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German Pages 287 [288] Year 1974
Kriminologie Standpunkte und Probleme
von
Hans Joachim Schneider
w DE
G
Sammlung Göschen 7012
Walter de Gruyter Berlin • New York • 1974
Dipl.-Psych. Dr. jur. Hans Joachim Schneider ist o. Professor an der Universität Münster/Westf.
Meinem
verehrten
Lehrer Rudolf
zum 70. Geburtstag
Sieverts
gewidmet
ISBN 3 11 004376 9 © C o p y r i g h t 1974 by W a l t e r de G r u y t c r & C o . , vormals G . J . Göschen'schc Verlagshandlung, J. G u t t e n t a g , V e r l a g s b u d i h a n d l u n g , Georg R e i m e r , K a r l J . T r ü b n e r , Veit & C o m p . , 1 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der V e r v i e l f ä l t i g u n g u n d Verbreitung sowie der U b e r setzung, v o r b e h a l t e n . Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch F o t o k o p i e , Mikro* film oder ein anderes V e r f a h r e n ) ohne schriftliche G e n e h m i g u n g des Verlages r e p r o d u z i e r t oder unter V e r w e n d u n g elektronischer Systeme v e r a r b e i t e t , v e r v i e l f ä l t i g t oder verbreitet w e r d e n . P r i n t e d in G e r m a n y . Satz u n d D r u d e : Saladruck, 1 Berlin 36.
Inhalt Vorbemerkung I. Einleitung: Kriminologie in der Gesellschaft II. Das Selbstverständnis der Kriminologie 1. Die „traditionelle" deutschsprachige Kriminologie . . 2. Der kriminologische Verbrechensbegriff 3. Gegenstand und Aufgabe der Kriminologie 4. Kriminologie als autonome interdisziplinäre Wissenschaft III. Die Hauptrichtungen der Kriminologie 1. Kriminalbiologische Theorien 2. Der Mehrfaktorenansatz 3. Psychologische Theorien 4. Soziologische und sozialpsychologische Theorien . . . . IV. Kriminalitätspotential und -struktur V. Sonderformen der Kriminalitätsstruktur 1. Die Wirtschaftskriminalität 2. Das organisierte Verbrechen VI. Soziale Verursachung und Kontrolle 1. Entwicklung zum jugendlichen Straftäter 2. Die Lehre vom Opfer 3. Die Massenmedien 4. Die Instanzen der Sozialkontrolle a) Polizei- und Richterpsychologie b) Reform des Anstaltsstrafvollzugs und neue Formen geselllschaftlicher Reaktion auf kriminelles Verhalten VII. Vorbeugung gegen Kriminalität und Behandlung des Rechtsbrechers 1. Probleme der Kriminalitätsprognose 2. Behandlungsexperimente 3. Hilfen für die straffällige Jugend VIII. Schluß: Der Standort der modernen Kriminologie . . . .
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Inhalt Seite
Anhang: Definitionen der Gegenstände und Aufgaben der Kriminologie
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Literaturverzeichnis: I. Lehrbücher, Monographien und Sammelwerke II. Zeitschriften- und Sammelwerkaufsätze III. Arbeitsmaterialien und Statistiken
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I. Verzeichnis der benutzten Fremdwörter und kriminologischen Fachausdrücke (mit Erklärungen) II. Abkürzungsverzeichnis
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III. Autorenregister
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IV. Sachregister
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Vorbemerkung Diese „kleine Kriminologie" baut auf einer kriminologischen Radiokollegreihe und zahlreichen Einzelsendungen auf, die in den Jahren 1972 und 1973 vom „Deutschlandfunk" ausgestrahlt worden sind. Der zum Zuhören geschriebene Text wurde zum Lesen umgearbeitet, an zahlreichen Stellen erweitert und ergänzt und mit Literaturhinweisen versehen. In den letzten Jahren sind zahlreiche - teilweise umfangreiche - Sammelwerke der Kriminologie (Hans Göppinger 1973; Ulrich Eisenberg 1972; Günther Kaiser 1971; Hilde Kaufmann 1971) erschienen, mit denen diese „kleine Kriminologie", was die Fülle der Informationen betrifft, nicht zu konkurrieren vermag und auch nicht in Wettbewerb treten will. Allein der begrenzte Umfang dieses schmalen Bändchens erlaubt das nicht. Es strebt aber auch eine andersartige Zielsetzung an. Es will kein Lehrbuch sein. Das sind im übrigen die genannten Sammelsurien aus verschiedenen Gründen, die der Verfasser (1973) dargelegt hat, auch nicht. Der interessierte Laie, der Praktiker der Strafrechtspflege, der Kriminalbeamte, der Staatsanwalt, der Strafrichter, der Bewährungshelfer und der Strafvollzugsbeamte, die noch nichts oder doch wenig von den Neuentwicklungen der Kriminologie wissen, die kaum Zeit haben, aber gleichwohl zuverlässig informiert sein möchten, sollen in möglichst allgemeinverständlicher Sprache eine erste konzentrierte, aber nicht farblose, sondern anschauliche Orientierung über das erhalten, was Kriminologie heute ist oder besser wohl - sein möchte, und vor welchen Grundproblemen der Kriminalitätsentwicklung und -kontrolle sie gegenwärtig steht. Das Bändchen eignet sich freilich auch für Einführungsvorlesungen in die Kriminologie, für Referendararbeitsgemeinschaften und zur Vorbereitung auf Prüfungen, weil in ihm die wichtigsten kriminologischen Gesichtspunkte diskutiert werden, die sich der Kandidat vor dem Examen noch einmal kurz ins Gedächtnis zurückrufen kann.
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Vorbemerkung
Will das Bändchen vor allem gesichtspunktreich informieren, so schließt dies eine neutrale Konzeptionslosigkeit keineswegs ein. Der Verfasser nimmt Stellung. Er leugnet nicht, daß er in seiner sozialpsychologischen Grundkonzeption stark von der modernen angloamerikanischen und skandinavischen Kriminologie beeinflußt worden ist. Er hat in den letzten Jahren zahlreiche kriminologische Vortrags- und Forschungsreisen nach Skandinavien, Großbritannien, Jugoslawien, Israel und vor allem sieben Informationsreisen nach Nord-, Mittel- und Südamerika unternommen. Sind die skandinavische und angloamerikanische Kriminologie ohnehin schon stark pragmatisch orientiert, so hat nicht nur die kriminologische Lehrtätigkeit des Verfassers für Juristen, Psychologen, Soziologen und Sozialpädagogen an den Universitäten Münster/Westf. und Hamburg, sondern auch seine ständige kriminologische Lehrtätigkeit an der Höheren Landespolizeischule Nordrhein-Westfalen und seine Vortragstätigkeit an der Polizeiführungsakademie in Hiltrup und bei Tagungen vor Richtern, Staatsanwälten, Bewährungshelfern und Strafvollzugsbeamten den Inhalt dieser „kleinen Kriminologie" maßgeblich beeinflußt. Der Verfasser hat sich im Rahmen des ihm zur Verfügung stehenden knappen Raumes bemüht, den Leser möglichst umfassend, pragmatisch und auf dem modernsten internationalen Stand zu informieren. Der Leser allerdings, der sich intensiv in kriminologische Spezialfragen einarbeiten möchte, sei auf die derzeit „große Kriminologie": unser im selben Verlag erscheinendes „Handwörterbuch der Kriminologie" (Rudolf Sieverts, Hans Joachim Schneider 1966 ff.) verwiesen, das international anerkannt ist und gegenwärtig das beste Arbeitsmittel zur aktuellen und umfassenden Information des Praktikers, akademischen Lehrers und Forschers bietet. Meinen Assistenten Fräulein Beate Dirnagl und Herrn Werner Jubelius danke ich für ihre Mithilfe bei der Zusammenstellung der Register, meiner Tochter Ursula Schneider für das Zeichnen der Schaubilder. Ohne die tätige Mitwirkung meiner Frau hätte dieses Bändchen nicht veröffentlicht werden können. Münster/Westf., im Oktober 1973
Hans Joachim
Schneider
I. Einleitung: Kriminologie in der Gesellschaft Die Kriminologie ist eine weithin unbekannte und oft mißverstandene Wissenschaft. Sie stand lange Zeit in Europa unter der Vorherrschaft des Strafrechts („strafrechtliche Hilfswissenschaft") und der Psychiatrie („forensische Psychiatrie"). Das Zusammenspiel beider ließ in Deutschland eine eigenartige kriminalbiologische, klinische Richtung der Kriminologie entstehen, die sich mit großer Sorgfalt dem Einzelfall widmete, Soziales aber nur zweitrangig ansprach oder gänzlich vernachlässigte. Da Verbrechen in der Gesellschaft allgegenwärtig sind und auf die Phantasie der Bevölkerung eine faszinierende, ja mitunter magisch zu nennende Wirkung auszuüben vermögen (Hans Joachim Schneider 1967 c, 1972 a), entdeckten erfolgshungrige Schriftsteller in großer Zahl ihr Interesse für dieses Gebiet. Sie verbreiteten und verbreiten nicht nur dramatisch aufgemachte und emotionalisierte Halbwahrheiten und tragen auf diese Weise ihrerseits - gewollt oder ungewollt - zum Entstehen neuer Kriminalität bei. Sie diskreditieren die Kriminologie auch als eine bloße „Sensationswissenschaft", so daß es den Gegnern der Kriminologie leicht fällt, ihre Wissenschaftlichkeit in Zweifel zu ziehen. Die Kriminologie ist ferner der Gefahr ausgesetzt, daß sich ihr politische Ideologen der äußersten Rechten oder der extremen Linken und Utopisten aller Seiten bemächtigen. Sie diffamieren und diskreditieren die Kriminologie vollends. Da die wissenschaftliche Kriminologie viel zu wenig finanzielle Unterstützung für ihre empirischen Forschungen erhält, in der Bevölkerung fast unbekannt ist und deshalb in ihr kaum Rückhalt finden kann, von führenden Politikern, die keine ausreichenden finanziellen Mittel für kriminologische Forschungen bereitstellen wollen, nicht selten als ineffektiv geschmäht wird und in sich selbst - jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin - zerstritten ist, nimmt es nicht wunder, daß das
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Einleitung
wissenschaftliche Ansehen der Kriminologie in der Gesellschaft nicht sehr groß ist und daß demzufolge die seltsamsten Vorstellungen und Vorurteile über kriminelles Verhalten in der Bevölkerung vorherrschen. Die Kriminologie ist weder eine Natur- noch eine Geisteswissenschaft im Sinne Heinrich Rickerts (1863-1936). Denn sie vermag weder kriminelle Vorgänge als wiederholbare „Fälle" aus dem allgemeinen Kausalzusammenhang der Natur zu „erklären" noch kriminelle Ereignisse aus ihrem übergreifenden geistigen Zusammenhang zu „verstehen". Die Kriminologie ist Human- und Sozialwissenschaft (Jean Pinatel 1971). Sie ist Humanwissenschaft, weil sie sich mit dem Straftäter als Individuum befaßt. Sie untersucht z. B. die körperlichen und psychischen Eigenschaften des Kriminellen. Sie ist Sozialwissenschaft, weil sie den Einfluß der Gesellschaft, ihrer Gruppen und Repräsentanten auf kriminelles Geschehen mitzuerfassen sucht. Sie ist vor allen Dingen unter sozialpsychologischen Aspekten zu begreifen, die Kriminalitätsentstehung und -behandlung als Sozialprozesse (Hans Joachim Schneider 1972 b) einsichtig zu machen suchen. Beurteilt man die Kriminologie sonach unter sozialwissenschaftlichen Vorzeichen, so muß man sich einige Gefahren, Schwierigkeiten und Illusionen vergegenwärtigen, die dieser Sicht drohen. Die Kriminologie hat eine Position innerhalb der Gesellschaft. Sie ist Teil der Gesellschaft, deren Probleme sie selbst untersucht. Die Kriminologie hat Funktionen innerhalb der Gesellschaft zu erfüllen: die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Beratung und Empfehlung zu konkretem Handeln in Problemsituationen. Die strikte Rollenverteilung nach Max Weber zwischen sozialwissenschaftlicher Betätigung und politischer Aktivität wird nicht angetastet, wenn der handelnde Kriminalpolitiker den Rat der Kriminologen einholt, ihn kritisch abwägt, darüber entscheidet und durchsetzt, daß seine Entscheidung in die Tat umgesetzt wird. Die Gesellschaft versucht, Einfluß auf den Kriminologen auszuüben. Sie möchte ihm seine Forschungsgegenstände und Methoden vorschreiben, damit er zu Ergebnissen kommt, die von den jeweiligen gesellschaftlichen Wertvorstellungen nicht wesentlich abweichen. Die Massenmedien
Kriminologie in der Gesellschaft
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lassen dem Kriminologen z. B. keine Zeit und Muße. Er kann nicht in sozialer Abgeschiedenheit seine empirischen Untersuchungen so weit zu Ende führen, bis er zu einigermaßen abgesicherten Ergebnissen gekommen ist. Die Massenmedien wollen ständig empirische Forschungsergebnisse der Kriminologie veröffentlichen, weil die Gesellschaft bedrückende und aktuelle Probleme der Kriminalität und des sozialabweichenden Verhaltens besitzt. Das Interesse der Massenmedien ist einerseits zu begrüßen. Denn die öffentliche Meinung und die Vorstellungswelt der Politiker bestehen heute noch zu einem erheblichen Teil aus popularisierten und ideologisch verformten Forschungsergebnissen der Kriminologie von gestern. Auf der anderen Seite bergen vorschnell veröffentlichte Teilergebnisse oder auf Einzelerfahrung beruhende, empirisch nicht genügend abgesicherte Meinungsäußerungen von Kriminologen große Gefahren in sich. Denn solche vorschnell veröffentlichten Teilergebnisse und Meinungsäußerungen sind geeignet, Situationsänderungen in der Gesellschaft herbeizuführen, die aufgrund exakterer Forschungsergebnisse später nur schwer korrigierbar sind. Gegenstände der Kriminologie sind Verbrechen und sozialabweichendes Verhalten. Verbrechen ist das Verhalten, das unter bestimmten tatbestandlichen Voraussetzungen in Strafgesetzen mit bestimmten Deliktsfolgen bedroht, das also z. B. in einem bestimmten Staat „strafbar" ist. Darüber hinaus ist aber auch das sozialabweichende Verhalten (z. B. Alkoholismus, Rauschmittelmißbrauch, Prostitution und Selbstmord) Aufgabengebiet der Kriminologie. Denn die Grenzen zwischen Verbrechen und sozialabweichendem Verhalten sind nicht nur flüssig. Aus Verbrechen entsteht nicht selten sozialabweichendes Verhalten und umgekehrt. Oft werden auch aus der Definitionsmacht des Gesetzgebers heraus aus sozialabweichendem Verhalten Verbrechen (Kriminalisierungsprozeß) und aus Verbrechen sozialabweichendes Verhalten (Entkriminalisierungsprozeß). Das, was Kriminalität in einer bestimmten Gesellschaft ist, richtet sich nach den Normsetzungen des Gesetzgebers dieses bestimmten Staates. Die Sozialabweichung ist in zeitlicher und räumlicher Sicht unterschiedlichen gesellschaft-
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Einleitung
liehen Wertungen unterworfen. Nur ein Teil des sozialabweichenden Verhaltens wird vom Gesetzgeber eines Staates als kriminell normiert. Die Kriminologie muß in zeitlicher Abfolge und in räumlicher Variationsbreite (vergleichende Kriminologie) alles das untersuchen dürfen, was Verbrechen und sozialabweichendes Verhalten gewesen ist, gegenwärtig ist und zukünftig sein wird. Sie kann nämlich beispielsweise aus der Fragestellung, was sozialabweichend gewesen ist, aber gegenwärtig sozial konform ist, Schlüsse auf die Entstehung und auf die Beseitigung sozialabweichenden Verhaltens ziehen. Ferner kann ein Verhalten, das in einer anderen Gesellschaft als sozialabweichend oder kriminell definiert wird, sehr schnell auch in der Gesellschaft als sozialabweichend oder kriminell benannt werden, in der der jeweilige Kriminologe arbeitet (z.B. Rauschmittelmißbrauch). Was aus konformem Verhalten einmal als sozialabweichend oder kriminell benannt werden wird, kann freilich oft nur der Spekulation unterworfen sein. Hier sind schwer abzuschätzende Sozialprozesse am Werk (z. B. im Fall der Umweltverschmutzung). Gleichwohl ist die Interaktion zwischen konformem und sozialabweichendem Verhalten ein kriminologisches Gegenstandsgebiet. Im übrigen tut sich die Kriminologie ebenso schwer mit ihrer Gegenstandsbestimmung wie viele andere Wissenschaften, selbst die Naturwissenschaften. Es ist verhältnismäßig einfach, das Vorhandensein eines Verbrechensbegriffs zu leugnen oder den Verbrechensbegriff in unerträglicher Weise zu formalisieren. Auch ist nicht viel gewonnen, die Tatsächlichkeit des Verbrechens zu betonen oder auf die Untersuchung der Persönlichkeit des Rechtsbrechers besonderen Wert zu legen. Mitunter wird sogar bei der Gegenstandsbestimmung der Kriminologie auf den Kriminologen selbst und auf die Wissenschaftlichkeit seiner Methoden abgestellt. Daß der Forschungsgegenstand der Kriminologie „Verbrechensentstehung und -behandlung als Sozialprozesse" ist, wird nur von einem Teil der Kriminologen anerkannt. Die Kriminalität erzeugt Strafe und andere Reaktionen, und diese Reaktionen bringen umgekehrt wieder Gegenreaktionen der Rechtsbrecher hervor, die entweder durch Strafe abgeschreckt, gebessert oder zu weiteren Rechtsbrüchen angeregt
K r i m i n o l o g i e in d e r G e s e l l s c h a f t
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werden. Der Bereich der Kriminologie umfaßt die Prozesse der Gesetzgebung, der Gesetzesverletzung und der Reaktionen auf die Gesetzesverletzungen. Bestimmte Handlungen, die als unerwünscht gelten, werden durch die Gesellschaft als Delikte definiert. Trotz dieser Definitionen fahren einige Menschen in diesem Verhalten fort und begehen auf diese Weise Verbrechen. Die Gesellschaft reagiert mit Strafe, Behandlung oder Vorbeugung. Diese Abfolge von Interaktionen (Wechselwirkungen) ist Gegenstand der Kriminologie. Georg Wilhelm Friedrieb Hegel beschreibt die bürgerliche Gesellschaft als „Erscheinungswelt des Sittlichen". Karl Marx hat die Auffassung geäußert, der Staat sei Instrument der Herrschaft in den Händen einer Klasse, die Gesellschaft sei klassenmäßig geschichtet und die Geschichte sei eine Abfolge von Klassenkämpfen. Diese Gesellschaftsauffassungen sind zu statisch und zu moralisierend-irreal. Jede Gesellschaft ist als bestimmte Struktur und Dynamik menschlicher Beziehungen und Interaktionen zu verstehen. Sie ist ein System standardisierter, integrierter sozialer Rollen. Jede Gesellschaft ist einem Wandlungsprozeß ihres Welt- und Selbstverständnisses unterworfen. Wenn man von dieser zeitlichen Prozeßhaftigkeit und räumlichen Variationsbreite der Gesellschaft ausgeht, so hat die Kriminologie nicht nur ein sehr großes, sondern auch ein relativ unbestimmtes Arbeitsgebiet. Das müssen die Kriminologen ertragen, um die sozialen Erscheinungsformen und sozialpsychologischen Ursachen der Kriminalität und des sozialabweichenden Verhaltens in den Griff zu bekommen. Die Kriminologie muß noch eine viel größere Belastungsfähigkeit aushalten. Es gibt in ihr keine Wertfreiheit. Die Kriminologie ist vielmehr eine engagierte Wissenschaft. Sandhaufenempirismus, Kopfzählforschung und Datenfriedhöfe nutzen der Kriminologie nichts. Eine so verstandene „Grundlagenforschung", die „wertfrei" auf die Sammlung von Daten abzielt (Mehrfaktorenansatz), um dann „eines Tages" auch kriminologische Probleme (gleichsam als Abfallprodukte) lösen zu können, hat ihre Berechtigung noch keineswegs nachgewiesen. Die kriminologische Forschung muß vielmehr in enger Zusammenarbeit mit dem Praktiker von aktuellen kriminolo-
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Einleitung
gischen Problemen ausgehen und diese Probleme zu lösen versuchen. Ein solches „Problemverständnis und -bewußtsein" gebietet die Fülle der aktuellen kriminologischen Probleme, die wir haben und die im Interesse der Menschen gelöst werden müssen. Bei der Begrenztheit der Mittel gebührt der Lösung eben solcher aktueller Probleme der Vorrang. Die Aufgabe des Ideals der „objektiven kriminologischen Forschung", die ohnehin nie objektiv gewesen ist, führt notwendigerweise dazu, daß es verschiedene Richtungen innerhalb der Kriminologie gibt und wahrscheinlich auch immer geben wird. Karl Mannheim hat betont, daß die Sozialwissenschaftler die abstrakte Vorstellung von einer objektiven Erkenntnis aufgeben und akzeptieren müßten, daß verschiedene Glaubenssysteme und rivalisierende Versionen der Wahrheit Seite an Seite existieren könnten. So wird eine sozialwissenschaftlich verstandene Kriminologie ständig im Wandel und im Konflikt stehen. Denn sie ist Teil der Gesellschaft, die sich ebenfalls nur in Konflikten weiterzuentwickeln vermag. Es ist hierbei nicht unwichtig, auf welcher Seite die Kriminologie steht. Steht sie auf der Seite der wichtigsten Machtgruppen in einer Gesellschaft, oder steht sie auf der Seite der sozial Vernachlässigten und Entrechteten? Diese Dichotomie ist falsch. Denn die Kriminologie nimmt ihre eigene Position in sozialen Konflikten ein. Sie entwirft eigenständige Konzepte zur Lösung dieser Konflikte und steht obgleich sozial engagiert - außerhalb des täglichen parteipolitischen Machtkampfes, zu dem sie gleichwohl auf der Grundlage ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse Stellung nehmen wird. Die Kriminologie ist hierbei keine multidisziplinäre Wissenschaft, an der Strafrecht, Psychiatrie, Psychologie, Soziologie und Pädagogik mehr oder weniger unverbunden mitarbeiten. Sie ist vielmehr eine autonome interdisziplinäre Wissenschaft. Versteht man den Gegenstand der Kriminologie als „Sozialprozesse der Verbrechensentstehung und -behandlung", so reicht das kriminologische Betrachtungsfeld über die Summation von Einzelwissenschaften hinaus und läßt das Spezifische und Typische kriminologischer Analyse aufscheinen.
Die „traditionelle" deutschsprachige Kriminologie
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II. Das Selbstverständnis der Kriminologie 1. Die „traditionelle" deutschsprachige Kriminologie Falsche Fragestellungen und Dichotomien: Anlage oder Umwelt, Einfaktor- oder Mehrfaktorenansatz, Individuum oder Gesellschaft belasten heute weitgehend die kriminologische Diskussion. Die Wurzeln für solche Fragestellungen liegen in der „traditionellen" deutschsprachigen Kriminologie begründet, die allerdings von der deutschen Kriminalsoziologenschule einseitig als „biologisch" etikettiert und abgetan wird. In der Tat ist zuzugeben, daß die kriminalbiologische Komponente in der deutschen Kriminologie allzu vorherrschend gewesen ist. Man nahm den Gegenstand der Kriminologie „aus den Händen der Strafrechtswissenschaft" entgegen und konzentrierte seine eigene Arbeit auf die verbrecherische Persönlichkeit. Sie bildete eine Abweichung von der Norm des „durchschnittlichen" Menschen. Das Verbrechen war ein „psychophysisches Phänomen", das man - unreflektierend im sozialen System stehend - zu analysieren versuchte. Bei dieser Analyse spielten immer wieder die Begriffe Anlage, Umwelt und Persönlichkeit zentrale Rollen, wobei sich die Anlage nur zu oft als beherrschend erwies. Man schlug sich allenfalls mit dem Apriorismus der klassischen Strafrechtsschule herum, der überhaupt keine Kriminologie dulden wollte, oder wehrte sich gegen eine Antikriminologie Sauerscher Prägung. Der selbstschöpferische Gestaltungswille des Verbrechers sei der eigentliche „Kriminalitätserreger", behauptete Wilhelm Sauer (1950): Bei kriminologischen Analysen komme der Intuition ein höherer Beweiswert als der Statistik zu. Es gibt auch heute noch zahlreiche Vertreter der kriminalbiologischen Schule in der deutschen Kriminologie. Sie halten den Anlage-Umwelt-Ansatz keineswegs für „gestorben" (Heinz Leferenz 1972, S. 959). Sie orientieren sich an der Psychopathologie Kurt Schneiders oder an der Konstitutionslehre Ernst Kretschmers. Dabei hat Kurt Schneider (1958, S. 6) selbst eindringlich davor gewarnt, Psychopathie als medizinische Diagnose zu nehmen und den Kriminellen als Psychopathen zu etikettieren. Neben dieser Kriminalbiologenschule entwickelte sich aber auch eine psychoana-
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Das Selbstverständnis der Kriminologie
lyrische und eine individualpsychologische Schule, die an Gedanken von Sigmund Freud und Alfred Adler anknüpften, aber auf die deutsche Kriminologie und Strafrechtswissenschaft keinen nachhaltigen Einfluß auszuüben vermochten. Es ist das hohe Verdienst Hans von Hentigs (1948), erstmalig auf die Rolle des Opfers bei der Kriminalitätsentstehung und bei der Reaktion auf Kriminalität hingewiesen zu haben. Seine Arbeiten zur Viktimologie waren im internationalen Maßstab richtungweisend. Aber auch andere deutschsprachige Kriminologen betonten sozialpsychologische Gedankengänge. Franz von Liszt (1905 b) betrachtete das Verbrechen als sozialpathologische Erscheinung, dessen Wurzeln in den Lebensäußerungen der Gesellschaft überhaupt gesucht werden müßten. Nach Gustav Aschaffenburg (1933) kann man die Kriminalität nur dann wirksam erforschen und bekämpfen, wenn man den Rechtsbrecher im Zusammenhang mit der gesamten menschlichen Gesellschaft betrachtet. Hans Groß (1905) setzte sich mit der psychischen Tätigkeit des Richters und des Vernommenen auseinander. Für Moritz Liepmann (1930) endlich waren eine dynamische Betrachtungsweise und die Ubiquität der Kriminalität wesentliche kriminologische Schwerpunkte. Er machte auf die Bedeutung des Dunkelfeldes, der Wandelbarkeit der Strafgesetzgebung und der Kritik an Strafgesetzgebung und Rechtsprechung aufmerksam und bereitete auf diese Weise moderne kriminologische Gedankengänge vor. 2. Der kriminologische Verbrechensbegriff Angesichts der großen Differenziertheit krimineller Verhaltensweisen ist es außerordentlich schwierig, die wesentlichen Kriterien eines einheitlichen kriminologischen Verbrechensbegriffs zu abstrahieren. Hinzu kommt noch der neuere kriminologische Nachweis der Ubiquität der Kriminalität, der aufgrund der modernen Ergebnisse der Dunkelfeldforschung in den USA (Philip H. Ennis 1967) erbracht worden ist. Dieses Problem mit dem Argument hinwegdiskutieren zu wollen, bei der Kriminalität des „Normalbürgers" handele es sich um keine so „gefährlichen, ernsten" und „hartnäckigen" Rechtsbrüche und eine „Spontanbewährung" (Günther Kaiser 1972) sei eher möglich,
Der kriminologische Verbrechensbegriff
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verkennt die Tiefgründigkeit der Fragestellung. Denn die Schwere und Gefährlichkeit der verschiedenen Arten der Kriminalität stehen ja hier gerade in Frage, und ob „Randgruppenmitglieder" in hartnäckiger Weise Delikte begehen und „Normalbürger" sich eher spontan bewähren, ist von der Verschiedenheit der Reaktionen der Repräsentanten der Gesellschaft im Kriminalitätsentstehungs- und -behandlungsprozeß und von der unterschiedlichen Möglichkeit, der Entdeckung zu entgehen, wesentlich abhängig. In diesem Zusammenhang kann die Frage schon leichter beantwortet werden, ob und warum die von den Instanzen der sozialen Kontrolle (z. B. Kriminalpolizei, Gerichte, Strafvollzug) intensiver verfolgte Kriminalität von der Gesellschaft als schwerer und gefährlicher empfunden wird. Hiermit sind allerdings die Fragen nach der tatsächlich schweren und gefährlichen Kriminalität und der Begrenzung der Strafverfolgung auf diese tatsächlich schwere und gefährliche Kriminalität nicht beantwortet. Wahrscheinlich läßt sich über die schwere Kernkriminalität und die leichte Randkriminalität relativ einfach eine Ubereinkunft der gesellschaftlichen und kriminologischen Beurteilung erzielen. Die Bewertung des breiten Spektrums des Mittelfeldes der Kriminalität ist hier indessen das große Problem. Die Frage nach dem kriminologischen Verbrechensbegriff läßt sich mit Kategorien wie „Schwere", „Gefährlichkeit" und „Hartnäckigkeit" nicht in den Griff bekommen. Sie läßt sich auch dadurch nicht umgehen, daß man den kriminologischen einfach an den strafrechtlichen Verbrechensbegriff anbindet (Ulrich Eisenberg 1972, S. 14) oder behauptet (Hans Göppinger 1971, S. 4) oder so tut (Hilde Kaufmann 1971, S. 16), als gebe es einen kriminologischen Verbrechensbegriff nicht. Einigkeit besteht wohl darin, d a ß ein „natürliches Verbrechen" (so Raffaele Garofalo 1914, S. 4) nicht existiert. Das Verbrechen ist immer individual- und gesellschaftsgebunden. Kriminalität kriminologisch als Verstoß gegen das Strafgesetz und gegen die herrschenden sozialethischen Anschauungen zu definieren, ist zu eng. Denn die Kriminologie m u ß gerade auch analysieren können, in welcher Weise die Strafrechtsnormen zustande kommen und welche soziale Wirkungen sie haben.
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Das Selbstverständnis der Kriminologie
Den kriminologischen Verbrechensbegriff an der Sozialgefährlichkeit und -Schädlichkeit zu orientieren, ist demgegenüber zu weit und zu unbestimmt. Mit dem Begriff der „Unerträglichkeit" (Heinz Zipf 1969) der Sozialschädlichkeit läßt sich keine Präzisierung erreichen. Die Definition, nach der ein Verhalten kriminell ist, das von einer Gruppe, die die erforderliche Macht besitzt, ihre Anschauungen durchzusetzen, für besonders sozialschädlich gehalten wird (Fritz Bauer 1957, S. 10), verkennt die ethisch-moralische Komponente, die auch dem kriminologischen Verbrechensbegriff innewohnt. Es liegt zunächst in einer pluralistischen Gesellschaft nahe, daß es mehrere „herrschende" Gesellschaftsgruppen gibt, deren Interessen in Widerstreit stehen und die sich im sozialen System gegenseitig kontrollieren. Sollte es aber eine homogene herrschende Gruppe geben, so kann auch sie nicht - gleichsam willkürlich - bestimmen, was zu kriminalisieren ist und was nicht. Denn die Strafrechtsnormen müssen im gesellschaftlichen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß von der Gesellschaft und ihren Repräsentanten im sozialen Kontrollprozeß auch „akzeptiert" (oder abgelehnt) werden. Für eine solche Annahme (oder Ablehnung) ist das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung und damit die ethisch-moralische Komponente des kriminologischen Verbrechensbegriffs mit maßgebend. Das Verbrechen indessen entweder von den Verhaltenserwartungen, also letzlich von den im Rechtsbewußtsein der Gesellschaft verankerten Legalnormen, oder von den sozialen Konsequenzen des kriminellen Verhaltens, also von der Auslösung negativer Sanktionen, her zu bestimmen, ist viel zu einseitig. Denn man kann die Kriminalität nicht ohne den Kriminellen und sein Verhalten definieren. Kriminalität wird als ein „komplexes deterministisches System" (Leslie T. "Wilkins 1968) verstanden. Diese Definition ist zwar grundsätzlich richtig, muß aber konkretisiert werden. Das Verbrechen wird bestimmt durch den gesellschaftlichen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß. In diesem Sozialprozeß kommt es nicht nur auf den Erlaß oder die Streichung von Strafrechtsnormen an, sondern auch auf der Verankerung dieser Normen im Rechtsbewußtsein der Gesellschaft und die
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Durchsetzung dieser Normen von den Instanzen der sozialen Kontrolle. Das Verbrechen verwirklicht sich sodann im individuellen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß. Menschliches Verhalten ist als solches nicht wertneutral. Kriminelles Verhalten besitzt aber für sich allein noch nicht ohne weiteres die Qualität „kriminell". Kriminelles Verhalten konstituiert sich vielmehr im Verhalten des Delinquenten, in der formellen sozialen Reaktion (z. B. durch die Kriminalpolizei) und in der informellen sozialen Reaktion (z. B. in der Familie oder Nachbarschaft) auf sein Verhalten und in der Rückwirkung dieser Reaktionen auf sein Verhalten, also in der Interaktion. 3. Gegenstand und Aufgabe der Kriminologie Das Verbrechen wird bestimmt durch den gesellschaftlichen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß. Es entsteht und vergeht im individuellen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß. Mit dieser an der Realität orientierten, dynamischen, funktionalen Definition ist der Gegenstand der Kriminologie noch nicht beschrieben, wenn auch der Kern dieses Gegenstandes lokalisiert ist. Die sozialen Voraussetzungen und Auswirkungen des gesellschaftlichen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozesses zu erforschen, gehört zum Gegenstand und zur Aufgabe der Kriminologie. In diesem Zusammenhang hat das „sozialabweichende Verhalten" seinen bedeutsamen Stellenwert, das im Vorfeld oder der Nachhut des gesellschaftlichen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozesses liegt. Sozialabweichendes Verhalten, das dem zeitlichen und örtlichen Wandel unterliegt und von der Frustrationstoleranz einer Gesellschaft abhängt, ist zu einem wesentlichen Teil „funktional" für eine Gesellschaft, weil es zu ihrem Zusammenhalt beiträgt (z. B. Kontrastfunktion). Es handelt sich um Verhalten, das von der Mehrheit der Gesellschaft als Normverstoß empfunden wird und das im Sozialprozeß entsteht und vergeht. Sozialabweichendes Verhalten besitzt keine Qualität allein aus sich selbst heraus, es ist vielmehr wesentlich von der sozialen Reaktion und deren Rückwirkung mit abhängig. Die soziale Definition von sozial2
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Das Selbstverständnis der Kriminologie
abweichendem Verhalten ist ein Mittel der Sozialkontrolle. Durch eine verfehlte Reaktion kann im Sozialprozeß die Abweichung verstärkt werden, sich selbst sekundäre Sozialabweichung (Edwin M. Lemert 1967) entwickeln. Die Kriminologie interessiert sich besonders für die Wechselwirkungen zwischen Kriminalität und sozialabweichendem Verhalten. Aus sozialabweichendem Verhalten entsteht tatsächlich oder im Wege der Kriminalisierung durch Strafgesetzgebung Kriminalität, die wiederum zu sozialabweichendem Verhalten herabgestuft werden kann. Die sozialen Voraussetzungen und Auswirkungen des individuellen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozesses sind ebenfalls Gegenstand kriminologischer Forschung. In diesem auf das Individuum bezogenen Sozialprozeß kommt es nicht nur auf die formale Reaktion der Instanzen der Sozialkontrolle, sondern auch auf informelle Reaktionen im sozialen Nahraum des Individuums an. Tatsächliche Reaktionen können im Falle der im Dunkelfeld verbleibenden Kriminalität auch ganz entfallen. Dunkelfeldforschung gehört als wesentlicher Bestandteil zur Kriminologie, wenn auch darauf hingewiesen werden muß, daß das soziale Normensystem eine völlige Aufhellung des Dunkelfeldes wahrscheinlich nicht aushalten wird (Heinrich Popitz 1968). Im gesellschaftlichen Kriminalisierungsund Entkriminalisierungsprozeß kommt es deshalb darauf an, welche Arten der bisher offiziell bekanntgewordenen Kriminalität zu sozialabweichendem Verhalten herabgestuft und welche anderen Arten von Kriminalität aus dem Dunkelfeld ins Gesellschaftsbewußtsein gehoben und verfolgt werden müssen. Das ist eine Frage der rationalen Gestaltung der Kriminalpolitik, des möglichst effektiven Einsatzes der begrenzten Kräfte der Sozialkontrolle. Der wesentliche Unterschied der modernen Kriminologie zur traditionellen liegt darin, daß sich die moderne Kriminologie ihrer Position innerhalb der Gesellschaft bewußt wird, daß sie also weiß, daß sie von gesellschaftlichen Bedingungen ausgeht und daß ihre Forschungsergebnisse soziale Wirkungen haben. Die moderne Kriminologie räumt deshalb ein, daß ihre Forschungen nicht „wertneutral" sein können. Sie bestimmt ihren
Gegenstand und Aufgabe der Kriminologie
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Gegenstand nicht von der bestehenden Strafrechtsordnung her. Denn sie versteht sich zwar als mit dem Strafrecht verbundene, aber dem Strafrecht gleichwertige Wissenschaft. Sic erforscht nicht nur Tatsachen über Verbrechen und Verbrecher, sondern sie sieht das Verbrechen als Subsystem innerhalb eines größeren sozialen Systems, der Gesellschaft. Die kriminelle Persönlichkeit ist für sie ein Prozeß, die kriminelle Karriere eingebettet in einen größeren sozialen Zusammenhang. Der Kriminologe ist deshalb kein Dogmatiker, sondern ein Zetetiker (Detlef Krauß 1971). Der „unvermeidliche Kriminologe ist eine Person, die Mittel und Strategien für das Auseinanderkoppeln von Systemen innerhalb des Gebietes der Strafrechtspraxis erkennen kann und der an Strategien arbeitet, um die Informationen zu einem Kontrollsystem wieder zusammenzukoppeln" (Leslie T. Wilkins 1972). Ziel alles kriminologischen Handelns ist deshalb die Sozialkontrolle im Wege der Vorbeugung gegen Kriminalität, auch gegen Rückfallkriminalität durch Behandlung des Rechtsbrechers, oder auch im Wege der Kriminalitätsbekämpfung. Das Strafrecht befaßt sich nur mit der bewertenden, normativen Seite der Straftaten. Es stellt die Voraussetzungen auf, unter denen man überhaupt von einer Straftat reden kann, und es regelt die Rechtsfolgen, die an solche Voraussetzungen geknüpft werden. Die tatsächlichen Grundlagen für die Frage, warum die Verbrechensvoraussetzungen und -rechtsfolgen gerade in dieser Weise und nicht anders geregelt werden sollen, erarbeitet die Kriminologie. Sie gibt ihre in der sozialen Wirklichkeit gewonnenen Forschungsergebnisse über eine ihrer Teilwissenschaften, die Kriminalpolitik, an den Gesetzgeber weiter, der von diesen Forschungsergebnissen für seine Gesetzgebung Gebrauch machen kann, wenn er das für ratsam hält. Die Kriminalpolitik zielt also auf die wissenschaftliche Analyse der Überlegungen ab, die eine Erneuerung staatlicher Maßnahmen zur Verbrechenskontrolle betreffen. Die Kriminalistik befaßt sich indessen ausschließlich mit der Verbrechensaufklärung. Sie ist also auch nur ein Teilgebiet der Kriminologie, die grundsätzlich eine Tatsachenwissenschaft ist, die dem Strafrecht als Normwissenschaft die Grundlagen krimineller Wirklichkeit liefert, deren es zu seiner Rechtssetzung durch den Gesetzgeber, 2*
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deren es aber auch zu seiner praktischen Anwendung im Strafverfahren bedarf. Die Kriminologie hat also nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine eminent praktische Bedeutung. Alle am Strafverfahren Beteiligten, die Richter, der Staatsanwalt, der Sachverständige, der Verteidiger, benötigen kriminologische Kenntnisse zur Beantwortung der Fragen nach der Beweiswürdigung und der Strafzumessung. Es ist für den Angeklagten weniger wichtig, ob er wegen Betruges oder wegen Diebstahls bestraft wird, eine Bewertungsfrage, also eine strafrechtliche Problematik. Es ist für ihn aber von entscheidender Bedeutung, ob das Gericht ihn für überführt hält (eine Frage der Tatsachenwürdigung) und - falls dies der Fall ist welche Reaktionsmittel das Gericht in seinem Fall für angemessen erachtet (hauptsächlich eine Frage der Persönlichkeitsbeurteilung des Angeklagten). Es kann dem Angeklagten nicht gleichgültig sein, ob er z. B. Strafaussetzung zur Bewährung oder Freiheitsstrafe erhält und - falls er Freiheitsstrafe bekommt - in welcher Höhe er vom Gericht verurteilt wird. Für alle diese wichtigen Fragen, für die es auf die Würdigung der Tatsachengrundlage kriminellen Geschehens ankommt, bedürfen alle am Strafverfahren Beteiligten gründlicher kriminologischer Kenntnisse. Es ist eine der verhängnisvollsten Auswirkungen der Unterrepräsentation der Kriminologie in Forschung und Lehre, daß die tatsächlichen kriminologischen Fragen der Beweiswürdigung und der Strafzumessung in unserem juristischen, psychologischen und psychiatrischen Universitätsunterricht eine untergeordnete, um nicht zu sagen: vernachlässigte Rolle spielen und daß die tatsächlichen kriminologischen Fragen der Beweiswürdigung und der Strafzumessung auch noch bei weitem nicht so differenziert kriminologisch erforscht worden sind, wie das eigentlich notwendig wäre. Die Kriminologie erforscht die gesellschaftliche Wirklichkeitsgrundlage für den Erlaß von Strafgesetzen und die tatsächlichen gesellschaftlichen Auswirkungen, die sich aus dem Erlaß und der praktischen Anwendung der Strafgesetze ergeben. Läßt man diese gesamtgesellschaftlichen Aspekte einmal beiseite, so kann man die Variationsbreite kriminologischer Fragestellungen noch konkreter klarmachen, wenn man einmal den Verlauf
Gegenstand und Aufgabe der Kriminologie
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kriminellen Geschehens verfolgt: Zunächst erforscht die Kriminologie die gesamte Persönlichkeitsentwicklung des Straftäters von seiner Geburt an und darüber hinaus. Auch Einflüsse, die vor und während der Geburt wirksam geworden sind, werden in die kriminologische Forschung mit einbezogen. Bei der Persönlichkeitserforschung des Rechtsbrechers geht es nicht nur um die individualpsychologische Seite, sondern auch um die sozialpsychologische Problematik: In welcher Weise haben gesellschaftliche Gruppen (Familie, Schulklasse, Berufs- und Freizeitgruppe) auf den Kriminellen eingewirkt? Hatte er Beziehungen zu seinem Opfer und - wenn ja - welche Beziehungen? In welcher "Weise hat das Opfer zur Straftat beigetragen? Wie hat sich die Persönlichkeit des Opfers entwickelt? Hat sich seine Opferhaltung kriminogen, kriminalitätsentstehend, ausgewirkt? Diese letzten Fragen sind Probleme der Viktimologie, der Opferwissenschaft, eines Teilgebietes der Kriminologie. Weiterhin kommen die allgemeinen Sozialbedingungen mit ins Spiel, die auf den Verbrecher eingewirkt haben: Hat die Gesellschaft eine Fehleinstellung zur Kriminalität, und wirkt sich diese Fehlhaltung kriminalitätsfördernd aus? Wie äußert sich diese Fehleinstellung? Vielleicht leisten die Massenmedien hier einen Beitrag? Kommen wir dann der Tat näher, so interessiert sich der Kriminologe für den gesamten bewußten und unbewußten Motivationsprozeß: Wie ist der Kriminelle auf den Gedanken zur Straftat gekommen? In welcher Weise hat sich sein Gedanke willensmäßig umgesetzt, so daß es zur Begehung der Straftat kommen konnte? Bei der Straftat selbst untersucht der Kriminologe alle näheren Umstände, also z. B. Begehungsart, Begehungsort, Begehungszeit. Nach der Tat muß das Verbrechen aufgeklärt und der Verbrecher überführt werden, eine Aufgabe, der sich die Kriminalistik, ein Teilgebiet der Kriminologie, widmet. Ist der Täter dann überführt und das Strafverfahren eröffnet worden, so geht es dem Kriminologen nicht nur um die Frage, in welcher Weise das Strafverfahren auf den Angeklagten einwirkt. Es geht ihm vielmehr auch um die Durchleuchtung des Strafverfahrens selbst: Welche Beziehungen entwickeln sich im Laufe des Strafverfahrens zwischen den verschiedenen Verfahrensbeteiligten? Welche Einstellungen haben
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die Verfahrensbeteiligten zur Kriminalität und zu ihrer Aufgabe der Kriminalitätsbekämpfung allgemein, und wie stehen sie emotionell zum Angeklagten? Gehen bei der Beweiswürdigung, der Auswahl der Reaktionsmittel auf das Verbrechen und der Strafzumessung Persönlichkeitsfaktoren des Strafrichters, also sachfremde Erwägungen, mit in die Beurteilung ein? Durch welche sozialen Einwirkungen auf den Richter sind solche Fehleinstellungen zu seiner Aufgabe mitverursacht worden? Wirken sich Fehleinstellungen der Verfahrensbeteiligten etwa auch kriminogen in dem Sinne aus, daß sie den Angeklagten nach seiner Verurteilung und Strafverbüßung in den Rückfall „hineintreiben", indem sie ihm eine kriminelle Rolle zuweisen? Nach seiner Verurteilung widmet sich die Strafvollzugswissenschaft, wieder ein Teilgebiet der Kriminologie, dem Strafgefangenen, aber nicht nur ihm. Der Behandlungsaspekt wird hier noch vordringlicher als im Strafverfahren: Wie wirkt sich die Freiheitsstrafe auf den Gefangenen aus? Treibt sie ihn zum Rückfall, oder kann der Rückfall durch Behandlungsmethoden verhindert werden? Wie wirken sich die Einstellungen der Strafvollzugsbediensteten zur Kriminalität und zu ihrer Verbrechensbekämpfungsaufgabe allgemein und zu den Strafgefangenen konkret auf die weitere Verbrechensentstehung, also auf die Rückfallneigung der Strafgefangenen aus? Die Kriminologie begleitet den ehemaligen Strafgefangenen auch noch nach seiner Entlassung, indem sie Wege zu erforschen sucht, wie er am besten wieder in die Gesellschaft eingeordnet werden kann. Der übergreifende Gesichtspunkt für alle diese Fragen ist die Verbrechensvorbeugung. Der Kriminologe versucht, sich dadurch selbst überflüssig zu machen, daß er die Kriminalität durch die Erforschung ihrer Entstehungsursachen und ihrer Behandlung innerhalb der Gesellschaft zu vermindern und - wenn möglich völlig zu beseitigen sucht. 4. Kriminologie als autonome interdisziplinäre Wissenschaft In der Kriminologie der Gegenwart bestehen gegenläufige Tendenzen. Auf der einen Seite versucht man, eine autonome interdisziplinäre Kriminologie zu konstituieren. Auf der anderen Seite warnt man vor einer Überdehnung der Grenzen der
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Kriminologie über den Bereich des Verbrechens hinaus. Man zweifelt, ob es die Kriminologie als autonome interdisziplinäre Wissenschaft überhaupt geben kann und spricht von soziologischer Kriminologie (Fritz Sack), psychiatrischer Kriminologie (Friedrich Stumpfl), juristischer Kriminologie (Hilde Kaufmann), psychoanalytischer Kriminologie (Rüdiger Herren, Tilmann Moser) und historischer Kriminologie (Wolf Middendorff, Thomas Würtenberger). Damit die Kriminologie ihren aufgezeigten Aufgaben voll gerecht werden kann, ist es notwendig, den Anspruch auf Autonomie und Interdisziplinarität zu erheben. Dieser Anspruch kann zunächst negativ abgegrenzt werden. Kriminologie ist noch nicht die Anwendung naturoder sozialwissenschaftlicher Methoden auf Kriminelle oder die Stellungnahme zu kriminologischen Problemen. Kriminologie kann auch nicht nur mit juristischen Methoden betrieben werden. Das spezifisch Kriminologische positiv zu definieren, ist außerordentlich schwierig, weil sich die Kriminologie als autonome interdisziplinäre Wissenschaft noch in ihren Anfängen befindet. Die Betonung des Teamgesichtspunktes, bei dem die Teammitglieder die verschiedenen Disziplinen, aus denen sie kommen, aufgeben und vergessen und so „rein kriminologisch" (Hans Göppinger 1971, S. 114/115) arbeiten, genügt zur Begründung einer integrierten Kriminologie allein nicht. Hinzukommen müssen folgende Gesichtspunkte: Der Kriminologe muß sich seiner Aufgabe der wissenschaftlichen Analyse des Verbrechens zum Zwecke der Entwicklung kriminologisch fundierter Vorbeugungs- und Bekämpfungsmaßnahmen voll, d. h. mit ganzer Arbeitskraft, widmen. Es genügt also nicht, kriminelle Phänomene zum Zwecke der Lösung von Problemen der allgemeinen Soziologie zu analysieren oder als Soziologe kriminologische Probleme nur nebenbei zu behandeln. Denn die Aufgabe der Kriminologie ist zum Zwecke der wirksamen Verbrechenskontrolle so weit gespannt, daß sie nur von Personen im Team gemeistert werden kann, die sich ganz in den Dienst dieser Aufgabe gestellt haben. Allerdings gestaltet sich das Verhältnis der Kriminologie zur Soziologie schwierig. Denn der Kriminologe muß seinen speziellen Gegenstand immer auf dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Prozesse sehen. Der
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soziologische Bezug muß also vorhanden sein, wenn auch die Aufgabe primär eine kriminologische ist. Der Kriminologe muß ferner jede Einseitigkeit der Betrachtungsweise von einer Spezialdisziplin aus unbedingt vermeiden. Das gilt für die Psychiatrie genauso wie für die Soziologie. Wenn man nämlich die Kriminalität als ein „komplexes deterministisches System" versteht, so kann man sie nur unter interdisziplinärer Integration ins richtige Blickfeld rücken. Schließlich ist zuzugeben, daß die Kriminologie bisher nur wenig eigenständige Methoden entwickelt hat. Auf der anderen Seite wendet sie aber nicht nur fremde human- und sozialwissenschaftliche Methoden an. Unter der spezifisch kriminologischen Fragestellung werden vielmehr diese Methoden so wesentlich modifiziert, daß man von kriminologischen Methoden sprechen kann (John Lekschas 1967, S. 7/8).
III. Die Hauptrichtungen der Kriminologie 1. Kriminalbiologische Theorien „Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefältet und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf, der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkeiförmig abstehend. Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich, die Lippen dünn, die Zähne groß. Im allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkeiförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder hervorragend, die Backenknochen breit - kurz ein mongolischer und bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden." So kennzeichnete der italienische Arzt Cesare Lombroso, der als Begründer der wissenschaftlichen Kriminologie gilt, in seinem Buch „Der Verbrecher in anthropologischer,
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ärztlicher und juristischer Beziehung" im Jahre 1894 die Kriminellen. Seine Gedanken wirkten sich und wirken sich auch heute noch in vielerlei Weise nachteilig auf die Kriminologie aus. Mit seinem Konzept vom „geborenen Verbrecher" förderte Lombroso die Forschungsrichtung, die die Kriminalität auf ererbte Anlagefaktoren zurückführen will. Mit seiner Ansicht, der Verbrecher sei körperlich stigmatisiert, gab er dem Irrglauben in der Bevölkerung eine wissenschaftliche Grundlage, der annimmt, der Verbrecher sei schon rein äußerlich gut erkennbar. Mit seinen zahlreichen Büchern, die in viele Sprachen übersetzt worden sind, verbreitete und unterstützte er schließlich den Aberglauben, der auch heute noch in der Wissenschaft und in der Gesellschaft vorhanden ist, die Verbrecher seien eine besondere Menschenart, die sich vom „Normalmenschen" qualitativ unterscheiden. Lombroso versuchte zu beweisen, daß alle echten Verbrecher eine bestimmte, in sich kausal zusammenhängende Reihe von körperlichen, anthropologisch nachweisbaren und seelischen, psychophysiologisch verbürgten Merkmalen besitzen, die sie als eine besondere Varietät, einen eigenen anthropologischen Typus des Menschengeschlechts charakterisieren und deren Besitzer ihren Träger mit unentrinnbarer Notwendigkeit zum Verbrecher - wenn auch vielleicht zum unentdeckten - werden läßt, ganz abgesehen von allen sozialen und individuellen Lebensbedingungen. Die Kriminologie, die man unter der Bezeichnung Kriminalpsychologie bis in die Anfänge des 18. Jahrhunderts hinein verfolgen kann, war unter dem Einfluß der Aufklärung zu Beginn des 19. Jahrhunderts schon weiter fortgeschritten. Die Unsicherheit der Zeugenaussage, die Irrationalität des Richterspruchs, der Einfluß der Kriminalpsychologie auf ein System des Kriminalrechts waren seinerzeit bereits Themen, die diskutiert wurden. „Der Kriminalpsychologe betrachtet die Erziehung, die der Verbrecher erhalten hat, die Schicksale, die er von Jugend an zu erleiden hatte, die Lage, in der er sich befand, als er zur Tat schritt, das M a ß seiner Kenntnisse, die Reihe seiner vorhergehenden Handlungen, die Langsamkeit oder Geschwindigkeit, mit der er sein Verbrechen verübte, die Reizungen, die er dazu empfing, die Äußerungen, die er noch einige Zeit über
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die begangene Tat von sich gab, und das Temperament, das er von seinen Eltern annehmen mußte, wie sie es ihm in die Welt mitgaben." Das ist ein Originalsatz von Carl von Eckartshausen, den er 1791 in seinem Buch „Über die Notwendigkeit psychologischer Kenntnisse bei der Beurteilung der Verbrechen" schrieb. Wenn auch hier in der Aufzählung vieles ungeordnet durcheinandergeht, so ist es doch schon erstaunlich, welche Gedanken man sich bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts über die praktische Seite der Kriminalpsychologie machte. In der Folgezeit wurden diese guten ersten Ansätze verschüttet. Zwar erschienen immer noch laufend Bücher unter der Bezeichnung „Kriminalpsychologie". Die Mediziner hatten sich jedoch des Faches bemächtigt, für die das Körperliche, zumal das körperlich und seelisch Abnorme, und die Begutachtung des Einzelfalls im Mittelpunkt standen. Kein Geringerer als Immanuel Kant hatte sich in einem heftigen Fakultätenstreit im Jahre 1798 dafür ausgesprochen, die Kriminalpsychologie nicht zur Medizin zu rechnen, sondern als der Psychologie zugehörig zu betrachten, die seinerzeit noch eindeutig zur Philosophie gehörte. Wenig später schon im Jahre 1830 konnten die Mediziner in diesem Kompetenzstreit triumphieren: Kants Ausspruch, daß die Untersuchung psychischer Zustände vor Gericht besser der philosophischen Fakultät als der medizinischen übertragen werde, hat auf die Gerichtspraxis so wenig Einfluß gehabt, daß die richterliche Befragung der Ärzte seit jener Zeit wohl eher häufiger als seltener geworden ist. Etwa zur selben Zeit wie Lombrosos Bücher erschien 1885 das Werk des italienischen Juristen Raffaele Garofalo, das er „Criminologia" nannte. Von dieser Zeit an hat sich die Bezeichnung Kriminologie in der ganzen Welt für eine Wissenschaft durchgesetzt, die sich mit den Erscheinungsformen und Ursachen des Verbrechens, mit der Verbrechensvorbeugung und der Behandlung des Rechtsbrechers beschäftigt, um den Rückfall des Straftäters zu verhindern. In England und den USA fand Lombroso - allerdings höchst kritische - Gefolgsleute. Charles Buckman Goring (1870-1919) verurteilte nicht so sehr die von Lombroso gefundenen Ergebnisse als die von ihm angewandten Forschungsmethoden. In seiner Untersuchung „The English con-
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vict: a Statistical study" verglich Goring (1913) 996 Gefangene mit 1000 Studenten aus Oxford. In den Schädelmaßen, den Nasenformen, der Farbe der Augen und der Haare und der Linkshänderschaft fand er keine statistisch signifikanten Unterschiede. Die Kriminellen waren allerdings etwas kleiner und wogen nicht so viel wie die Nichtkriminellen. Goring interpretierte diese signifikanten Unterschiede als Indikatoren für eine „angeborene Minderwertigkeit" der Kriminellen. Gorings Studie wurde von Ernest A. Hooton (1931, 1939) wiederholt und in ihrer Methode und ihren Folgerungen kritisiert. Hooton verglich eine kriminelle Experimentalgruppe von 13 873 Personen mit einer Kontrollgruppe von 17 076 Personen (darunter 1 227 Geisteskranken). Er fand heraus, daß die Kriminellen den Nichtkriminellen in nahezu allen Körpermaßen unterlegen waren. Körperliche Minderwertigkeit war mit geistiger verbunden. Beide beruhten - nach Hooton - auf Vererbung. Obgleich Gorings Forschung acht Jahre und Hootons Untersuchungen sogar zwölf Jahre dauerten, weisen beide statistischen Studien nach unseren heutigen Erkenntnissen erhebliche methodische Unzulänglichkeiten und Widersprüche auf. Insbesondere ist die statistische Beziehung zwischen körperlicher Anomalie und Kriminalität unecht, weil sie intervenierende Variablen nicht ausreichend berücksichtigt und weil sie nicht klärt, wie und unter welchen Bedingungen die körperliche Anomalie auf die Kriminalität einwirkt. Man könnte beispielsweise daran denken, daß die körperlichen Abnormitäten Minderwertigkeitsgefühle verursachen, die ihrerseits zur Entstehung der Kriminalität beitragen, oder auf Lebensbedingungen der damaligen Unterschicht beruhten (Unterernährung, schlechte Wohnbedingungen usw.), so daß sich die kriminelle Gruppe nicht genügend körperlich und psychisch zu entwickeln vermochte und die Kriminalität demzufolge eher ein soziales Problem darstellte. Im Laufe der Zeit entwickelten sich drei Abwandlungen zu Lombrosos Theorie. Zunächst versuchte man, den pathologischen Symptomkomplex des „Moral insanity", den der englische Physiologe und Anthropologe James Cowles Prichard 1835 geschaffen hatte, mit dem Konzept des „geborenen Ver-
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brechers" zu verbinden. Unter „Moral insanity" verstand man angeborene Entartungszustände, bei denen sich schwere moralische Defekte neben guter oder durchschnittlicher Verstandesentwicklung finden und andere Zeichen geistiger Störung fehlen: Was schon das Kind zum Verbrecher bestimmt, ist die absolute oder relative Unfähigkeit, durch moralische Begriffe im Handeln geleitet zu werden, weil diese Begriffe nicht klar genug ausgebildet werden oder weil sie der Gefühlsbetonung ermangeln. Menschen mit einem erheblichen Defekt dieser Art müssen, unter welchen Verhältnissen sie immer leben, zu Verbrechern werden und sind dann auch Verbrecher, ob sie von der Polizei entdeckt werden oder nicht. So ist es also immer dieselbe Klasse von Menschen, die zu allen Zeiten und an allen Orten durch schlechte geistige Organisation dazu verleitet wird, die Gesetze zu mißachten (E. Bleuler 1896). Eine der damaligen Zeit ausgesprochen gemäße Wendung nahm ferner das Konzept des „geborenen Verbrechers" bei den Kriminologen, die es zwar als psychiatrisch-anthropologisches Dogma ablehnten, es aber ins Soziale zu übersetzen versuchten (A. Baer 1893, P. Näcke 1897, Max Kauffmann 1912, S. 97/98): Um das abweichende psychologische Verhalten der Gewohnheitsverbrecher zu fixieren, gilt es, von normalen, adäquaten Zuständen auszugehen, also von der Psychologie des „niederen Volkes", dem die Rezidivisten meist entstammen. Unter „niederen Schichten" verstand man die „dienende" Klasse, die Hand- und Fabrikarbeiter, weiter aber auch den ungebildeten Bauernstand. Man vertrat folgende Auffassung: Beim niederen Volk sind Aberglaube und Suggestibilität, geringe Intelligenz, Willensschwäche und Faulheit außerordentlich verbreitet. Es ist lediglich auf die Befriedigung der nächsten Bedürfnisse bedacht und ethisch abgestumpft. Auch sein Gewissen ist in geringem Maße ausgebildet, und sein Gemüt steht auf niedriger Stufe. Näcke versteigt sich (1897) sogar zu folgenden Äußerungen: „Wollen wir mit Darwin reden, so können wir sagen, daß bei den unteren Schichten die geistig-sittliche Entwicklung den Zustand einer frühen Epoche darbietet, daß die höheren Stände den weiteren Fortschritt zeigen, wie es auch anatomisch sehr wahrscheinlich ist" (S. 93). „Wir sehen ü b e r a l l . . . bereits sämtliche
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Charaktereigentümlichkeiten des Verbrechers schon im gemeinen Manne angedeutet, und zwar nicht immer in so geringem M a ß e " (S. 96). „Die Psychologie der niederen Volksklassen, aus denen die Verbrecher kommen, wird nicht genug in Betracht gezogen. Umgeht man diesen Fehler, so zeigt sich, daß es hier kaum etwas Spezifisches gibt, nur Quantitätsunterschiede, die nicht so groß sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen" (S. 98). Der Verbrecher trägt die Spuren der Entartung an sich, die in den niederen Volksklassen häufig vorkommen, die durch die sozialen Lebensbedingungen erworben und vererbt, bei ihm bisweilen in potenzierter Gestalt auftreten (A. Baer 1893, S. 411). Obgleich das kriminalanthropologische Konzept des „geborenen Verbrechers" in den angloamerikanischen Ländern nur geringen Widerhall gefunden hat, ist die soziale Abwandlung dieses Konzepts in England und Nordamerika bedeutsam geworden (Mary Carpenter 1872, Charles Loring Brace 1880). Aus den „gefährlichen Klassen" (dangerous classes), die arbeitsscheu sind und das soziale Stigma des Mißerfolgs an sich tragen, rekrutieren sich die Gewohnheitsverbrecher. Zentren der Übervölkerung, der Armut und des Elends waren seinerzeit besonders London, Liverpool und Glasgow. In Europa waren Armut und Kriminalität besonders tief miteinander verwurzelt. Die „gefährlichen Klassen" in New York zeichneten sich demgegenüber durch außergewöhnliche Gewaltsamkeit aus (Charles Loring Brace 1880, S. 27). Lombroso hat die Kriminalanthropologie begründet, die Wissenschaft von einem einzelnen Typus oder einer Varietät des Menschen. Gerade die modernen Dunkelfelduntersuchungen (Philip H. Ennis 1967) haben aber das empirisch bestätigt, was viele Kriminologen schon recht früh behaupteten: Jeder Mensch hat kriminelle Neigungen. Die Kriminalität ist auf alle Bevölkerungsschichten verteilt, wenn sie ihrer Art nach auch in den einzelnen Schichten unterschiedlich sein mag. Es gibt weder einen einheitlichen anthropologischen Verbrechertypus noch eine bestimmte kriminelle Klasse. Die Lehre vom „geborenen Verbrecher" ist überhaupt nicht nachweisbar. Denn das Wort vom „geborenen Verbrecher" will besagen, daß es Menschen
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gibt, die von Geburt an mit Naturanlagen ausgestattet sind, die sie später mit Notwendigkeit zu Verbrechern werden lassen. Da ein Neugeborener keine Verbrechen begehen kann, vielmehr zwischen Geburt und Beginn der Kriminalität immer eine geraume Zeit vergeht, so ist ein zwingender Beweis für die Annahme einer angeborenen Verbrechernatur nicht zu führen. Auch der Begriff des „Moral insanity" stieß in der Kriminologie auf zunehmende Ablehnung und ist heute völlig aufgegeben. William Healy ermittelte in seiner ersten großen kriminologischen Reihenuntersuchung an 1000 Rückfalltätern keinen einzigen Fall, für den der Symptomkomplex „Moral insanity" zutreffend gewesen wäre (1915, S. 782/783). Immerhin hat Lombrosos Lehre einen bedeutsamen, von dauernden Wirkungen begleitenden Anstoß zu einer nicht nur physiologischen, sondern auch psychologischen Analyse des rechtsbrechenden Menschen gegeben. Sie hat allerdings die kriminologische Forschung auch in eine sehr verengte, einseitige Richtung gelenkt, in eine Begrenzung auf „Verbrecherpsychologie" (Täterorientierung) und insbesondere auf ererbte „Anlagen" des Verbrechers, die in der deutschen Kriminologie eine ungute Rolle gespielt hat und auch heute noch keineswegs überwunden ist. Die kriminalbiologische Richtung in der Kriminologie versuchte und versucht zum Teil auch heute noch drei Themenkomplexe zufriedenstellend zu lösen: Das Problem Vererbung und Kriminalität wurde durch Zwillingsforschung und Sippenund Familienuntersuchung zu klären gesucht. Bei der Frage der Wechselwirkung von Körperfunktionen und Kriminalität spielen Körperbau und Chromosomenaberrationen wesentliche Rollen. Schließlich ist auf die Bedeutung der frühkindlichen Hirnschäden einzugehen. Johannes Lange schrieb bereits im Jahre 1929: Die Anlagen, mit denen jemand geboren wird, die Umwelt, in die er hineinwächst, sind Notwendigkeiten, sind Schicksal. Schicksal ist es ebenfalls, wie die Umwelt mit ihren zahllosen Einflüssen das Gesamt der Anlagen formt. Dabei wird der Arzt bei dem einzelnen Verbrecher vor allem an die Anlagen denken, jenes Unabänderliche, an dem so oft alles helfende Bemühen scheitert, und das die rechtsbrecherische Handlung nicht anders be-
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trachten läßt als andersartige Symptome abnormer Verfassungen. Ist die erbliche Artung ohne Bedeutung, so darf ein Vergleich keine Unterschiede zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingspaaren zeigen. Je größer jedoch das Gewicht der Anlage wird, um so häufiger muß konkordantes, übereinstimmendes Verhalten Eineiiger eintreten. Der Abstand von durchgehender Konkordanz (Übereinstimmung in bezug auf bestimmte Merkmale) bei Erbgleichen läßt die Reichweite äußerer Verbrechensursachen abschätzen. Endlich lassen sich die Befunde bei Zweieiigen mit jenen bei anderen Geschwistern vergleichen. Je häufiger im Vergleich mit anderen Geschwistern positive Konkordanz erbungleicher Zwillinge hinsichtlich des Verbrechens ist, um so größer ist das Gewicht der Umwelteinflüsse zu bewerten, da sie nur bei ganz gemeinsam aufwachsenden Menschen als völlig gleich angesetzt werden dürfen. So lautete die Argumentation von Johannes Lange, der 30 Zwillingspaare, 13 eineiige und 17 zweieiige, untersuchte, von denen jeweils mindestens ein Proband bestraft worden war. Der Partner war bei den 13 eineiigen Paaren auch bestraft lOmal, nicht bestraft einmal, bei den 17 zweieiigen Paaren auch bestraft zweimal, nicht bestraft 15mal. Das heißt - nach Lange - also: Eineiige Zwillinge verhalten sich dem Verbrechen gegenüber ganz vorwiegend konkordant, zweieiige aber dominierend diskordant (ungleichförmig). Der Vorgehensweise der Zwillingsmethode entsprechend, schloß man daraus, daß die Erbanlage eine überwiegende Rolle unter den Verbrechensursachen spielt. Diese weitreichende Schlußfolgerung ist allein schon wegen der zu kleinen „Stichprobe" methodologisch unzulässig. Außerdem ist das Kind seinem sozialen Nahraum, den sozialen Gruppen, in denen es lebt, keineswegs „passiv ausgesetzt". Es wirkt vielmehr aktiv in seinen sozialen Nahraum hinein und gestaltet das Gruppenleben seiner Persönlichkeit gemäß mit. Menschen können sich deshalb bei äußerlich gleichem Sozialraum völlig verschieden entwickeln. Der Wechselwirkungsprozeß zwischen dem Menschen und seinem sozialen Nahraum kann in seiner Entwicklung eine positive oder auch eine negative Richtung einschlagen. Das hängt von dem Individuum, seinem sozialen Nahraum oder von beidem ab.
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Friedrich Stumpft (1936) untersuchte 15 eineiige männliche Zwillingspaare. In 9 Fällen waren beide Partner bestraft, in 6 Fällen war es nur einer der beiden Partner. Das entsprach einer Diskordanzziffer von 40 °/o . Stumpft schloß im Gegensatz zu Lange, daß die Ungleichheit im Hinblick auf Bestrafung bei eineiigen Zwillingen eine verhältnismäßig häufige, nahezu die Hälfte der Fälle umfassende Erscheinung ist. Auch hier ist die „Stichprobe" aber viel zu klein, so daß sie eine solche „Beweisführung" nicht zuläßt. Stumpft kommt in seiner Untersuchung hingegen noch zu anderen weitreichenden Ergebnissen: Durch Schwerkriminalität belastete erbgleiche Zwillinge verhalten sich dem Verbrechen gegenüber durchweg konkordant, gleichförmig. Unter Schwerkriminalität versteht er wiederholte, schwere Straftaten, die auf seelischer Verbildung und angeborener Abartigkeit beruhen. Eine quantitative Untersuchung nach dem Anteilverhältnis von Anlage und Umwelt verbietet sich indessen durch deren unauflösliche Konvergenz. Man kann ebensowenig das Verständnis einer Persönlichkeit aus ihrer Zerlegung in einzelne stückhafte Elemente erwarten wie aus einer einfachen Multiplikation „der" Anlagen und „des" Milieus. Hier ist allein schon die Problemstellung falsch. Leitender Gesichtspunkt, insbesondere bei der Erhebung der Daten, die das Verständnis der kriminellen Persönlichkeit vermitteln sollen, kann immer nur die Anerkennung der Person als einer sinnvoll gegliederten Ganzheit und als Ergebnis und Ausdruck eines in jedem Augenblick wirksamen und in jedem Moment die Persönlichkeit bestimmenden Prozesses (Robert Heiß) sein. Gleichwohl haben Friedrich Stumpft (1935) und Fred Dubitscher (1942) versucht, eine Vererbung krimineller Anlagen durch Sippenuntersuchungen nachzuweisen. Die Untersuchungen von Stumpft (1935) beruhen im wesentlichen auf einer Gegenüberstellung von Schwerkriminellen (195 Rückfallverbrechern) und Leichtkriminellen (166 Erstmaligbestraften), deren Lebenslauf und Verwandtenkreis durch persönliche Besprechungen mit insgesamt 1747 Sippenangehörigen und etwa 600 Auskunftspersonen (Lehrer, Pfarrer, Bürgermeister), durch schriftliche Anfragen mannigfacher Art und ein ausgedehntes Aktenstudium erforscht wurden. Stumpft (1935) kommt zu
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folgenden Ergebnissen: Unter Verwandten von Schwerkriminellen (Rückfallverbrechern) ist der Anteil der Kriminellen erheblich größer als unter den Verwandten von Leichtkriminellen (Erstmaligbestraften). Die Rückfallverbrecher unter den Ausgangsfällen sind fast ausnahmslos abnorme Persönlichkeiten (Psychopathen). Das dürfte wohl - nach Stumpft - in Deutschland für die Mehrzahl aller Schwerkriminellen gelten. Dagegen sind die Einmaligen der überwiegenden Mehrheit nach keine Psychopathen. Die Rückfallverbrecher setzen sich vorwiegend aus folgenden sich gegenseitig stark überschneidenden Typen zusammen: hyperthymische, umtriebige Psychopathen ( 2 9 , 7 % ) , gemütlose Psychopathen ( 4 8 , 7 % ) , willenlose Psychopathen (47,5 % ) , explosible Psychopathen (13,8 % ) , geltungssüchtige Psychopathen (6 % ) und fanatische Psychopathen ( 4 % ) . Im Verwandtenkreis von Schwerkriminellen sind Psychopathen wesentlich häufiger als im Verwandtenkreis von Leichtkriminellen. Stumpft (1935) spricht in diesem Zusammenhang von einer angeborenen Täternatur der Schwerkriminellen und von einer erblichen Bedingtheit echter Persönlichkeitseigenschaften. Er glaubte, den Nachweis erbracht zu haben, daß bestimmte Persönlichkeitseigenschaften und Charakterabnormitäten schwere Rückfallkriminalität bedingen und daß diese Eigenschaften auf die Nachkommen vererbt werden. Die Zusammenhänge zwischen Schwerkriminalität und bestimmten Formen der Psychopathie sind - nach Stumpft - erbbiologisch zu verstehen. Fred Dubitscher (1942) hat ebenfalls Sippenuntersuchungen durchgeführt. Aus dem Aktenmaterial des Bezirks- und Wohlfahrtsamtes Berlin-Charlottenburg wurden 5 4 „asoziale" Persönlichkeiten ausgewählt, von denen 31 für die Untersuchung Verwendung finden konnten. Von diesen 31 Probanden ausgehend, wurden die Sippenangehörigen erfaßt. Insgesamt wurden 1234 Personen ausgesucht, aber nur in 1088 Fällen entsprachen die Unterlagen den von Dubitscher aufgestellten Forderungen nach Vollständigkeit. 707 Personen wurden persönlich untersucht. Dubitscher (1942) hat folgende Ergebnisse erzielt: Wesentlich ist ihm, daß eine Früherkennung von Personen möglich ist, die später „asozial" werden. Die ersten 3
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Auffälligkeiten zeigen sich meist schon in der frühen Kindheit in Form von Bettnässen, Inaktivität, Unselbständigkeit beim Spiel, Gefühllosigkeit, Lieblosigkeit, Neigung zu Tierquälereien, Schadenfreude, abnormen Trotzreaktionen oder Scheu vor Kameraden, Unsauberkeit, mitunter Krampferscheinungen („Wutkrämpfe"). In der Schulzeit wurden sehr oft beobachtet: Unstetheit, Verlogenheit, blühende Phantasien, Petzerei, Neigung zu schmutzigen Redensarten, sexuelle Spielereien, Diebereien, Weglaufen, Schwänzen, Unsauberkeit, mangelnder Ordnungssinn, Drückebergerei, erzieherische Unzulänglichkeit. Das soziale Niveau der Sippen war verhältnismäßig niedrig: vorwiegend ungelernte Arbeiter. Auffallend hoch war die Zahl der Asozialen (einschließlich Nur-Krimineller) unter den Geschwistern mit 5 2 , 7 6 % ( ± 4 , 7 6 % ) . Aus diesen Ergebnissen zieht Dubitscher die Schlußfolgerung, d a ß man den „Asozialen" nicht die Möglichkeit geben sollte, ihr „außerordentlich unerwünschtes und darüber hinaus schädliches Erbgut" durch Fortpflanzung weiterzugeben. „Soll wirklich die Asozialität eingedämmt und zurückgedrängt, der gesunde Volkskörper gesund erhalten werden, so m u ß das Eindringen neuer asozialer Keime unterbunden werden. Das ist nur möglich durch eine Ausschaltung anlagemäßig Asozialer aus dem Fortpflanzungsprozeß" (Dubitscher 1942, S. 218). Kriminalbiologische Gedanken haben die Zwillings- und Sippenuntersuchungen beeinflußt, die hier unmenschliche kriminalpolitische Konsequenzen zu haben drohen. Eine solche menschenunwürdige Ideologie war von vornherein blind für die Gestalt- und Prozeßhaftigkeit der Persönlichkeiten aller Menschen. Eine angeborene Täternatur von Schwerkriminellen und eine erbliche Bedingtheit von Persönlichkeitseigenschaften sind bis heute nicht empirisch nachgewiesen und nach moderner kriminologischer Erkenntnis auch nicht nachweisbar. Der Ausschließlichkeitsanspruch der Hereditätslehre ist wie jede M o n o kausaltheorie als völlig undifferenziert abzulehnen. Es gibt keine kriminellen Sippen oder Familien im genetischen Sinne. Falls Stumpft (1935) und Dubitscher (1942) kriminelle Sippen festgestellt haben wollen, so hätten sie zunächst einmal die Definitionsmerkmale ihrer „Kriminellen" oder „Asozialen"
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klarer bestimmen und die Forschungstechniken deutlicher herausarbeiten müssen, mit denen sie die „Kriminellen" und „Asozialen" ermittelt haben. Der Psychopathiebegriff und die rein deskriptive Klassifikation der Psychopathen nach Kurt Schneider (1950, 1959) sind - nach modernen methodologischen Erkenntnissen der Kriminologie - wegen mangelnder Klarheit, unzureichender Bestimmbarkeit und völliger Unzuverlässigkeit (Reliabilität, Validität!) für empirisch-kriminologische Forschungen ungeeignet. Es mag durchaus möglich sein, daß Stumpft und Dubitscher in ihren Sippenuntersuchungen eine höhere Anzahl (Signifikanzberechnungen?) Schwerkrimineller oder Asozialer in bestimmten Gruppen der Bevölkerung gefunden haben. Hierfür kann aber die Umwelt der betreffenden Gruppen, letztlich die Gesellschaft, verantwortlich sein, die bestimmte unliebsame Bevölkerungsschichten („niedriges soziales Niveau" nach Dubitscher) systematisch diskriminiert und in delinquente Rollen hineindrängt (gesellschaftlicher Ausgliederungsdruck). Hier kann die Lösung keineswegs in der Vernichtung dieser Gruppen, sondern nur in Gesellschaftskritik und sozialen Einstellungsänderungen und Hilfen bestehen. Im Problemkreis von Körperbau und Kriminalität (Ernst Kretschmer 1961) ist die geringe Kriminalität der Pykniker - der kleinen, rundlichen Menschen mit grazilem Knochenbau bemerkenswert. Der pyknisch-cyclothyme Mensch besitzt eine gute soziale Anpassungsfähigkeit. Die Leptosomen, die Schmalen, eher Hochwüchsigen, stechen besonders stark bei Diebstahl und Betrug, die Athletiker, kräftig in Knochenbau und Muskulatur, bei allen gewalttätigen Verbrechen hervor. Die Pykniker halten sich in allen Gruppen unter dem Bevölkerungsdurchschnitt. Am meisten beteiligen sie sich noch am Betrug. Überall erscheint der Athletiker in gehäufter Zahl als der schwere, primitive Roheitsverbrecher und Körperverletzer. Diese Art kriminalbiologischer Betrachtung setzt sich der Grundsatzkritik an der Kretschmersciien Konstitutionstypologie aus. Die Kretschmerschen Konstitutionstypen sind empirisch nicht exakt genug abgesichert. Außerdem ist mit den kriminalbiologischen Aussagen über die Wechselwirkungen zwischen Körperbau und Kriminalität kriminologisch nichts gewonnen. Es ist nicht ery
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sichtlich, in welcher Weise diese Aussagen für die Verbrechensvorbeugung oder die Behandlung der Rechtsbrecher bedeutsam werden könnten. Besondere Aufmerksamkeit haben neuerdings die Befunde der chromosomalen Aberrationen bei Straftätern erweckt (H. Forssman, G. Hambert 1967). Dabei sind für die Kriminologie insbesondere zwei Abnormitäten der Geschlechtschromosomenzusammensetzungen bei Männern bemerkenswert. Anstelle des normalen XY-Musters tritt das XXY-Muster (das sogenannte Klinefelter-Syndrom) auf, das bei etwa 0,2 °/o aller Männer vorkommt und Sterilität, Unterentwicklung, relativ frühe Verkümmerung der Sexualorgane und häufig auch Unterbegabung mit sich bringt. Die abnorme XYY-Formation kommt vermutlich nur bei etwa 0,02 °/o der männlichen Bevölkerung vor. Sie ist mit Hochwuchs und wohl auch regelmäßig oder häufig mit Unterbegabung oder Schwachsinn verbunden. Uber die psychischen Folgen besteht noch Unklarheit. Die verschiedenen Befunde deuten auf eine Steigerung der Aggression. Sie sind jedoch insofern nicht genügend empirisch abgesichert, als man die Verteilung von XYY in der Normalbevölkerung noch nicht genügend kennt. Bisher wurde fast ausschließlich in nach Kriminalität ausgelesenen Gruppen nach Chromosomenaberrationen gesucht. Nach den gegenwärtig vorhandenen Befunden ist die Vorstellung unbegründet, man habe mit dem zusätzlichen Y-Chromosom gleichsam den Träger der „kriminellen Anlage" in Händen. Es ist vielmehr zu empfehlen, den Begriff der „kriminellen Anlage" völlig aufzugeben (Anne-Eva Brauneck 1969), da er theoretisch falsch und praktisch inhuman ist. W.Enke (1955), R. Lempp (1964) und G.Göllnitz (1965) haben unabhängig voneinander hirnorganische Schädigungen bei einem großen Prozentsatz der von ihnen untersuchten schwererziehbaren und neurotischen Kinder festgestellt. Göllnitz hat den Interaktionsprozeß anschaulich geschildert, der von der hirnorganischen Schädigung bis zur Schwererziehbarkeit führt: „Es liegt auf der Hand, daß solche Jugendliche durch häufige Fehlhandlungen, Anpassungsstörungen und Entgleisungen immer wieder die Umwelt provozieren. Da diese Patienten auf den ersten Blick nicht als krank, abartig oder
Der Mehrfaktorenansatz
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besonders umweltlabil wirken, auch der Zusammenhang mit solchen frühkindlichen Hirnschäden der Umwelt gar nicht evident ist, nimmt es nicht wunder, daß schon recht früh die Umgebung zu heftigen unzweckmäßigen Aktionen neigt, auf die dann wiederum diese Patienten mit abnormen Reaktionen antworten. Auch eine normale Umwelt pflegt bei einem solchen hirnorganisch bedingten Fehlverhalten recht massiv zu reagieren, was von den betroffenen Kindern und Jugendlichen als Unrecht empfunden wird und so wiederum zu weiteren abnormen Reaktionen und Entwicklungen führen kann. Um wieviel mehr aber sind derartig umweltempfindliche und umweltanfällige Jugendliche in einer ungünstigen Umwelt bei entsprechender Fehlerziehung in Gefahr, zu entgleisen, sich fehl zu entwickeln und auch dissozial zu werden." Am Beispiel der frühkindlichen Hirnschäden läßt sich auf diese Weise das Zusammenwirken zwischen nichtanlagebedingtem körperlichem Phänomen, Fehlreaktion der Umwelt und psychischer Gegenwirkung des betroffenden Jugendlichen veranschaulichen. Der Beweis, daß durch frühkindliche Hirnschäden auf diese Weise Kriminalität entsteht, ist freilich hierdurch nicht erbracht. 2. Mehrfaktorenansatz Ein markantes Beispiel für eine empirisch-kriminologische Analyse nach dem Mehrfaktorenansatz ist die Tübinger JungtäterUntersuchung, die unter der Leitung von Hans Göppinger von einem Team von Mitgliedern durchgeführt wird. In dieser Studie wird vom Konzept des „Täters in seinen sozialen Bezügen" ausgegangen (Göppinger 1971, S. 5). Der Täter wird als „Teil bestimmter gesellschaftlicher Kräftefelder" verstanden, „denen ihrerseits jedoch nur eine durch die jeweilige Individualität der Persönlichkeit relativierte Wirkung zukommt" (Göppinger 1971, S. 47). Soweit soziale Faktoren Beachtung finden, sind sie also stets täterbezogen. Es werden kriminovalente und kriminoresistente Konstellation herausgearbeitet. Unter kriminovalenten Konstellationen wird das Zusammentreffen bestimmter Faktoren verstanden, die - in dieser Konstellation im Zusammenhang mit Kriminalität ein besonderes Gewicht
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D i e H a u p t r i c h t u n g e n der K r i m i n o l o g i e
haben. Kriminoresistente Konstellationen sind Faktenkombinationen, die eine besondere Resistenz gegen die Straffälligkeit mit sich bringen. Hier wird deutlich, daß ein täterorientierter Mehrfaktorenansatz gewählt worden ist, wie er auch in den empirisch-kriminologischen Untersuchungen von Sheldon und Eleanor Glueck verwandt worden ist. Dieser Mehrfaktorenansatz, bei dem die Empirie auf Kosten der Theorie im Vordergrund steht, ist von Leslie T. Wilkins (1964, S. 37) mit Recht als Antitheorie bezeichnet worden. Der verfehlten theoretischen Grundlage entspricht ein falsches methodisches Vorgehen. Einer Gruppe von männlichen Häftlingen der Landesstrafanstalt Rottenburg im Alter von 20 bis 3 0 Jahren aus 4 Landgerichtsbezirken, Häftlingen, die zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt worden sind, wird eine Gruppe von männlichen Vergleichspersonen der normalen Bevölkerung desselben Alters aus demselben Raum gegenübergestellt (Göppinger 1971, S. 117). Die Verwendung einer solchen Vergleichsgruppentechnik ist aus folgenden Gründen unangebracht: Bei den zu Freiheitsstrafe Verurteilten handelt es sich nur um einen kleinen Teil der von den Instanzen der Sozialkontrolle nach bestimmten Gesichtspunkten ausgewählten bekanntgewordenen kriminellen Population. Die psychologische Untersuchung dieser Strafanstaltspopulation vermittelt zudem falsche Bilder, weil die Strafanstaltssituation auf die Persönlichkeit der Gefangenen einwirkt. Die Strafgefangenen sind ferner eine zu heterogene Gruppe, da in ihr verschiedene Tätertypen enthalten sind. Schließlich stellt die normale Vergleichsgruppe keine nichtkriminelle Population dar, weil entsprechende Dunkelfeldforschungen nicht vorgeschaltet worden sind. Die Tübinger Forschung ist nur ein Beispiel für die grundsätzliche Täterorientierung der konventionellen deutschen Kriminologie. In der nordamerikanischen Kriminologie hat man bereits seit langem erkannt, daß es keine nennenswerten Persönlichkeitsunterschiede zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen gibt (Karl F. Schuessler, Donald R. Cressey 1950). Gleichwohl hält die deutsche Kriminologie an Merkmalsbeschreibungen der Kriminellen fest, die sie gegenüber dem Normalmenschen als irgendwie andersartig versteht. O b diese Andersartig-
Der Mehrfaktorenansatz
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keit nun im Grunde auf biologischen Gegebenheiten beruht (Armand Mergen 1968) oder über Sozialisations- und Persönlichkeitsdefekte auf individuelle Pathologie zurückzuführen ist (Tilmann M o s e r 1970), macht keinen großen Unterschied. Der Grund für die Kriminalität liegt in einer Persönlichkeitsstörung, einer Kriminopathie. D e r Psychopathiebegriff nach der klassischen Psychopathologie oder nach der Psychoanalyse spielt bei der Kriminalitätserklärung eine entscheidende Rolle. Aus dem Schuldigen wird ein sozial Minderwertiger oder Kranker. Es ist indessen bisher keinerlei Beweis dafür erbracht, daß die Kriminalität auf Persönlichkeitsstörungen beruht, ein Begriff, der wegen seiner nichtssagenden Allgemeinheit und Unbestimmbarkeit unbrauchbar ist. D a ß die Mehrzahl der Kriminellen psychisch anomal ist, wird bestritten. Die Pathologie liegt nicht im Individuum, sondern im individuellen Kriminalisierungsprozeß. Die Kriminalität ist eine sozialpathologische Erscheinung. Die Ursache des Verbrechens gibt es nicht. Jedes einzelne Delikt wird in einzigartiger Weise verursacht. Ursachen für die Kriminalität herauszuarbeiten, ist deshalb so schwierig, weil es sich bei den Ursachen der Kriminalität im Grunde um empirischunerträgliche Abstraktionen handelt. Sich nunmehr auf die Untersuchung von Entstehungszusammenhängen des Verbrechens zu beschränken (Hilde Kaufmann 1971), bedeutet lediglich, den traditionellen Anlage-Umwelt-Persönlichkeitsansatz in einen Mehrfaktoren-Ansatz aufzulösen. Denn dieser Mehrfaktoren-Ansatz umfaßte stets schon Anlage-, Umwelt- und Persönlichkeitsfaktoren. Nicht wenige deutsche Kriminologen halten auch heute noch an den Begriffen Anlage und Umwelt fest. Diese Problemstellung hat sich indessen als unfruchtbar erwiesen. W a s an dem Mehrfaktoren-Ansatz in elementarer Weise falsch ist, liegt darin, daß er versucht, die Komplexität der Verbrechenserscheinungen und -Ursachen auf einen primitiven naturwissenschaftlichen Ursache-Wirkungs-Mechanismus zu reduzieren. Die Herstellung eines linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs ist hingegen verfehlt. Es k o m m t auf die Beziehungen unter den Faktoren (Strukturen) und auf das Zusammenwirken der Faktoren (Dynamik) an. Darüber hinaus
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kann die kriminologische Forschung nur in ständiger Interaktion zwischen Theorie und Empirie vorangetrieben werden. 3. Psychologische Theorien Als die Lehre vom „geborenen Verbrecher" schon etwas zu verblassen drohte, machte Hans Groß (1905) den Versuch, die bedeutsamen Fortschritte, die die physiologische und experimentelle Psychologie gemacht hatten, auf die Kriminalpsychologie zu übertragen. In seiner „Kriminalpsychologie" machte er den Juristen mit den damals neuesten Forschungsergebnissen der physiologischen und experimentellen Psychologie - z. B. anknüpfend an die Lehren Gustav Theodor Fechners (1801 bis 1887) - bekannt: mit Reflexbewegungen, mit Sinneswahrnehmung, mit Denkvorgängen, mit Assoziationen, mit psychischen Phänomenen wie Erinnerung, Gedächtnis, Wille und Gefühl und mit Sinnestäuschungen. Auch Paul Pollitz (1909) äußert die Auffassung: In erster Linie findet die Kriminalpsychologie ihre Grundlage in den Lehren der normalen Psychologie, insbesondere in der in unserer Zeit durch Wilhelm Wundt (1832 bis 1920) und seine Schule lebhaft geförderten experimentellen, „physiologischen" Psychologie, die gewissen Erscheinungen seelischer Vorgänge zum Teil auf dem Wege objektiver Untersuchung und Messung näherzukommen sucht. Trotz der durchaus verdienstvollen Bemühungen Hans Groß' (1847-1915) blieb der Einfluß der physiologischen und experimentellen Psychologie auf die Kriminalpsychologie nicht allzu nachhaltig. Das lag gewiß zu einem Teil an dem Aufkommen der Freudschen Psychoanalyse und der Adlerschen Individualpsychologie. Der Hauptgrund für den mangelnden Erfolg der experimentalpsychologischen Richtung in der Kriminologie besteht indessen darin, daß sie für den kriminologischen Forscher und Praktiker lediglich allzu abstrakte und praxisferne Ergebnisse hervorzubringen vermochte. Die psychoanalytische Kriminologenschule hat sich in Deutschland entwickelt und insbesondere in Nordamerika einen großen, allerdings rapide schwindenden Einfluß auf die Kriminologie gehabt. Bevor auf die unterschiedlichen inhaltlichen Ausgestaltungen der psychoanalytischen Kriminalitätsentstehungs-
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Schaubild 1: Psychoanalytisches Persönlichkeitsmodell
theorien eingegangen wird, muß das psychoanalytische Persönlichkeitsmodell (Schaubild 1) mit seinen verschiedenen psychischen Instanzen und die psychoanalytische Entwicklungspsychologie kurz erläutert werden. Im psychoanalytischen Persönlichkeitsmodell umfaßt das Es die triebhafte unbewußte Seite der Persönlichkeit. Es ist die hauptsächliche Quelle der seelischen Energie und Vitalität. Das Uber-Ich (oder auch Super-Ego oder Ich-Ideal) ist eine Kontrollinstanz (der Zensor), die bewußt und unbewußt die moralische Wertung übernimmt und das Ich zur Abwehr von damit unvereinbaren Trieben aus dem Es veranlaßt. Das Über-Ich wird aus dem Ödipuskomplex (Mutterinzest und Vatermord) abgeleitet und als Introjektion (Eininnerung) der elterlichen Gebote und Verbote verstanden. Das Ich (oder Ego) ist eine Regulationsinstanz. Es ist Subjekt aller Er-
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lebnisse, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken und Gefühle. Es ist Ausdruck der Einheit des Selbstbewußtseins. Das Ich ist zwischen Es und Uber-Ich geschaltet. Es vermittelt zwischen den Triebansprüchen des Es, den Forderungen des Überich und den Bedingungen der Außenwelt. Das Ich ist aus unbewußten und bewußten Anteilen (Ich-Funktionen) zusammengesetzt. In dem eine Neurose zugrundeliegenden Konflikt übernimmt das Ich die Abwehrfunktion der Persönlichkeit. Einer der Abwehrmechanismen des Ich ist die Angst. Unter Unbewußtem versteht man die nicht im Bewußtsein erscheinenden, gleichwohl auf Bewußtsein, Stimmung, Tendenzen, Ziele und Handlungen, aber auch auf Triebe, Wünsche, Träume wirkenden oder verdrängten Erlebnisbestandteile, die nur durch besondere Methoden (Psychotherapie) ins Bewußtsein gebracht werden können. Das Vorbewußte besteht aus Vorstellungen und Gedanken, die nicht bewußt sind, aber jederzeit (ohne besondere Schwierigkeit) ins Bewußtsein treten können. Das Unterbewußte bezeichnet psychische und körperliche Vorgänge (Bewegungen), die unter der Schwelle des Bewußtseins (automatisch) ablaufen. Unterbewußtes ist Früherbewußtes. In der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie spielt der Begriff der Libido eine zentrale Rolle. Libido ist nach Freud die quantitative, wenngleich noch nicht meßbare Größe derjenigen Triebe, deren Ausdruck Sexualität ist. Die Libido ist ursprünglich vollständig beim Ich (Zustand des primären Narzißmus). Später beginnt das Ich, Vorstellungen von Objekten mit Libido zu besetzen (Objektlibido). Somatische Quelle der Libido oder des Anteils, der als Sexualerregung erscheint, sind die erogenen Zonen; unter Umständen ist es der ganze Körper. Das erste Organ, das als erogene Zone auftritt, ist von Geburt an der Mund (orale Phase). Es folgt ein Abschnitt, in dem Befriedigung in der Aggression und in der ausscheidenden Funktion gesucht wird (anale Phase). In einer anschließenden dritten Periode spielt das männliche Geschlechtsorgan die Rolle der wichtigsten erogenen Zone (phallische Phase). Nach Ablauf eines Latenzabschnitts setzt sich in der Pubertät die Sexualentwicklung fort und wird abgeschlossen mit der sogenannten genitalen Phase. Der Mensch wird psychoanalytisch von Natur
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aus als ein asoziales, polymorph perverses Wesen angesehen. Das normale Kind ist der „geborene Verbrecher", der Vatermord der Archetyp des Verbrechens. Die psychoanalytische Erforschung des unbewußten Seelenlebens führt zu der Einsicht, daß der sozial angepaßte Teil des Menschen ein spätes und relativ labiles Entwicklungsprodukt ist, während sich in dem quantitativ und dynamisch mächtigeren Kern der Persönlichkeit Normale und Kriminelle nicht unterscheiden. Der Mensch kommt als kriminelles, d. h. sozial nichtangepaßtes Wesen auf die Welt. Während es dem Normalen gelingt, seine kriminellen Triebregungen teils zu verdrängen, teils im Sinne der Sozietät umzuwandeln, mißglückt dem Kriminellen dieser Anpassungsvorgang. Kriminalität ist also nach der tiefenpsychologischen Auffassung kein „Geburtsfehler", sondern ein Erziehungsdefekt. Die Kriminalität ist in ihrer Anlage eine allgemein menschliche Erscheinung. Schaubild 2: Verbrecher aus Schuldbewußtsein (nach Sigmund Freud) Ödipuskomplex V Unbewußtes, prnexistentes Schuldgefühl
i
..
Strafbedürfnis (bei strengem Überich)
4
Anknüpfen des Schuldgefühls und des Strafbedürfnisses an eine konkrete Straftat
l
Seelische Erleichterung durch Bestrafung für die konkrete Straftat (unbewußt für den Ödipuskomplex)
Die kriminalpsychologische Bedeutung seiner Lehre hat Sigmund Freud (1856-1939) zunächst überhaupt nicht voll (1906), wenig später (1915) nur im Grundsatz erkannt. Seinen „Verbrecher aus Schuldbewußtsein" (1915) vergleicht Freud mit Nietzsches „bleichem Verbrecher" aus den Reden Zarathustras.
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Freud selbst entwirft sein Konzept der Präexistenz des Schuldgefühls und der Verwendung der Tat zur Rationalisierung (Schaubild 2) folgendermaßen: Zugrunde liegt die psychoanalytische Lehre vom Ödipuskomplex, der ein unbewußtes Schuldgefühl entstehen läßt. Der Träger dieses Schuldgefühls wird mit seinen verbrecherischen Wünschen nicht fertig. Er begeht die kriminelle Tat und begehrt in ihr die Strafe, um jenes drückende Schuldbewußtsein zu beschwichtigen. Hierbei geht also das Schuldgefühl aus dem Unbewußten der verbrecherischen Tat vorher und folgt ihr nicht etwa erst nach. Der Täter ist sich dabei regelmäßig über diese unbewußte Ersatzbefriedigung für seine verdrängte Triebregung nicht klar. Solche Menschen begehen das Verbrechen, weil es verboten ist und weil seine Ausführung ihnen eine seelische Erleichterung bringt. Ein sie dauernd belastendes Schuldgefühl unbekannter Herkunft, das in Wahrheit dem Ödipuskomplex entstammt, wird durch das Vergehen an eine bestimmte Tat geknüpft und so in eine bewußtseinsfähige, leichter ertragbare Form gebracht. Es sind Menschen von besonders strengem Gewissen, deren Über-Ich als moralische Instanz jene verbotenen ödipuswünsche besonders heftig verurteilen, sehr viel heftiger als die verhältnismäßig harmlos erscheinende reale verbrecherische Handlung. Die Tat wird ausgeführt, um ein aus dem Ödipuskomplex stammendes präexistentes Schuldgefühl an ihre Ausführung anzuknüpfen und durch Erleiden der Strafe zu mildern. Das manifeste Delikt verhüllt die eigentlich gemeinte ödipustat. Theodor Reik (1925) hat diese psychoanalytische Lehre in der Kriminologie weiterentwickelt, indem er die Hypothesen aufstellte, daß sich Strafangst in Geständnisangst verwandele, daß der Geständniszwang eine psychische Entlastung bedeute und daß die Strafe auch das Strafbedürfnis der Gesellschaft durch deren unbewußte Identifizierung mit dem Verbrecher befriedige. Der Geständniszwang ist die durch die Einwirkung des Strafbedürfnisses modifizierte Äußerungstendenz verdrängter Triebregungen. Sein Resultat, das Geständnis, repräsentiert unbewußt eine Strafe und befriedigt ein Stück des Strafbedürfnisses. Bei zu großem Strafbedürfnis kann es nicht zum Geständnis kommen, sondern zu einem Ersatz der
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ursprünglichen T a t , von der das Strafbedürfnis seinen Ausgang nahm. Drei große Hauptgruppen von chronischen Kriminellen unterscheiden Franz Alexander und Hugo Staub (1929): Der neurotische Kriminelle, dessen gesellschaftsfeindliches Verhalten den Ausweg aus einem innerpsychischen Gegensatz sozialer und asozialer Teile seiner Persönlichkeit darstellt, ist der verallgemeinerte Typ des „Verbrechers aus Schuldbewußtsein". Dieser Gegensatz entsteht aus ähnlichen seelischen Einwirkungen der frühesten Kindheit und des späteren Lebensschicksals wie bei der Psychoneurose, bei der das Ich im Dienste des Uber-Ichs und der Realität mit dem Es in Konflikt gerät (Reik 1925, S. 50). Es gibt keine Neurose ohne Beteiligung des Uber-Ichs. Auch wenn man die Neurosen als Resultat des Konfliktes zwischen Ich und Es charakterisiert, muß man betonen, daß es sich um das Ich handelt, das die Partei des Über-Ichs genommen hat (Reik 1925, S. 83). Die sich mit kriminellen Vorbildern identifizierenden Kriminellen haben infolge Gewöhnung und Lernen - wahrscheinlich auch in Zusammenwirken mit ererbten Dispositionen - ein kriminell geprägtes Ich und Überich entwickelt. Diesen beiden psychologisch bedingten Gruppen steht eine dritte Gruppe von Kriminellen gegenüber, die auf der Grundlage organischer Krankheitsprozesse zu beurteilen sind. Von diesen drei Gruppen Krimineller, die aufgrund ihrer persönlichen (organischen oder psychischen) Dispositionen zum Verbrechen neigen (chronische Kriminelle), unterscheidet man jene große Zahl von normalen Menschen, die unter gewissen spezifischen Bedingungen akut kriminell werden. Die kriminellen Handlungen, die so akut zustande kommen, stammen nicht von einer spezifischen psychoanalytischen Persönlichkeitsstruktur her. Vielmehr ist ausnahmslos jeder Mensch unter gewissen Voraussetzungen und in einer gewissen Lage zur Begehung irgendeines Rechtsbruches fähig. Für diese Handlungen ist also nicht die tiefenpsychologische Eigenart des Menschen, sondern die Besonderheit der Situation charakteristisch. Einer Typenlehre des Verbrechers nicht zugehörig, sozial am wenigsten bedeutsam, sind diese akuten Rechtsverletzungen psychologisch um so interessanter. Dem chronischen Kriminellen im Sinne
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von Franz Alexander und Hugo Staub hat August Aichhorn (1925) eine weitere psychoanalytisch bedeutsame Gruppe hinzugefügt. Soziales Handeln ist gewährleistet durch ein Uber-Ich, das bei unsozialem Handeln das normale, bewußte Schuldgefühl auslöst. Beim kriminell Verwahrlosten ist das nicht der Fall. Das Schuldgefühl ist entweder verdrängt oder kommt infolge defekten Über-Ichs und nicht adäquat gebildeten Ichs schwach oder überhaupt nicht zustande. Ist der kriminell Verwahrloste ein hemmungsloser Triebmensch, so vermag er seine Triebimpulse durch sein Ich und Uber-Ich nicht zu steuern und in soziale Bahnen zu lenken, die mit der Realität in Einklang stehen. Eine gesellschaftskritische und gleichzeitig klassenkämpferische Wendung nimmt die Interpretation der psychoanalytischen Richtung in der Kriminologie bei Erich Fromm (1931): Jede Klassengesellschaft ist charakterisiert durch die Beherrschung einer Klasse durch die andere, genauer gesagt, der großen Masse der Besitzlosen durch die kleine Schicht der Besitzenden. Die Mittel, mit denen diese Herrschaft ausgeübt wird, sind sehr verschiedenartig. Am auffälligsten sind die Mittel physischer Gewalt, wie sie durch Militär und Polizei repräsentiert werden. Aber diese Mittel sind keineswegs die wichtigsten. Mit ihnen allein ließe sich auf die Dauer die Beherrschung der Masse nicht gewährleisten. Als viel wichtigeres Mittel kommt ein psychisches hinzu, das die Verwendung von äußerer Gewalt nur in Ausnahmefällen notwendig macht. Dieses psychische Mittel besteht darin, die Masse in eine Situation der seelischen Bindung und Abhängigkeit von der herrschenden Klasse, insbesondere ihren Repräsentanten, zu bringen, so d a ß sie sich auch ohne Anwendung der Gewalt fügt und unterordnet. Die Psychoanalyse hat gezeigt, wie weitgehend bei allen Menschen, auch bei den gesunden Erwachsenen, die Möglichkeit vorhanden ist, seelische Einstellungen der Kindheit zu wiederholen und speziell die infantile Einstellung zum Vater auf andere Personen zu übertragen. Für die seelische Einstellung des kleinen Kindes zum Vater ist charakteristisch der Glaube an seine körperliche und geistige Überlegenheit und die Angst vor ihm. D a ß diese infantile Einstellung des Kindes zum Vater von der
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Masse auf die herrschende Klasse und ihre Repräsentanten übertragen wird, ist eines der wichtigsten Erfordernisse für die Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität in der Klassengesellschaft. Durch die Wiederholung dieser infantilen, sehr intensiven Gefühlsbindungen wird der einzelne Angehörige der Masse zu dem Grad freiwilliger Unterwürfigkeit, der Verehrung und Liebe gebracht, der im normalen Ablauf des gesellschaftlichen Lebens Gewaltmaßnahmen überflüssig macht. Die Mittel, durch die die herrschende Klasse sich der Masse als Vaterfigur psychisch präsentiert, sind sehr verschieden. Eines dieser Mittel, und nicht eines der unwesentlichsten, ist die Strafjustiz. Sie demonstriert eine der wichtigsten Eigenschaften des Vaters, seine Macht zu strafen, und sie erregt die Angst, die die Haltung liebender Verehrung der der Auflehnung vorziehen läßt. So wie für das Kind eine der wesentlichen und konstituierenden Qualitäten des Vaters seine Strafpotenz ist, so muß sich auch der Staat als Vertreter der herrschenden Klasse diese Strafpotenz zusprechen und sie demonstrieren, weil darin ein wichtiges Mittel liegt, sich dem Unbewußten der Masse als Vaterfigur aufzuzwingen. Die tiefenpsychologischen Kriminalitätstheorien bauen auf einem defekten Ich oder Über-Ich auf, das in den schicksalhaften Jahren der Frühkindheit bis zum 5. oder 6. Lebensjahr erworben worden ist. Symbolische Diebstähle oder Prostitution haben die Bedeutung eines unbewußten Sich-EntschädigenWollens für entgangene elterliche Liebe. Ein Kind leidet unter Entziehungserscheinungen, obwohl es zu Hause lebt, wenn seine Mutter oder seine dauernde Mutter-Ersatzperson unfähig ist, ihm die liebende Zuwendung zu geben, die kleine Kinder benötigen. Eine längere Trennung des Kindes von seiner Mutter oder seiner Mutter-Ersatzperson während der ersten 5 Jahre seines Lebens stehen unter den hervorragenden Gründen für eine delinquente Persönlichkeitsentwicklung. John Bowlby (1952) hat die Hypothese aufgestellt, daß es eine spezifische Verbindung zwischen längerem Mutterentzug in der frühen Kindheit und der Entwicklung einer gemütsrohen Persönlichkeit gibt, die für beständiges delinquentes Verhalten anfällig macht und äußerst schwierig zu behandeln ist. Der Prozeß,
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durch den das Kind gleichzeitig sein eigenes Ich und sein Überich entwickelt, und die Möglichkeit, stabile Beziehungen aufrechtzuerhalten, werden verschiedentlich beschrieben als Prozesse der Identifikation, Internalisation und Introjektion, weil die Funktionen des Ichs und des Uber-Ichs in das Selbst durch die Verhaltensweisen der Eltern eingeinnert werden. Klinisch ist beobachtet worden, daß die Ichs und die Über-Ichs von schwer zurückgesetzten Kindern nicht entwickelt worden sind (Fritz Redl, David Wineman 1970). Sie sind unwirksame Persönlichkeiten, die unfähig sind, aus ihren Erfahrungen zu lernen. Der Mißerfolg der Ich- und Über-Ich-Entwicklung bei zurückgesetzten Kindern kann leichter verstanden werden, wenn berücksichtigt wird, daß die Mutter in den ersten Lebensjahren des Kindes die Funktionen seines Ichs und seines UberIchs erfüllt (John Bowlby 1952). Ein weiterer Grundsatz der Lerntheorie ist, daß ein Individuum sich keine Fähigkeiten aneignen kann, wenn es keine freundlichen Gefühle gegenüber dem Lehrer hat und wenn es nicht bereit ist, sich mit dem Lehrer zu identifizieren. Unbewußte Ablehnung des Kindes bei einer scheinbar liebenden Einstellung (Frustrationshypothese), bewußte Ablehnung, Unerwünschtsein des Kindes (rejection), Ubermaß an Zärtlichkeit (overprotection) und Pendeln zwischen Verwöhnung und aggressiver Feindseligkeit bilden wesentliche Faktoren bei der Entwicklung der Jugendkriminalität. Nach Kate Friedlander (1960) gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den unbewußten Konflikten, die eine neurotische Symptombildung verursachen, und den unbewußten Konflikten, die delinquente Handlungen hervorrufen. Von seiner Geburt an durchläuft jeder Mensch bestimmte Phasen der Triebentwicklung und des Aufbaus seines Ichs und Über-Ichs. Es muß hier an die orale und anale Entwicklungsphase erinnert werden. Diese Entwicklungsphasen und Situationen können im späteren Leben eines Menschen, insbesondere auch in seinem kriminellen Handeln, in der Weise wirksam werden, daß der Betreffende an eine dieser Phasen oder Situationen weitgehend fixiert bleibt oder daß er auf eine frühere Entwicklungsstufe regrediert (Hans Walder 1962, S. 102). Ungelöste kriminelle Bedürfnisse der Eltern können
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unbewußt durch die Kinder ausgelebt werden. Man spricht von einer kriminellen „Sucht" der Eltern, die durch delinquentes Verhalten ihrer Kinder emotionale Befriedigung erlangen (Beatrice Simcox Reiner, Irving Kaufmann 1963). Schließlich können Familienschwierigkeiten durch ein Kind, das zum Sündenbock gestempelt wird, ausagiert werden. Im Pionierhaus in Detroit, einem Heim in der Nachbarschaft der Universität, haben Fritz Redl und David Wineman (1970) von September 1946 bis Juni 1948 mit 10 Mitarbeitern 7 bis 8 Kinder im Alter von 8 bis 11 Jahren betreut. Die präkriminellen Verhaltensstrukturen dieser Kinder zeigten sich in Symptomen wie Zerstörungswut, Hyperaggressivität, Diebstahl, Entweichen, Schulschwänzen, Wutanfällen und Lügen, respektlosem Benehmen gegenüber den Erwachsenen und einer rohen Sprache. Redl und Wineman nennen die Faktoren, die den Kindern für eine adäquate Persönlichkeitsentwicklung gefehlt haben: Gelegenheit zur Identifikation mit Erwachsenen, das Gefühl, geliebt oder zumindest erwünscht zu sein, und eine Ermunterung, Werte und Normen der Erwachsenen anzunehmen, fröhliche Freizeitgestaltung, angemessene Bindungen zu Gleichaltrigen, eine Möglichkeit, soziale Bindungen aufzubauen, verbunden mit dem Gefühl, in irgendeiner Gemeinschaft verwurzelt und ihr zugehörig zu sein und auch außerhalb der Familie Menschen gefunden zu haben, die einen kennen und lieben, die Erfahrung einer Familienstruktur, die in den Grundzügen integriert ist und dem Kind offensteht, und angemessene wirtschaftliche Sicherheit, die zumindest Befriedigung der grundlegenden Lebensbedürfnisse garantiert. Bei gestörten Kindern ist das Ich häufig verarmt. Sie sind gar nicht imstande, die Wirklichkeit realistisch einzuschätzen, weil sie darüber keine angemessenen Informationen erhalten haben. Außerdem verfügt ihr Ich nicht über so reichhaltige Möglichkeiten der Abwehr. Es fehlen ihm die verschiedenen Techniken, die es der aufkommenden Angst und der Furcht entgegensetzen könnte. Die gestörten Kinder waren unfähig, mit dem Erfolg, dem Mißerfolg und dem Versagen angemessen umzugehen. Manche der Kinder waren von der Notwendigkeit ihres Versagens aufgrund ihrer früheren Erfahrungen so überzeugt, daß man sie 4
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selbst unter günstigsten Bedingungen kaum zu einem Anfang bewegen konnte. Redl und Wineman versuchten es mit der sozialen Sensibilisierung des Ichs der Kinder. Denn sie waren der Auffassung: „Die erste Voraussetzung des angepaßten sozialen Verhaltens ist eine interpersonale Sensibilität, d. h. eine zuverlässige ,Antenne' dafür, wie andere Personen fühlen, was in ihnen vorgeht, aus welchen Motiven ihr konkretes Ver-. halten uns gegenüber entspringt. Die interpersonale Sensibilität muß außerdem eine brauchbare prognostische Information liefern, damit man im voraus abschätzen kann, wie andere auf geplante eigene Aktivitäten reagieren werden. Weiterhin braucht die Person ausreichende Sensibilität dem jeweiligen - ungeschriebenen - Gruppengesetz gegenüber. Es muß klar sein, welche Reaktionen die Gruppe akzeptiert und auf welche sie aggressiv reagiert. Ganz besonders gilt dies für die Gruppe der Gleichaltrigen. Es muß abgeschätzt werden können, was einen sympathisch und unsympathisch macht, welche Haltungen von der Gruppe respektiert, welche abwertend beurteilt und welche zurückgewiesen werden. Natürlich entwickelt eine Gruppe in der Regel nicht nur kontinuierliche Gruppengesetze, vielmehr wandelt sich die Atmosphäre unter bestimmten Voraussetzungen. Auch diese Wandlungen müssen durch die persönliche Sensibilität des Ich registriert und informativ bearbeitet werden" (Fritz Redl, David Wineman 1970, S. 99/100). Die Individualpsychologie von Alfred Adler (1927, 1930) ist geschichtlich aus der Freudschen Psychoanalyse hervorgegangen. Adler (1870-1937) war ursprünglich Schüler von Freud und gehörte jahrelang dessen Kreis an. Er führte allerdings - im Gegensatz zu Freud - Charakter- wie Neurosenbildung ausschließlich auf das Machtstreben der Menschen und ihr Bedürfnis nach Kompensation ihrer konstitutionellen Minderwertigkeit zurück. Er geht in seiner Lehre von Forschungen über die „Minderwertigkeit von Organen" (1927) aus. Die Grundlage nervöser Erkrankungen bildet für ihn ein in der Kindheit erworbenes Minderwertigkeitsgefühl. Außer der Organminderwertigkeit können dafür auch andere Einflüsse, insbesondere die einer falschen Erziehung, maßgebend sein. Ein verstärktes Minderwertigkeitsgefühl ruft ein über das normale
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M a ß hinausgehendes Ausgleichsstreben, den „männlichen Protest", die „ Ü b e r k o m p e n s a t i o n " hervor. D e r übersteigerte Ehrgeiz, der seinen Ursprung aus vorausgegangener Entmutigung nicht verleugnet, scheitert an der Realität. D e r Mißerfolg verstärkt die E n t m u t i g u n g und diese wieder die k r a m p f h a f t e n Versuche, zu vermeintlicher Überlegenheit zu k o m m e n . Kein menschliches Wesen k a n n auf die D a u e r das Gefühl der M i n derwertigkeit ertragen. Jeder trachtet, es zu überwinden, und sieht immer nach einem Ziel der Erfüllung und Sicherheit. Er tut dies zu dem Zweck, Schwierigkeiten zu überwinden u n d ein Gefühl der Überlegenheit zu gewinnen. Gelingt dies nicht, so gerät das Individuum auf die sozialschädliche Seite des Verbrechens. U m die Neigung zur sozial nützlichen Seite zu verstärken, ist eine f r ü h e soziale Ausbildung im gesellschaftlichen Interesse wie im Interesse des Individuums notwendig. N u r eine Erziehung zur sozialen Mitarbeit k a n n entstehende Defekte ausschließen und v o r h a n d e n e überwinden (Alfred Adler 1931). Nicht n u r verhätschelte Kinder, sondern auch vernachlässigte sind unausgebildet und ungelehrt im sozialen Interesse. Vernachlässigte Kinder wissen nicht, d a ß es eine Gemeinschaft u n d ein Gemeinschaftsgefühl gibt. Es w i r f t ein bezeichnendes Streiflicht auf unsere Gesellschaft, d a ß sich unter diesen zurückgewiesenen Kindern so viele Waisen befinden, so viele uneheliche, so viele ungewollte Kinder, die nicht so beliebt und geliebt w a r e n wie andere. Auch häßliche Kinder u n d Krüppel h a b e n es meist schwer, zur sozialen Anpassung zu gelangen, u n d es ist gut zu verstehen, w a r u m m a n unter den Verbrechern so o f t unschönen Individuen begegnet. Ein häßliches Kind kann leicht den Mangel an Anerkennung verspüren, k a n n sich unwillkommen v o r k o m m e n . Das Resultat ist, d a ß es die Welt nicht freudig akzeptiert, sondern sich wie in Feindesland benimmt. Den Verbrecher charakterisiert Alfred Adler (1931) folgendermaßen: Er n i m m t keinen Anteil an anderen M e n schen. Er befreundet sich nicht leicht. Meistens befreundet sich der Kriminelle mit seinen Artgenossen, die nach anderen, die ihnen gleichen, Ausschau halten. D a s bedeutet, d a ß er sein Betätigungsfeld verkleinert u n d soziale T y p e n ausschließt. Er will es sich leichter machen. Er k a n n seinesgleichen gegenüber 4»
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ein guter Kamerad sein, aber niemals anderen gegenüber. Eugen Schmidt will in seiner Schrift „Das Verbrechen als Ausdrucksform sozialer Entmutigung" (1931) im Gegensatz zu der an Lombroso anknüpfenden Lehre von der Vererbung verbrecherischer Anlagen als Arbeitshypothese allein die Entstehung von Verbrechen aus Einflüssen der Umwelt und der Reaktion der Persönlichkeit auf diese Umwelt gelten lassen. Dabei erscheint ihm das Verbrechen als ein Produkt der Mutlosigkeit, als die typische Haltung eines Menschen, der den Glauben daran verloren hat, sich innerhalb der Gesellschaft mit den durch die Gesellschaftsordnung zugelassenen Mitteln durchzusetzen. Der Sinn des Lebens besteht in Kooperation, in Mitarbeit und in sozialer Beitragsleistung, nicht aber in der Ausnutzung der sozialen Beitragsleistung anderer. Der Verbrecher leidet an einer schweren Störung seines Selbstwertgefühls. Die Tiefe des Minderwertigkeitsgefühls und ein Rest des Mutes zur Gemeinschaft formen grundsätzlich seinen Lebensstil. Nach Hans Jürgen Eysenck (1964) ist das Bewußtsein die Kombination und der Höhepunkt eines langen Prozesses der Konditionierung. Der Fehlschlag bei einer Person, sie zu konditionieren, ist der Hauptgrund für ihre Neigung zu Rechtsbrüchen. Kriminelle sind schwerer zu konditionieren als Nichtkriminelle, Extrovertierte schwerer als Introvertierte. Obgleich die Psychoanalyse die Kriminologie mit vielen wertvollen Gedanken (z. B. Lehre von der latenten Kriminalität) bereichert hat, ist ihre Dogmatik kriminologischem Problemdenken fremd. Kann davon ausgegangen werden, daß emotionale Mangelzustände im frühen Kindesalter ernste Entwicklungsrückstände verursachen, so bleibt doch bis heute unbewiesen, daß durch solche psychischen Fehlentwicklungen Jugendkriminalität, geschweige denn Kriminalität allgemein entsteht. Die psychoanalytischen Kriminalitätsentstehungstheorien, deren Geistesverwandtschaft mit dem Lombrosianismus, ja sogar Darwinismus neuerlich herausgearbeitet worden ist (Rüdiger Herren 1973), kann allerdings mit der philosophischen Anthropologie nicht widerlegt werden. Es muß vielmehr darauf hingewiesen werden, daß die psychoanalytischen Krimi-
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nalitätstheorien nicht einmal durch eine ausreichende Zahl von psychoanalytischen Einzelfallstudien empirisch-kriminologisch nachgewiesen werden konnten. Dasselbe gilt für die Adlersche Individualpsychologie, die allerdings durch ihren sozialpsychologischen Ansatz gute Ausgangspositionen für eine Neuentwicklung der Kriminologie geboten hat. Die Psychoanalyse betrachtet indessen die individuelle Pathologie, die durch frühkindliche Sozialisationsschäden erworben worden ist, als Hauptursache der Kriminalität. Diese theoretische Grundkonzeption ist ebenso verfehlt wie der oberflächliche lerntheoretische Ansatz Eysencks. 4. Soziologische und sozialpsychologische Theorien Im 18. und 19. Jahrhundert waren Italien, Deutschland und Österreich, aber auch Frankreich und Belgien die Länder, in denen die Kriminologie ihren Ursprung nahm. Sehr spät entwickelte sich die nordamerikanische Kriminologie. Das „American Institute of Criminal Law and Criminology" der „Northwestern University" in Chikago veranstaltete im Juni 1909 eine nationale Konferenz, auf der der niedrige Stand der nordamerikanischen Kriminologie beklagt wurde. Da in den USA die Kriminalität ein weitaus bedeutsameres Phänomen zu werden drohte als in Europa, entschloß man sich, die Kriminologie rasch zu entwickeln. Wie dies in einem solchen Fall bisher stets zu sein pflegte, stützte man sich in den USA auf europäische Gedanken, verwirklichte europäische Projekte und leistete so gute Arbeit, daß heute etwa 80 % aller kriminologischen Forschungsergebnisse aus Nordamerika kommen und Europa längst zum „kriminologischen Kostgänger" der USA geworden ist. Im Anschluß an die nationale kriminologische Konferenz in Chikago im Jahre 1909 wurden z. B. bedeutende europäische Forschungsberichte in der von John H. Wigmore herausgegebenen Reihe „Modern Criminal Science Series" in den USA veröffentlicht, darunter in den Jahren 1911 bis 1917 allein neun Hauptwerke italienischer, deutscher, französischer und belgischer Kriminologen. Unter diesen Werken waren z. B. die Bücher der Italiener Cesare Lombroso, Raffaele Garofalo und Enrico Ferri (1896) und der deutschsprachigen Autoren Hans
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Groß und Gustav Aschaffenburg. Während die Entwicklung der nordamerikanischen Kriminologie in den beiden Weltkriegen fast ungehindert ihren Fortgang nehmen konnte, wurde die europäische Kriminologie so empfindlich zurückgeworfen, daß sie sich bis heute von diesen Rückschlägen nicht erholt hat. Allerdings ist auch die nordamerikanische Kriminologie bis heute keineswegs so fortgeschritten, daß sie wissenschaftlich mit dem Problem des Verbrechens fertigzuwerden vermöchte. Nach dem 2. Weltkrieg entwickelten sich die englische und skandinavische Kriminologie sehr schnell unter starkem nordamerikanischem Einfluß. Während man im westlichen Kontinentaleuropa zunächst die nordamerikanischen Forschungsergebnisse zu ignorieren und an alte kontinentaleuropäische Entwicklungen anzuknüpfen versuchte, macht sich neuerlich unter den jüngeren Kriminologen, namentlich in der Bundesrepublik, das entschiedene Streben bemerkbar, auf den nicht mehr einholbaren nordamerikanischen Forschungsergebnissen aufzubauen und auf diese Weise einen eigenständigen Beitrag zur internationalen kriminologischen Forschung zu leisten. Während man die traditionelle kontinentaleuropäische Richtung mit kriminalbiologisch-juristisch ausgerichtet bezeichnen kann, entwickelten die Nordamerikaner von vornherein eine stark sozialwissenschaftlich orientierte Kriminologie. Zwischen diesen beiden Hauptrichtungen der Kriminologie gibt es grundlegende Meinungsverschiedenheiten, die auch in anderen Ländern und Kontinenten weiterwirken. So ist z. B. die Kriminologie in Südamerika und Japan noch stark kontinentaleuropäisch orientiert. Allerdings erhält der sozialwissenschaftliche Ansatz auch dort ständig wachsende Bedeutung. Ganz eigenartig verlief die Entwicklung in den osteuropäischen sozialistischen Ländern. Zunächst versuchte man das Vorhandensein eines Kriminalitätsproblems überhaupt zu leugnen. Die Kriminologie wurde - mit Ausnahme von Jugoslawien - weder in der Forschung noch in der Lehre betrieben. Seit etwa zehn Jahren baut man die Kriminologie mit finanziell und personell gut ausgestatteten Zentral- und Universitätsinstituten in allen osteuropäischen sozialistischen Ländern systematisch auf. Die ideologische Richtung war im Anfang überwiegend: Sie ver-
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suchte, das „Noch-Vorhandensein" der Kriminalität in den osteuropäischen sozialistischen Ländern damit zu erklären, daß diese Erscheinungen Überbleibsel (Rudimente) der kapitalistischen Gesellschaftsordnung seien. Diese ideologische Richtung verliert heute immer mehr an Boden (Leszek Lernell 1973, S. 237-281). Zunächst traten ihr jugoslawische Kriminologen entgegen, die 1968 mutig erklärten: „Wir fürchten gar nicht, daß das Ansehen des Sozialismus leiden könnte, wenn wir eingestehen, daß die Kriminalität auch in diesem System besteht . . . " (Ljubo Bavcon u. a. 1968). Ein Autorenkollektiv von 18 führenden sowjetischen Kriminologen gab ebenfalls im Jahre 1968 ein Lehrbuch der Kriminologie im Rahmen des „Allunionsinstituts zur Erforschung der Gründe und der Ausarbeitung von Vorbeugemaßnahmen der Kriminalität" in Moskau heraus. In diesem Lehrbuch der Kriminologie heißt es: „Der Sieg der Werktätigen über die Bourgeoisie und der Ubergang zum Aufbau der Grundlagen des Sozialismus hat keine automatische Ausmerzung der Kriminalität im Gefolge, wie die deutschen Kriminologen b e h a u p t e n . . . " (Allunionsinstitut 1968, S. 90). Unter den deutschen Kriminologen sind die Kriminologen der DDR gemeint. Einen eigenständigen Beitrag haben auch die Kriminologen in den osteuropäischen sozialistischen Ländern bisher zur internationalen kriminologischen Diskussion kaum zu leisten vermocht. Sie lehnen zwar die auf Lombroso aufbauende Richtung der klinischen Kriminologie ab, die sich am Einzelfall orientiert und hauptsächlich die biologischen und psychologischen Individualfaktoren des Verbrechers berücksichtigt. Sie betonen demgegenüber die Sozialbedingungen als Ursachen für die Kriminalität. Darin stimmen sie aber mit einer weitverbreiteten Richtung innerhalb der sozialwissenschaftlich orientierten angloamerikanischen und skandinavischen Kriminologie überein. Polnische und jugoslawische Kriminologen leugnen deshalb auch gar nicht erst den Einfluß, den diese Richtung auf sie gehabt hat. Die sowjetischen Kriminologen haben eine ambivalente Haltung. Einerseits lehnt ein Teil von ihnen die sozialwissenschaftlichen Theorien und empirischen Forschungsergebnisse der angloamerikanischen und skandinavischen Kriminologen als „Verschleierungsver-
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suche des Kriminalitätsproblems" in den kapitalistischen Ländern ab. Andererseits kommt ein anderer Teil von sowjetischen Kriminologen mit ihren empirisch-kriminologischen Studien teilweise zu denselben Resultaten wie die angloamerikanischen und skandinavischen Kriminologen. Nach Willem Bonger (1916) hat das Verbrechen wirtschaftliche Ursachen. Der Druck des kapitalistischen Systems, der auf den „Habenichtsen" lastet, ist die Hauptursache des Verbrechens. Dieser Druck wird über Armut, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, schlechtes Wohnen, zu wenig Schulbildung, arbeitende Mütter ausgeübt. Bongers Theorie ist eine klassenorientierte Drucktheorie. Die Mitglieder des Proletariats (der Arbeiterschicht) sind unverhältnismäßig stark am Verbrechertum beteiligt als Folge des Druckes des kapitalistischen Systems. In der Anomietheorie nach Emile Dürkheim und Robert K. Merton (1968) gibt es keine Gesellschaft, in der keine Kriminalität existiert. Es ist keine Erscheinung vorhanden, die unwiderlegbar alle Symptome der Normalität aufweist. Das Verbrechen ist ein Faktor der öffentlichen Gesundheit, ein integrierender Bestandteil einer jeden gesunden Gesellschaft. Es hält nicht bloß den notwendigen Änderungen den Weg offen. In manchen Fällen bereitet es auch diese Änderungen direkt vor. Das Verbrechen ist oftmals eine Antizipation der zukünftigen Moral, der erste Schritt in dem, was sein wird. Im Gegensatz zu der herkömmlichen Vorstellung erscheint der Verbrecher nicht mehr schlechthin unsozial, als eine Art von Parasit, als ein nicht assimilierbarer Fremdkörper im Inneren der Gesellschaft. Er ist vielmehr ein regulärer Wirkungsfaktor des sozialen Lebens. Abweichendes Verhalten ist ebenso wie konformes Verhalten ein Produkt der Sozialstruktur. Merton betont das Auseinanderklaffen von kulturell vorgegebenen Zielen und sozial strukturierten Wegen. Anomie ist Normlosigkeit. Wenn die kulturelle und soziale Struktur schlecht integriert sind, wenn die erstere Verhalten und Einstellungen verlangt, die die zweite verhindert, dann folgt daraus eine Tendenz zur Anomie, zum Zusammenbrechen der Normen, zur Normlosigkeit. Merton unterscheidet fünf Arten individueller Anpassung (Tabelle 1). Die Konformität mit den etablierten, wenn auch
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Tabelle 1: Typologie der Arten individueller Anpassung Arten der Anpassung
Kulturelle Ziele
Institutionalisierte Mittel
1. 2. 3. 4. 5.
+ +
+
Konformität Innovation Ritualismus Apathie, Rückzug Rebellion
—
—
+
—
—
(±)
(±)
Quelle: Robert K. Merton: Social theory and social structure, N e w York, London 1968, S. 194.
vielleicht auf lange Sicht sich wandelnden kulturellen Mustern ist kriminologisch irrelevant. Eine starke kulturelle Betonung des Erfolgsziels fordert die Innovation heraus: nämlich die Anwendung institutionell nicht erlaubter, aber oft wirksamer Mittel, die zumindest das Erlangen der Erfolgssymbole: Wohlstand und Macht garantieren. Die Kultur stellt an die Angehörigen der unteren Schichten miteinander unvereinbare Anforderungen. Einerseits wird von ihnen erwartet, daß sie nach Wohlstand streben, andererseits sind ihnen institutionell weitgehend die hierzu geeigneten Wege versperrt. Nur wenn das kulturelle Wertsystem bestimmte gemeinsame Erfolgsziele für die gesamte Bevölkerung über alle übrigen Ziele setzt, während die Sozialstruktur für einen großen Teil dieser Bevölkerung den Zugang zu den gebilligten Mitteln zum Erreichen dieser Ziele entscheidend einengt oder sogar völlig verwehrt, haben wir abweichendes Verhalten in größerem Umfang zu erwarten. Beim Ritualismus wird das dominierende kulturelle Ziel des wirtschaftlichen Erfolgs und des schnellen sozialen Aufstiegs so weit heruntergeschraubt oder aufgegeben, bis die Ansprüche des einzelnen erfüllt werden können. Aber obwohl die kulturelle Verpflichtung, es zu etwas zu bringen, zurückgewiesen wird, obwohl man sich eigene Ziele steckt, hält man dennoch krampfhaft an den institutionellen Normen fest. Personen, die sich durch Rückzug, Desinteresse, Apathie, Flucht anpassen (oder fehlanpassen), leben streng genommen in einer Gesellschaft, ohne Teile dieser Gesellschaft zu sein (Rauschgiftsucht,
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Die Hauptrichtungen der Kriminologie
Alkoholismus, Psychose). Sie flüchten vor Frustrationen. Das Rückzugsverhalten resultiert aus dem dauernden Versagen, das Ziel durch legitime Mittel zu erreichen, und aus dem Versagen - bedingt durch internalisierte Normen - , sich illegitimer Mittel zu bedienen. Während dieses Prozesses ist der höchste Wert des Erfolgszieles noch nicht aufgegeben worden. Der Konflikt wird gelöst, indem sowohl die Ziele als auch die Mittel aufgegeben werden. Die Flucht ist vollkommen, der Konflikt beseitigt und der einzelne aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Rebellion stellt die Betroffenen außerhalb und in Gegensatz zu der bestehenden Sozialstruktur und läßt sie eine neue, d. h. eine weitgehend geänderte Sozialstruktur suchen und anstreben. Die Kulturkonflikttheorie (Thorsten Sellin 1938) ging ursprünglich von der Verschiedenartigkeit der Leitbilder und Wertsysteme der Einwanderer und der Eingesessenen in den USA aus. Es bestätigte sich jedoch nicht, daß die Einwanderer eine höhere Kriminalitätsrate als die Eingesessenen hatten und daß sie auf diese Weise für den Anstieg der Kriminalität verantwortlich waren. Dasselbe gilt heute auch für die Gastarbeiter in Europa, wenn auch nach einzelnen Delikten differenziert werden muß (Franco Ferracuti 1968). Die Kulturkonflikttheorie hat gegenwärtig eine Erweiterung auf Minoritätsprobleme (Rassenprobleme) und den Generationskonflikt erfahren. J e höher das kulturelle Auseinanderklaffen (cultural gap) zwischen Einwanderern und aufnehmender Gesellschaft in Israel ist, je größer die Barrieren gegen eine vertikale Mobilität sind, desto höher steigt die Jugendkriminalität. Die höchste Kriminalitätsrate findet sich in der 2. Generation der Einwanderer, die kurz nach der Errichtung des Staates Israel kamen oder deren Kinder kurz nach ihrer Einwanderung geboren wurden (Shlomo Shoham 1968, 1970, S. 95). Die Kinder erleben zu Hause, bei ihren Spielkameraden und in der Schule verschiedene Normensysteme. Der Wertkonflikt zwischen Eltern und Kindern wird in die Familien hineingetragen. Er wird zum Rollenkonflikt, aus dem Jugendkriminalität erwächst. Die Rudimenttheorie der „sozialistischen" Kriminologie (Erich Buchholz u. a. 1971) ist ebenfalls eine besondere Art der Kulturkonflikttheorie.
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Denn sie sieht die Hauptursache für die Kriminalität in dem Nichtübereinstimmen der Wertsysteme der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft. Es gibt zahlreiche Spielarten der Subkulturtheorie. Der Begriff „Subkultur" besagt, daß Werturteile und ein soziales Wertsystem vorhanden sind, die zwar getrennt von einem Wertsystem, aber dennoch Teile eines größeren oder zentraleren Wertsystems sind. Den Subkulturtheorien ist gemeinsam, daß sie den Konflikt zwischen Werten und Zielen der Mittelschichten und den Möglichkeiten der Unterschichten betonen, diese Werte und Ziele zu erreichen und zu befolgen. Nach Albert K. Cohen (1955) haben die Jungen der unteren Schichten gegenüber den Werten der Mittelschichten ambivalente Gefühle. Sie versuchen einerseits, die Werte der Mittelschichten mit all ihren Anziehungskräften zu internalisieren, werden jedoch andererseits im Wettbewerb beeinträchtigt. Jungen, die unfähig sind, den Anforderungen der Mittelschichtgesellschaft zu entsprechen, drehen ihr einfach den Rücken. Nach Richard C. Cloward und Lloyd E. Ohlin (1961) fühlen sich viele Jugendliche aus der Unterschicht, die den Status der Mittelschicht nicht anstreben und damit zufrieden sind, in ihrer eigenen Schicht zu verharren, dennoch unzufrieden mit ihren ökonomischen Aussichten, und sie sind darauf aus, sie mit allen gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln zu verbessern. Der schwerste kriminelle Typ strebt den Status der Mittelschicht nicht mehr an. Er fühlt sich vielmehr frustriert in seinem Bemühen, bessere Lebensbedingungen innerhalb seiner Schicht zu erlangen. Die Abwesenheit von Möglichkeiten einer sozialen Mobilität nach oben erzeugt Frustration und damit Delinquenz. Nach Walter B. Miller (1958) ist im Fall der Bandendelinquenz das kulturelle System, das den unmittelbarsten Einfluß auf das Verhalten ausübt, die Unterschichtkultur selbst - eine lang etablierte, strukturspezifische Tradition mit ihrer ganz eigenen Geschlossenheit. Nach David Matza (1964) schließlich sind viele delinquente Jugendliche der Unterschichten gewillt, die Legitimität und moralische Richtigkeit der dominierenden Sozialordnung der Mittelschicht zuzugeben. Wenn sie dennoch Straftaten begehen, bringen sie den Mechanismus der Neutralisation
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Die Hauptrichtungen der Kriminologie
mit ins Spiel. Sie arbeiten für sich ein Verteidigungssystem und Entschuldigungsmechanismen des Verbrechens aus. Die Theorie der differentiellen Assoziation nach Edwin H. Sutherland und Donald R. Cressey (1970) hat besonders herausgearbeitet, daß kriminelles Verhalten erlerntes Verhalten ist. Es wird in Interaktion mit anderen Personen in einem Kommunikationsprozeß in intimen persönlichen Gruppen erlernt. Dieses Erlernen kriminellen Verhaltens schließt das Lernen der Techniken zur Ausführung des Verbrechens, die manchmal sehr kompliziert, manchmal sehr einfach sind, und die spezifische Richtung von Motiven, Trieben, Rationalisierungen und Einstellungen ein. Sutherland hat dies am Beispiel des Berufsdiebs (The professional thief 1937) deutlich zu machen versucht. Der „Beruf" eines Diebes hat seine Techniken, seinen „Ehrenkodex", seine Traditionen, seinen Status, sein Glaubensbekenntnis und seine Organisation. Für den berufsmäßigen Dieb ist es wichtig, daß er von anderen berufsmäßigen Dieben anerkannt wird. Der Anwärter auf den „Beruf" eines Diebes muß die Geschicklichkeiten und Fingerfertigkeiten eines Diebes kennenlernen. Das geschieht meist unter dem Schutz eines erfahrenen Diebes, der ihn anlernt. Angelernt werden - nach einer empirisch-kriminologischen Studie (James H. Bryan 1969) - auch die Prostituierten in Los Angeles. Fast alle Prostituierten werden zu ihrer Tätigkeit durch andere Prostituierte oder durch Zuhälter verleitet. Ältere deutsche Untersuchungen, nach denen Prostituierte in der Regel entweder eine niedrige Intelligenz oder einen „psychopathischen Charakter" (Kurt Schneider 1950) haben, gelten - wenn sie überhaupt jemals zutreffend gewesen sind - jedenfalls nicht mehr für die Prostitution der Gegenwart. Die Prostituierten lernen vielmehr ihre Rolle unter dem Schutz anderer Prostituierter oder eines Zuhälters. Sie lernen, ohne moralische Skrupel mit einem Minimum an Mühe ein Maximum an Geld zu verdienen. Sie lernen, „problematische Situationen" zu meistern. Sie lernen die psychische Einstellung, daß „Prostituierte ehrlicher oder mindestens genauso ehrlich handeln wie die Alltags-Spießbürger". Sie lernen ein Mindestmaß an Solidarität mit den anderen Prostituierten und „Treue" gegenüber ihrem
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Zuhälter. Freilich gehört eine Verhaltensbereitschaft zur Sozialabweichung dazu, alle diese Techniken und Einstellungen zu erlernen. Der Area Approach (Gebietsansatz) von Clifford R. Shaw und Henry McKay (1942) unterscheidet Gebiete, in denen Kriminelle wohnen („breeding areas"), von Gebieten, in denen sie ihre Straftaten begehen („attracting areas"). Das Gebiet, in dem der Kriminelle lebt, trägt dazu bei, seine Persönlichkeit und sein Verhalten zu formen. Die Gebiete, in denen er seine Straftaten begeht, sind die Regionen, die anziehende Kraft für die Begehung von Straftaten besitzen. Die empirisch-kriminologischen Forschungen aufgrund des „Area Approach" der Chikagoer Kriminologenschule sind berühmt geworden. Man teilte Chikago in folgende Zonen ein: Die erste zentralste Zone ist der „Loop", das zentrale Geschäftsgebiet mit Großbanken, Warenhäusern und Luxusläden, der Stadtverwaltung, den Zugund Busbahnhöfen. Die zweite Zone ist eine Zone des Übergangs, ein „Zwischengebiet", im Begriff, aus einem Wohngebiet in ein Geschäfts- und Industriegebiet überzugehen, mit Logierhäusern, Bordells, dem Ghetto, Chinatown und „Klein-Sizilien". In der dritten Zone haben die Arbeiter ihre Wohnungen, aber auch die Einwanderer, die schon etwas länger im Land sind. Die 4. und 5. Zonen sind respektable Wohn- und Pendlerbezirke, typische Vororte. Clifford R. Shaw unterstrich, daß es nicht seine Absicht gewesen sei, nachzuweisen, daß abweichendes Verhalten durch die einfache äußere Tatsache des Gebiets verursacht wird, sondern nur, daß abweichendes Verhalten sich in einem ganz charakteristischen Typ eines Gebietes zu ereignen pflegt. Darüber hinaus versuchte er allerdings aufzuzeigen, daß die Kriminalitätsziffern ansteigen, je näher man dem Großstadtzentrum kommt, und daß sie auch dort höher sind, wo die Bevölkerung abnimmt (also in der 2. Zone). Er gab freilich zu, daß dieses strahlenförmige Modell nicht für alle Großstädte kennzeichnend zu sein braucht. Man hat ihm vorgeworfen, daß selbst in Chikago diese „konzentrische Zonentheorie" ziemlich unrealistisch ist. Die meisten nordamerikanischen Großstädte haben ihre Hauptstraßen in Ost-West- und in Nord-Süd-Richtung. Die Entwicklung der Besiedlung folgt
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Die H a u p t r i c h t u n g e n der K r i m i n o l o g i e
diesen Richtungen und nicht ring- und strahlenförmig von einem Geschäftsmittelpunkt aus. Die Theorie der sozialen Kontrolle (Marshall B. Clinard 1968) und die Halttheorie (Walter C. Reckless 1967) stellen das Versagen der persönlichen und gesellschaftlichen Kontrolle (des inneren und äußeren Haltes) in den Mittelpunkt ihres Denkens. Ein ungünstiges Selbstkonzept ist der Niederschlag einer mißlichen Entwicklung. Die Haltstruktur besteht in einem wirksamen Familienleben und den haltgewährenden Gruppen. Wenn der innere Halt positiv und wirksam ist, dann besteht er aus guter Selbstbeherrschung, Ich-Stärke, gut entwickeltem Über-Ich (Gewissen), gutem Selbstkonzept und hochentwickeltem Sinn für Verantwortung. Der innere Halt ist die zentrale Instanz, die die Impulse von innen und den Druck und den Zug von außen abwehrt. Seine Aufgabe wird erleichtert, wenn der äußere Halt wirksam ist. Wenn der äußere Halt schwach ist, dann muß der innere Halt zusätzlich stark sein, um die Abwehr zu vollbringen. Die Stigmatisationstheorie (Shlomo Shoham 1966) ist eine Theorie des Rückfalls. Die erste Verurteilung brandmarkt den Rechtsbrecher. Sie beeinflußt seinen sozialen Status und seine Rolle in Beruf, Familie und überhaupt in der gesamten Gesellschaft. Sie hat ernste Auswirkungen auf seine Persönlichkeitsstruktur. Die herrschende Schicht benutzt die Brandmarkung als willkommenes Hilfsmittel, um ihre Position zu festigen und auszubauen. Gruppen, die nach ihrer Meinung nicht in die Gesellschaft passen, erhalten ein Brandmal, unabhängig davon, ob die Brandmarkung mit dem individuellen Selbstbild der stigmatisierten Personen oder mit ihrem tatsächlichen Verhalten zusammenhängt. Wenn die Mächtigen jemanden zum Rechtsbrecher abstempeln, so wird er immer wieder Rechtsbrüche begehen („self-fulfilling prophecy"). Autoritäre Persönlichkeiten benutzen die Stigmatisation mit Vorliebe. Diese Persönlichkeiten sind charakterisiert durch folgende Persönlichkeitszüge (T. W. Adorno u. a. 1950): Ethnozentrizität (Glaube an die Überlegenheit der eigenen und Verachtung jeder fremden Gruppe oder Kultur), Fremdenfeindlichkeit, konservative Haltung in Politik und Wirtschaft, Dogmatismus und Starrheit in
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ihren Einstellungen zur Religion und Erziehung, Intoleranz gegenüber jedem Wandel, eine rituelle Befolgung von Vorschriften, ein einseitig auswählendes Gedächtnis, Zynismus und Unfruchtbarkeit im Hinblick auf schöpferische Arbeit, eine extreme Machtorientation, die nur zwischen denen unterscheidet, die Macht besitzen, und denen, die keine Macht haben. Die autoritäre Persönlichkeit ist immun gegen Stigmatisation für abweichendes Verhalten. Denn die völlige Übereinstimmung mit den Mächtigen ist das Hauptcharakteristikum dieser Persönlichkeit. Die Machtlosen werden demgegenüber gebrandmarkt. Insbesondere die „Subjektivisten" sind für Stigmatisationen prädisponiert. Man versteht unter diesem Persönlichkeitstyp Menschen, die sich durch schöpferische Originalität, Offenheit, Ehrlichkeit, Beweglichkeit und Wandlungsfähigkeit auszeichnen. Im Anschluß an Edwin H. Sutherland und Frank Tannenbaum (1938) haben Howard S. Becker (1973 a), Richard Quinney (1970), John 1. Kitsuse (1962), Aaron V. Cicourel (1968), Harold Garfinkel (1956), Edwin M.Schur (1969), Jerome H. Skolnick (1967) und Kai T. Erikson (1966) eine interaktionistische Kriminologie der Beziehungen, Einstellungen und Rollen entwickelt, die sich auch den Reaktionen der Gesellschaft auf kriminelles und sozialabweichendes Verhalten und den Instanzen der Sozialkontrolle als Forschungsobjekten zuwendet. Die Verbrechensverursachung und -bekämpfung wird in einem komplexen, dynamischen Gesamtprozeß gesehen. Wenn man nach dem Wesen dieses interaktionistischen Ansatzes fragt, so geht man am besten davon aus, was Howard S. Becker (1970) zu der Frage gesagt hat, wie er in den 50er Jahren zur Wiederbelebung dieses Ansatzes gekommen ist. Er hat seinerzeit soziale Organisationen wie z. B. Krankenhäuser untersucht und dabei sein Augenmerk nicht allein auf Patienten, sondern auch auf Ärzte, Schwestern, Hilfspersonal gerichtet. Was er beim Studium der Kriminalität und des sozialabweichenden Verhaltens dann lediglich getan hat, besteht in der Übertragung dieses organisationssoziologischen Ansatzes auf die Gesamtgesellschaft. Um den Rechtsbrecher richtig erforschen zu können, muß man ihn als ein Element in einem komplexen sozialen
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Die Hauptrichtungen der Kriminologie
System sehen, das z. B. auch soziale Gruppen (Familie, Schule, Berufs- und Freizeitgruppen), Repräsentanten der Gesellschaft im sozialen Reaktionsprozeß auf kriminelles Verhalten (Kriminalbeamte, Strafrichter, Strafvollzugsbeamte, Bewährungshelfer) und nicht zuletzt das Opfer als Elemente enthält. Das Entscheidende am interaktionistischen Ansatz ist nun das Studium der Einstellungen, Beziehungen und Rollen dieser Elemente im sozialen System der Verbrechensentstehung und -behandlung. Insofern sieht Howard S. Becker das Wesentliche des interaktionistischen Ansatzes mit Recht in der sozialpsychologischen Orientierung. Sicher werden die Verhaltensweisen der Instanzen der Sozialkontrolle zunehmend der Kritik unterworfen werden, um den Reaktionsprozeß auf kriminelles Verhalten rationaler und sachgerechter zu gestalten. Es kann jedoch keine Rede davon sein, daß die sozialen Kontrollinstanzen einer Gesellschaft als „Rekrutierungsinstanzen in den Status des Abweichenden" anzusehen sind (so Fritz Sack 1969, S. 1004). Auch von einer „Statusbezogenheit des Rekrutierungsvorganges" (so Fritz Sack 1968 b, S. 469) auf die unteren Schichten kann nicht gesprochen werden. Es ist völlig einseitig, die Kriminalität als „negatives Gut" zu definieren, das Rechte vorenthält, Chancen beschneidet und die in einer Gesellschaft vorhandenen Ressourcen verteilt. Den sozialpsychologischen interaktionistischen Ansatz mit „Klassengesetzgebung" und „Klassenjustiz" zu verbinden, ihn als „marxistisch interaktionistische Theorie" - ohne nähere Begründung (so Fritz Sack 1972) - zu benennen und ihn auf Formulierungen zuzuspitzen, die Instanzen der Sozialkontrolle begründeten erst durch Selektion und Zuschreibung Kriminalität und eine Gesellschaft erzeuge auf diese "Weise ihre Verbrecher, bedeutet eine ideologisch-dogmatische Verfälschung des nordamerikanischen und skandinavischen Interaktionismus, die nicht ohne Widerspruch hingenommen werden kann. Auch ist es verfehlt, davon zu sprechen, die Vertreter der traditionellen Kriminologie seien vorwiegend an den Verbrechensursachen, die der „neuen Kriminologie" an den Reaktionen auf sozialabweichendes Verhalten interessiert. Durch die „Beschreibung" der Kriminalität als ein Element im Zusammenhang mit allen anderen relevanten Elementen im sozialen System wird
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versucht, die Ursachen der Kriminalität zu erhellen. Hierbei wird allerdings nicht der naturwissenschaftliche, sondern der sozialwissenschaftliche Verursachungsbegriff zugrunde gelegt. Die formalen und informellen sozialen Reaktionen auf kriminelles Verhalten werden im interaktionistischen Ansatz zwar berücksichtigt, aber keineswegs überbetont. Eine kriminelle Karriere kann sich auch ohne formale oder informelle soziale Reaktion entwickeln. Im Interaktionsprozeß kommt es ferner auf die Art der Reaktion, die Persönlichkeit des Reagierenden und desjenigen an, auf dessen kriminelles oder sozialabweichendes Verhalten reagiert wird. Eine Reaktion auf kriminelles Verhalten kann vom Kriminellen durchaus als hilfreich angesehen werden und auch so wirken. Das Entscheidende am Interaktionismus besteht darin, d a ß Kriminalität nicht als statische Andersartigkeit im Sinne der individuellen Pathologie, sondern als dynamisch-pathologisches Rollenverhalten angesehen wird, das in sozialen und individuellen Kriminalisierungsprozessen entsteht und in sozialen und individuellen Entkriminalisierungsprozessen vergeht. Der nordamerikanischen Kriminalsoziologie gebührt das große Verdienst, eine Reihe von wesentlichen soziologischen und sozialpsychologischen Gesichtspunkten zur Kriminalitätsentstehung theoretisch herausgearbeitet zu haben, die man in Anlehnung an Robert K. Merton (1968) „Theorien mittlerer Reichweite" genannt hat. Die nordamerikanischen Kriminalitätstheorien, die alle nur beanspruchen, einen - wenn auch wesentlichen - Aspekt der Kriminalitätsentstehung aufzuzeigen, sind in der Bundesrepublik noch wenig bekannt, werden teilweise einfach unkritisch auf deutsche Sozialverhältnisse übertragen oder mißverstanden, indem man ihnen ideologischdogmatische Ausschließlichkeitsansprüche unterstellt oder sie dadurch ad absurdum zu führen versucht, daß man logische Beziehungen zwischen ihnen herzustellen sucht. Durch zahlreiche empirisch-kriminologische Untersuchungen ist nachgewiesen, daß die wichtigsten nordamerikanischen kriminalsoziologischen Theorien wesentliche Gesichtspunkte der Kriminalitätsentstehung erhellen. Das gilt insbesondere f ü r die interaktionistische Theorie. 5
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Kriminalitätspotential und -struktur
IV. Kriminalitätspotential und -struktur Umfang und Ausmaß der Kriminalität in einer Gesellschaft, ihre Art und Entwicklung können nur in Bewegung, dynamisch beobachtet werden. Eine losgelöste Betrachtung der Kriminalität von ihrer Sanktionierung durch die Instanzen der Sozialkontrolle ist unmöglich. Denn die Kriminalität ist kein isoliertes, isolierbares Phänomen. Wenn man sich über Umfang, Art und Entwicklung der Kriminalität orientieren will, m u ß man gleichzeitig Informationen über die Instanzen der Sozialkontrolle einholen. Denn ihre Ausstattung, ihre Aktivierbarkeit und ihre Strategie in der Verbrechensbekämpfung üben bedeutsame Einflüsse auf Umfang, Art und Entwicklung der Kriminalität aus. Die Instanzen der Sozialkontrolle sind in den gesellschaftlichen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß hineingestellt. Eine Fülle von individuellen Kriminalisierungsund Entkriminalisierungsprozessen läuft ab. In dieser dynamischen Situation ist eine statische M o m e n t a u f n a h m e nicht denkbar, auch gar nicht erwünscht. Denn die Angaben über Kriminalitätspotential und -entwicklung haben soziale Konsequenzen, die den ablaufenden Sozialprozeß beeinträchtigen. Das Kriminalitätspotential ist nicht identisch mit den Häufigkeiten von Straftaten, die die Instanzen der Sozialkontrolle in bestimmten Zeitpunkten des Reaktionsprozesses auf Kriminalität zählen. Denn in jeder Gesellschaft findet ein Wechselwirkungsprozeß zwischen Dunkelfeld, versteckter, verborgener Kriminalität, einerseits und statistisch ausgewiesener Kriminalität andererseits aufgrund der zeitlich und örtlich unterschiedlichen Anzeigebereitschaft der Bevölkerung und der verschiedenen intensiven Aktivitäten der Instanzen der Sozialkontrolle statt. So kann die Kriminalität, die offiziell bekannt wird, ansteigen, wenn der Staat mehr sozialabweichendes Verhalten unter Strafe stellt, das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung strenger wird (höhere Anzeigebereitschaft) und wenn die Instanzen der Sozialkontrolle besser ausgestattet und stärker aktiviert werden können, so daß die Effektivität ihrer Arbeit wächst (höhere Strafverfolgungsintensität). Das Dunkelfeld setzt sich zusammen aus der Kriminalität, die
Kriminalitätspotential und -struktur
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begangen, aber von Täter und (oder) Opfer nicht wahrgenommen wird, und den Straftaten, die verübt, aber vom Opfer nicht angezeigt werden (mangelnde Bestimmungsgründe der Anzeigebereitschaft des Opfers). Zum Dunkelfeld gehören auch Verbrechen, die zwar angezeigt, aber von den Instanzen der Sozialkontrolle nicht verfolgt werden, und Rechtsbrüche, die zwar verfolgt werden, die aber nicht aufgeklärt werden können (mangelnde Aufklärungsintensität). Schließlich umfaßt das Dunkelfeld die Kriminalität, die zwar aufgeklärt ist, die aber mangels Beweisbarkeit nicht zur Verurteilung führt. Dunkelfeld und statistisch nicht ausgewiesene Kriminalität sind keine identischen Begriffe. Dunkelfeld bezeichnet vielmehr die wirklich begangene, aber verborgen gebliebene Kriminalität im Gegensatz zu den Rechtsbrüchen, die von den Instanzen der Sozialkontrolle erfolgreich verfolgt werden. Die Höhe der Kriminalität hängt vom Ausmaß der Kriminalisierung abweichenden Verhaltens in einer Gesellschaft ab (Ausgestaltung der Strafrechtsordnung). Für sie ist ferner maßgebend, wie intensiv man konkret die Strafrechtsordnung in die Wirklichkeit umsetzt. Für Toleranz oder Intoleranz der jeweiligen Gesellschaft (und damit auch ihrer Instanzen der Sozialkontrolle) gegenüber kriminellem Verhalten ist der jeweilige historische und zeitgeschichtlich bedingte Stand des Sozialprozesses maßgebend. Daß man in der Bundesrepublik der Wirtschafts- und Verkehrskriminalität gegenüber tolerant, der Gewaltkriminalität gegenüber intolerant ist, hängt aber auch mit der sozialen Sichtbarkeit, der leichten Einsehbarkeit der Sozialschädlichkeit des jeweiligen deliktischen Verhaltens zusammen. Im Sozialprozeß sind Toleranz und Intoleranz durch Massenmedien beeinflußbar. Umfang, Art und Entwicklung der Kriminalität sind ebenfalls abhängig vom Grad der Entkriminalisierung. Bisher strafbares Verhalten wird nicht mehr offiziell und inoffiziell kontrolliert und sanktioniert. Es wird mit einer .milderen Art oder Höhe der Sanktion belegt, oder es ist zwar unter Strafe gestellt, wird aber nicht mehr oder nur noch in nachlässiger Weise verfolgt (illegale Entkriminalisierung). Die Entkriminalisierung schlägt sich zwar nur zum Teil kriminalstatistisch nieder, ist aber für die Verbrechens5*
68
Kriminalitätspotential und -struktur
Wirklichkeit und damit das tatsächlich vorhandene Kriminalitätspotential von entscheidender Bedeutung. Auf die Dunkelfeldforschung stützt sich die Primärstatistik. Die Strafrechtspflegestatistik, die Angaben der Instanzen der Sozialkontrolle zur Kriminalität, kann als Sekundärstatistik bezeichnet werden. Denn diese kriminalstatistischen Daten werden nicht unmittelbar, sondern nur von der Reaktionsseite auf kriminelles Verhalten her ermittelt. Zur Sekundärstatistik gehört die polizeiliche Kriminalstatistik als Tatermittlungsstatistik des Bundeskriminalamtes, der Landeskriminalämter und lokaler Kriminalpolizeibehörden. Bei ihr wird eine Häufigkeitsziffer als Zahl der auf 100 000 Einwohner entfallenden Straftaten von einer Täterziffer (Kriminalitätsbelastungsziffer) unterschieden, die die Zahl der von der Kriminalpolizei auf je 100 000 Einwohner ermittelten Tatverdächtigen angibt. Die Sekundärstatistik stützt sich auf die Tätigkeit und den Tätigkeitserfolg der Instanzen der Sozialkontrolle. Sie nimmt die Zählung des kriminellen Verhaltens durch Schnitte vor, die sie in den Reaktionsprozeß auf kriminelles Verhalten legt. Die Kriminalpolizei unterscheidet z. B. eine Eingangs- und eine Ausgangsstatistik. Bei der Eingangsstatistik ist die Kenntnisnahme der strafbaren Handlung durch die Kreispolizeibehörde für die Zählung maßgebend. Bei der Ausgangsstatistik kommt es auf die Abgabe des Vorgangs an die Strafverfolgungsbehörde oder das Gericht an. Die Kriminalitätsindices (Kriminalitätsziffern und -quoten) gründen sich auf alle bekanntgewordenen Straftaten oder auf Raten einiger ausgewählter Delikte mit wahrscheinlich hoher Registrierbarkeit. So gehen die „Uniform Crime Reports" des FBI von 7 Straftaten bei ihrer Zählung aus: von der Tötung, der Notzucht, dem Raub, der schweren Körperverletzung, dem Einbruchsdiebstahl, dem Diebstahl über 5 0 US-Dollar und dem Autodiebstahl. Die Kriminalpolizei kann freilich nur Tatverdächtige ermitteln. Die endgültige Entscheidung fällt während des Reaktionsprozesses auf kriminelles Verhalten. Hier setzt die Strafverfolgungsstatistik als gerichtliche Kriminalstatistik ein, die in der Bundesrepublik vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden geführt wird. Bei ihr gibt es eine Abgeurteilten- und eine Verurteiltenstatistik. Anklage- und Verurteilungsquoten
Kriminalitätspotcntial und -struktur
69
werden berechnet. Bei der Abgeurteiltenstatistik kommt es auf die Häufigkeit aller vom Gericht behandelten Fälle an. Bei der Verurteiltenstatistik werden nur die rechtskräftigen Verurteilungen gezählt. In der Bundesrepublik wird ferner eine Bewährungshilfestatistik geführt. Die Strafvollzugsstatistik gibt schließlich den Umfang der Belegung der Strafanstalten (die Gefangenenziffern) und die Gefangenenbewegungen, also Einweisungs- und Entlassungsquoten, an. Bei der Zählung der Delikte von Kriminalpolizei oder Gericht werden nur Häufigkeiten, aber nicht die unterschiedlichen Schweregrade der Straftaten berücksichtigt. Das ist einer der gravierendsten Mängel der Strafrechtspflegestatistiken. Hinzu kommt noch, daß die Instanzen der Sozialkontrolle ihre Vorgänge selbst zählen. Die Kriminalpolizei besitzt z. B. einen gewissen Ermessensspielraum dadurch, daß sie die juristische Einordnung des Vorgangs vornimmt. Im kapitalistischen System besteht die Tendenz zur Dramatisierung. Im Sozialprozeß strebt die Bevölkerung danach, ihren privaten Reichtum auf Kosten der öffentlichen Wohlfahrt zu vergrößern. Wenn die Kriminalitätssituation nicht als ernst dargestellt wird, bekommen die Instanzen der Sozialkontrolle nicht genügend finanzielle und personelle Mittel, um der Kriminalität wirksam entgegentreten zu können. In Systemen mit großer Meinungsvielfalt neigen die Massenmedien ohnehin zur Dramatisierung, um die Sensationslust der Bevölkerung zu befriedigen. Hierdurch entsteht ein Sozialdefekt: die Furcht vor dem Verbrechen und eine Opfereinstellung, die in sich kriminogen wirkt. In Systemen mit eingeschränkter Meinungsfreiheit besteht die Neigung, die Bedeutung der Kriminalität eher zu verkleinern. Man will die Bevölkerung glauben machen, der Staats- und Regierungsapparat sei frei von Kriminalität, die gesellschaftlichen Verhältnisse trügen zur Kriminalitätsentstehung nicht bei, es handele sich vielmehr um ein reines Individualphänomen. Dagegen besteht in rechtsstaatlichen Systemen mit hoher Meinungsfreiheit die Möglichkeit der Massenmedien, den Staats- und Regierungsapparat selbst auf Kriminalität hin zu kontrollieren. Diese Kontrolle ist allerdings mit der Gefahr verbunden, Staat und Regierungsapparat international zu schwächen. Bei totalitären Regimen wird die
70
Kriminalitätspotential und -struktur
Kriminalität, die von staats- und regierungswegen begangen wird, der Bevölkerung nicht bekannt. In diesen Systemen ist die Gefahr der kriminellen Unterwanderung des Staates und der Regierung vorhanden. Es ist ein Zeichen für die Reife einer Gesellschaft mit Meinungsfreiheit, Staat und Regierung von Kriminalität durch Kontrolle freizuhalten, aber auch die Kontrolle nicht so weit zu treiben, daß sie den Staat und die Gesellschaft selbst zerstört. Ein Vergleich von kriminalstatistischen Daten, die von Instanzen der Sozialkontrolle verschiedener Staaten auf internationaler Ebene mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen gesammelt worden sind, ist sinnlos. Die kulturellen und gesellschaftlichen Verschiedenartigkeiten in der tatbestandsmäßigen Umschreibung der Delikte, in der Bewertung der Schwere der einzelnen Delikte, in der Reichweite der Anzeigepflicht und -bereitschaft der Bevölkerung, in den Möglichkeiten der Entdeckung, in der Intensität der Strafverfolgung, in den Typen der Bestrafung und in den Methoden der Datensammlung für die Kriminalstatistik machen es unmöglich, ein exaktes M a ß für die Kriminalität eines Landes zu finden. Verläßliche Dunkelfeldforschungen gibt es bisher nur in den USA. Wieviel Kriminalität wirklich vorhanden ist, von den Opfern und den Instanzen der Sozialkontrolle als Selektionsfilter aber dezimiert wird, ergibt sich aus Abbildung 3. Hier wird nochmals die ganze Fragwürdigkeit der verschiedenen Strafrechtspflegestatistiken im Hinblick auf die Messung des wirklichen Kriminalitätspotentials sichtbar. Der „National Opinion Research Center" (NORC) der Universität Chikago hat im Jahre 1966 eine Repräsentativbefragung in 10 000 Haushalten der Vereinigten Staaten durchgeführt. Es wurde in einem 20-Minuten-Interview danach gefragt, wer in den letzten 12 Monaten wieviele Male Opfer eines Delikts geworden ist. Ein halbstündiges Intensivinterview mit den Opfern schloß sich an. Kriminalität gegen Wirtschaftsunternehmen oder gegen den Staat waren ausgeschlossen. Der Umfang des Dunkelfeldes in den USA kann aus Tabelle 2 abgelesen werden. Nur etwa ein Drittel der Notzuchtfälle, zwei Drittel des Raubes, die Hälfte der Körperverletzung, ungefähr ein Viertel des Einbruchs und
Kriminalitätspotential und -struktur
71
Schaubild 3: Dezimierung der Fälle im Reaktionsprozeß auf Kriminalität
15
V? ß
/
/
a
c .s
72
Kriminalitätspotential und -struktur
Tabelle 2: Das Ausmaß des Dunkelfeldes bei ausgewählten Delikten in den USA Delikte
Mord, Totschlag Notzucht Raub Schwere Körperverletzung Einbruchdiebstahl Diebstahl (über 50 US Dollar) Autodiebstahl Insgesamt:
Opferbefragung Polizeiliche (NORC) Kriminalstatistik (FBI) (Uniform Crime Reports) (Angaben auf 100 000 Einwohner) 3,0 42,5 94,0 218,3 949,1 606,5
5,1 11,6 61,4 106,6 605,3 393,3
206,2
251,0
2119,6
1434,3
Quelle: Philip H. Ennis: Criminal victimization in the United States, Washington D. C. 1967, S. 8.
weniger als die Hälfte des Diebstahls über 50 US-Dollar werden kriminalpolizeilich erfaßt. Großstadtbezirke haben eine fünfmal höhere Kriminalitätsziffer bei Gewaltdelikten als Kleinstädte, während sie bei Vermögensdelikten nur eine doppelt so hohe Kriminalitätsziffer haben. Ungefähr 40 % der schweren und gefährlichen Körperverletzungen und der Notzuchtsfälle geschehen in der Wohnung des Opfers. Etwa 45 °/o aller gefährlichen Verbrechen gegen die Person werden von irgendjemandem begangen, der mit dem Opfer bekannt ist (Beziehungsverbrechen). Der Ort für das schwere Verbrechen gegen die Person ist vor allem die Wohnung oder die Umgebung, der soziale Nahraum, erst in zweiter Linie die öffentliche Straße. An erster Stelle für die mangelnden Bestimmungsgründe der Anzeigebereitschaft des Opfers steht der Zweifel an der Effektivität der Kriminalpolizei mit 55 °/o. Es folgt die Ansicht, der Rechtsbruch sei keine Angelegenheit der Polizei mit 34 °/o. Die Opfer wollten den Täter nicht schädigen. Sie waren der Mei-
Kriminalitätspotential und -struktur
73
nung, es handele sich um eine private, keine kriminelle Angelegenheit. Angst vor Repressalien haben 2 % . Eine persönliche Abneigung gegen eine Anzeige zeigten 9 °/o: Es kostet ihre Zeit. Sie geben vor, sie hätten nicht gewußt, wie man eine Straftat bei der Polizei anzeigt. Sie waren durch den Rechtsbruch zu deprimiert, zu niedergeschlagen, zu verwirrt, um die Straftat bei der Polizei anzuzeigen. Die Entwicklung der Vermögens- und Gewaltkriminalität veranschaulichen langfristig (von 1933 bis 1968) für die gesamten Vereinigten Staaten Abbildung 4 und kurzfristig (von 1960 bis 1970) für Kalifornien die Abbildung 5. Aus beiden Abbildungen geht hervor, daß die Gewaltkriminalität (Tötung, Notzucht, Raub, schwere Körperverletzung) sowohl lang- wie kurzfristig einen wesentlich geringeren Stellenwert bei der Analyse der Gesamtkriminalität hat als die Vermögenskriminalität (Einbruchsdiebstahl, Diebstahl über 50 US-Dollar und Autodiebstahl) und daß sie in ihrer Entwicklung auch entscheidend flacher verläuft als die Eigentumskriminalität. Das Hauptproblem der Kriminologie liegt in der Vermögenskriminalität, der ein hoher Stellenwert bei der Analyse der Gesamtkriminalität eingeräumt werden muß und deren Anstieg langwie kurzfristig sehr steil verläuft. In der Bundesrepublik (einschließlich West-Berlins) wurden im Jahre 1971 (ohne Verkehrs- und Staatsschutzdelikte) bei einer Einwohnerzahl von 61 293 700 insgesamt 2 441 413 Verbrechen und Vergehen verübt (Kriminalitätsziffer 3 983). An erster Stelle steht der Diebstahl mit 33,4 %>, an zweiter der Einbruch mit 32,5 °/o, an dritter der Betrug mit 7,1 °/o. Alle Sexualdelikte machen nur 2,1 % der Gesamtkriminalität aus und stehen an 6. Stelle in der Rangfolge. Die gefährliche und schwere Körperverletzung nimmt die 8. Stelle mit 1,4 %>, Raub, räuberische Erpressung und Autostraßenraub die 16. Stelle mit 0,6 °/o und Mord und Totschlag die 21. Stelle mit 0,1 % ein. In den Vereinigten Staaten ist das Bild für das Jahr 1971 ähnlich: Einbrüche machen 40 °/o, Diebstähle 31 °/o und Autodiebstähle 16 %> der Kriminalität aus. Raub ist mit 6 °/o, schwere Körperverletzung ebenfalls mit 6 °/o, Notzucht mit 0,09 °/o und Mord und Totschlag mit 0,045 °/o vertreten. Ein typisches Bild der Kriminali-
74
Kriminalitätspotential und -struktur
Schaubild 4: Entwicklung der Gewalt- und Vermögenskriminalität in den USA von 1933 bis 1968 (Angaben auf 100 0 0 0 Einwohner)
Quelle: Donald J.Mulvihill-Melvin M.Tumin-Lynn A.Curtis, Crimes o f v i o l e h c e . Washington D.C. 196?, S . 55.
tätsstruktur einer westdeutschen Großstadt im Jahre 1972 vermittelt Abbildung 6 für Duisburg. Einfacher und schwerer Diebstahl sind die Hauptprobleme. Es folgen in weitem Abstand Betrug, Körperverletzung und Sexualdelikte. Raub, räuberische Erpressung, Mord und Totschlag stehen ziemlich am Ende der Reihenfolge. Allerdings muß man berücksichtigen,
Kriminalitätspotential und -struktur
75
Schaubild 5: Kriminalitätsentwicklung in Kalifornien nach 7 Hauptdeliktsgruppen vom Jahre 1960 bis zum Jahre 1970
Quell«: C a l i f o r n i a Deportment of J u s t i c e (Hrsg.) 1971, S . 6 .
daß es sich bei diesen Delikten im Sinne des Kriminalitätspotentials um von der Bevölkerung als schwer empfundene Verbrechen handelt. Die ansteigende Entwicklung der Raubkriminalität wird am Modell Bayerns in Abbildung 7 verdeutlicht. Das Beispiel des Raubes zeigt indessen auch, daß bei diesem Kapitalverbrechen, das im Jahre 1971 0,6 °/o der Gesamt-
76
Kriminalitätspotential und -struktur Schaubild 6: Anteil der Deliktsgruppen an der Gesamtkriminalität in Duisburg 1972
einfacher und schwerer Diebatahl 16.344 = 7 2 , 7 2 %
Q u a l l e : Der P o l i z e i p r ä s i d e n t i n Quieburg ( H r s g . ) 1973, S . 20.
kriminalität in der BRD bildete, leichtere und mittelschwere Begehungsformen überwiegen. Von insgesamt 15 531 Fällen im Jahre 1971 waren 297 Raubüberfälle auf Geldinstitute und Poststellen (mit einer Aufklärungsquote von 72,4 °/o), 685 Raubüberfälle auf sonstige Zahlstellen und Geschäfte (mit
Kriminalitätspotential und -struktur
77
Schaubild 7: Entwicklung der Raubkriminalität in Bayern
Falle
692
Veränderung
-
850 +22.8
1083
1166
1311
1408
- 5 , 5 + 1Q4 +20,9
+7,7
+12,4
+7,4 +22
803
896
1717
1918 +11,7
Quelle: Boyerisches Landeskriminalamt (Hrsg.) 1972, S. 35*
einer Aufklärungsquote von 63,8 %), 117 Raubüberfälle auf Geld- und Werttransporte (mit einer Aufklärungsquote von nur 37,6 °/o) und 336 Autostraßenraubfälle (mit einer Aufklärungsquote von 60,1 °/o). Alle übrigen Fälle entfallen auf
78
Kriminalitätspotential und -struktur
leichtere und mittelschwere Begehungsformen wie Zechanschlußraub und Handtaschenraub. Die Entwicklung der Kriminalität und der Kriminalitätsaufklärung im Zeitraum von 1962 bis 1973 macht am Beispiel des Landes Nordrhein-Westfalen Abbildung 8 klar. Die Aufklärungsquoten für die Bundesrepublik Deutschland und im Vergleich für die USA geben ein Bild über die Aufklärungsintensität und damit für die Arbeitseffektivität der Kriminalpolizei: Gesamtaufklärungsquote im Jahre 1971 in der BRD: 4 6 , 8 % , in den USA: 20 °/o; Aufklärungsquoten für einzelne Delikte: Mord und Totschlag 95,1 °/o in der BRD und 84 % in den USA; Notzucht in Nordrhein-Westfalen (eine Zahl für die BRD fehlt): 76 % und 55 % in den USA; schwere und gefährliche Körperverletzung 86,2 % in der BRD und 66 % in den USA; Raub 56,5 % in der BRD und 27 °/o in den USA; Einbruchsdiebstahl 40,5 % in der BRD und 19 °/o in den USA; Diebstahl 2 2 , 1 % in der BRD und 1 9 % in den USA. Die unvorteilhaften Aufklärungsquoten in den USA hängen mit der schlechteren Sozialstruktur und -kontrolle in städtischen Ballungs- und Elendsvierteln der USA (Slumgebieten) eng zusammen. In solchen Gebieten bricht die Kontrolle durch die Kriminalpolizei zeitweise an bestimmten Wochentagen und zu bestimmten Tageszeiten völlig zusammen. Gleichwohl darf dieser Umstand nicht überbewertet werden. Die Sozialstruktur und -kontrolle sind in typischen nordamerikanischen Klein- und Mittelstädten besser als in vergleichbaren Städten und Gemeinden der Bundesrepublik. Zwar kann man die Kriminalitätsziffern der BRD und der USA nicht vergleichen, weil die „Uniform Crime Reports" des FBI nur 7 Hauptdelikte berücksichtigen. Gleichwohl seien die Kriminalitätsziffern für Stadt und Land und für ausgewählte Ballungsräume hier wiedergegeben, weil sie einen ungefähren Eindruck über die Relationen und Kriminalitätsbelastungen vermitteln. In der Bundesrepublik (durchschnittliche Kriminalitätsziffer: 3983) hat im Jahre 1971 die Großstadt eine Häufigkeitszahl von 6956, die Mittelstadt eine von 5477, die Kleinstadt eine von 4414 und das Landgebiet eine von 2234. In den USA hat im Jahre 1971 (durchschnittliche Kriminalitätsziffer: 2906,7) die Großstadt
Kriminalitätspotential u n d -struktur
79
S c h a u b i l d 8: D i e E n t w i c k l u n g der Kriminalität i m L a n d e N o r d r h e i n - W e s t f a l e n v o n 1962 bis 1972 - b e k a n n t g e w o r d e n e Fälle, aufgeklärte Fälle 1962
700.000
1963
1964
1966
1965
1969
1967
1970
1971
1972
691786
669068
657373 »6794
608317
581949
600.000 524849
545376
500562
539800 546601
500.000 bekonntgewordeno Fülle 400.000
V~
3875T6
300,000 24&Ì9:
M \7\289967 30lp21 298867 K ^ 288968 ¡71 È73169 n 7 l J7Ì 270297 249673 te 46i
200.000
J 4 aufgeklärte Falle
/ 100.000
4061
/
X
A
A
zl 21 V Erfassung von Verkehrsdelikten Vtoggefallen
Erfassung nach neugefaßten bundeeeintheitlichen Richtlinien auf EDV-Bosit
Quelle: Landeikriminolamt Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) 1973, S. 15. eine Häufigkeitszahl v o n 5 4 1 3 , 5 , die V o r s t a d t eine v o n u n d das Landgebiet eine v o n zahl
im Bundesgebiet
hat
1032,3. Die größte
Frankfurt/Main
2410,8
Häufigkeits-
im Jahre
1971
mit
9600
(Aufklärungsquote von
nur 38,7 % ) , im J a h r e
1972
mit
9167
(Aufklärungsquote
nur 37,7 %).
von
Ihm
folgen
Berlin
(1972: 8717), H a m b u r g (1972: 7705), Bremen (1972: 7591)
und
80
Kriminalitätspotential und -struktur
Hannover (1972: 7231). Die höchsten Häufigkeitszahlen haben in den USA New York City mit 5 3 0 7 (1134 Gewaltdelikte, 4173 Vermögensdelikte) und Chikago mit 2891,4 (650,1 Gewaltdelikte und 2241,3 Vermögensdelikte). Die einzelnen Bundesstaaten der USA sind mit Kriminalität höchst unterschiedlich belastet: Kalifornien, Florida, Michigan und New York mit Zahlen über 4000; Alabama, Arkansas, Iowa, Kentucky, Maine, Mississippi, Montana, Nebraska, New Hampshire, North Carolina, North Dakota und Pennsylvania mit Zahlen unter 2000. Gesetzmäßigkeiten sind hierin nur insoweit zu erkennen, als sowohl zwar hoch entwickelte, aber schlecht strukturierte industrielle Ballungsräume mit Kriminalität besonders hoch belastet sind. Die für die Bundesrepublik aufgestellte Behauptung, es bestehe bezüglich des Diebstahls ein Süd-Nord-Gefälle, bei dem der Süden wegen seiner „Sittenstrenge" günstiger abschneide (Joachim Hellmer 1972, S. 82), kann angezweifelt werden. Denn diese Betrachtung ist zu punktuell auf den Diebstahl bezogen und zu statisch. Sie berücksichtigt nicht die Interkorrelationen und Interdependenzen der verschiedenen Delikte (die gesamte Kriminalitätsstruktur und -dynamik). Eine Rückfallstatistik im Sinne der Beobachtung von kriminellen Karrieren in einer großen Stichprobe von 240 0 0 0 Tätern wird von dem FBI in den USA durchgeführt. Bis jetzt wurde lediglich die bereits bekannte Gesetzmäßigkeit bestätigt, daß Frühkriminalität mit Rückfallkriminalität eng zusammenhängt. Welche Rückfallprozentsätze bei den einzelnen Delikten in den USA zu erwarten sind, zeigt Abbildung 9. In der B R D sind im Jahre 1971 Tatverdächtige der folgenden Delikte besonders im Sinne einer kriminellen Karriere kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten: Raubmörder (80,5 °/o), Zuhälter (78,3 °/o) und Räuber bei Überfällen auf Geld- und Werttransporte (78,1 % ) . Die angeführten Delikte und Prozentzahlen machen deutlich, daß hier möglicherweise ein „Höhe- und vorläufiger Endpunkt" in einer kriminellen Karriere erreicht worden ist. Im Bundesgebiet waren im Jahre 1971 13 078 gefährliche Intensivtäter kriminalpolizeilich erfaßt. D a ß in der Kriminalitätsbelastung die 18- bis 21jährigen Heranwachsenden besonders hervortreten, zeigt am Beispiel des
Kriminalitätspotential u n d -struktur
gl
Schaubild 9: Rückfallkriminalität nach Delikten und verhafteten Personen i m J a h r e 1971 in den U S A
Urkundenfälschung Auto* diebstahl Raub Einbruchs* diebstahl Körperverletzung Betrug Verbotenes Glücksspiel Verbotener Waffenbesitz Diebstahl
Rauschgiftdelikte Veruntreuung a l l e Übrigen Delikte RUekfollkrininalität insges*
///////////////i •» /////////////zVI »» ////////////¡ZA 75 %
73
/////////////A /////////////A lll/lllllllllh 7///////////Z, ////////////A 7//////////7\ 7T7T77, ////////////AI 7/7/7777/777/, 71 % 70 %
69 '/.
68 % 66 %
63 %
33 %
69 %
68 %
H
1
h
H
1
1
1
I
1
Q u a l l e : Fadtrol Bur*ou o f I n v e s t i g o t i o n ( H r s g . ) 1972, S. 37.
Landes Nordrhein-Westfalen für das Jahr 1972 die Abbildung 10. Das ist um so bemerkenswerter, als diese Altersgruppe 6
Schneider, Kriminologie
82
Kriminalitätspotential und -struktur Schaubild 10: Tatverdächtige nach Lebensalter und Geschlecht im Lande Nordrhein-Westfalen 1971 und 1972 Kriminalitätsbelastungszahlen
Quelle: Londe»krinlnolomt Nordrheln-Weatfolen (Hrsg.) 1973, S. 27.
auch besonders mit schwerer Gewaltkriminalität (Raub, Notzucht) belastet ist. Für die Schweiz, die etwas andere Altersklassen gewählt und dazu Verurteilte gezählt hat, wird in Abbildung 11 dieselbe Tendenz erkennbar. Die Kriminalität steigt
Schaubild 11: Nach Schweizerischem Strafgesetzbuch und Straßenverkehrsgesetz, nach Altersklassen und Geschlecht Verurteilte 1970 r
60 u.
rouen
mehr
50-59
40-49
T777T7T/
25-29
a
20-24
n
18-19
7 7 7 7 7 7 714-17 .
?
AltersIda seen 0 0
7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000 1000 Absolute Zahlen Nach StroBen/ / / Nach Schweiz. Verkehrsgesetz / /// Strafgesetzbuch Quellet Eidgenössisches Statistisches Amt (Hrsg.) 1972, S. 16.
6*
2000
84
Kriminalitätspotential und -struktur
zwischen 18 und 24 Jahren rapide an, schwächt sich dann zwischen 25 und 29 Jahren etwas ab, erzielt zwischen 30 und 3 9 Jahren nochmals einen zweiten Höhepunkt, der allerdings den ersten nicht erreicht, um dann nach 4 0 Jahren rasch abzufallen. In keiner anderen Bevölkerungsgruppe in der B R D ist das Ansteigen der Kriminalitätsbelastungszahl so erheblich wie bei den männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden. Der Abstand zu den Erwachsenen und Kindern wird immer größer. Das veranschaulicht Abbildung 12 am Beispiel Hamburgs. Minderjährige Tatverdächtige waren im Jahre 1971 in der B R D zu mehr als zwei Dritteln bei Rauschgiftdelikten, zu über der Schaubild 12: Kriminalitätsbelastungsziffer 1 9 6 3 bis 1 9 6 8 in H a m b u r g
196319641965 1966P67 1968 13000 "'
/rJ //
Heranwachsende
Jugendliche
/
jà
Erwachsene
Kinder
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60UÜT J 5000 4000
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^ *
•—
3000" 2000
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1000
0
1
1
1
1
1
Q u e l l e : Charlotte F i e d l e r 1969, S. 6 .
Kriminalitätspotential u n d -struktur
85
Hälfte bei Sachbeschädigung, Einbruchsdiebstahl und vorsätzlicher Brandstiftung beteiligt. Beim Betrug traten sie demgegenüber nur mit einem Anteil von unter einem Fünftel aller Tatverdächtigen in Erscheinung. Bei M o r d und Totschlag waren Kinder und Jugendliche deutlich unterrepräsentiert. Während die Kriminalität der Mädchen unter 14 Jahren weitgehend auf den einfachen Diebstahl (Ladendiebstahl) beschränkt blieb, wurde bei den gleichaltrigen Jungen daneben Einbruchsdiebstahl, Sachbeschädigung und fahrlässige Brandstiftung beobachtet. Bei männlichen Jugendlichen erreichen die verschiedenen Formen des Einbruchsdiebstahls fast denselben Umfang wie die des Diebstahls. Sachbeschädigung und fahrlässige Brandstiftung verlieren relativ an Bedeutung, während besonders die Rauschgiftdelikte zunehmen. Wie stark der Anstieg der Rauschgiftdelikte im Zeitraum zwischen 1968 bis 1971 war, zeigt am Beispiel Baden-Württembergs Abbildung 13. Die schon für die Kriminalität der Jugendlichen beobachteten Entwicklungstendenzen setzen sich bei den Heranwachsenden verstärkt fort. So erreicht bei den jungen Männern dieser Altersgruppe der Einbruchsdiebstahl die Spitzenposition, gefolgt vom Diebstahl, der Sachbeschädigung, den Rauschgiftdelikten und der Körperverletzung. Bei weiblichen Heranwachsenden bleibt der Diebstähl vorherrschend, wobei aber auch der Betrug jetzt eine beachtliche Rolle spielt. Bei den männlichen Erwachsenen ist die für die Jüngeren festgestellte Entwicklung teilweise wieder rückläufig. Der Einbruchsdiebstahl verliert stark an Bedeutung. Der Betrug nimmt dafür erheblich zu. Das „US Department of Health, Education, and Weifare" in Washington D. C. führt eine Strafverfolgungsstatistik, die über die Jugendkriminalität in den USA Auskunft gibt. Im Jahre 1971 wurden vor den Jugendgerichten der USA 1 125 000 Fälle bearbeitet. 970 000 Jugendliche im Alter zwischen 10 und 17 Jahren standen vor dem Jugendrichter. Das sind 2,9 °/o der entsprechenden Altersgruppe. Zwischen 1960 und 1971 hat sich die Jugendkriminalität in den USA mehr als verdoppelt. Es handelt sich hierbei allerdings wieder vor allem um ein Problem der Vermögenskriminalität. Denn der Anteil der schweren Delikte gegen die Person beträgt nur 3 % . Das Verhältnis
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Kriminalitätspotential und -struktur Schaubild 13: Entwicklung der Rauschgiftdelikte in Baden-Württemberg
Fülle
bekanntgevorden« F ä l l e
aufgeklärte Falle
Quelle: Landeskriminalamt Baden-Württemberg(Hrsg.) 1972, S . 60.
zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen betrug bei den vor den Jugendgerichten behandelten Fällen bisher 4 : 1 . Es hat sich jetzt zu Ungunsten der weiblichen Jugendlichen in ein Verhältnis 3 : 1 verschoben. Zwischen 1970 und 1971 stieg die Kriminalität der weiblichen Jugendlichen doppelt so hoch an wie die Kriminalität der männlichen Jugendlichen. Zwischen
Die Wirtschaftskriminalität
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1960 und 1971 verzeichnete man einen Anstieg der Verhaftungen weiblicher Jugendlicher unter 18 Jahren in Höhe von 341 % für Gewaltdelikte und in Hö'he von 278 °/o für Vermögensdelikte. Die entsprechenden Erhöhungen für männliche Jugendliche betrugen lediglich 182 °/o und 81 °/o. Die Jugendkriminalität ist in den Vereinigten Staaten ein Problem der großstädtischen Ballungsräume: 64 %> der Jugendkriminalität wird in Großstädten, 29 °/o in Mittelstädten und 7 °/o in Landgemeinden begangen. Alle bisherigen kriminalstatistischen Ausführungen, die sich auf die polizeilichen Kriminalstatistiken des Bundeskriminalamtes, der Landeskriminalämter, einzelner lokaler Kriminalpolizeibehörden und auf die „Uniform Crime Reports" des FBI stützen, bezogen sich lediglich auf die traditionelle, klassische Kriminalität. Ausgeschlossen sind also Verkehrsdelikte, Wirtschaftsdelikte und organisierte Verbrechen. Im Jahre 1971 betrug die Verurteiltenziffer nach der Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes für die Verbrechen und Vergehen ohne die Vergehen im Straßenverkehr: 725,7. Die Verurteiltenzahl für die Straßenverkehrsdelikte machte nahezu ebensoviel aus: 674,9. Wenn man das kriminologische Problem der Analyse des Kriminalitätspotentials, der Kriminalitätsstruktur und -dynamik angehen will, so muß man zwar die Bedeutung der Gewaltdelikte richtig einschätzen, aber das ungleich höhere Gewicht der Vermögensdelikte hervorheben, die ganz rapide ansteigen. Man muß ferner sehen, daß die Straßenverkehrsdelikte fast dieselbe Bedeutung haben wie die klassische traditionelle Kriminalität. Abschließend sei hervorgehoben, daß alle Erörterungen über Kriminalitätspotential, -struktur und -dynamik die Wirtschaftskriminalität und das organisierte Verbrechen unberücksichtigt lassen.
V . Sonderformen der Kriminalitätsstruktur 1. Die Wirtschaftskriminalität Auf dem Internationalen Kongreß über die Verhütung und Bekämpfung des Verbrechens in London im Jahre 1872 hielt
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Edwin C. Hill einen Vortrag über „kriminelle Kapitalisten", der auf die wachsende Bedeutung der Wirtschaftskriminalität aufmerksam macht. In seinem Aufsatz aus dem Jahr 1907 über den „Kriminaloiden" stellte Edward Aisworth Ross schon das Hauptproblem der Wirtschaftskriminellen eindeutig heraus: Oft sind sie nach dem Strafgesetz schuldig. Weil sie aber in der Bewertung der Gesellschaft und in ihrer eigenen Beurteilung nicht als kriminell erscheinen, entwickeln sie auch kein kriminelles Selbstbild. Dem Kriminellen der „Unterwelt" stellte Albert Morris im Jahre 1935 den Kriminellen der „Oberwelt" gegenüber. Er machte bereits auf ein wichtiges Problem der Wirtschaftskriminalität aufmerksam: Die Verabschiedung eines Gesetzes ist nicht immer die wirksamste Art, unerwünschtes Verhalten zu verhindern. Einige Handlungen werden durch die Justizmaschinerie nicht leicht kontrolliert. Die kriminologische Erforschung der Erscheinungsformen und der Ursachen der Wirtschaftskriminalität, ihrer Verhütung und Bekämpfung ist bis in die jüngste Zeit erheblich vernachlässigt worden. Einen wirklichen Anstoß gab nur Edwin H. Sutherland, der im Jahre 1940 einen in den USA und später in der ganzen Welt weit beachteten Vortrag über Weiße-Kragen-Kriminalität gehalten hat. Er definierte das „White-Collar"-Delikt mit vier Kriterien, denen sein Schüler Donald R. Cressey ein fünftes Kriterium hinzufügte: ein Verbrechen, begangen von einer ehrbaren Person, mit hohem sozialem Ansehen, im Rahmen ihres Berufes und unter Verletzung des Vertrauens, das man ihr entgegenbringt. Die oberen sozialen Schichten, die den hohen sozialen Status verleihen, werden hierbei von Sutherland nicht nur durch ihren Wohlstand, sondern auch durch ihr Prestige in der Gesamtgesellschaft charakterisiert. Hermann Mannheim hat 1965 erklärt, daß Sutherland den Nobelpreis für seine wissenschaftliche Leistung zur Wirtschaftskriminalität verdient hätte, gäbe es einen Nobelpreis für Kriminologie: Durch Sutherlands Forschungen wurde das unbestimmte Gefühl vieler Kriminologen artikuliert, daß vieles von ihrer bisherigen Arbeit einseitig und von ihren seitherigen Erfolgen irreführend gewesen ist und daß Sutherlands Weiße-Kragen-Kriminalität ein erster Versuch war, das kriminologische Denken ins Gleichgewicht zu
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bringen (1965, 2. Bd., S. 4 7 0 , 4 7 2 , 4 7 3 ) . Dieses L o b wird nicht von allen Kriminologen geteilt. Francis A. Allen erklärte, daß Sutherlands Forschungen über Weiße-Kragen-Kriminalität „am wenigsten einsichtsvoll und zufriedenstellend unter seinen vielen wertvollen Beiträgen" gewesen ist. Unter Berufung auf Jerome Hall, mit dem er zusammen an der Universität von Indiana viele J a h r e lehrte, hatte Sutherland (1945) die Definition für sein Weiße-Kragen-Delikt präzisiert: die Legalbeschreibung einer wirtschaftspathologischen Handlung als sozialschädlich und die gesetzliche Vorsorge der Strafbarkeit dieser Handlung. Diese Präzisierung stellte indessen seine Kritiker nicht zufrieden. M a n sucht vergeblich nach Kriterien, um die Weiße-Kragen-Kriminalität zu bestimmen, schrieb Paul W. Tappan (1947): Dieser Begriff kann leicht zu einem Propagandaausdruck werden. W e n n die Kriminologie beansprucht, eine Wissenschaft und eine Fundgrube wirklich zuverlässiger Informationen zu sein, kann sie keine Nomenklatur von solch lockerer und unbeständiger Art dulden. Ihm stimmte George B. Vold (1958, S. 2 4 3 - 2 6 1 ) zu, der die Bezeichnung „WeißeKragen"-Kriminalität „zweideutig, unbestimmt und kontrovers" nannte: Es ist ein offenbares und grundlegendes Mißverhältnis, wenn Sutherland vorschlägt, die Führer der Gesellschaft und ihre verantwortlicheren Mitglieder auch zu den Kriminellen der Gesellschaft zu machen. D e r hohe soziale Status wird von derselben Gesellschaft verliehen, die bestimmt, ob und in welchem Umfang ein bestimmtes Fehlverhalten als kriminell definiert werden soll. Außerdem stimmt das Opfer der Wirtschaftsstraftat meist mit dem Wirtschaftsdelinquenten überein, und es wirkt mit ihm zusammen. Kein Wirtschaftsstrafrecht kann ausreichend durchgesetzt werden, wenn es nicht die überwiegende Unterstützung der Gesellschaft hat und wenn es nicht von den wichtigsten Machtgruppen innerhalb der Gesellschaft akzeptiert wird. In einer Wettbewerbsgesellschaft, die auf Gewinn gerichtet ist, wird die Mißachtung der Gesetze, die diesen Wettbewerb regeln, nicht als so schwerwiegend beurteilt wie die Verletzung der traditionellen Strafgesetze. Sutherland plädiert deshalb für eine grundlegende Reform der gesamten Theorie des kriminellen Verhaltens. Er spricht sich in
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Wirklichkeit für einen Wandel der gesellschaftlichen Haltungen und Auffassungen über die Wirtschaftskriminalität aus. In der Tat wohnen Sutherlands Konzept von der Weiße-KragenKriminalität sozialkritische und -reformerische Komponenten inne. Das ergibt sich allein schon aus dem Gegensatzpaar „White-Collar Worker" und „Blue-Collar Worker", das Sutherland gewählt hat. Er hat (1949 a) die 70 größten Industrie- und Handelsgesellschaften der USA auf Wirtschaftsverbrechen hin untersucht. Bei allen diesen Gesellschaften stellte er Übertretungen von Handelsbeschränkungen, Wettbewerbsverstöße, Patentverletzungen und Verstöße gegen Urheberrechte und Warenzeichen, unfaire Arbeitspraktiken, ausgedehnte Betrügereien und ähnliche Straftaten fest. 97 % der von ihm untersuchten Gesellschaften waren rückfällig. Das Dunkelfeld war außerordentlich groß. Der Geschäftsmann, der die Wirtschaftsstrafgesetze übertritt, verliert nicht sein Ansehen bei seinen Kollegen. Sutherland, der die kriminologisch-klassische Studie über den Berufsdieb (1937) verfaßt hat, stellte ferner fest, daß „Weiße-Kragen-Kriminelle" und „Berufsdiebe" völlig in ihrer Verachtung der Gesetzgebung, jeder Regierung, der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Gerichte übereinstimmen, also ähnliche kriminelle Wertvorstellungen haben: Wirtschaftskriminelle und Berufsdiebe unterscheiden sich lediglich darin, daß die Geschäftsleute ein größeres Interesse an sozialem Status und Ansehen besitzen. Sie beurteilen sich selbst als Ehrenmänner, nicht als Kriminelle, während die Berufsdiebe ehrlich zugeben, Diebe zu sein. Der Geschäftsmann hält die Gesetze für falsch oder zumindest glaubt er, daß sie ihn zu sehr beschränken, während er nichts dagegen hat, daß seine Mitbewerber gesetzlich eingeschränkt werden. Er sieht sich selbst nicht als Krimineller, weil er in das gesellschaftliche Stereotyp des Straftäters nicht paßt. Dieses Stereotyp knüpft immer an die unteren sozialen Schichten an. Der Weiße-Kragen-Kriminelle vermeidet das Stigma des klassischen Verbrechens. Die abweichende gesellschaftliche Bewertung hat Einfluß auf die Strafgesetzgebung und die Strafgesetzanwendung durch die Gerichte. Sutherland hat darauf hingewiesen, daß die Kriminellen aus der „Unterwelt" und die Kriminellen aus der „Ober-
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weit" von der Kriminalpolizei und den Gerichten der USA mit sehr verschiedenen Maßen gemessen werden. Er hat dies darauf zurückgeführt, daß die Strafrichter und die Wirtschaftskriminellen aus denselben sozialen Schichten stammen, daß die mannigfaltigsten familiären und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Personen in Strafverfolgungsbehörden und in der Geschäftswelt bestehen und daß Industrie und Handel in der amerikanischen Gesellschaft überhaupt sehr mächtig sind. In der Industrie und im Handel der USA besteht - nach Sutherland - aber nicht die Neigung, Geschäftsleute, die Wirtschaftsstrafgesetze übertreten haben, als Kriminelle anzusehen. Edwin M. Schur hat diesen Umstand (1969) kommentiert: Daß das respektable Verbrechen im amerikanischen Leben ein Objekt der selektiven Gleichgültigkeit gewesen ist, stellt - für sich selbst genommen - eines der Kapitalverbrechen unserer Gesellschaft dar. In einer „Analyse" der nordamerikanischen Kriminologie durch den sowjetischen Kriminologen Reschetnikow (1965) heißt es zu Sutherlands White-Collar-Theorie: „Diese Verbrechen verursachen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung großen Schaden. Sutberland hält aber nur die Tätigkeit der Vertreter der oberen Klasse für kriminell, die die Gesetze der bourgeoisen Gesellschaft verletzen. Indes ist das kapitalistische Gesellschaftssystem selbst kriminell" (1965, S. 84). An dieser Stelle wird klar, daß Sutherlands sozialkritische Bemühungen gerade auf die Erhaltung unserer freien Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung abzielen. Sutherlands Standpunkt in der Kontroverse um die Definition des Weiße-Kragen-Delikts wird von Marshall B. Clinard und Frank E. Härtung unterstützt, die beide die Verstöße von Industrie und Handel gegen Bewirtschaftungsvorschriften während des Zweiten Weltkrieges untersucht haben. Clinard (1952, S. 127) definiert das Weiße-Kragen-Delikt als Gesetzesverletzung, die hauptsächlich von Gruppen wie Geschäftsleuten, freiberuflich Schaffenden und Beamten in Verbindung mit ihren Berufen begangen wird. Härtung (1950) benutzt folgende Definition: White-Collar-Verbrechen wird als eine Verletzung eines Wirtschaftsregulierenden Gesetzes verstanden, die für eine Firma, durch die Firma und deren Angestellte bei der Durch-
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führung ihrer Geschäfte verübt wird. Gegenüber diesen Definitionen haben Paul W. Tappan (1960) und Robert G. Caldwell (1965) eingewandt, daß hier das wichtige Element der Verurteilung unberücksichtigt bleibe. Es müsse darauf bestanden werden, daß keine Person als ein Weiße-Kragen-Krimineller bezeichnet werden dürfe, bis sie nicht rechtskräftig von einem Strafgericht verurteilt worden sei. Einen ganz anderen Einwand hatte Ernest W. Burgess (1950): Ein Krimineller ist eine Person, die sich selbst als kriminell ansieht und die von der Gesellschaft als kriminell beurteilt wird. Sie ist das Produkt eines Prozesses des Kriminellmachens (criminal making process). Während Tappan und Caldwell den Definitionen von Sutherland, Clinard und Härtung entgegenhalten, sie seien zu soziologisch, wirft Burgess diesen Definitionen vor, sie seien zu legalistisch. Es ist zwar richtig, daß als Krimineller nur der benannt werden darf, der von einem Strafgericht rechtskräftig verurteilt worden ist. Für die Definition und Wesensbestimmung der Wirtschaftskriminalität kann dieses Kriterium jedoch vernachlässigt werden. Es genügt die Strafbarkeit einer Handlung in dem Sinne, daß an bestimmte Deliktsvoraussetzungen bestimmte Deliktsfolgen geknüpft werden. Daß es hierbei nicht allein möglich ist, die Wirtschaftskriminalität durch den Erlaß von Strafgesetzen zu bekämpfen, ist Burgess durchaus zuzugeben. Seine Definition ist jedoch kriminologisch so eng, daß heute gerade die wichtigsten Formen der Wirtschaftskriminalität aus dieser Umschreibung herausfallen. Wenn demnach von der Strafbarkeit des Wirtschaftsdelikts ausgegangen und aus Sutherlands ursprünglicher Definition der Vertrauensmißbrauch hinzugenommen wird, so kommt man in Schwierigkeiten mit der Abgrenzung zu den Berufsstraftaten. In der T a t ist es so, daß in der neueren angloamerikanischen kriminologischen Literatur anstelle des Ausdrucks Weiße-Kragen-Delikt die Bezeichnung Berufsstraftaten (occupational crimes) in zunehmendem Maße verwandt wird. Unter Berufsstraftaten versteht man die Delikte, die von Personen im Staatsdienst, im Geschäftsleben oder in freien Berufen, und zwar innerhalb ihrer Berufsrollen, begangen werden. Es werden die institutionalisierten Erwartungen verletzt, die an die Berufsrollen geknüpft werden. Eine solche
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Definition erlaubt z. B. die Einbeziehung von Architekten, Fußballspielern und Parlamentariern in die wirtschaftskriminologische Betrachtung. Dies ist um so mehr zu begrüßen, als sich am Beispiel der Apotheker in den USA herausgestellt hat (Richard Quinney 1963), daß bei den Berufsstraftaten die Rollenkonflikte zwischen Berufs- und Geschäftsrolle einseitig zugunsten der Geschäftsrolle gelöst werden. Hier existiert also eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen Berufs- und Wirtschaftskriminalität. Gleichwohl ist eine gegenständliche Abgrenzung der Wirtschaftskriminalität notwendig. Es muß sich um Delikte handeln, die unter Vertrauensmißbrauch im Wirtschaftsverkehr begangen werden. Diese Delikte müssen über die Schädigung von Einzelinteressen hinaus die gesamte Wirtschaftsordnung stören. Zwar ist es richtig, daß die Wirtschaftsordnung schon ziemlich viel Wirtschaftskriminalität verträgt, ehe sie ernsthaft gefährdet ist. Dennoch genügt eine Schädigung eines Einzelinteresses zur Erfüllung eines Wirtschaftsdelikts nicht. Vielmehr muß die Schädigung einer Vielzahl von Einzelopfern schon zu einer - wenn auch noch so geringfügigen - Beeinträchtigung der Gesamtwirtschaftsordnung geführt haben. Gerade die Kollektivität und Anonymität des Opfers und die mangelnde Sichtbarkeit des Rechtsbruchs sind charakteristisch für die Wirtschaftskriminalität. Mit der klassischen Kriminalität hat sie gemeinsam, daß sie an bestimmte Deliktsvoraussetzungen mit bestimmten Deliktsfolgen anknüpft. Die Wirtschaftskriminalität unterscheidet sich von der klassischen, traditionellen Kriminalität hingegen dadurch, daß sie nicht in gleichem Maße zur sozialen Stigmatisation des Straftäters führt. Die Wirtschaftskriminalität richtet sich entweder gegen Wirtschaftsunternehmen (z. B. Veruntreuungen, Sabotage) oder sie wird von Wirtschaftsunternehmen gegenüber Wettbewerbern (z. B. Wettbewerbsverstöße, Industriespionage) oder von Wirtschaftsunternehmen allein (z. B. Subventionserschleichung) oder mit anderen Wirtschaftsunternehmen zusammen (z. B. Wettbewerbsabsprachen) gegen die Wirtschaftsordnung begangen. Es ist kennzeichnend für die Wirtschaftskriminalität in unserer freiheitlichen sozialen Marktwirtschaft, daß der Wirtschaftskriminelle versucht, den freien Wettbewerb durch illegale Manipula-
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tionen auszunutzen und sich damit vor seinen Wettbewerbern einen unverdienten finanziellen Vorteil zu verschaffen. Diese illegalen Manipulationen können eine Beschränkung oder gar einen Ausschluß des freien Wettbewerbs in einzelnen Marktsektoren zum Ziele haben. Ganz anders sieht die Wirtschaftskriminalität in den sozialistischen Staaten aus. Weiße-KragenKriminelle sind dort jene, die versuchen, mit den ökonomischen Aktivitäten des monopolistischen Staates zu konkurrieren: Schwarze Märkte, „Untergrundkapitalismus", ausgedehnte Spekulationen mit Währung und Wirtschaftsgütern, illegaler Handel und illegale Produktion, Bestechung und groß angelegte Unterschlagung von Staatseigentum (Funktionärskriminalität). In den sozialistischen Ländern dominiert die Auffassung, daß Wirtschaftskriminalität ein Angriff auf die sozialistische Wirtschaft darstellt. Dadurch bedroht sie die Grundlage der sozialistischen Gesellschaft (Milan Milutinovic 1969, S. 173). In den sozialistischen Ländern geht man rigoros gegen die Wirtschaftskriminellen vor. Über den Umfang der Wirtschaftskriminalität ist nichts Zuverlässiges bekannt. Dieser Umstand allein macht kriminologische Dunkelfeldforschungen unabweislich. Amerikanische Kriminologen behaupten, daß es sich bei Wirtschaftsdelikten um schwere, hartnäckige Verbrechen handelt, die in der amerikanischen Gesellschaft weit verbreitet sind. Die Wirtschaftskriminalität in der Bundesrepublik soll die Wirtschaftskriminalität in den USA überholt haben. Die Bundesrepublik soll an der Spitze der Wirtschaftskriminalität stehen. Die jährlichen Verluste sollen ungefähr dem jährlichen Kaufkraftschwund der D-Mark entsprechen. Die Steuern sollen um fast ein Drittel gesenkt werden können, wenn alle Steuern ehrlich gezahlt würden. Selbst bei vorsichtiger Schätzung muß davon ausgegangen werden, daß die Wirtschaftskriminalität größere materielle Schäden als die klassische Kriminalität verursacht. In Teilbereichen (Lebensmittelverfälschung, Arbeitsschutz, Umweltschutz) kommen gesundheitliche Gefährdungen und Schädigungen hinzu. Nach den kriminalpolizeilichen Erfahrungsberichten steigt die Wirtschaftskriminalität ständig. Die finanziellen Schäden werden durch die immateriellen Nachteile noch
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übertroffen: die Verbreitung allgemeinen Mißtrauens, das Herabsinken öffentlicher Moral und schließlich eine völlige soziale Desorganisation. Man spricht von einer Ansteckungs- oder Sogwirkung (Kettenreaktion) auf Mitbewerber und von einer Fern- oder Spiralwirkung auf das Verhalten Dritter. Der Wettbewerbsdruck zwingt die Konkurrenten zur Nachahmung. Zusätzlich löst die Wirtschaftskriminalität eine Begleit- und Folgekriminalität (z. B. Urkundenfälschung, Korruption usw.) aus. Die Modalitäten der Wirtschaftskriminalität sind so mannigfaltig wie die Wirtschaftsaktivitäten. Zur Klärung und Systematisierung der Erscheinungsformen sind kriminologische Dunkelfeldforschungen unerläßlich. In unsystematischer Aufzählung ist vor allen Dingen zu denken an Serienbetrügereien, wie z. B. betrügerische Verkäufe von Automaten, Schreib-, Nähmaschinen und Diktiergeräten, teilweise gekoppelt mit der Zusage von Heimarbeit, Veruntreuungen, Wirtschaftskorruption, Wettbewerbs- und Preisdelikte, Wettbewerbsabreden, Steuer- und Abgabenhinterziehung, Wechsel- und Scheckmißbrauch, Versicherungsbetrug, Teilzahlungsdelikte, Verstöße gegen gewerbliche Schutzrechte, Verletzung von Urheber- und Warenzeichenrechten, Konkurs- und Gesellschaftsdelikte, Gründungsschwindel, Verrat von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen, Industriespionage, Lebensmittel- und Warenfälschungen, Subventionserschleichung, Kreditbetrug, Münzdelikte, Aktien- und Börsendelikte und Rüstungsschwindel. Alle diese Erscheinungsformen sind uns nur aus wirtschaftskriminalistischen Erfahrungsberichten bekannt. Der Mangel an einer gründlichen kriminologischen Erforschung der Modalitäten zeigt sich z. B. im Gebiet der Wettbewerbskriminalität. Dort ist die Bedarfsweckung durch Tiefenwerbung sozialpsychologisch noch weitgehend ungeklärt. Der Versuch der Systematisierung der Erscheinungsformen der Wirtschaftsdelikte scheitert an ihrer mangelhaften kriminologischen Erforschung und daran, daß immer wieder neue Formen der Wirtschaftskriminalität entstehen. Walter Zirpins und Otto Terstegen (1963) unterscheiden im wesentlichen Betrug, Untreue, Insolvenzdelikte, Steuer- und Zolldelikte und Wettbewerbskriminalität. Ihr System ist allerdings nicht geschlossen. Denn sie ordnen diesen großen Gebieten
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nicht nur zahlreiche kleinere Gebiete zu, sondern sie haben neben dem Wucher, der sich nicht einordnen läßt, auch noch eine große Abteilung für sogenannte Randgebiete, also sonstige Wirtschaftsdelikte. In den USA hatten sich in den Jahren 1961 und 1965 neunundzwanzig Elektrogesellschaften und acht Stahlgesellschaften unter dem Sherman Antitrust Act aus dem Jahre 1890 vor Gericht zu verantworten. Die Elektrogesellschaften, unter ihnen General Electric und Westinghouse, hatten wettbewerbsbeschränkende Produktionsbegrenzungen, Preisabsprachen und Marktaufteilungen im Wert von jährlich 1750 Millionen USDollar über einen Zeitraum von acht Jahren vereinbart. Fünfundvierzig leitende Angestellte der Elektroindustrie wurden angeklagt. Von ihnen erhielten sieben Freiheitsstrafen von jeweils dreißig Tagen, unter ihnen die Vizepräsidenten der Westinghouse und General Electric (Richard Austin Smith 1961). Das Gericht sprach Geldstrafen in Höhe von 9 3 1 5 0 0 US-Dollar aus. Die acht Stahlgesellschaften erhielten im Jahre 1965 Geldstrafen in Höhe von 400 000 US-Dollar wegen Preisabsprachen. Vor dem McClellan Senatsausschuß wurden großangelegte Bestechungen von Gewerkschaftsführern durch Firmen der Industrie und des Handels von Robert F. Kennedy (1969) aufgedeckt. Die Diskussion der Verursachungsprobleme der Wirtschaftskriminalität muß vom Wirtschaftsstraftäter ausgehen. Armand Mergen (1971, S. 49/50) beschreibt ihn wie folgt: „ . . . Die Persönlichkeit ist primitiv angelegt und auf der Stufe des egozentrischen hic et nunc stehengeblieben. In allen Fällen ist die Entfaltung der Affektivität verhindert, besonders in dem gebenden und nehmenden Ich-Du-Verhältnis . . . ,White Collar' Verbrecher sind in ihrer Primitivität äußerst dynamisch, beweglich und tatenfreudig. Ihr Optimismus macht sie gefahrenblind, so daß sie Risiken unbesehen in Kauf n e h m e n . . . Der ,White Collar' Verbrecher ist raffiniert, vielleicht auch intelligent, sehr selten auch gebildet. Seine Intelligenz ist auf direkte Erfolge eingestellt und b e g r e n z t . . . ,White Collar' Verbrecher sind wertblind, wenn es sich nicht um materielle Erwägungen h a n d e l t . . . " . Mergen sagt nicht im einzelnen, auf welche Stich-
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probe er diese weitgehenden, aber teilweise auch unentschiedenen Aussagen gründet und mit welcher Methode er sie gefunden hat. Er gibt lediglich an, es handele sich um „persönliche Untersuchungen sowohl von überführten Tätern als auch von psychotherapeutisch behandelten Patienten . . . " . Ferner will er „Aktenmaterial und Lebensläufe respektive Memoiren bekannter Wirtschaftskapitäne" herangezogen haben. Abgesehen von methodischen Zweifeln ist auch die theoretische Grundlage dieser Aussagen recht problematisch. Es fragt sich, ob es die Persönlichkeit des Wirtschaftsstraftäters gibt. Die Variationsbreite der Erscheinungsformen der Wirtschaftskriminalität legt es vielmehr nahe, daß eine breite Typologie von Wirtschaftskriminellen vorhanden ist. Es handelt sich ferner um statische Aussagen über die Persönlichkeit des Wirtschaftskriminellen. Wenn man indessen die Persönlichkeit mit Robert Heiß als Prozeß auffaßt, so kann lediglich ihre „Grundgestalt" aufgewiesen werden. Es hilft deshalb auch nicht viel, wenn man - von einem tiefenpsychologischen Standpunkt ausgehend - die Persönlichkeit des Gelegenheits-Wirtschaftsstraftäters „mit schwachem aggressivem Es" und „starkem Über-Ich" und die Persönlichkeit des Rückfall-Wirtschaftsstraftäters mit „schwachem aggressivem Es" und „schwachem Über-Ich" zu beschreiben sucht (Juan B. Cortés, Florence M . Gatti 1972, S. 215/216). In der angloamerikanischen Kriminologie sind die Auffassungen unterschiedlich. Marshall B. Clinard (1952, S. 310), der den Schwarzen Markt der USA während des Zweiten Weltkrieges eingehend untersucht hat, beschreibt die wichtigsten Persönlichkeitszüge des Schwarzmarkt-Straftäters wie folgt: Egozentrizität, emotionale Unsicherheit, Minderwertigkeitsgefühle, negative Haltungen gegenüber anderen Personen und die Bevorzugung von finanziellen Statussymbolen gegenüber nationalen. Clinard hält an diesem Konzept nicht mehr fest. Er betont nunmehr (1968, S. 2 7 2 - 2 7 9 ) , daß das Verhalten der Schwarzmarkt-Straftäter zum größten Teil erlernt sei. Freilich haben die Schwarzmarkt-Kriminellen die Gelegenheiten für ihre Taten wahrgenommen oder zurückgewiesen, je nachdem sie in ihren Rollen und ihren Haltungen gegenüber allgemeinen Sozialwerten orientiert waren. Den Hauptunterschied zwischen Wirt7
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schaftskriminellen und klassischen Kriminellen sieht Clinard in der Verschiedenheit ihres Selbstbildes. Der klassische Kriminelle spielt eine konsequente kriminelle Rolle. Der Wirtschaftskriminelle spielt eine Vielzahl von Rollen, u. a. auch solche eines sozial geachteten Bürgers. Weil er sich selbst auch als geachteter Bürger sieht, bezeichnet er sich lediglich als „Gesetzesbrecher" und nicht als „Krimineller". John C. Spencer (1965), der 30 englische Wirtschaftskriminelle in der LeyhillStrafanstalt untersucht hat, beschreibt das Wesensmerkmal des Wirtschaftskriminellen in „nach oben gerichteter Mobilität". Sie wollen zu einer höheren sozialen Schicht gehören, ihren Kindern eine aufwendige Privaterziehung geben und sind deshalb geneigt, die finanziellen Risiken in diesem Sozialprozeß auf sich zu nehmen. Während Walter C. Reckless (1967, S. 358) betont, der Wirtschaftsstraftäter müsse eine vom Normalmenschen, aber auch vom klassischen Kriminellen unterschiedliche Persönlichkeit besitzen, macht Donald R. Cressey (1967) unter Berufung auf Kurt Leivin darauf aufmerksam, daß es nicht nur das Konzept der systematischen Verursachung, sondern auch das Konzept der „genetischen, dynamischen" Verursachung in der Kriminologie gibt. Der Wirtschaftskriminelle besitzt keine ungewöhnlichen, abnormen Persönlichkeitszüge; die Wirtschaftskriminalität ist keine individuelle Pathologie. In den Jahren 1949 bis 1951 hat Cressey (1953) 73 männliche Strafgefangene der Strafanstalt Joliet/Illinois, 21 Gefangene der Strafanstalt Chino/Kalifornien und 39 Gefangene der Strafanstalt Terre Haute/Indiana untersucht. Alle diese Strafgefangenen hatten Veruntreuungen in leitenden Wirtschaftspositionen begangen. Er stellte fest, daß die Veruntreuungen in folgendem Prozeß verursacht worden waren: Eine Person, der man Vertrauen entgegenbringt, sieht sich in einer Situation, in der sie ein nicht-teilbares finanzielles Problem hat. Das Problem erscheint ihr aufgrund ihrer Mittelschicht-Wertvorstellungen deshalb nicht-teilbar, weil sie glaubt, sich zur Lösung dieses Problems nicht an ihre Familienmitglieder, ihren Arbeitgeber, ihre Verwandten, Nachbarn und Freunde wenden zu können Die Person nimmt wahr, daß ihr Problem in verborgener Weise durch die Verletzung ihrer Vertrauensposition gelöst werden
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kann. Sie ist in der Lage, auf ihr eigenes Verhalten in dieser Situation Verbalisierungen anzuwenden, die es ihr erlauben, ihr Selbstbild als Vertrauensperson mit demjenigen eines Ausnützers anvertrauten Geldes oder Gutes in Einklang zu bringen. Eine Veruntreuung geschieht nur dann, wenn dieser gesamte Prozeß sich abspielt. Es handelt sich dabei um einen Prozeß der symbolischen Kommunikation und Interaktion. Die männliche Person kommt dadurch in eine Situation, in der sie ein finanzielles Problem hat, daß sie persönlich versagt hat und nunmehr eine Gefährdung ihrer Vertrauensposition und einen Verlust ihres Prestiges im sozialen Nahraum befürchtet, ferner dadurch, daß sie durch eigene oder fremde Schuld in wirtschaftliche Schwierigkeiten gekommen ist und sich nunmehr sozial isoliert fühlt, schließlich dadurch, daß sie Schwierigkeiten in ihrer Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehung zu haben meint. Das persönliche Versagen kann z. B. auf Glücksspiel, Alkoholkonsum oder einer Beziehung zu einer Frau beruhen. Freilich können bei diesem persönlichen Versagen auch abnorme Persönlichkeitszüge mitspielen. Mindere Persönlichkeitsabweichungen und emotionale Störungen können dazu beitragen, daß ihr das finanzielle Problem als nicht-teilbar erscheint. Die Person schämt sich oder ist zu stolz, andere an ihrem finanziellen Problem teilnehmen zu lassen. In dieser Situation definiert sie die Beziehung zwischen dem nicht-teilbaren finanziellen Problem und der illegalen Lösung dieses Problems in einer Sprache, die es ihr erlaubt, die Vertrauensverletzung als in ihrem Wesen nicht-kriminell, als gerechtfertigt oder als Teil einer allgemeinen Unverantwortlichkeit anzusehen, für die sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Es handelt sich um keine ex-post-facto-Rechtfertigung im Sinne der tiefenpsychologischen Sekundärrationalisation, sondern um eine Rechtfertigung, die zur Motivation der T a t gehört. Der potentielle Veruntreuer sagt sich z. B. folgendes: Einige unserer geachteten Mitbürger haben die Chance für ihren Erfolg im Leben dadurch bekommen, daß sie „das Geld anderer Leute" gebrauchten. Meine Absicht ist es nur, das Geld zeitweise zu „gebrauchen". Ich „borge" es nur. Diese Rechtfertigung erlaubt es dem Veruntreuer, seine Vertrauensposition zu ver7*
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letzen, ohne sein Ideal der Ehrlichkeit aufgeben zu müssen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Edwin M. Lemert (1967, S. 99 bis 134), der Scheckfälscher systematisch untersucht hat. Der potentielle Scheckfälscher befindet sich stets in einer schwierigen Spannungssituation, in die er aufgrund eines Prozesses der sozialen Isolation (z. B. der Familienentfremdung) hineingekommen ist. Die niedrige soziale Sichtbarkeit der Scheckfälschung erlaubt ihm die kriminelle Lösung der drückenden Krisensituation. Der potentielle Scheckfälscher fühlt sich zwar Mittelschichtswerten verpflichtet, er spielt dennoch mit hoher Rollenflexibilität und großer Mobilität die Rolle eines Scheckfälschers. Je erfolgreicher er dabei ist, desto höher wächst seine Angst. Er sieht sich als „nette" Person mit „gutem" Vorleben und vermeidet die degradierenden Implikationen einer „windigen Existenz". Seine Tat ist eine Antwort auf Druckphänomene wie moderne Werbungs- und Verkaufsmethoden und auf seine soziale Isolation. Durch seine Festnahme und Verurteilung kommt dieser fehlgesteuerte Prozeß zu seinem Ende. Der Scheckfälscher verliert seine Angst und erlangt seine persönliche Identität zurück. Ähnliche Verursachungsprozesse können auch in den Fällen der Preisabsprachen in der amerikanischen Elektroindustrie und der Bestechungen von Gewerkschaftsführern festgestellt werden. Unter dem Eindruck der Überkapazität und chronischer Überproduktion verbunden mit der Forderung nach ständigem Wachstum, steigenden Löhnen und höheren Gewinnen sahen sich die Manager der führenden Elektrogesellschaften nur noch in der Lage, durch Produktionsbegrenzungen, Preisabsprachen und Marktaufteilungen den Markt zu sichern, die Preise zu stabilisieren und weiterhin höhere Gewinne zu erzielen. Sie wollten hierbei angeblich nicht berücksichtigt haben, daß ihre illegalen Absprachen zu Lasten des Verbrauchers gingen. Sie beurteilten ihr Zusammenspiel als „illegal", aber nicht als „unethisch". Sie sahen es als moralisch wertneutral an. Sie hatten angeblich ein altruistisches Ziel. Sie wollten nur die Preise stabilisieren. Sie hatten angeblich nur das Interesse ihrer Gesellschaften, aber nicht ihr eigenes persönliches Interesse im Auge. Diese Rationalisierungen erlaubten ihnen die Verletzungen der Wettbewerbsregeln auf
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Kosten des Verbrauchers. Bei der Bestechung der Gewerkschaftsführer durch führende nordamerikanische Geschäftsleute hatten diese angeblich nur die „Sicherung des Arbeitsfriedens" (payment for labor peace) im Sinn. Diese Ausreden muten naiv oder zynisch an. Nach der sozialpsychologischen Verursachungstheorie sind die Reaktionen der Gesellschaft und der Opfer ebenso bedeutsam für die Kriminalitätsentstehung wie das Verhalten der Täter. Zunächst werden in unserer Gesellschaft die materiellen Werte zu stark betont, was zu emotionaler Bindungslosigkeit führen kann. Der wirtschaftliche Erfolg ist eines der wesentlichsten, wenn nicht das wichtigste Lebensziel überhaupt. Die gesellschaftlichen Wertvorstellungen verhalten sich dabei den zu diesem Ziel angewandten Mitteln gegenüber sehr tolerant. Der wirtschaftlich Erfolgreiche genießt die Bewunderung eines wesentlichen Teils seiner Umgebung, selbst wenn bekannt wird, daß sein Erfolg auf gewagte Spekulationen und gerissener Geschäftemachern begründet ist. Die Werbung begünstigt einen prestigeorientierten Kaufzwang, der künstlich Bedürfnisse erzeugt und rein subjektiv zu einem Armutsgefühl führen kann, das kriminalitätsbegünstigend wirkt. Hinzu kommt das unterentwickelte Unverständnis der Gesellschaft der Wirtschaftskriminalität gegenüber. Die „President's Commission on Law Enforcement and Administration of Justice" klagt (1969) über die direkte gesellschaftliche Unterstützung der Manager der Elektroindustrie während der gerichtlichen Aburteilung der von ihnen begangenen wettbewerbsausschließenden Abreden. Wirtschafts- und Steuergesetze können ferner zu Mißbräuchen anreizen, wenn sie Erlaubnisse oder Verbote ohne genügende Kontrolle aussprechen oder wenn sie durch zahlreiche Ausnahmeregelungen und komplizierte Vergünstigungssysteme die Gesetze in ihrem Wert- und Unwertgehalt zu unverständlichen Gebilden machen. Auf diese Weise kann z. B. die gesetzliche Gewährung von Subventionen mit kriminalitätserzeugend wirken. Sutherland (1949 b) hatte bereits klarzumachen versucht, daß der Gesetzgeber sich täuscht, wenn er annimmt, daß die bloße gesetzliche Normierung ohne Kontrolle wirksam sei. Daß der Erlaß von Bewirtschaftungsvorschriften ohne wirksame
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Kontrolle die Entstehung der Wirtschaftskriminalität begünstigt, hat Marshall B. Clinard (1952) in seiner Studie über den Schwarzmarkt in den USA während des Zweiten Weltkriegs eindeutig herausgearbeitet. Weniger als 25 °/o aller bekanntgewordenen Übertretungen von Bewirtschaftungsvorschriften führten zur Bestrafung. Alle übrigen Verletzungen hatten nur Verwarnungen oder Einstellungen zur Folge. Das Dunkelfeld war dabei außerordentlich hoch. Durch die mangelnde Kontrolle wurden die Bewirtschaftungsvorschriften nahezu bedeutungslos. Zum Zwecke des Selbstschutzes verletzten nunmehr auch andere Geschäftsleute die Bewirtschaftungsvorschriften, was zum völligen Verlust des Vertrauens der Öffentlichkeit in die staatliche Wirtschaftskontrolle führte. Die Bevölkerung unterstützte zwar rein verbal die Wirtschaftsgesetzgebung, verletzte sie jedoch im täglichen Leben ständig. Die gesellschaftliche Gruppe der Geschäftsleute favorisierte mehr oder weniger offen den Schwarzmarkt. Die Richter sprachen während der Gerichtsverhandlung davon, sie möchten nicht gerne „aus geachteten Geschäftsleuten Kriminelle" machen. Einige Kongreßabgeordnete sprachen sich zwar eindeutig für die Bewirtschaftungsvorschriften aus, sie waren jedoch gegen eine wirksame Kontrolle, weil sie nicht wollten, daß Geschäftsleute, die sie kannten, wegen der Verletzung der Bewirtschaftungsvorschriften verurteilt würden. Die Psychologie der „Freizeitklasse" (Thorstein Veblen) bestimmt die Wertvorstellungen unserer Gesellschaft. Es ist das Ziel der Geschäftsleute, der Handwerker, der Arbeiter, etwas für nichts oder wenigstens für eine kleine Mühe zu bekommen. Harte Arbeit wird nicht nur als unerwünscht angesehen, sondern der hart Arbeitende wird auch als Narr beurteilt. Die Fehleinstellung der Gesellschaft wird durch die objektive Lage bei der Begehung der Wirtschaftsdelikte noch begünstigt. Ein Schaden wird nicht sichtbar, mindestens wird er nicht dramatisch sichtbar gemacht. Wirtschaftsdelikte werden in der Heimlichkeit des Büros begangen, sie sind von der sozial wertvollen Tätigkeit rein äußerlich nicht zu unterscheiden. Bestimmte Opfer sind meist nicht vorhanden oder mindestens nicht erkennbar. Die Opfer wissen in der Regel selbst nicht, daß sie zu
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Opfern geworden sind. Die Wirtschaftskriminalität spricht die Affektivität und Phantasie der Bevölkerung nicht an (Paul Reiwald 1948, S. 182). Ihre unterschiedliche Behandlung zur klassischen Kriminalität in den Massenmedien läßt gegenüber der Wirtschaftskriminalität keinen öffentlichen Unmut entstehen. Die Differenzen in der Behandlung durch die Gerichte müssen auch heute noch gerügt werden. Die Fehleinstellung der Gesellschaft trägt die Wirtschaftskriminalität. Robert E. Lane hat (1953) die Verletzungen der Handels- und Arbeitsschutzvorschriften durch 275 Schuhfabriken in 8 Städten der Neuengland-Staaten der USA untersucht. Er hat Unterschiede in der Häufigkeit der Übertretungen von 7 °/o bis 44°/o festgestellt. Diese Verschiedenheiten richteten sich nach den Einstellungen der Bevölkerung gegenüber dem Gesetz, jeder Regierung, der moralischen Beurteilung illegalen Verhaltens. Die Presse lieferte nicht selten unmittelbare Rechtfertigungen für die Übertretung der Wirtschaftsgesetze. Eine ambivalente Einstellung der Konsumenten gegenüber Lebensmittelverfälschungen hat Donald J. Newman (1953) gefunden. Die Konsumenten sprachen sich zwar für strafgesetzliche Normierungen aus, sie waren aber dagegen, daß Lebensmittelverfälscher wie Kriminelle von den Strafgerichten behandelt werden. Der norwegische Kriminologie Wilhelm Aubert (1968) sieht in der Indifferenz und Ambivalenz der Bürger, der Geschäftsleute, der Rechtsanwälte, der Richter, ja sogar der Kriminologen der Wirtschaftskriminalität gegenüber ein Indiz für strukturelle Konflikte und einen strukturellen Wandel innerhalb der Gesellschaft. Er hat die Einstellungen Osloer Geschäftsleute der Verletzung von Preisvorschriften gegenüber untersucht. Er stellte einen Rollenkonflikt fest. Einerseits zeigen die Geschäftsleute Loyalität gegenüber den Gesetzesvorschriften, andererseits begegnen sie der Anwendung der Vorschriften mit einer generellen Resistenz, die Aubert auf Sympathie mit ihren Geschäftsfreunden, die die Gesetze verletzt haben, und auf Gewinnmotive zurückführt. Die Gruppe der Geschäftsleute hatte eine komplizierte und weithin anerkannte Rationalisierung für die Übertretungen. Die schleppende und unwirksame Durchführung der gesetzlichen Preisregulierung durch die Gerichte
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gab den Gesetzesbrechern zusätzlich ein Gefühl der Harmlosigkeit ihrer Vergehen. In einer anderen Untersuchung, die die Sozialgesetzgebung über die Arbeitsbedingungen der Haushaltshilfen betrifft, hat er ermittelt, daß die Unmöglichkeit der Kontrolle des ungesetzlichen Verhaltens viel zu dem hohen Vorkommen der Verstöße beitrug. Vom Gesetzgeber aus gesehen interpretiert Aubert diese neue Sozialgesetzgebung wie folgt: Der Gesetzgeber hatte zwar ernsthaft die Absicht, dem neuen Gesetz Geltung zu verschaffen, indem er es mit Strafnormen bewehrte. Die Strafklausel war aber ein Zwitter. Sie setzte einerseits eine Strafe fest, wurde aber andererseits ohne wirksame Kontrollmöglichkeiten undurchführbar gemacht. „Möglicherweise stellt die bloße Existenz einer Strafklausel jene zufrieden, die aus ideologischen Motiven heraus Maßnahmen gegen Arbeitgeber verlangen, die ihre Hausgehilfinnen ausnutzen. Andererseits schützt ihre mangelnde Durchführbarkeit die entgegengesetzte Interessengruppe gegen jede unmittelbar ernsthafte Verärgerung" (1952, S. 214). Soweit die Opfer nicht überhaupt anonym bleiben, macht eine Vielzahl von ihnen dem Wirtschaftskriminellen aus Unkenntnis die Begehung seiner Taten leicht. Hinzu kann aber auch von der Opferseite her eine Mitverursachung dadurch kommen, daß die Opfer aus übertriebenem Gewinnstreben heraus ein erhöhtes Risiko in Kauf nehmen. So sollen z. B. Banken nur im Hinblick auf große Zinsen oder Gewinne Kredite zu nicht branchenüblichen Usancen (z. B. ohne Sicherheiten) gewährt haben. Vorbeugende Maßnahmen ergeben sich unmittelbar aus dem zu den Ursachen Gesagten, wobei zu beachten ist, daß Empfehlungen aufgrund der ausländischen kriminologischen Forschungsergebnisse gegeben werden, was nicht unproblematisch ist. Eine allein täterorientierte Betrachtungsweise wirkt sich - abgesehen von ihrer methodologischen Problematik - insofern ungünstig auf Verhütungsmaßnahmen aus, als sie potentiellen Wirtschaftsstraftätern zusätzlich Rechtfertigungsmöglichkeiten gewährt. Denn der potentielle Wirtschaftsrechtsbrecher betrachtet sich nicht als zum Persönlichkeitstyp des Wirtschaftskriminellen gehörig. Er spricht sich dafür aus, die Wirtschafts-
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kriminellen dieses Persönlichkeitstyps zu fassen, ohne sich selbst auch nur im geringsten mit den Wirtschaftskriminellen zu identifizieren. Dem Wirtschaftskriminellen müssen aber durch aktive Maßnahmen von Industrie und Handel und durch entsprechende Darstellungen in den Massenmedien die Rechtfertigungsgründe (Neutralisationstechniken) von vornherein entzogen werden, die in der Motivation zu seinem wirtschaftskriminellen Handeln wirksam werden. Ferner müssen die Fehleinstellungen der Gesellschaft, ihrer Gruppen (z. B. der Geschäftsleute) und Repräsentanten (z. B. der Richter) der Wirtschaftskriminalität gegenüber geändert werden. Hier fällt den Massenmedien eine bedeutsame Aufgabe zu. Die Gesellschaft muß sich eindeutig für oder gegen die Wirtschaftskriminalität entscheiden und alle damit verbundenen Konsequenzen auf sich nehmen. Schließlich muß auch der Gesetzgeber durch eindeutige Bejahung von Kontrollmaßnahmen der Wirtschaftskriminalität begegnen. Das einseitige Stereotyp des klassischen Kriminellen muß beseitigt werden, wenn man der Wirtschaftskriminalität vorbeugen will. Der Wirtschaftskriminelle sucht sich geschickt die Schwächen der Wirtschaftsordnung aus. Deshalb sind die Opfer, soweit sie erkennbar sind, mitunter selbst belastet, was die Strafverfolgung erschwert. Die Sachverhalte sind meist umfänglich und kompliziert. Der Wirtschaftskriminelle ist rigoros in seiner Verteidigung. Er setzt seine ganze Macht und sein Prestige ein und versucht, gegen die Organe der Strafrechtspflege die Fehleinstellungen der Gesellschaft und ihrer Gruppen der Wirtschaftskriminalität gegenüber zu mobilisieren. Auf der anderen Seite können Ermittlungen schwere soziale und wirtschaftliche Wirkungen für die Betroffenen haben. Deshalb ist es erforderlich, daß entsprechend ausgebildete, verantwortungsbewußte und entscheidungsfreudige Persönlichkeiten bei Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft die Ermittlungen führen. Strafrechtsdogmatisch verursachen Automation und Technisierung Subsumtionsprobleme, die nicht immer leicht zu lösen sind. Das Wirtschaftsstrafrecht muß die Unterstützung der Gesellschaft und ihrer wichtigsten Machtgruppen haben. Hierzu kann der Gesetzgeber wesentlich beitragen. Er sollte auf wirksame
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Kontrollmöglichkeiten bei seinen wirtschaftsstrafrechtlichen Normsetzungen bedacht sein. Er sollte auf Anschaulichkeit, Praktikabilität, Klarheit und Verständlichkeit der Wirtschaftsstraftatbestände achten, um diese so im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung und ihrer Repräsentanten (z. B. der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft und der Gerichte) zu verankern und um eine schnelle und wirksame Strafverfolgung und Verurteilung zu gewährleisten. Das Nebenstrafrecht ist zu unübersichtlich und besitzt doch wohl mehr eine Ordnungsfunktion, so daß die wesentlichsten Wirtschaftsstraftatbestände ins Strafgesetzbuch oder ein selbständiges Wirtschaftsstrafgesetz eingeordnet werden sollten. Das macht sie für die Bevölkerung sichtbarer und merkbarer. Die strafrechtliche Normierung sollte sich auf den Kernbereich des wirtschaftsdeliktischen Handelns beschränken, wobei man darüber streiten kann, was zu diesem Bereich gehört (z. B. Wettbewerbs-, Gesellschafts- und Konkursstrafrecht). Handlungsweisen, die minder sozialschädlich sind oder sogar als sozialethisch irrelevant definiert werden können, sollten zu Ordnungswidrigkeiten herabgestuft werden. Nur im wirtschaftsstrafrechtlichen Kernbereich ist eine wirksame Kontrolle möglich. Nur dieser wirtschaftsstrafrechtliche Kernbereich ist auch in der Gesellschaft als kriminelles Unrecht durchsetzbar. 2. Das organisierte Verbrechen Die kriminelle Organisation ist keine bloße Ansammlung von Kriminellen. Die Struktur und Dynamik der Organisation sind zu berücksichtigen. Das organisierte Verbrechen ist ein soziales System. Es vollzieht sich in einem Sozialprozeß. Es handelt sich immer um kriminelle Aktivitäten, die von strukturierten Organisationen rational, strategisch und taktisch geplant werden. Diese Aktivitäten sind auf Dauer angelegt und werden beharrlich verfolgt. Die einzelnen Mitglieder der kriminellen Organisation haben sich hoch spezialisiert. Eine bestimmte Rollenverteilung herrscht vor. Bedürfnisse innerhalb der Bevölkerung macht man sich systematisch zunutze. Es werden Verbrechensarten ausgewählt, die in der jeweiligen Gesellschaft bei möglichst hohen Gewinnen möglichst geringe Risiken ver-
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sprechen. Die Instanzen der sozialen Kontrolle, z. B. Kriminalpolizei und Gerichte, versucht man, systematisch zu neutralisieren. Das geschieht einmal durch die Isolation der Leitung des organisierten Verbrechens von der eigentlichen kriminellen Aktivität. Das wird aber auch durch harte Disziplin mit materiellen, psychischen und symbolischen Bestrafungen und Belohnungen bewirkt. Nicht zuletzt wird versucht, die Behörden zu korrumpieren und regelrechte Öffentlichkeitsarbeit im Dienste des organisierten Verbrechens zu leisten, ohne es allerdings öffentlich als organisiertes Verbrechen zu bezeichnen. Insofern wird die Öffentlichkeit systematisch hinters Licht geführt. Das organisierte Verbrechen versucht, im sozialen Dunkel zu bleiben, also keinesfalls aufzufallen. Deshalb ist es auch so gefährlich. Das organisierte Verbrechen ist nicht vor allem ein Problem der Jugendbanden. Es ist auch keine typische nordamerikanische Erscheinung, die auf die Eigenart der nordamerikanischen Sozial- oder Legalstruktur allein zurückzuführen wäre. Eine solche Betrachtungsweise verschleiert die kriminelle Wirklichkeit und ist in sich ein Abwehrmechanismus. Freilich ist das organisierte Verbrechen in den USA am besten kriminologisch erforscht. Hier ist seine Verflechtung mit der Wirtschaft und seine Infiltration in Schlüsselstellungen einiger Gewerkschaften besonders gefährlich. Fast legendär ist die sizilianische Mafia, die zwar kriminologisch unzureichend erforscht ist, deren sich aber gerade populärwissenschaftliche und journalistische Darstellungen um so mehr widmen. Das organisierte Verbrechen ist vor allem ein organisationssoziologisches und sozialpsychologisches Problem. Es zu individualisieren, trägt seiner gesellschaftlichen Bedeutung und Gefährlichkeit nicht Rechnung. Über die Entstehung der Mafia in Sizilien gibt es unterschiedliche historische Auffassungen. Nach einer weitverbreiteten Meinung fällt ihre Gründung in die Zeit der Sizilianischen Vesper um das Jahr 1282. In ihrer wechselvollen Geschichte verfolgte die Mafia allerdings verschiedene Zwecke: religiöse, gesellschaftliche, politische. Die Entstehung der Camorra in Neapel soll bis auf das Jahr 1820 zurückgehen; in der offiziellen Amtssprache erschien das Wort aber erst 1865 zum ersten
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Mal. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und nicht erst seit der Prohibition erhielt es allerdings Auftrieb. Chikago wurde zur Gangstermetropole, in der jedes Laster zur Ausbeutung der Bevölkerung organisiert war (Walter C. Reckless 1933). AI Capone wurde zur beherrschenden Figur. Von 1924 bis 1931 schössen in den „ B i e r k r i e g e n " rivalisierende Gangs bei hellichtem Tag aufeinander, ohne daß die Polizei eingreifen konnte und wollte. Allein in vier Jahren wurden 215 Morde bekannt, die die Gangster untereinander begangen hatten. Die Polizei erschoß während dieser vier Jahre 160 organisierte Verbrecher. Bombenwerfen durch spezialisierte, straff organisierte Gangs diente als Methode der Einschüchterung und Erpressung. Mit Backsteinen warf man Schaufensterscheiben ein. Man zerstörte Läden und Vergnügungsstätten. Man schlug Geschäftsinhaber brutal zusammen. Berüchtigt war auch die „black-hand"Methode: Durch anonyme Briefe mit Morddrohungen versuchte man, Geschäftsleute zu erpressen. Diese Methode stammte von der „Camorra" und der „Mafia". Unter Todesfurcht vertrauten sich die Opfer der Polizei nicht an, sondern sie zahlten den Preis für ihr Leben. Die organisierten Verbrecher gründeten „Schutzvereinigungen", die der Geschäftswelt garantierten, nicht belästigt zu werden, und die Geschäftsleute mußten dann regelrechte „Steuern" an das organisierte Verbrechertum zahlen. Auch die Taschendiebe organisierten ihre kriminellen Aktivitäten. Raubüberfälle auf Banken und Eisenbahnzüge wurden von langer Hand vorbereitet und durchgeführt. Auf dem Erie-See wurde der Alkoholschmuggel mit gepanzerten Schiffen betrieben. Irische, jüdische, polnische, italienische und deutsche Banden waren am Werk. Die Öffentlichkeit zeigte sich dem organisierten Verbrechertum gegenüber gleichgültig, und die Stadtverwaltung von Chikago war weitgehend korrumpiert. Durch die mannigfaltigsten Manipulationen und Wahlbetrüge nahm man Einfluß auf die Wahlen der Lokalpolitiker. Man wollte die Stadtverwaltung zum Partner des Verbrechens machen und weitgehend Kontrolle über die gesamte Stadtverwaltung ausüben. Das gelang auch zum Teil. Der Zusammenhang zwischen lokaler Politik und organisiertem Verbrechen wurde bei Begräbnissen von Gangster-
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bossen offenbar. Der große Pomp bei solchen Beerdigungen sollte Macht und Reichtum des organisierten Verbrechertums zur Schau stellen. Die Anwesenheit der gesellschaftlichen Prominenz, insbesondere auch der Lokalpolitiker, bei den Beerdigungszeremonien sollte die freundschaftlichen Beziehungen und den politischen Schutz der mächtigen finanziellen Interessen des organisierten Verbrechertums demonstrieren. Der Gangster war seinerzeit noch ein Produkt seiner Slumumgebung (John Landesco 1929). Heute schicken die Gangsterbosse ihre Söhne auf die amerikanischen Hochschulen. Denn Formen und Methoden des organisierten Verbrechertums haben sich gewandelt. Geblieben ist die Tatsache, daß organisiertes Verbrechen eng verbunden ist mit der gesamten Sozialstruktur des großstädtischen Lebens. Das Wachstum Chikagos in den 20er Jahren war zu rapide. Eine gesunde, organisch gewachsene Sozialstruktur vermochte sich nicht zu entwickeln. Deshalb versagte die Primärkontrolle über das Verbrechen durch die sozialen Gruppen, durch Familie, Schule, Berufs- und Freizeitgruppe. Soziale Kontrolle über das Verbrechen wird nämlich nicht vor allem durch Polizei, Gerichte und Strafvollzug ausgeübt, sondern durch einfache mitmenschliche nachbarliche Beziehungen. Aber auch die Sekundärkontrolle durch Polizei, Gerichte und Strafvollzug war im Chikago der 20er Jahre zu schwach. Die Polizei war zahlenmäßig zu gering, dazu schlecht ausgebildet und unzureichend bezahlt (John Landesco 1929). Der Ausdruck Mafia ist so bekannt, daß er für die Erscheinungsform des organisierten Verbrechens als Synonym verwandt wird. Das ist nicht unbedenklich, weil es sich bei der sizilianischen Mafia um eine ganz speziell ausgeformte Art des organisierten Verbrechens handelt, die der Sozialstruktur und der Sozialkontrolle auf Sizilien angepaßt ist. D a ß es die Mafia nicht gibt, sondern nur mafioses Verhalten, den Nachweis hierfür ist Henner Hess (1970) schuldig geblieben: Er spricht von mafioser Attitüde, von Mafia-Mentalität, von einer mafiosen Karriere, von einer Mafia-Methode. Als Entstehungsgründe für die Mafia führt er an (1970, S. 16), daß Sizilien fortwährend kolonial beherrschtes Gebiet und einem ständigen Wechsel der Herrschaft unterworfen gewesen sei. Diese Umstände gelten
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aber in ähnlicher Weise auch für andere Regionen wie den Balkan und Polen, in denen sich keine solchen Formen des organisierten Verbrechens entwickelt haben. Er sieht das Hauptcharakteristikum in der Subkultur der Gewalt (1970, S. 134, 145, 179). Ob es eine solche Subkultur der Gewalt überhaupt gibt, haben Marvin E. Wolf gang und Franco Ferracuti (1967) nicht nachgewiesen. Beide Autoren haben zusammen mit Renato Lazzari den empirisch-kriminologischen Beleg für eine Subkultur der Gewalt auf Sardinien (1970 b, S. 87-110) nicht führen können. In diesem Zusammenhang mit Psychopathologie oder überhaupt mit persönlichkeitspsychologischen Variablen zu arbeiten (Mario Fontanesi 1970, S. 69-86), ist verfehlt, da man dem sozialpsychologischen und organisationssoziologischen Problem nicht gerecht wird. Für die erfolgreichen Aktionen der Mafia spielen insbesondere folgende Faktoren eine Rolle: die Schwäche des Herrschaftsapparates auf Sizilien, die feindliche Haltung der Bevölkerung allen staatlichen Organen gegenüber, die Handlungsunfähigkeit der Bürokratie und die Langwierigkeit ihrer Maßnahmen, die Ineffektivität der Polizei und der Gerichte, die ihre Entscheidungen nicht zu fällen und durchzusetzen vermögen. Aus dem Zerfall der feudalen Herrschaftsordnung und dem Versagen des bürokratischen Systems etablierte sich in der sizilianischen Agrargesellschaft die Mafia als eine Art pseudofeudaler Selbsthilfeorganisation, die Schutz- und Vermittlerfunktionen ausübt. Diese Probleme der sizilianischen Sozialstruktur und Sozialkontrolle hat Henner Hess (1970) zwar auch gesehen, aber nicht richtig schwerpunktmäßig gewürdigt. Der Mafioso wird als Mafioso anerkannt, wenn es ihm in einem sozialpsychologischen Prozeß (Interaktionsprozeß) gelingt, die Rollen des Schützers, Mittlers, Gewaltausübers erfolgreich zu spielen. Falls er Gewalt angewandt hat und es ihm in einem Strafprozeß möglich ist, die Zeugen zum Schweigen zu bringen und so einen Freispruch zu erreichen, erhält er das Selbst- und Fremdbild eines Mafioso, der sich eine cosca und eine partito schafft. Unter cosca versteht man die engste von ihm abhängige Klientel, die für ihn Gewalt ausübt. Unter partito meint man ein Netz von informellen, aber wirksamen Beziehungen zu sozial
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und wirtschaftlich hochstehenden Persönlichkeiten. Der Mafioso strebt darüber hinaus danach, eine offizielle Funktion im staatlichen Machtapparat zu erlangen und so die formellen Instanzen der Sozialkontrolle zu unterwandern. Die Aktivitäten der Mafia richten sich nach der ländlichen Sozialstruktur auf Sizilien. Wucher mit Geld und mit Wasser, Uberpreise für alle Arten von Waren, Monopolisierung des Gemüsehandels und die damit verbundene Behinderung des Baus von Staudämmen, die unrechtmäßige Besetzung der günstigsten Plätze auf dem Markt, die Monopolisierung der Aufträge für eine Baufirma oder der Lizenzen für den Benzinverkauf stellen Verhaltensweisen dar, die als Beispiele für mafioses Verhalten gelten können. Den sozialhistorisch bedeutsamsten Einsatz mafioser Macht muß man auf dem Gebiet der Steuerpacht und der Landtransaktionen suchen (hierzu wie zu allem Vorstehenden: Henner Hess 1970, insbes. S. 141). Aufgrund von regierungsamtlichen Unterlagen (President's Commission 1967 b, S. 3) kostet das organisierte Verbrechen die Amerikaner gegenwärtig 9 Milliarden Dollar im Jahr. Das ist mehr als die Schäden, die durch alle anderen Verbrechen zusammengenommen verursacht werden, und es ist doppelt so viel, wie jährlich für den gesamten Justizapparat, also die Polizei, Gerichte, den Strafvollzug, in den Vereinigten Staaten ausgegeben wird. Das organisierte Verbrechertum befaßt sich heute vor allem mit der Versorgung weiter Teile der Bevölkerung mit illegalen Gütern und Diensten. Typen krimineller Aktivität sind hierbei illegales Spiel, Darlehnsgewährung zu Wucherzinsen, Großhandel mit Rauschmitteln, insbesondere Heroin, Schmuggel unverzollten Alkohols und organisierte Prostitution auf gehobener gesellschaftlicher Basis. Besonders gefährlich ist das Eindringen des organisierten Verbrechertums in legale Geschäftsaktivitäten, z. B. in die Versicherungsgesellschaften. Dieses Eindringen dient nicht nur der Tarnung. Es hat das Ziel, den Wettbewerb auszuschalten und ganze Geschäftszweige in bestimmten Bezirken unter Kontrolle zu bekommen (z. B. die Spielautomatenindustrie), um die Verbraucher auszubeuten. Es ist etwas anderes, die Bevölkerung mit illegalen Diensten und Gütern zu versorgen oder mit der
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Schußwaffe oder einer Bombe in der Hand einen Anteil am Gewinn eines jeden Nachtclubbesitzers, ja eines jeden Metzgers, eines jeden Bäckers, eines jeden Arztes sogar oder eines jeden Bankiers zu erlangen. Das organisierte Verbrechen treibt die ehrlichen Geschäftsleute aus ihren Geschäften heraus und bedroht durch Ausbeutung des Abnehmers die gesamte Wirtschaftsordnung. Börsenkurse werden manipuliert. Beamte werden bestochen. Versicherungsbetrüge werden durch berufsmäßige Brandleger systematisch begangen; der betrügerische Bankrott wird organisiert. Man versucht, Kontrolle über Einzelgewerkschaften zu erlangen. Eine solche Kontrolle dient nicht nur der systematischen Veruntreuung der Gewerkschaftsgelder in den gewerkschaftlichen Wohlfahrts- und Pensionsfonds. Durch Streikdrohungen versucht man, die Unternehmer zu erpressen. Für die „Sicherung des Arbeitsfriedens" müssen die Unternehmer an das organisierte Verbrechertum regelmäßig Bestechungsgelder zahlen. Uber die Kontrolle von Gewerkschaften erlangt das organisierte Verbrechertum auch die Möglichkeit, seine illegalen Aktivitäten, z. B. illegales Spiel oder Darlehnsgewährung zu Wucherzinsen, auf den Geländen der Unternehmen zu betreiben. Nach blutigen Kriegen der organisierten Banden schlössen sich die mächtigen Bosse der sizilianisch-italienischen Gruppen im Jahre 1931 zusammen. Aufgrund von Friedens- und Kooperationsverträgen gründeten sie ein monopolistisches Verbrecherkartell für die USA, die Bahamas und Teile Kanadas. Gegen Ende der Prohibitionsperiode war das organisierte Verbrechen mit der Situation eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs konfrontiert. Um diesen Zusammenbruch zu vermeiden, unterließ man es fortan, sich gegenseitig aufzureiben. Seit dem Jahre 1931 ist das organisierte Verbrechen in der Hand von Amerikanern sizilianisch-italienischer Abstammung. „Amico nostro", unser Freund, ist das Wort, mit dem ein organisierter Verbrecher einem anderen vorgestellt wird. Der Ausdruck „Questa e una cosa nostra", das ist unsere Angelegenheit, gab dem organisierten Verbrechertum der USA den Namen „Cosa Nostra". Die Bevölkerung hat die Gefährlichkeit des organisierten Verbrechens noch nicht erkannt. Seine soziale Sichtbar-
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keit ist allerdings auch schlecht, weil der organisierte Verbrecher sich bemüht, möglichst unauffällig zu bleiben und weil die wissenschaftliche Kriminologie und praktische Kriminalistik das Problem bisher nicht deutlich genug erkannt haben. Die Gesellschaft begegnet dem organisierten Verbrechen mit Ambivalenz, Gleichgültigkeit und Skepsis. Das liegt daran, daß selbst Kriminologen das Verbrechen nicht als organisatorisches Problem, sondern als reines individuelles Phänomen ansehen. Das kommt aber auch zum Teil daher, daß die Massenmedien das organisierte Verbrechen so phantasievoll darstellen, daß der Zuschauer solche Zustände für unwirklich hält. Donald R. Cressey bekennt in seinem Buch: „Theft of the Nation", daß er zunächst selbst nicht an die Existenz des organisierten Verbrechens geglaubt habe (1969 a, S. X ) : „Die Situation ist heute gefährlicher als in den 20er und 30er Jahren unseres Jahrhunderts" (Cressey 1969 a, S. 4). Robert F. Kennedy (1969) sagte vor dem McClellan Senatsausschuß: „Wenn wir das organisierte Verbrechen nicht mit seinen eigenen Waffen bekämpfen, wird es uns zerstören." Zwischen der sizilianischen Mafia und dem nordamerikanischen organisierten Verbrechen besteht in Struktur und Wertsystem große Ähnlichkeit. In den USA existieren gegenwärtig 24 Kartelle oder Syndikate mit etwa 5000 Angehörigen. Die Syndikate oder Familien haben eine wechselnde Größe von 20 bis 700 Mitgliedern. Das Operationsgebiet des organisierten Verbrechens in den USA erstreckt sich vor allem auf die Staaten New York, New Jersey, Florida, Louisiana, Nevada, Michigan und Rhode Island. Das gesamte organisierte Verbrechen in den USA und auch die einzelnen Syndikate sind hierarchisch strukturiert (vgl. das Schaubild 14). An der Spitze jeder Familie steht ein Boss, der die Familie leitet, für Ordnung sorgt und die kriminellen Aktivitäten bestimmt. Er genießt absolute Autorität innerhalb des Syndikats. Unter dem Boss arbeitet ein Underboss, der stellvertretende Direktor des Syndikats. Er sammelt Informationen für den Boss, gibt Befehle und Instruktionen an die Untergebenen weiter. In Abwesenheit des Bosses führt er die kriminelle Gruppe. Auf derselben Ebene wie der Underboss steht der Consigliere, der Berater der kriminellen Gruppe. Es 8
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Sonderformen der Kriminalitätsstruktur Schaubild 14: Die organisierte Verbrecherfamilie Bon
Underbot«
Q u e l l e : P r e & i d e n t ' s Commission on Law Enforcement and A d m i n i s t r a t i o n of J u s t i c e (Hrsg.) 1967b,S. 9.
handelt sich um ein älteres Mitglied der Familie, das in seiner kriminellen Karriere die Stellung des Bosses nicht erreicht und sich nun teilweise von der aktiven kriminellen Tätigkeit zurückgezogen hat. Er berät den Boss und den Underboss und hat dadurch einen beträchtlichen Einfluß und erhebliche Macht. Unter dem Underboss arbeiten die Caporegime, die Leutnants. Sie haben eine wichtige Pufferposition zwischen der Leitung des Syndikats und der eigentlichen kriminell-aktiven Gruppe. Diese Gruppe besteht aus Bezirkschefs und einfachen Mitgliedern,
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den sogenannten Soldaten. Die Funktion der Caporegime, der Leutnants, ist deshalb so wichtig, weil sie die Leitung der Organisation von der eigentlichen kriminellen Aktivität der Untergruppe isoliert. Die Führer des Syndikats, speziell der Boss, vermeiden jeden direkten Kontakt mit den Mitgliedern, die kriminelle Aktivitäten entfalten. Die Kommunikation zwischen der kriminellen Untergruppe und der leitenden Obergruppe findet über die Caporegime, die Leutnants, statt, die keine Befehlsgewalt oder Autorität wie der Boss haben. Oft hat der Caporegime noch einen oder zwei Assistenten, die mit ihm eng zusammenarbeiten, Befehle weitergeben, die Ober- und Untergruppe informieren. Unter den Soldaten arbeiten in der Hierarchie große Mengen von Angestellten und Agenten, die nicht notwendig italienischer Abstammung sind. Die Familie beschäftigt sogenannte Enforcer, Executioner, Corrupter und Money-Mover. Der Enforcer sorgt für eine strenge Disziplin innerhalb des Syndikats. Er trifft auf Anordnung des Bosses Dispositionen zur Tötung und physischen, finanziellen oder psychischen Verletzung von Mitgliedern der Organisation oder gelegentlich von Nichtmitgliedern. Der Executioner führt diese Dispositionen selbst oder durch Agenten aus. Der Corrupter knüpft systematisch Beziehungen mit der Polizei, mit den Behörden, mit jedermann an, der einem Mitglied des Syndikats helfen kann, seine Immunität gegen Verhaftung und Verurteilung zu sichern. Er arbeitet mit den Methoden der Bestechung, der Einschüchterung oder der Verhandlung. Der Money-Mover sorgt dafür, daß die großen illegal erlangten Gelder möglichst sinnvoll und profitbringend angelegt werden. Die gesamte Organisation des Syndikats mit ihrer Pufferfunktion der Caporegime, die strenge Disziplin innerhalb des Syndikats und die systematische Korruption dienen der Abschirmung der gesamten Organisation gegen kriminalpolizeiliche Verfolgung. Die 24 Syndikate sind zusammengeschlossen in einer sogenannten Kommission, auch „Consiglio d'Amministrazione" genannt. Sie hat die Funktion der Gesetzgebung, des obersten Gerichts und der Leitung der gesamten kriminellen Aktivität des organisierten Verbrechens in den USA und auf internationaler Ebene. Sie setzt sich aus 9 bis 12 Mitgliedern zusammen. Gegenwärtig sind 8*
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9 Familien vertreten. Die 5 New Yorker Familien haben in der Kommission das Übergewicht. Stabilität und Ausgewogenheit der Macht innerhalb der Kommission werden durch die 5 New Yorker Familien garantiert. Sie sind ständige Mitglieder, und New York wird gegenwärtig als inoffizielles Hauptquartier der gesamten Organisation angesehen. Das organisierte Verbrechen besitzt ein ungeschriebenes Gesetzbuch (Omerta), das auf folgenden Hauptprinzipien beruht: Von jedem Mitglied wird unbedingte Loyalität untereinander verlangt. In keiner Angelegenheit darf ein Mitglied die Polizei oder sonstige Behörden informieren oder Schutz bei den Behörden suchen. Kein Mitglied darf Aufsehen bei den Behörden oder bei dem Publikum erregen. In jeder Situation wird von dem organisierten Verbrecher verlangt, daß er einen kühlen Kopf behält. Er darf keine Narkotika nehmen und nicht während seiner „Arbeit" betrunken sein. Er darf sich nicht in Streitereien verwickeln lassen. Er darf keine kriminellen Akte begehen, ohne vorher von der Spitze des Syndikats Befehle dazu erhalten zu haben. Er schuldet der Leitung des Syndikats Respekt und absoluten Gehorsam. Jedes Mitglied des Syndikats muß Augen und Ohren offenhalten, aber unbedingt verschwiegen sein. Unter den Mitgliedern des organisierten Verbrechertums herrscht die Einstellung vor, daß Ehrlichsein Opferwerden bedeutet. Ein Mann, der seiner geregelten Arbeit nachgeht und sich der Autorität der Behörden unterwirft, wird als ein „Spießbürger" angesehen. Das ungeschriebene Gesetz gibt der Leitung des Syndikats ausbeuterische, autoritäre Macht über jedermann innerhalb der Organisation. Loyalität, Respekt und absoluter Gehorsam werden den Familienmitgliedern durch Initialriten, durch Gewohnheitsrecht innerhalb der Organisation, durch materielle Belohnungen und durch Gewalt eingeschärft. Der Boss, auch „il capo", „don", „capofamiglia" oder „rappresentante" genannt, kann eine Exekution über jedes Familienmitglied für jedweden Grund anordnen. Es wird erwartet, daß inter- und intrafamiliäre Konflikte auf friedlichem Wege bereinigt werden. Wenn zwei Mitglieder derselben Familie einen Konflikt haben, wird von ihnen verlangt, daß sie diesen Konflikt in Verhandlungen ohne Gewalt lösen.
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Wenn sie selbst nicht zu einer Vereinbarung kommen, wenden sie sich an den Leutnant, der ein Urteil fällt. Wenn der Verurteilte sich nicht an das Urteil des Leutnants hält, wird er auf Befehl des Leutnants, der sich bei der Obergruppe abgesichert hat, bestraft, wenn nötig beseitigt. Wenn Konflikte zwischen Mitgliedern verschiedener Syndikate auftreten, so wendet sich jeder mit seinem Problem an den ihm zugeordneten Leutnant. Die zwei Leutnants setzen sich zu einer Sitzung zusammen, die „sit-down" genannt wird. Wenn sie zu einer Vereinbarung kommen können, fällen sie ein Urteil, dem unter Androhung von Leibes- und Lebensstrafen unbedingt zu folgen ist. Können sich die Leutnants nicht einigen, so geht die Lösung des Konflikts an die beteiligten Bosse, die ihrerseits ein Urteil zu fällen versuchen. Falls das nicht möglich ist, kommt die Sache vor die Kommission. Über die Persönlichkeit und Erscheinungsweise der Bosse des organisierten Verbrechens herrschte lange Zeit Unklarheit. In Apalachin/New York wurde eine Sitzung der Kommission von der Kriminalpolizei ausgehoben. Leiter dieser allamerikanischen Kommission war Vito Genovese, der Kopf eines der bedeutendsten New Yorker Syndikate. Er wurde von dem gesamten organisierten Verbrechertum gefürchtet und verehrt wie ein Heiliger. Man sagte ihm charismatische Eigenschaften nach. Selbst seinen Namen wagte man im organisierten Verbrechertum nicht auszusprechen. Es handelte sich um einen gewöhnlichen Einwanderer, der in kürzester Frist 25 bis 30 Millionen Dollar angehäuft hatte. Zur Zeit der Konferenz in Apalachin lebte Herr Genovese in einem bescheidenen Haus in Atlantic Highlands/New Jersey, fuhr einen zwei Jahre alten Ford-Mittelklassewagen, besaß nicht mehr als 10 Anzüge, von denen keiner mehr als 100 Dollar gekostet hatte, die also aus der Konfektion stammten. In seinem Schlafzimmer fand man billige Plastikfiguren von Heiligen. Seine Kinder und seine acht Enkelkinder besuchten ihn oft, und er kochte persönlich für die ganze Familie. Auch das folgende Ereignis beleuchtet die Rolle, die die Bosse und Underbosse im organisierten Verbrechen spielen: Die Kriminalpolizei einer amerikanischen Großstadt war sich über
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die Position eines hochplazierten Underbosses im unklaren, bis sie in der Lage war, seine Beteiligung an einer Sitzung seines Syndikats zu beobachten. Zuerst kam ein Dutzend Männer an, die der Kriminalpolizei als organisierte Verbrecher mit hohem Rang bekannt waren. Sie fuhren in teuren Limousinen mit Klimaanlagen und Chauffeuren vor. Sie waren tadellos gekleidet. Nachdem sie sich versammelt hatten, kam ein paar Minuten später ein kleiner unscheinbarer Mann in einem fast schäbigen schwarzen Anzug an, der eine Einkaufstasche seiner Frau bei sich trug. Alle im Raum Anwesenden erhoben sich sofort ehrfürchtig und nahmen ihre Hüte ab. Der kleine, unauffällige Mann hielt eine Ansprache auf Italienisch. Nachdem er etwa 15 Minuten lang gesprochen hatte, verließ er abrupt den Raum, ging zur nächsten Haltestelle der Untergrundbahn und fuhr mit ihr nach Hause. Die Sitzung wurde mit seinem Verlassen des Raumes abgebrochen, und die anderen Herren verließen in ihren Luxusautos den Schauplatz. Das organisierte Verbrechen breitet sich heute nicht dadurch aus, daß es große Zahlen von Mitgliedern in seine Syndikate aufnimmt. Es erweitert vielmehr seine Macht, indem es immer mehr in der legalen Geschäftswelt Fuß faßt, ohne seine kriminellen Aktivitäten aufzugeben. Beim Eindringen in die legale Geschäftswelt werden Geschäftsleute systematisch als Strohmänner benutzt. Wenn ein Geschäftsmann z. B. im illegalen Spiel große Summen verloren hat und nicht mehr zahlen kann, bekommt er Darlehen zu Wucherzinsen gewährt. Kann er auch diese Darlehen nicht mehr zurückzahlen, wird entweder mit brutalster Gewalt gegen ihn vorgegangen, oder er wird als Strohmann für legale oder illegale Geschäftsaktionen oder als Agent für kriminelle Aktivitäten mißbraucht. Das organisierte Verbrechertum breitet sich allerdings auch durch internationale Verflechtung immer mehr aus. Die Erscheinungsformen sind hierbei in jeder Gesellschaft verschieden, und zwar jeweils nach dem Stand der Entwicklung des organisierten Verbrechertums in der jeweiligen Gesellschaft, nach der Situation der Verbrechenskontrolle durch Kriminalpolizei und Gerichte und nach den sozialen Bedürfnissen nach illegalen Gütern und Diensten. Das organisierte Verbrechen paßt sich insoweit ort-
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lieh und zeitlich flexibel den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen an. So wird aus Großbritannien eine Vermehrung der organisierten Raubüberfälle, Einbrüche und Erpressungen berichtet (Cressey 1971, 1972). In Australien hat das organisierte Verbrechen Eingang in den Tomatenanbau gefunden. In Japan überwiegen Erpressungen der Geschäftsleute. Auf internationaler Basis werden Kunst- und Museumsdiebstähle organisiert. Ganze Waggons oder Flugzeugladungen mit illegalen Gütern verschwinden und werden über die Grenzen verschoben. Teure Autos werden z. B. systematisch gestohlen, umfrisiert und über die Grenzen zum Verkauf gebracht. Bombenund Morddrohungen zu Erpressungszwecken wachsen an. Die meisten Verhaftungen konnten bisher über die Steuerfahndungen eingeleitet werden. Im übrigen ist es außerordentlich schwierig, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen, wenn es einmal Fuß gefaßt hat. Ein „Soldat" kann eine lebenslange kriminelle Karriere beenden, ohne überhaupt jemals mit dem Boss seines Syndikats gesprochen oder ihn gesehen zu haben. Die Organisation versorgt die Familien von Strafgefangenen mit Geld und Nahrungsmitteln. Das Opfer wird in das organisierte Verbrechen systematisch einbezogen. Es merkt oft gar nicht, daß es Opfer wird. Selbst wirkliche Opfer des organisierten Verbrechens, nämlich z.B. Opfer von Erpressungen, haben zu viel Angst, um sich den Justizbehörden anzuvertrauen. Ein Teil der Informanden ist langfristig zu wertvoll, als daß man sie als Zeugen in Gerichtsverfahren benutzen könnte. Selbst wenn Zeugen auszusagen bereit und fähig sind, versucht das organisierte Verbrechen nicht selten erfolgreich, die Polizei und die Gerichte zu bestechen oder zu bedrohen oder aber die unbequemen Zeugen zu beseitigen. Man kann das organisierte Verbrechen am besten dadurch bekämpfen, daß man die illegalen Bedürfnisse innerhalb der Bevölkerung eliminiert. Solche Bedürfnisse nach illegalen Leistungen oder Gütern entstehen insbesondere in Gesellschaften mit Überkriminalisation. Es ist zu viel menschliches Verhalten unter Strafe gestellt. Ein Dekriminalisationsprozeß muß eingeleitet werden. Bestimmte illegale Bedürfnisse dürfen nicht mehr als illegal strafrechtlich definiert werden. Ein solcher Dekriminalisationsprozeß hat
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Sonderformen der Kriminalitätsstruktur
seine Grenzen freilich in der Sozialgefährlichkeit des jeweiligen menschlichen Verhaltens. Im übrigen darf die Polizei keine nur reaktive Rolle auf die Begehung von Verbrechen spielen, sondern sie muß eine proaktive, vorbeugende Rolle als Angreifer der potentiellen organisierten Kriminellen einnehmen, bevor sie sich noch fest organisiert haben. Auf jeden Fall ist die Bekämpfung des organisierten Verbrechens nicht nur ein kriminaltaktisches und -technisches Problem. Organisierte Verbrecher dürfen nicht so behandelt werden, als seien sie nicht organisiert. Es nützt nicht viel, einzelne, wenn auch maßgebliche Mitglieder aus der kriminellen Organisation „herauszubrechen". Sie werden verhältnismäßig schnell wieder ersetzt. Es nutzt ebenfalls nicht viel, die rein technischen Kriminalitätsvorbeugungsmaßnahmen zu verbessern. Bringt man z. B. kugelsichere Scheiben und Alarmanlagen zum Schutz gegen Bankraub in den Kassenschalterhallen an, so nehmen sich die Bankräuber Geiseln. Wenn die Kriminalpolizei ihre Vorbeugungs- und Bekämpfungstechniken verbessert, ändert auch das organisierte Verbrechertum seine kriminellen Techniken. Das Problem ist nur zu lösen, wenn man kriminelle Organisationen als Organisationen bekämpft. Der kriminellen Organisation muß deshalb ihr Profit entzogen und ihr Rückhalt bei den Behörden durch Intoleranz gegenüber Bestechungen beseitigt werden. In enger Zusammenarbeit mit der kriminologischen Wissenschaft, deren moderne Zweige sich mit Organisationssoziologie beschäftigen, muß die Kriminalpolizei Vorbeugungsstrategien entwickeln, die das Entstehen krimineller Organisationen unmöglich macht oder doch wenigstens erschwert. Auch hier machen wir uns in der Bundesrepublik die nordamerikanischen Erfahrungen nicht zunutze. Dieses Verhalten kann in naher Zukunft für unsere Gesellschaft höchst gefährlich werden, zumal das organisierte Verbrechen in der Bundesrepublik, insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität bereits Fuß gefaßt hat. Das organisierte Verbrechertum, wie es in faszinierend-phantastischen Kriminalromanen und -filmen (z. B. Mario Puzo, Der Pate) anschaulich geschildert wird, gehört - jedenfalls in hochkomplexen Industriegesellschaften - der Vergangenheit an. Im Jahre 1972 ist in New York City eine Spezialeinheit der
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Kriminalpolizei gegen organisiertes Verbrechen gegründet w o r den, die dem A u t o r Gelegenheit gegeben hat, das organisierte Verbrechen, insbesondere v o n seiner Spitze her, zu studieren. Diese Spezialeinheit ist aus der Organisation der N e w Y o r k e r Kriminalpolizei völlig herausgenommen und operiert unabhängig. Die Beamten besitzen nicht einmal eine Personalakte, u m sie und ihre Familien v o r Repressalien zu schützen. Die Öffentlichkeit und die Gangsterbosse wissen durch die Massenmedien, daß eine solche Spezialeinheit vorhanden ist. Durch enge Kooperation mit anderen Spezialeinheiten gegen organisiertes Verbrechertum und mit den Bundesbehörden, insbesondere dem F B I in Washington D . C., ist es möglich, systematisch Informationen über alle Personen zu sammeln, die im organisierten Verbrechen tätig sind. Die N a m e n und die Verbindungen zu Wirtschaft und Politik sind überwiegend der Spezialeinheit bekannt. Eine kriminalpolizeiliche Überführung ist gleichw o h l äußerst schwer möglich. Die Bosse werden systematisch observiert; sie lassen allerdings ihrerseits auch die Beamten der Spezialeinheit beschatten. Die N e w Y o r k e r Kriminalpolizei will durch ihre Spezialeinheit das organisierte Verbrechen von seiner Spitze her aufrollen. Obgleich bisher durchgreifende positive Ergebnisse nicht erzielt werden konnten, w a r es dennoch möglich, einzelne Teilerfolge zu verbuchen. Die systematische Beobachtung der Bosse dient nicht nur der Information. Durch den Druck der ständigen Observation soll der Boss nervös gemacht und zu der Begehung eines Fehlers veranlaßt werden. Wenn das Syndikat merkt, daß eines seiner Mitglieder durch Informationen und Fehler, die es begangen hat, der kriminalpolizeilichen Verhaftung nahesteht, w i r d es rücksichtslos beseitigt. Die Spezialeinheit ist der Ansicht, daß ihre Aktivitäten mit rechtsstaatlichen Prinzipien durchaus vereinbar sind. Die Protokolle der kriminalpolizeilichen Beobachtung verzeichnen jede auch noch so kleine, zunächst unwichtig erscheinende Einzelheit. Es handelt sich u m eine langwierige kriminalpolizeiliche Kleinarbeit. Denn jede kleinste Einzelheit kann wichtig werden und zur Verhaftung eines Gangsterbosses führen. Die N e w Y o r k e r Spezialeinheit ist davon überzeugt, daß das organisierte Verbrechen w i r k s a m e r als bisher b e k ä m p f t , daß es
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nunmehr zumindest empfindlicher gestört wird. Dadurch kann eine Verlagerung der Aktivitäten des organisierten Verbrechens nach Europa, insbesondere in die Bundesrepublik, und nach Japan wahrscheinlich werden. Erste Anzeichen deuten auf eine solche Entwicklung hin. Es ist durchaus möglich, daß in den nächsten Jahren ein Anwachsen des organisierten Verbrechertums in der Bundesrepublik Deutschland zu verzeichnen ist. In einer immer komplizierter werdenden Industriegesellschaft mit schlechten Möglichkeiten der Instanzen sozialer Kontrolle tritt eine solche Entwicklung zwangsläufig ein. Wenn sich das Verbrechertum organisiert, müssen sich auch diejenigen stärker zusammenschließen, die das Verbrechen bekämpfen. Es geht hierbei nicht nur um eine bessere Kooperation innerhalb der Kriminalpolizei, sondern auch um eine wirksamere Zusammenarbeit der Strafverfolgungspraxis mit der kriminologischen Forschung. Für vorbeugende Maßnahmen ist es nie zu früh und niemals zu spät (vgl. auch die Empfehlungen der President's Commission on Law Enforcement and Administration of Justice 1967 a, S. 187-209).
VI. Soziale Verursachung und Kontrolle 1. Entwicklung zum jugendlichen Straftäter Die Jugendkriminalität entwickelt sich in einem individuellen Kriminalisierungsprozeß, zu dem das Verhalten des Jugendlichen, die soziale Reaktion auf dieses Verhalten und die Reaktion des Jugendlichen auf diese Reaktion gehören. Die Persönlichkeit des Jugendlichen braucht ebensowenig pathologisch zu sein wie sein sozialer Nahraum. Pathologisch ist der konkrete Wechselwirkungsprozeß zwischen dem Jugendlichen, seinem sozialen Nahraum und den gesellschaftlichen Gruppen, in denen er aufwächst. Clifford R. Shaw (1931) hat einen jungen Rückfalltäter sehr intensiv untersucht, der wenige Monate vor Vollendung seines 17. Lebensjahres zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, nachdem er eine Serie von Gewaltdelikten (Raub, Notzucht)
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begangen hatte. Er stellt die sukzessiven sozialen Erfahrungen des Täters dar, die emotionalen Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Gewaltverbrechen und den Legalprozeß, der schließlich zur endgültigen Entscheidung führte. Shaw studierte diesen Fall 6 Jahre lang, zog Gerichts-, Strafvollzugsakten und Klinikberichte heran, führte Interviews mit Freunden und Verwandten und mit dem Täter selbst. Zunächst bemängelt er die emotionalen Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Delikte. Obwohl der Täter einen überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten von 119 hatte, wurde er als Schwachsinniger eingestuft. Shaw kommentiert dies: Wenn die Gesetze effektiv sein wollen, sind sie eine Kristallisation emotionaler und moralischer Einstellungen. Nur im Rahmen dieser Einstellungen werden die Akte als kriminell definiert. Shaw will die Delinquenz nicht als isolierten Akt beurteilen, sondern er sieht sie in ihrer Beziehung zu den geistigen und physischen Bedingungen des Täters, der gesamten Abfolge der Lebensereignisse und der sozialen und kulturellen Situationen, in denen sich das delinquente Verhalten ereignet. Er sagt: Ein delinquenter Akt ist ein Teil eines dynamischen Lebensprozesses, und es ist gekünstelt, ihn nicht als integralen Teil eines solchen Prozesses zu sehen. Sidney, der junge Mann, den Shaw studierte, hatte zahlreiche Kontakte mit Kriminellen in seiner frühen Kindheit. Die ersten sozialabweichenden Handlungen ereigneten sich in Spielgruppen und in Kinderbanden. Der familiäre Hintergrund bestand in äußerster Armut und früher Desorganisation der Familie als Kontrolleinheit. Aufgrund der unsympathischen und intoleranten Einstellung des Vaters und des Bruders war Sidney kein Teil der Familiengruppe mehr. Es herrschte in der Familie ökonomische Unsicherheit. Das führte auch zu einem schlechten Selbstbild bei dem Jungen. Er fühlte sich nicht als nützliches Glied der Gesellschaft. Der Vater hatte kein Verständnis für ihn, keinen Kontakt mit ihm. Er war größtenteils abwesend. Er zeigte niemals Zuwendung in irgendeiner Form. Er war Alkoholiker und vernachlässigte seine Familie. Den Beginn der kriminellen Karriere markiert hier das Stehlen eines Apfels oder einer Apfelsine an einem Obststand. Es ging dem Jungen nicht um den Besitz des Apfels oder der Apfelsine, sondern um
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den Akt des Stehlens. Der Verkäufer merkte, daß ständig von seinem Verkaufsstand etwas genommen wurde, und das Spielerische machte das ganze noch interessanter. Die Amerikaner sagen: „to get a kick out of it"; er machte das sozusagen aus Sensationslust und um dadurch seine Gefühle zu befriedigen. Familie und Schule vermochten ihm diese interessant erscheinenden Erlebnisse nicht zu ersetzen. Seine kriminelle Karriere setzte sich dann fort in Warenhausdiebstählen. Die meisten Dinge, die er stahl, waren für ihn völlig nutzlos. Er kam unter den Einfluß eines mehrere Jahre älteren Jugendlichen. Mit 7 Jahren wurde Sidney zum ersten Mal verhaftet, und nach seinen eigenen Worten wurde er wie ein erwachsener Krimineller behandelt. Seine Mutter holte ihn aus der Untersuchungshaft ab. Ihre strafenden Blicke verletzten ihn. Er fühlte sich von nun an wie ein „jail bird", wie ein „Gefängnisvogel". In der neueren kriminologischen Forschung ist festgestellt worden, daß bei Jugendlichen das Erlebnis, zum ersten Mal von der Gesellschaft oder von Repräsentanten der Gesellschaft, also der Polizei oder den Gerichten, als kriminell definiert zu werden, von elementarer Bedeutung ist. Das ist ein fundamentales Erlebnis, zum ersten Mal als Krimineller angesehen zu werden, und es kann dazu führen, daß der Junge im Laufe der Zeit ein kriminelles Selbstbild annimmt, daß er sich auch selbst als Krimineller sieht. Bei Sidney jedenfalls wurde nun das Stehlen zu einem Beruf und zum Teil seines ganzen Lebens. Das Verbrechen wurde zum ständigen Gegenstand der Unterhaltung zwischen den Jungen, mit denen er sich traf. Wenn er versuchte, aus seiner kriminellen Karriere zu entfliehen, erhielt er keine Ermutigung von zu Hause. Seine Verbrechen machten Schlagzeilen in der Lokalpresse in Chikago. Sie wurden dramatisiert und zur Sensation gemacht, und das hatte wiederum Rückwirkungen auf ihn selbst. Ein Prozeß der Interaktion zwischen dem Individuum und der Gesellschaft in aufeinanderfolgenden sozialen Phasen wurde in Gang gesetzt. Es entwickelten sich delinquente Gewohnheiten und Einstellungen. Er geriet in Abhängigkeit zu älteren Kameraden. Der ständige Kontakt mit jugendlichen Delinquenten und erwachsenen Kriminellen setzte ein, und nun verstand er sich als Krimineller. Er
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identifizierte sich förmlich mit der kriminellen Welt. Er lebte in einem der desorganisiertesten Stadtteile Chikagos. Die schlechten ökonomischen Bedingungen in der Familie bewirkten bei Sidney ein Gefühl der Minderwertigkeit und der Unsicherheit. Seine ersten Kontakte mit einer Gruppe krimineller Jugendlicher bezeichnet seine Assoziation mit dieser Gruppe und den Beginn seiner kriminellen Karriere mit 7 Jahren. Die Schule wurde nur noch als notwendiges Übel empfunden. Seine ersten kriminellen Handlungen repräsentierten eine Anpassung an die Verhaltensnormen, die Aktivitäten und die Verhaltenserwartungen seiner frühen delinquenten Spielgruppe. Er akzeptierte die kriminellen Leitbilder dieser Gruppe sehr schnell, da er bereits kriminelle Prädispositionen besaß. Die vitalen sozialen Kontakte außerhalb seines Elternhauses waren zum größten Teil auf kriminelle Gruppen beschränkt. Es ist bemerkenswert, daß Sidneys älterer Bruder Abe sozusagen eine Kontrastperson diesem jugendlichen Delinquenten gegenüber war. Die Mutter beaufsichtigte den älteren Bruder viel stärker. In der frühen Kindheit - es handelte sich um eine jüdische Familie - kam Abe in engere Verbindung mit der Synagoge, und es bildeten sich beständige Kontakte mit nichtdelinquenten, konventionellen Gruppen heraus. Sidneys Eltern verglichen sein Verhalten mit dem Benehmen des älteren Bruders. Das normale Betragen wird immer auf dem Hintergrund des sozialabweichenden Verhaltens gesehen. Dadurch werden soziale Prozesse in Gang gesetzt, die dazu führen, daß der Delinquente nur noch mehr in seine Rolle gedrängt und in seiner Rolle gehalten wird. Das sozialabweichende Gebaren Sidneys war eine Reaktion gegenüber dem Modellverhalten von Abe. Zu dieser „case study" hat Ernest W. Burgess einen Kommentar geschrieben: Die emotionale und moralische Reaktion auf das kriminelle Verhalten stigmatisiert den Täter als ein Monster, einen degenerierten Menschen, als einen Schwachsinnigen. Dieses Etikett erklärt nicht das delinquente Verhalten. Es trägt aber dazu bei, das Verständnis für dieses Benehmen zu verhindern, indem es dieses Verhalten mit einem bloßen Begriff abtut. Das Konzept der „kriminellen Karriere" wird nicht nur in dieser Einzelfallstudie veranschaulicht. Es wird auch empirisch
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belegt durch kriminologische Reihenuntersuchungen. Die große empirische Studie von William Healy und Augusta Bronner „Delinquents and criminals" aus dem Jahre 1926 ist eine statistische Analyse von 4000 Fällen: 2000 Fällen aus Chikago aus der Zeit von 1909 bis 1915 und 2000 Fällen aus Boston aus der Zeit von 1917 bis 1923. Es handelt sich auch hier um eine Längsschnittuntersuchung. Die erste Beobachtung fand statt, als die Jugendlichen 14 Jahre alt waren; eine Kontrolluntersuchung, ein sogenanntes „follow-up" wurde durchgeführt, als sie 25 Jahre alt waren. Healy und Bronner kommen zu dem Ergebnis, daß kriminelle Karrieren fast immer abwendbar sind. Sie sagen, daß es eine Zeit im Leben aller ihrer Probanden gegeben habe, in der - wenn eine intelligente und wirkungsvolle Behandlung unternommen worden wäre - eine gute oder sogar sehr gute Möglichkeit bestanden hätte, die kriminelle Karriere zu unterbrechen. Für den Beginn der kriminellen Laufbahn und des Rückfalls sind die Bildung von kriminellen Gewohnheiten, das wiederholte Nahelegen von kriminellen Verhaltensweisen von seifen des sozialen Nahraums und die Entwicklung antisozialer Einstellungen verantwortlich. Die größte Anzahl krimineller Handlungen und Karrieren ist vermeidbar. William und Joan McCord (1959) haben ihre Daten aus der „Cambridge Somerville Youth Study" genommen, und zwar wurden zwischen 1937 und 1939 650 Kinder aus stark kriminalitätsgefährdeten Großstadtbezirken in Massachusetts ausgewählt für ein umfangreiches Therapieprogramm. Das Ehepaar McCord hat 1955, also 16 Jahre nach Beginn und 10 Jahre nach Beendigung des Experiments, die Probanden untersucht, und zwar die Gerichtsberichte der Jungen, von denen noch 90 °/o im selben Staat lebten. Bei etwa 40 °/o aller Jungen lagen Verurteilungen vor. Die McCords fanden heraus, daß eine lasche oder eine erratische, d. h. eine schwankend-unsichere Erziehungshaltung, eine starke Beziehung zu hoher Kriminalität hatte. Konsistenz, also Beständigkeit in der Erziehung, erwies sich als kriminalitätsdämpfend, und zwar sowohl für liebeorientierte als auch für straffreudige Haltungen. Eine erratische Erziehungseinstellung, die zwischen Laschheit und
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Straffreudigkeit hin und her schwankt, hatte die allerschädlichsten Auswirkungen auf die Kinder. Schädliche Folgen ergeben sich auch aus einem mangelnden Familienzusammenhalt. Die Väter, die ihre Kinder vernachlässigten, hatten einen schlimmen Einfluß. Sie lehnten ihre Söhne ab, und das führte zu einer Frustration der emotionalen Grundbedürfnisse. Die mütterliche Ablehnung ist noch kriminogener als die väterliche. Die McCords kommen schließlich zu folgendem Resümee: Elterliche Pflichtvergessenheit, streitsüchtig-vernachlässigende Familienatmosphäre und erratisch-punitive Erziehungshaltung stehen herausragend im Hintergrund fast aller Verbrechensarten. Eine weitere wichtige jugendkriminologische Studie haben Sbeldon und Eleanor Glueck (1950) durchgeführt. In ihrer empirischen Arbeit haben sie 500 rückfällige Jugendliche und eine Kontrollgruppe von 500 nichtdelinquenten sehr intensiv untersucht. Sie haben 8 Jahre lang Daten aufgenommen. Dabei hatten sie einen Mitarbeiterstab von 35 Personen: Sozialarbeiter, Psychologen, Pädagogen. Es wurden Aktendaten gesammelt, Familieninterviews ausgeführt, Schulberichte angefordert, Intelligenztests gemacht, Rorschach-Protokolle angefertigt und psychiatrische Explorationen durchgeführt. Sie kommen auch hier wieder sehr stark zur Familienpathologie, also zu dem, was sie „under-the-roof-culture" nennen. Sie fanden bei ihrer delinquenten Experimentalgruppe folgende statistisch-signifikante Faktoren: Trunksucht, Kriminalität der Eltern, Abhängigkeit der Familie von Fürsorgeerziehung, Streit und Unverträglichkeit in der Familie, mangelnde Beaufsichtigung durch die Mutter, keine gemeinsam verbrachte Familienfreizeit und Mangel an Familienzusammenhalt. Bei der delinquenten Gruppe ist die Einstellung der Eltern gegenüber ihren Jungen entweder feindselig oder gleichgültig oder auch übermäßig besorgt, während sie bei der nichtdelinquenten Gruppe warm und herzlich ist. Es kommt also den Gluecks wesentlich auf die emotionale Atmosphäre innerhalb der Familiengruppe an. Eine weitere Untersuchung von F. Ivan Nye (1958) hat - während die Gluecks sich an den institutionalisierten Delinquenten orientierten, also an denen, die sich in Jugendstrafanstalten befanden - eine andere Forschungsmethode angewandt, und
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zwar die anonyme Fragebogenmethode. Nye hat in drei Mittelstädten im Staat Washington, also im Westen der USA, 2350 Schüler im Alter von 15 bis 18 Jahren befragt. Er gab Fragebogen aus, in denen er nach Kriminalität fragte. Er hat versucht, die „undetected, hidden criminality", also das, was wir Dunkelfeld nennen, aufzuklären. Er bildete dann Kontrollgruppen zwischen denen, die Kriminalität einräumten, und denen, die keine Kriminalität angaben. Dasselbe machte er bei 250 Jungen und 265 Mädchen im Alter von 15 bis 18 Jahren in „High Schools" dreier Kleinstädte im mittleren Westen. Er fand nun ebenfalls eine Familienpathologie heraus, aber auch eine mangelnde soziale Kontrolle innerhalb der Familie. Auch hier werden wieder Ablehnung der Eltern, Parteilichkeit bei der Bestrafung, zu strenge Strafen, aber jetzt auch Gewährung von zu viel, aber auch zu wenig Freiheit und - als ein Faktor, der zur Kriminalität beiträgt - der Besitz eines Autos bedeutsam. Dagegen wirken das Zugestehen von Verantwortlichkeit, die Beteiligung an Entscheidungen, die Demokratisierung des Familienlebens und das Verbringen von Erholung und Freizeit zu Hause (Ballspiele und Ausflüge mit den Eltern als Beispiele) kriminalitätshemmend oder sogar -verhindernd. Kriminogen, also kriminalitätsentstehend, sind Launenhaftigkeit und Nervosität der Eltern, Nichtübereinstimmung in der Anerkennung von Werten und Zurverfügungstellen von zu viel Taschengeld. Dagegen wirkt wieder kriminalitätshemmend ein Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kindern und das Ratsuchen und Ratannehmen von den Eltern bei Partner- und Berufswahl. Als Hauptergebnis dieser Untersuchung kann gelten: Eine positive Identifikation mit den Eltern durch das Kind, also eine sogenannte indirekte Kontrolle, korreliert mit niedriger Delinquenz. Die Korrelation zwischen direkter, unmittelbarer Kontrolle und delinquentem Verhalten hat eine U-Form. Das heißt: Delinquentes Verhalten ist am niedrigsten, wenn die direkte Kontrolle gemäßigt ist, also die mittlere Linie ansteuert, und d. h. weiter, daß nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig Freiheit gewährt werden darf. In einer empirisch-jugendkriminologischen Studie haben John Janeway Conger und Wilbur C. Miller (1966) die Frage zu
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beantworten versucht, ob die Persönlichkeitszüge einer delinquenten Stichprobe verglichen mit einer Kontrollgruppe vom Kindergartenalter bis zum Ende des 15. Lebensjahres statistisch signifikant mit Delinquenz korrelieren. Diese Studie sieht die Delinquenzentwicklung also vorwiegend von der Täter- und nicht von der Reaktionsseite her. Die Population bestand aus allen Jungen (2348), die sich im Jahre 1956 in den öffentlichen Schulen von Denver/Colorado befanden und 16 Jahre alt waren. Aus dieser Population wurden 184 delinquente Jungen ermittelt, die mit 184 nichtdelinquenten Jungen verglichen wurden. Insgesamt wurden also 368 Jungen untersucht. Der Studie wurden Jugendgerichtsakten bis zum 18. Lebensjahr, Schulakten, Unterlagen über Wohnbedingungen in Denver vom Jahre 1950 und eine breite Batterie von psychologischen Tests zugrunde gelegt. Die höchste Delinquenzrate wiesen die ^ j ä h rigen aus, ihnen folgten die 14jährigen. An Delikten kamen folgende zumeist vor: Unbefugter Gebrauch von Kraftwagen (71), Unerziehbarkeit (64), Einbruch (56) und Diebstahl (47). Die Experimental- und Kontrollgruppe wurden nach folgenden Kriterien zusammengestellt: Alter, sozioökonomischer Status, Intelligenzquotient, Schulverhältnisse und ethnische Zugehörigkeit. Der Aufnahmebogen für die Schulakten wurde nach einer Inhaltsanalyse von 50 zufällig ausgewählten Schulakten ausgearbeitet. Dem Lehrerurteil wurde in dieser empirischen Untersuchung also wesentliche Bedeutung beigemessen. Diese Längsschnittuntersuchung brachte folgende Ergebnisse: Im Kindergartenalter bis zu 9 Jahren sind zukünftige Delinquenten schon schlechter angepaßt als ihre Klassenkameraden. Sie mißachten mehr die Rechte und Gefühle ihrer gleichaltrigen Kameraden, sind sich der Notwendigkeit der Übernahme von Verantwortlichkeit weniger bewußt, und zwar sowohl als Individuen wie in ihrer Gruppe. Sie haben eine mangelhaftere Einstellung zur Autorität. Als Gruppe zeigten die zukünftigen Delinquenten ein weniger annehmbares Sozialverhalten, größere Erziehungsschwierigkeiten und ein höheres Vorkommen von emotionalen Störungen. Zwischen 9 und 11 Jahren änderte sich dieses Persönlichkeitsbild nur unwesentlich. Die zukünftigen Delinquenten benahmen sich aggressiv und wurden von 9
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ihren gleichaltrigen Kameraden weniger gemocht und akzeptiert. Sie ließen mehr Erziehungswiderstände erkennen: Tagträumen, schlechte Aufmerksamkeit und mangelnde Durchhaltefähigkeit. Wenn sie belastet wurden, gaben sie schneller auf. Zwischen 13 und 15 Jahren waren die delinquenten Jugendlichen unglücklicher, unfreundlicher und humorloser. Sie zeigten weniger Führerqualitäten und hatten größere Kontakthindernisse mit ihren Kameraden und mit Mädchen zu überwinden. Sie vernachlässigten ihr eigenes äußeres Erscheinungsbild, ihre Gesundheit und Sicherheit. Ein größerer Prozentsatz von Delinquenten kam aus sozioökonomisch ärmeren Schichten und aus ethnischen Minderheitsgruppen. Dagegen scheint niedrigere Intelligenz - für sich selbst betrachtet - nicht stark mit Delinquenz zu korrelieren. Conger und Miller unterscheiden drei Delinquententypen: der integrierte delinquente Jugendliche, der aus den unteren Schichten und aus einem Gebiet mit hoher delinquenter Belastung kommt, der neurotische Typ mit schwachem Ego aus den Mittelschichten, und der Delinquente schließlich mit einem defekten Uber-Ich, der in einer instabilen Familie aufgewachsen und emotional nicht „normal" ist. Dieser Delinquententyp hat ein schwach ausgebildetes Gewissen und zeigt keine Schuldgefühle wegen seines delinquenten Verhaltens. Hier zeigt sich, daß eine psychoanalytische Orientierung den Entwicklungsprozeß zum jugendlichen Straftäter nur unvollkommen darzustellen vermag, weil sie die Ursprünge für Jugenddelinquenz in individueller Pathologie sieht. In der Zeit von Juni 1959 bis August 1962 haben James F. Short und Fred L. Strodtbeck (1965) durch „Detached workers" des ..Christlichen Vereins junger Männer" 16 Banden in der Größenordnung zwischen 16 und 68 Mitgliedern, insgesamt 598 Jungen, in Chikago beobachten lassen. 11 Banden mit 4 6 4 Mitgliedern waren Negerbanden, 5 Banden mit 134 Mitgliedern Banden von Weißen. Zusätzliche Daten wurden noch von 12 Negerbanden mit 504 Mitgliedern und 10 weißen Banden mit 191 Mitgliedern gesammelt. Als Kontrollgruppen zu diesen Experimentalgruppen wurden 165 Negerjungen von 14 Gruppen und 117 weiße Jungen von 4 Jugendclubs und
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Jugendämtern befragt. Banden von Jungen der Mittelschichten konnten von Short und Strodtbeck nicht ermittelt werden. Als Methode der empirisch-jugendkriminologischen Studie wurde vor allem die Feldbeobachtung durch „Detached workers" benutzt. Sexualität wird in der „Street-Corner-Society" hoch eingeschätzt. Bei Jungen spricht sie für Männlichkeit, Kampfgeist und sportliche Gesinnung. Für Mädchen verleiht der geschickte Einsatz ihrer Sexualität Prestige, weil sie ein Weg ist, mit der physischen Kraft einer männlichen, vorherrschenden Gesellschaftsgruppe in Wettbewerb zu treten. Die Neger „StreetCorner-Society" sieht einen hohen Grad von sexueller Stimulation vor. Die Neger-Erwachsenenkultur ist schlecht organisiert. Eine solche schlechte Organisation hat ihre negativen Wirkungen auch auf die Kontrolle der Jugendlichen. Hervorstechend ist die Unstetigkeit bei den Einstellungen innerhalb der Familie. Alle Jungen aller Schichten beurteilen die Mittelschichtenwerte gleich hoch. Jugendliche Bandenmitglieder schätzen gesetzwidrige Leitbilder allerdings höher ein als jugendliche Nichtbandenmitglieder. Ebenso bewerten Jungen aus Banden oder niedrigen sozialen Schichten ungesetzliche Erscheinungsformen höher als Jungen aus Mittelschichten. Bei Jungen aus der Negerbevölkerung ist die Verteidigungshaltung gegenüber der niedrigen rassischen Selbsteinschätzung sehr groß. Die heutige Jugendbande ist keine eng zusammengehörige Einheit mehr. Keine der untersuchten Banden kann eigentlich als „kriminelle Subkultur" oder als Katalysator für eine solche Subkultur angesehen werden. Weiße „Street-Corner-Groups" ohne erkennbare kriminelle Spezialisierung entwickeln freilich gelegentlich „kriminelle Cliquen". Es mag vielleicht so etwas ähnliches wie eine „kriminelle Subkultur" geben, aber jedenfalls nicht so „rein" und viel komplexer, als es sich die verschiedenen Subkulturtheorien vorstellen. Weiße jugendliche Bandenmitglieder protestieren mit ihrer delinquenten Aktivität viel mehr gegen die konventionellen Familienpflichten als Negerjungen. Dagegen werden die Negerjungen in ihren Familien nicht genügend für ihre Rolle in der Schule vorbereitet. Das Schulversagen, das eine mangelhafte Beziehung zur Autorität symbolisiert, setzt sich später im Beruf und bei jeder neuen und frem9*
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den Situation fort. Das Leben in einer Jugendbande ist zudem nicht förderlich für Pünktlichkeit, Verläßlichkeit, Disziplin und Beständigkeit im Beruf, so daß die Bandenmitglieder den Erfordernissen der modernen Industrie nicht gerecht zu werden vermögen. Die empirisch-jugendkriminologischen Stichprobenuntersuchungen aus der DDR (Harry Dettenborn, Hans H. Fröhlich 1971) hatten folgende Ergebnisse: Die jugendlichen Straftäter sind gekennzeichnet durch mangelndes Interesse an politischen Problemen, durch schlechte Beurteilung durch ihre Ausbilder, Lehrer und Kollegen, durch ein unkritisch gehobenes Selbstgefühl (gesteigerten Selbstbehauptungsdrang, Rechthaberei, Aggressivität, Brutalität und Geltungsdrang) oder ein erschüttertes Selbstwerterleben (herabgesetzte soziale Kontakt- und Bindungsfähigkeit), durch negative Leistungshaltung (schulisches Versagen, Lehrabbruch), durch Statusunzufriedenheit und durch Fehleinstellung gegenüber strafbaren Handlungen und gegenüber der eigenen Straftat. Je mangelhafter das familiäre Milieu in der Kindheit ist, um so negativer ist die Einstellung zum Elternhaus im Jugendalter. Elternhausablehnung, die bei delinquenten Jugendlichen signifikant häufiger vorkommt, korreliert ebenfalls signifikant mit permanenter deutlicher Mangelerziehung und der Zerrüttung, Trennung oder Scheidung der elterlichen Ehe. Bei den Rückfalltätern verkürzen sich die Rückfallintervalle mit der Rückfallhäufigkeit. Polnische Jugendkriminologen (Izabella Tuhan Mirza-Baranowska u. a. 1971) haben eine Stichprobenuntersuchung an 1320 jugendlichen Straftätern in Warschau durchgeführt, die sie mit einem Fragebogen mit 240 Fragen untersucht haben. Sie wollten den Prozeß der sozialen Abweichung aufweisen. Sie haben gefunden, daß gestörte Sozialbeziehungen zwischen Individuen und sozialen Gruppen, also gestörte Sozialbeziehungen in Familie, Schule, in der Freizeit- und Berufsgruppe, für die Entstehung von Jugendkriminalität verantwortlich sind. Sie haben in vielen Fällen ein abnormes Familienmilieu und schlechte Schulbedingungen festgestellt. Es besteht eine Kausalität zwischen Jugendkriminalität und niedriger Berufsqualifikation der Eltern. Die Eltern waren meist ungelernte Arbeiter.
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Es ist eine weitere unmittelbare Kausalität zwischen Jugendkriminalität und niedrigem Familieneinkommen vorhanden. Die kriminellen Jugendlichen versagten in der Schule nicht aufgrund niedriger Intelligenz, sondern aufgrund schlechter sozialer Anpassung. 86 °/o von ihnen waren arbeitslos; 33,3 °/o begingen ihre Delikte allein, 69,7 °/o in Banden. Die Ergebnisse von 25 Stichprobenuntersuchungen über die Entstehung der Jugendkriminalität aus allen Teilen der Sowjetunion sind neuerlich zusammenfassend veröffentlicht worden (Allunions-Institut 1970). Als Methoden wurden angewandt: standardisierte Interviews mit Lügenfragen, anonyme Fragebogen, Meinungsumfragen bei Eltern und Klassenlehrern, Analysen autobiographischer Aufsätze, individuelle und Gruppengespräche mit jugendlichen Delinquenten. Schließlich wurden die Personalakten der Verurteilten für die Studien herangezogen. Alle Untersuchungsergebnisse durchzieht ein „moralischer Rigorismus". Der Einfluß des Alkohols auf die Entstehung der Jugendkriminalität wird besonders hervorgehoben. Häufiges Fernsehen, Kartenspielen, Rauchen, Prügeleien, der Einfluß von Narkotika, das Tragen von Messern und Schlagringen und zu spätes Nachhausekommen nach 11 oder 12 Uhr in der Nacht werden für die Entstehung der Jugendkriminalität verantwortlich gemacht. Die jugendlichen Delinquenten machen für die Schule keine Hausaufgaben. Sie geben sich einem konsumhaften Zeitvertreib hin mit Glücksspielen und dem Tragen extravaganter Moden. Der niedrige Bildungsstand der Eltern von delinquenten Jugendlichen wird betont. Die delinquenten Jugendlichen verhalten sich dem Eigentum ihrer Mitschüler gegenüber negativ. Sie verlassen vorzeitig die Schule. Mit Geld gehen sie fahrlässig um. Sie sind an geistiger oder körperlicher Arbeit desinteressiert. Sie zeigen Leistungsschwäche. Im Unterricht sind sie unaufmerkam und unkonzentriert. Sie haben kein Interesse an Büchern, am Theater und an der Kunst, dagegen ist ihr Interesse an Film und Sport sehr groß. 40 % von ihnen bleiben sitzen; 53 %> führen sich schlecht auf. 74 % brechen die Lehre ab. 5 2 °/o erhöhen ihre Qualifikation nicht. 71 °/o lernen schlecht, 85 % fehlen sehr häufig in der Schule. Die entsprechenden Zahlen für die nichtdelinquente Kontroll-
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gruppe lauten: 10°/o schlechtes Lernen und 1 4 % häufiges Fehlen in der Schule. Einer geregelten Arbeit gingen in der delinquenten Experimentalgruppe nur 55 °/'o, in der Kontrollgruppe demgegenüber 88 °/o nach. Bei 88 °/o der jugendlichen Rechtsbrecher hatten die Eltern nur Grundausbildung oder waren Analphabeten. 70 °/o lebten in funktional desorganisierten Verhältnissen. Die delinquenten Jugendlichen stellen hohe Anforderungen an ihre Kleidung und an materielle Dinge. Sie finden das Leben in der Familie monoton. Deshalb halten sie sich ungern zu Hause auf. Der Prozeß mangelnder Kontrolle beginnt mit dem Unvermögen der Eltern, die Kinder zu erziehen. Die delinquenten Jugendlichen werden abgelehnt, verwöhnt oder inkonsistent erzogen. Zunächst begehen sie geringfügige Diebstähle unter dem Einfluß kindlicher Motive. Sie stehlen Süßigkeiten, kleine Geldbeträge, Sportausrüstungen oder seltene Wein- und Tabakerzeugnisse. Ihr Hauptmotiv ist Prahlerei und Zurschaustellen von Männlichkeit innerhalb der Gleichaltrigen-Gruppe. Aufgrund von Krankheit, häufigen Fehlens oder schlechter Lebensbedingungen versagen sie in der Schule. Die Reaktion der Umwelt besteht in Unverständnis. Deshalb fallen die delinquenten Jugendlichen aus der Gemeinschaft heraus. Es kommt zu einem Vertrauensschwund. Einsamkeit, Enttäuschung, mangelndes Selbstvertrauen und verringertes Selbstbewußtsein sind die Folge. Die Gleichgültigkeit der Eltern und Lehrer wird als Ungerechtigkeit empfunden und führt zu Protest und Ablehnung. Die delinquenten Jugendlichen entfremden sich vom Kollektiv und finden keinen Platz in der Familie und Schulgemeinschaft mehr. Die jugendlichen Rechtsbrecher begehen in der Sowjetunion Diebstähle gleicherweise in der Stadt wie auf dem Land. Dagegen sind Plünderung und Raub in der Stadt weiter verbreitet als auf dem Land. 78 % minderjähriger Straftäter begehen Verbrechen in Banden in der Stadt, 70 °/o auf dem Land. Der Alkoholeinfluß bei der Verbrechensbegehung beträgt in der Stadt 67 % , auf dem Land 64 °/o. Die Jungen unter den delinquenten Jugendlichen machen 94 °/o, die Mädchen 6 °/o aus. Das ist im Hinblick auf die angeblich emanzipatorische Erziehung in der Sowjetunion erstaunlich. 42°/o der delinquenten Jugendlichen waren wegen vorher-
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gehender Verbrechen straffrei geblieben. Hier zeigt sich der hohe Prozentsatz des Dunkelfeldes, das auch in der Sowjetunion vorhanden ist. Alle dargestellten empirisch-jugendkriminologischen Studien aus Ost und West machen die Mitverursachungslast der sozialen Gruppen (Familie, Schule, Berufs- und Freizeitgruppe) deutlich. Das Schaubild 15 vermittelt einen zusammenfassenden Überblick über die unterschiedlichen Faktoren, die mit Jugendkriminalität verbunden sind. Diese Zusammenfassung stellt wieder sehr stark auf die individuelle Pathologie des jugendlichen Rechtsbrechers ab. Die Prozeßhaftigkeit des Geschehens kommt hier — wie in vielen der dargestellten empirisch-jugendkriminologischen Untersuchungen aus Ost und West - nur ansatzweise in den Blick. Die individuelle Pathologie ist ein vorläufiges Zwischenprodukt, das im Interaktionsprozeß zwischen dem Verhalten des delinquenten Jugendlichen, der sozialen Reaktion auf dieses Benehmen und der Reaktion des delinquenten Jugendlichen auf diese Reaktion entstanden ist. Bei der Verantwortlichkeit der sozialen Gruppen werden zu wenig die Druckphänomene berücksichtigt, die im gesamtgesellschaftlichen Prozeß auf diesen sozialen Gruppen lasten. 2. Die Lehre vom Opfer „Eine der am meisten vernachlässigten Personen bei der Erforschung des Verbrechens ist das O p f e r . . . Sowohl die Rolle, die es bei der Entstehung der Straftat spielen kann, wie auch der Beitrag, den es bei der Vorbeugung gegen den Rechtsbruch zu leisten imstande ist, werden oft übersehen. Wenn mit ausreichender Genauigkeit bestimmt werden könnte, daß Menschen mit bestimmten Merkmalen öfter Opfer von Verbrechen werden und daß Rechtsbrüche sich an einigen Orten zahlreicher ereignen als an anderen, könnten die Bemühungen um die Verhütung und Kontrolle des Verbrechens produktiver gestaltet werden. Dann könnte der Öffentlichkeit gesagt werden, wann und wo das Risiko des Verbrechens am größten ist." So heißt es in einer amtlichen Verlautbarung, die eine Regierungskommission für den Präsidenten der USA erarbeitet hat (President's Commission 1967 a, S. 38). Dieselbe Kommission hat 3 empi-
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Schaubild 15: Faktoren, die mit Jugendkriminalität verbunden sind*) 1. Schlechte Familienabstammung: Schwachsinn, Geisteskrankheit, Epilepsie.
Vererbung
2. Niedrige Intelligenz: durchschnittlicher IQ in den delinquenten Gruppen von 85 bis 90. Aber ungefähr zwei Drittel aller Delinquenten haben eine normale oder übernormalß Intelligenz. 3. Besondere 1_e9eschwierigkeiten und allgemein langsamerer Erfolg in der Schule. k. Ungewöhnliche Vitalität, Triebhaftigkeit, Energie, die sich in Unruhe, Überaktivität und Aggressivität auswirkt. 5. Armut und schlechte Wohnbedingungen zu Hause. 6. Kriminalität der Eltern und Geschwister. 7. Unvollständige Fsmilie infolge Tod, Trennung, Scheidung, Verlassen oder Gefängnisaufenthalt.
Elternhaus
6. Mangel an emotionaler Sicherheit, hoher Grad an Spannung zu Hause, mangelnde emotionale Stabilität bei den Eltern. 9. Fehlende angemessene und gleichmäßige Disziplin. 10. Zurückweisung des Kindes durch die Eltern, Vernachlässigung des Kindes, fehlendes Interesse an seinem Verhalten. 11. Schlechte Arbeitsgewohnheiten in der Schule, ein- oder mehrmaliges Zurückbleiben.
Schule
12. Unbeliebtheit in der Schule. 13. Schulschwänzen (mehr oder weniger). 1t». Ablehnung durch einige Lehrer. 15. Vorhandensein von vielen kriminellen Vorbildern in der Nachbarschaft.
Nachbarschaft
16. Fehlen einer angemessenen Überwachung und eines adäquaten Schutzes. 17. Mangelndes Betätigungsfeld. 18. Niedrigen und konflikthaften Erwachsenennarmen Ausgesetztsein. 19. Minderheitenkonflikten Preisgegebensein. 20. Gefühle der Minderwertigkeit, Unsicherheit und de9 Zurückgewiesenseins. 21. Beständige Frustration und Entwicklung einer tiefen Feindseligkeit. 22. Emotionale Unreife.
Sich aus vorstehenden Faktoren ergebende Persönlichkeitszüge
23. Aggressionstriebe gegen die Eltern, die Schule und die Gesellschaft. 2k. Identifikation mit kriminellen Vorbildern. 25. Emotionale Zufriedenheit wird in antisozialen Gruppen erlangt. 2G. Sterke Impulse, die durch das Bewußtsein nicht gehemmt werden.
*) Aus L. Cole, I.N. Hall: Psychology of adnlescence. 6. Aufl. Neu York 1966, S. « 8 .
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risch-kriminologische Feldstudien über das Ausmaß des Dunkelfeldes durchführen lassen. In einer ihrer Feldstudien wurden 10 000 repräsentative Haushalte nach ihren Erfahrungen mit dem Verbrechen und nach den Umständen befragt, ob sie die Delikte der Polizei gemeldet und in welcher Weise ihre Erfahrungen mit dem Verbrechen ihre Lebensweise beeinträchtigt hätten (Philip H. Ennis 1967). Es ist eines der bedeutsamsten Ergebnisse der Studie, daß wesentlich mehr Delikte begangen werden, als der Polizei bekannt sind. Es kann auch ganz allgemein gesagt werden, daß die Mehrheit der Opfer aus den unteren sozialen Schichten stammt (vgl. Tabelle 3). Das gilt übrigens nicht nur für die USA, sondern auch für England (F. H. McClintock 1963, S. 45), für Brasilien (J. Homero E. Yearwood 1972) und nicht zuletzt für die Bundesrepublik (Innenminister des Landes Schleswig-Holstein [Hrsg.] 1972, S. 55). Tabelle 3: Opfer nach Einkommenschichten in den USA (Zahlen auf 100 000 Einwohner) Einkommen Delikte
0 bis 2999 USDollar
3000 bis 5999 USDollar
Delikte insgesamt
2369
2331
1820
2237
Notzucht Raub Schwere Körperverletzung Einbruchdiebstahl Diebstahl (über 5 0 USDollar) Autodiebstahl
76 172 229 1319 420 153
49 121 316 1020 619 206
10 48 144 867 549 202
17 34 252 790 925 219
Anzahl der Befragten
5232
8238
10382
5946
6000 bis 9999 USDollar
Uber 10 000 USDollar
Quelle: President's Commission on Law Enforcement and Administration of Justice (Hrsg.): The challenge of crime in a free society, Washington D. C. 1967, S. 38.
Warum ist die Gesellschaft am Kriminellen interessiert? - Weil er gefährlich ist. Warum zeigt sich die Gesellschaft am Opfer desinteressiert? - Weil es passiv und gefahrlos für sie zu sein scheint. Nach der allgemeinen populären Auffassung des „ge-
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sunden Menschenverstandes" sind Verbrecher und Opfer polar entgegengesetzte Begriffe, etwa wie schwarz und weiß. Der „gesunde Menschenverstand" hat eine starke Abneigung gegen jegliche Auffassung, die nicht scharf und eindeutig unterscheidet zwischen Verbrecher und Nicht-Verbrecher. Die Strafrechtsdogmatik unterstützt diese Tendenz. Bei jeder Straftat gibt es zwangsläufig einen schuldigen Täter und ein unschuldiges Opfer. Das Strafrecht zweigt aus der Spannung und der Beziehung zweier Menschen, die lange angedauert haben mögen, den letzten isolierten Vorgang ab, der sich mit dem Straftatbestand deckt. Das nächstgelegene Fragment aus einer langen Kette des Geschehens wird zum Gegenstand der Entscheidung. Wie das Strafgesetz, so malen auch die Regeln des Strafverfahrens schwarz in weiß. Der Angeklagte, der lügen darf und dem man grundsätzlich auch nicht glaubt, sitzt auf der Anklagebank. Er wird überführt durch den Zeugen, oft das Opfer, das nicht lügen darf und dem man in aller Regel Glauben schenkt. Auf diese Weise werden sowohl im Strafrecht wie im Strafverfahren Täter und Opfer zwei voneinander getrennte statisch-mechanische Begriffe, mit denen sich arbeiten läßt, die aber die kriminelle Wirklichkeit nicht widerspiegeln. Die Begehung eines Verbrechens ist kein isolierter Vorgang, sondern der Höhepunkt eines Prozesses, in dem viele Faktoren am Werke waren. Das Opfer ist kein einfaches unbewegliches Objekt, sondern ein aktives Element in der Dynamik des Rechtsbruchs. Da der Mensch in zahlreichen sich wandelnden Beziehungen lebt, ist auch gerade die wirklichkeitsnahe Betrachtung der TäterOpfer-Beziehung für die Strafrechtsfindung von entscheidender Bedeutung. Die Persönlichkeit des Täters muß von der Persönlichkeit des Opfers her gesehen und aus der Täter-Opfer-Beziehung heraus beurteilt werden. Dem Verständnis des Prozesses des Opferwerdens hat allerdings nicht die im Jahre 1920 erschienene Novelle von Franz Werfel Rechnung getragen, die er mit einem albanischen Sprichwort überschrieben hat: „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig." Das Werk, das einen Vatermord zum Gegenstand hat, mag vom Autor her stark subjektiv empfunden sein. Nicht nur wegen seines inhaltlich verfehlten Titels, der auch wieder die Tatsachen schief sieht,
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sondern wegen seines phantastisch übersteigerten einseitigen Inhalts ist die Novelle in der Bevölkerung abgelehnt und eher als Provokation empfunden worden, die einer fruchtbaren viktimologischen Betrachtung geschadet hat. Womit beschäftigt sich die Viktimologie? Sie untersucht die Persönlichkeit des Opfers, insbesondere seine Einstellung zu T a t und Täter, und die Täter-Opfer-Beziehung. Sie erforscht Umfang und Art der Beteiligung des Opfers an der Straftat. Sie versucht insbesondere die Frage zu beantworten, welche Rolle das Opfer bei der Verbrechensentstehung gespielt hat. Schließlich wirft sie das Problem des Beitrags des Täters bei der Wiedergutmachung des dem Opfer durch die Straftat entstandenen Schadens auf. - Wie wurde das Opfer in der deutschen Rechtsgeschichte behandelt? In der germanischen Frühzeit galt ihm und seiner Sippe vor allem der Strafrechtsschutz. Es erhielt Wiedergutmachung oder - im Falle seiner Tötung - seine Sippe. Sobald die Abwendung von Gottes Zorn im Mittelalter oder der Schutz des Staates und der Gesellschaft in der Neuzeit vorrangige Bedeutung im Strafrecht erhielten, wurde das unglückliche Opfer ignoriert und regelmäßig auf den Privatrechtsweg verwiesen, was insofern nicht sehr aussichtsreich war, als der Täter in der Regel keinerlei Mittel besaß. Die Opfer-TäterBeziehung wurde strikt getrennt in die aktive Rolle des Täters und die passive Rolle des erleidenden Opfers. Der Täter war allein verantwortlich für seine Tat, das Opfer war nur die verletzte Person. Obgleich der Staat im Strafverfahren formell an die Sicherheit und Integrität des Opfers anknüpft, betrachtet er die Strafe als seine eigene Angelegenheit. Die gesamte Schuld wird regelmäßig auf den Täter geschoben, ohne den dynamischen Aspekt des Verbrechens von jeder Seite her in Betracht zu ziehen und ohne das mitverursachende Verhalten durch das Opfer maßgeblich mit zu berücksichtigen, das die ganze Entwicklung zum Verbrechen hin stark beeinflußt haben kann. Wegbereiter der modernen Viktimologie waren der deutsche Kriminologe Hans von Hentig (1962) und der israelische Jurist Mendelsohn (1963). In der Kölner Zeitung vom 4. September 1934 hat von Hentig erstmalig auf die Bedeutung der Viktimologie hingewiesen. Mendelsohn hat 1947 in Bukarest einen
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Vortrag über Viktimologie gehalten. Sein bedeutsames Buch über „Den Verbrecher und sein Opfer" publizierte 1948 in Yale Hans von Hentig, der während der nationalsozialistischen Zeit in die USA emigriert war und dort Kriminologie lehrte. Sowohl Mendelsohn wie von Hentig haben Opfertypologien entwickelt, die die Diskussion zunächst weitergebracht haben. Mendelsohn (1956) unterschied drei Opfergruppen: das unschuldige oder ideale Opfer in der ersten Gruppe; das provozierende, das unvorsichtige, das freiwillige und das unwissende Opfer in der 2. Gruppe und schließlich das aggressive, das heuchlerische, das eingebildete und das vermeintliche Opfer in der 3. Gruppe. Vier verschiedene psychologische Opfertypen fand (1963) Hans von Hentig heraus: das Opfer, das die Verletzung wünscht, in einigen Fällen sogar lustvoll sucht; das Opfer, für das das Unrecht und der Schaden ein Preis sind für einen noch größeren Gewinn; das Opfer, das das schädliche1 Ereignis teilweise durch seine eigene einverständliche Bemühung mit hervorbringt und schließlich das Opfer, das die Tat provoziert und zur Tat anstiftet. Er skizzierte ferner folgende Opfereinstellungen: apathisch und lethargisch, passiv-unterwürfig und stillschweigend-duldend, kooperativ und zur Tat beitragend, provokativ und zur Tat anstiftend. Die Öffentlichkeit ist stets Opfer des Verbrechens: entweder unmittelbar z. B. durch Hoch- und Landesverrat oder mittelbar durch die Ausgaben für die Polizei, die Gerichte und den Strafvollzug. Die Sichtbarkeit des Opfers und die Identifikationsmöglichkeit mit Täter oder Opfer sind indessen nach den Deliktsarten höchst unterschiedlich. Die Anonymität des Opfers ist geradezu charakteristisch für die weit verbreiteten Wirtschaftsdelikte. Obwohl wir alle in viel höherem Maße Opfer von Wirtschafts- und Verkehrsdelikten als von klassischen Straftaten (Mord, Raub, Diebstahl) werden können, wird uns aus historischer Sicht und unter der Beeinflussung der Massenmedien die Opferidentifizierung bei klassischen Delikten leichter gemacht als bei Wirtschafts- und Verkehrsdelikten, die dem modernen Steuerzahler oder Autofahrer auch von der Täterseite her näherstehen. Mit dem Erscheinungswandel der politischen Kriminalität aus den Taten gegen einzelne bestimmte
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Opfer in Delikte gegen viele unbestimmte Opfer, ist eine Opferidentifizierung der Öffentlichkeit und damit eine Täterstigmatisierung zunehmend schwieriger geworden. Denn es ist in unserer Gesellschaft die paradoxe Erscheinung zu beobachten: Je mehr wir alle in Gefahr sind, durch eine Straftat Opfer zu werden, desto weniger vermögen wir uns gerade mit dem Opfer dieser Straftat zu identifizieren. Taten mit einzelnen bestimmten Opfern sind eben für unser Bewußtsein plastischer, prägnanter und konkreter. Im Anschluß an die Pionierarbeiten von Mendelsohn und von Hentig wurden nach dem Zweiten Weltkrieg im wesentlichen in Nordamerika, Japan, in der Schweiz und der Bundesrepublik viktimologische Untersuchungen zur kriminellen Tötung, zum Raubmord, zur Notzucht, Unzucht mit Kindern, zum Betrug und zur Erpressung durchgeführt. Die besondere Schwierigkeit solcher viktimologischer Untersuchungen bestand darin, vom Opfer selbst zu erfahren, wie es Opfer wurde. Denn das Opfer hat - soweit es überhaupt noch am Leben ist - meist den verständlichen Wunsch, seinen Schaden baldmöglichst zu vergessen, besonders im Fall des Betruges und der Sittlichkeitsdelikte. Die modernen viktimologischen Untersuchungen, von denen im folgenden ein kurzer internationaler Überblick gegeben werden soll, gehen auf folgende Problemkreise ein: Kann die Persönlichkeit des Opfers zur Ursache des Verbrechens werden? Gleichen sich die Persönlichkeitszüge zwischen Täter und Opfer derartig, daß man gleichsam von einem Aufeinanderzugehen zweier Täter-Opfer, von einem Gehaltensein in einer Täter-Opfer-Beziehung, gleichsam von einem Sichgegenseitig-Ergänzen sprechen kann? Gibt es eine Opfereignung und eine Opferneigung? Kann man von einer OpferTäter-Abfolge in dem Sinne sprechen, daß z. B. Opfer von Gewaltdelikten später Gewalttäter werden? Ein solcher Nachahmungsmechanismus würde einen Schritt vom Opferschicksal bis zur Täterrolle bedeuten. Die Opferwerdung ist ein bahnendes oder zumindest unterstützendes Ereignis für das spätere kriminelle Verhalten. Terence P. Thornberry und Robert M. Figlio ( 1 9 7 2 ) haben bei ihren 5 6 7 Probanden festgestellt, daß 84,1 ®/o von ihnen vor der Begehung ihrer ersten Straftaten
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oftmals Opfer von Rechtsbrüchen geworden sind. Zwischen Täter und Opfer besteht bei vorwiegend emotional bedingten Delikten (Mord, Totschlag, Gewalt- und Abhängigkeitsunzucht, Notzucht und Unzucht mit Kindern) zumeist eine Täter-OpferBeziehung, während eine solche Beziehung bei vorwiegend rational verursachten Rechtsbrüchen (Raub, Betrug) weitgehend fehlt (Schaubild 16). Diese Schlußfolgerung kann aus deutschen kriminalstatistischen Erhebungen entnommen werden (InnenSchaubild 16: Anteil der Täter-Opfer-Beziehung an den aufgeklärten Fällen Fülle mit Opfer-
Qualle: P o l i z e i l i c h * K r i m i n a l « t o t i s t i k 1?71 fUr das Land S c h l e * v i g - H o l s t e i n . K i e l 1972, S . 58.
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minister des Landes Schleswig-Holstein [Hrsg.] 1972, S. 57, 65, 8 9 , 1 4 5 ; Pirmin Becker o. J., S. 1 0 , 1 1 , 1 3 , 14). Die kriminellen Tötungen in Philadelphia hat Marvin E. Wolfgang (1966) im Zeitraum von 5 Jahren untersucht. Es handelte sich um 588 Fälle mit 621 Tätern. Die kriminelle Tötung ist in Wirklichkeit ziemlich verschieden von den Morddarstellungen in der Literatur und in den Massenmedien. Getötet wird in der Regel plötzlich, brutal und ohne Umschweife. Die Waffen sind einfach. Bei 374 Fällen von 588 ( 6 4 % ) spielt der Alkohol in der Tötungssituation mit. Es ist bedeutsam, daß bei sieben Zehnteln dieser 374 Fälle sowohl Täter wie Opfer alkoholische Getränke zu sich genommen hatten. Von 621 Tätern hatten 4 0 0 ( 6 4 % ) Vorstrafen. Von 588 Opfern hatten 2 7 7 ( 4 7 % ) Vorstrafen. Das Opfer ist eine zum Getötetwerden neigende Person, d. h. jemand, der ständig in Situationen gebracht wird oder sich selbst in Situationen bringt, die gewaltsame physische Angriffe fördern. Folgende Kriterien enger Kontakte zwischen Täter und Opfer bilden 65 % der Täter-Opfer-Beziehungen: enge Freundschaft, Familienangehörigkeit, Liebschaft und homosexuelle Partnerschaft. Verhältnismäßig enge Freundschaft (28 % ) und Familienzugehörigkeit oder Verwandtschaft (25 % ) bilden die beiden häufigsten Beziehungen. Unter Frauen war die Familienbeziehung mit 5 2 % am weitesten verbreitet. Von den 588 Fällen waren 150 (26 % ) durch das Opfer hervorgerufen. In vielen Fällen hat das Opfer dieselben Persönlichkeitszüge wie der Täter. Man kann davon sprechen, daß in zahlreichen Fällen zwei potentielle Täter in einer Tötungssituation zusammenkommen und daß es nur dem Zufall überlassen ist, wer von beiden Täter oder Opfer wird. Die Studie von Wolf gang zur kriminellen Tötung in Philadelphia wurde in Houston/Texas und in Chikago wiederholt und in ihren Ergebnissen bestätigt. In Houston (Alex D. Pokorny 1965) wurden 438 Fälle mit 4 3 0 Tätern und 425 Opfern untersucht. Die kriminelle Tötung ereignet sich viel öfter zwischen Menschen, die eine enge persönliche Beziehung miteinander haben, als zwischen Fremden. Angreifer und Opfer wohnen meist eng beieinander. In 65 % der Fälle wohnten Täter und Opfer weniger als eine Meile weit voneinander entfernt im weit aus-
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gedehnten Stadtgebiet von Houston. In Chikago (Harwin L. Voss, John R. Hepburn 1968) wurden 459 Fälle krimineller Tötung mit 395 Opfern und 429 Tätern untersucht. Opfer, die von Familienmitgliedern oder engen Freunden erschlagen wurden, machten 47,4 % aller Opfer aus. Bei den weiblichen Opfern wurden sogar 96 % von Familienmitgliedern, engen Freunden oder Bekannten getötet. Von 311 Fällen krimineller Tötung des Chikagoer Materials sind 118 ( 3 7 , 9 % ) von den Opfern selbst verursacht worden. In Japan wurden 275 Verwandtenmorde untersucht (Koichi Miyazawa 1970). In 46 °/o war der Vater das Opfer. Er trug u. a. wegen einer aggressiven tyrannischen Persönlichkeit die Hauptschuld an seiner Tötung. Der älteste Sohn, der in den japanischen Familien eine ziemlich beherrschende Stellung einnimmt, geriet sehr oft ins Zentrum eines Familienkonfliktes und wurde getötet. Beim Geschwistermord waren in 60 °/o von 157 Fällen die Opfer für ihre Tötung verantwortlich. Stephen Schafer untersuchte (1968) die TäterOpfer-Beziehungen bei 721 Fällen von Gewaltdelikten in Florida. Die alten Frauen über 61 Jahre bilden die größte Gruppe der Opfer. 9 4 , 7 % der Mörder und Totschläger hatten den dringenden Wunsch, in irgendeiner Form zur Wiedergutmachung ihrer Tat beizutragen. 50 Fällen von Raubmord in Österreich mit 59 Tätern und 51 Opfern ging Ezzat Abdel Fattah (1971) von der Universität Montreal/Kanada nach. Er stellte drei Opfergruppen fest: In der ersten Gruppe befindet sich ein ganz bestimmtes Opfer. Es sind gerade seine Existenz und seine Anwesenheit, die beim Mörder die Idee zum Raubmord entstehen lassen. Eine zeitweise längere oder kürzere Phase, während der ein Tatplan ausgearbeitet wird, teilt die Verbrechensidee von ihrer Ausführung. Eine günstige Gelegenheit für die Tatausführung wird vom Täter ausgesucht. In der zweiten Gruppe ist ein ganz bestimmtes Opfer in einer speziell günstigen Situation für den Angriff vorhanden. Die Idee für das Verbrechen entsteht und die Wahl des Opfers wird inspiriert zur selben Zeit durch das Vorhandensein des Opfers in dieser günstigen Situation. Der Mörder führt das Verbrechen kurze Zeit, nachdem ihm die Idee dazu gekommen ist, aus, indem er die Gelegenheit und die
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Lage ausnutzt, in der er sich mit Rücksicht auf das Opfer befindet. Bei diesen beiden Typen von Fällen stellt das Opfer selbst eine bestimmte Ursache für das Verbrechen dar. In der dritten Gruppe hat der Täter zwar die Idee für das Verbrechen. Sie wird aber unabhängig von der Person des Opfers geboren. Der Raubmörder sucht ein Opfer, gegen das er seine Idee ausführen kann, und er sucht eine Gelegenheit, um den Raubmord zu begehen. Nur in 8 von 50 Fällen stellte Fattah keine TäterOpfer-Beziehung fest. In allen übrigen Fällen lagen persönliche, verwandtschaftliche, freundschaftliche, erotische, situative, bekanntschaftliche, nachbarschaftliche oder berufliche Beziehungen vor. Es konnte deshalb festgestellt werden, daß die Personen, die Raubmord begehen, nur in den seltensten Fällen Opfer aus Unbekannten auswählen, sondern daß sie vielmehr dahin tendieren, sie aus dem Kreis der Menschen auszusuchen, die sie kennen und mit denen sie mehr oder weniger enge Beziehungen unterhalten. Diese Opfer besitzen nun bestimmte Persönlichkeitszüge und Qualitäten, die sie für den Raubmord prädestinieren. Es handelt sich vor allem um alte Menschen, die in einem schlechten physischen Zustand sind und Geld oder Wertsachen bei sich haben. Der Alkohol spielt eine viktimogene (opfererzeugende) Rolle in mancherlei Hinsicht: Das Opfer wird in gefährliche Situationen gebracht. Sein Widerstand wird abgeschwächt oder beseitigt. Seine Wachsamkeit wird vermindert. Seine Unvorsichtigkeit und Sorglosigkeit vergrößern sich, und sein kritisches Urteil wird vernebelt. Bestimmte Berufe, wie die des Taxifahrers und des berufsmäßigen Kassierers, sind besonders raubmordgefährdet. Asoziales Verhalten und räumliche Isolation sind ferner Prädispositionen in der Sozialordnung, die bei der Wahl des Opfers zum Raubmord beitragen. Der Wunsch nach sexuellem Vergnügen und darüber hinaus nach sexuellen Abschweifungen, wie Homosexualität, steigern das Risiko der Opferwerdung. Ebenso treffen bestimmte Charakterfehler, wie Bestechlichkeit und Geldgier, auf Individuen zu, die geneigter als andere sind, Opfer verschiedenartiger Delikte, unter ihnen speziell des Raubmordes, zu werden. In den Jahren 1958 und 1960 hat Menachem Arnir (1971) in Philadelphia 646 Notzuchtsfälle mit 1292 Tätern analysiert. 10
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Aus diesen Zahlen entfallen 3 7 0 auf Einzelnotzucht, 105 Fälle auf Notzucht mit zwei Tätern und 181 auf Gruppennotzucht. Geht man wiederum auf die Täter-Opfer-Beziehungen ein, so handelt es sich bei 676 Tätern (53 °/o) um Bekannte, enge Nachbarn, Familienfreunde oder Verwandte des Opfers. Die Studie widerlegt also die Annahme, daß gewaltsame Notzucht ein Ereignis ist, bei dem eine Frau ohne Warnung durch einen Täter angegriffen wird, der ihr unbekannt ist. Bei den Fremden, mit denen das Opfer keine vorherigen Beziehungen hatte, verhielt es sich in 5 4 °/o der Fälle unterwürfig gegenüber dem Angreifer, in 27 °/o leistete es Widerstand und in 19 °/o der Fälle kämpfte es. Von 646 gewaltsamen Notzuchtsfällen dieser Studie haben Opfer in 122 Fällen oder zu 19 °/o den Notzuchtsfall selbst verursacht oder herbeigeführt. Die Notzucht geschieht also gewöhnlich nicht zwischen total Fremden. Sie ereignet sich zwischen Männern und Frauen, die im selben Gebiet wohnen. Das Opfer und der Täter kannten sich als enge Nachbarn oder Bekannte in mehr als der Hälfte der Fälle. Ein Fünftel der Notzuchtsopfer war polizeilich bekannt, speziell wegen sexuellen Fehlverhaltens, weitere 20 % hatten einen schlechten Ruf. Über 5 0 °/o der Notzuchtsopfer leisteten ihren Angreifern keinen ernsthaften Widerstand. Aus einer japanischen Studie (Koichi Miyazawa 1970) mit 5 7 Notzuchtsopfern schließt Izutniya, daß es viele leichtsinnige, fahrlässige Typen von Opfern gibt, die nach längerer Zeitdauer, trotz der Veränderung der Situation, nichts tun und sogar die Gelegenheit, dem Täter zu entfliehen, nicht nutzen. Nach einer Untersuchung von Shigemori ist 53,5 °/o von 4 7 0 Notzuchtsopfern in Tokio fahrlässiges Verhalten vorzuwerfen. Die japanischen Mädchen in Großstädten geraten bewußt in eine gefährliche Situation, weil sie das Abenteuer suchen. Hier kann man mit Koichi Miyazawa (1970) von aktiven und willigen Opfern sprechen. 55 Gruppennotzuchtsfälle im Landgerichtsbezirk Köln, an denen 142 Täter und 60 Opfer beteiligt waren, hat Wilfried Rasch (1968) untersucht. Gut die Hälfte aller Täter (53 °/o) kannten die Opfer bereits vor dem Tattag, meist allerdings nur vom Sehen oder flüchtig. Von den Opfern waren 42 °/o mit mindestens einem Täter der angreifenden Gruppe
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bekannt. Die Tat entwickelte sich in 44 °/o der Fälle aus einem unmittelbar vor der Tat gegebenen Beisammensein von Tätern und Opfern. An erster Stelle sind dabei ein Zusammenstehen auf der Straße oder im Park und der gemeinsame Spaziergang zu nennen. Andere Arten der Gemeinsamkeit bestanden in der Teilnahme an einer Tanzveranstaltung, einer Party oder - bei Jüngeren - an einem Spiel. Rasch betont als tatbegünstigendes Element „das sich zum Opfer senkende Gefälle der Beziehung". Er sieht ein solches Gefälle in einem zur Entwertung des Opfers drängenden Überlegenheitsgefühl und gibt hierfür folgende Beispiele an: Das Opfer ist unterlegen, weil es betrunken ist oder geistig beschränkt, weil es eine Herumtreiberin ist, sich „befummeln" läßt, von „jedem zu haben", eine Prostituierte ist oder herausfordernde Blicke geworfen hat, weil es jünger ist, weil es in seinem Verhalten Hilflosigkeit offenbart oder so dumm war, Vertrauen zu haben. Schließlich ist das Gruppennotzuchtsopfer schon deswegen unterlegen, weil es nicht zur Gruppe gehört und weil es allein und bloß ein Mädchen ist. Schon seit langem ist bekannt, daß die Unzucht mit Kindern ein Delikt des sozialen Nahraums ist. Die Kinder sind insofern prädisponiert, als sie zumeist sexuell neugierig und seelisch einsam sind. In den USA haben zwei Untersuchungen von kindlichen Opfern von Sexualdelikten gezeigt (LeRoy G. Schultz 1968), daß die folgenden Persönlichkeitszüge auf die Opfer zutreffen: Sie sind attraktiv-charmant, finden Anklang, sind schmiegsam und verführerisch. Sie gewinnen sehr schnell Kontakt mit Erwachsenen. Sie verlangen Mitleid und einen Beweis der Zuneigung. Sie verwenden die Sexualhandlung, um ihre Eltern herauszufordern, um ein Gefühl der Unabhängigkeit entstehen zu lassen und um ihren Drang nach Beachtung zu befriedigen. Aus dem norddeutschen Material von Thea Schönfelder (1968) von 30 Mädchen aus eigenem Untersuchungsgut und 188 weiblichen Fällen eines Aktenmaterials ergibt sich, daß eine aktive Mitbeteiligung des Opfers am pädophilen Delikt in über einem Drittel der Fälle anzunehmen ist. Aktive Abwehrmaßnahmen waren selten. Bei der Untersuchung von 150 Fällen weiblicher Opfer von Sexualdelikten im Alter zwischen 12 und 16 Jahren aus den Kantonen Zürich, Bern und 10*
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Solothurn kommt Heinz Reinhardt (1967) zu folgenden Ergebnissen: Die Mehrzahl der Opfer kann nicht als verführt oder mißbraucht gelten. Die meisten Mädchen sind, wenn auch nicht in allen Fällen die Treibenden, so doch die von sich aus alle sexuellen Handlungen bereitwilligst Duldenden. 5 4 % der Mädchen verfügten über sexuelle Erfahrungen vor der zur Strafverfolgung führenden Tat, 73,3 °/o verhielten sich provokatorisch oder duldeten bereitwilligst den Verkehr (wovon 50,9 o/o für den Täter Gefühle empfanden), 77,8 °/o stammten aus einem ungünstigen Milieu und bei 82,2 % förderte mangelnde Beaufsichtigung das Delikt. Ein psychischer Dauerschaden an Opfern frühzeitiger sexueller Widerfahrnisse ist selten. Denn die Ertragungsfähigkeit und Stabilität der kindlichen Psyche solchen traumatischen Einwirkungen gegenüber sind außerordentlich hoch. Es ist schwierig, im Einzelfall zu entscheiden, in welcher Weise sich die Persönlichkeit des Kindes durch das Sexualdelikt verändert hat. Nicht selten kommt es entscheidend darauf an, wie Wohngemeinschaft und Bekanntenkreis, die oft das Opfer erst prädisponiert haben, und wie die spätere Strafverfolgung durch förmliche Vernehmungen, Tests auf Glaubwürdigkeit u. a. auf den sexuellen Vorfall reagieren. Henry Ellenberger (1954) äußert die Auffassung, daß soziale Isoliertheit immer zum Opferwerden vorherbestimme. Es ist bekannt, daß die Massenmörder ihre Opfer mit Vorliebe bei isolierten Menschen suchen, weil diese zugleich die geringste Mühe bedeuten und selten Gefahr bringen. Großes Glück mit daraus entstandenem dumpfem Schuldgefühl, Beneidetsein und schwache Selbstbehauptung soll ein Syndrom sein, das ganz allgemein zum Opferwerden empfänglich macht. Der Betrogene kommt dem Betrüger durch naive Leichtgläubigkeit, aber auch durch eigene Habgier entgegen, die der Betrüger durch Vorspiegelung gewinnreicher Geschäfte ausnutzt. Wenn man den ganzen Prozeß dieses Geschehens objektiv betrachtet, sieht es zuweilen so aus, als ob das Opfer selbst den Täter betrügen wolle, indem es sich der vermeintlichen Unerfahrenheit und Unwissenheit des anderen, des Täters nämlich, heimtückisch bedienen wolle. Zwar spielt das Opfer zunächst die Rolle des
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Täters, aber der Täter seinerseits ist letzten Endes raffinierter und ihm gelingt sein arglistiger Plan. Ein bestimmter Grad an Realitätsferne und ein entsprechendes Wunschdenken sind mitunter die hervorstechendsten Persönlichkeitsmerkmale bei Getäuschten. Beim Heiratsschwindel tauscht das Mädchen nicht ungern Geld gegen ein paar Stunden ungewohnter Wärme. Kein Mann des Alltags ist so liebenswürdig zu ihr wie der Heiratsschwindler. Was auch geschieht, in einer Weise und für kurze Stunden trägt die Frau den Preis davon, um deren Gunst sich sonst niemand bemühte. Schließlich kann auch bei Wirtschaftsdelikten von der Opferseite her eine Mitverursachung dadurch hinzukommen, daß die Opfer aus übertriebenem Gewinnstreben heraus ein erhöhtes Risiko in Kauf nehmen. Durch in seiner Persönlichkeit liegende Opfereignung oder durch in seinem Verhalten zum Ausdruck kommende Opferneigung fördern Opfer nicht selten Straftaten bewußt oder unbewußt, die eigentlich erst richtig aus der Täter-OpferBeziehung dynamisch erklärt werden können, aus der mitunter Täter und Opfer Gewinn ziehen. Eine primitive Polarisierung zwischen Täter und Opfer trägt den viktimologischen Forschungsergebnissen nicht mehr genügend Rechnung. Der Täter soll hier keineswegs exkulpiert, entschuldigt werden. Er bleibt Täter, und er bleibt schuldig. Aber eine viktimologische Betrachtung muß gleichwohl in Zukunft zu wesentlich differenzierteren Beurteilungen führen. Das gilt z. B. bei der Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Es kann sich nur noch um eine funktionale Verantwortlichkeit handeln, bei der auch das Opfer die Rolle zu spielen hat, seine eigene Opferwerdung zu verhindern. Dem ganzen Prozeß der Opferwerdung ist dadurch vorzubeugen, daß die viktimogenen (opfererzeugenden) Faktoren ausgeschaltet werden, die bei bestimmten Individuen vorhanden sind und die eine Anziehung für den potentiellen Kriminellen darstellen. Bei der richterlichen Beweiswürdigung müssen ebenso wie bei der Auswahl geeigneter kriminalrechtlicher Reaktionen auf die Straftat die viktimologischen Forschungsergebnisse Berücksichtigung finden. Das amerikanische Musterstrafgesetzbuch aus dem Jahre 1962 sieht vor, daß Strafaussetzung zur Bewährung vom Gericht gewährt werden soll,
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falls das Opfer den Angeklagten zu seinem strafbaren Verhalten veranlaßt oder die Durchführung der Tat erleichtert haben sollte. Schließlich muß bei der Strafzumessung auf die Mitverursachungslast des Opfers im Einzelfall geachtet werden. Das Opfer muß auch - das zeigen die bisherigen viktimologischen Erkenntnisse - insofern entlastet werden, als ihm vom Staat Ansprüche auf Wiedergutmachungsleistung zugesprochen werden sollten. з. Die Massenmedien „Die Wurzeln des kriminellen Verhaltens liegen viel tiefer als im Fernsehen. Sie reichen zurück bis in den Persönlichkeitsbereich, bis in die gestörte Psychodynamik der gesellschaftlichen Gruppen, der Familie, der Schul-, Berufs- und Freizeitgruppen. Allenfalls kann das Fernsehen eine bloß zusätzliche Ursache setzen; es wird wahrscheinlich auf den Jugendlichen negativ wirken, der schon verwahrlost und persönlichkeitsgestört ist. Jedenfalls kann das Fernsehen keinen normalen, gutangepaßten Jugendlichen zu einem Delinquenten machen." So heißt es in dem Unesco-Report über Jugendkriminalität und Fernsehen aus dem Jahre 1964. Ein großer Teil der Bevölkerung ist in diesem Punkt anderer Meinung. In einer kürzlich in England durchgeführten Meinungsbefragung setzten die Befragten unter zwölf möglichen Gründen Gewalt im Fernsehen als Kriminalitätsursache an die fünfte Stelle (James D. Halloran и.a. 1972, S. 15). 35 °/o der Befragten hielten Kriminalitätsdarstellungen im Fernsehen für eine „sehr wichtige Verbrechensursache". Zu ähnlichen Ergebnissen gelangte eine umfassende Meinungsbefragung in den USA (David L. Lange u. a. 1969, S. 379). 75 °/o der Befragten antworteten, daß Gewalt im Fernsehen dazu beiträgt, Amerika zu einer gewaltsamen Gesellschaft zu machen. 86 °/o waren der Meinung, daß das Fernsehen bei haltlosen, persönlichkeitsgestörten oder verwahrlosten Personen Verbrechen auslöst. 60 °/o äußerten, daß das Fernsehen die Bevölkerung an die physische Gewaltanwendung zur Lösung von Konflikten gewöhnt. In einer deutschen Meinungsumfrage (Ulf Dietmar Gerhardt 1971) vertraten 58 °/o der befragten Richter, Staatsanwälte und Kriminalbeamten die Auf-
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fassung, daß ein Zusammenhang zwischen Kriminalfernsehspielen und Nachahmungskriminalität besteht. Was sagt die Kriminologie dazu? Zunächst muß sie deutlich machen, daß es sich um ein ungemein komplexes Problem handelt, zu dem aufgrund der gegenwärtig vorhandenen Forschungsmethoden nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind. Will man die Wirkungen von Fernsehdarstellungen auf Rezipienten (Fernsehzuschauer) untersuchen, so muß man den gesamten Kommunikationsprozeß in den Griff zu bekommen versuchen. Wer sagt was durch welches Massenmedium zu wem und mit welchem Erfolg? Hier ist die Seite der Programmgestalter zunächst zu berücksichtigen. Welche Einstellungen haben sie z. B. zur Kriminalität? Hier ist aber auch der Inhalt dessen systematisch zu erforschen, was gesendet wird. Handelt es sich z. B. um Kriminalitätsdarstellungen in Unterhaltungssendungen (Kriminalfernsehspielen, Western) oder in Dokumentationen oder in Nachrichten oder sonstigen aktuellen Sendungen (z.B. im Weltspiegel)? Hinzu kommen Sendungen, bei denen Spiel und Ernst, Unterhaltung und Wirklichkeit durcheinandergehen, wie in „Aktenzeichen X Y . . . ungelöst". Freilich darf man die ganze Fragestellung nicht nur auf das Femsehen beschränken, sondern man muß Presse, Rundfunk, Kriminalromane und Filme in die Betrachtung mit einbeziehen. Schließlich kommt es auch auf die Seite des Empfängers an, auf seine Persönlichkeit, seinen sozialen Nahraum und seine aktuelle Situation. Eine Kommission des Senats der USA unter dem Vorsitz von Senator Thomas ]. Dodd hat bereits 1961 eine umfassende empirische Untersuchung des Problems „Massenmedien und Kriminalität" dringend empfohlen. Die „National Commission on the Causes and Prevention of Violence", die im Anschluß an die Ermordung von John F. Kennedy eingesetzt worden ist, mußte im Jahre 1969 feststellen, daß eine solche sorgfältige und umfassende empirisch-kriminologische Studie bis heute in keinem Land der Erde existiert. Was vorhanden ist, sind psychologische Experimentaluntersuchungen zur Aggressionsforschung, soziologische Befragungen oder Beobachtungen an delinquenten Jugendlichen und klinisch-kriminologische Fall-
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beurteilungen, in denen Gewalt im Fernsehen eine Rolle gespielt haben soll. Alle psychologischen Laboratoriumsuntersuchungen basieren darauf, daß sie einer kleinen Probandengruppe (meist Collegestudenten) einen Film mit aggressivem Inhalt zeigten, während eine Kontrollgruppe sich einen Film mit nichtaggressivem Inhalt ansah. Man versuchte dann in verschiedener Weise - meist mit Testverfahren die Aggression bei der Experimental- und bei der Kontrollgruppe zu messen und statistisch signifikante Unterschiede zu ermitteln. Einige Forscher hatten den Grad der Aggression bei ihren beiden Gruppen schon vor dem Experiment getestet. Ergab sich nun nach der Gewaltdarstellung bei der Experimentalgruppe ein Anstieg an Aggression, so soll dies dafür sprechen, daß die Gewaltdarstellung im Fernsehen eine psychische Wirkung im negativen Sinne auf die Zuschauer hat. Die Forscher, die nach dieser Methode vorgingen, kamen zu ganz unterschiedlichen und sich teilweise widersprechenden Ergebnissen: Nach Seymour Feshbach (1969) von der „University of California" in Los Angeles führt die Mediengewalt zum Abbau aggressiver Emotionen und Verhaltenstendenzen durch Identifikation mit der dargestellten Gewalt. Mediengewalt hat also für die Zuschauer eine Ersatz- und Ventilfunktion. Eine ähnliche These lautet: Mediengewalt hat eine Gewöhnung zur Folge, die zu beständig abnehmenden und schließlich ausbleibenden aggressiven Emotionen und Verhaltenstendenzen führt. Die Forschungsgruppe um Leonard Berkowitz (1962, 1963) von der „University of Wisconsin" in Madison vertritt zwei Thesen: Das Ausbleiben aggressiver Reaktionen nach Gewaltdarstellungen ist auf verstärkte Hemmungen gegen die Äußerung aggressiver Bedürfnisse zurückzuführen. Im Grunde regt aber Mediengewalt zu aggressivem Verhalten oder zumindest zum Erlernen aggressiven Verhaltens an. Alle diese Experimentaluntersuchungen (zusammenfassend m. w. N. Hella Kellner 1971) vermögen aus folgenden Gründen nicht zu überzeugen: Sie fanden in der Sterilität einer künstlichen Untersuchungssituation statt. Persönlichkeitsstruktur, Umwelt und Situation des Rezipienten wurden nicht berücksichtigt. Die untersuchten Gruppen waren zu klein und zu einseitig zusammengesetzt - also nicht reprä-
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sentativ. Eine Gleichstellung zwischen Aggression und Kriminalität ist verfehlt. Selbst wenn der Aggressionspegel nach den Gewaltdarstellungen bei den Zuschauern steigen sollte - was nach diesen Forschungen keineswegs feststeht - , so fehlt zwischen erhöhtem Aggressionsgrad und kriminellem Verhalten ein Verbindungsglied. Zudem konnten nur Kurzzeitwirkungen gemessen werden. Schließlich kann man aus Kontrollgruppenunterschieden nicht ohne weiteres auf eine ursächliche Verbindung schließen. Überhaupt ist das theoretische Konzept verfehlt, das von einem Ursache-Wirkungs-Mechanismus ausgeht. Es ist vielmehr ein Interaktionsprozeß, ein Wechselwirkungsprozeß, zwischen Massenmedien und Gesellschaft anzunehmen. Die Massenmedien können einer Gesellschaft nichts aufzwingen; sie sind vielmehr Teil einer Gesellschaft und deshalb auch gesamtgesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt. Die empirisch-soziologischen Untersuchungen wenden standardisierte Fragebogen- und Beobachtungstechniken als Methoden
an. Hilde T. Himmelweit, A. N. Oppenheim und Pamela Vince
(1965) stellten fest, daß Fernsehprogramme zwar Lernprozesse in Gang setzen, aber niemals direkt bestimmte Handlungsweisen verursachen können. Mediengewalt kann also nicht unmittelbar aggressives Verhalten hervorrufen. Als Langzeitwirkung kann möglicherweise angenommen werden, daß Gewalttätigkeit allmählich als etwas Normales und Alltägliches akzeptiert wird. Z u ähnlichen Ergebnissen kommen James
D. Halloran, Roger L. Brown und David C. Chaney (1972),
Mediengewalt ist - abgesehen von einer kleinen Zahl pathologischer Fälle - niemals eine alleinige Ursache für Kriminalität. Allenfalls bildet sie einen zusätzlichen, auslösenden Faktor. Selbst wenn delinquente Jugendliche statistisch signifikant häufiger Gewaltdarstellungen im Fernsehen anschauen, kann man dies dahin interpretieren, daß sie Erregung entweder im Begehen von kriminellen Handlungen oder innerhalb der Phantasiewelt des Fernsehens suchen. Es sind ferner systematische Inhaltsanalysen zu Kriminalfernsehsendungen gemacht worden. Diese Inhaltsanalysen, die nur der objektiven, systematischen Beschreibung des offenbaren Inhalts von Kriminalfernsehsendungen dienen, haben wegen
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ihrer begrenzten Fragestellung eine untergeordnete Bedeutung. Sie untersuchen nämlich nur ein Glied im gesamten Kommunikationsprozeß. Immerhin ist es aufschlußreich, daß in einer nordamerikanischen Inhaltsanalyse eine Diskrepanz zwischen der „Fernsehwelt der Gewalt" und der „Alltagswelt der Gewalt" herausgearbeitet worden ist (David L. Lange 1969, S. 363 bis 369). Im Fernsehen spielt sich die Gewalt zwischen Fremden ab, in der Wirklichkeit hauptsächlich zwischen Familienmitgliedern und Freunden. Im Fernsehen werden bei Gewaltanwendungen meist Waffen gebraucht, in Wirklichkeit werden Waffen bei Gewaltdelikten kaum verwandt. Hier wird bereits die gefährliche Einseitigkeit der klischeehaften Kriminalitätsdarstellung im Fernsehen offenkundig, die mit der Wirklichkeit, mit den Ergebnissen der kriminologischen Forschung nicht übereinstimmt. Bei einer repräsentativen Zuschauerbefragung, die im Jahre 1969 in den USA 1176 Erwachsene und 496 Jugendliche erfaßte, stellte sich heraus, daß 28 °/o der Erwachsenen mit der Mediengewalt übereinstimmen (David L. Lange 1969, S. 365). Es handelte sich um Erwachsene zwischen 18 und 35 Jahren, die in Großstädten lebten und die keine Collegebildung besaßen. In dieser Gruppe befinden sich auch die meisten Gewalttäter und diejenigen, die Erfahrung mit Gewaltanwendungen haben. 53 % der Jugendlichen waren mit den Gewaltszenen im Fernsehen einverstanden. Die größte Gruppe bestand aus 13- bis 15jährigen schwarzen Jugendlichen, die in Großstädten lebten. Die Interaktionswirkung zwischen Gewalt im Fernsehen und in der Wirklichkeit kann an dieser Stelle verdeutlicht werden. Denn auch diese 13- bis 15jährigen schwarzen Jugendlichen sind hoch mit gewaltsamer Bandenkriminalität belastet. Man kann sich bei der Untersuchung des Problems „Massenmedien und Kriminalität" nicht nur auf das Fernsehen und auf die Unterhaltungssendungen im Fernsehen beschränken, wie es die bisherige Forschung zum größten Teil getan hat. Vielmehr müssen auch aktuelle Informationssendungen kritisch beurteilt werden. Hier ergeben sich viele komplexe Probleme. Es kann kriminologisch nicht gebilligt werden, wenn Kriminalitätsprobleme durch Nachrichtensperre gesellschaftlich verdrängt
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werden. Bei totalitären Regimen wird dies zwar praktiziert, hat aber den unerwünschten Erfolg, daß eine unaufgeklärte Gesellschaft dem Verbrechen hilflos gegenübersteht. Durch drakonische Härte und Nachrichtensperre löst man das Kriminalitätsproblem nicht, ganz abgesehen davon, daß der mündige Bürger in einer rechtsstaatlichen Demokratie einen Anspruch auf wahrheitsgemäße Information hat. Bei dieser Information kommt es kriminologisch entscheidend auf die Art der Darstellung an. Jede Dramatisierung des Kriminalitätsproblems ist zu vermeiden. Die nordamerikanischen Fernsehanstalten haben aus den Wirkungen der aktuellen Fernsehberichterstattung bei Rassenkrawallen die Folgerungen gezogen. Sie haben sich selbst bestimmte Beschränkungen auferlegt und werden Direktübertragungen von Krawallen nur noch in Ausnahmefällen und unter Beachtung von bestimmten Vorsichtsmaßnahmen senden (David L. Lange 1969, S. 106). Denn es hat sich herausgestellt, daß die bloße Anwesenheit von Fernsehkameras eine sozialpsychologische Veränderung der gesamten Situation in negativem Sinne bewirkt. Nimmt ein Fernsehteam die Krawalle auf, so verschlimmert es die Spannungen und Aggressionen. Denn sowohl die Polizei wie auch die Aufrührer wollen für das Fernsehpublikum agieren (Morris Janowitz 1968). Werden dann die Aufnahmen von den Krawallen gesendet, so üben diese Sendungen nicht selten eine ansteckende Wirkung auf Bevölkerungsteile aus, die für Krawalle anfällig sind. Ähnliches gilt für die Direktübertragung von spektakulären Raubüberfällen. Auch hier kann es durch die Anwesenheit des Fernsehens leicht zu einem ungerechtfertigten „Hochspielen" des Ereignisses und damit zu einer Ausweitung der Gewalt kommen. Die Arbeit der Kriminalpolizei kann ferner durch unerwünschte Mitfahnder erheblich gestört und behindert werden. Das kriminelle Ereignis wird zudem sensationell aufgemacht, was kriminologisch höchst gefährlich ist. Denn man gewährt den Kriminellen nicht nur eine unverdiente Publizität, sondern man riskiert Anschlußtaten bei verbrechensbereiten Personen. Auch ist es unerwünscht, wenn Fernsehkommentatoren, die die kriminologischen Zusammenhänge in der Regel doch nicht so ganz durchschauen, zur allgemeinen Verwirrung nicht unerheb-
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lieh beitragen. Hier wäre eine betont unterkühlte, objektive, auf alle dramatisierenden Effekte verzichtende Berichterstattung kriminologisch und kriminalistisch begrüßenswerter. Beim Problem des Verhältnisses zwischen Massenmedien und Kriminalität kommt es insbesondere auf die Werte und Leitbilder an, die das Fernsehen und andere Massenmedien vermitteln und die in Konflikt mit den Werten und Leitbildern weiter Bevölkerungsschichten stehen können. So kann die einseitige Hochschätzung von materiellem Wohlstand dazu führen, daß leistungsschwachen Personen ein frustrierendes Armutsgefühl vermittelt wird, das seinerseits wieder kriminogene, kriminalitätsentstehende Bedeutung haben kann. Gewalt, ja sogar prevertierte Gewalt, nämlich Brutalität, sind Realitäten in unserer Gesellschaft. Wenn wir in einer Gesellschaft mit Gewalt und Brutalität leben, so ist es geradezu notwendig, daß diese Gesellschaft sich mit diesen Phänomenen auseinandersetzt. Freilich kommt alles auf die Art der Darstellung an. Denn in Dokumentationen und Kriminalfernsehspielen wird kein Bild der Realität gegeben, sondern ein Bild der Interpretation dieser Realität durch den Autor, den Regisseur und die Schauspieler. Das Erlebnis dargestellter Gewaltanwendung auf dem Bildschirm ist deshalb auch sozialpsychologisch etwas völlig anderes als das Erlebnis tatsächlicher Brutalität. Schon die Kameraführung kann hier wesentlich verändernd in die Situation eingreifen. Es geht freilich nicht um eine Ästhetisierung der Gewalt, so daß sie für den Fernsehzuschauer annehmbar, sozusagen „hoffähig" gemacht wird. Gerade eine solche Sicht würde zu einer Verharmlosung von Gewalt und Brutalität führen. Ein Schock allein vermag zwar nicht zu informieren. Wenn man aber die möglichen Ursachen der Brutalität aufdecken will, kann und darf man nicht immer rücksichtsvoll sein, um die erschreckende Inhumanität mit ins Bild zu bringen. Selbst für Kinder und Jugendliche, die früher oder später mit Gewalt und Brutalität in der Wirklichkeit konfrontiert werden und für die Gewaltdarstellungen im Fernsehen psychisch belastend sind, ist es nicht ratsam, einen absoluten „Schonraum" im Fernsehen zu schaffen. Es muß allerdings von einer schonenden, kindergemäßen Darstellung ausgegangen werden. Für Erwachsene
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wie Kinder gilt gleicherweise, daß die Darstellung der Gewalt im Fernsehen keine Faszination, keine Sensation und keine Stimulation auslösen darf. Allerdings ist die Gewaltdarstellung im Fernsehen kriminologisch nicht so bedenklich wie eine verfehlte Kriminalitätsdarstellung allgemein. Die Gesellschaft macht sich ihr Bild über das Kriminalitätsproblem durch die Massenmedien. Nicht nur die gesellschaftlichen Gruppen, die Familie, die Schul-, Berufs- und Freizeitgruppen, die für die Entstehung der Kriminalität von maßgeblicher Bedeutung sind, sondern auch die Repräsentanten der Gesellschaft im Kriminalitätsbekämpfungsprozeß, die Polizeibeamten, die Richter, Staatsanwälte, Bewährungshelfer und Strafvollzugsbeamten werden durch die Massenmedien und insbesondere durch das Fernsehen in ihren Einstellungen zur Kriminalität beeinflußt. Das Fernsehen (und überhaupt die Massenmedien) kann als Stimulations-, aber auch als informelle Kontrollinstanz im Hinblick auf Kriminalität in der Gesellschaft wirken. Die Verbreitung krimineller Darstellungen konstituiert Vorstellungen über Kriminalität, die ihrerseits wieder kriminelle Wiedergaben bestimmen. Häufigkeit und Art der kriminellen Beschreibungen beeinflussen die Einstellungen, die die Menschen der Kriminalität gegenüber einnehmen. Zu starkes emotionales Engagement und Dramatisierung verbreiten unangemessene Aggressivität gegenüber Kriminellen oder Furcht und Schrecken vor dem Verbrechen. Sie verhindern eine rationale Haltung, durch die allein die Kriminalität adäquat kontrolliert werden kann. Die fiktive Welt ist auch eine reale Welt. Soziale Realität beginnt nämlich mit der schöpferischen Einbildung. In der Kommunikation werden Bilder vereinfacht, präzisiert und reduziert. Auf der Grundlage der so geschaffenen Stereotype konstruieren Personen „ihre" Realitäten über das Verbrechen. Das ist die große Gefahr der Darstellung der Kriminalität in den Massenmedien (hierzu auch Richard Quinney 1970, S. 277-296). 4. Die Instanzen der Sozialkontrolle a) Polizei- und Richterpsychologie Die bisherige traditionelle Kriminologie ging davon aus, daß lediglich die Rechtsbrecher ihre Verhaltensweisen ändern müß-
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ten. Das stimmt zwar, ist aber insofern unvollständig, als auch die Gesellschaft, ihre Gruppen und Repräsentanten durch Selbstkritik maßgeblich an solcher Änderung aktiv teilnehmen müssen. In der angloamerikanischen und skandinavischen Kriminologie hat sich die Forschung deshalb in jüngster Zeit in zunehmendem Maße der Polizei-, Richter- und Strafvollzugspsychologie zugewandt. Dasselbe gilt auch für die Sowjetunion. Während der 1. Allunionskonferenz zu Problemen der gerichtlichen Psychologie in Moskau im Jahre 1971 wurde betont, daß auch die Psychologie der Untersuchungs- und Gerichtstätigkeit als Forschungsgegenstand zur rasch sich entwickelnden sowjetischen Gerichtspsychologie gehört (Horst Luther 1971). In der sowjetischen Strafvollzugspsychologie geht es nicht nur um die Psychologie der Strafgefangenen, sondern auch um die Psychologie der Strafvollzugsbediensteten. James Marsball (1966) hat festgestellt, daß Polizeianwärter im Vergleich mit Jurastudenten und Personen aus einer Wohlfahrtseinrichtung eine statistisch-signifikant härtere Einstellung zur Bestrafung haben, d. h., sie treten in höherem Maße für eine härtere Bestrafung von Delinquenten ein (Schaubild 17). Ob diese härtere Einstellung ein Ergebnis eines selbstauswählenden Prozesses von Personen, die Polizeikarrieren anstreben, eines Auswahlprozesses der Einstellungsbehörde oder eine Anpassung an eine Rolle, eine Polizeilaufbahn, ist, konnte nicht ermittelt werden. Die Polizeianwärter zeigten eine größere Rigidität, einen hervorstechenden Persönlichkeitszug der autoritären Persönlichkeit. Als durchschnittlich oder schlecht bezeichneten 70 o/o der von Jerome H. Skolnick (1967) untersuchten 282 Polizisten ihr Sozialprestige. Gleichwohl zählten sich 66 °/o zur Mittelschicht, und 51 % hielten es für „sehr wichtig", ein eigenes Haus zu besitzen. Von 700 Polizisten nannten 250 (oder 35 %>) wieder Polizisten als ihre Freunde. Hier zeigt sich ein gesellschaftlicher Abkapselungsprozeß, der von einigen nordamerikanischen Kriminologen bereits als „subkulturell" definiert wird. Im Jahre 1929 haben Franz Alexander und Hugo Staub in ihrem Buch „Der Verbrecher und seine Richter" bereits geschrieben: „Die Flucht des Richters in die pseudo-exakte Welt
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Schaubild 17: Mittelwerte von Antworten für Mord (ausgedrückt in Prozentsätzen für jede Kategorie der psychiatrischen Behandlung oder Bestrafung"')
Behandlung
«traf«
aira Jahr
fünf zehn Jahren Jahr*n
*) Aus: J.Morsholl, Law and Psychology Indianapolis
u.a.
1966, S .
wan- Labans- Todes* zig langa strafe Jah- Freiren heitsstrafe
in
Conflict,
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der Paragraphen, dieser oft geradezu verblüffende Horror des Juristen vor jedem Versuch eines Verständnisses der menschlichen Motive bedeutet eine Flucht vor persönlicher Verantwortung. Wenn es gelingt, ein bestimmtes Delikt mit Hilfe des geschriebenen Rechts möglichst passend unter einen Paragraphen zu stellen, ist das eigene Gerechtigkeitsgefühl beschwichtigt. Die Verantwortung für die Ungerechtigkeit trägt dann das unpersönliche geschriebene Gesetz." Durch die Veröffentlichungen von Ludwig Bendix (1968), die er ebenfalls in den zwanziger Jahren herausbrachte, ziehen sich die Gedanken der irra-
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tionalen Kräfte richterlicher Urteilstätigkeit, der Mehrdeutigkeit von Tatsachen und Rechtssätzen, der Relativität der Rechtssicherheit, der Idee eines demokratischen, verfassungstreuen Richtertums, der „Schichtenjustiz" und der mangelnden Lebensnähe der Richter. Der Richterspruch ist keine objektive Wahrheit, vielmehr eine geistige Schöpfung seines Urhebers. Geschlecht, Alter, Lebenserfahrung, Sympathie und Antipathie bei Tat und Täter, Minderwertigkeits- und Überwertigkeitsgefühle und eigene wirtschaftliche Interessen beeinflussen die richterliche Urteilsfindung. Das Ergebnis richterlicher Überzeugungsbildung ist nicht allein die Folge eines rein logischen Prozesses, sondern wird entscheidend von den irrationalen Vorabentscheidungen in der Richterpersönlichkeit bestimmt. „Ein gewissenhafter und selbstkritischer Strafrichter, der die psychologisch gezogenen Grenzen seiner Tätigkeit kennt, wird die Tragik seiner tatsächlichen Feststellungen und ihrer sozialen Notwendigkeit erleben, ihm wird es zum Bewußtsein kommen, daß die innere Notwendigkeit seiner Urteilsbildung von überindividuellen Gesichtspunkten bestimmt wird und werden muß, und daß deren Anwendung zu einer Vergewaltigung der Tatsachen und des Täters führen kann und in vielen Fällen auch führt, daß seine tatsächlichen Feststellungen vielleicht kein getreues, sondern nur ein durch seine Persönlichkeit bestimmtes und deshalb verzerrtes Abbild des wahren Sachverhaltes sind" (1968, S. 216). Paul Reiwald hat in seinem 1948 erschienenen Buch: „Die Gesellschaft und ihre Verbrecher" den „circulus vitiosus" des Strafverfahrens wie folgt umschrieben: „Verbrechen, Berührungsangst, affektive Reaktion, Wille zum Strafen, erneute Angst, Gerichtszeremoniell, Fremdheit, Verständnislosigkeit, Verhärtung gegenüber dem Täter" (S. 82). Im selben Jahr arbeitete Gotthold Bohne heraus, daß die Richter ihre Denkprozesse nur höchst selten nach den Gesetzen der rationalen Logik steuern, vielmehr überwiegend unbewußt, instinktiv oder intuitiv denken, aufgrund einer auf ihrem Gebiet erworbenen Routine, indem sie die verschiedenen Möglichkeiten von Tatsachenkombinationen überschauen und sehr oft rein gefühlsmäßig, im Zuge gewohnter und oft geübter Denkabläufe das ihnen als „richtig" Erscheinende wählen.
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Der englische Kriminologe Peter D.Scott hat (1958/59) 112 delinquenten Jungen im Alter von 12 bis 16 Jahren die Frage vorgelegt: Was hast du vor Gericht erlebt? Ältere Richter hielt man für feindlich der Jugend gegenüber eingestellt, insbesondere gegenüber Jungen mit langen Haaren und schmutziger Kleidung. M a n beharrte darauf, daß der Generationenunterschied die Entscheidung beeinflusse. 121 erwachsene englische Strafgefangene befragte Robert G. Andry (1963). Sie äußerten den Eindruck, ihr Richter habe nicht das geringste Mitgefühl mit ihnen gehabt. Über eine belgische Befragung berichtet Christian Debuyst (1965). Eine häufige Antwort der Rechtsbrecher war: „Meine wirklichen Probleme sind nicht erkannt und beachtet worden. Keiner hörte mich an oder erklärte mir, was ich falsch gemacht habe." In einem in Holland (1961) erschienenen Buch „Ansichten von Häftlingen über die Strafrechtspflege" hat Rijksen 956 Äußerungen von Strafgefangenen gesammelt. Die Häftlinge betrachten die Richter als Angehörige einer sozialen Klasse, die kein Verständnis für ihre Probleme hat. Sie haben das Gefühl, daß ihre Richter absolut keine konkrete Idee davon haben, welche Strafe sie eigentlich dem Angeklagten auferlegen. Die Richter wissen in der Regel nichts von einer Strafanstalt, und wie man sich fühlt, wenn man einen T a g hinter Gittern verbringt. Dieses Nichtwissen hält die Strafrichter aber keineswegs davon ab, ihre Entscheidungen zu fällen und sich nicht um die Ergebnisse zu kümmern. Die H ä f t linge beschwerten sich auch über das Strafverfahren: Wenn ihr Verteidiger spricht, hören die Richter gar nicht hin und tun etwas anderes. Das vermittelt den Angeklagten das Gefühl, d a ß die Richter zu einer kleinen exklusiven Gruppe gehören, die im voraus weiß, was bei der ganzen Verhandlung herauskommt. Die Resultate bestehen in einem tiefempfundenen Gefühl der Einsamkeit des Angeklagten, der sich alleingelassen glaubt und der annimmt, sein Schicksal liege in der H a n d von Menschen, denen er gleichgültig sei. Zudem mangelt es - nach der Meinung der holländischen Strafgefangenen - den Richtern an der notwendigen Ausbildung, um ihre Aufgabe richtig erfüllen zu können. „Ein kleiner Paragraph auf einem Stück Papier genügt, um einen Menschen für sein ganzes Leben zu ruinieren." 11
Schneider, Kriminologie
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Etwa 1500 Jugendrichter Nordamerikas sind in dem „National Council of Juvenile Court Judges" zusammengeschlossen. Seit 1964 haben sie zahlreiche Fortbildungskurse veranstaltet, die folgende Ziele hatten: Zunächst sollten sich die Jugendrichter in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen weiterbilden, um mit ihren Mitarbeitern besser zusammenarbeiten zu können. Weiterhin sollten in ungelenkten, freien Diskussionen kleiner Gruppen von 12 bis 15 Mitgliedern die Jugendrichter ihre emotionalen Schwächen erkennen und ihr Selbstverständnis, ihre Selbstkritik, Selbsteinsicht und ihr Selbstbild verbessern. Die Jugendrichter sollten die Gruppendynamik, das Verhalten der Gruppe und ihr eigenes Verhalten in der Gruppe verstehen lernen und ferner erfassen, wie man das eigene Verhalten in der Gruppe rational kontrolliert und eine dem Jugendrichter adäquate Rolle im Jugendstrafverfahren übernimmt. Man ging hierbei von der Grundhypothese aus, daß unstrukturierte Gruppensituationen unbewußte Energien beim einzelnen Gruppenmitglied freisetzen, die ihrerseits geeignet sind, das einzelne Gruppenmitglied zur Selbstanalyse, Selbsteinsicht und Verhaltensänderung zu bewegen. Ein diesem „National Juvenile Court Training Program" beigegebenes kriminologisches Forscherteam hatte die Aufgabe übernommen, mit verschiedenen psychologischen Testmethoden die Wirksamkeit der Fortbildungskurse zu ermitteln. Mit dem „Behavioral Styles Questionnaire" - einem Verhaltensfragebogen - beobachtete und analysierte das Team z. B. Verhaltensstile der Jugendrichter während der Jugendgerichtsverhandlung. Die Jugendrichter, die wiederholt Fortbildungskurse dieser Art besucht hatten, behandelten die jugendlichen Angeklagten nicht mehr affektiv als Ausgestoßene; sie verstanden es, allen Verfahrensbeteiligten sorgfältig zuzuhören; sie zeigten ein unvoreingenommenes Verhalten ihren Mitarbeitern und der Presse gegenüber; schließlich waren sie ehrlich darum bemüht, die Rechte des angeklagten Jugendlichen zu schützen und seine Erziehungsprobleme zu berücksichtigen. Nach dem klassischen strafprozessualen Modell sind die einzigen juristisch bedeutsamen Variablen für eine strafrichterliche Entscheidung die Fakten. Das Gesetz ist konstant, und die
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Persönlichkeit des Strafrichters spielt keine Rolle. Dieses Modell entspricht nicht der Wirklichkeit. Bereits 1949 hat der nordamerikanische Kriminologe Frederick ]. Gaudet aufgrund von Untersuchungen in New Jersey festgestellt, daß die Haupteinflüsse auf die strafrichterliche Entscheidung von der Persönlichkeit des Richters ausgehen. Diese Feststellung wird bestätigt durch empirische Untersuchungen aus Israel und Kanada. Die kanadische Studie wurde durchgeführt vom „Centre of Criminology" der „University of Toronto". Sie wurde geleitet von dem kanadischen Kriminologen John Hogartb und im Jahre 1971 veröffentlicht. In der Zeit von 1965 bis 1970 hatte man alle Strafrichter der Provinz Ontario mit einem standardisierten Persönlichkeitsfragebogen und einem „Attitüde and Penal Philosophy Questionnaire" - einem Fragebogen über persönliche Einstellungen und strafrechtliche Wertvorstellungen untersucht. Ferner wurden mit einem Entscheidungsfragebogen 2500 Fälle sorgfältig analysiert: Für das Strafurteil waren Tatsachen nur in 9 % der Fälle maßgebend. Uber 50 °/o der Strafurteile beruhten indessen auf Persönlichkeitsfaktoren der Strafrichter. Die restlichen 41 % sind aus Fakten und Persönlichkeitsfaktoren gemeinsam zu erklären. Die Strafrichter der Provinz Ontario, die zu 70 °/o eine juristische Universitätsausbildung und zu 30 % eine praktische juristische Ausbildung haben, entstammen bodenständigen, stabilen, erfolgreichen protestantischen Familien. Sie sind also erzogen worden im Geiste der nordamerikanischen Mittelschichten, während sie vor allem Straftäter aus den Unterschichten mit ganz anderen Wertvorstellungen abzuurteilen haben. Die Strafrichter identifizieren sich sehr stark mit der Gesellschaft, in der sie leben und die auf Rechtsbrüche nur allzu oft affektiv und nicht rational reagiert. Nach ihrem Studium bilden sich die kanadischen Strafrichter kaum weiter. Nicht weniger als 70 %> hatten seitdem kein Fachbuch mehr gelesen. Die Richterzeitung der Provinz Ontario lesen immerhin 88,7 °/o der Strafrichter. Kriminologische Fachzeitschriften halten sich demgegenüber aber nur 21 •/«. Während die Mehrheit der Strafrichter meint, sie sei täter- und behandlungsorientiert, werden ihre Urteile ganz eindeutig von der Straftat und dem Schutz der Gesellschaft her li*
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bestimmt. Entscheidungen werden keineswegs in einer neutralen, sterilen Atmosphäre getroffen. Die Dramatik der Gerichtsverhandlung, die Rituale und Zeremonien lassen im Gerichtssaal ein emotionales Klima entstehen, das die Strafrichter tief und subjektiv in ihrem Entscheidungsverhalten beeinflußt. Die Richter erreichen eine ziemlich beständige Urteilspraxis. Sie erzielen sie aber nur durch Selektivität der Information und der Interpretation der Fakten: „Die Strafrichter neigen dazu, ihre Information mit ihren vorgefaßten Meinungen in Übereinstimmung zu bringen. Ihre vorgefaßten Meinungen beruhen wiederum auf ihren persönlichen Einstellungen. Gleichzeitig streben sie danach, einer Information auszuweichen, die wahrscheinlich mit dem Bild des Straftäters in Konflikt kommt, das auf ihren vorgefaßten Meinungen beruht. Allem Anschein nach definieren die Strafrichter ihre soziale Welt selektiv in der Weise, daß sie sich in Übereinstimmung mit ihren privaten Meinungen befindet. Im dynamischen Prozeß der Urteilsfindung wird die objektive, äußere Welt in eine subjektive Welt umgeformt. Ergebnisse sind strafrichterliche Entscheidungen, die mit den Definitionen der Strafrichter übereinstimmen, die sie auf bestimmte Situationen anwenden" (S. 374/378).
b) Die Reform des Anstaltsstrafvollzugs und neue Formen gesellschaftlicher Reaktion auf kriminelles Verhalten „Würde die öffentliche Meinung, anstatt den jahrelangen Versuchen für Neubauten ruhig zuzusehen, in berechtigter Empörung die Schließung aller museumsreifen amerikanischen Gefängnisse von dem alten Sing-Sing im Osten bis zum alten San Quentin im Westen fordern, so wäre das vom Standpunkt der Menschlichkeit zu begrüßen. Aber mehr als das: Der Sicherheit der menschlichen Gesellschaft würde ein größerer Schutz gewährt, wenn man alle diese Kriminellen laufen ließe, als daß man sie Jahr für Jahr durch langsame Untergrabung ihrer Gesundheit, durch sinnlose Zusammenpferchung oder gar erzwungene Arbeitslosigkeit völlig unbrauchbar für die Gesellschaft und zu viel gefährlicheren Desperados nach ihrer Entlassung macht, wie dies jetzt geschieht." Diese freimütige
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Erkenntnis äußerte Moritz Liepmann in seinem Reisebericht „Amerikanische Gefängnisse und Erziehungsanstalten" im Jahre 1927 (S. 10). Der nordamerikanische Strafvollzug war für den europäischen und speziell für den deutschen stets richtungsweisend. Zahlreiche deutsche Kriminologen haben seit Beginn des 19. Jahrhunderts den nordamerikanischen Strafvollzug besucht und ihre Erfahrungen für die deutschen Strafvollzugsverhältnisse nutzbar zu machen versucht. So wurde das „Eastern State Penitentiary" in Philadelphia zum Modell für zahlreiche deutsche Strafanstalten, z. B. die Strafanstalten in Bruchsal und Hamburg-Fuhlsbüttel. Die heutige Strafvollzugspraxis und Strafvollzugswissenschaft in der Bundesrepublik befinden sich allerdings nicht mehr auf dem gegenwärtigen Stand der Strafvollzugserkenntnisse der angloamerikanischen und skandinavischen Länder. Die Geschichte der Strafvollzugswissenschaft zeigt, daß ursprünglich Gefangene in die Strafanstalten gebracht wurden, um dort bestraft zu werden. Heute soll sich in der bloßen Freiheitsentziehung die Zufügung des Übels erschöpfen. Darüber hinaus will man die Zeit des Freiheitsentzugs durch sinnvolle Behandlung ausfüllen oder den Freiheitsentzug ganz durch eine Behandlung ersetzen. Die Freiheitsstrafe besteht erst seit dem 16. Jahrhundert. Nach dem Vorbild englischer Vorläufer wurde in Amsterdam im Jahre 1595 erstmals ein Zuchthaus für Landstreicher, Bettler und andere Nichtstuer errichtet. Bei dieser Neuerung haben kalvinistische Ideen mitgewirkt, nach denen Müßiggang als etwas Gott nicht Wohlgefälliges galt. Während des Mittelalters waren die mannigfaltigsten Formen der Todesstrafe, z. B. Vierteilen, Rädern, Sieden in Wasser oder ö l , Verstümmelungsstrafen, z. B. Abhauen der Hand oder Ausreißen der Zunge, Strafen an Haut und Haar, Ehrenstrafen, z. B. das An-den-Pranger-Stellen, Brandmarkung durch Einbrenen eines Zeichens im Gesicht, später während der Kolonialzeit die Galeeren- und die Deportationsstrafe, z. B. in die englischen und französischen Kolonien oder nach Sibirien, die allgemein anerkannten Strafrechtsfolgen für Rechtsbrüche.
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Eine Philosophie des Freiheitsstrafvollzugs entwickelte sich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Zwei berühmte Strafanstalten wurden gebaut, die für fast alle Gefängnisse in Nordamerika und Europa zu Modellen wurden. Das erste war das bereits erwähnte „Eastern State Penitentiary" in Philadelphia, ein geistiges Produkt nach dem Plan der Quäker. Die andere Strafanstalt war das Auburn-Gefängnis in New York (David W. Lewis 1965). Die Konzeption dieses Gefängnisses beruhte auf der puritanischen Uberzeugung von der Prädestination, dem Vorherbestimmtsein menschlicher Existenz. Das Auburn-System wurde zum Modell nahezu jeder geschlossenen Strafanstalt in Nordamerika, während das Pennsylvania-System von den europäischen Staaten übernommen wurde. Strenge und repressive Disziplin war die Regel in Auburn. Die Nacht verbrachten die Insassen in Einzelzellen. Während des Tages wurden sie zur Einhaltung absoluten Schweigens bei der gemeinsamen Arbeit gezwungen. Es wurde erwartet, daß ihre Arbeitsprodukte die vollen Kosten für die Unterhaltung des Gefängnisses deckten. Auf diese Weise wurde das Gefängnis zu einer Art Fabrik. Das pennsylvanische System, das durch das Buch „Nordamerikas sittliche Zustände" von Nikolaus Heinrich Julius (1839) in Deutschland bekannt wurde, ist durch die Einhaltung einer strengen Einzelhaft charakterisiert, die mit dem Besserungsgedanken verbunden wurde. Im Grunde genommen war man der Meinung, Kriminalität entstehe durch Verfehlung des religiösen Lebens und eine Besserung könne erreicht werden, wenn man den Gefangenen mit einer Bibel in seiner Zelle allein lasse. Dieser primitive Optimismus rechtfertigte sich in der Folgezeit indessen nicht. Resozialisierung ist gegenwärtig in der Bundesrepublik der Zentralbegriff des Strafvollzugs. Man kann unter Resozialisierung die Erweiterung des Rollenpotentials, des Rolleninventars, die Stärkung des inneren Halts, des Selbstbildes und der Eigenverantwortlichkeit des Rechtsbrechers verstehen (Hans Joachim Schneider 1970). Durch Erhöhung seines sozialen Status soll er ermutigt werden. Die Reaktionen der Instanzen der sozialen Kontrolle, der Kriminalpolizei, der Gerichte und des Strafvollzugs, auf Straftaten führen hingegen notwendiger-
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weise zur Degradierung des Straftäters. Freilich degradiert er sich selbst durch seine Straftat; er erhält aber auch durch die Reaktionen der Gesellschaft einen niedrigeren sozialen Status. Die mannigfaltigsten Degradationszeremonien (z. B. bei Gericht) finden statt. Der Degradationsprozeß setzt sich auch nach der Entlassung aus der Strafanstalt fort. Der ehemalige Strafgefangene ist stigmatisiert, gezeichnet, weil er Strafgefangener gewesen ist. Er scheitert am Unverständnis der Gesellschaft, die es ihm schwer macht, eine adäquate Lebensweise zu führen, eine Wohnung und eine Arbeitsstelle zu finden und zu behalten. Eine solche Einstellung der Gesellschaft ist freilich auch wegen der vielen schlechten Erfahrungen verständlich, die man mit ehemaligen Strafgefangenen macht. Eine empirisch-kriminologische Untersuchung in einer Hamburger Strafanstalt, die mit einem Team von neun Kriminologen drei Jahre lang durchgeführt worden ist (Rudolf Sieverts u. a. 1971), hat ergeben: Die Resozialisierung wird von den Strafvollzugsbeamten nur rein verbal, mit Worten angestrebt. In Wirklichkeit treten Sicherheit und Ordnung als Substitutionsziele, als Ersatzziele, an die Stelle der Resozialisierung. Das ist auch verständlich, weil die Strafvollzugsbeamten zur Erfüllung ihres schweren Dienstes Erfolgserlebnisse benötigen und diese Erfolgserlebnisse nur in der Sicherheit und Ordnung der Anstalt finden können. Die Ersatzziele der Sicherheit und Ordnung ermöglichen auch dem haftgewohnten, mehrmals rückfälligen Straftäter sehr leicht die Einordnung. Er fällt nicht auf. Er genießt die Privilegien, die für eine solche reibungslose Einordnung gewährt werden. Auf diese Weise spielt der Strafgefangene eine rein reaktive Rolle; er reagiert immer nur auf das Verhalten der Strafvollzugsbediensteten; er wird auf diese Weise in Unselbständigkeit gehalten. Im Prisonisierungsprozeß, einem Gewöhnungsprozeß an die künstlichen Lebensbedingungen der Strafanstalt, wird der Straftäter noch stärker entsozialisiert, als er es ohnehin schon ist. Er entfernt sich immer mehr vom Leben in der freien Gesellschaft und paßt sich den künstlichen Situationen und dem erzwungenen Klima in der Strafanstalt an. Eine solche Prisonisierung bietet schlechte Chancen für die Resozialisierung. Deshalb ist die Rückfallquote nach
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Soziale Verursachung und Kontrolle
der Entlassung aus der Strafanstalt außerordentlich hoch. Im Jahre 1971 waren nach der Strafvollzugsstatistik des Statistischen Bundesamtes 81,1 % der Strafgefangenen vorbestraft. Im Rahmen der Strafvollzugsreform in der Bundesrepublik versucht man, durch sozialtherapeutische Anstalten den Straftäter zu behandeln. Eine solche Behandlung hat im Ausland negative Ergebnisse erbracht (Marlene Hilbers, Wolf Lange 1973). Es hat sich gezeigt, daß sie nicht geeignet ist, den Rückfall zu vermindern oder zu verhindern. Das lehren die Erfahrungen der Psychopathenanstalten in Herstedvester/Dänemark, in Ila/Norwegen, in Grendon Underwood/England, in Olesnica/ Polen, in Mittersteig/Österreich, in Vacaville/Kalifornien und im Clinton Prison, Dannemora, im Staate New York (hierzu Hans Joachim Schneider 1970, 1973 m. w. N.). Die Behandlung der Strafgefangenen im Strafvollzug ist kriminologisch, d. h. zum Zwecke der Vorbeugung gegen Rückfallkriminalität, sinnlos. Sie hat lediglich einen Humanisierungseffekt. Der Anstaltsstrafvollzug wird für die Strafgefangenen und die Strafvollzugsbediensteten erträglicher; die Spannungen und Konflikte lassen nach, und das soziale Klima in der Strafanstalt entspannt sich. Das gilt insbesondere für das Konzept der therapeutischen Gemeinschaft im Sinne von Maxwell Jones (1953). Autonomie und Selbstachtung der Gefangenen werden gestärkt. Nicht nur das Personal, sondern auch die Gefangenen selbst tragen Verantwortung für ihre Behandlung. Das Verhältnis zwischen Personal und Gefangenen spielt sich auf kooperativer, persönlich kommunikativer Basis ab. Jeder, der von einer Entscheidung betroffen wird, wirkt an dieser Entscheidung mit. Das Personal hilft dem Gefangenen, Entscheidungen für Gegenwart und Zukunft zu treffen. Die Gefangenen werden zum selbstverantwortlichen Handeln ermutigt, nicht etwa in Abhängigkeit gehalten. Der Gefangene ist ein aktiver, respektierter Mitarbeiter. Nicht nur zur Einübung demokratischer Verhaltensweisen ist Selbstverwaltung eingeführt, sondern sie ist auch ein Mittel, die Selbständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und das Selbstwertgefühl der Gefangenen zu stärken. Bei der Gruppenarbeit wird zwischen großer Gruppe, kleiner Gruppe, Personalsitzung und Familiensitzung unterschieden. In der Sitzung der großen
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Gruppe, an der alle Mitglieder der Strafvollzugsgemeinschaft, Personal und Gefangene, teilnehmen, werden alle anstehenden aktuellen Probleme besprochen. Antisoziale Tendenzen sollen hierdurch vermindert werden. Das Personal soll den Gefangenen zur Selbsthilfe und Selbstbestimmung verhelfen. Die Personalsitzung ist dafür da, nach der Sitzung der Strafvollzugsgemeinschaft dem Personal Gelegenheit zu geben, über die Entwicklung des gesamten Behandlungsprogramms kritisch nachzudenken. Die Kleingruppensitzung von acht Gefangenen mit einem Therapeuten hat den Sinn, bisher unkontrollierte Gefühle des einzelnen abzureagieren und die Selbstachtung der Gruppenmitglieder zu stärken. Dem Familienzusammenhalt und dem gegenseitigen Verständnis innerhalb der Familie dienen die abendlichen Familientherapiegruppen. Die nach dem Konzept der therapeutischen Gemeinschaften organisierten Jugend- und Erwachsenenstrafanstalten sind finanziell und personell sehr aufwendig. Gleichwohl scheitert dieses Konzept an dem Anstaltsklima, das auf Prisonisierung und nicht auf Resozialisierung gerichtet ist (Elliot Studt u. a. 1968; Howard W. Polsky, Daniel S. Claster 1968; David Street u. a. 1966). Kriminologen wie LaMar T. Empey, Gilbert Geis, Donald R. Cressey, Milton Luger, ]. Douglas Grant und Richard Korn setzen sich für die Verwendung von ausgewählten Straftätern und ehemaligen Strafgefangenen als Strafvollzugsbedienstete und Bewährungshelfer ein (Joint Commission 1968; Donald R. Cressey 1967). Straftäter, ehemalige Strafgefangene und Personen, die unter Bewährungshilfe stehen, werden als Lehrer, Berufsschullehrer, Handwerksmeister, Leiter von Freizeitgruppen und Therapeuten eingesetzt. Sie leiten Vorbereitungsprogramme für die Entlassung und Übergangsheime, die der Hilfe der entlassenen Gefangenen in der freien Gesellschaft dienen. Straftäter oder ehemalige Strafgefangene verstehen die Probleme der Kriminellen besser als das berufsmäßige Personal. Sie, die ihren Schicksalsgefährten zu helfen versuchen, werden von diesen besser akzeptiert als das berufsmäßige Personal. Der Strafgefangene, der als Therapeut eingesetzt wird, muß die Rolle des Therapeuten spielen; er muß sich also zunächst selbst einmal überzeugen, ehe er andere zu überzeugen versucht. Er
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Soziale Verursachung und Kontrolle
wird auf diese Weise selbst zum Ziel des Wandels, den er bei anderen anstrebt. Er lernt eine nichtkriminelle Rolle, in die er gleichsam hineinwächst. Psychotherapie im Strafvollzug kann nicht befürwortet werden. Ihr Erfolg hängt von Intelligenzhöhe, Krankheitseinsicht und Leidensdruck ab. Daß die Mehrheit der Strafgefangenen Kranke sind, wird von der modernen kriminologischen Forschung nicht bestätigt. Daß die Mehrzahl von ihnen Krankheitseinsicht aufbringt, ist völlig realitätsfremd. Ein Leidensdruck, bei dem der Strafgefangene von sich aus unter seinem Kriminellsein leidet, kann von außen her durch Strafe nicht an ihn herangetragen werden (a. A. Gerhard und Roland Mauch 1971; vgl. auch die Beiträge in Wilhelm Bitter [Hrsg.] 1969). Die Psychotherapie dient eher dazu, beim Strafgefangenen eine Rechtfertigung für seine Kriminalität zu erzeugen und damit den Weg zu weiterem Rückfall zu eröffnen (so William Glasser 1965). Denn die psychoanalytische Lehre führt die Kriminalität im wesentlichen auf frühkindliche psychische Traumata zurück. Für solche frühkindlichen psychischen Schäden fühlt sich der Rechtsbrecher jedoch nicht verantwortlich. Denn seine frühkindliche Umwelt hat sie ihm zugefügt. Auch die Verhaltenstherapie im Sinne der Konditionierung nach der behavioristischen Lerntheorie (Harold L. Cohen, James Filipczak 1971) hat bisher keine positiven Ergebnisse im Hinblick auf die Behandlung von Rechtsbrechern erbracht. Die sozialtherapeutischen Anstalten können von kriminologischer Sicht aus nicht gutgeheißen werden. Denn die Population, die in die sozialtherapeutischen Anstalten eingewiesen werden soll, ist viel zu heterogen, zu ungleichartig. Vom Begriff der Strafunempfindlichkeit für Rückfalltäter kann man vollends nicht ausgehen. Wer sich im „Normalstrafanstaltsvollzug" als strafunempfindlich erwiesen hat, ist in der Regel auch nicht mehr behandlungswillig und behandlungsfähig. Hinzu kommen die diagnostischen, die personellen und finanziellen Schwierigkeiten, die unüberwindbar sind. Hierzu fragt sich, welche Alternativen sich anbieten. Man kann an die Bewährungshilfe-Experimente denken, die in Nordamerika durchgeführt worden sind. Ihr Grundgedanke ist: Wenn schon Behandlung stattfinden soll, so soll sie möglichst
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frühzeitig und in Freiheit durchgeführt werden. Dies gilt fiir die Highfields-Experimente für jugendliche Straftäter, fiir Tagund Nachtstrafvollzug für erwachsene Straftäter im Staat Washington, für die Kombination der kurzen Freiheitsstrafe mit Bewährungshilfe in Schweden und für die „Community Treatment" und „Probation Subsidy" Projekte in Kalifornien. Im „Community Treatment" Projekt, das in den Städten Sacramento und Stockton seit dem Jahre 1961 durchgeführt wird, werden die Jungen der Experimentalgruppe in der Freiheit intensiv sozialtherapeutisch betreut. Jeder Bewährungshelfer hat 12 Probanden, die er 2- bis 5mal in der Woche besucht. Er wendet individuelle, Familien- und Gruppentherapie an. Die Behandlung in Freiheit dauert 2 Jahre. Vor zu hoch gespannten Erwartungen muß allerdings gewarnt werden. Die Ersetzung der Freiheitsstrafe durch Strafaussetzung zur Bewährung und Behandlung in Freiheit hat keine unmittelbaren rückfallvermindernden Wirkungen, allenfalls hat sie in bestimmten Einzelfällen einen mittelbaren rückfallvermindernden Erfolg. Aber folgende Forschungsergebnisse sind kriminologisch abgesichert: Die Bewährungshilfe ist erheblich kostensparender als der Anstaltsstrafvollzug. Falls die Probanden für die Bewährungshilfe nach bestimmten Persönlichkeitsgesichtspunkten kriminalprognostisch ausgesucht werden, besteht kein höheres Sicherheitsrisiko für die Gesellschaft. Die Bewährungshilfe wirkt nicht desozialisierend, also nicht kriminalitätsverschärfend. Wegen des ständigen Anstiegs der Kriminalität plante der Staat Kalifornien im Jahre 1964, jedes Jahr eine neue Strafanstalt zu bauen, und zwar 10 Jahre lang. Ohne die Inflationsrate, die Kostenexplosion, die erheblichen Folge- und Unterhaltskosten und die steigenden Kriminalitäts- und Rückfallziffern zu berücksichtigen, errechnete man eine Bausumme für diese Strafanstalten, die für den Staat Kalifornien untragbar war. Die Schaffung eines Platzes im Jugendstrafvollzug sollte 4500 $ und die eines Platzes im Erwachsenenstrafvollzug 2050 $ kosten. Demgegenüber betrugen im Jahre 1964 die Kosten für einen Probanden der Bewährungshilfe 142 $, wenn man eine Zahl von 5 0 Probanden pro Bewährungshelfer zugrunde legte. Aus dieser einfachen Erkenntnis folgerte man eine
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Soziale Verursachung und Kontrolle
radikale Änderung der Kriminalpolitik. Die entsprechenden Gesetze wurden im Parlament in Sacramento einstimmig angenommen. Die Plätze in den Strafanstalten wurden radikal gesenkt. Die Zahl der Probanden der Bewährungshilfe wurde erhöht. Die Bewährungshilfe wurde intensiviert. Jeder Bewährungshelfer bekam eine geringere Zahl von Probanden zugewiesen. Er wurde von bürokratischen Arbeiten entlastet, und er bekam Behandlungsdienste zugeordnet, die ihn bei seiner Aufgabe unterstützten. Solche Behandlungsdienste, die aus Psychiatern, Psychologen und Pädagogen bestehen, verfügen über eine große Variationsbreite von Behandlungsmöglichkeiten. Sie führen z. B. Gruppen- und Familientherapie durch. Die Mißerfolgsrate bei den Probanden der Bewährungshilfe in Kalifornien betrug 30 % . Diese Zahl erhöhte sich durch das „Probation Subsidy" Programm nicht, das die Strafhaft durch Strafaussetzung zur Bewährung (probation) ersetzen soll. Allerdings wurde die Auswahl der Probanden nach kriminologisch erprobten Kriminalprognoseinstrumenten vorgenommen. Jeder Proband mußte über eine Erfolgswahrscheinlichkeit von über 75 % verfügen. Mord, Notzucht, Raub und Gewaltdelikte waren von diesem Experiment ausgeschlossen. Es zeigte sich, daß durch diese vermehrte Anwendung der Bewährungshilfe keine Erhöhung der Rückfallziffer eintrat. Das „Probation Subsidy" Programm hatte allerdings andere Folgen: Zwei mit allen Errungenschaften der Zivilisation erbaute neue Jugendstrafanstalten mit je etwa 400 Plätzen wurden nicht mehr belegt. Sie stehen seither leer. Zwei Erwachsenenstrafanstalten und eine Jugrendstrafanstalt wurden geschlossen, und fünf Jugendstrafanstalten wurden um jeweils 50 bis 90 Plätze vermindert. Die Belegung im Jugendstrafvollzug Kaliforniens ging um 41 °/o, die im Erwachsenenstrafvollzug um 20 °/o zurück. Der Rückgang der Gefangenenzahlen im amerikanischen Bundesstrafvollzug in der Zeit von 1950 bis 1970 wird aus Abbildung 18 deutlich. Jeder Bewährungshelfer in Kalifornien hat durchschnittlich 28 Probanden in seiner Obhut. Es gibt aber auch Intensivprogramme, in denen die Bewährungshelfer nur einen bis fünf Probanden betreuen. 45 verschiedene Bewährungshilfeprogramme sind in Kalifornien vorhanden. In der
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Schaubild 18: Entwicklung der Gefangenenpopulation in den amerikanischen Bundesstrafanstalten im Zeitraum von 1950-1970 (Gefangenenzahlen und Verurteilungen zu Freiheitsstrafen auf 100 000 Einwohner det Bevölkerung)
Häuflgkeitszahlen auf 100.000 Einwohner
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B u n d e s r e p u b l i k h a t t e n a m 3 1 . 1 2 . 1 9 7 1 7 1 7 Bewährungshelfer 4 4 5 3 7 P r o b a n d e n zu betreuen. D e r Staat Kalifornien bezahlt
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Vorbeugung gegen Kriminalität
200 Millionen Dollar für die 15 °/o der in Strafanstalten untergebrachten Kriminellen und weniger als 200 Millionen Dollar für die restlichen 85 % der Kriminellen in der Bewährungshilfe (Robert L. Smith o. J.).
VII. Vorbeugung gegen Kriminalität und Behandlung des Rechtsbrechers 1. Probleme der Kriminalitätsprognose Kriminalprognose bedeutet Wahrscheinlichkeitsvorhersage von zukünftigen kriminellen Abläufen aufgrund gegenwärtigen oder vergangenen Verhaltens. Die Kriminalprognose im Einzelfall beansprucht nicht, eine Prognose mit Bestimmtheit zu treffen, sondern die Prognosen werden immer nur mit einem mehr oder weniger hohen Wahrscheinlichkeitsgrad ausgesprochen. Nach der Methode ihres Vorgehens werden klinische, typologische und statistische Täterprognose voneinander unterschieden. Die statistische Individualprognose benutzt Prognosetafeln, die aufgrund eines größeren Erfahrungsgutes statistisch aufgestellt worden sind. Kriminalprognosetafeln sind lediglich Hilfsmittel zur Objektivierung der Kriminalprognoseentscheidungen; sie dürfen nicht mechanisch und automatisch angewandt werden. Die klinische Individualprognose verwendet bewußt keine statistischen Prognosetafeln. Gleichwohl bereitet sie ihre Prognoseentschließung durch das Studium des Lebenslaufs und der Familienverhältnisse des Probanden, durch gezielte Exploration und Anwendung psychodiagnostischer Testverfahren sorgfältig vor. Mißbrauchsformen klinischer Kriminalprognose beruhen auf Intuition, Spekulation, Subjektivismus (Vorurteil, Voreingenommenheit), die keine zureichende Grundlage für eine Kriminalprognoseentscheidung im Einzelfall bilden können. Die auf den Rechtsbrecher bezogene Individualprognose wird auch nach ihrem Zweck und Ziel eingeteilt. Diese Gliederung geht zum Teil einher mit der Einordnung nach verschiedenen Stationen der Verbrechensverursachung und -bekämpfung. In
Probleme der Kriminalitätsprognose
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großen Zügen kann man die Prognose im Stadium der Prädelinquenz, die Rückfallprognose und die Behandlungsprognose nebeneinanderstellen. Die Prognose im Stadium der Prädelinquenz ist grundsätzlich verschieden von der Rückfallund Behandlungsprognose. Diese beiden letzten Prognosearten beziehen sich nur auf Personen, die bereits kriminell geworden sind. Sie beeinflussen bestimmte Entscheidungen, die die Organe der Strafrechtspflege im Reaktionsprozeß auf Kriminalität zu treffen haben. Die Kriminalprognose im Stadium der Prädelinquenz versucht demgegenüber, Kinder und Jugendliche ausfindig zu machen, die noch nicht kriminell geworden sind, die aber Persönlichkeitszüge besitzen, die in hohem Maße zur beharrlichen Dauerkriminalität neigen und die für kriminelle Einflüsse besonders empfänglich machen. Die kriminologische Prognoseforschung begann im Jahre 1923 in den USA. Diese Forschung beschäftigte sich seitdem hauptsächlich mit der Voraussage des Erfolgs (Nichtrückfälligkeit) und des Mißerfolgs (Rückfälligkeit) während der bedingten Entlassung (parole) bei erwachsenen Strafgefangenen, mitunter auch bei jugendlichen Strafgefangenen, in Einzelfällen mit der Vorhersage des Erfolgs oder Mißerfolgs während der Strafaussetzung zur Bewährung (probation). Die Forschung zur Vorhersage kriminellen Verhaltens im Stadium der Prädelinquenz setzte erst verhältnismäßig spät im Jahre 1940 ein. Die erste brauchbare Prognosetafel stellte Ernest W. Burgess (University of Chicago) auf. Er analysierte die Akten von 3000 Strafgefangenen, die aus drei Strafanstalten des Staates Illinois zur Bewährung entlassen worden waren. Seine Prognosetafel bestand aus 21 Faktoren, die er aufgrund der Korrelation seiner aus den Akten ermittelten Faktoren mit den Kriterien Erfolg (Nichtrückfälligkeit) und Mißerfolg (Rückfälligkeit) während der Bewährungszeit ermittelte. Die Prognosetafel von Burgess wurde im Prinzip in der Weise angewandt, daß in jedem Einzelfall je nach Vorliegen oder Nichtvorhandensein einzelner Faktoren (bzw. Unterfaktoren) dem Probanden Gut- oder Schlechtpunkte zugeteilt und die Gutpunkte einfach zusammengezählt wurden. Fast gleichzeitig mit Burgess hat das Forscherehepaar Sheldon und Eleanor Glueck im Jahre 1925 mit seinen
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Vorbeugung gegen Kriminalität
Prognoseforschungen begonnen. Aufgrund von langjährigen umfassenden empirischen Längsschnittuntersuchungen und aufgrund von Querschnittuntersuchungen seit dem Jahre 1940 haben die Gluecks etwa 50 verschiedene Prognosetafeln aller Art entworfen. Ihr bekanntestes Buch ist unter dem Titel „Unraveling juvenile delinquency" im Jahre 1950 erschienen. Es folgten die Forschungsberichte „Physique and delinquency" (1956), „Family environment and delinquency" (1962), „Delinquents and nondelinquents in perspective" (1968) und „Toward a typology of juvenile offenders" (1970). Die Gluecks haben im Jahre 1959 ihre bis dahin erstellten Kriminalprognosetafeln in dem Buch „Predicting delinquency and crime" zusammengefaßt. In Zeitschriftenaufsätzen sind aber bis heute zahlreiche Neuentwicklungen von Kriminalprognosetafeln der Gluecks veröffentlicht worden. Die populärste Kriminalprognosetafel der Gluecks ist ihre „Social Prediction Table", die - wie die meisten Glueck sehen Prognosetafeln - aus 5 gewichteten Faktoren besteht. Bei der „Social Prediction Table" handelt es sich um folgende Faktoren: Erziehung des Jungen durch den Vater, Aufsicht der Mutter über den Jungen, Zuneigung des Vaters zum Jungen, Zuneigung der Mutter zum Jungen und Zusammenhalt der Familie. Die Reliabilitäts- und retrospektiven und prospektiven Validitätsuntersuchungen zur „Social Prediction Table" sind bislang negativ ausgefallen (vgl. hierzu Hans Joachim Schneider 1967 b). Es wurde deshalb eine Kriminalprognosetafel mit folgenden 3 sozialen Faktoren entwickelt: Aufsicht der Mutter über den Jungen, Erziehung des Jungen durch die Mutter und Zusammenhalt der Familie. Sheldon Glueck hält diese Kriminalprognosetafel für praktisch anwendbar, da sie allen Gütekriterien der Kriminalprognosetafeln gerecht werde. Dieser Ansicht kann aufgrund vieler methodenkritischer Einwendungen nicht zugestimmt werden. Zu Beginn der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts unternahm Franz Exner seine kriminologische Forschungsreise nach Amerika, über die er 1935 berichtete. Seinen Anregungen ist es zu danken, daß Robert Schiedt, einer seiner Schüler, die erste deutsche Kriminalprognosetafel entwickelte. Die deutsche statistische Kriminalprognoseforschung ist seitdem über die von
Probleme der Kriminalitätsprognose
177
Burgess entwickelte Methode der Konstruktion und Anwendung von Kriminalprognosetafeln nicht wesentlich hinausgekommen (Hans Georg Mey 1967). Allerdings zeigt eine Umfrage in 50 Einzelstaaten der USA, daß von 48 Staaten, aus denen man Antworten erhielt, 43 Staaten keine statistischen Kriminalprognoseverfahren verwenden. In den Strafvollzugsanstalten von Illinois werden z. B. Modifikationen der ursprünglichen Burgess-Tafel noch immer angewandt. Im Staate Ohio wird eine aus Fragen des „Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI)" zusammengesetzte Tafel seit September 1961 als Prognosetafel in den Strafanstalten benutzt (Starke R. Hathaway, Elio D. Monachesi 1953, 1963). Bis vor kurzem waren im wesentlichen nur drei Methoden der Konstruktion von Kriminalprognosetafeln bekannt: a) Die Zusammenstellung von besonderen Reizkonfigurationen - meist aufgrund von bereits für andere Zwecke ausgearbeiteten Testverfahren - mit dem Ziel der Kriminalprognose (Testteil-, -profil- und -batteriemethoden); b) die Summation von rückfallbegünstigenden Faktoren mit gleichem Gewicht (Burgess-Methode); c) die Vereinigung von wenigen ausgewählten Prognosemerkmalen mit unterschiedlichem Gewicht in einer Tafel (GlueckMethode). Die bis in die neuesten Entwicklungen dieser Methoden hinein verfolgbaren und bisher z. B. von Hermann Mannheim und Leslie T. Wilkins (1955) nur gemilderten, nicht aber beseitigten Mängel dieser Methoden bestehen u. a. darin, daß sich viele Prognosefaktoren bei der Summierung in ihrem prognostischen Deutegehalt überschneiden und daß in einer ziemlich großen Mittelgruppe mit etwa gleichen Erfolgs- und Mißerfolgswahrscheinlichkeiten keine ausreichend treffsichere Kriminalprognose mehr möglich ist. Die Hauptschwäche dieser Kriminalprognoseverfahren ist indessen bis vor wenigen Jahren erstaunlicherweise unentdeckt geblieben: Sie berücksichtigen nämlich die Interdependenzen und -korrelationen ihrer Prognosefaktoren zueinander und zu ihrem Kriterium Erfolg/Mißerfolg überhaupt nicht. Diese Hauptschwäche wird durch die Struktur12
Schneider, Kriminologie
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Vorbeugung gegen Kriminalität
prognosetafeln überwunden, die gerade jetzt in allen Teilen Nordamerikas neu entwickelt werden. Die von W. T. Williams und ]. M. Lambert für die Pflanzenökologie entwickelte Klassifikationsmethode wurde übernommen und von Leslie T. Wilkins und MacNaughton-Smith (1964) zu einer neuen erfolgversprechenden Methode der Konstruktion von Kriminalprognosetafeln weiterentwickelt. Dieses Verfahren beruht auf folgenden methodischen Prinzipien: Es geht davon aus, daß ein hohes Maß bisher nicht entdeckter und mit den heutigen kriminologischen Forschungsmethoden auch vorläufig nicht erforschbarer Wechselwirkung zwischen den Prognosefaktoren und eine beträchtliche Variationsbreite individueller Ungleichheit unter der kriminellen Population vorherrscht. Es sucht folglich, die empirischen Daten nach dem Vorhandensein oder Fehlen von Merkmalen zu klassifizieren und die heterogene kriminelle Population sukzessiv-hierarchisch in relativ homogene Risikogruppen zu unterteilen, die sich nach dem Vorhandensein oder Fehlen von Merkmalen, die mit dem Kriterium Erfolg/Mißerfolg verschiedene Grade des Zusammenhangs besitzen, strukturell voneinander unterscheiden. Die Prognosemerkmale, meist objektive Außenfaktoren, werden für jede Risikogruppe miteinander kombiniert, so daß so etwas wie eine Typologie der Risikokategorien entsteht. Bekannte Kriminalstrukturprognosetafeln sind von Daniel Glaser, K. B. Ballard und Don M. Gottfredson und Tadeusz Grygier in jüngster Zeit entwickelt worden. Erste Validitätsuntersuchungen haben günstige Ergebnisse erbracht. Kelley B. Ballard und Don M. Gottfredson haben (1963) eine Experimentalgruppe von 873 männlichen Probanden untersucht, die im Jahre 1956 aus der Uberwachung der Bewährungshilfe in Kalifornien entlassen worden sind. Aufgrund dieser empirischen Studie haben sie eine Strukturvorhersagetafel (Schaubild 19) aufgebaut. Die Prozentzahlen für den Erfolg der bedingten Entlassung (Nichtrückfälligkeit) der zehn Untergruppen ihrer Strukturprognosetafel sind in Abbildung 20 veranschaulicht. Um ihre Tafel zu validieren, haben Ballard und Gottfredson sie auf ein zweites Sample von 937 männlichen Probanden angewandt, die gleichfalls im Jahre 1956 aus der Überwachung der Bewährungshilfe in Kalifornien
Probleme der Kriminalitätsprognose
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Schaubild 19: Klassifizierung einer Stichprobe von Gefangenen durch Analyse der Vorhersagemerkmale
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169
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entlassen worden sind. Sie haben die Nullhypothese aufgestellt, daß die Prozentsätze derjenigen, die die bedingte Entlassung nicht verletzen, sich in beiden voneinander unabhängigen Stichproben für jede der zehn Untergruppen ihrer Strukturprognosetafel nicht statistisch signifikant unterscheiden werden. Die
Schaubild 21: Prozentzahlen derjenigen, die die bedingte Entlassung nicht verletzen, in zehn Untergruppen einer Stichprobe von 937 Strafgefangenen (Bildung der Untergruppen auf Grund einer Analyse der Vorhersagemerkmale mit 5 °/o Irrtumswahrscheinlichkeit) 67
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Quelle: K.B.Ballord, D.M.Gottfredson 1963, 5. 11.
Nullhypothese, die ein bedeutsames Indiz für die Validität der Tafel bildet, konnte für neun Gruppen beibehalten werden. Nur bei Gruppe 1 ergab sich ein statistisch signifikanter Unterschied auf 5 % Niveau (vgl. hierzu die Abbildungen 20 und 21).
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Vorbeugung gegen Kriminalität
Die gegen die Anwendung der Kriniinalprognosetafeln vorgebrachte strafrechtsdogmatische und theoretisch-soziologische Grundsatzkritik ist auf Mißverständnisse und mangelnde Kenntnis der Anwendungsmöglichkeiten der Kriminalprognosetafeln zurückzuführen. Der immer wieder vorgebrachte Einwand, der Mensch sei nicht „mathematisierbar", zielt am Wesen statistischer Kriminalprognose völlig vorbei. Von einer Beeinträchtigung der Menschenwürde kann nicht die Rede sein. Wesentlich ernster sind dagegen die Bedenken gegen sozialpsychologisch schädliche Rückwirkungen der Kriminalprognoseentscheidungen zu beurteilen. Es besteht nämlich die ernste Gefahr, daß kriminell-gefährdete Kinder „stigmatisiert" werden, daß sie aus einer Trotzreaktion heraus delinquente Handlungen begehen und daß sie von unvernünftigen Eltern, Geschwistern, Lehrern und Klassenkameraden in die delinquente Rolle geradezu hineingedrängt werden. Unter dem Konzept der „sozialen Progression" versteht man in diesem Zusammenhang eine dynamische statistisch-meßbare Kraft, die auf die Mitglieder einer sozialabweichenden, nichtangepaßten Gruppe einen Druck ausübt, der sie fortschreitend in noch größere soziale Abweichung hineintreibt (gesellschaftlicher Ausgliederungsdruck). Ein solcher Progressiveffekt kann bei Kindern und Jugendlichen wirksam werden, die kriminalprognostisch ungünstig beurteilt worden sind. Denn eine Verheimlichung der nachteiligen Kriminalprognose ist unmöglich, da es der Sinn und Zweck der Prognose ist, durch Behandlung Frühkriminalität zu verhüten. Mit den ungünstig beurteilten Kindern und Jugendlichen muß also etwas geschehen, wenn sie in der Schule ausgesondert worden sind. An dieser Stelle stößt man auf das heikelste und vielleicht wichtigste Problem der Kriminalprognose im Stadium der Prädelinquenz und möglicherweise der prognostischen Beurteilung des Rechtsbrechers überhaupt. Es sind nämlich bisher keine neuen wirksamen Behandlungsmethoden entwickelt worden, die geeignet wären, der Frühkriminalität vorzubeugen. Für die Rückfallprognose gilt mit Modifikationen dasselbe, was bereits über die ungünstigen sozialpsychologischen Rückwirkungen der Prognoseentscheidung im Stadium der Prädelinquenz gesagt worden ist.
Behandlungsexperimente
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Der schlecht beurteilte Rückfalltäter ist in Gefahr, endgültig zu resignieren. Da er regelmäßig in eine Strafanstalt kommt oder dort zur Verbüßung seiner gesamten Reststrafe verbleiben muß, kann das durch die unvorteilhafte Entscheidung beeinflußte Behandlungsteam nur allzu leicht geneigt sein, seinen pädagogischen Optimismus in diesen Fällen zu verlieren. Ob aber ohne ein Mindestmaß an pädagogischem Optimismus eine genügend erfolgversprechende Behandlung überhaupt noch möglich ist, muß bezweifelt werden. Die Rückfalltäter sind dem negativen Progressiveffekt (gesellschaftlichen Ausgliederungsdruck) ebenso, wenn nicht in verstärktem Maße, ausgesetzt wie die kriminell gefährdeten, prädelinquenten Kinder (vgl. Hans Joachim Schneider 1971). 2. Behandlungsexperimente Kriminologische Forschung kann definiert werden als der Gebrauch von standardisierten systematischen Verfahren auf der Suche nach Wissen. Diese Forschung hat die Entdeckung von Fakten und von Theorien zum Ziel. Es gilt als ein Zeichen des Fortschritts, daß die moderne kriminologische Forschung in verstärktem Maße wissenschaftliche Hypothesen zu verifizieren sucht. Fakten dürfen nicht aufs Geratewohl zusammengetragen werden; sie müssen vielmehr auf der Basis wissenschaftlicher Hypothesen oder eines ganzen Hypothesengeflechts gesammelt werden. Eine heutige Kriminologie, die als wissenschaftlich beurteilt werden will, hat folgende Kennzeichen: Sie geht von einer konkreten Hypothese aus, die aus einer Theorie abgeleitet wird. Diese Hypothese wird getestet durch die exakte Anwendung einer oder mehrerer allgemein anerkannter Forschungstechniken. Die Ergebnisse werden einer sorgfältigen und unvoreingenommenen Interpretation und Validation unterzogen. Hierbei spielt Intuition im Hinblick auf die Formulierung einer neuen Hypothese und die Interpretation der Ergebnisse ihre bedeutsame Rolle. Das Ziel der kriminologischen Forschung sollte allerdings nicht nur darin bestehen, zwischen Variable X und Kriminalität eine einfache Beziehung (Hypothese) herzustellen, sondern vielmehr zu lernen, wie und unter welchen Bedingungen Variable X auf
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die Kriminalität einwirkt oder nicht. Wenn man die Hypothese aufstellt, daß A die Ursache von B ist, so handelt es sich bei A um die unabhängige, bei B um die abhängige Variable. Kriterien für die Verifikation dieser Hypothese sind folgende: Es besteht eine statistisch signifikante Beziehung zwischen A und B. A steht kausal vor B. Die Beziehung zwischen A und B löst sich nicht auf, wenn man die Wirkungen anderer Variablen entfernt, die kausal vor A und B stehen. Hier handelt es sich um das Problem einer dritten Variablen, die zwischen unabhängiger und abhängiger Variablen interveniert. Wenn man mit der Beziehung zwischen einer kausal früheren unabhängigen Variablen und einer abhängigen Variablen beginnt, so versucht der Forscher, mögliche vorhergehende Variablen aufzuspüren, auf die die beobachtete Beziehung zurückgeführt werden kann. Wenn er solche Variablen findet, erklärt er seine kausale Beziehung für unecht. Findet er keine solchen Variablen, schließt er vorläufig, daß seine unabhängige Variable eine Ursache seiner abhängigen Variablen ist. Diese Schlußfolgerung muß vorläufig sein; denn er kann nicht ausschließen, daß er eine zugrunde liegende Variable übersehen hat (Travis Hirschi, Hanan C. Selvin 1967; Travis Hirschi 1969). Dieses einfache methodologische Modell heutiger wissenschaftlicher Vorgehensweise in der Kriminologie bedenkt freilich nicht ausreichend die Komplexität und Dynamik der kriminellen Vorgänge. Denn einmal wirken eine fast unübersehbare Fülle von Variablen bei der Entstehung der Kriminalität mit, die der Kriminologe theoretisch zu integrieren hat. Zum anderen beachtet dieses Modell nicht die Interaktion und Interdependenz unter den verschiedenen Variablen, so daß der dynamisch-methodologische Aspekt zu kurz kommt. Deshalb wendet sich die neuere Kriminologie immer mehr von der rein kausalen, allein die Persönlichkeit und den sozialen Nahraum des Rechtsbrechers berücksichtigenden Methode ab, weil sie bis heute noch nicht gelernt hat, den dynamisch-methodologischen Aspekt in den Griff zu bekommen. Zudem sind kriminalätiologische Forschungen sehr kostspielig und langwierig, so daß der empirische Forscher angesichts des schnellen sozialen Wandels und wissenschaftlichen Fortschritts in der heutigen
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Zeit riskiert, daß seine Forschungsmethoden und -ergebnisse schon während der laufenden Untersuchungen veralten. Kriminologische Aktionsforschung („Action or operational research") ist eine Art, diesem Dilemma zu entgehen. Denn sie verfolgt vor allem das Ziel einer engstmöglichen Verbindung zwischen theoretischer Forschung und praktischer Aktion. Sie bedeutet Forschung, die nicht - wie andere Forschung - vor allem auf Vermehrung von Wissen, sondern auf die Verbesserung der sozialen Bedingungen gerichtet ist. Die Forschung wird in der engstmöglichen Zusammenarbeit mit Praktikern durchgeführt, die sich mit ganz konkreten praktischen Problemen zu beschäftigen haben. Möglichkeiten für eine solche Forschung bietet vor allem das weite Feld der Behandlung des Rechtsbrechers. Die Aktionsforschung beeinflußt und wandelt bewußt, was sie beobachtet. Sie erhält ihre Fragestellung unmittelbar von Praktikern, und sie trägt auch direkt zur Lösung aktueller praktischer Probleme bei. In den USA sucht man seit Anfang der Fünfzigerjahre in verstärktem Maße nach Alternativen für den Freiheitsentzug delinquenter Jugendlicher, weil die Rückfallziffer in den verschiedenen Einzelstaaten zwischen etwa 40 °/o bis 70 °/o liegt. Schon 1931 warnte die „Wickersham Commission" vor dem schädigenden Einfluß des Freiheitsentzugs. Die „President's Commission on Law Enforcement and Administration of Justice" setzt sich in ihrem Grundlagenbericht aus dem Jahre 1967 für eine Einschränkung der Freiheitsstrafe zugunsten einer Behandlung in Freiheit und einer unbürokratischen Hilfe durch „Youth Services Bureaus" ein, um die Jugendgerichte zu entlasten. Man experimentiert insbesondere mit Behandlungsmethoden in Gruppenwohnheimen für delinquente Jugendliche, in sogenannten „Residential Group Centers". Das Highfields-Experiment geht von der Annahme aus, daß Jugendkriminalität auf der Internalisation (Verinnerlichung) eines Systems von sozialabweichenden Werten und Einstellungen beruht. Der sog. „Peer Group", die mit eingeschlechtlicher Gleichaltrigengruppe übersetzt und die im folgenden der Einfachheit halber weiterhin mit „Peer Group" bezeichnet wird, räumt man eine große Bedeutung bei der Bildung einer neuen
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Identität ein. Highfields ist kein Ersatz für Strafaussetzung zur Bewährung oder Freiheitsstrafe, sondern eine eigenständige Behandlungsart. Flexibilität und „Permissiveness" (ein erlaubendes, zulassendes, duldendes Verhalten) sind wichtige Kriterien des Experiments. Das will aber nicht besagen, daß Struktur und Autorität verneint werden. Vielmehr wird die persönliche Verantwortlichkeit jedes einzelnen in den Vordergrund gestellt. Das Highfields-Experiment wurde im Juli 1950 in der Villa des Generals Charles A. Lindbergh eröffnet. Lindbergh hatte die Villa aufgegeben, aus der sein Kind entführt worden war. Die Villa hat vierzehn Räume und drei Garagen. Sie liegt etwas abseits von Hopewell, Princeton auf einem bewaldeten Hügel. Zu ihr gehört ein großes unbewirtschaftetes Gelände. Die wesentlichen Kriterien des Highfields-Experiments können stichwortartig umschrieben werden: informelles und enges Zusammenleben von zwanzig delinquenten Jungen in der als Gruppenwohnheim umgebauten Villa für eine kurze Zeit zwischen vier und acht Monaten. Entwicklung guter Arbeitsgewohnheiten in einem speziellen Arbeitsprogramm, Abendsitzungen von eineinhalb Stunden, die „Guided Group Interaction" (geleitete, gelenkte Gruppeninteraktion) genannt werden und die eine Einsicht in die Motive seines Handelns bei jedem Jungen und eine Änderung seiner Einstellung bezwecken, schließlich eine Aufrechterhaltung der Verbindung mit der freien Gesellschaft. In Highfields arbeiten ein Direktor und sein Stellvertreter, ein Arbeitsaufseher, zwei Heimaufseher und eine Sekretärin, insgesamt sechs Angestellte. Der Direktor hat eine Doppelrolle; er ist Therapeut und Verwalter. Der Arbeitsaufseher beaufsichtigt die Jungen nicht nur bei ihrer Arbeit, sondern er versucht auch, bei der Arbeit auftauchende persönliche und Gruppenprobleme zu lösen und mit dem Direktor und seinem Stellvertreter im Hinblick auf die therapeutische Beeinflussung der Jungen gut zusammenzuarbeiten. Die Heimaufseher sind verantwortlich für die Ordnung und Sauberkeit im Heim und für das leibliche Wohl der Jungen. Es gibt nur zwei strenge und einfache Regeln:
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a) Die Jungen dürfen ohne Erlaubnis das Heimgelände nicht verlassen, es sei denn, sie befinden sich in Begleitung eines verantwortlichen Erwachsenen. b) Die Jungen, die in dem „New Jersey Neuro-Psychiatric Institute" (einer psychiatrischen Heilanstalt) arbeiten, dürfen nicht mit weiblichen Patienten sprechen. Die Jungen arbeiten vierzig Stunden in der Woche und bekommen 50 Cents pro Tag als Entlohnung. Während ihres Aufenthalts in Highfields erhalten sie zwei- oder mehrmals dreitägigen Urlaub von Freitag morgen bis Sonntag abend. Sie können Kinos in den nahegelegenen Städten oder ihre Familien besuchen und mit ihrem Bewährungshelfer Kontakt aufnehmen. Sie bekommen auch Urlaub zu Hochzeiten, Beerdigungen oder ähnlichen familiären Anlässen. Sie dürfen unzensiert Post und zu bestimmten Zeiten an bestimmten Wochentagen Telefonanrufe erhalten. Sie dürfen Radio hören und jede Zeitung und Illustrierte lesen. Fernsehen ist allerdings in Highfields nicht vorhanden. Der Urlaub wird den Jungen nicht vom Direktor gewährt, sondern sie bekommen ihn aufgrund einer Entscheidung ihrer Therapiegruppe, der sie die Gründe für ihr Urlaubsgesuch vortragen müssen. Außerdem ist Highfields über Weihnachten und Ostern geschlossen. Alle Jungen befinden sich dann in Urlaub. Von 500 Urlauben, die 229 Jungen gewährt worden sind, verletzten fünf Jungen die Urlaubsbedingungen: Wohlverhalten während des Urlaubs und rechtzeitige Rückkehr (Lloyd W. McCorkle, Albert Elias, F. Lovell Bixby 1958). Kernstück des Behandlungsprogramms in Highfields ist die Gruppentherapie an fünf Abenden in der Woche. Es handelt sich nicht um traditionelle Gruppenpsychotherapie; denn das Wesen dieser Therapieart ist Einzeltherapie in der Gruppe. Gruppentherapie, wie sie in Highfields und in allen anderen Forschungsprojekten praktiziert wird, die dem Highfields-Vorbild folgen, zielt in ihrem eigentlichen Sinne auf den Wandel der Gruppe und ihrer Mitglieder durch die Gruppe selbst ab. Die Gruppe steht im Zentrum; sie ist vor allem das Ziel der Wandlung und Entwicklung. Die „Guided Group Interaction" hat im einzelnen folgenden Sinn: Wenn das Verhalten des Jugendlichen nicht mehr an den Leistungen seiner tüchtigeren
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Geschwister und Klassenkameraden gemessen wird und keine moralische Abwertung mehr erfährt, so bedeutet dies für ihn ein Entlastungserlebnis, das seine Wertschätzung erhöht. Er wird ferner dadurch ermutigt, daß er die soziale, altersgemäße und schicksalhaft-gleichartige Problematik seiner Kameraden entdeckt („peer group insight"). Durch die freimütige Diskussion erlangt er Einblick in die Gründe seines Fehlverhaltens. Seine Frustrationstoleranz wird erweitert, so daß er seine Aggressionen nicht sofort gegen sich oder andere richtet. Seine Angstgefühle und Spannungen bekommt er unter Kontrolle, indem er seine emotionalen Konflikte abreagiert und sie mit der Gruppe zusammen durcharbeitet. Ratschläge und Lebenshilfen seiner gleichgestellten Kameraden mit derselben Problematik nimmt er eher an als die Ratschläge von Autoritätspersonen. Bei dem Vortragen eigener persönlicher Schwierigkeiten werden Emotionen frei, die auf die Gruppenmitglieder heilsam wirken können. Durch die Gruppeninteraktion und die Überzeugungskraft des Selbstbetroffenen tritt eine Stärkung des Selbstbewußtseins und der Selbstkritik der Gruppenmitglieder ein. Derjenige, der andere überzeugen will, muß sich selbst erst einmal überzeugen, um glaubhaft zu wirken. So therapiert der Jugendliche, der bei dem therapeutischen Wandel der Gruppe mithilft, sich selbst, ohne es zu merken. Es tritt eine gegenseitige Ermutigung der Gruppenmitglieder ein. Sie fühlen sich in ihrem So-Sein akzeptiert. Sie können gegen Autorität rebellieren und protestieren. Der Gruppenleiter argumentiert nicht mit ihnen darüber, obgleich er ihre Ansichten nicht teilt. Die Gruppenmitglieder lernen die Ansichten anderer über sie erkennen und ertragen. Sie erfassen die Realität besser. Gefühle voll Haß werden mit großer Bitterkeit geäußert. Die so verstandene Gruppentherapie geht von der Annahme aus, daß beim Begehen von Straftaten unkontrollierte Gefühle eine große Rolle spielen. Sie hat den Sinn, diese Gefühle abzureagieren, so daß die Gruppenmitglieder nachreifen. Sie soll ferner die Selbstachtung der Gruppenmitglieder stärken. Scham und Reue sollen sich nur auf die begangenen Straftaten beziehen, nicht aber auf die Person des Täters selbst. „Guided Group Interaction" soll den Jugendlichen das Gefühl
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vermitteln, daß sie wertvolle Menschen sind, ganz gleich, was sie in der Vergangenheit getan haben. Sie bezweckt den Wandel in den Einstellungen der Jugendlichen gegenüber sich selbst und gegenüber ihrer Verantwortlichkeit als Bürger; sie bezweckt Fortschritte in ihrem Selbstvertrauen und in ihrer Fähigkeit, sich selbst als wertvolle Menschen anzuerkennen, die ihre Pflichten als Bürger zu erfüllen vermögen. Sie geht davon aus, daß sich die Jugendlichen gegenseitig in günstigem Sinne beeinflussen können. Wenn der einzelne Fortschritte macht und die Gruppe oder einzelne Gruppenmitglieder dies ihm gegenüber anerkennen, so wirkt dies im Sinne der Stärkung der Persönlichkeit mehr, als wenn der erwachsene Therapeut den Fortschritt bemerkt und den Jugendlichen lobt. Da alle Gruppenmitglieder vor einer ähnlichen Problematik stehen, können sie sich gegenseitig helfen, ihre Probleme auszudrücken. Die natürliche Sympathie in der Gruppe der Gleichaltrigen und ihre gegenseitige Ermutigung wirken sich konstruktiv auf die Gruppeninteraktion aus. Voraussetzung für eine erfolgreiche „Guided Group Interaction" ist allerdings, daß sie ein integrierender Bestandteil der gesamten Institution, der therapeutischen Gemeinschaft, ist. Sie muß in der gesamten Institution als notwendig und hilfreich angesehen werden. Das gesamte Leben in der Institution muß auf Therapie hingeordnet sein. Der Gruppenleiter muß jedem Gruppenmitglied mit demselben Respekt entgegentreten, den er von seinen Kollegen selbst erwartet. Er muß eigene Gefühle aus dem Spiel lassen und sich strengster Objektivität befleißigen. Er darf nicht erwarten oder gar darauf abzielen, daß die Gruppenmitglieder ihm gegenüber eine untergeordnete Rolle spielen. Er darf seine „Helferrolle" nicht übertreiben. Er muß darauf hinwirken, daß die Jugendlichen sich selbst und gegenseitig helfen und ihre Probleme selbst lösen. Der Gruppenleiter muß sich damit abfinden, daß die Jugendlichen ihm mit unvernünftiger und unverdienter Feindschaft begegnen; denn er ist der Repräsentant der Autorität in ihrer Gruppe. Er muß das feindselige Verhalten der Gruppenmitglieder mit Ruhe, Gelassenheit und ohne Argumente ertragen können. Er muß darauf hinwirken, daß die Jugendlichen ihm Vertrauen entgegenbringen. Das kann er
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dadurch erreichen, daß er den Gruppenmitgliedern zu verstehen gibt, daß er sie, nicht aber ihr Verhalten in der Vergangenheit, mag und daß er sie als Personen akzeptiert. Der Gruppenleiter muß auf Regressionen der Gruppe gefaßt sein. Er muß damit rechnen, daß die Gruppe an seinem ehrlichen Willen zweifelt, ihr zu helfen, und daß sie ihm mit Mißtrauen begegnet. Die Jugendlichen müssen sich über alles in den Gruppensitzungen frei äußern können, was sie beschäftigt und bedrückt. Der Gruppenleiter unterbricht sie nicht, widerspricht ihnen nicht, bestraft sie nicht, macht sie nicht lächerlich, kritisiert sie nicht. Er entschuldigt und verdammt ihr Verhalten in der Vergangenheit nicht. Dieses Verhalten („permissiveness") hat jedoch nichts mit fauler Untätigkeit des Gruppenleiters zu tun. Er muß die Gruppe zur Selbsthilfe motivieren. Er muß vor allem offene und bedeutungsvolle Diskussionen über Gedanken und Gefühle in der Gruppe selbst stimulieren. Er muß es vermeiden, unmittelbare Ratschläge zu geben, selbst wenn er direkt gefragt wird. Er muß die Frage an die Gruppe zurückgeben und seinerseits die Gruppe fragen, was sie darüber denkt. In den Gruppensitzungen herrscht - wenn möglich - eine entspannte, informelle Atmosphäre. Strengste Vertraulichkeit wird vom Gruppenleiter zugesichert und eingehalten. Die Behandlung geht nicht zentral vom Gruppenleiter aus, sondern die Gruppe selbst spielt in der Behandlung die entscheidende Rolle (permissive, non-directive, group-centered, group initiated treatment). Dieser Mangel an autoritärer Kontrolle beunruhigt die Gruppe zunächst. Sie fragen den Gruppenleiter: „Bekommen wir denn von Ihnen überhaupt keine Fragen beantwortet?" Nachdem die Gruppe begriffen hat, daß es auf sie selbst ankommt, beginnt sie, die Ernsthaftigkeit der Bemühungen des Gruppenleiters in Frage zu stellen. Dies ist das erste Zeichen des Gruppenwiderstandes. Dieser Gruppenwiderstand verstärkt sich dann noch dadurch, daß die Gruppe schweigt oder über ein Thema diskutiert, von dem sie annimmt, daß es für „Guided Group Interaction" irrelevant ist. Das Schweigen der Gruppe ist jedoch keine tote, verlorene Zeit. Unbehagen, Angst und Spannungen arbeiten während dieser Zeit in der Gruppe weiter. Wenn eben möglich, sollte der Gruppenleiter diese
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Zeichen des Gruppenwiderstandes ertragen und schweigend durchstehen. Denn Schweigen bedeutet nicht Inaktivität. Wenn dem Gruppenleiter das Schweigen unerträglich wird, kann er bestimmte Fragen stellen oder mit Rollenspiel, Psychodrama oder Filmvorführungen arbeiten. Alle diese Mittel sollen die Gruppe zur eigenen Diskussion stimulieren. Der Gruppenleiter muß ferner ertragen können, daß sich die Gruppe extensiv über die Begehung abweichenden Verhaltens unterhält. Er muß warten, bis es der Gruppe selbst zu viel wird. Er muß schließlich scharfe Kritik der Jugendlichen an ihren Eltern, Lehrern, Bewährungshelfern, an der Polizei, dem Jugendgericht und der Anstalt selbst in Kauf nehmen, in der sich die Jugendlichen befinden. Früher oder später wird der Gruppenleiter selbst zur Zielscheibe des Hasses und der Aggressionen. Delinquente Jugendliche unterscheiden sich von normalen Jugendlichen in ihrer Einstellung zur Autorität. Ihre Einstellung zur Autorität ist nicht passiv oder indifferent, sondern absolut negativ-feindlich. Das Besondere am „Guided Group Interaction" ist u. a., daß die Jugendlichen ihre Aggressionen gegenüber der Autorität abreagieren können, und zwar in Anwesenheit einer Person, die sie selbst als Autoritätsperson betrachten, ohne daß diese Person (der Gruppenleiter) mit ihnen argumentiert oder ihr Verhalten mißbilligt. Gegenüber dem „Group Counseling" unterscheidet sich die „Guided Group Interaction" durch die aktivere Rolle des Gruppenleiters, der das Verhalten der Jugendlichen in der Gruppe interpretiert und am Schluß der Sitzung deren Ergebnisse zusammenfaßt. Um den Erfolg des Highfields-Programms im Vergleich mit der Behandlung im traditionellen Strafvollzug beurteilen zu können, wurde eine Experimentalgruppe von Highfields-Jungen einer Kontrollgruppe von Jungen aus dem „New Jersey Reformatory Annandale" gegenübergestellt. Es sollte mit einem Fragebogen zu ihren Einstellungen gegenüber ihren Familien, Gesetz und Ordnung und ihren Erwartungen an das Leben, mit einem Satzergänzungstest und Nachuntersuchungen ermittelt werden, wie hoch die Rückfälle der Highfields- und Annandale-Jungen waren und ob sich ihre Einstellungen oder gar ihre Persönlichkeitsstrukturen durch die unterschiedliche Behand-
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Iung gewandelt hatten. Die Auswahlkriterien für beide Gruppen waren folgende: Es wurden nur Jungen zugelassen, die keine Freiheitsstrafe vor ihrer gegenwärtigen Strafe verbüßt hatten, die nicht schwachsinnig oder psychotisch waren, die unter keiner sexuellen Perversion litten und die keine chronischen Fortläufer und Ausbrecher waren. Zu zwei Dritteln waren die Jungen Vermögenstäter. H. Ashley Weeks (1963) untersuchte im Zeitraum von Februar 1951 bis April 1954 223 Highfields- und 122 Annandale-Jungen. Für seine Analyse benutzte er die Daten von 229 Highfields- und 116 Annandale-Jungen. Kriterien seines Rückfallbegriffs waren: Rückverweisung an das Jugendgericht aus dem laufenden Programm, Verletzungen von Bewährungsauflagen und erneute Verurteilungen. Er stellte fest, daß von den 229 Highfields-Jungen 145 (63 °/o) ihre Behandlung erfolgreich beendeten und wenigstens innerhalb eines Jahres nach ihrer Entlassung nicht mehr rückfällig wurden. Von den 116 AnnandaleJungen vollendeten nur 55 (47 °/o) ihre Behandlung und wurden wenigstens innerhalb von acht Monaten nicht mehr rückfällig. Uber Änderungen der Highfields-Jungen in ihren Einstellungen gegenüber Familie, Gesetz und Ordnung und ihren Erwartungen an das Leben oder über grundlegende Änderungen in ihrer Persönlichkeitsstruktur konnte Weeks nichts Erhebliches ermitteln. Albert Elias und Jerome Rabow (1960) führten mit dem Stichtag vom 15. Januar 1959 eine Nachuntersuchung an insgesamt 128 Highfields-Jungen durch, die in der Zeit vom 1. Juli 1955 bis 30. Juni 1957 in Highfields waren. Ihr Rückfallbegriff stimmt zwar im wesentlichen mit dem von Weeks überein, nämlich Begehung eines neuen Delikts oder Verletzung von Bewährungsauflagen. Sie führten aber mit Recht den neuen Begriff des Mißerfolgs während der Behandlungszeit ein. Es handelt sich hier um Jungen, die wegen Weglaufens oder ungebührlichen Verhaltens (z. B. wegen Schlägereien) in Highfields untragbar waren oder die das Jugendgericht wegen neuer Delikte aus der Behandlung in Highfields herausnahm. Von den 128 untersuchten Jungen waren 29 (23 °/o) Mißerfolge. Von den verbleibenden 99 Jungen, die ihre Behandlung in Highfields erfolgreich absolvierten, wurden 23 in
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einer Zeit von wenigstens eineinhalb Jahren wieder rückfällig. Beide kriminologischen Forschungen überzeugen nicht. Elias und Kabow konnten wegen mangelnder Kontrollgruppen überhaupt keine Vergleiche anstellen. Weeks' Rückfallbegriff ist zu undifferenziert, und seine Bewährungszeit von wenigstens 8 Monaten oder einem Jahr ist zu kurz, obwohl 56 °/o der Rückfälle der Highfields-Jungen innerhalb des 1. Jahres nach der Entlassung und weitere 37 °/o innerhalb des 2. Jahres nach der Entlassung begangen werden. Ganz abgesehen von diesen empirisch-kriminologischen Untersuchungen können gegen das Highfields-Pro;ekt wegen der Vorauswahl durch die Jugendrichter grundsätzliche Bedenken hinsichtlich der Beweiskraft der Erfolgskontrollen geltendgemacht werden. Es stellte sich nämlich heraus, daß - verglichen mit Annandale - mehr weiße Jungen, mehr Katholiken und mehr Jungen von Eltern aus der Mittelschicht in Highfields untergebracht worden waren. Die Strafvollzugsverwaltung von New Jersey hat in den letzten Jahren drei neue Gruppenwohnheime für delinquente Jugendliche nach dem Prototyp von Highfields errichten lassen: zwei Gruppenwohnheime für Jungen (Ocean und Warren) und ein Gruppenwohnheim für delinquente Mädchen (Turrell). Die Jungen in Ocean bewirtschaften eine Geflügelfarm, die Jungen von Warren eine Fischzüchterei. Beide Unternehmen sind staatlich. Die Mädchen von Turrell arbeiten im „State Hospital von Marlboro". Die „New York State Division for Youth" ist ebenfalls dem Beispiel von Highfields gefolgt. Sie hat drei Gruppenwohnheime für delinquente Jungen (Middletown, Auburn, West Brentwood) und zwei Gruppenwohnheime für delinquente Mädchen (Amenia und Staten Island) aufgebaut. Diese Gruppenwohnheime werden im Staate New York „Start Centers" genannt, weil der Entlassung aus ihnen regelmäßig eine Unterstellung des betreffenden Jugendlichen unter einen Bewährungshelfer und eine längere Bewährungszeit in der Freiheit folgt. Das Programm der „Start Centers" wird ergänzt durch sog. „Urban Homes", in denen die aus den „Start Centers" entlassenen Jungen für die erste Zeit nach ihrer Entlassung - im Durchschnitt ein Jahr - leben können und die 13
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gleichfalls Hilfszentren für diejenigen Jungen bilden, die außerhalb der „Urban Homes" bei ihren Familien wohnen. In den „Urban Homes" in New York City, Buffalo, Syracuse, Rochester, Bronx und Hempstead wohnen vor allem die Jungen, die wegen ungünstiger psychischer und sozialer Bedingungen nicht bei ihren Familien wohnen können oder wollen. Die Essexfields- und Collegefields-Experimente unterscheiden sich vom Highfields-Experiment hauptsächlich darin, daß die Jungen abends nach Hause zurückkehrten und über Wochenende bei ihrer Familie blieben. Die Jungen nahmen beim Essexfields-Experiment an fünf Tagen in der Woche vom frühen Morgen bis zum Abend am Behandlungsprogramm teil, das aus einem Arbeitsprogramm und einer intensiven Gruppentherapie bestand, wie sie bereits geschildert worden ist. Formell waren die über 16 Jahre alten Jungen vom Jugendgericht unter Strafaussetzung zur Bewährung (probation) von unbestimmter Dauer gestellt. Ihr Gruppenheim bestand aus einem alten Wohnhaus und lag in einem mit hoher Jugendkriminalität belasteten Gebiet der Stadt Newark, der größten Stadt in New Jersey. Das Essexfields-Programm dauerte von April 1961 bis Januar 1965. Eine kleine Gruppe von zwanzig Jungen und eine kleine Zahl von Therapeuten und Arbeitsaufsehern ermöglichten die Anknüpfung enger zwischenmenschlicher Beziehungen. Die Jungen arbeiteten im „County Mental Hospital", einer psychiatrischen Klinik. Zweck des Arbeitsprogramms war es, sie besser zur Arbeit zu motivieren und ihr Selbstbild durch Arbeitserfolge zu stärken. Sie sollten sich unter einer Streß-(Belastungs-)Situation besser kennenlernen, und sie sollten vor allem die Zusammenarbeit zur Bewältigung eines sozial adäquaten Zieles lernen. Jeden Morgen holte sie der Arbeitsaufseher mit einem Bus von zu Hause ab. Die Arbeit der Jungen bestand in Holzhacken, Unkrautjäten, Heckenscheren, Grasmähen, im Gewächshaus Helfen und im Winter Schneeschippen. Arbeitsaufseher und Therapeut arbeiteten derart zusammen, daß jede Auffälligkeit während der Arbeit zum Anknüpfungspunkt der abendlichen Gruppensitzung gemacht werden konnte. Nach dieser Gruppentherapiesitzung fuhren die Jungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause.
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Auch Collegefields (Robert F. Allen 1970), das ebenfalls inzwischen als Behandlungsexperiment abgeschlossen ist, benutzte die Gruppendynamik und insbesondere den Gruppendruck, um bei den Jungen eine Wandlung in ihren sozialen Einstellungen herbeizuführen. Neben Gruppentherapie sollte anstelle eines Arbeitsprogramms ein intensives Lehrprogramm am „Newark State College" in Union dafür sorgen, die Schulschwierigkeiten der Jungen zu beseitigen und ihre negative Einstellung zur Schule zu ändern. Der vorzeitige Schulabgänger („Dropout") sollte in die Schule zurückgeführt werden. Die Motivation der Jungen, in der Schule zu bleiben, sollte gestärkt werden. Die zwanzig Jungen wurden von vier Lehrern und zwei Therapeuten betreut. Sie wurden morgens zur Schule von zu Hause abgeholt und nach der Gruppentherapiesitzung am Nachmittag nach Hause entlassen. Während eines Aufenthaltes im Collegefields-Programm von sieben Monaten sollen die Jungen im Durchschnitt einen Schulrückstand von drei Jahren aufgeholt haben. Die vier Lehrer waren aus fünfzig Bewerbern ausgewählt worden. Sie waren mit den modernsten Lehrmethoden vertraut und verwandten z. B. auch Filme, Ausflüge, Diskussionen, Soziodrama und andere gruppendynamische Methoden, um die Jungen zu fördern. Es wurden 100 Essexfields-Jungen untersucht und mit insgesamt 1110 delinquenten Jungen verglichen, die alle aus dem Essex-County (N. J.) kamen und in der Zeit von Januar 1962 bis Januar 1965 vom Jugendgericht verurteilt worden waren. Alle Jungen waren zur Zeit ihrer Verurteilung 16 oder 17 Jahre alt. Sie durften keine Freiheitsstrafe vor ihrer gegenwärtigen Verurteilung verbüßt haben. Ferner waren Jungen mit Psychosen, schweren Neurosen und schweren geistigen Rückständen ausgeschlossen. Alle 1210 Jungen wurden im Juni 1966 nachuntersucht. Von diesen 1210 Jungen hatten 943 Strafaussetzung zur Bewährung (probation) erhalten; 67 waren den Gruppenwohnheimen Highfields, Ocean und Warren zugeteilt worden, 100 waren zu Freiheitsstrafe im „New Jersey Reformatory Annandale" verurteilt und 100 dem Essexfields-Programm überwiesen worden. Von allen Jungen waren die Daten ihres sozialen Hintergrundes, insbesondere ihr sozialabweichendes 13*
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Verhalten vor ihrer Verurteilung, möglichst vollständig und sorgfältig aufgenommen worden. Bei 726 Jungen war der „Minnesota Multiphasic Personality Inventory" (MMPI), ein Persönlichkeitsfragebogen mit drei Validitäts- und zehn klinischen Skalen und insgesamt 5 5 0 Fragen angewandt worden: bei 56,6 °/o der Jungen mit Strafaussetzung zur Bewährung, bei 96 % der Essexfields-Jungen, bei 94 °/o der Jungen aus den Gruppenwohnheimen und bei 7 2 % der Annandale-Jungen. Mit diesem Forschungsprojekt, das dem Essexfields-Behandlungsprogramm zugeordnet war, wollte man die relative Effektivität der vier genannten Behandlungsprogramme ermitteln. Richard M. Stephenson und Frank R. Scarpitti (1967) legten ihrer empirisch-kriminologischen Untersuchung folgenden Rückfallbegriff zugrunde: eine Gerichtsentscheidung, die auf Geldstrafe, Strafaussetzung zur Bewährung (probation), Überweisung zum Essexfields-Programm oder den Gruppenwohnheimen und Freiheitsstrafe (jail, reformatory oder prison) lautet. Von diesem Rückfallbegriff unterschieden sie den Mißerfolgsbegriff (die sog. „Inprogram failures"): eine Rückverweisung an das Jugendgericht während des laufenden Behandlungsprogramms, ohne daß der betreffende Junge vom Jugendgericht zum selben Behandlungsprogramm zurückgeschickt wurde. Die Mißerfolge betrugen bei den Jungen mit Strafaussetzung zur Bewährung (probation) 28 °/o, bei den EssexfieldsJungen 23 °/o und bei den Jungen aus den Gruppenwohnheimen 27 %>, waren also ziemlich gleich. Die Rückfallziffern beliefen sich bei den 894 verbleibenden Jungen, die ihre Behandlung erfolgreich beendeten, drei Jahre nach ihrer Entlassung auf insgesamt 24 °/o. Die Jungen mit Strafaussetzung zur Bewährung (probation) hatten mit 15 % die niedrigste Rückfallrate; ihnen folgten die Jungen aus den Gruppenwohnheimen mit 41 % und die Essexfields-Jungen mit 48 % Rückfällen; die höchste Rückfallquote hatten die Annandale-Jungen mit 55 %>. 75 % der Rückfälle ereigneten sich im ersten Jahr nach der Entlassung. Was nun die Persönlichkeitsstruktur und den Persönlichkeitswandel der vier verschiedenen Gruppen delinquenter Jugendlicher betrifft, so ergibt sich nach dem M M P I folgendes: Die
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Jungen mit Strafaussetzung zur Bewährung (probation) hatten eine deutlich geringere delinquente Persönlichkeit als alle drei anderen Gruppen. Sie waren weniger ängstlich und weniger feindselig; sie hatten eine bessere Einstellung zur Arbeit und eine höhere soziale Verantwortlichkeit. Die Essexfields-Jungen und die Jungen aus den Gruppenwohnheimen stehen psychodiagnostisch etwas zwischen den Probation-Jungen und den Annandale-Jungen; sie neigen deutlich aber mehr zu den Annandale-Jungen. Die Jungen, die die Behandlung nicht erfolgreich zu beenden vermochten (die sog. „In-program failures", die Mißerfolge), hatten eine Persönlichkeit mit deutlich vermehrten delinquenten Charakterzügen; sie entsprachen etwa den Annandale-Jungen in ihrer Persönlichkeit. Da der MMPI vor und nach der Behandlung angewandt worden war, wurden die vier verschiedenen Gruppen delinquenter Jugendlicher auch auf mögliche Persönlichkeitswandlungen hin überprüft. Persönlichkeitsveränderungen waren bei den Jungen mit Strafaussetzung zur Bewährung (probation) nicht vorhanden; sie waren bei den Essexfields-Jungen und den Jungen aus den Gruppenwohnheimen im positiven Sinne zwar merklich, aber nicht groß; die Annandale-Jungen zeigten deutlich negative Persönlichkeitswandlungen, insbesondere eine Verstärkung ihrer Feindseligkeit. Was die Essexfields-Jungen und die Jungen aus den Gruppenwohnheimen betrifft, so konnte eine positive Änderung ihrer sozialen Einstellung, ihrer Ich-Stärke und eine Verminderung ihrer Angst und ihrer Feindseligkeit beobachtet werden. Diese positiven Persönlichkeitsänderungen kann man auf das Behandlungsprogramm, insbesondere die „Guided Group Interaction", zurückführen. Sie vermindert die Angst, die Zweifel und die Feindseligkeit; sie verstärkt das Vertrauen und die Selbstachtung. Diese positiven Persönlichkeitswandlungen brauchen aber nicht unbedingt zu einer Verminderung der Rückfallziffern zu führen. Denn zur sozialen Reintegration müssen Unterstützung und Hilfe durch Familie, Schule, Arbeitgeber und Berufskollegen hinzukommen. Die geringeren Rückfallquoten bei den Essexfields-Jungen und bei den Jungen aus den Gruppenwohnheimen gegenüber den Annandale-Jungen
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können auch dadurch bedingt sein, daß die meisten Mißerfolge schon während des Behandlungsprogramms erkannt und aus dem jeweiligen Projekt entfernt wurden, während dies in Annandale nicht möglich war. Das „ N e w Jersey Reformatory Annandale" bekommt überhaupt die schwierigsten Fälle, die es nicht mehr abgeben kann, und auch Fälle, die durchaus in Gruppenwohnheimen günstiger zu behandeln wären und dadurch besseren Erfolg versprechen würden. Die Population von Annandale müßte also auf die schwierigsten Fälle beschränkt werden, die dann noch intensiver als in den Gruppenwohnheimen zu behandeln wären (evtl. medikamentös oder mit klassischer Psychotherapie oder mit Verhaltenstherapie). Daß die Gruppenwohnheime etwas besser bei der Rückfallrate abschnitten als Gruppenheime wie Essexfields mag vielleicht daran liegen, daß eine relative Isolation der delinquenten Jugendlichen durch Herausnahme aus ihrer Familie und aus ihrer ursprünglichen „Peer Group" doch für ein therapeutisches Milieu günstiger ist, in dem der Junge seine bisherigen Einstellungen besser zu wandeln vermag. Jedenfalls ist folgender Umstand beachtenswert: Die Forschungsdaten über die sozialen Hintergründe, insbesondere das der Verurteilung vorhergehende delinquente Verhalten der Jungen, und ihre Persönlichkeitsprofile aufgrund des MMPI zeigen deutlich, daß die Jugendrichter die Jungen mit einer beträchtlichen Genauigkeit im Hinblick auf die in Frage kommenden Faktoren zu differenzieren vermögen. Wenn man die Gerichtsentscheidungen - beginnend mit der Strafaussetzung zur Bewährung (probation) bis zur Verurteilung der Verbüßung einer Freiheitsstrafe in Annandale - als Kontinuum betrachtet, so haben nach den vorliegenden Forschungsdaten die Jugendrichter innerhalb des bestehenden Reaktionssystems eine effektive Arbeit geleistet. Das Southfields-Experiment ist in seiner theoretischen Konzeption und in seiner Behandlungsmethode als Parallelstudie zum Highfields-Experiment geplant. Es existiert seit September 1961. Die Tätergruppe ist die gleiche wie in Highfields: Jungen, meist Vermögenstäter, im Alter zwischen 16 und 18 Jahren. Nur besteht in Southfields insofern eine Modifikation, als nur Jungen aufgenommen werden, die bereits Mißerfolge während ihrer
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Strafaussetzung zur Bewährung (probation) waren. Das Southfields-Experiment wird in einem Gruppenwohnheim durchgeführt, das im Jahre 1961 auf einem verlassenen und seither unbewirtschafteten großen Farmgelände erbaut worden ist. Es liegt in Jefferson County, im Staate Kentucky, in der Nähe von Louisville. Die Jungen von Southfields arbeiten für das „Lakeland Mental Hospital". Das Arbeitsprogramm, die Kontakte mit der freien Gesellschaft und die abendlichen Gruppentherapiesitzungen sind genau dieselben wie in Highfields. Die Universität von Louisville betreut das Experiment wissenschaftlich. Lovick C. Miller (1970), der als klinischer Psychologe zur medizinischen Fakultät gehört, hat behauptet, es handele sich auch kriminologisch um eine Wiederholungsstudie (eine sog. „Replication or cross-cultural study"). Eine solche Studie hat sich nämlich die Wiederholung einer wissenschaftlichen Untersuchung mit denselben oder sehr ähnlichen Techniken, aber anderer Stichprobe zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort zum Ziele gesetzt, um zu erforschen, ob die in der ursprünglichen Studie gefundenen Ergebnisse zeitlich und örtlich unabhängig, also allgemeingültig sind. Miller glaubt aufgrund seiner Untersuchungen feststellen zu können, daß die Highfields-Methode in jeder Gesellschaftsordnung und innerhalb jedes Strafrechtssystems erfolgreich angewandt werden könne. Diese Feststellung kann deshalb nicht als bewiesen gelten, weil die beim Highfields-Experiment aufgenommenen Daten methodisch nicht mängelfrei sind und weil Miller einen ganz anderen Rückfallbegriff verwendet. Er unterscheidet zwar zwischen Mißerfolg während der laufenden Behandlung und Rückfall innerhalb eines Jahres nach der Entlassung. Als Rückfall betrachtet er jedoch nur die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe. Sein Rückfallbegriff ist also wesentlich enger als der bei den Highfields- und Essexfields-Experimenten verwandte Begriff. Den statistischen Vergleichen, die Miller dennoch zwischen Southfields und Highfields angestellt hat und die zu fast völliger Übereinstimmung führten, kann nicht zugestimmt werden. Miller ermittelte Mißerfolgs- und Rückfallzahlen. Er bildete drei Gruppen von delinquenten Jungen: Jungen mit Strafaussetzung zur Bewährung (probation), Souihfields-Jungen und
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Jungen, die zu Freiheitsstrafe im „Kentucky Village" verurteilt worden waren. Beim „Kentucky Village" handelt es sich um eine typische nordamerikanische Jugendstrafanstalt (vgl. dazu Hans Joachim Schneider 1967 a). 157 Jungen mit Strafaussetzung zur Bewährung (probation), 191 Southfields-Jungen und 162 Jungen von „Kentucky Village" wurden untersucht. Die Jungen mußten in der Zeit vom 1. Juli 1963 bis 30. Juni 1966 entlassen worden und innerhalb eines Jahres nicht rückfällig geworden sein. Mit 39 % Mißerfolgen während der laufenden Behandlungszeit hatte Southfields über 10 °/o Mißerfolge mehr als die bisher beurteilten Gruppenwohnheime, deren Mißerfolgsraten sich zwischen 23 °/o und 2 7 °/o bewegten. Darauf ist auch zurückzuführen, daß die Southfields-Jungen mit 11 °/o die wenigsten Rückfälle aller drei Vergleichsgruppen hatten. Denn die Jungen mit einem erhöhten Rückfallrisiko waren in Southfields als Mißerfolge in stärkerem Maße als bei den bisher beurteilten Gruppenwohnheimen schon vor ihrem Entlassungszeitpunkt ausgeschieden. Nach den Southfields-Jungen folgen die Jungen mit Strafaussetzung zur Bewährung (probation) mit 15 °/o der Rückfälle. Die größte Rückfallquote hatte das „Kentucky Village" mit 33 °/o. Die Gruppen der Southfields-Jungen und der Jungen mit Strafaussetzung zur Bewährung (probation) auf der einen Seite und der Jungen aus „Kentucky Village" auf der anderen Seite unterschieden sich bezüglich ihrer Rückfallquote statistisch sehr signifikant (p. < .01) voneinander. Diese Feststellung unterstützt die Hypothese, daß in den Gruppenwohnheimen ein Reinigungsprozeß einsetzt, der einen großen Teil der Jungen mit hoher Rückfallgefahr aussondert. Das Provo-Experiment fand in der Zeit von 1956 bis 1962 statt. Die Jungen verbrachten einen Teil des Tages in ihrem Gruppenheim in Pinehills in der Nähe der Stadt Provo im Staate Utah. Kernstück auch dieses Experiments war die „Guided Group Interaction". Zwei Therapeuten beschäftigten sich intensiv in täglichen Gruppensitzungen mit einer kleinen Zahl von insgesamt zwanzig delinquenten Jungen. Das Experiment besaß gleichfalls ein Arbeitsprogramm. Die Jungen konnten sich eine Arbeitsstelle in der Stadt suchen und Geld ver-
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dienen. Wer nicht arbeiten wollte, mußte unbezahlte Arbeit im Gruppenheim in Pinehills oder öffentliche Arbeit an den Straßen, Plätzen und Parks der Stadt gegen geringere Entlohnung leisten. Wenn eine Gruppe von Jungen zusammenarbeitete, wurde aus ihrer Mitte ein Arbeitsaufseher und Vorarbeiter ernannt. Das Provo-Experiment basierte sehr stark auf der Annahme, man müsse die Jungen mit ihren eigenen Konflikten konfrontieren. Ferner wurde das „Peer-Group-DecisionMaking", die eigenverantwortliche Entscheidung der Gruppe selbst, außerordentlich betont. Eine Selbstregierung der Jungen sollte es ihnen unmöglich machen, gegen die Autorität und die Leitung des Programms zu rebellieren. Die erwachsenen Therapeuten teilten sich mit den Jungen in ihre Rechte und Pflichten. So erhielt der einzelne Junge eine Verantwortung, der er sich stellen mußte. Das Provo-Programm besaß keine adäquaten Kontrollgruppen. Uberhaupt war der Forschungsaspekt unterentwickelt (LaMar T. Empey 1967 a, 1967 b, 1967 c). Hinzu kamen Schwierigkeiten mit der örtlichen Bewährungshilfe, so daß sich der Jugendrichter in einer heiklen Situation befand. Denn sowohl die Therapeuten des Experiments als auch die Bewährungshelfer waren ihm zugeordnet. An Forschungsergebnissen ist lediglich festgestellt worden, daß ein halbes Jahr nach ihrer Entlassung aus dem Provo-Behandlungsprogramm 84 % der Jungen nicht rückfällig geworden waren. Die örtlichen Bewährungshelfer hatten ursprünglich eine Erfolgsrate von 55 °/o. Nachdem das Provo-Programm begonnen hatte, erhöhten sich die Erfolge der Bewährungshelfer auf 77 % . Denn sie betrachteten das Experiment als Konkurrenzunternehmen. Von den vergleichbaren delinquenten Jungen im Staate Utah, die das Jugendgericht zu Freiheitsstrafe in einer Jugendstrafanstalt verurteilt hatte, waren ein halbes Jahr nach ihrer Entlassung nur 42 °/o nicht wieder verhaftet. Das Provo-Experiment mußte wegen des Widerstandes der örtlichen Bewährungshilfeorganisation eingestellt werden. Das Silverlake-Experiment beruhte auf folgendem theoretischen Konzept (LaMar T. Empey, Steven G. Lübeck 1971): Die Familien der delinquenten Jugendlichen sind nicht in der Lage, ihren
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Vorbeugung gegen Kriminalität
Kindern emotional das zu geben, was sie zu ihrer Reifung brauchen. In seiner Schule, in seiner „Peer Group", bei der Polizei und beim Jugendgericht stößt der Junge erneut auf soziale Beschränkungen. Seine Entbehrungen und Frustrationen werden fortgesetzt. Der Effekt kumuliert sich. Wenn der Junge sich erst einmal selbst als Problemkind betrachtet, tut es sein gesamter sozialer Nahraum auch. Er neigt nicht nur persönlich dazu, kriminell zu bleiben, sondern seine Umgebung drängt ihn geradezu in eine solche Haltung hinein. Er wird als Außenseiter der Gesellschaft stigmatisiert. In einer solchen Situation suchen und finden diese Jungen Kameraden, die ihnen alternative Befriedigung für die ihnen verwehrten sozialadäquaten Beziehungen ermöglichen. Es entsteht eine delinquente Subkultur. Daß die Jungengruppe delinquent ist, bedeutet allerdings noch nicht, daß sie die legalen Ziele und Werte der Mittelschicht völlig zurückweist. Die Jungen stehen vielmehr in einem Wertkonflikt. Sie haben die Hoffnung, ihre Ziele auf gesetzlichem Wege zu erreichen, noch nicht völlig aufgegeben. Sie versuchen, ihr delinquentes Verhalten sekundär zu rationalisieren und zu neutralisieren. In der Therapie muß die delinquente Gruppe deshalb selbst zum Ziel der Wandlung gemacht werden. Die Jungen kennen sehr wohl die Grundwerte der Mittelschicht. Da sie durch ihre „Peer-Group" an delinquentes Verhalten gewöhnt worden sind, können sie auch dieses Verhalten nur durch ihre „Peer-Group" verlernen. Ein solches Verlernen kann in der Gruppentherapie allein dadurch geschehen, daß sowohl das Personal wie auch die Jungen gemeinsame und gleichberechtigte Rollen im Hinblick auf eine soziale Reintegration spielen. Die Jungen im Silverlake-Experiment erhalten eine beträchtliche Macht und spielen eine aktive Rolle. Denn sie sollen Mitglieder einer antidelinquenten Gruppe werden. Hierbei ist nicht nur beachtenswert, daß der einzelne Junge sich wandelt, sondern daß er auch anderen hilft, sich zu ändern. Die Jungen bekommen eine schwere Verantwortung aufgebürdet beim Problemanalysieren, beim Plänemachen, beim Schwierigkeitenvermeiden und bei der Teilnahme an allen Grundentscheidungen. Der Therapeut motiviert die Gruppe zum Wandel und weist ihr Alternativen zu ihrem delinquenten Verhalten
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auf, die sie tatsächlich zu realisieren vermag. Ein ehemaliger Delinquenter zu sein, ist eine soziale Rolle, die durch die gesetzestreuen Leute und die delinquenten Kameraden immer wieder bestärkt wird. Deshalb genügt es nicht, ein noch so fortschrittliches Behandlungsprogramm in einer von der Gesellschaft weitgehend isolierten Institution einzurichten. Es ist vielmehr ein Behandlungsprogramm in der Gesellschaft selbst notwendig. Freilich bringt ein solches Programm Angst und Konflikte mit sich. Denn es ist für das Behandlungspersonal wie für die Probanden leichter, in einer Institution organisatorische Verfahrensweisen zu ritualisieren, als miteinander im Hinblick auf die Stärkung der Stellung des Delinquenten zu kooperieren. Aber gerade durch eine solche Kooperation werden die Reste der gesetzlichen Tendenzen bei den Delinquenten mobilisiert. Diese Tendenzen müssen unterstützt werden. Die Jungenrepublik Silverlake existierte seit Beginn 1964 bis 1968. Sie hatte ihr Domizil in einem Haus mit einem großen Garten in einem stillen Wohnviertel von Los Angeles. Zwei Therapeuten und ein kleines Heimpersonal betreuten 20 Jungen im Alter von 16 bis 18 Jahren. Tägliche Gruppentherapiesitzungen fanden statt. Die Jungen waren verpflichtet, die „High School" in der Zeit von 7.30 Uhr bis 16.00 Uhr in der Nachbarschaft zu besuchen, in der sie lebten. Ihre Nachbarschaft war von Leuten der weißen oberen Mittelschicht bewohnt. Die Schule stellte demgemäß relativ hohe akademische Anforderungen. Die Silverlake-Jungen erhielten Nachhilfeunterricht. Schulprobleme waren bedeutsame Gegenstände in den Gruppentherapiesitzungen am Abend. Die Jungen mußten das Haus selbst in Ordnung halten. Sie bewegten sich frei in ihrer Nachbarschaft ohne Aufsicht eines Erwachsenen. Über Wochenende konnten sie nach Hause fahren. Es fanden Familienkonferenzen im Gruppenwohnheim statt, an denen die Eltern, die Jungen und die Therapeuten teilnahmen, die die einzelnen Familienprobleme besprachen. Das Silverlake-Experiment wurde von der Universität von Südkalifornien wissenschaftlich betreut. Die Experimentalgruppe bestand aus Jungen aus Los Angeles, die z. Z. ihrer Aufnahme 15,9 bis 18 Jahre alt waren. Psychotiker, Rausch-
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giftsüchtige und schwere Sexualtäter waren ausgeschlossen. Die Experimentalgruppe setzte sich zu drei Vierteln aus Weißen, zu einem Zehntel aus Negern und zu einem weiteren Zehntel aus Mexikanern zusammen. Der Experimentalgruppe war eine Kontrollgruppe aus der offenen Jugendstrafanstalt in Chino/ Kalifornien zugeordnet. Diese „Training School" war mit 130 Jungen belegt, die in Pavillons („Cottages") zu je 25 Jungen lebten. Die Jugendstrafanstalt bewirtschaftete eine große Farm. Ihr Behandlungsprogramm zielte auf Ordnung, Verantwortung, emotionale Kontrolle, schulische Fortschritte, gute Arbeitsgewohnheiten und -fähigkeiten, Selbstverständnis und Selbstdisziplin ab. Der Durchschnittsaufenthalt betrug 16 Monate. Jeder Pavillon besaß einen Therapeuten und eine Hausmutter. 10 Lehrer unterrichteten die 130 Jungen, die sich wie in einer normalen Stadt selbst regierten. Bürgermeister, Polizeichef, Richter usw. wurden für eine bestimmte Zeit gewählt. Die Universität von Südkalifornien hat 140 Jungen der Experimentalgruppe und 121 Jungen der Kontrollgruppe mit verschiedenen Forschungsmethoden in der Zeit von Februar 1964 bis Oktober 1967 untersucht. Es ging ihr um drei Aspekte der kriminologischen Forschung: Aufnahmeauswahl, Kontrolle des Behandlungsprozesses und Ergebnisse der Behandlung. Bei der Forschung zur Aufnahmeauswahl legte das Forschungsteam unter Leitung von LaMar T. Empey hauptsächlich Wert auf die Fragestellung, Typen von Tätern aufgrund einer Sequenzanalyse Typen von Behandlungsprogrammen zuzuordnen. Als Forschungstechniken wurden die Aufnahme von Daten des sozialen Hintergrundes und der „Jessness Psychological Inventory", ein Persönlichkeitsfragebogen mit 155 Fragen, verwandt, um Persönlichkeitsprofile zu ermitteln und die Jungen in psychologische Untertypen einzuteilen. Bei der Kontrolle des Behandlungsprozesses wurden folgende vier Forschungstechniken eingesetzt: ein Fragebogen für das Personal und die Jungen der Experimental- und Kontrollgruppe, der zu ihren Vorstellungen über ihre gegenseitigen Behandlungsprogramme Auskunft geben sollte, ein Fragebogen über die unterschiedlichen Zwecke der Behandlungsmethoden, ein Erhebungsbogen über kritische Ereignisse im Experimentalprogramm (über Delin-
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quenz, Schulschwierigkeiten, Schlägereien usw.) und über Reaktionen auf diese Ereignisse durch das Personal und die Jungengruppe und schließlich der soziometrische Test HIM-A. Bei der Erforschung der Behandlungsergebnisse kam es dem Team nicht nur darauf an, die Rückfallquoten und einen Wandel im Verhalten und in den sozialen Einstellungen sowie Persönlichkeitsveränderungen festzustellen, sondern auch auf eine eventuelle Verminderung des delinquenten Verhaltens der Zahl und Schwere nach zu achten. Bei der Erforschung der Aufnahmeauswahl hat das Forschungsteam zwar verschiedene Typologien aufgrund des „Jessness Inventory" herausgearbeitet. Eine Zuordnung zu bestimmten Behandlungstypen ist ihm aber nicht gelungen. Das Forschungsteam stellte fest, daß bei den Silverlake-Jungen Schulerwartungen und Schulerfolg nicht im Einklang waren. Mehr als neun Zehntel der Jungen sagten, daß Erziehung sehr wichtig sei und daß sie sich für die Schule interessierten. Uber 50 % wollten sogar zum College gehen. Sieben Zehntel mußten demgegenüber die Schule wegen Schulschwierigkeiten verlassen. Es zeigte sich also, daß die akademischen Bestrebungen der Jungen mehr auf ihrer Phantasie beruhten. Dasselbe kann für das ideale „Image" gelten, das man bei den Jungen erfragte: ein Junge im Alter um 20 Jahre, eine beliebte und clevere Person, der Intellektueller oder Unternehmer werden und zur oberen Mittelschicht oder zur Oberschicht gehören möchte. Er hat eine deutliche Abneigung, in Schwierigkeiten zu kommen, beherrscht seine Gefühle, hat eine positive Einstellung gegenüber seinen Eltern und hält die Schule für nützlich. Was die Zahl der kritischen Ereignisse (kriminelle Handlungen, Schlägereien, Schulschwierigkeiten usw.) anlangt, so nahmen sie im Laufe des Behandlungsprozesses ab. Während der ersten 8 Monate betrug die Häufigkeit noch 4,2, während der zweiten 8 Monate senkte sie sich merklich auf 1,23 und während der dritten 8 Monate ging sie schließlich auf 0,88 zurück. Ferner wurden im Laufe der Experimentalbehandlung weniger kritische Handlungen in der freien Gesellschaft als im GruppenWohnheim selbst begangen. Die Gruppenunterstützung für delinquentes Verhalten ließ nach. Denn die kritischen Hand-
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lungen wurden immer mehr durch Einzeltäter und nicht durch mehrere Täter verübt. Sowohl das Personal wie die Jungen selbst reagierten mit harten Strafen auf solche Ereignisse. Hier zeigt sich, wie auch in anderen kriminologischen Untersuchungen, daß es auch in behandlungsorientierten Anstalten einen Trend zur repressiven Strafe gibt, falls die Grundregeln der Behandlung nicht eingehalten werden. Die Einhaltung dieser Grundregeln wird von der therapeutischen Gemeinschaft zur positiven Wandlung für notwendig gehalten. Ihre Nichteinhaltung wird als Gefahr für das gesamte Behandlungsprogramm empfunden. Es ist für den Jungen, der sich entschieden hat, sich an die prosozialen Normen zu halten, nahezu unmöglich, sozialabweichendes Verhalten seiner Kameraden zu dulden, ohne daß er selbst wieder von seiner prosozialen Haltung abgeht. Von der Gruppe wurden mehr delinquente Handlungen entdeckt als durch die Polizei und die Schule. Diese Erkenntnis beruht auf einer 2jährigen Forschung. 157 kritische Ereignisse wurden in 591 Interviews mit 99 Jungen und 5 Mitgliedern des Personals festgestellt. Nur 17 % dieser Ereignisse wurden durch die Polizei und die Schule entdeckt. Ferner begingen lediglich 1 1 % aller Jungen fast 50°/o der kritischen Handlungen. 28 % der Jungen waren überhaupt nicht in solche Ereignisse verwickelt. Hier zeigt sich deutlich die Aussonderungs-, Besserungs- und Kontrollfunktion der Gruppentherapie. Das Gruppenwohnheim für delinquente Jugendliche innerhalb einer Stadt bedeutet aus demselben Grunde auch keine größere Gefahr für die Gesellschaft als die offene Jugendstrafanstalt. Denn die Fortläufer-Quoten bei der Experimental- und Kontrollgruppe (37 % und 39 °/o) waren fast gleich. Die Mißerfolge („In-program failures") waren sowohl bei der Experimental- wie bei der Kontrollgruppe sehr hoch. Bei der Experimentalgruppe erwiesen sich die psychisch am schwersten gestörten Jungen als Mißerfolge während des Behandlungsprogramms. Von 140 Silverlake-Jungen waren 54 °/o Mißerfolge. Von den verbleibenden 64 Jungen (46 %), die das Programm erfolgreich absolvierten, wurden 30 °/o nach ihrer Entlassung rückfällig. Von 121 Jungen aus der Kontrollgruppe waren 50 %> Mißerfolge. Von den verbleibenden 62 Jungen
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(50 %), die die „Training School" erfolgreich durchlaufen hatten, wurden 22 °/o rückfällig. Die etwa gleichen Behandlungsergebnisse wurden in der Experimentalgruppe während der Hälfte der Behandlungszeit der Kontrollgruppe erzielt. Der Einfluß der „Peer-Group" nach der Entlassung aus dem Experimentalprogramm spielte bei den Rückfällen der SilverlakeJungen eine deutlich geringere Rolle. Auch dieses Ergebnis kann man mit der erfolgreichen Anwendung der Gruppentherapie („Guided Group Interaction") interpretieren. 3. Hilfen für die straffällige Jugend „Ich bin absolut davon überzeugt, daß die Entwicklung einer Sonderpädagogik für die straffällige Jugend das sozialabweichende Verhalten der Jugendlichen und Heranwachsenden nur noch verschlimmert, während eine einfache positive zielbewußte Methode ihr Kollektiv in kürzester Frist normalisiert." Diese Ansicht äußerte der sowjetische Kriminologe Makarenko (1963) in den zwanziger Jahren. Er leitete damals eine Arbeitskolonie für straffällig gewordene, schwererziehbare Jugendliche. Was er unter einer „einfachen positiven zielbewußten Methode" versteht, hat Makarenko in seinem Buch „Der Weg ins Leben" konkretisiert: Im Leben des Kollektivs darf es keinen Stillstand geben. Es muß wachsen, reicher werden, eine bessere Zukunft vor sich sehen und ihr in freudiger gemeinsamer Anstrengung, in beharrlichen, frohen Träumen entgegenstreben. Sicheres und präzises Wissen, Können, Meisterschaft, goldene Hände, wortkarges Wesen, das Vermeiden leerer Phrasen, stete Bereitschaft zur Arbeit - das ist es, was die Jugend hierbei im höchsten Grade mitreißt. Im Jahre 1970 hat das „Allunionsinstitut zur Untersuchung der Gründe und der Ausarbeitung von Vorbeugemaßnahmen der Kriminalität" in Moskau zwei Sammelbände veröffentlicht, in denen es die Ergebnisse von empirisch-jugendkriminologischen Studien über die Ursachen der Jugendkriminalität in der Sowjetunion zusammengetragen hat: Das Interesse an materiellen Gütern überwiegt die geistigen Bedürfnisse. Die Kinder werden durch gute materielle Lebensbedingungen in der Fami-
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lie verwöhnt und zur Arbeit und Einhaltung moralischer N o r men der Gesellschaft nicht genügend angehalten. Unzulänglichkeiten und Deformationen des Sozialisationsprozesses in der Familie, Schule, in den Berufs- und Freizeitgruppen erzeugen Individualismus, Egoismus, negative Einstellung zur Gesellschaft, M a n g e l an Disziplin, Mißachtung der Autorität, T e n denzen zum Anarchismus und ein Imponieren im Negativen. Erziehungsmängel in der Familie, insbesondere Nachsichtigkeit, unmäßige Befriedigung materieller Forderungen und unangemessene Befreiung von Verpflichtungen, bringen Reaktionsbereitschaften hervor, die f ü r kriminelles Verhalten anfällig machen: Konsumbeziehung zum Leben, Vernachlässigung der Forderungen der Gesellschaft und eine völlig falsche Vorstellung über die Verpflichtungen, die die J u g e n d der Gesellschaft gegenüber hat. Diese Forschungsergebnisse der sowjetrussischen Jugendkriminologie stimmen mit den Resultaten jugendkriminologischer Untersuchungen in beiden deutschen Staaten, in Österreich, der Schweiz, in Skandinavien, im angloamerikanischen Bereich und in J a p a n überein: Die Leitbilder und Wertvorstellungen der modernen Industriegesellschaft orientieren sich an der „Freizeitklasse". Geringe Belastung bei möglichst großer Entlastung bildet das erstrebenswerte Ziel. Materieller K o n s u m steht über den geistigen, wissenschaftlich-kulturellen Bedürfnissen. A u f g r u n d dieser vorwiegend materiell ausgerichteten Leitbilder k o m m t es zum Z e r f a l l der emotionalen, gefühlsmäßigen Beziehungen in den sozialen G r u p p e n : in der Familie, Nachbarschaft, Freundschaft, Schule, Berufs- und Freizeitgruppe. Die Psychodynamik dieser G r u p p e n funktioniert nicht mehr. Der mitmenschliche K o n t a k t läßt nach. Es entwickeln sich Fehleinstellungen der Gleichgültigkeit und gegenseitigen Zurückweisung. Diese schlechten sozialstrukturellen und - f u n k tionalen Bedingungen führen, insbesondere in den industriellen Ballungszentren, gleichzeitig zum Verlust der persönlichen Identität. In der leicht überblickbaren Agrargesellschaft konnte das Individuum in seinem sozialen N a h r a u m erkennbar alle Rollen spielen, zu denen es bereit und in der L a g e w a r . In der modernen Industriegesellschaft spielt es nur noch Teilrollen,
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Familien-, Berufs- und Freizeitrollen, agiert und reagiert nur noch mit Sektoren seiner zersplitterten Persönlichkeit. Seine Familienpersönlichkeit braucht z. B. nicht mehr unbedingt mit seiner Berufspersönlichkeit übereinzustimmen. Durch diese Persönlichkeitsverarmung wird die Identifikation des Jugendlichen mit erwachsenen Vorbildern außerordentlich erschwert. Der Junge, der in der Agrargesellschaft beispielsweise den Vater zu Hause, im Beruf und in seiner Freizeit gleichermaßen erlebte, trifft mit dem Vater heute in der modernen Industriegesellschaft in der Regel allenfalls kurzzeitig in der Familie zusammen. Durch solche mangelnden Identifikationsmöglichkeiten entstehen nicht nur Sozialisationsschäden, sondern sie tragen auch zur Herausbildung einer Jugendsubkultur und zur Desintegration zwischen Erwachsenen- und Jugendgesellschaft bei. Die Erwachsenen widmen sich ihren Belastungen im Beruf und ihren Entlastungen in ihrer Freizeit. Sie überlassen die Jugendlichen weitgehend sich selbst. Diese Gleichgültigkeit der Erwachsenen wird von der Jugend als Unrecht empfunden. Sie protestiert und rebelliert, weil sie sich degradiert fühlt. Vertrauensschwund, Einsamkeit, mangelndes Selbstvertrauen und Entmutigung der Jugend sind die Folge. Neben den vorwiegend materiell orientierten Leitbildern und den hierdurch gestörten Sozialstrukturen trägt die weitgehend fehlende äußere Sozialkontrolle wesentlich zum Entstehen der Jugendkriminalität bei. Unter Sozialkontrolle wird hier das Gehalten- und Geborgensein der Jugendlichen in ihren sozialen Beziehungen verstanden. In diesem Sinne ist eine zu strikte, aber auch eine zu lasche Sozialkontrolle gleichermaßen kriminogen, kriminalitätsverursachend. Es darf nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig Freiheit gewährt werden. Eine gemäßigte beständig-gleichbleibende äußere Sozialkontrolle ermöglicht die Internalisation, das Hereinnehmen der Werte der äußeren Kontrolle in die Persönlichkeit und damit die Entwicklung eines guten inneren Haltes der Persönlichkeit. In der modernen Industriegesellschaft vermögen Familie, Schule, Berufs- und Freizeitgruppen - wenn überhaupt - die Jugend nur noch in Teilbereichen zu kontrollieren. In der Anonymität der Großstadt wird der Jugendliche für die mannigfaltigsten sozial14
Schneider, Kriminologie
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abweichenden Verhaltensweisen anfällig. Der Familienzusammenhalt läßt nach. Das Familienselbstbild und das Selbstbild des Jugendlichen zerbrechen. Das ist deshalb so folgenschwer, weil die moderne Kernfamilie außerordentlich verletzbar ist. Die Großfamilie der Agrargesellschaft hatte die mannigfaltigsten Ersatz- und Ausgleichsmöglichkeiten, falls Ausfälle im persönlichen Inventar der Familie oder Zerrüttungserscheinungen auftraten. In der Agrargesellschaft war die Jugendkriminalität deshalb auch vorwiegend ein Individualphänomen. Denn die Primärkontrolle, die Kontrolle durch Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft, Berufs- und Freizeitgruppe, die wichtigste und wirksamste Kontrolle der Jugendkriminalität, war regelmäßig unversehrt. Einer der wesentlichsten Gründe für das ständige Ansteigen der Kriminalität und des sozialabweichenden Verhaltens der Jugend in der modernen Industriegesellschaft ist das grundsätzliche Versagen der Primärkontrolle. Nahezu die gesamte Last der Massenkriminalität muß nunmehr von der Sekundärkontrolle, von den formellen Instanzen der Sozialkontrolle, der Kriminalpolizei, den Gerichten, der Bewährungshilfe, dem Strafvollzug, getragen werden. Die Sekundärkontrolle, die immer nur Notfunktionen beim ausnahmsweisen Ausfall der Primärkontrolle zu erfüllen in der Lage war, ist gegenwärtig durch das fast völlige Versagen der Primärkontrolle überfordert. Es handelt sich um ein nahezu unlösbares personelles und finanzielles Problem und um eine Frage der Aktivierung und des möglichst effektiven Einsatzes der begrenzten Kräfte der formellen Instanzen der Sozialkontrolle. Als die gesellschaftlichen Schäden der Industrialisierung und der mit ihr verbundenen Verstädterung sozial sichtbar wurden, entstanden das Jugendgericht und die Jugendstrafanstalt in den Vereinigten Staaten. Die allgemeinen Institutionen der formellen Sozialkontrolle reichten nicht mehr aus. Die Primärkontrolle versagte in zunehmendem Maße. Die Sozialstrukturen in den sich entwickelnden großstädtischen Unterschichtsbezirken zerfielen. So sollten Sondereinrichtungen helfen. Das erste Jugendgericht wurde in Illinois im Jahre 1899 gegründet. Die ersten deutschen Jugendgerichte folgten im Jahre 1908 in Köln
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und Frankfurt. Nach dem Vorbild des „Reformatory Elmira" (Alexander Winter 1890) im Staate New York wurde die erste Jugendstrafanstalt in Wittlich an der Mosel 1912 gebaut. Alle diese Spezialeinrichtungen der Jugendkriminalrechtspflege beruhten auf kriminalpolitischen Vorstellungen der „Child Savers", der Bewegung der „Retter der Jugend", die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts im mittleren Westen der USA entstand. Es war ein humanitäres Anliegen der „Kinderretter", die schädlichen Auswirkungen der frühindustriellen Gesellschaft auf die Jugend abzuwehren. Das Jugendgericht sollte die Berücksichtigung entwicklungsbedingter Besonderheiten des Jugendalters und die Bildung einer Vater-Kind-Beziehung zwischen Jugendrichter und kriminellem Jugendlichen ermöglichen. Ein immer wiederkehrendes Thema war die ländliche Reinheit, das einfache natürliche Leben, das auf die im Chaos großstädtischer Verderbtheit aufgewachsenen jugendlichen Delinquenten heilsam wirken sollte. Wenn man heute die „TrainingSchools", die Jugendstraf- und -erziehungsanstalten in den einsamen Bergen Kaliforniens, in der hügeligen Wiesen- und Feldlandschaft Wisconsins oder in den menschenleeren kanadischen Wäldern besucht, so kann man die Verwirklichung dieses Gedankengutes auch gegenwärtig noch bestaunen. Adrette Clubkleidung, kräftiges, reichliches Essen, saubere Wohn- und Schlafräume, Werkstätten mit modernen Maschinen und väterlichen Werkmeistern und oftmals eine eigene Farm kennzeichnen das immer wiederkehrende Bild. Die im Cottagestil, im Stil von Familienpavillons erbauten Anstalten (Abbildung 22) bieten den delinquenten Jugendlichen alles für ein jugendgemäßes, gesundes Leben mit sozialer Disziplin und der Möglichkeit zur Selbsterziehung, um im modernen Lebenskampf zu bestehen. Der in den nordamerikanischen Großstädten stark gezügelte Bewegungsdrang der Jugendlichen kann sich in vorbildlich erbauten Sportstätten, in Schwimmbädern, Turnhallen und auf Sportplätzen austoben. Dennoch ist die Rückfallquote bei der nordamerikanischen kriminellen Jugend sehr hoch. Die Kinderretter hatten mit ihrer altbackenen Kriminalphilosophie eben doch nicht recht. Sie versuchten, ihre moralischen Wertvorstellungen aus der Erwachsenenwelt einer Jugend aufzu-
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zwingen, die diese Wertvorstellungen nicht teilte und nicht annahm. Sie waren und sind von der Richtigkeit ihrer humanitären Mission so überzeugt, daß sie kritiklos die Selbstwertbestätigung und Selbstwerterhöhung übersehen, die sie durch ihre angeblich sozial erwünschte Tätigkeit zu erlangen suchen. Sie werden nicht einmal durch ihre Erfolglosigkeit stutzig (Anthony M. Platt 1969). Die Kinderretter machen zwei grundlegende Fehler: Sie betrachten das Phänomen der Jugendkriminalität vorwiegend als Aufgabe der formellen Instanzen der Sozialkontrolle, der Jugendgerichte und Jugendstrafanstalten, deren Reaktionen auf kriminelles Verhalten der Jugend sie unkritisch billigen. Sie glauben deshalb, das Ansteigen der Kriminalität und des sozialabweichenden Verhaltens der Jugend durch einen großzügigen Ausbau und die allseitige Förderung der Institutionen der formellen Sozialkontrolle, der Jugendstrafanstalten etwa, verhindern zu können. Sie erkennen nicht, daß auch in der Industriegesellschaft die Primärkontrolle durch Familie, Schule, Berufsund Freizeitgruppe eine entscheidend wichtige Funktion hat, die allerdings reaktiviert werden muß. Sie behandeln ferner die Jugendkriminalität als eine individuelle Pathologie, die in einer und durch eine „gesunde" Umgebung geheilt werden kann. Es wird ihnen nicht deutlich, daß die Jugendkriminalität durch das Verhalten des kriminellen Jugendlichen, durch eine verfehlte soziale Reaktion auf dieses Verhalten und durch die Reaktion des kriminellen Jugendlichen auf diese soziale Reaktion, also im sozialpsychologischen Interaktionsprozeß entsteht. Der kriminelle Jugendliche ist deshalb auch nur das vorläufige. Zwischenprodukt eines pathologisch verlaufenen und weiterhin pathologisch verlaufenden Sozialprozesses, der durch Interventionen des Jugendgerichts und der Jugendstrafanstalt nicht unterbrochen, sondern fortgesetzt, ja noch vertieft wird. Im heutigen Jugendgerichtsverfahren ist die Entwicklung mitmenschlicher Kontakte zwischen Jugendrichtern und kriminellen Jugendlichen nicht mehr möglich. Das Jugendgericht mit der Jugendstaatsanwaltschaft und der Jugendgerichtshilfe tritt dem jugendlichen Rechtsbrecher, insbesondere in industriellen Ballungsräumen, vielmehr als unpersönliche komplexe Organi-
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sation entgegen. Es macht oftmals aus normalen Entwicklungsproblemen der Jugend durch Dramatisierung und Anwendung von Strafrechtsnormen kriminelle Phänomene. Die juristischen Aspekte werden überbetont. Eine Normalisierung kann nicht eintreten, weil der Jugendliche mit leichten strafrechtlichen Verstößen bereits als kriminell definiert wird. Es wäre besser, wenn die Jugendgerichte hier weniger täten. Aufgrund der „Behandlung" des jugendlichen Rechtsbrechers durch das Jugendgericht und die Jugendstrafanstalt werden seine Probleme nicht gelöst. Zu seinen bereits vorhandenen Problemen treten vielmehr noch neue hinzu, die er nicht zu lösen vermag. Hierbei sind die Jugendlichen aus der Unterschicht besonders benachteiligt. Denn in der Sicht der formellen Instanzen der Sozialkontrolle haben die Jugendlichen der Mittel- und Oberschicht nur „psychologische Probleme", die sich in delinquentem Verhalten äußern, sie sind aber nicht „absichtlich kriminell". Nach einer im Jahre 1971 veröffentlichten empirischen Untersuchung über die Jugendkriminalität in Warschau (Izabella Tuhan Mirza u. a. 1971) und nach den im Jahre 1970 erschienenen sowjetrussischen empirischen Stichprobenuntersuchungen (Allunionsinstitut 1970) stammen die jugendlichen Rechtsbrecher in den Jugendstrafanstalten dieser Länder ganz überwiegend aus Elternhäusern mit folgenden Kennzeichen: niedrige berufliche Qualifikation der Eltern und ein geringes Familieneinkommen. Hinzu kommt noch, daß die jugendlichen Delinquenten die Schule früh verlassen und nicht bildungsorientiert sind. Alle diese Charakteristika erfüllen den Unterschichtsbegriff der Kriminologie. Dieselben unterschichtsdiskriminierenden Phänomene sind also anscheinend in West und Ost gleichermaßen vorhanden. Auch in den osteuropäischen sozialistischen Ländern haben sich neue Mittel- und Oberschichten herausgebildet, die ihre Kinder gegenüber Stigmatisation durch die Jugendkriminalrechtspflege stärker verteidigen als die Eltern aus der Unterschicht. Die Psychodynamik in Familie, Schule, Nachbarschaft, Berufsund Freizeitgruppe ist grundsätzlich auf Vertrauen aufgebaut. Verhaltensänderungen finden deshalb auch am besten innerhalb intimer, persönlicher Beziehungen statt. Mißtrauen ist
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demgegenüber der notwendige Grundmechanismus mitmenschlicher Begegnung im Jugendgericht und in der Jugendstrafanstalt. Der jugendliche Kriminelle kann indessen nur durch Vertrauen, nicht durch Mißtrauen sozialisiert, in die Gesellschaft eingegliedert werden. Daß die Jugendkriminalität allein in einem gesamtgesellschaftlichen Vorbeugungsprozeß eingedämmt werden kann, hat die jugendkriminologische Forschung bereits relativ früh erkannt. Gleichwohl wurden bei den Vorbeugungsexperimenten gegen Jugendkriminalität bislang immer nur Teilaspekte berücksichtigt, so daß sie nicht erfolgreich zu verlaufen vermochten. In den 20er Jahren wurde in Chikago erstmals ein Vorbeugungsexperiment durchgeführt, das davon ausgeht, daß die Jugendkriminalität in einem Sozialprozeß in der Slumumgebung erlernt wird (Clifford R. Shaw, Henry D. McKay 1942). Man setzte mit den örtlichen Sozialbedingungen vertraute Laien in den besonders gefährdeten Slumbezirken ein, die sich um die kriminell anfälligen Jugendlichen kümmern sollten. Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierten sich die Vorbeugungsbemühungen in den USA zunächst besonders auf zwei soziale Gruppierungen, die „Mehr-ProblemFamilie" und die jugendliche Großstadtbande, und ferner auf eine bestimmte Theorie der Verursachung der Jugendkriminalität, die Theorie der unterschiedlichen Zugangschancen, die jedoch vor ihrer Erprobung nicht ausreichend empirisch abgesichert war. In New York City hatte man entdeckt, daß weniger als 1 °/o der Familien, nämlich die „Mehr-ProblemFamilien", mehr als 75 % der Jugendkriminalität hervorbringen. Kriminalstrategisch wollte man diesen Familien helfen, um dadurch eine Quelle des Entstehens der Jugendkriminalität zu verstopfen. In einem fortschreitenden Sozialprozeß pflegt sich die „Mehr-Problem-Familie" von der Gesellschaft loszulösen, und drängt sie die Gesellschaft ihrerseits in die soziale Isolation hinein. Es ist ein hervorstechendes Zeichen der „Mehr-ProblemFamilie", daß sie deshalb nicht in der Gesellschaft zu „funktionieren" vermag, weil es ihr nicht gelingt, sich an die Leitbilder und an die Lebensgewohnheiten der modernen Industriegesellschaft anzupassen. Wenn sich die Kernfamilien in der heutigen Massengesellschaft nämlich behaupten wollen, sind
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dafür Eigenschaften ihrer Familienmitglieder erforderlich, die die Angehörigen der „Mehr-Problem-Familien" nicht besitzen: persönliche Initiative, ein Mindestmaß an Intelligenz, rasche Reaktions- und Entscheidungsfähigkeit. Das Leben in der Gesellschaft von heute erfordert ein schnelles Sich-Einfügen in eine Fülle verschiedener Rollen. Die Mitglieder der „MehrProblem-Familien" sind hierfür geistig zu schwerfällig und zu sehr körperlich-seelisch benachteiligt. In Chikago versuchte man, der Jugendkriminalität durch eine vorbeugende Kontrolle der Jugendbanden zu steuern (Malcolm W. Klein 1971; Frank J. Carney 1969). Sogenannte „Street Club-Worker", pädagogisch und kriminologisch geschulte Sozialarbeiter, suchten die kriminell gefährdeten Jugendlichen an Straßenecken, in Spielhallen, verrufenen Lokalen auf, dort, wo sie ihre Freizeit zu verbringen pflegen. Ziel ihrer Arbeit war es, den asozialen Jugendgruppen sozial positive Strukturen zu geben und vereinzelte delinquente Jugendliche aus ihrer sozialen Isolation herauszuführen und in einem Jugendclub zusammen mit nichtstraffälligen Jungen für sozialadäquate Ziele zu gewinnen. Von der „Theorie der unterschiedlichen Zugangschancen" (Richard A. Cloward, Lloyd E. Ohlin 1961) ging man beim New Yorker Vorbeugungsprojekt „Mobilization for Youth" aus: Jugendkriminalität entsteht durch ein Auseinanderklaffen von kulturell vorgegebenen Zielen und sozial strukturierten Wegen. Den Jugendlichen der Unterschicht stellt die Gesellschaft das Erlangen von Wohlstand als erstrebenswertes Ziel hin, sie eröffnet denselben Jugendlichen jedoch keine Möglichkeiten, auf legalem Wege zur Erreichung materiellen Wohlstandes zu kommen. Das New Yorker Vorbeugungsprojekt hatte es sich deshalb zum Ziel gesetzt, den Unterschichtsjungen Chancen zu eröffnen, einen besseren sozialen Status zu erlangen. Alle diese Vorbeugungsprojekte brachten nicht viel weiter, weil sie nur Einzelaspekte eines umfassenden gesamtgesellschaftlichen Prozesses berücksichtigen. Im Herbst 1972 ist ein Bundesgesetz zur Verhütung der Jugendkriminalität in den USA erlassen worden, das mit einem umfassenderen sozialen Ansatz das Problem anzugehen versucht: Die Jugend soll sozial akzeptablere und bedeutungsvollere
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Rollen in der Gesellschaft erhalten. Die kriminellen Jugendlichen sollen vom System der Jugendkriminalrechtspflege möglichst entfernt gehalten werden (Edwin M. Lemert 1971). Die negative Etikettierung und Stigmatisierung des kriminellen Jugendlichen soll vermieden, die Verfremdung zwischen Erwachsenen und Jugendlichen vermindert werden. Verhaftung und Einsperrung werden nicht mehr als adäquate Antworten auf Probleme der Jugendkriminalität angesehen. Die Jugend soll möglichst die Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten selbst übernehmen; es wird angestrebt, sie ganz allgemein mehr als bisher am politischen Entscheidungsprozeß auf lokaler, Staats- und Bundesebene teilnehmen zu lassen. In der Behandlung einer individuellen Persönlichkeitsstörung in einer Jugendstrafanstalt wird keine Lösung des Problems der Jugenddelinquenz mehr gesehen. Vielmehr geht es vor allem darum, die Fehlanpassung der Gesellschaft selbst gegenüber ihrer Jugend und insbesondere gegenüber der Jugendkriminalität zu beseitigen. Die Jugendkriminalität und auch die Rebellion der Jugend werden von der Jugendabteilung des Bundessozialministeriums in Washington D. C. darauf zurückgeführt, daß man den Jugendlichen bisher keine nützlichen und befriedigenden Rollen zur Betätigung ihrer Energien und Talente zugestanden hat. Aufgrund des neuen Gesetzes werden gegenwärtig in vielen Bundesstaaten der USA Jugenddienste und Jugendbüros aufgebaut. Durch informelle Reaktion auf sozialabweichendes Verhalten soll das Jugendbüro eine Normalisation des Verhaltens des delinquenten Jugendlichen erreichen. Wenn eine Polizeistreife z. B. während der Schulstunden in einer Großstadt einen Jungen aufgreift, der die Schule schwänzt und streunend umherzieht, so bringt sie ihn nicht mehr zum Polizeirevier, sondern zum Jugendbüro. Er kommt also nicht mehr in den Justizapparat, der ihn stigmatisiert. Der Sozialarbeiter des Jugendbüros setzt sich mit der Schule und den Eltern in Verbindung. Falls beide Eltern arbeiten oder sich sonst nicht ausreichend um den Jungen kümmern, sorgen Mitglieder einer Nachbarschaftshilfeorganisation für ihn. Solche Selbsthilfeorganisationen der Bürger und der Jugendlichen selbst soll das Jugendbüro anregen und aufbauen helfen. Nach den bisherigen
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Vorbeugung gegen Kriminalität
Berichten ist die Reaktion in der Bevölkerung wider Erwarten gut: Die meisten Menschen wollen gerade in ihrer unmittelbaren Umgebung helfen, sie wissen nur meist nicht, in welcher Weise sie das tun können. Das Jugendbüro soll ferner die Dienste der vorhandenen Jugendinstitutionen koordinieren und diesen Organisationen helfen, ihre Hilfen nach den Bedürfnissen der Jugend und nicht nach ihren eigenen Bedürfnissen auszurichten. Das Jugendbüro soll des weiteren die Toleranz der Bevölkerung bei sozialabweichendem Verhalten der Jugend erweitern helfen und für die Jungen der Unterschicht einen sogenannten „Puffer des sozialen Schutzes" bilden. Im Staate Oklahoma gibt es beispielsweise in vielen Schulen neuerdings Sozialarbeiter, die „children's advocates" heißen. Sie sorgen insbesondere dafür, daß die Kinder der Deprivilegierten nicht zu schnell gebrandmarkt werden und im Sinne einer Selbsterfüllungsprophetie die delinquente Rolle spielen, die man ihnen ansinnt. Die Jugendbüros in Montana, einem ländlichen Staat mit nur 700 000 Einwohnern, haben sich dafür eingesetzt, daß die Jugend in den Gemeinde- und Stadträten verantwortlich mit vertreten ist, daß sie ihre eigenen Angelegenheiten selbst diskutiert und entscheidet - die Erwachsenen haben hier nur beratende Stimme - und daß sie der Jugend in den Indianerreservaten dieses Staates in jeder Weise hilft. Der Staat Massachusetts schließlich hat seit Januar 1972 seine Jugendstrafanstalten geschlossen. Auch die Staaten Kalifornien und New York gehen diesen Weg. Von den ehemals rund 1400 jugendlichen und heranwachsenden Strafgefangenen in Massachusetts sind nun etwa 500 in Gruppenwohnheimen, 190 in Pflegefamilien, 150 in Privat-Ganztagsschulen oder psychiatrischen Krankenhäusern und etwa 600 in sogenannten „DayCare"-Programmen untergebracht (Gene C. Post u. a. 1968). In diesen Pflege- und Obhutprogrammen leben während der Wochentage etwa 25 Jugendliche mit ihren Lehrern und Bewährungshelfern in einer therapeutischen Gemeinschaft zusammen. Sie werden morgens von zu Hause abgeholt und abends mit dem Bus wieder nach Hause gebracht. Über das Wochenende bleiben sie in ihrer Familie. Schulische Erziehung, Freizeitgestaltung, individuelle Therapie, Gruppen- und Familien-
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therapie füllen die Tage der „Day-Care"-Programme aus. Die Jugendlichen, die man wegen eines zerrütteten Elternhauses nicht in ihrer Familie belassen kann, kommen in Pflegefamilien oder werden in Gruppenwohnheimen untergebracht. Die Pflegefamilien, die in Etagenwohnungen wie jede andere Familie wohnen, bestehen aus einem Bewährungshelferehepaar und etwa 6 bis 8 Jugendlichen, die zur Schule gehen oder ihrer Berufsausbildung wie alle anderen Jugendlichen auch nachgehen. In den Gruppenwohnheimen, in denen in einem geräumigen Wohnhaus in einem normalen Wohnviertel etwa 2 0 Jugendliche mit ihren Lehrern und Bewährungshelfern wohnen, finden ebenfalls gelenkte, geleitete Gruppengespräche an den Abenden und Wochenenden statt. Auf Gruppendynamik wird großer Wert gelegt. Während des Tages arbeiten die Jugendlichen in der freien Gesellschaft. Nur etwa 5 °/o der bisher in Massachusetts in Jugendstrafanstalten untergebrachten Jugendlichen werden als sozialgefährlich angesehen, so daß sie auch weiterhin in einer geschlossenen Anstalt verbleiben müssen. Sogar die Untersuchungshaft wird in Pflegefamilien und im Wege der Intensivüberwachung durch Bewährungshelfer vollstreckt. Nur etwa 5 °/o der Untersuchungshäftlinge mißbrauchen diese Art der Vollstreckung. Rechnet man noch die 2 0 °/o hinzu, die selbst oder deren Eltern nicht kooperativ sind, so daß die Untersuchungshaft wieder in einer Untersuchungshaftanstalt ausgeführt werden muß, so verbleiben immerhin 75 °/o Jugendlicher, bei denen diese Vollstreckung der Untersuchungshaft in der Freiheit erfolgreich durchgeführt werden kann. Auch in Großstädten wie New York City mit einer hohen Kriminalitätsrate arbeiten Gruppenwohnheime und Pflegefamilien durchaus erfolgreich. Eine Rückkehr zu den Sozialbedingungen der Agrargesellschaft mit ihren weitgehend unverletzten Sozialstrukturen und heilen Primärkontrollen ist nicht mehr möglich. Aber auch in der Industriegesellschaft ist inzwischen deutlich erkannt worden, daß die Sekundärkontrolle, die formellen Instanzen der Sozialkontrolle, die Kriminalpolizei, die Jugendgerichte und die Jugendstrafanstalten, finanziell und personell völlig überfordert sind, wenn sie die gesamte Jugendkriminalität kontrollieren
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sollen. Ihre Kontrolle hat zudem noch in der Bevölkerung für die betroffenen Jugendlichen und Heranwachsenden einen stigmatisierenden, brandmarkenden Effekt. Der Anstaltsstrafvollzug hat keine Zukunft mehr, selbst wenn er behandlungsund nicht vor allem straforientiert ist. Wenn aber die Jugendstrafanstalten in der modernen Industriegesellschaft wegfallen, ändern sich nicht nur die beruflichen Rollen der Kriminalpolizisten, der Jugendrichter und der Bewährungshelfer, sondern es besteht auch eine größere Chance, daß sich die Gesellschaft wandelt, indem sie sich bei der Sozialkontrolle der Jugendkriminalität ihrer vollen Verantwortung bewußt wird. Der kurzschlüssige Weg der gesellschaftlichen Verdrängung durch Isolierung der jugendlichen Rechtsbrecher in Strafanstalten ist nicht mehr gangbar. Die Gesellschaft selbst wird deshalb in Zukunft die vorwiegend sozialbedingte Massendelinquenz der Jugend vorbeugend besser kontrollieren müssen, als dies bisher geschehen ist. VIII. Schluß: Der Standort der modernen Kriminologie „Die Amerikaner sind uns um einen Riesenschritt voraus: in dem klaren Verständnis für die Bedeutung und die praktische Notwendigkeit kriminologischer Arbeit. Das Gebiet der Kriminologie ist in Amerika weit mehr als bei uns Gegenstand wissenschaftlicher Aufmerksamkeit und Bearbeitung. Die Kriminologie bietet dem Tatsachensinn des Amerikaners eine besondere Anziehungskraft, mehr als uns Deutschen, die wir auf dem Gebiete des Rechts seit jeher unsere besten Kräfte dogmatischen Problemen zugewandt haben." Das schrieb der deutsche Kriminologe Franz Exner in seinem „Kriminalistischen Bericht über eine Reise nach Amerika" im Jahre 1935. Seine Worte haben auch heute noch Gültigkeit behalten. Was in Nordamerika an kriminologischer Forschung und Lehre geboten wird, übertrifft alle Bemühungen in Europa und anderen Teilen der Welt bei weitem. Wir errichten gegenwärtig zwar an fast allen Universitäten der Bundesrepublik kriminologische Lehrstühle. Auch besitzen wir mittelgroße kriminologische Zentren an den Universitäten in Tübingen und
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Freiburg i. Br. Es mangelt uns aber nicht nur an einem großen kriminologischen Forschungszentrum. Das ist in den USA gleichfalls nicht vorhanden, worüber sich die amerikanischen Kriminologen stets bitter beklagen. Es fehlt in unserer Bevölkerung vielmehr vor allem das Bewußtsein, daß man im Grunde nur mit kriminologischer Forschung die Kriminalität wirksam bekämpfen kann. Denn ohne eine umfangreiche und sorgfältige empirisch-kriminologische Forschung kann es keine wirksame kriminologische Ausbildung geben. Ohne eine solche gründliche kriminologische Ausbildung der Kriminalpolizei, der Strafrichter, Staatsanwälte, Bewährungshelfer und Strafvollzugsbeamten ist aber auch keine wirklich durchgreifende Verbrechensbekämpfung und Kriminalitätsvorbeugung möglich. Mit einer ständigen Vermehrung der Polizei ist nichts gewonnen, wenn man ihr nicht die beste kriminologische und kriminalistische Ausbildung zu geben und ihre Aktivität zu intensivieren vermag. Im übrigen muß die Kriminalitätsvorbeugung viel mehr als bisher im Zentrum unserer Bemühungen stehen. Freilich versagt hier nicht allein die Politik. Es gibt in der Bundesrepublik nicht nur viel zu wenig Kriminologen, sondern unter diesen wenigen befinden sich auch einige, die ihre Wissenschaft rein juristisch verstehen. Die Kriminologie soll nicht allein von Strafrechtsnormen ausgehen, sondern auch ausschließlich auf das Rechtsfolgensystem des Strafrechts hinarbeiten. Damit würde sich die Kriminologie wieder unter die Vormundschaft eines in der Bundesrepublik ohnehin historisch mächtig gewordenen Strafrechts begeben. Sie hat sich gerade in jüngster Zeit unter dem Einfluß angloamerikanischer und skandinavischer Kriminologen als interdisziplinäre, selbständige Wissenschaft entwickelt, die freilich mit dem Strafrecht, mit der Medizin, Psychologie und Soziologie eng verbunden bleibt. Ganz anders argumentieren einige deutsche Soziologen, die behaupten, daß es den Kriminologen und die Kriminologie noch nicht gibt, vielleicht auch als Wissenschaft nicht geben wird (Fritz Sack 1969, S. 971). Es ist zwar nur zu begrüßen, daß sich Strafrechtler, Mediziner, Psychologen und Soziologen mit kriminologischen Problemen beschäftigen. Wenn sie aber eine
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selbständige, interdisziplinäre Kriminologie zu leugnen versuchen, so macht dies deutlich, daß diesen Wissenschaftlern das ganze Gewicht interdisziplinärer kriminologischer Forschung noch nicht genügend klar geworden ist. Ein Soziologe vermag ebensowenig wie ein Strafrechtler und ein Psychiater neben seinen Hauptpflichten das Fach Kriminologie so zu betreuen und zu vertreten, wie das heute angesichts der explosionsartigen Entwicklung der Kriminologie in allen Teilen der Welt unerläßlich ist. Hinzu kommt noch der notwendigerweise eingeengte soziologische, psychiatrische oder strafrechtliche Blick, mit dem die Kriminologie betrieben wird, die dann letztlich ebenso auseinanderfallen muß wie jede wirksame Verbrechensbekämpfung und Kriminalitätsverhütung. Die Kriminologen Marvin E. Wolfgang und Franco Ferracuti haben (1967, S. 19-75) sehr eindrucksvoll auf diese Gesichtspunkte hingewiesen, die für eine interdisziplinäre, selbständige Kriminologie sprechen und die innerhalb der „Amerikanischen Gesellschaft für Kriminologie" ebenso ausdiskutiert sind wie unter den Kriminologen der osteuropäischen sozialistischen Länder. „Die Kriminologie ist eine Human- und Sozialwissenschaft", sagt der französische Kriminologe Jean Pinatel (1971). Obgleich in der deutschen kriminologischen Diskussion nur Geistes- oder Naturwissenschaft für die Kriminologie zur Wahl zu stehen scheinen, ist Pinatel zuzustimmen. Das bedeutet, daß die Kriminologie Teil und Produkt der Gesellschaft ist, deren kriminologisch bedeutsamen Prozesse sie untersucht. Die Kriminologie ist nicht nur gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt, sondern sie bewirkt durch ihre Forschungen auch Situationsänderungen innerhalb der Gesellschaft. Denn ihre Aufgabe in der Gesellschaft besteht nicht allein darin, Erkenntnisprozesse in Gang zu1 setzen, sondern auch sachverständige Empfehlungen für kriminalpolitisches Handeln zu geben. Dabei ist die Kriminologie keineswegs wertfrei. Vielmehr müssen sich jeder Kriminologe und jede Kriminologenschule über ihre Positionen innerhalb der Gesellschaft bewußt werden. Das ist nicht einfach. Denn Persönlichkeit wie Gesellschaft und ihre Gruppen sind Prozesse. Deshalb ist es für den Kriminologen - mit Kurt Lewin
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gesprochen - auch weit wichtiger, dynamische Tatsachen, Funktionen von Fakten zu untersuchen, als äußere Faktoren und Erscheinungsformen zu ermitteln. Bei Einzelfallstudien kann es nicht so sehr um die Täterpersönlichkeit zur Tatzeit oder zur Untersuchungszeit gehen als vielmehr um die gesamte kriminelle Karriere, in die neben der Täterpersönlichkeit ihre Beziehungen zum Opfer und die Einflüsse ihres sozialen Nahraums und der Gesamtgesellschaft eingebunden sind. Von einem dynamischen Persönlichkeitskonzept muß ausgegangen werden. Die Persönlichkeiten krimineller Menschen sind differenziert und wandeln sich ständig, wenn auch im Einzelfall eine dynamische „Grundgestalt" der Persönlichkeit aufweisbar sein mag und viele kriminelle Persönlichkeiten sich in dieser „Grundgestalt" ähneln mögen. Die umfangreichsten und zuverlässigsten empirischen Forschungsergebnisse verdankt die Kriminologie in Ost und West dem Mehrfaktorenansatz. Viele wichtige Teilaspekte sind von den kriminalsoziologischen und psychoanalytischen Theorien mittlerer Reichweite beleuchtet worden. Gleichwohl gehören die Gegenwart und die Zukunft der Aktionsforschung, die vor allem das Ziel einer dynamischen Verflechtung zwischen Theorie und Praxis verfolgt. Es handelt sich um Forschung, die nicht vor allem auf Vermehrung von Wissen, sondern auf die Verbesserung sozialer Bedingungen abzielt. Die Aktionsforschung beeinflußt und wandelt bewußt, was sie beobachtet. Sie erhält ihre Fragestellung unmittelbar von Praktikern, und sie trägt auch direkt zur Lösung aktueller praktischer Probleme bei. Die Kriminalität ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Das hat Kai T. Erikson in einer historisch-kriminologischen Studie (1966) über die Neuengland-Puritaner klarzumachen versucht. Mit ihrem Flaggschiff Arabella und drei weiteren Schiffen verließen sie 1630 Southampton, um nach Massachusetts auszuwandern. Sie gründeten in der Massachusetts Bai eine relativ isolierte Siedlung, von der sie hofften, sie werde das Zentrum der ganzen protestantischen Christenheit werden. Sie waren hart im Geschäft, intolerant in ihren Grundsätzen und streng in ihrer Lebensweise. Den wenigen Hundert, die zuerst aufbrachen, folgten im nächsten Jahrzehnt Zehntausende. Die
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Bibel wurde als Ratgeber und Gesetzbuch in allen Lebenslagen angesehen. Die Puritaner strebten nicht nach der Wahrheit, sie wußten sich unbedingt im Besitz der Wahrheit. Während der ersten sechs Jahrzehnte der Siedlung der Puritaner in Massachusetts ereigneten sich drei schwere „kriminelle Wellen", die die junge Kolonie massiv erschütterten. In den Jahren 1636 bis 1638 begann sich die puritanische Theologie in Neuengland zu wandeln. Dieser Wandel bedrohte die politische Führung der Kolonie. Eine Minorität versuchte, eine ältere, nicht mehr sinnvolle Lehre des Puritanismus zu verwerfen. Dieser Versuch mißlang, und die Minderheit wurde - meist mit der Verbannung aus der Siedlung - bestraft. Um das Jahr 1656 begann die „Invasion" der Quäker, die in das Siedlungsgebiet der Puritaner einzuwandern versuchten. Sie brachten eine neue Lehre mit, die als eine Bedrohung der orthodoxen Gemeinschaft deshalb empfunden wurde, weil die Quäker religiöse Toleranz als Grundrecht forderten. Die Quäker wurden in den Jahren 1656 bis 1665 verfolgt, weil ihre neue Lehre die puritanische Siedlung von außen zu bedrohen schien. Die dritte kriminelle Welle brach mit dem Hexenwahn um 1692 aus. Das puritanische Siedlungsexperiment in Massachusetts ging um diese Zeit seinem Ende zu. Der Missionsgeist, der es seit seiner Gründung aufrechterhalten hatte, existierte nicht mehr. Jedermann suchte nach dem Teufel, der dies bewirkt hatte. Man spürte seine Anwesenheit überall, konnte ihn aber zunächst nicht ausmachen, bis man ihn in Gestalt der Hexen fand. Erikson, ein Verfechter der interaktionistischen Richtung in der Kriminologie, will mit seiner Studie beweisen, daß jede menschliche Gesellschaft ihr eigenes System von Grenzen, ihre einzigartige Identität und damit auch ihre eigenen charakteristischen Typen sozial abweichenden Verhaltens besitzt. Der Sozialabweichende und der Konformist sind Wesen derselben Kultur, Erfindungen derselben Vorstellung. Eine stabile konformistische Gesellschaft sieht sich durch Wandlungen von innen und außen in ihrer Existenz bedroht und definiert solche Änderungsbestrebungen als „kriminell". Eine durch Desorganisation beunruhigte Gesellschaft hält sich an Sündenböcke, die sie für ihre eigenen Schwierigkeiten verantwortlich macht.
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Die Sozialabweichung ist aber auch ein individuelles Problem. Das leugnen die Interaktionisten nicht. Von einem ihrer Hauptvertreter Howard S. Becker stammt die klassische empirischkriminologische Studie über den Marihuana-Konsumenten (1973 b). Er m u ß zunächst die richtige Rauchtechnik lernen. Sodann genügt es nicht, daß die Symptome vorhanden sind, die durch Marihuana hervorgerufen werden. Der Konsument muß vielmehr diese Symptome erkennen, sie mit Marihuana verbinden und lernen, die Folgen des Marihuana-Konsums als angenehm zu empfinden. Die durch Marihuana hervorgerufenen Gefühle sind nicht notwendigerweise und automatisch erfreulich. Der Konsument fühlt sich schwindelig, durstig; es sticht in seinem Kopf; er beurteilt Zeit und Entfernungen falsch. Alle diese Phänomene werden nicht ohne weiteres als schön erlebt. Wenn der Konsument weiterhin Marihuana nehmen will, m u ß er sich entscheiden, ob er die Folgen seines Konsums als angenehm empfinden will. Diese Entscheidung wird dem einzelnen dadurch leicht gemacht, daß er in eine Gruppe eintritt, die Vergnügen am Marihuana-Konsum hat und die ihm bei ständigem intensivem Zusammensein einredet, daß er angenehme Gefühle mit dem Konsum der Droge zu verbinden hat. Auch hier handelt es sich letztlich um einen Prozeß des Lernens in der sozialabweichenden Gruppe. Die Kriminalität ist schließlich ein Problem der Repräsentanten der Gesellschaft im Kriminalitätsreaktionsprozeß. Aaron V. Cicourel (1968) hat vier Jahre lang empirische Studien in zwei Polizei- und Jugendgerichtsbezirken der USA mit den Methoden der teilnehmenden Beobachtung und der Analyse von Vernehmungsprotokollen durchgeführt. In einer Vorstadt von Chikago mit wohlhabender Bevölkerung führt jede erstmalige leichte oder mittelschwere Straftat eines Jugendlichen zu einer kurzen Diskussion zwischen der Polizei, den Eltern und ihrem Kind, die mit Versprechungen für eine zukünftige sorgfältigere Überwachung auf seiten der Eltern und für die Übernahme größerer sozialer Verantwortlichkeit auf Seiten des Jugendlichen abschließt. Nach vier oder fünf Straftaten k o m m t es zu einer Verhandlung vor dem Jugendgericht. Die Reaktion des Jugendrichters besteht in einer ernsten Warnung und einer 15
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trivialen Auflage, wie z. B. sechs Monate lang den Rasen im Garten der elterlichen Villa zu mähen. Selbst wenn die Delikte im Einzelfall häufiger und schwerer werden, ist es für die Durchschnittsfamilie in diesem Gebiet ein Leichtes, den Jugendlichen in eine Privatschule oder zu angesehenen und geachteten Verwandten zu schicken, bis er mit 18 Jahren ins College eintritt. In einem anderen Polizei- und Jugendgerichtsbezirk ermittelte Cicourel folgendes: Delinquente Jugendliche aus der Mittelschicht werden nicht eigentlich als gefährlich für die Autorität angesehen. Sie kommen in keine Untersuchungshaft. Ein Psychologe untersucht sie, und sie werden allenfalls einem Gruppenberatungsprogramm zugewiesen. Denn der Jugendliche der Mittelschicht hat nur „psychologische Probleme", die sich in delinquentem Verhaken äußern; er ist nicht „absichtlich kriminell". Die Eltern der delinquenten Jugendlichen der Mittelschicht mobilisieren erhebliche Hilfsmittel, um zu vermeiden, daß ihr Kind von der Jugendkriminalrechtspflege als „delinquent" eingestuft wird. Das fällt um so leichter, als Faktoren wie unvollständige Familie, schlechter Schulerfolg, ablehnende Einstellung zur Autorität hier nicht in der gleichen Weise wie bei der Unterschicht in Erscheinung zu treten pflegen. Die Jugendlichen der Mittelschicht entsprechen überdies dem nordamerikanischen Ideal des Jugendlichen eher: freundlich, gutaussehend, aus einer „angesehenen Familie", die oft ein großes, neues gut möbliertes H a u s besitzt, mit ansehnlichen Schulerfolgen, die in einer „angesehenen" Privatschule erzielt wurden, „intelligent", selbstsicher, wenn auch ein wenig aggressiv. Selbst wenn die Delinquenz von Jugendlichen der Mittelschicht von der Öffentlichkeit als „ernst" beurteilt wird, „schließen ihre Eltern die Reihen dichter" und benutzen alle ihre Verbindungen, um die Bewährungshilfe und das Jugendgericht dahingehend zu beeinflussen, eine „brandmarkende" Untersuchungshaft und eine Verurteilung zu Freiheitsentzug in staatlichen Jugendanstalten zu verhindern. Die Eltern von delinquenten Jugendlichen der Unterschicht sind indessen aufgrund ihrer Sozialisation nicht in der Lage und wohl auch nicht willens, ihre Kinder in gleicher Weise zu verteidigen. Die Jugendlichen der Unterschicht verstehen meist überhaupt nicht,
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was im Gerichtssaal mit ihnen vor sich geht; es scheint ihnen auch gleichgültig zu sein. Cicourel kommt zu dem Schluß, daß die Vernehmung durch die Polizei und das Jugendgericht nicht darin besteht, grundlegende Informationen über das zu erhalten, was „tatsächlich geschehen" ist, sondern mehr oder weniger bezweifelbare Laientheorien der Delinquenzverursachung zu bestätigen. Hier werden Auswahl- und Brandmarkungsmechanismen sichtbar, die kriminogen, kriminalitätsentstehend, wirken können. Während die traditionelle Kriminologie allein nach den Ursachen der Kriminalität fragte und diese Frage mit Hinweisen auf Anlage und Umwelt zu erklären versuchte, berücksichtigt die interaktionistische Richtung auch die Definitionsmacht dei Gesetzgebung und die Zuschreibungs- und Benennungsprozesse bei der Polizei, im Gerichtssaal und in der Strafanstalt. Bereits Robert K. Merton (1968) hatte von der „Selbst-Erfüllungs-Prophetie" gesprochen, mit der einem Delinquenten die Annahme der kriminellen Rolle nahegelegt wird. Es handelt sich um eine ursprünglich falsche kriminelle Definition einer Situation oder einer Persönlichkeit, die ein verändertes, dieser Situation angepaßtes Verhalten hervorruft, das die ursprünglich falsche Definition wahrmacht. Auf die „Zeremonien der Degradierung des sozialen Status" eines Menschen hat Harold Garfinkel (1968) eindrucksvoll aufmerksam gemacht. In Wechselwirkungsprozessen bei der Polizei, vor Gericht und in der Strafanstalt wird die Persönlichkeit des Straftäters in den Augen anderer, aber auch in seinen eigenen Augen negativ verändert. Der Rechtsbrecher nimmt ein kriminelles Selbstbild und eine kriminelle Rolle an. Stanton Wheeler (1967) unterscheidet fünf Stufen sozialer Kontrolle: Definition, Entdeckung, Entscheidung, Diagnose und Behandlung. Was kriminelles und sozialabweichendes Verhalten ist, wird in jeder Gesellschaft in der für diese Gesellschaft ganz spezifischen Weise definiert. Bei den Entdeckungs-, Entscheidungs-, Diagnose- und Behandlungsprozessen werden ebenfalls wieder Kriterien angewandt, die gesellschaftliche Instanzen vorher definiert haben. Es werden z. B. nur bestimmte Delikte entdeckt. Die Anzeigefreudigkeit der Bevölkerung ist in jeder Gesellschaft und von Delikt 15*
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zu Delikt verschieden. Auch die Aufklärungsintensität ist von der jeweiligen Gesellschaft und von der jeweiligen Art des Delikts abhängig. So kann z. B. die offiziell bekanntgewordene Kriminalität dadurch ansteigen, daß die Aufklärungsintensität zunimmt. Dadurch entstehen dann im zeitlichen oder zwischenstaatlichen Vergleich verzerrte Bilder. Der sowjetische Kriminologe Schikunow von der Akademie der Wissenschaften der Weißrussischen Republik hat die Kriminologie in der Bundesrepublik im Jahre 1969 kritisch zu analysieren versucht. Er urteilt: „Die Kriminologie in der BRD kennt verschiedene Schulen und Tendenzen, die aber alle reaktionär und unhaltbar sind. Auffällig ist der hohe Anteil des Neolombrosianismus. Eine Durchsicht der kriminologischen Literatur zeigt, daß kein Autor letztlich von biologischen Einflüssen frei ist. So kann man die Kriminologie in der BRD biosozial nennen." Diese falsche Beurteilung beruht auf Kommunikationsschwierigkeiten zwischen der Kriminologie in der Bundesrepublik und der Kriminologie in der Sowjetunion. Die sich seit zehn Jahren rasch entwickelnde Kriminologie in den osteuropäischen sozialistischen Ländern führt das Vorhandensein der Kriminalität in ihren Ländern nicht mehr nur auf Rückstände des kapitalistischen Systems zurück. Es wird auch ein Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Menschen und den Möglichkeiten eingeräumt, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Diesen in den sozialistischen Gesellschaften bestehenden Widerspruch macht man für die Verursachung der Kriminalität verantwortlich. Jugoslawische Kriminologen gehen allerdings weiter, indem sie nicht nur von individueller, sondern auch von sozialer Pathologie in ihrer Gesellschaft sprechen. Alle diese Erklärungsversuche stellen nur erste Ansatzpunkte dar. Die interaktionistische Richtung in der Kriminologie bezieht die Gesellschaft, und zwar jede Gesellschaft, voll in ihr Verursachungskonzept der Kriminalität mit ein. Sie bezweckt damit, unsere Gesellschaft gerechter und damit kriminalitätsärmer zu machen. Sie ist sozialkritisch. Sie stellt aber unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung nicht in Frage, sondern sie will sie vielmehr vor dem Untergang in die kriminelle Desorganisation bewahren.
Anhang Definitionen der Gegenstände und Aufgaben der Kriminologie Die folgende Zusammenstellung von Definitionen der Gegenstände und Aufgaben der Kriminologie soll deutlich machen, daß man die Kriminologie in ihrem inhaltlichen Gegenstandsbereich wie auch in der Zielrichtung ihres Vorgehens höchst unterschiedlich verstehen kann. Die engste Vorgehensweise beschränkt sich auf die Straftat, ihre ätiologische Erklärung, ihre Verhütung und Bekämpfung. Eine schon etwas weitere Betrachtungsweise schließt den Rechtsbrecher, die körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren seiner Persönlichkeit mit ein; es geht auch um die Behandlung im Sinne der Einwirkung auf die Persönlichkeit des Rechtsbrechers. Die sozialen Gruppen, die Familie, Schule, die Berufs- und Freizeitgruppen, in ihrer Bedeutung für die Entstehung und Verhütung der Kriminalität, hält eine weitere Kriminologenschule für sehr bedeutsam; hier wird auch die Rolle des Opfers und seine Beziehung zum Täter berücksichtigt. Gesamtgesellschaftliche Einwirkungen, ökonomische und kulturelle Bedingungen, sind für die soziologischen Richtungen entscheidend. Sie vergessen über diesen gesellschaftlichen Ursachen bisweilen den Anteil des Täters an der Straftat. Mitunter bleiben sie auch auf halbem Wege stehen und verstehen unter sozialen Einflüssen nur familiäre und schulische Bedingungen, ohne auf die gesamtgesellschaftlichen Druck- und Zugphänomene einzugehen, die auf diese sozialen Gruppen einwirken. Alle diese Betrachtungsweisen sind statisch-faktorieller Art (Ursache-Wirkungs-Mechanismus). Man kann die Entstehung der Kriminalität, ihre Verhütung und Kontrolle auch in individuellen und sozialen Prozessen sehen. Bei dieser funktional-dynamischen Betrachtungsweise kommt es nicht auf die Pathologie des Individuums, der sozialen Gruppen oder der Gesellschaft, sondern auf die Pathologie individueller und sozialer Prozesse an. Diesen Grund-
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ansatz vertreten die Interaktionisten. Die folgenden Definitionen markieren unterschiedliche Positionen: Anne-Eva Brauneck (1970, S. 1): Kriminologie ist die Lehre von den Tatsachen der Kriminalität, ihren Erscheinungsformen und ihrer sozialen und psychologischen Gesetzmäßigkeit, darunter ihren Ursachen. Unter Kriminalistik versteht man dagegen die Lehre von der Technik der Verbrechensaufklärung . . . , unter Kriminalpolitik die Überlegungen und Maßnahmen zur Bekämpfung der Kriminalität. Robert G.Caldwell (1965, S. 3): Im weiteren Sinne ist Kriminologie die Gesamtheit des Wissens über Verbrechen, Rechtsbrecher und die Bemühungen der Gesellschaft, Verbrechen zu bekämpfen und zu v e r h ü t e n . . . Im engeren S i n n e . . . ist Kriminologie das wissenschaftliche Studium des Verbrechens und der Rechtsbrecher. In diesem Sinne hat die Kriminologie ihre Forschungen in drei Richtungen ausgedehnt. Zunächst hat sie das Wesen des Strafrechts, seine Anwendung und die Bedingungen untersucht, unter denen es sich entwickelt. Ferner hat sie die Ursachen des Verbrechens und die Persönlichkeiten der Rechtsbrecher analysiert. Schließlich hat sie die Kontrolle des Verbrechens und die Rehabilitation des Rechtsbrechers studiert. Franz Exner (1949, S. 1): Kriminologie ist die Lehre vom Verbrechen als Erscheinung im Leben des Volkes und im Leben des einzelnen. A. A. Gercenzon (Allunionsinstitut 1968, S. 7/8): Die sowjetische sozialistische Kriminologie ist die Wissenschaft über die Situation, die Dynamik, über die Gründe der Kriminalität, über die Methoden zu ihrer Erforschung, über Wege und Mittel zu ihrer Vorbeugung in der sozialistischen Gesellschaft. Z u m Gegenstand der Kriminologie gehört vor allen Dingen die Kriminalität. Für einen systematisch-wissenschaftlich begründeten Kampf gegen die Kriminalität dient als notwendige Voraussetzung dieser sozialen Erscheinung die Offenlegung jener objektiven Gesetzmäßigkeiten, die ihre Situation, Dynamik und Struktur bestimmen. Die Untersuchung der Kriminalität er-
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laubt es, ihre quantitativen und qualitativen Charakteristiken zu bestimmen, die Tendenzen der Veränderungen in den verschiedenen Zeitperioden, ihre Besonderheit in den verschiedenen Gebieten des Landes. Die Erforschung der Persönlichkeit der Verbrecher, ein untrennbarer Bestandteil der Analyse der Kriminalität, gibt die Möglichkeit, ihren sozialen, geschlechtlichen und altersmäßigen Bestand klarzulegen, weiter das Niveau ihrer Bildung und Kulturhaftigkeit, die sozialpsychologischen Besonderheiten und schließlich die grundlegenden Gruppen und Kategorien der Verbrecher zu klassifizieren und zu differenzieren. Hans E. Göppinger (1964, S. 14): Der Kriminologie geht es um die im menschlichen und gesellschaftlichen Bereich liegenden tatsächlichen Umstände, die mit dem Zustandekommen und der Begehung des Verbrechens zusammenhängen. Da das Verbrechen stets von Menschen begangen wird, interessiert sich die Kriminologie für den Täter, für seinen psychischen Befund, seine persönliche, berufliche und soziale Anamnese. Da der Verbrecher stets Glied der Gesellschaft ist, untersucht sie die gesellschaftlichen Zusammenhänge, unter denen dieser Täter zum Verbrecher wurde oder unter denen irgendeine bestimmte Verbrechensform entstehen oder auch vergehen kann. Elmer Hubert Johnson (1968, S. 7): Kriminologie ist das wissenschaftliche Studium und die praktische Anwendung von Ergebnissen auf folgenden Gebieten: Verursachung des Verbrechens, Art der sozialen Reaktion auf das Verbrechen als Symptom der Charakteristiken einer Gesellschaft und Verbrechensverhütung. Günther Kaiser (1971, S. 13): Kriminologie ist die geordnete Gesamtheit des Erfahrungswissens über das Verbrechen, den Rechtsbrecher, das negativ sozial auffällige Verhalten und über dessen Kontrolle. Heinz Leferenz (1967, S. 22): Kriminologie ist die Seinswissenschaft im Felde der Strafrechtspflege. John Lekschas (1971, S. 59): Gegenstand der Kriminologie sind die Ursachen der Kriminalität und die Gesetzmäßigkeiten ihrer
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Wirkungsweise im Sinne sozialer (materieller und ideologischer) Phänomene sowie die Mitwirkung an der Herausarbeitung von Grundsätzen zur Eindämmung und schrittweisen Aufhebung der Kriminalität durch umfassende gesellschaftliche und staatliche Maßnahmen, die im Rahmen der weiteren planmäßigen Umgestaltung der Gesellschaft zum Kommunismus notwendig und möglich sind. Juan Manuel Mayorca (1970, S. 46): Die Kriminologie ist die Wissenschaft, die das Phänomen der Delinquenz betrachtet, und zwar als individuelle und antisoziale Tatsache, ätiologisch und prophylaktisch. Armand Mergen (1967, S. 24): Kriminologie ist die Wissenschaft vom Verbrechen, der Kriminalität und dem Verbrecher. Edmund Mezger (1951, S. 3): Die Kriminologie ist die Wissenschaft vom Verbrechen (Crimen) als einem tatsächlichen Vorgang im wirklichen Leben. Vermes Miklos gie umfaßt die als einmaliges Methoden und Delinquenz.
(1971, S. 45): Der Gegenstand der KriminoloDelinquenz als Massenphänomen, die Straftat Phänomen und die politischen und sozialen Techniken zur Bekämpfung und Verhütung der
Richard W.Nice (1965, S. 54): Kriminologie ist die Wissenschaft, die sich mit Verbrechen, ihrer Verhütung, ihrer Bestrafung, ferner mit der Klassifikation der Täter nach der T a t , sozioökonomischem Status und psychiatrischen Faktoren beschäftigt. Im weiteren Sinne behandelt sie das Studium von Menschen, die sich kriminell oder sozialabweichend verhalten. Wilhelm Sauer (1950, S. 1): Kriminologie ist die Wissenschaft von der Kriminalität der einzelnen Menschen und der Kulturvölker.
Ernst Seelig-Hanns Bellavic (o. J., S. 28): Kriminologie ist die Lehre von den realen Erscheinungen der Verbrechensbegehung und Verbrechensbekämpfung.
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Edwin H. Sutherland-Donald, R. Cressey (1970, S. 3): Kriminologie ist die Gesamtheit des Wissens über das Verbrechen als soziales Phänomen. Ihr Bereich umfaßt die Prozesse der Gesetzgebung, der Gesetzesverletzung und der Reaktionen auf Gesetzesverletzungen. Diese Prozesse bilden drei Aspekte einer irgendwie vereinigten Abfolge von Interaktionen. Bestimmte Handlungen, die als unerwünscht gelten, werden durch die politische Gesellschaft als Delikte definiert. Trotz dieser Definitionen fahren einige Leute in diesem Verhalten fort und begehen auf diese Weise Verbrechen. Die politische Gesellschaft reagiert mit Strafe, Behandlung oder Vorbeugung. Diese Abfolge von Interaktionen ist Gegenstand der Kriminologie. Donald R. Taft-Ralph W. England (1964, S. 11): Im weitesten Sinne ist Kriminologie das Studium (noch nicht das vollständige Wissen) des Verbrechensverständnisses, der Verbrechensverhütung, der Entwicklung des Rechts und der Strafe und Behandlung von erwachsenen und jugendlichen Rechtsbrechern. Im engeren Sinne ist Kriminologie einfach das Studium, das versucht, Verbrechen zu erklären und herauszufinden, „wie es dazu kam". Wenn man diese Definition zugrunde legt, muß man benachbarte Gebiete berücksichtigen: Strafvollzugswissenschaft (einschließlich der Behandlung erwachsener Rechtsbrecher), Aufklärung des Verbrechens, Behandlung jugendlicher Delinquenter und Verbrechensverhütung. Die Behandlung der Delinquenz und der Kriminalität kann nicht vollständig von der Erklärung des Verbrechens getrennt werden. Denn einer der Gründe, die zum Verbrechen und zu seiner ständigen Wiederholung im Erwachsenenleben führt, ist der Schaden, der durch unwirksame Behandlung von jugendlichen und erwachsenen Rechtsbrechern angerichtet worden ist. Marvin E. Wolfgang-Franco Ferracuti (1967, S. 29): Wenn irgendeine Person im Verfolg ihrer beruflichen Rolle sich hauptsächlich (im Schwerpunkt) der Aufgabe des wissenschaftlichen Studiums, der Erforschung und Analyse des Verbrechens, des verbrecherischen Verhaltens oder der Behandlung von Rechtsbrechern widmet, ist ihre Rolle die eines Kriminologen.
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Anhang
Thomas Würtenberger (1957, S. 40): Zusammenfassend k a n n . . . die „Kriminologie" definiert werden als die Wissenschaft vom Wesen der rechtsbrechenden Persönlichkeit sowie von den bestimmenden Faktoren und Erscheinungsformen des Verbrechens im Leben der Gesellschaft wie im Dasein des Einzelnen. Edwin M.Lemert (1967, S. 4 0 - 6 4 ) : Die Sequenz der Interaktion, die zu sekundärer Sozialabweichung führt, stellt sich im allgemeinen folgendermaßen dar: primäre Sozialabweichung, soziales Strafen, weitere primäre Sozialabweichungen, stärkere Strafen und Zurückweisung, weitere Sozialabweichungen mit möglichen Feindseligkeiten und Ressentiments gegenüber den Strafenden, Toleranzkrise der Strafenden und Stigmatisation des Sozialabweichenden durch die Gesellschaft, verstärkte Sozialabweichung als Reaktion auf die Stigmatisation und die Bestrafung, endgültige Annahme des Status eines Sozialabweichenden und Anpassungsbemühungen auf der Grundlage der zugeordneten Rolle. Hans Joachim Schneider: Gegenstand der Kriminologie ist die Analyse der individuellen und gesellschaftlichen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozesse. Der gesellschaftliche Kriminalisierungsprozeß kann als Umwandlung sozialkonformen in sozialabweichendes und kriminelles Verhalten beschrieben werden. Im gesellschaftlichen Entkriminalisierungsprozeß werden sozialabweichendes und kriminelles Benehmen in sozialkonformes Verhalten herabgestuft. Die Kriminologie versucht, auch die sozialen Ursachen dieser Sozialprozesse aufzuklären. Im individuellen Kriminalisierungsprozeß geht es um die Wechselwirkung zwischen kriminellem Verhalten einer Persönlichkeit, der Reaktion auf dieses Verhalten und der Rückwirkung dieser Reaktion auf die Persönlichkeit und ihr Benehmen. Reaktionen können in diesem Sozialprozeß von sozialen Gruppen und von formellen oder informellen Kriminalitätskontrollinstanzen der Gesellschaft ausgehen. Es entsteht dann so etwas wie sekundäre Sozialabweichung (Edwin M . Lemert). Primäre Sozialabweichung hat die mannigfaltigsten Gründe, von denen die soziologischen, psychologischen und
Definitionen der Gegenstände und A u f g a b e n
235
vor allem sozialpsychologischen Kriminalitätstheorien „mittlerer Reichweite" einige wesentliche Aspekte bereits aufgewiesen haben. Der individuelle Entkriminalisierungsprozeß ist ebenfalls ein Interaktionsprozeß, der entweder darauf abzielt, den individuellen Kriminalisierungsprozeß durch frühe soziale Interventionen zu unterbrechen, oder bei dem es darauf ankommt, Rückfallkriminalität dadurch zu verhindern, daß Degradationen und Stigmatisationen unterbleiben und dem Rechtsbrecher durch soziale Hilfe zur Selbsthilfe akzeptable Rollen innerhalb der Gesellschaft eingeräumt werden. Stets kommt es auf eine dynamische Erweiterung und Differenzierung des Rollenpotentials des ehemaligen Straftäters an. Die Kriminologie entwickelt ihre eigenen Methoden durch Modifizierung sozialwissenschaftlicher Methoden gemäß diesem ihrem Forschungsgegenstand. Praktische problemorientierte Aktionsforschung steht hierbei im Vordergrund.
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I. Verzeichnis der benutzen Fremdwörter und kriminologischen Fachausdriicke (mit Erklärungen) Aberration ad absurdum führen ätiologisch Aggression
altruistisch ambivalent Ambivalenz Anarchismus Antizipation apathisch Apriorismus Archetyp
Assimilation Autonomie Charisma Chromosom Darwinismus
Abweichung den Widersinn aufzeigen ursächlich Angriffsverhalten. Der Begriff der Aggression ist in der heutigen Kriminologie umstritten. Aggression wird nach Sigmund Freud auf den Todestrieb zurückgeführt, nach Alfred Adler ist sie Ausdruck des Machttriebes. J. Dollard erklärt Aggression als Reaktion auf Frustration (Entbehrung). Nach Konrad Lorenz ist die Grundlage für Aggression der Aggressionstrieb. Es liegt nahe, im Aggressionsverhalten ein erlerntes Verhalten zu sehen uneigennützig doppelwertig Doppelwertigkeit Lehre von der Ablehnung jeder Staatsgewalt Vorwegnahme teilnahmslos Lehre von der Erkenntnis, die unabhängig von der Erfahrung vorgegeben ist Urbild, Urform, Urvorstellung. Nach C. G. Jung sind Archetypen die Inhalte des kollektiven Unbewußten Angleichung Eigenständigkeit göttliche Gnadengabe Träger von Erbanlagen von dem englischen Naturforscher Charles Darwin (1809 bis 1882) begründete Lehre von der stammesgeschichtlichen Entwicklung durch Auslese
264 Deprivilegierte deterministisch Dichotomie dominierend dynamisch egozentrisch Egozentrizität emotional Emotionen empirisch erogen ethnisch exkulpieren ex-post-facto Extrovertierte
feudal Fragment Frustration
Frustrationstoleranz
funktional Funktion genetisch Heredität heterogen hic et nunc homogen
Verzeichnis der benutzten Fremdwörter Personen, denen ihre Rechte vorenthalten werden kausal vorbestimmt Aufteilung in zwei gegensätzliche Elemente vorherrschend durch inneren Antrieb sich bewegend (Gegensatz statisch = feststehend) ichbezogen Ichbezogenheit gefühlsmäßig Gefühle erfahrungsgemäß Sexualgefühle auslösend oder fördernd volkseigentümlich von Schuld freisprechen durch eine Tatsache, die im nachhinein entstanden ist Personen, die in ihrer Persönlichkeit nach außen gekehrt, weltoffen, für äußere Einflüsse leicht empfänglich sind dem mittelalterlichen Lehnswesen entsprechend Bruchstück Erlebnis der wirklichen oder vermeintlichen Benachteiligung bei enttäuschter Erwartung oder bei erlittener Ungerechtigkeit Fähigkeit, eine Frustration über längere Zeit auszuhalten ohne sie durch Verdrängung ins Unbewußte zu verarbeiten oder unmittelbar aggressiv zu reagieren auf die Funktion bezogen veränderliche Größe, deren Wert von dem Wert einer anderen abhängig ist entwicklungsgeschichtlich bedingt Erblichkeit ungleichartig hier und jetzt gleichartig, einheitlich
Verzeichnis der benutzten Fremdwörter Hypothese
Identifikation
Image
Indikator infantil Inhaltsanalyse
Insolvenzdelikte Instanzen der Sozialkontrolle (formelle, informelle)
integriert Intelligenzquotient (IQ)
265
Beschreibung einer Beziehung zwischen mindestens einer unabhängigen (Determinante) und einer abhängigen Variablen (Resultante) die unbewußte Angleichung an das "Wesen und Verhalten eines anderen Menschen, meist auf Grund der (unbewußten) Imitation von Vorbildern Vorstellung, die mit der Erwartung oder Voraussetzung einer bestimmten Haltung, Einstellung, Handlungsweise verbunden ist Anzeiger auf kindlicher Entwicklungsstufe stehengeblieben ursprünglich Forschungstechnik zur objektiven, systematischen und quantitativen Beschreibung des manifesten Inhalts von Kommunikationen (Berelson), heute auch qualitative Beschreibung des latenten Inhalts Delikte, die im Zusammenhang mit der Zahlungsunfähigkeit eines Schuldners stehen Personen und Institutionen, mit deren Hilfe die Gesellschaft versucht, ihre Mitglieder zu Verhaltensweisen zu bewegen, die im Rahmen dieser Gesellschaft positiv bewertet werden. Formelle Instanzen der Sozialkontrolle sind solche Personen und Institutionen, die eigens zu diesem Zweck berufen wurden (z. B. Polizei, Gerichte). Informelle Instanzen üben Kontrollfunktionen ohne Auftrag, in nicht festgelegtem Verfahren und neben anderen Funktionen aus in ein übergeordnetes Ganzes einbezogen das Verhältnis des Intelligenzalters einer Testperson zum Lebensalter. Dabei geht man von einzelnen Intelligenznormen für jedes Lebensalter aus. Die ursprüngliche Berechnung des Intelligenzquotienten geschieht nach folgender Formel: Intelligenzalter ^ Lebensalter ^ Werte über 100 deuten auf einen Intelligenzvorsprung, darunterliegende auf einen Intelligenzrückstand
266
Verzeichnis der benutzten Fremdwörter
Interaktion Interdependenz interdisziplinär Interiorisation Interkorrelation Internalisation
intervenieren Introjektion Introvertierte Katalysator Klischee Kommunikation Kompensation
konditionieren
kontrovers Konvergenz Korrelation Kriminaltaktik
wechselseitige Beeinflussung gegenseitige Abhängigkeit auf mehrere Fächer (multidisziplinär) und ein übergeordnetes Fachgebiet bezogen s. Internalisation Bezeichnung für die Beziehung jeder Variablen innerhalb einer Gruppe von Variablen Hineinnahme fremder Einstellungen, Uberzeugungen, Motive und sozio-kultureller Muster (Werte, Normen, Erwartungen) in das kognitive (Denk-) und affektive (Gefühls-) System der Persönlichkeit dazwischentreten Aufnahme fremder Anschauungen und Motive in das Ich, Grundvorgang der Identifikation Personen, deren Denken, Fühlen und Handeln durch ihre Innenwelt bestimmt wird Stoff, der durch seine bloße Anwesenheit Reaktionen hervorruft oder ihren Verlauf bestimmt schablonenhaftes Bild Prozeß der Informationsübertragung das Bestreben eines Individuums, seine Minderwertigkeitsgefühle zu beseitigen, indem es versucht, die eigenen Unzulänglichkeiten auszugleichen, Begriff aus der Individualpsychologie Alfred Adlers Herstellen eines bedingten Reflexes. Bedingte Reflexe sind Lernvorgänge, die durch zweiteilige, nervliche Erregungsverbindungen von Umweltreizen mit bestimmten Tätigkeiten des Organismus hervorgerufen werden streitig das Sichaufeinanderzubewegen von Elementen Ausmaß, in dem zwei oder mehr variable Merkmale voneinander abhängig streuen Lehre vom rechtsstaatlich gemäßen und zweckmäßigen Vorgehen bei der Aufklärung von Sachverhalten, die strafrechtlich beachtlich sein können
Verzeichnis der benutzten Fremdwörter Kriminaltechnik
Längsschnittuntersuchung latent legalistisch lethargisch Lombrosianismus Mobilität (vertikal)
Monokausalität monoton Motiv
multidisziplinär Narzißmus Neurose
267
Teilgebiet der Kriminalistik, dem es obliegt, unter Heranziehung und Nutzbarmachung bestehender technischer Verfahren sowie wissenschaftlicher Erkenntnisse und Praktiken durch Sicherung und Untersuchung sachlicher Beweismittel zur Verbrechensaufklärung beizutragen Untersuchung derselben Stichprobe mit denselben Testmitteln zu verschiedenen Zeitpunkten vorhanden, ohne äußerlich erkennbar zu sein (Gegensatz zu manifest: äußerlich sichtbar) starr an Paragraphen und Vorschriften festhaltend teilnahmslos, gleichgültig Kriminologenschule, die sich an den Lehren Lombrosos orientiert Bewegungen von Personen oder Personengruppen aus einer sozialen Position in eine andere. Vertikale Mobilität bezeichnet die Bewegung von Individuen oder Gruppen zwischen Positionen oder Schichten, die subjektiv oder objektiv unterschiedlich bewertet werden, so daß die Veränderung als sozialer Auf- oder Abstieg erfaßt werden kann Erklärung eines Ereignisses oder Zustandes durch eine einzige Ursache eintönig, gleichförmig der bewegende, richtunggebende, leitende, antreibende seelische Hinter- und Bestimmungsgrund des Handelns (Beweggrund) mehrere Fächer betreffend Verliebtsein in die eigene Person seelische Fehlentwicklungen und Fehlhaltungen, die sich in seelischen (Psychoneurose) oder (und) körperlichen (Organneurose) Leidenszuständen äußern, deren Entstehung bis in die Kindheit zurückreicht und als wesentliche Bestimmungsgründe Erlebnisse aufweist, die dem Leidenden nicht oder nur mangelhaft einsichtig sind, zumindest aber von ihm in ihren Zusammen-
268
Verzeichnis der benutzten Fremdwörter
Normierung Pathologie (individuelle, soziale) polymorph pervers
Population
Prädestination Prädisposition Präexistenz prospektive provokativ prophylaktisch Psychopath
Psychotherapie psychotisch Querschnittuntersuchung (Kontrollgruppentechnik) rational Rationalisierung
hängen mit dem aktuellen Leidenszustand übersehen werden Setzung von Rechtsvorschriften krankhafte Fehlentwicklung individueller und sozialer Systeme nach Freud die ursprüngliche, infantile Sexualorganisation des Kindes, die noch nicht durch die Vorherrschaft der Geschlechtsorgane gekennzeichnet ist Gesamtheit der Träger eines Merkmals bzw. aller Meßwerte, über die auf Grund der Untersuchung an einer Stichprobe Aussagen gemacht werden sollen Vorherbestimmung Empfänglichkeit, Anfälligkeit früheres Vorhandensein vorausschauende herausfordernd vorbeugend Persönlichkeiten, die an ihrer Abnormität leiden oder an deren Abnormität die Gesellschaft leidet (Kurt Schneider). Der Psychopath ist eine asoziale, aggressive, höchst impulsive Person, die geringe oder überhaupt keine Schuldgefühle entwickelt und außerstande ist, dauernde Gefühlsbeziehungen zu anderen Menschen herzustellen (William und Joan McCord) Behandlung seelischer oder seelisch bedingter Leiden mit psychologischen Mitteln geisteskrank Analyse verschiedener Untersuchungseinheiten zu einem Zeitpunkt, Vergleich einer Experimentalgruppe mit einer Kontrollgruppe zum Zwecke der Feststellung statistisch signifikanter Unterschiede verstandesgemäß nachträgliche verstandesmäßige Rechtfertigung eines Verhaltens
Verzeichnis der benutzten Fremdwörter
269
regredieren
Zurückfallen in ein früheres, bereits überwundenes Entwicklungsstadium
Reliabilität
retrospektive Rezidivist Rigidität
Zuverlässigkeit, Verläßlichkeit, formale Genauigkeit, Übereinstimmung der Ergebnisse gleichartiger Beobachtungen unter gleichartigen Bedingungen rückschauende Rückfälliger Starrheit, Unbeweglichkeit
Ritual
Vorgehen nach festgelegter, förmlicher Ordnung
Rolle
die von einer Person in einer bestimmten Stellung erwartete Verhaltensweise, der dynamische Aspekt eines Status (Theodore M. Newcomb) Überbleibsel Nachteilszufügung oder Belohnung bei normwidrigem oder normgemäßem Verhalten
Rudiment, Relikt Sanktion, Sanktionierung Sekundärrationalisation (tiefenpsychologisch) Selektion Selektivität
Sequenz Signifikanz, statistische
somatisch
s. Rationalisierung
Auslese, Auswahl Vorgang, der nicht sämtliche, sondern nur bestimmte, nach Kriterien ausgewählte Merkmale berücksichtigt Abfolge Bezeichnung für die Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit, mit der angenommen werden kann, daß bestimmte Unterschiede zwischen Stichproben oder Teilgesamtheiten einer Stichprobe sowie bestimmte Größen wie etwa Korrelationskoeffizienten nicht zufällig, durch die Zufallsauswahl bedingt, sondern Kennzeichen der untersuchten Grundgesamtheiten sind. Als signifikant werden auf Grund eines Signifikanztests solche Ergebnisse bezeichnet, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit (Signifikanzniveau z. B. p. > .01) nicht auf dem Auswahlfehler der Zufallsauswahl beruhen körperlich
270
Verzeichnis der benutzten Fremdwörter
System
System, soziales
Sozialisation Sozialstruktur
Status Subsumtion Suggestibilität sukzessiv Symptom Synonym Schicht
Stereotyp
nach einem einheitlichen Prinzip geordnetes Ganzes (statisch), ein Ganzes, dessen Elemente miteinander in wechselseitigen Beziehungen stehen, und zwar derart, daß jede Veränderung eines Elements auf andere Elemente im System fortwirkt (dynamisch) A social system consists of a plurality of individual actors interacting with each other in a situation which has at least a physical or environmental aspect, actors who are motivated in terms of a tendency to the "optimization of gratification" and whose relation to their situation, including each other, is defined and mediated in terms of a system of culturally structured and shared symbols (Talcott Parsons) Prozeß der Einordnung des einzelnen in soziale Gruppen Gliederung eines sozialen Systems nach bestimmten Merkmalen, z. B. nach Einkommen, Bildung, Produktionsverhältnissen, sozialer Schichtung, nach Prestige und Macht soziale Position, Platz, den ein Individuum in einem sozialen System einnimmt Unterordnung eines Sachverhalts unter einen Rechtssatz Beeinflußbarkeit Schritt für Schritt eintretend Anzeichen bedeutungsgleiches Wort Bevölkerungsgruppe, deren Mitglieder bestimmte gemeinsame Merkmale besitzen und sich dadurch von anderen Bevölkerungsgruppen in einer Sozialstruktur unterscheiden, die durch eine feste Rangordnung gekennzeichnet ist festgefügte, für lange Zeit gleichbleibende, durch neue Erfahrungen kaum veränderte, meist positiv oder negativ bewertende und emotional gefärbte Vorstellung über Personen und Gruppen, Ereignisse und Gegenstände
Verzeichnis der benutzten Fremdwörter Stigmatisation Stimulation Ubiquität Validität
Varietät Verhaltenstherapie
Zeremonie Zetetiker
271
Brandmarkung, Abstempelung, Zuschreibung eines Stigma Reizung Allgegenwart Gültigkeit, Treffsicherheit, materielle Genauigkeit, Grad der Genauigkeit, mit der ein Test das mißt, was er messen soll Spielart Behandlungsmethode, die in einer Dekonditionierung des unangepaßten Verhaltens oder in einer Konditionierung angepaßter Verhaltensweisen besteht förmliches, steifes Verfahren Zweifler, Wissenschaftler, der nicht an Dogmen glaubt oder in statischen Systemen, sondern in Problemen denkt
II. Abkürzungsverzeichnis D. C. EDV FBI HIM-A. J N N. J. u. a. US
District of Columbia (Bundesbezirk der USA) Elektronische Datenverarbeitung Federal Bureau of Investigation (Bundeskriminalpolizei der Vereinigten Staaten) Hill Interaction Matrix, Ausgabe A Jahre Anzahl der Versuchspersonen New Jersey (Staat im Osten der USA) und andere United States
III. Autorenregister Abd-el-Razek, Adnan 258 Abrahamsen, David 237 Adler, Alfred 14, 40, 50 f., 53, 237, 252 Adorno, T. W. 62, 237 Ahlstrom, Winton M. 237 Aichhorn, August 46, 237 Alexander, Franz 45 f., 158, 237 Allen, Francis A. 89 Allen, Robert F. 195, 237 Amir, Menachem 146, 237 Andry, Robert, G. 161, 237, 252 Aniyar de Castro, Lola 238 Anttila, Inkeri 252 Arnold, Wilhelm 238 Aschaffenburg, Gustav 14, 54, 238 Aubert, Vilhelm 103 f., 252 Baer, A. 28 f., 238 Baker, Robert K. 245 Ball, Sandra, J. 245 Ballard, Kelly B. 178 ff., 238 Bauer, Fritz 16, 238 Bavcon, Ljubo 55, 238, 252 Becker, Howard S. 63 f., 225, 238, 252 Becker, Pirmin 143, 259 Bellavic, Hanns 232, 249 Bendix, Ludwig 159, 238 Berkowitz, Leonard 152, 238, 252 Bitter, Wilhelm 170, 238 Bixby, F. Lovell 187, 246 Bleuler, E. 28, 238 Bohne, Gotthold 160, 23« Bonger, Willem 56, 238 18 Schneider, Kriminologie
Borgatta, Edgar F. 247 Bowlby, John 47 f., 238 Brace, Charles Loring 29, 239 Branham, Vernon C. 239 Brauneck, Anna-Eva 36, 230, 239, 252 Bronner, Augusta F. 126, 243 Brown, Roger L. 153, 243 Bryan, James H. 60, 252 Buchholz, Erich 58, 239 Burgess, Ernest W. 92, 125, 175, 177, 252 Caldwell, Robert G. 92, 230, 239 Callaway, John D. 239 Carney, Frank J. 216, 239 Carpenter, Mary 29, 239 Chaney, David C. 153, 243 Christie, Nils 239, 253 Cicourel, Aaron V. 63, 225 if., 239 Clarke, Alfred C. 240 Claster, Daniel S. 247 Clinard, Marshall B. 62, 91 f., 97 f., 102, 239 Cloward, Richard C. 59, 216, 239 Cohen, Albert K. 59, 239 Cohen, Harold L. 170, 240 Cole, L. 136, 240 Conger, John J. 128 ff., 240 Cortés, Juan B. 97, 240 Corwin, Ronald 252 Cressey, Donald R. 38, 60, 88, 98, 113, 119,169,233, 240, 250, 253, 258 Curtis, Lynn A. 74, 247
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Autorenregister
Darwin, Charles 28 David, Petro R. 240 Debro, Julius 253 Debuyst, Christian 161, 240 Dettenborn, Harry 132, 240 Dimitz, Simon 240 Di Tullio, Benigno 240 Dodd, Thomas J. 151 Drapkin, Israel S. 240, 253 Dubin, Harry N. 237 Dubitscher, Fred 32 ff., 240 Durkheim, Emile 56 Dynes, Russell R. 240 Eckartshausen, Carl von 26, 241 Eisenberg, Ulrich 5, 15, 241 Elias, Albert 187, 192 f., 246, 253 Ellenberger, Henry 148, 253 Empey, LaMar T. 169, 201, 204, 241, 253 England, Ralph W. 233, 250 Enke, W. 36, 253 Ennis, Philip H. 14, 29, 71 f., 137, 241, 260 Erikson, Kai T. 63, 223 f., 241 Exner, Franz 220, 230, 241 Eysenck, Hans Jürgen 52 f., 238, 241 Fattah, Abdel Ezzat 144 f., 241 Fechner, Gustav Theodor 40 Ferracuti, Franco 58, 110, 222, 233, 241, 251, 253, 254 Ferri, Enrico 53, 241 Feshbach, Seymour 152, 254 Fiedler, Charlotte 84, 260 Figlio, Robert M. 141, 250 Filipczak, James 170, 240 Földvari, Jozsef 241 Fontanesi, Mario 110, 254 Forssman, H. 36, 254 Frenkel-Brunswik, Else 237
Freud, Sigmund 14, 40 ff., 50, 254 Friedlander, Kate 48, 241 Fröhlich, Hans H. 132, 240 Fromm, Erich 46, 254 Garfinkel, Harold 63, 227, 254 Garofalo, Raffaele 15, 26, 53, 241 Gatti, Florence M. 97, 240 Gaudet, Frederick J. 163, 254 Geis, Gilbert 169, 241 Gercenzon, A. A. 230, 241 Gerhardt, Ulf Dietmar 150, 241 Giese, Hans 241 Gillin, John Lewis 242 Glaser, Daniel 178 Glasser, William 170, 242 Glover, Edward 242 Glueck, Sheldon und Eleanor 38, 127, 175 ff., 242 Gold, Harry 242 Gold, Martin 242 Göllnitz, G. 36, 254 Gomez Grillo, Elio 242 Göppinger, Hans 5, 15, 23, 37 f., 231, 242 Goring, Charles Buckman 26 f., 242 Gottfredson, Don M. 178 ff., 238 Grant, J. Douglas 169 Groß, Hans 14, 40, 54, 242 Grygier, Tadeusz 178, 242 Hall, I. N. 136, 240 Hall, Jerome 89 Halloran, James D. 150, 153, 243 Hallström, A. 243 Hambert, G. 36, 254 Hartmann, Richard 239 Härtung, Frank E. 91 f., 243 Hathaway, Starke R. 177, 243
Autorenregister Havighurst, Robert J. 237 Healy, William 30, 126, 243 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 11 Heironimus, Mark 252 Heiß, Robert 32, 97 Hellmer, Joachim 80, 243 Hentig, Hans von 14, 139 ff., 243 Hepburn, John R. 144, 259 Herren, Rüdiger 23, 52, 243 Hess, Henner 109 ff., 243 Hicks, Robert A. 256 Hilbers, Marlene 168, 255 Hill, Edwin, C. 88 Himmelweit, Hilde T. 133, 244 Hirschi, Travis 184, 244 Hogarth, John 163 f., 244 Hooton, Ernest A. 27, 244 Horn, Imme 244 Iturbe, Arnoldo Garcia 244 Izumiya 146 Janowitz, Morris 155, 244 Johnson, Elmer Hubert 231, 244 Johnston, Norman 251 Jones, Howard 242 Jones, Maxwell 168, 244 Jones, Wyatt C. 247 Julius, Nikolaus Heinrich 166, 244 Kaiser, Günther 5, 14, 231, 244 Kant, Immanuel 26, 244 Kauffmann, Max 28, 244 Kaufmann, Hilde 5, 15, 23, 39, 244 Kaufman, Irving 49, 248 Kellner, Hella 152, 244 Kennedy, John F. 151 Kennedy, Robert F. 96, 113, 255 Kitsuse, John I. 63, 255
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Klein, Malcolm W. 216, 244 Kobetz, Richard W. 245 Kobus, Antoni 247 König, René 248 Korn, Richard 169 Krauß, Detlef 19, 245 Kretschmer, Ernst 13, 35, 245 Kutash, Samuel B. 239 Lambert, J. M. 178 Landesco, John 109, 245 Lane, Robert E. 103, 255 Lange, David L. 150, 154 f., 245 Lange, Johannes 30, 32, 245 Lange, Wolf 168, 255 Langner, Jürgen 249 Lazzari, Renato 110, 241, 254 Leferenz, Heinz 13, 231, 245, 255 Lekschas, John 24, 231, 239, 245 Lemert, Edwin M. 18, 100, 217, 234, 245 Lempp, R. 36, 255 Lerneil, Leszek 55, 245 Levinson, Daniel J. 237 Lewin, Kurt 98, 222 Lewis, David W. 166, 245 Liepmann, Moritz 14, 165, 245, 246 Linares, M. 243 Lindbergh, Charles A. 186 Liszt, Franz von 14, 246, 255 Lombroso, Cesare 24 ff., 30, 52 f., 55, 246 Lübeck, Steven G. 201, 241 Luger, Milton 169 Luther, Horst 158, 255 MacNaughton-Smith, Peter 178, 259 Makarenko, A. S. 207, 246
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Autorenregister
Manfort, Mariam Felicia 256 Mannheim, Hermann 88,177,246 Mannheim, Karl 12 Marshall, James 158 f., 246 Marx, Karl 11 Mattick, Hans W. 239 Matza, David 59, 246 Mauch, Gerhard und Roland 170, 246 Mayorca, Juan Manuel 232, 246 McClintock, F. H. 137, 246 McCord, William und Joan 126, 246 McCorkle, Lloyd W. 187, 246 McKay, Henry D. 61, 215, 249 Meehl, Paul E. 246 Meili, Richard 238 Mendelsohn, B. 139 ff., 255 Mergen, Armand 39, 96, 232, 246, 247 Merton, Robert K. 56, 65, 227, 247 Messinger, Sheldon R. 250 Mey, Hans-Georg 177, 255 Meyer, Henry J. 247 Mezger, Edmund 232, 247 Middendorff, Wolf 23 Miklos, Vermes 232, 247 Miller, Lovick C. 199, 256 Miller, Walter B. 59, 256 Miller, Wilbur C. 128 ff., 240 Milutinovic, Milan 94, 247 Mirza-Baranowska, Izabella Tuhan 132, 214, 247 Miyazawa, Koichi 144,146, 256 Monachesi, Elio D. 177, 243 Morris, Albert 88, 256 Moser, Tilmann 23, 39, 247 Mulvihill, Donald J. 74, 247 Näcke, P. 28, 256 Namowicz-Chrzanowska, Hanna 247
Newman, Donald J. 103, 256 Nice, Richard W. 232, 247 Nietzsche, Friedrich 43 Nye, F. Ivan 127, 247 Ohle, Karlheinz 249 Ohlin, Lloyd E. 59, 216, 239 Oppenheim, A. N. 153, 244 Perrow, Charles 250 Pilnick, Saul 237 Pinatel, Jean 8, 222, 247 Platt, Anthony M. 213, 247 Prichard, James Cowles 27 Pokorny, Alex D. 143, 256 Pollitz, Paul 40, 247 Polsky, Howard W. 247 Popitz, Heinrich 18, 247 Post, Gene C. 218, 256 Puzo, Mario 120 Quinney, Richard 63, 92, 157, 239, 247, 256 Rabow Jerome 192 f., 253 Rasch, Wilfried 146 f., 256 Reckless, Walter C. 62, 98, 108, 248 Redl, Fritz 48 ff., 248 Reik, Theodor 44 f., 248 Reiner, Beatrice Simcox 49, 248 Reinhardt, Heinz 148, 248 Reiwald, Paul 103, 160, 248 Reschetnikow, F. M. 91, 248 Rickert, Heinrich 8 Rijksen, R. 161, 248 Ross, Edward Aisworth 88, 257 Rubington, Earl 248 Sack, Fritz 23, 64, 221, 248, 257 Sanford, R. Nevitt 237 Sauer, Wilhelm 13, 232, 248 Savitz, Leonard 251
Autoren register Scarpitti, Frank R. 196, 242, 250 Schäfer, Herbert 246 Schafer, Stephen 144, 248 Schiedt, Robert 176 Schikunow, W. S. 228, 248 Schmidt, Eugen 52, 248 Schneider, Hans Joachim 6, 8, 166, 168, 176, 183, 200, 234, 249, 257, 258 Schneider, Kurt 13, 35, 60, 248, 258 Schönfelder, Thea 147, 249 Schuessler, Karl F. 38, 258 Schultz, LeRoy G. 147, 258 Schur, Edwin M. 63, 91, 249 Schwitzgebel, Ralph 249 Scott, Peter D. 161, 258 Seelig, Ernst 232, 249 Sellin, Thorsten 58, 249 Selvin, Hanan C. 184, 244 Shaw, Clifford R. 61, 122 f., 215, 249 Shigemori 146 Shoham, Shlomo 58, 62, 249, 258 Shoham, Nahum 258 Short, James F. 130 f., 249 Sieverts, Rudolf 6, 167, 249 Skaberne, Bronislav 252 Skolnick, Jerome H. 63, 158, 249 Smelser, Neil J. 249 Smith, Richard Austin 258 Smith, Robert L. 174, 249 Spencer, John C. 98, 242, 258 Spergel, Irving 249 Staub, Hugo 45 f., 158, 237 Stephenson, Richard M. 196, 250 Stiller, Gerhard 239 Street, David 250 Strodtbeck, Fred L. 130 f., 249 Studt, Elliot 250 Stumpf], Friedrich 23, 32 ff., 250
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Stiirup, Georg K. 250 Sutherland, Edwin H. 60, 63, 88 if., 101, 233, 250, 258, 259 Taft, Donald R. 233, 250 Tannenbaum, Frank 63, 250 Tappan, Paul W. 89, 92, 250, 259 Terstegen, Otto 95, 251 Thornberry, Terence P. 141, 250 Tumin, Melvin M. 247 Undeutsch, Udo 250 Veblen, Thorstein 102 Vigh, Jozsef 241 Vince, Pamela 153, 243 Vinter, Robert D. 250 Vodopivec, Katja 252 Void, George B. 89, 250 Voss, Harwin L. 144, 259 Walder, Hans 48, 259 Ward, David A. 240 Weber, M a x 8 Weeks, H. Ashley 192 f., 251 Weimar, Robert 251 Weinberg, Martin S. 248 Werfel, Franz 138 Wheeler, Stanton 227, 259 Wierzbicki, Piotr 247 Wigmore, John H. 53 Wilkins, Leslie T. 16, 19, 38, 177 f., 246, 251, 259 Williams, W. T. 178 Wilson, Harriett 251 Wilson, Thomas P. 250 Wineman, David 48 if., 248 Winter, Alexander 212, 251 Witter, Hermann 242 Wolfgang, Marvin E. 110, 143, 222, 233, 241, 251, 254, 259
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Autorenregister
Wundt, Wilhelm 40 Würtenberger, Thomas 23, 234, 251
Yearwood, J. Homero E. 137, 251 Youtz, Adella C. 237
Yablonsky, Lewis 251
Zipf, Heinz 16, 259 Zirpins, Walter 95, 251
IV. Sachregister Abgeurteiltenstatistik, s. Kriminalstatistik Abstempelung, s. Stigmatisierung A b n o r m i t ä t e n , körperliche 27 A b n o r m e Persönlichkeit, s. Persönlichkeit Agrargesellschaft, s. Gesellschaft Anlage 13, 25, 30 ff., 39 - , u n d M e h r f a k t o r e n a n s a t z 39 - , u n d Umwelt 13, 30 ff., 39, 52 Anomie 56 ff. A n o n y m i t ä t des Opfers 140 Anthropologie 24 f., 29 Anzeigebereitschaft 66 f., 72 f. Apathie 57 f. Area approach 61 f. Asoziale 44 ff. Assoziation, différentielle 60 f. A u f k l ä r u n g s q u o t e 76 ff. A u t o n o m i e der Kriminologie 22 ff. Banden 59, 107, 112, 130 ff., 215 Behandlung 19 - , als action research 183 ff. - , in Freiheit 170 ff. - , Bewährungshilfe 170 ff. - , Collegefields-Experiment 194 ff. - , Essexfields-Experiment 194 ff. - , Highfields-Experiment 185 ff. - , Probation-Subsidy 171 ff. - , Provo-Experiment 200 f. - , Resultate 172, 191 ff., 195 f., 199 f., 201, 204 ff. - , Silverlake-Experiment 201 ff. - , Southfields-Experiment 198 f.
Behandlungsvollzug 22, 168 ff., s. auch Sozialtherapeutische Anstalten - , u n d Psychotherapie 170 - , u n d Bewährungshilfe 170 f. Berufskriminalität 92 f. Bewährungshilfe 170 ff., 195 ff., s. auch Behandlung Biologie, s. Kriminalbiologie C h r o m o s o m e n a b e r r a t i o n 30, 36 Cultural gap 58, s. auch Kulturkonflikttheorie D a n g e r o u s classes 29 Darstellung der Kriminalität 7, s. auch Massenmedien - , im kapitalistischen System 69 - , in totalitären Systemen 69 D a y C a r e 218 f. Definitionsmacht 227 - , der Instanzen der Sozialkontrolle 64 - , der Gesellschaft 11, 16, 228 - , des Gesetzgebers 9 f., 227 Diskriminierung 35 Dispositionen zum Verbrechen 45 Drucktheorie 56 Dunkelfeld 14, 18, 29, 66 ff., 137 - , bei Wirtschaftsdelikten 90, 94 - , bei organisiertem Verbrechen 113 - , bei Jugendkriminalität 128 Effektivität von Behandlungsexperimenten 172, 191 ff., 195 f., 199 f., 201, 204 ff.
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Sachregister
Eigentumsdelikte, s. Vermögensdelikte Einwanderer 58 Empirische Untersuchungen zur Jugendkriminalität 123 ff. Empirie, Verhältnis zur Theorie 38 Entkriminalisierungsprozeß 9 f., 16 ff., 66 f., 234 f. Erziehung 43, 69,126 f. Fernsehen, s. Massenmedien Freiheitsstrafe, s. Strafe Frühkriminalität 80 Funktionärskriminalität 94 Gastarbeiter 58 Gebietsansatz 61 f. Gesellschaft Agrargesellschaft 208 f. - , und Gewalt 156 - , Industriegesellschaft 208 f. und Kriminologie 7 f., 11 f., 18, 221 - , und sozialabweichendes Verhalten 10, 15, 17 - , und Verbrechen 14, 123, 225 - , Wesen 11,16, 19, 46 f., 224 Gesetzgeber, Definitionsmacht 9 f., 227 Geständnisangst 44 Geständniszwang 44 Gewalt 156 Gewaltkriminalität 67, 72 ff., 82 Gewohnheitsverbrecher 29 Glaubwürdigkeit - , des Opfers 138 - , des Täters 138 Großstadt und Kriminalität 61 f., 72, 209 Halttheorie 62 Hereditätslehre, s. Anlage
Hirnschäden, frühkindliche 30, 36 f. Individualpsychologie 14, 40, 50 - , Kompensation 50 ff. - , Machtstreben 50 ff. Organminderwertigkeit 50 ff. Industriegesellschaft, s. Gesellschaft Inhaltsanalysen 153 f. Innovation 57 Instanzen sozialer Kontrolle 15, 17, 63 f., 66 ff., 157 - , und organisiertes Verbrechen 107 ff. Intelligenz 130 Interaktionsprozeß 227 - , bei Hirngeschädigten 37 bei Jugendkriminalität 122 ff., 135 - , im sozialen Nahraum 31 - , Theorie und Empirie 40 - , bei abweichendem Verhalten 11, 17 f., 63 f., 123, 224 f., 228 Isoliertheit, soziale 148, 215 Jugendbüros 217 f. Jugendgerichte 210 ff. Jugendkriminalität 84 ff., 122 ff. - , Banden 130 ff. - , Bekämpfung 207 ff. - , empirische Studien 126 ff. - , Entstehung als Sozialprozeß 122 ff., 135, 208 f., 214 ff. - , als Individualphänomen 210 und Massenmedien 150 - , in sozialistischen Ländern 132 ff., 207 f. und Subkultur 131 f., 202, 209 in den USA 85 ff. Vorbeugung 207 ff.
Sachregister Jugenkriminalrechtspflege 212 ff. Jugendrichter 162 Kapitalismus und Kriminalitätsentstehung 56 Karriere, s. kriminelle Karriere Kinderretter 212 f. Klassengegensätze 46 Klassengesetzgebung 64 Klassenjustiz 64 Klinefelter-Syndrom 36 Kollektiv 207 Konditionierung 52 Konformität 56 f. Konstitutionstypologie 35 f. Kontrolle, soziale 16 ff., 62, 64, 66, 78, 122 ff., 209, 219 f., 227 f. - , als Vorbeugung 19, 209 ff. Kriminalbiologie 7, 13, 24 ff., 30, 34 Kriminalisierungsprozeß 9 f., 16 ff., 66, 92, 122, 214, 234 f. Kriminalistik 19, 21 Kriminalität - , Bekämpfung 23, s. auch Behandlung und Strafvollzug - , Belastung 68, 72 ff., 78 ff., 80, 82 ff. - , Entstehung 15, 21, 65 - , Erklärung - , als Erziehungsdefekt 43, 69, 127 - , als Folge körperlicher Minderwertigkeit 27 - , als soziales Problem 27, 63 f., 223 - , als komplexes deterministisches System 16, 24 - , Mittelfeld 15 - , Schwere 15 - , als Verstoß gegen das Strafgesetz, 9, 15
281
- , und sozialabweichendes Verhalten, s. sozialabweichendes Verhalten - , Ursachen 3 9 , 1 2 2 ff., 183 f. - , Ursache-Wirkungs-Mechanismus 39 - , verborgene, s. Dunkelfeld Vorbeugung 23, 221 Kriminalitätsbehandlung 15, 19, s. auch Behandlung Kriminalitätspotential 66 ff. Kriminalitätsprognose 174 ff. - , sozialpsychologische Auswirkungen 182 Begriff 174 ff. - , Behandlungsprognose 175 und Bewährungshilfe 172 Entwicklung und Geschichte 175 ff. - , Individualprognose 174 ff. - , Mängel 177 f. - , Prognosetafeln 174, 176 - , Rückfallprognose 175, 182 f. - , Strukturprognose 177 ff. Kriminalitätsstruktur 66 ff. Kriminalitätstheorien mittlerer Reichweite 65 Kriminalitätstheorien, psychologische 40 ff. - , Experimentalpsychologische Richtung 40 - , Individualpsychologische Richtung 40, 50 ff. - , Psychoanalytische Richtung 40 ff. Kriminalitätstheorien, sozialpsychologische 62 ff. - , Halttheorie 62 - , Interaktionistischer Ansatz 63 ff. - , Theorie der sozialen Kontrolle
62
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Sachregister
- , Stigmatisationstheorie 62 Kriminalitätstheorien, soziologische 56 ff. - , Anomietheorie 56 ff. Area approach (Gebietsansatz) 61 - , Différentielle Assoziation 60 - , Kulturkonflikttheorie 58 - , Rudimenttheorie 55, 58, 228 - , Subkulturtheorie 59 f. Kriminalpolitik 19, 34, 171 f., 221 Kriminalpsychologie 25 f., 40, s. auch Kriminalitätstheorien, psychologische Kriminalstatistik 68 ff. - , Abgeurteiltenstatistik 68 f. - , Kriminalitätsindex 68 - , Primärstatistik 68 - , Rückfallstatistik 80 - , Sekundärstatistik 68 - , Strafrechtspflegestatistiken 69 f. - , Strafvollzugsstatistik 69 - , Strafverfolgungsstatistik 85 ff. - , Vergleichbarkeit 70 - , Verurteiltenstatistik 68 Kriminelle Karriere 19, 65, 80, 123 ff., s. auch Persönlichkeit als Prozeß Kriminologie - , angloamerikanische 38, 40, 53 f., 65, 220 f. - , deutschsprachige 15 ff. - , kontinental-europäische 54 - , skandinavische 54 - , sozialistische 54 ff., 207 f., 228, 230 Kriminologie - , Aufgabe 8, 17 ff., 229 ff. - , Bezeichnung 26
Gegenstände 9 ff., 17 ff., 20, 221, 229 ff. als Geisteswissenschaft 8 - , und Gesellschaft 7 f., 11 f., 18, 221 - , als Humanwissenschaft 8, 23 als interdisziplinäre Wissenschaft 12, 22 ff., 221 f. - , und Jurisprudenz 23 - , und Kriminalistik 19, 230 - , und Kriminalpolitik 19, 230, 232 - , und Massenmedien 8 f. - , und Medizin 26 - , als Naturwissenschaft 8, 23 - , und Psychiatrie 7, 12, 23 - , und Psychoanalyse 23 - , und Psychologie 12 - , Sammelwerke 5 - , Selbstverständnis 13 ff., 221 ff., 229 ff. - , als Sozialwissenschaft 8 - , und Soziologie 12, 23 - , und Strafrecht 7, 12, 19, 230 - , und Strafzumessung 20 Kriminopathie 39 Kriminoresistente Konstellationer 38 Kriminovalente Konstellationen 37 Kulturkonflikttheorie 58 Lerntheorie 48, 52 - , Frustration 48 - , Identifikation 48 f. - , Internalisation 48 Overprotection 48 Mafia, s. organisiertes Verbrechen Massenmedien 9, 21, 150 ff.
Sachregister - , gesellschaftliche Funktion 9, 154 f. - , und Gewalt 150 ff. - , und Jugendkriminalität 150 - , und Kriminalitätskontrolle 67, 69 - , als Kriminalitätsursache 150 ff. - , und Opfer 143 - , und organisiertes Verbrechen 113 - , als Vermittler von Werten und Leitbildern 156 f. Mehrfaktorenansatz 11, 37 ff., 223 Minderjährige, s. Jugendkriminalität Minderwertigkeit, körperliche 27 Minoritätsprobleme 58 Mittelschicht 5 9 Mobilität, soziale 5 8 f. M o r a l Insanity 2 7 f., 30 Nahraum, sozialer 31, 72, 122, 126, 147 Normen, Verankerung 16 Normlosigkeit, s. Anomie Occupational crimes, s. Berufsstraftaten Ödipuskomplex 41, 43 ff. Opfer 14, 21, 67, 70 ff., 135 ff. - , Anonymität 140 - , Anzeigebereitschaft 67, 7 2 f. - , Beziehung zum T ä t e r 138 f., 141 ff. - , prädisponierende Faktoren 143 ff., 147 f. - , und Gesellschaft 141, 144 f. - , und soziale Isoliertheit 148 f. - , und Massenmedien 143 - , Mitschuld 138 f. - , Notzucht 146
283
- , Opfer-Täter-Abfolge 141 f. Opfer - , des organisierten Verbrechens 108 - , von Sexualdelikten 145 ff. - , von Tötungsdelikten 143 ff. - , Typologie 140 - , von Wirtschaftskriminalität 93, 102 f., 105 Organisiertes Verbrechen 106 ff. - , Aufbau 113 ff. - , Bekämpfung 119 ff. - , Erscheinungsformen 108, 111 f., 119 - , gesellschaftliche Bedingtheit 109 ff. - , M a f i a 107 f., 109 ff. - , Opfer 108 - , Persönlichkeit des organisierten Verbrechers 117 f. - , als soziales System 106 ff., 113 ff. - . U m f a n g 111 f., 118 f. Pathologie - , individuelle 39, 213 - , soziale 3 9 Peer group 185, 2 0 2 Persönlichkeit 13, 3 7 - , autoritäre 62 f., 158 - , Entwicklung 49 f. - , Erforschung 21, 223 - , delinquenter Jugendlicher 129, 196 ff. - , Libido 42 - , Ödipuskomplex 41, 43 ff. - , des Opfers 145, 149 - , als Prozeß 19, 32, 3 4 - , psychoanalytisches Modell 41 ff., 48 - , Psychopath, s. Psychopathie, Psychopathologie - , des Richters 163
284
Sachregister
- , Persönlichkeitsstörung 39, 52, 99, 129 f., 217 Polizei - , Einstellung zur Strafe 158 - , Psychologie 158 - , soziale Stellung 158 Primärkontrolle, s. Kontrolle Primärstatistik, s. Kriminalstatistik Probation, s. Bewährungshilfe Prognose, s. Kriminalitätsprognose Psychiatrie und Kriminologie 7, 23 f. Psychoanalyse 14, 23, 39 ff., 52 - , Mutterentzug 47 f. - , Ödipuskomplex 43 ff. - , Persönlichkeitsmodell 41 ff., 48 f. - , Psychoneurosen 45 f. Psychologie - , physiologische und experimentelle 40 - , Polizei, Richter, Strafvollzug 157 f. - , Theorien 40 - , des „niederen Volkes" 28 f. Psychopathie 13, 33, 35, 39 Psychopathologie 13, 39 Psychotherapie - , analytische 42 - , im Strafvollzug 170 Randgruppen 15 Rauschgiftdelikte 84 ff. Reaktion 18, 37, 63 f., 122 f., 166 f., 225 f. - , formelle 17, 65 - , informelle 17, 65 Rebellion 58 Regierung und Kriminalität 69 f. Reliabilitätsuntersuchungen von Prognosetafeln 176
Resozialisierung 166 f. Richter - , Einstellung zur Gesellschaft 163 f. - , Einstellung zu Kriminellen 161 - , Fortbildung 163 - , Persönlichkeit 162 f. Richterpsychologie 14, 22, 157 ff. Ritualismus 57 Rolle, kriminelle 22, 35, 227 Rudimenttheorie 55, 58, 228 Rückfallkriminalität 19, 22, 33, 62, 80 f., 132, 167 f., 196, 199 ff., 206 f., 212 - , Wirtschaftskriminalität 90 - , Prognose 182 f. Rückfallstatistik, s. Kriminalstatistik Schuld - , Bewußtsein 43, 45 - , Gefühl 43 f., 46, 130 Schwerkriminelle 32 f. Sekundärstatistik, s. Kriminalstatistik Selbstbild, s. Straftäter Selektion 64, 70,164 Self-fulfilling prophecy 62 Sensibilisierung, soziale 50 Sexualdelikte 73 ff., 145 ff. Sichtbarkeit, soziale 67, s. auch Dunkelfeld Sozialabweichendes Verhalten 224 f. - , im Behandlungsvollzug 206 - , als Gegenstand der Kriminologie 9 f., 17 f. - , und Verbrechen 9 f., 18 - , und konformes Verhalten 10 Sozialer Nahraum, s. Nahraum, sozialer Sozialkontrolle, s. Kontrolle, soziale
Sachregister Sozialprozeß - , Kriminalität als 8, 66, 213 als Gegenstand der Kriminologie 10, 12 Sozialpsychologie 14, 21 - , und Kriminalitätsprognose 182 - , Theorien 53 ff. - , Sozialschädlichkeit und Verbrechensbegriff 16 Sozialtherapie 171 - , Day Care 219 - , Effizienz 168, 170 - , therapeutische Gemeinschaft 168 ff. - , Gruppendynamik 195, 219 - , Guided Group Interaction 186 ff., 200 - , Jugendbüro 218 - , Sozialtherapeutische Anstalten 168, 170 - , Street Club-Worker 216 Soziologische Kriminalitätstheorien, s. Kriminalitätstheorien Soziologie - , von Institutionen 63 - , und Kriminologie 23 f. Sozioökonomische Faktoren und Jugendkriminalität 127, 129 f. - , Unterschichtsdiskriminierung 214, 226 f. Spontanbewährung 14 f. Statistik, s. Kriminalstatistik Stigmatisationstheorie 62 Stigmatisierung 125, 202, 217 und Kriminalprognose 187 - , und Wirtschaftskriminalität 90 Strafanstalten, Reform 164 ff.,
220
285
Strafe 44, 161, s. auch Strafvollzug Alternativen 185 ff. - , Arten 165 f. - , im Behandlungsvollzug 206 - , Funktion 47 Geschichte 165 f. - , Strafbedürfnis 44 - , Wirkung 62, 167 - , bei Wirtschaftsverbrechen 103 f. Strafrecht - , Aufgabe 19 - , und Kriminologie 7, 13, 19 - , und Viktimologie 138 Strafrechtspflegestatistik, s. Kriminalstatistik Straftäter - , chronischer 45 Degradation 167 - , Einstellung zu Instanzen der Sozialkontrolle 161 - , geborener 25, 27 ff. - , als Individuum 8 - , jugendlicher 122 ff. - , Persönlichkeit 13 - , aufgrund persönlicher Disposition 45 - , als Psychopath 13 - , aus Schuldbewußtsein 43 ff. - , Selbstbild 88, 90, 98 ff., 104 f. 123 ff., 227 - , situationsbedingter 45 - , Stereotyp 90 und Strafverfahren 161 Strafverfahren - , und Straftäter 161 - , und Viktimologie 138 Strafverfolgungsstatistik, s. Kriminalstatistik Strafvollzug 22, 164 ff., s. auch Behandlungsvollzug
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Sachregister
-, -, -, -,
nordamerikanischer 165 f. und Prisonisierung 167 und Resozialisierung 166 ff. Vorbeugung gegen Rückfallkriminalität 168 - , empirische Untersuchungen 167 ff. Strafvollzugsstatistik, s. Kriminalstatistik Subkultur 131 f., 158, 202, 209 Subkulturtheorie 5 9 f. Täterorientierung 30, 37 f. Tiefenpsychologie 45, s. auch Psychoanalyse Therapieprogramm 126, s. auch Sozialtherapie Uberkriminalisierung - , und organisiertes Verbrechen 119 Ubiquität der Kriminalität 14, 29 Umwelt 13, 30 ff., 37, 39, s. auch Anlage - , und Mehrfaktorenansatz 52 Unterschicht 2 9 f., 5 9 f., 90, 2 1 4 Urteilsfindung, richterliche 160, 164 Validitätsuntersuchungen von Prognosetafeln 176, 178 Verbrechen - , Begriff 9 - , als Gegenstand der Kriminologie 9 - , Kontrastfunktion 17 - , kriminologischer Verbrechensbegriff 14 ff. - , natürliches 15 - , als Notwendigkeit 5 6 - , als psychophysisches Phänomen 13
- , und sozialabweichendes Verhalten 9 - , und Sozialschädlichkeit 16 - , strafrechtlicher Verbrechensbegriff 15 - , Wirkung auf die Öffentlichkeit 7 Verbrecher, s. Straftäter Vererbung, s. Anlage und Zwillingsforschung Vergleichsgruppentechnik 38 Verhalten - , von Jugendrichtern 162 - , des Kriminellen 16, 225 - , sozialabweichendes 9, 17, 28, 123 ff. Verkehrskriminalität 67, 83, 87, 140 Vermögenskriminalität 72 ff. Verurteiltenstatistik, s. Kriminalstatistik Viktimologie 14, 21, 135 ff., s. auch Opfer - , Geschichte 139 f. und Strafzumessung 149 f. - , empirische Untersuchungen 141 ff. Wechselwirkung, s. Interaktion Wertfreiheit und Kriminologie 11, 18 Wertkonflikt 5 8 White-Collar-Crime, s. Wirtschaftskriminalität Wirtschaftskriminalität - , Begriff 88 ff. - , Bekämpfung 105 f. Dunkelfeld 90, 94, 1 0 2 , 1 0 6 - , Erscheinungsformen 93 ff. - , Funktionärskriminalität 9 4 - , und Gesellschaft 67, 89 ff., 101 f., 105 - , Opfer 93, 102 ff., 140
Sachregister Persönlichkeit des Wirtschaftsstraftäters 96 ff., 105 - , Rückfall 90 Selbstbild des Wirtschaftsstraftäters 88, 90, 98 ff., 104 f. - , Sozialschädlichkeit 89, 99, 93 ff.
- , Ursachen 101 ff. - , V o r b e u g u n g 104 ff. Wirtschaftsstrafrecht 105 f. Zwillingsforschung 30 ff. Zuschreibung, s. Definitionsmacht
287
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