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German Pages 36 [39] Year 1977
S I T Z U N G S B E R I C H T E D E R S Ä C H S I S C H EN A K A D E M I E DER WISSENSCHAFTEN-ZU Mathematisch-naturwissenschaftliche Band 112 • Heft 3
HERBERT
LEIPZIG Klasse
JORDAN
KURORTTHERAPIE: PRINZIP UND PROBLEME
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1976
SITZUNGSBERICHTE DER SÄCHSISCHEN D E R W I S S E N S C H A F T E N ZU
LEIPZIG
Mathematisch-naturivissenschaftliche Band
112
Klasse
• Heft
HERBERT
3
JORDAN
KURORTTHERAPIE: P R I N Z I P UND P R O B L E M E Mit 10 Abbildungen
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1976
AKADEMIE
Vorgetragen in der Sitzung vom 17. Oktober 1975 Manuskript eingereicht am 23. J a n u a r 1976 Druckfertig erklärt am 30. September 1976
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1976 Lizenznummer: 202 • 100/552/76 P 153/76 Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg Bestellnummer: 762 398 5 (2027/112/3) • LSV 2075 Printed in GDR D D R 4,50 M
I Auf die knappeste Formel gebracht k a n n unter „ K u r o r t t h e r a p i e " die Durchf ü h r u n g einer mehrwöchigen komplexen Reizserientherapie am K r a n k e n im veränderten Milieu verstanden werden (.JORDAN [ 1 8 ] ) . „ K o m p l e x " ist diese Therapie sowohl im Hinblick auf die im jeweiligen Behandlungsregime integrierten verschiedenartigen therapeutischen Methoden u n d ihres zeitlichen Einsatzes als auch auf die mit ihnen erreichbaren Angriffsebenen im kranken Organismus. Von „"Reizserie" sprechen wir, weil sich hierbei Behandlungsreiz u n d Behandlungspause über einen mittelfristigen Zeitraum planmäßig abwechseln, womit sich ein funktionell-rhythmologischer adaptiver E f f e k t verbindet. Das „veränderte Milieu" wird einmal durch den psychisch u n d physisch neuen Lebens- u n d Erlebensraum, in welchem sich die ärztliche Behandlung vollzieht, zum anderen sicherlich auch durch die andersartige gesamttherapeutische P r a k t i k repräsentiert. I n diesem Sinne verkörpert die K u r o r t therapie das Maximum an ärztlicher Nutzung der Umweltfaktoren überh a u p t . Ich möchte dies — in Anlehnung und zugleich gewisser Erweiterung der Definitionen von R O T H S C H U H [ 3 2 ] — als den hygiogenetischen bzw. hygiokinetischen Aspekt der Beziehung Mensch-Umwelt bezeichnen u n d damit als das genaue Gegenstück zu deren pathogenetischen oder pathokinetischen Stigmata ansprechen. U n d hierin drückt sich zugleich am deutlichsten die Motivation f ü r meinen Vortrag in diesem Kreise aus. Unter „ U m w e l t " verstehen wir in diesem Bezug die Landschaft, das Bioklima, das im K u r o r t gegebene Milieu einschließlich der veränderten soziologischen Situation — „Entheimungs- u n d Neubeheimungsproblem" (SCHULTZ [36]), Entfunktionalisierung, Einbindung in eine „therapeutische Gemeinschaft" — sowie die Zeitgeberfunktion der gelenkten tagesrhythmischen Ordnung, in die der K r a n k e gerät, eine Zeitordnung im Sinne der R ü c k f ü h r u n g auf die natürliche Biorhythmik, auf das „arrangement vital' •' im Sinne Claude B E R N A B D S : als Versuch, die rhythmologische Dissoziation, der in unserer Zeit Krankheitswert zukommt („Entordnungskrankheiten" K Ö T S C H A U S [25]), wieder zu beheben. Dieser bewußt gesteuerte kurzfristige 1*
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konnektive u n d informative Zusammenhang des Kranken mit der Umwelt in dem Bestreben, eine Erhöhung des Ordnungsgrades im System des menschlichen Organismus, gewissermaßen eine Erhöhung seiner Negentropie zu erreichen, ist — vom S t a n d p u n k t der Verhaltensforschung aus gesehen — als eine logische und planmäßige Nutzbarmachung eines natürlichen Beziehungsgefüges zu bezeichnen. Dabei ist die Konstellation dieser „ U m w e l t " keine Konstante, sondern hat den Charakter einer mehr oder minder effektvollen Variablen, die dem Kranken laufend adäquate konditioneile Einstellungen abfordert. Vor einer derartigen dynamischen Kulisse spielt sich nun das Therapiegeschehen ab, welches V O N N E E R G A R D SO treffend als „Reaktionstherapie" bezeichnete [29]. Diese Bezeichnung gilt f ü r das Gesamtgebiet der Physiotherapie (in das die Kurorttherapie didaktisch einzuordnen ist); sie spricht die Zielstellung dieser Behandlungsweise am besten an, indem sie unter „ R e a k t i o n " eine globale Leistung des menschlichen Organismus versteht, die es mit Mitteln der ärztlichen Kunst zu entwickeln gilt und die in gewissem Sinne dem „linearkausalen" pharmakologischen Therapieeffekt — in voller Anerkennung der Vorbehalte, die dieser Unterscheidung eingeräumt werden müssen — gegenübergestellt werden kann. Zum Behandlungsregime im Kurort treten sodann noch vordergründig, aber keineswegs ausschließlich, weitere Umweltfaktoren, die sogenannten Heilwässer und die Peloide, neben das Bioklima. Diese „natürlichen Heilm i t t e l " oder — wie sie in der Sowjetunion noch präziser bezeichnet werden — „natürlich präformierten (Heil-)Faktoren" sind durch den Wissenschaftler und den Gesetzgeber anerkannte und geschützte Heilmittel, die f ü r die D D R im einzelnen in der kurz so genannten „Kurortverordnung" [39] definiert werden. Zu ihnen gehören auch noch Gase, die entweder als Exhalationen oder in Mineralwässern gelöst austreten, vorzugsweise C0 2 u n d H 2 S sowie das Edelgas Radon. Ein weiteres Element ist die Landschaft als physisch und psychisch nutzbarer Komplex ( J O R D A N [ 1 5 , I G ] ) — d. h. als Bewegungsraum f ü r die aktive bzw. aktivierende Therapie, der zugleich einen bestimmten Erlebniswert repräsentiert — wir sprechen vom geopsychischen Gesamtaspekt, eine Definition von H E L L P A C H [ 9 ] — und als ein der Distanzierungstendenz des Kurgastes entgegenkommender Rückzugs- u n d Isolierungsraum. Die Begriffe „ K u r " - oder „Erholungslandschaft" sind definierbar — wenngleich es keine „Erholungslandschaft" schlechthin, sondern nur Landschaften mit unterschiedlichem Erholungswert gibt ( J O R D A N [ 1 5 ] ) — meist bedarf es zusätzlicher landschaftsgestalterischer Eingriffe, ehe einer natürlichen Landschaft eine diesbezügliche Funktionscharakteristik zugestanden werden kann.
K u r o r t t h e r a p i e : Prinzip und Probleme
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Eine Reihe von physiotherapeutischen Behandlungsmaßnahmen — vorzugsweise Bewegungs- und Massage therapie, Hydrotherapie, Elektrotherapie und Inhalationstherapie — komplettiert die Behandlung. Dabei wird angestrebt, dem Patienten im Sinne einer „Subsistenztherapie" (ein Begriff von S C H E N C K [33]) selbst ausübbare Verfahren und gesundheitsfördernde Verhaltensweise anzulernen, um damit auch über die Kurzeit hinaus wirksam zu werden und einen möglichst langen „ H a f t e f f e k t " der Kurorttherapie zu erreichen [18]. Zu einer derartigen „Komplextherapie" gehört selbstverständlich auch die Pharmakotherapie, die in noch gar nicht so sehr lange zurückliegenden Zeiten apodiktisch aus dem K u r o r t verbannt war. Heute k o m m t k a u m ein Patient in den Kurort, der nicht unter der Einwirkung irgendwelcher Medikamente steht — die präzise Abklärung des Stellenwertes der Physiotherapie u n d der Pharmakotherapie im jeweiligen Heilplan ist eines der wichtigsten Forschungsprobleme geworden. Wir haben in früheren Untersuchungen erweisen können, daß sich derartige Interaktionen zwischen einer medikamentösen Behandlung u n d den verschiedensten Phasen einer Reaktionstherapie gut erfassen lassen [12], worauf noch einzugehen sein wird. Nach dem bisher Dargelegten ist der Einwand naheliegend, im K u r o r t werde eine unkontrollierbare Polypragmasie nach dem Motto „ f ü r jeden etwas" betrieben, die es unmöglich mache, ein bestimmtes Therapieergebnis und damit eine bestimmte Indikationsabgrenzung zu objektivieren. Schon vom methodischen S t a n d p u n k t einer vergleichenden Therapieforschung her ist auf die Schwierigkeit oder auch Unmöglichkeit der Planung und Durchf ü h r u n g echter randomisierter, blinder oder doppelblinder Therapieversuche im K u r o r t hinzuweisen — das multifaktorielle Gefüge des kurorttherapeutischen Gesamtregimes widersetzt sich diesbezüglichen exakten Forderungen sehr augenfällig. Und tatsächlich ist es ein durchaus reales, zugleich aber auch wissenschaftlich sehr interessantes Problem, warum in einem bestimmten K u r o r t recht verschiedenartige Krankheitsbilder mit gleich gutem Erfolg behandelt werden können und — vice versa — die gleiche K r a n k h e i t in unterschiedlichsten K u r o r t e n : — nach H E U B N E R eines der „ w a h r h a f t medizinischen" Probleme (zitiert nach [35]). Dazu ist dreierlei zu sagen: Eine derartige skeptische Einstellung wäre der Zeit angemessen, in der eine, wie sie sich nannte, „Naturheilkunde" die wissenschaftlich-klinische Diagnose einer Krankheit gegen die viel höher eingeschätzte „Bedeutungsdiagnose" [8] ausgetauscht wissen wollte. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die berühmten Streitgespräche zwischen Schulmedizin u n d N a t u r heilkunde von G R O T E und B R A U C H L E [8] und an die „Wege zum Verständnis
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der Naturheilkunde" G R O T E S [7]. Heute ist eine präzise, nach klinischen oder funktionellen Leistungsstadien differenzierte Krankheitsdefinition selbstverständlich die Grundlage auch jeder Kurorttherapie. Sie m u ß zudem durch eine möglichst zutreffende „Reaktiorisdiagnose" ergänzt werden, die sich aus einer hinlänglichen Erfahrung in der Beobachtung des Kranken, namentlich seiner Wärme- und Kältetoleranz, seiner Kreislaufdynamik u n d Vasomotorenregulation und der Grundfunktionen von Atmung, Stoffwechsel Leistungsfähigkeit und Schlaf, d. h. der funktionellen u n d rhythmologischen Koordinierung koaktiver Verbundleistungen des Organismus, ableiten läßt. Hierauf b a u t sic|h der komplexe Therapieplan auf, der d a n n keine Polypragmasie, sondern eine sehr gezielte u n d differenzierte Regimegestaltung darstellt. Zweitens ist — um nochmals an die schon zitierte Definition V O N N E E R GARDS anzuknüpfen — die Reaktion des K r a n k e n das Entscheidende. Aus ihr leitet sich die Nötigung ab, die Therapie sehr individuell zu dosieren und zu dirigieren, wobei die Tagesrhythmik u n d die individuelle Reaktionsgüte des K r a n k e n die Hauptrolle spielen. Bei weitem nicht immer können hierzu funktionsdiagnostische Tests herangezogen werden — die K e n n t n i s des Kranken u n d seine Führung (nicht nur durch den Arzt, sondern auch durch das mittlere medizinische Personal!) sind zumeist die entscheidenden Hilfen. I n dieser K u n s t waren gerade die älteren Kurortärzte erstaunlich versiert und auch d a n n noch zu gewissen Erfolgen befähigt, wenn die zugrunde liegende Krankheit nur unvollständig oder gar nicht erkannt war. Trinkkuren z . B . verlangen eine sehr sorgfältige derartige Reaktionskontrolle: So kann, u m ein Beispiel zu nennen, die gleiche alkalische Trinkquelle die Hyperacidität des Magens kompensieren oder noch provokativ steigern. Dies k a n n kurzzeitig nacheinander u n d in wechselnder Abhängigkeit von den Mahlzeiten u. ä. m. geschehen — die Kenntnis des „acid rebound"Effektes nach Alkaligaben ist sehr entscheidend f ü r die erfolgreiche K u r . Derartige Prozesse sind uns ja eigentlich erst durch das kybernetische Denkkonzept auch in der Medizin voll verständlich geworden. Sie tragen sehr zur Erklärung unerwarteter Erfolge oder Mißerfolge der Kurorttherapie bei. Das Dritte ist der vorwiegend unspezifisch stimulierende E f f e k t , der den natürlichen bzw. physikalischen Therapiefaktoren zuzuschreiben ist. Wenn man sich auch im Zeitalter der Molekularbiologie scheuen mag, „spezifische" von „unspezifischen" Reaktionen prinzipiell trennen zu sollen, so mag diese Unterscheidung als didaktisches Provisorium noch gelten dürfen, um das Unterschiedliche zu kennzeichnen, das zwischen einer Anregung von Kreislauf, Atmung u n d Psyche durch eine Bewegungs- oder Hydrotherapie und etwa der spasmolytischen Wirkung eines Pharmakons besteht. Die Physio-
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therapie, als deren komplexer P r o t o t y p die Kurorttherapie angesprochen werden darf, muß, so k a n n man es etwas simplifiziert ausdrücken, sich u m alles das beim Kranken bemühen, was nicht im Einflußbereich der P h a r m a kotherapie liegen k a n n ; das bedeutet, eine möglichst gute Leistung d e r wichtigsten Körperfunktionen zu erreichen, um die Hygiogenese rascher zu befördern. Damit werden Behandlungserfolge auf primär weniger durchschaubaren indirekten Wegen erzielt. Hierzu ist nun die Form der Reizserientherapie, z. B. mit Temperatur-, Strahlungs-, elektrischen oder mechanischen Reizen, besonders geeignet. Sie zwingt den Organismus zu adaptiven Leistungen, wobei, solange dies in vernünftigen Grenzen geschieht, der jeweils erreichte Adaptationsgrad eine Begünstigung der reaktiven Leistungsfähigkeit bedeutet. Wir wissen heute, daß Streßfreiheit schädlich ist u n d daß dem Streß solange positive Qualit ä t e n zuzuschreiben sind, als er in bestimmten u n d bestimmbaren Grenzen gehalten oder beispielsweise durch ein wohlabgestimmtes System von E n t lastung und Belastung — einem Handlungsprinzip der Physiotherapie ( J O R D A N [ 1 4 ] ) — unter Kontrolle gebracht werden k a n n . Das Problem ist hierbei, derartige therapeutische Streßquantitäten ausfindig zu machen, die ihnen zugehörigen Adaptate zu definieren und sie dem jeweiligen Adaptationsgrad zielstrebig anzupassen. Entlastende Prozesse, wie psychische Abschirmung und E n t s p a n n u n g , die biorhythmische E u k y m a t i e , Abbau der Luxuskonsumtion, der Genußmittel und der entbehrlichen Medikamente, gegebenenfalls Fasten, Laxieren, müssen unter U m s t ä n d e n voraufgehen. So deuten beispielsweise erste eigene Untersuchungsergebnisse darauf hin, d a ß bestimmte Moorbäderbehandlungen, deren jeweiliger „ S t r e ß w e r t " a n der täglichen Ausscheidung der Vanillinmandelsäure (als P a r a m e t e r des Adrenalin- bzw. Noradrenalinstoffwechsels) ablesbar wird, oberhalb gewisser Grenzen den Bindegewebsstoffwechsel von K r a n k e n mit chronisch e n t zündlichen rheumatischen Gelenkerkrankungen ungünstig beeinflussen. E s erscheint möglich, durch Verlaufskontrollen dieser Art einen Maßstab f ü r eine abgestufte Moorbädertherapie zu gewinnen. BAJTTSZ h a t der Kurorttherapie die Bezeichnung „Streßtherapie" beigelegt [1]; sie ist sicherlich von der Definition her anfechtbar. B e s t i m m t e Beobachtungen aber lassen sich in diese Richtung deuten. So gelingt es beispielsweise erfahrungsgemäß, während einer Moorbädertherapie im K u r ort bei rheumatoider Arthritis oder im Zuge der Klimatherapie des allergischen Ekzems die medikamentöse Behandlung mit Kortikoiden erheblich oder ganz einzusparen. J e d e Kurorttherapie ist durch eine bestimmte Abfolge reaktiver P h a s e n charakterisiert, deren wichtigste die von uns als „histiotrope U m s t i m m u n g "
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bezeichnete etwa im Übergang von der dritten zur vierten Behandlungswoche ist. Diese Umstimmung bedeutet offenbar das regulative Wiedereinschwingen des Organismus nach einer voraufgegangenen auslenkenden Stimulierung in der sogenannten Akklimatisationsphase. Sie wird auch als „cholinergtrophotrope Endphase" [30], als „Normalisierungseffekt" [11] oder ganz allgemein als „Kureffekt" [28] bezeichnet. Eine etwaige Medikamenten-
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30min
n =25 Abb. 1. Beeinflussung des Pholedrintestes im Kurverlauf. (25 Patienten, Verhalten des systolischen Blutdruckes über 30 Minuten in der 1., 2., 3. und 4. Kurwoche)
Wirkung wird, wie schon angedeutet, durch diese Änderung der vegetativen Reaktionslage nachweislich moduliert, wobei Verstärker- und Tempoeffekte ( = Verlangsamung oder Beschleunigung des Wirkungseintritts) beobachtbar sind. Dies hat seine Bedeutung für die Führung der medikamentösen Therapie ebenso wie für den Ausfall und die Bewertung von Funktionstests auf pharmakologischer Grundlage oder für den Einsatz etwa notwendiger medikamentöser Korrekturen unerwünscht starker Kurreaktionen ( J O E D A N [19]). Die Abbildung 1 möge dies am Beispiel des Pholedrintests (Reaktion des systolischen Blutdruckes auf ein Sympathikomimetikum) beleuchten. Man erkennt deutlich die abgeschwächte Blutdruckreaktion (Mittelwerte) von der 1. zur 4. Kurbehandlungswoche. Der Ausdruck „histiotrope" oder „trophotrope" Phase ist nicht ohne Absicht gewählt. Es läßt sich nämlich das vielgestaltige klinische Bild dieser Phase nicht etwa einfach in das bekannte „vegetative Bäderschema" nach H O F F einordnen und entspricht keinesfalls einem „vagotonen" Gesamt-
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Kurorttherapie: Prinzip und Probleme
Endzustand des Organismus. So verteilten sich z. B. 28 Kurtodesfälle eigener Beobachtung (1955/56) wie folgt [19]: Kurtage Todesfälle
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11-25
26-35
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Der Charakter derartiger Reaktionen wird besonders gut sichtbar, wenn man die Änderung der kollektiven Streuung relevanter, reaktionstypischer Meßwerte von Tag zu Tag analysiert. Verfolgt man mit dieser in unserem Arbeitskreis von W A G N E R (Lit. s. bei J O E D A N [17]) inaugurierten Methode der „interdiurnen Streuungsänderung" die kollektivtypischen Verhaltensweisen, dann läßt sich in der histiotropen Umstimmungsphase eine konstante Verminderung der Streuungen ermitteln, während in den vorangegangenen Phasen, besonders der „Akklimatisationsphase", das Gegenteil der Fall ist. Zunahme der Streuung bedeutet aber eine gleichzeitige Zunahme von Plusu n d Minusabweichungen und spiegelt damit eine kollektive Labilisierung in ambivalenter Richtung wider — das Gegenteil wird in einer Verminderung der Streuwerte dokumentiert. Die Aussagekraft derartiger biometrischer Untersuchungen möge die Abbildung 2 unterstreichen, die die Streuungen der täglichen Änderungen des Körpergewichtes gegenüber der einfachen Mittelwertverlaufskurve unter einer gezielten Reduktionsdiät von 1200 Kcal über 32 Tage bei 38 Adipösen darstellt. Man sieht unschwer, daß zwischen 10. und 15. Tag bei völlig gleichmäßig absinkendem mittleren Körpergewicht eine erhebliche Streuungszunahme der Gewichtsänderungen einsetzt, später von kleineren Schwankungen ähnlicher Art gefolgt. Das bedeutet, daß in dieser kritischen Zeit ein nicht unerheblicher Teil der Patienten unter währender Reduktionskost keine Gewichtsabnahme oder sogar eine Gewichtszunahme erfährt. Eine derartige Verhaltensweise stellt sicherlich ein ganz allgemeines kollektivtypisches Reaktionskriterium dar. Ein ähnliches Registrierbeispiel zeigt z. B. die Abbildung 3, die die täglich gemessenen Streuungsänderungen der Pulsund Atemfrequenz während eines massiven Klimawechsels (Hochseeklimakur 1965 im November/Dezember über Rostock, die hochstürmische Biskaya in das Klimazielgebiet der Kanarischen Inseln [27]) wiedergibt. Die beschriebene und eigentlich ausnahmslos beobachtete Verminderung der Streuung gegen Ende der Kurorttherapie ist ein wichtiges Glied in der Beweiskette gegen die Meinung, daß es sich bei den in der histiotropen Phase beobachtbaren Normalisierungsvorgängen um Zufallseffekte, etwa im Sinne des sogenannten ,,a:(a—B)-Effektes" nach VON D E E B I J L [2] handle. Dieser Effekt tritt als „einer der 5 Fehlerquellen biologischer Statistik", d. h. als rein zufällig, immer dann auf, wenn Veränderungen von Meßwerten beurteilt
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Mittleres
Körpergewicht
1200Kcal
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25.
30. Kurtag
Abb. 2. Mittelwerte des Körpergewichtes von 29 männlichen Adipösen bei einer Reduktionsdiät von 1200 Kcal, über 32 Tage (oben) u n d die Streuung der täglichen Änderungen der Körpergewichte (unten)
werden sollen, die kreis verteilte, d. h. regulierte Körperfunktionen repräsentieren. Findet m a n f ü r eine solche Körperfunktion zum Zeitpunkt a einen relativ hohen Meßwert, so wird dieser mit großer Wahrscheinlichkeit zum Zeitpunkt b nicht wieder gleichhoch, sondern niedriger befunden werden und umgekehrt. Die Korrelation a:(a—b) m u ß demnach einen praktisch immer relevanten Grad an Zufälligkeit besitzen; allerdings ist d a n n auch zum Zeitpunkt a bzw. b eine gleiche zufällige Streuung zu fordern. Dies aber ist, wie wir sahen, mit absoluter Regelmäßigkeit bei den unter der Kurorttherapie zu beobachtenden Veränderungen nicht der Fall. Die Abnahme der
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1. Z. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 3. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. ZO. Bordtag Streuung dertägl. Änderung Atemfrequenz
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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 13JX. 16M. 19.11.
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9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. Bordtag
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Abb. 3. Streuungen der täglichen Änderungen von Pulsfrequenz (oben) und Atemfrequenz (unten) während einer maximalen Klimaänderung im Verlauf der Hochseek l i m a k u r 1965 ( a u s : LINSER u n d KLEINSORGE [27])
Streuung bedingt eine Drehung der Regressionsgeraden gegen die Regressionslinie bei angenommener Streuungsgleichheit, womit sich der aleatorische vom nichtaleatorischen Anteil trennen läßt. Die „Ausgangswert-Endwertproblematik" [20] spielt bei allen Untersuchungen über therapeutische Effekte eine ausschlaggebende Rolle. Ihre Vernachlässigung f ü h r t zu Fehlschlüssen in der Bewertung. D a ß „hohe W e r t e " abnehmen u n d „tiefe W e r t e " zunehmen, ist beispielsweise solange kein Beweis eines „Normalisierungseffektes", solange die Streuung der Meßwerte zu Beginn u n d zu Ende der Beobachtung nicht deutliche Unterschiede aufweist.
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Die Kurreaktionen sind sehr wesentlich durch das Alter der Patienten mitbestimmt. ,,Die Wirksamkeit einer jeden Therapie steht in enger Beziehung zur Biomorphose", formulierte MAX BÜRGER einmal [3] — jede Kurorttherapie besitzt dementsprechend auch eine spezielle geriatrische P r o b l e m a t i k (JORDAN und WAGNER [21]). Ä h n l i c h e D i f f e r e n z e n in der Aus-
prägung der Kurreaktionen lassen Männer und Frauen erkennen. Eine Kureffekts- oder -erfolgsbeurteilung ohne Auftrennung nach diesen beiden Parametern Alter und Geschlecht muß von biometrischer Warte aus als unzulänglich bezeichnet werden. Derartige Grundforderangen werden in der vergleichenden Therapiebeurteilung nicht selten völlig außer acht gelassen. Ein gleiches gilt für Krankheitsgruppen, Krankheitsstadien, Therapiegruppen und — das ist erst in jüngster Zeit genauer untersucht worden — für die Jahreszeit, in die eine Kurortbehandlung fällt. Die Reaktion des Menschen auf die saisonalen Änderungen des Lichteinflusses und des Klimas einschließlich des Wetters ist sicherlich ein endogenes Geschehen, welches durch jahreszeitlich variable äußere Zeitgeber synchronisiert wird. Es könnte sein, daß dabei der jeweiligen Licht-DunkelRelation, d. h. praktisch der Tag- oder Nachtlänge, eine fundamentale Bedeutung zukommt. Dabei mag der Zeit zwischen Februar und August eine insgesamt stärker stimulierende, der anderen Jahreshälfte eher eine entgegengesetzte Reizcharakteristik zuzuschreiben sein. Aus Untersuchungen unseres Arbeitskreises in Heiligendamm ergibt sich z. B., daß sehr charakteristische Merkmale der Kurreaktion, wie etwa Schlafstörungen, ganz eng mit dem Auftreten von strahlungsreichen Tagen im Winter und strahlungsarmen im Sommer gekoppelt sind — praktisch also Situationen, die der sommer- bzw. winteradaptierte menschliche Organismus als ungewöhnlich empfinden muß [24]. Als Beispiel für derartige saisonale Einflüsse auf die Ergebnisse der Kurorttherapie sei der Zusammenhang zwischen Morbidität, Kurerfolgen und den sehr guten Kureffekten nach einer Klimakur beim endogenen Ekzem dargestellt. Abbildung 4 zeigt, daß das Maximum der sehr guten Kurbehandlungsresultate in den Monaten zu erwarten ist, die dem FrühjahrsMorbiditätsmaximum dieser Erkrankung unmittelbar folgen (April bis Juni); eine entsprechende Korrelation fehlt jedoch zum Zeitpunkt des 2. Morbiditätsgipfels in den Monaten September/Oktober. Für die langfristigen „ K u r erfolge" fällt dagegen die Koinzidenz mit den beiden „Morbiditätsmaxima" ins Auge [37], Die in diesem Blickwinkel von KLINKER [22, 23] erarbeiteten Ergebnisse lassen sich zusammenfassend dahingehend interpretieren, daß mit großer Regelmäßigkeit — wenn auch nicht starr — eine lOfache Oberwelle der
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Jahresrhythmik, d. h. eine 35-Tage-Rhythmik vorliegt, deren Einfluß auf Kurreaktionen und Kureffekte unbedingt diskutiert werden muß. %
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Abb. 4. Kureffekte (oben) und Kurerfolge (Mitte) von Klimakuren bei endogenem Ekzem in Heiligendamm sowie die saisonale Verteilung der Morbidität (unten) von i n s g e s a m t 1 6 7 5 K r a n k e n ( a u s : SEROWY u n d KLINKER [ 3 7 ] )
Aus diesen Oberwellen lassen sich, wenn man beispielsweise tägliche Messungen bestimmter funktioneller Parameter vornimmt, kleinere Perioden abgliedern, die örtlich bedingte Phasendifferenzen aufweisen. So kann man beobachten, daß Personen, die etwa aus dem Süden unserer Republik an die Ostseeküste reisen, nach sehr kurzer Latenz aus der gewohnten in die jeweilige Ortsphasenlage einschwingen, wobei die rhythmische Grundfrequenz einer ungefähr 7tägigen Periodik beibehalten wird. Ein derartiger 7-TageRhythmus, der sich typischerweise auch bei den sogenannten „Kurreaktio-
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HEKBEET JORDAN
n e n " (Eintrittsreaktion, Akklimatisationsreaktion, histiotrope Umstimmung, Kurendreaktion) [18] auffinden läßt, ist nicht als ein einfacher „ W o c h e n r h y t h m u s " anzusprechen, wie er offensichtlich durch die stereotype Abfolge von Arbeits- u n d R u h e t a g e n der normalen Arbeitswoche ausgelöst werden k a n n . Dies läßt sich beim Vergleich der „ K u r t a g e " gegenüber den „Wochentagen" leicht zeigen. Dennoch besteht eine solche endogene „Circas e p t a n - R h y t h m i k " mit nachweislichen reaktiven Maxima u n d Minima. Bei den schon erwähnten Schlafstörungen konnten z. B. Phasenverschiebungen festgestellt werden, die einer 14tägigen (d. h. 2 x 7-Tage-Periodik) entsprechen. Es läßt sich an diesen wenigen Beispielen, so hoffe ich, schon begründen, daß eine richtig durchgeführte Kurorttherapie stets ein Mehr an gesundheitsfördernden Effekten aufweisen m u ß als eine anderweitige ambulante oder gar stationäre Therapie. U n d dies nicht deshalb, weil im K u r o r t polypragmatisch gearbeitet wird, sondern weil die Art der I n a n s p r u c h n a h m e der dortigen Heilmittel eine nicht unwesentliche Erweiterung des hygiogentischen Aktionsradius darstellt. Mit Recht k a n n deshalb die Kurorttherapie ihren definierten Platz in der medizinischen Rehabilitation beanspruchen. Natürlich läßt sich auch die Krankenhaustherapie durch einen verstärkten Einsatz von physiotherapeutischer Behandlungsmethoden in ähnlicher Richtung verbessern — besonders dürfte dies f ü r die Chirurgie u n d die Innere Klinik zutreffen. J e d e Operation u n d jede erzwungene längere B e t t r u h e sind Belastungs- u n d Schädigungsmomente, gegen die der Organismus des K r a n k e n widerstandsfähig gemacht u n d erhalten werden muß. Besonders in den angelsächsischen Ländern spielt deshalb die präoperative u n d postoperative Physiotherapie eine dominierende Rolle; bei uns beginnt sich dies eben erst anzubahnen. Dieses „Mehr" an Therapie ist n u n auch u n t r e n n b a r mit dem Prozeß der Erholung verbunden, die ihrerseits eben nicht allein über eine passive Abschirmung, sondern nachhaltig vor allem über einen aktiven Weg erreicht werden k a n n . Auch f ü r die Erholung t r i f f t das Prinzip der gelenkten „ E n t lastung u n d Belastung" [14] zu, von dem schon die Rede war. Es gilt hierbei noch heute unverändert die Erkenntis SETSCHENOWS aus dem J a h r e 1906 [38], daß der Erholungsvorgang über einen aktiven Weg schneller u n d nachhaltiger vollzogen werden k a n n als über einen passiven, daß also „sicherholen" heißt, „etwas anderes zu t u n als das, was müde gemacht h a t " [4], Der Grad der Erholungsbedürftigkeit bestimmt dabei die I n t e n s i t ä t des Erholungsvorganges; in diesem Sinne bestehen wesentliche Unterschiede zwischen kurz-, mittel- u n d langfristiger Erholung, wie dies das in der Abbildung 5 wiedergegebene Schema zeigt.
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Abb. 5. Erholungsbedürftigkeit und Erholungsvorgang
II Die praktische Realisierung einer solchen Kurorttherapie stößt n u n auf mancherlei Schwierigkeiten u n d Probleme. Hierbei ist vordergründig der sachlich u n d zeitlich optimale Einsatz der Kurorttherapie im R a h m e n des Gesamtheilplanes des K r a n k e n , sowohl als Problem f ü r den einweisenden Arzt als auch f ü r die Organisation des Kurablaufes anzusprechen. Die Handlungsfreiheit wird hierbei entscheidend durch die Diskrepanz zwischen Kurenbedarf und Kurmöglichkeiten u n d das Erfordernis einer optimalen Kurbehandlungsdauer limitiert. Gegenwärtig können wir mit einer Kapazit ä t von etwa 127 K u r e n auf 10000 Einwohner rechnen. Über ein gezieltes rationalisiertes Einweisungssystem läßt sich eine gewisse Optimierung der Verhältnisse erreichen. Wesentlich ist ferner die Forderung nach einem möglichst förderlichen Milieuwechsel während der K u r , womit unter anderem auch das Problem der territorialen Verteilung der Kuren angesprochen sei. Gewiß ist der Arzt in jedem K u r o r t in der Lage, eine Therapie nach bioklimatologischen Gesichtspunkten durch Modifizierung des Lokalklimas zu ermöglichen, aber größere Klimadifferenzen lassen sich künstlich nicht herausarbeiten; sie sind allerdings auch durchaus nicht immer erforderlich. Die historisch ent-
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Abb. 5. Erholungsbedürftigkeit und Erholungsvorgang
II Die praktische Realisierung einer solchen Kurorttherapie stößt n u n auf mancherlei Schwierigkeiten u n d Probleme. Hierbei ist vordergründig der sachlich u n d zeitlich optimale Einsatz der Kurorttherapie im R a h m e n des Gesamtheilplanes des K r a n k e n , sowohl als Problem f ü r den einweisenden Arzt als auch f ü r die Organisation des Kurablaufes anzusprechen. Die Handlungsfreiheit wird hierbei entscheidend durch die Diskrepanz zwischen Kurenbedarf und Kurmöglichkeiten u n d das Erfordernis einer optimalen Kurbehandlungsdauer limitiert. Gegenwärtig können wir mit einer Kapazit ä t von etwa 127 K u r e n auf 10000 Einwohner rechnen. Über ein gezieltes rationalisiertes Einweisungssystem läßt sich eine gewisse Optimierung der Verhältnisse erreichen. Wesentlich ist ferner die Forderung nach einem möglichst förderlichen Milieuwechsel während der K u r , womit unter anderem auch das Problem der territorialen Verteilung der Kuren angesprochen sei. Gewiß ist der Arzt in jedem K u r o r t in der Lage, eine Therapie nach bioklimatologischen Gesichtspunkten durch Modifizierung des Lokalklimas zu ermöglichen, aber größere Klimadifferenzen lassen sich künstlich nicht herausarbeiten; sie sind allerdings auch durchaus nicht immer erforderlich. Die historisch ent-
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HERBERT JORDAN
standenen Kurorte stellen von ihrer örtlichen Lage her reale Gegebenheiten dar, was u. a. auch dazu f ü h r t , daß die einzelnen Bezirke der llepublik unterschiedliche Kurenlasten tragen, ein Gesichtspunkt, der gewisse ökonomische Berechtigung h a t . Dies zeigt die Abbildung G.
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