum Strafvollzug sowie zur eigenen beruflichen Rolle und untersuchte darüber hinaus die Motivation zur Berufswahl und Berufsausübung, die Bewertung der Tätigkeit sowie die subjektiven Zielsetzungen. Der Fragebogen enthält neben offenen Fragen standardisierte und erprobte Skalen zur (subjektiven) Arbeitsanalyse,161 zur professionellen Berufseinstellung im Strafvollzug,162 zum sozialen Klima,163 zur Sanktionseinstellung164 und erfasste bestimmte Aufgabencharakteristika, Arbeitsbelastungen sowie organisationsbezogene und soziale Ressourcen. Letztlich ermöglichen die Ergebnisse differenzierte Aussagen über Motivation, besondere Belastungsaspekte und Einstellungsmuster der Bediensteten, die sich unmittelbar auf die Arbeit mit Gefangenen auswirken. Zur Realisierung eines an Menschenrechten orientierten Behandlungsvollzugs stellen die subjektiven Bewertungen und Haltungen von Bediensteten zentrale Bedingungsgrößen dar, deren empirische Untersuchung somit von besonderer Bedeutung ist. Die Anstaltsbegehungen (4. Untersuchungsteil) wurden als teilnehmende Beobachtungen konzipiert, fanden in allen beteiligten Strafanstalten statt und orientierten sich an den Inspektionen des sog. Anti-Folterkomitees und den Beobachtungen von NGO’s wie Penal Reform International. Folgende zentrale Beobachtungsbereiche standen im Mittelpunkt der Begehungen: Gebäude, Hafträume und deren Ausstattung, deren äußerer Eindruck, Gemeinschaftsräume, Arrest- und Disziplinarbereich, Sicherungszellen, Besuchsbereich (Kurzzeit- und Langzeitbesuche), Freizeit- und Arbeitsbereich, medizinischer Bereich sowie die Akteure im Feld (Interaktionsstrukturen, „Anstaltsklima“). 161 162 163 164
Vgl. Prümper/Hartmannsgruber/Frese 1995. Vgl. Klofas/Toch 1982; Klofas 1986; Eisner et al. 2001. Nach Eisner et al. 2001. Vgl. Kilchling 1995; 2002, S. 19 ff.
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1 Internationale Probleme
Im Rahmen der Anstaltsbegehungen wurden mit der Anstaltsleitung in einem Gespräch folgende Themen erörtert: Besonderheiten der Anstalt; Anstaltsgröße, Belegungsdichte, primäre Art der Unterbringung; Arbeits- und Qualifizierungsmöglichkeiten, Trainingsmaßnahmen für Gefangene; Umgang mit Problemgruppen (z.B. ethnische Minderheiten, Suchtkranke); Anzahl und Qualifikation der Bediensteten; Möglichkeiten der medizinischen und psycho-sozialen Versorgung; Veränderungen, Reformen und Perspektiven. Im Folgenden sollen einige Ergebnisse vorwiegend aus der Gefangenenbefragung und damit der subjektiven Perzeption der Vollzugsbedingungen durch die Gefangenen dargestellt werden. Die nachfolgende Tabelle 4 gibt den Umfang der untersuchten Stichprobe und einige charakteristischen Merkmale der untersuchten Gefangenen wieder. Tabelle 4: Stichprobe der erwachsenen Strafgefangenen im „Mare-Balticum-Prison-Survey“ (2003/2004)
N (= 821)
Alter ∅
(SD)
frühere Inhaftierung
ohne Schulabschluss
Ost-Deutschland (M.-V.)
144
32,4
(9,0)
60,7 %
8,4 %
West-Deutschland (S.-H.)
98
38,1
(10,2)
79,8 %
8,8 %
102
30,7
(8,4)
58,4 %
11,6 %
Finnland
81
34,1
(11,6)
60,5 %
0,0 %
Lettland
100
30,8
(9,2)
51,5 %
15,3 %
Litauen
98
32,6
(10,3)
57,3 %
14,9 %
118
28,4
(8,8)
57,9 %
8,1 %
80
33,5
(10,7)
66,2 %
11,3 %
Land
Estland
Polen Schweden
Insgesamt wurden 821 Gefangene befragt. In Deutschland handelte es sich um die Anstalten Kiel und Lübeck für Schleswig-Holstein sowie Waldeck und Bützow für Mecklenburg-Vorpommern. In jedem Fall sind die Fallzahlen ausreichend, um von einer aussagefähigen Stichprobe für den geschlossenen Männererwachsenenvollzug der jeweiligen Länder ausgehen zu können. Nach dem Altersdurchschnitt sind die Stichproben vergleichbar, wenngleich die befragten Gefangenen in Schleswig-Holstein mit 38 Jahren im Durchschnitt etwas älter waren als die Gefangenen in Polen (28 Jahre) und Estland oder Lettland (31 Jahre). Der Anteil zuvor Inhaftierter variierte zwischen 52 % (Lettland) und knapp 80 % (Schleswig-Holstein), lag im Allgemeinen jedoch bei ca. 60 %. Erstaunlich niedrig waren die Anteile von Gefangenen ohne jeglichen Schulabschluss (0–15 %), wobei man allerdings berücksichtigen muss, dass es sich um Selbstangaben der Gefangenen handelt.
184
Frieder Dünkel
1.5 International vergleichende Strafvollzugsforschung
Betrachtet man die Insassenstruktur nach dem jeweils schwersten der Inhaftierung zugrunde liegenden Delikt, so waren in Schweden nahezu die Hälfte der Inhaftierten wegen Drogendelikten verurteilt, im Übrigen spielten nur noch Raubdelikte (22 %) eine nennenswerte Rolle (vgl. Tabelle 5). Auch in Finnland waren mehr als 40 % Drogentäter, weitere 20 % Eigentumstäter. In Estland stellten die Eigentumsdelinquenten mit 40 % und wegen Mordes/Totschlags Verurteilte mit 26 % die größten Insassengruppen. Ähnlich war die Zusammensetzung in Lettland und Litauen, jedoch waren hier die wegen Raubdelikten Verurteilten überrepräsentiert. In Polen und Ostdeutschland stellten Raubdelinquenten die stärkste Insassengruppe, in West- (Schleswig-Holstein) und Ostdeutschland (Mecklenburg-Vorpommern) spielten auch wegen Körperverletzung Verurteilte eine größere Rolle. Tabelle 5: Insassenstruktur nach dem schwersten der Inhaftierung zugrunde liegenden Delikt in % (anhand der Rangreihe 1. Mord, 2. Sexualdelikt, 3. Raub usw.) Mord/ Totschlag
Sexualdelikte
Raub
Drogen- Körper- Eigendelikte vertumsletzung delikte
Trunken- Sonstige heit i. Verk.
Deutschland (Ost, MV)
2,9
8,8
31,4
8,0
14,0
19,7
8,0
2,2
Deutschland (West, SH)
13,0
8,7
13,0
10,9
20,7
27,2
5,4
1,1
Estland
25,5
5,1
14,3
3,1
5,1
39,8
4,1
5,1
Finnland
11,7
2,6
6,5
41,6
6,5
19,5
5,2
6,5
Lettland
18,3
2,2
24,7
7,5
7,5
30,1
4,3
5,4
Litauen
17,5
14,4
32,0
2,1
5,2
25,8
0,0
3,1
Polen
12,4
5,3
32,7
1,8
1,8
32,7
1,8
11,5
Schweden
12,3
0,0
21,9
47,9
5,5
2,7
1,4
8,2
Insgesamt kann man festhalten, dass in Westdeutschland, Estland, Lettland und Polen etwa die Hälfte, in Ostdeutschland und Litauen ca. 60 % wegen eines Gewaltdelikts inhaftiert waren, während in Finnland und Schweden die entsprechenden Anteile unter 30 % bzw. unter 40 % lagen, dafür aber die Drogendelinquenz dominierte. Hinsichtlich der Straflänge dominierten in Schweden sehr lange Freiheitsstrafen (mehr als 90 % mindestens 3 Jahre, vgl. Tabelle 6), was die rigide Sanktionspraxis bei Drogendelikten verdeutlicht. Andererseits ist festzustellen, dass die befragten Gefangenen nur für den geschlossenen Vollzug repräsentativ sind, während die in Schweden insgesamt gesehen durchschnittlich kürzere Freiheitsstrafen Verbüßenden (insbesondere bzgl. Eigentums- und Straßenverkehrsdelikten) häufig im offenen Vollzug oder kleineren dezentralen (heimatnahen) Anstalten untergebracht werden und daher in der vorliegenden Untersuchung nicht erfasst sind. Angesichts der in Schweden überwiegend erfassten langstrafigen Gefangenen (vor allem Drogendelinquenten) sind die Daten zur Entlassungsvorbereitung und zu Vollzugslockerungen nur eingeschränkt Frieder Dünkel
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1 Internationale Probleme
interpretierbar. In den übrigen Ländern wurden vor allem in Lettland und Polen vorwiegend „Langstrafer“ mit mehr als 5 Jahren Freiheitsstrafe erfasst, während in Litauen aufgrund der Vorgaben des Vollstreckungsplans nur Gefangene mit bis zu 5 Jahren Freiheitsstrafe befragt wurden. Die ost- und westdeutschen sowie finnischen Befragten unterschieden sich nach der Straflänge kaum, der Median der Straflänge lag etwas über 3 Jahre (vgl. Tabelle 6). Tabelle 6: Insassenstruktur nach der Dauer der verhängten Freiheitsstrafe < 1 Jahr
1–