Handwörterbuch der Kriminologie: Band 2 Kriminalpolitik - Rauschmittelmißbrauch [Reprint 2011 ed.] 9783110900330, 9783110071078


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German Pages 564 [572] Year 1976

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Table of contents :
K
Kriminalpolitik
Kriminalpolizei
Kriminalroman
Kriminalsoziologie
Kriminaltaktik
Kriminaltechnik
Kriminologie (Grundlagen) I
Kriminologie (Grundlagen) II
Kunstwerkfälschung
L
Lebensmittelverfälschung
M
Massenmedien
N
Natürliche Umwelt
O
Ordnungswidrigkeiten
Organisationen und Institute
Organisiertes Verbrechertum
P
Persönlichkeitsforschung
Polizei
Prostitution
Psychiatrie
Psychologie des Verbrechens
R
Raub
Rauschmittelmißbrauch. Medizinischer Beitrag
Juristisch-Kriminologischer Beitrag
Soziologisch-psychologischer Beitrag
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Handwörterbuch der Kriminologie: Band 2 Kriminalpolitik - Rauschmittelmißbrauch [Reprint 2011 ed.]
 9783110900330, 9783110071078

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HANDWÖRTERBUCH DER KRIMINOLOGIE Begründet von

A L E X A N D E R ELSTER und H E I N R I C H

LINGEMANN

in völlig neu bearbeiteter zweiter Auflage herausgegeben von

Rudolf Sieverts und Hans Joachim Schneider

Kriminalpolitik — Rauschmittelmißbrauch

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Berlin 1977 W A L T E R DE G R U Y T E R · B E R L I N · N E W Y O R K

Dr. jar. Rudolf Sieverts ist em. ο. Professor an der Universität Hamburg. Dipl.-Psych. Dr. jur. Hans Joachim Schneider ist ο. Professor an der Universität Münster/Westf. Er ist geschäftsführender Heransgeber dieses Bandes.

Erscheinnngsdaten der Lieferungen Kriminalpolitik — Kriminalsoziologie (1. Lieferung): September 1967 Kriminalsoziologie — Kriminaltechnik (2. Lieferung): September 1967 Kriminaltechnik — Natürliche Umwelt (3. Lieferung): Januar 1968 Natürliche Umwelt — Prostitution (4. Lieferung): Juli 1968 Prostitution — Psychologie des Verbrechens (6./6. Lieferung): Mai 1971

CIP-Kurztiielaujnähme der Deutschen Bibliothek

Handwörterbuch der Kriminologie / begr. von Alexander Elster u. Heinrich Lingemann. — In völlig neu bearb. 2. Aufl. hrsg. von Rudolf Sieverts u. Hans Joachim Schneider. — Berlin, New York : de Gruyter. 1. Aufl. u. d. T.: Handwörterbuch der Kriminologie und der anderen strafrechtlichen Hilfswissenschaften. NB: Elster , Alezander [Begr.]; Sieverts , Rudolf [Hrsg.] Bd. 2. Kriminalpolitik — Rauschmittelmißbrauch. — 1977. Abschlußaufnahme von Bd. 2. ISBN 3-11-007107-X

© Copyright 1977 by Walter de Gruyter A Co., vormals G. J. Gfischen'sche Verlagehandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Belmer, Karl J.Trtlbner, Veit „Strafrechtsreform".) Seitdem ist nicht nur die K. als ein besonderer Wissenschaftszweig im Rahmen der Strafrechtswissenschaft legitimiert, sondern Franz v. Liszt hat damit auch das Tor für das Studium der sozialen und einzelmenschlichen Realitäten aufgestoßen, die heute den Gegenstand der Kriminologie bilden und das Erfahrungsmaterial für die kriminalpolitischen Überlegungen und Vorschläge und ihre Verwirklichung geben (-> „Kriminologie"). Für die kriminalpolitischen Überlegungen sind heute und damit auch für diesen Artikel folgende Grundeinsichten maßgebend, die sich weitgehend mit denen der gemäßigten Vertreter der internationalen wissenschaftlichen kriminalpolitischen

„Gesellschaft der sozialen Verteidigung (di'fense sociale)" decken: Während die Straftaten als solche ein oft sich wiederholendes Bild bieten, sind die dahinterstehenden Täterpersönlichkeiten sehr voneinander differenziert, nicht weniger als menschliche Persönlichkeiten überhaupt. Um in diese überaus große Mannigfaltigkeit eine Übersicht zu bringen, die diese Phänomene erst kriminalpolitisch faßbar macht, sieht sich die Kriminologie vor der Notwendigkeit der Typenbildung. Schon Franz v. Liszt sah sich veranlaßt, solche kriminologischen Tätertypen zu bilden, mit denen er dann sein kriminalpolitisches Programm individualpräventiv differenzieren konnte (-> „Typenlehre"). Die Einsicht von der Mannigfaltigkeit der Faktoren, die endogen und exogen die Straftat oder mehrere Straftaten einer Person bedingen, und des individuellen Schuldausmaßes nötigen den Kriminalpolitiker, einen weitgefächerten Katalog kriminalrechtlicher Reaktionen in Gestalt von verschiedenen Strafarten und verschiedenen rein präventiven Maßregeln zum Schutz der Rechtsordnung zu planen und bereitzustellen. Das wird ihm durch die Einsicht erleichtert, daß die Kriminalstrafe ihrem Wesen nach eine sozial vielfunktionale Institution immer gewesen und nach wie vor ist und daß es nicht im Belieben des Gesetzgebers steht, eine oder mehrere dieser Funktionen zu eliminieren; wo das im Laufe der Rechtsgeschichte versucht worden ist, hat sich immer bald herausgestellt, daß die ausgeschaltete Funktion durch eine Hintertür wieder in die Strafrechtspflege hineingekommen ist. Der Gesetzgeber kann es höchstens fertigbringen, in die im Wesen der Kriminalstrafe liegenden verschiedenen Funktionen eine Rangfolge zu bringen, die von den Bestrafungsorganen berücksichtigt werden soll. Diese Funktionen der Strafe sind: eine schuldangemessene Reaktion auf eine Straftat zur Beruhigung des aufgeschreckten Rechtsgefühls des Opfers und der Rechtsgemeinschaft, also als „Rechtsbewährung", und in diesem Rahmen eine Prävention gegen Rückfall dieses Täters in neue schuldhafte Rechtsbrüche (sog. Individualprävention) und ein warnendes Beispiel für solche Mitglieder der Rechtsgemeinschaft, in denen kriminelle Tendenzen latent sind (sog. Generalprävention). In den Fällen, in denen die durch das Maß der Schuld begrenzte Strafe nicht das nötige Maß von Prävention gegen neue Straftaten des Verurteilten zum Schutz der Gesellschaft sichert, sind kriminalpolitisch zusätzliche (oder an ihrer Stelle) „Maßregeln der Besserung und Sicherung" zu erwägen, deren Zumessung sich nur nach der sozialen Gefährlichkeit des Täters und der zu ihrer Behebung notwendigen Behandlung richtet. Diese Konsequenz des Schuldstrafrechts braucht nicht notwendig zu einer durchgängig zweispurigen Konstruk-

Kriminalpolitik tion des Verhältnisses von Strafe und Maßregel zu führen, wie noch zu zeigen sein wird (-»„Sichernde Maßnahmen"). Es ist die kriminalpolitische Aufgabe und Kunst des Strafrichters, in seinem Urteil bei einem bestimmten Angeklagten, der einen gesetzlichen Straftatbestand rechtswidrig und schuldhaft verwirklicht hat, alle diese Möglichkeiten der sozialen Wirkung der Kriminalstrafe so gerecht und so zweckmäßig wie möglich zu kombinieren. Auf welche der Funktionen der Strafe das Gericht den Akzent legt, hängt von der Lage des Einzelfalles ab. Es gibt Angeklagte, die trotz ihrer Straftat sozial völlig eingeordnet geblieben sind, so daß bei ihnen präventiv nichts zu veranlassen ist — hier kommen nur die Gesichtspunkte der schuldangemessenen Vergeltung sowie in ihrem Rahmen der Generalprävention zum Tragen. Andere Angeklagte sind sozial so wenig angepaßt, daß das Gericht sehr sorgfältig individualpräventive Erwägungen in den Vordergrund stellen und im Urteil berücksichtigen muß, soweit es der durch die Schuldangemessenheit der Strafe gegebene Rahmen zuläßt. Das Gesetz läßt die Gerichte häufig ohne Anweisung, wie sie sich methodisch an die richtige Auswahl und Zumessung der Strafe und der Maßregel heranzuarbeiten haben. Das gilt auch von dem geltenden bundesdeutschen Strafgesetzbuch. Dabei zeigt das geltende Jugendgerichtsgesetz, wie man eine solche Anweisung legislatorisch sehr praktikabel gestalten kann, ohne den wünschenswerten Ermessungsspielraum des Gerichts zu sehr einzuengen. Nicht nur bei minderjährigen, sondern auch bei erwachsenen Angeklagten bewährt sich für die Zumessungspraxis eindeutig, wenn das Gericht zunächst den Fall individualpräventiv durchdenkt, d. h. unter dem Gesichtspunkt, ob und was veranlaßt werden muß, um den Angeklagten vor Rückfall zu bewahren. Diese Betrachtungsweise nötigt zu einer Untersuchung von ganz konkreten, nüchternen Fakten nicht nur der Tat, sondern auch über die bisherige Entwicklung des Täters und über die in ihm hegenden Entwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft. Die individualpräventiv gebotene Strafe wird, falls sie auf Freiheitsentzug lautet, auch nach Art und Dauer diejenige sein, die für ihren Vollzug sachgerecht ist. Die individualpräventiv gebotene Strafe genügt in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle auch den Bedürfnissen der Generalprävention. Es ist dann nur noch eine Überprüfung notwendig, ob die präventiv erforderliche Strafe auch in einem vernünftigen lind gerechten Verhältnis zu dem Ausmaß und der Tiefe der sozialen Störung steht, die dieser Angeklagte mit seiner schuldhaften Tat hervorgerufen hat. Kommt aber die individualpräventive Überlegung zu dem Ergebnis, daß bei diesem Angeklagten präventiv nichts zu verl·

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anlassen ist, so bilden die aus Anlaß der in di vi dualpräventiven Untersuchung ermittelten Fakten über Tat und Täter eine überaus tatsachengesättigte personale Grundlage für die Feststellung des Schuldgehaltes der Tat ( - > „Strafzumessung"). Mit der Feststellung, daß das Gericht in seinem Urteil die soziale Vielstrahligkeit der Kriminalstrafen berücksichtigen muß, ist noch nicht gesagt, daß das auch in jedem weiteren Abschnitt der Realisierung der Strafe im gleichen Umfang geschehen müßte und dürfte. Besonders überzeugend hat der große deutsche Sozialpädagoge, Hermann Nohl, in seinem klassischen Aufsatz „Der Sinn der Strafe" 1927 bereits darauf hingewiesen. Die Frage ζ. B., welche Funktionen der Kriminalstrafe insbesondere der Strafvollzug zu verwirklichen hat, sollte gesetzlich ganz klar dahin beantwortet werden, daß die Funktion der Individualprävention in Gestalt der Sozialisation des Gefangenen (wenn nötig neben seiner Sicherung vor Ausbruch) die oberste Aufgabe des Vollzuges sein muß. Die Funktion der schuldangemessenen Reaktion auf die Straftat zur Bewährung der Rechtsordnung erfüllt der Vollzug allein dadurch, daß er den Verurteilten für die im Urteil festgesetzte Zeit interniert, d. h. ihn seiner Bewegungs- und sozialen Verkehrsfreiheit beraubt und der notwendigen Anstaltsordnung unterwirft; ferner dadurch, daß in der Gesamtatmosphäre des Vollzuges dem Gefangenen der Ernst dieser von ihm herbeigeführten Situation stets einsichtig gehalten wird. Die Funktion der Vergeltung darüber hinaus im Vollzug ausbauen zu wollen, hat sich in der Geschichte des Strafvollzuges immer wieder von schrecklicher Sterilität erwiesen, denn sie führte unvermeidlich zu Maßnahmen, die nicht nur die Menschenwürde mißachten, sondern auch viele Gefangene zu schwächeren und schlechteren Menschen machen, als sie bei Strafantritt waren. Ein Strafvollzugsgesetz muß dem Vollzug klar die Aufgabe stellen, auf die Gefangenen so einzuwirken, daß sie nicht nur nicht sozial untüchtiger während der Haftzeit werden, sondern in der Bewältigung der Lebensführung besser befähigt werden, wieder ein rechtschaffenes Leben zu führen ( - > „Strafvollzug"). Mit der Einsicht in die funktionale Vielstrahligkeit der Strafe wird keinem unverbindlichen Eklektizismus der Strafzwecke das Wort geredet, sondern die innere Verbindung dieser verschiedenen Funktionen durchaus gesehen und bejaht. So ist individualpräventiv, sei es im Rahmen der bedingten Strafaussetzung mit Bewährung, sei es im Strafvollzug, der wichtigste Schritt erst getan, wenn der Verurteilte sich zu der Einsicht in seine Verantwortung für die Straftat, die er dem Opfer und der Rechtsgemeinschaft angetan hat, durchgerungen und damit begonnen hat.

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Kriminalpolitik

seine Schuld aufzuarbeiten. Die deutsche Sozialpädagogik hat, seitdem sie erzieherisch auch an verwahrlosten und kriminell gewordenen Menschen zu arbeiten begonnen hat, bei jeder ihrer Maßnahmen im einzelnen immer an die Selbstverantwortung dieser Menschen appelliert und ihnen deutlich gemacht, daß ihnen nur Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden könne. Inzwischen hat sich die Notwendigkeit dieses Appells an die Selbstverantwortung auch in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung von Kranken als unerläßlich erwiesen. Das Festhalten in der Strafrechtspflege an dem Begriff der Schuld des Täters und damit an seiner Verantwortung für die Verurteilung bedeutet die Anerkennung der sittlichen Freiheit und damit der Würde auch dieser Menschen. Darin liegt auch ein Programm für das Strafgesetz, das Strafverfahren und für den Vollzug der Freiheitsstrafe, nämlich, daß sie von allen Maßnahmen freizuhalten sind, welche die im Grundgesetz Art. 1 garantierte Würde des Menschen verletzen, und daß sie positiv so zu gestalten sind, daß sie die Gefangenen zu einer des Menschen würdigen, rechtstreuen Lebensführung in Freiheit zu bringen versuchen. Aus alledem ergibt sich, daß die K. zwar alle Probleme der Kriminalität und ihrer Herabminderung in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit betrachtet, d. h. „um des gemeinen Nutzens willen", wie in der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. bereits 1532 die eine Aufgabe des Rriminalrechtes formuliert war. Die zunächst bewußte Einseitigkeit dieser Betrachtung bleibt so lange unschädlich, als man sich darüber klar ist, daß diese Probleme — wie alle menschlichen Probleme sonst auch —· nicht nur von daher betrachtet werden dürfen, sondern daß die Ergebnisse dieser Zweckbetrachtung ergänzt und korrigiert werden müssen durch die andere Haltung, die die Carolina „aus Lieb der Gerechtigkeit" nannte. Es ist die Einsicht, daß der Mensch niemals nur als Objekt staatlicher Maßnahmen angesehen und behandelt werden darf — also als bloßes Mittel zum Zweck —, sondern daß jede vom Nutzen diktierte Maßnahme ihre Grenze findet, wenn ihre Durchführung die auch beim Verbrecher zu achtende Menschenwürde unerträglich verletzen würde. Diese Rücksicht ist sogar von der Zweckmäßigkeit her geboten, sofern man die Dinge nicht vom Standpunkt oberflächlicher Augenblickserfolge, sondern mit dem Streben nach weiterer und tieferer Sicht ansieht. Jede zunächst zweckmäßige soziale Maßnahme wird sofort unzweckmäßig, wenn sie diese Grenze überschreitet. Dann wird sie sogar mit einer ungeahnten Tiefenwirkung nicht nur für das betroffene Individuum, sondern auch für die Struktur der im Staat geeinten Gemeinschaft destruktiv und erreicht 'auch kriminalpolitisch

über den augenblicklichen Pyrrhussieg hinaus das Gegenteil des Beabsichtigten. Dafür werden noch einige Beispiele zu bringen sein. In diesem Artikel können nur die allgemeinen Linien heutiger K. gezeichnet werden. Die Fragen der speziellen K. sind in den meisten anderen Artikeln dieses Handwörterbuchs behandelt. Es wird im folgenden auf diese speziellen Artikel jeweils verwiesen. 1. Bei der Überprüfung der kriminalpolitischen Möglichkeiten und Grenzen der g e n e r a l p r ä v e n t i v e n W i r k s a m k e i t des S t r a f r e c h t e s interessiert zunächst nicht, ob das Strafgesetz, das Strafurteil des Gerichts oder der Strafvollzug die Generalprävention als Aufgabe haben s o l l e n und haben d ü r f e n , sondern ob und inwieweit dieses ganze staatliche Tun eine solche Wirkung h a t und haben k a n n . Diese Frage kann man auch mit Andenaes dahin zuspitzen: Ist die generalpräventive Wirkung des Strafrechtes und der Strafrechtspflege eine Illusion oder Realität? Generalprävention im Strafrecht und in der Strafrechtspflege bedeutet, zu verhüten, daß die in der Bevölkerung des Geltungsgebietes des jeweiligen Strafgesetzes latenten Tendenzen zum strafbaren Rechtsbruch sich in Straftaten verwirklichen. Dabei bleibt zunächst offen, durch welche Art von Gegenwirkungen das am nachhaltigsten geschieht. Es hat der Untersuchung der generalpräventiven Wirkungen des Strafrechtes bis auf den heutigen Tag geschadet, daß man diese Offenheit der Fragestellung oft nicht bewahrt hat, sondern sie sofort begrifflich — meist unbewußt — eingeengt hat, ehe die Untersuchung begann. Das ist dem immer noch übermäßigen Einfluß der „Theorie des psychologischen Zwanges der gesetzlichen Strafdrohung" zuzuschreiben, die Anselm v. Feuerbach gegen Ende des 18. Jahrhunderts in seinem Buch „Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven Peinlichen Rechts" und später in seinem oft aufgelegten Lehrbuch des Peinlichen Rechtes entwickelte. Hier wurde das Problem der Generalprävention verengt auf die generell a b s c h r e c k e n d e Wirkung der ges e t z l i c h e n S t r a f d r o h u n g . Das Urteil des Gerichtes und der Vollzug der verhängten Strafe sollten diese Wirkung nur unterstreichen. Feuerbachs Theorie war in ihrer Sicht des psychologischen Mechanismus, den die gesetzliche Strafdrohung zum Schutz eines Rechtswertes in Gang setzen und halten soll, denkbar einfach und daher so eingängig, daß sie noch heute die unreflektierte Auffassung von Laien, aber auch die Ansicht vieler Juristen über die Wirksamkeit des Strafgesetzes wiedergibt. Feuerbachs Auffassung entsprach den die seelischen Phänomene des Menschen sehr vereinfachenden rationalen psychologischen Konstruktionen seiner Zeit, die man heute als die Periode der „Hochaufklärung" geistesgeschichtlich einordnet. Diese Auffassung

Kriminalpolitik ging eine Verbindung mit den rechtsstaatlichen Forderungen jener Zeit nach Schutz der Menschenrechte und damit der Freiheitssphäre des Bürgers gegenüber staatlichem Mißbrauch ein. Feuerbach versprach sich von der Lektüre der neuen rechtsstaatlichen Strafgesetzbücher, aus denen nach dem neuen, von ihm so formulierten Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege" zum erstenmal ein lückenloser, d. h. durch richterliches Ermessen nicht mehr ergänzbarer Katalog der strafwürdigen Taten und der entsprechenden Strafdrohungen zu entnehmen war, eine sehr gezielte konzentrierte Abschreckung. Denn nunmehr könne jeder Bürger, sofern er normale Verstandeskräfte besitze und lesen gelernt habe, genau erfahren, wo die Grenze zwischen strafbarem Unrecht und nicht strafbarem Tun verlaufe und welches Strafübel ihm unweigerlich drohe, wenn er diese Tat begehe, zu der ihn gelüste. Nach Feuerbach muß der Gesetzgeber nur dafür sorgen, daß das Übel, das er als Strafe für die einzelne Deliktsart androhen will, größer ist als der Vorteil und die Lust, die ein hypothetischer Täter aus solcher Tat ziehen könne; dann werde jeder, der einen „sinnlichen Antrieb" zu dem Rechtsbruch verspüre, beim vernünftigen Abwägen des Für und Wider auch bei dieser Entscheidung in aller Regel zu dem von der Klugheit gebotenen richtigen Ergebnis kommen und von seinem Vorhaben abstehen. In der neueren Literatur findet man alle denkbaren Variationen von Ansichten zur generalabschreckenden Wirksamkeit des Strafgesetzes und der Strafrechtspflege. Auf der einen Seite steht die Ansicht, daß der Glaube an die generalabschreckende Wirkung von Strafgesetz, Strafurteil und Strafvollzug eine reine Illusion sei — bezeichnenderweise oft von Fachleuten vertreten, die ihre Erfahrung aus dem Bereich des Strafvollzuges haben —; auf der anderen Seite steht die Auffassung, daß in der generellen Abschreckung die kriminalpolitisch wirksamste Kraft des strafrechtlichen Geschehens liege — wohl ebenso bezeichnend meistens von Richtern und Staatsanwälten als Hypothese vertreten, die sie meist schon auf der Universität bei den Strafrechtslehrern, die der klassischen Strafrechtsschule noch nahestehen, gelernt haben. Dazwischen stehen die sich mehrenden Ansichten, die meinen, daß solche extremen Pauschalansichten nicht mehr wissenschaftlich zu halten sind. Das Problem der generalpräventiven Wirkung müsse, differenziert nach Gruppen von Straftaten und von Straftätern, sozialpsychologisch untersucht werden, vor allem aber mit einer neuen Fragestellung, die über die nach der „Abschreckung" im Sinne der Theorie von Feuerbach hinausgeht und nach einer allgemeinen rechtserzieherischen Wirkung und Wirkungsmöglichkeit von Strafgesetz und Strafrechtspflege auf die Rechtsgenossen fragt.

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In der Literatur findet man keine Abhandlung, die mehr als nur ganz vorläufige Ansätze zu einer sozialpsychologischen Untersuchung der Realitäten des generalpräventiven Problems gibt. Am meisten ist die Frage bisher an der Todesstrafe untersucht worden, in der Erwartung, daß an dieser schwersten, weil das Leben des Verurteilten auslöschenden Strafe die generell abschreckende Wirkung am zuverlässigsten zu studieren sei. Als Hilfsmittel hat man die Strafzumessungsstatistik der gerichtlichen Todesurteile einerseits und die Verurteilungszahlen der mit dem Tode bedrohten Straftatbestände andererseits miteinander verglichen. Jede Messung einer generalpräventiven Wirkung einer kriminalrechtlichen Rechtsfolge, sei es der Strafe, sei es einer präventiven Maßregel, stößt meistens auf unüberwindliche Schwierigkeiten, weil fast nie die Gegenprobe sicher möglich ist, wie die Zahl der Verfehlungen sich ohne die Androhung und die Anwendung der betreffenden Rechtsfolge entwickelt hätte. Erfahrungen über die Entwicklung der Kriminalität, wenn alle staatlichen Funktionen, insbesondere aber der Kriminalrechtspflege, ζ. B. durch Krieg, Revolution, Naturkatastrophen u. ä. stillstehen, liegen so wenig, so vereinzelt, so kurzfristig und methodisch so ungesichert vor, daß zu verallgemeinernde Erkenntnisse für die Generalprävention daraus nicht gewonnen werden können (Andenaes Β1966); künstlichen Experimenten in dieser Richtung aber stehen grundrechtliche Bedenken unüberwindlich entgegen. Nur wenn innerhalb längerer Zeiträume in einem Gebiet von relativ hoher soziologischer, wirtschaftlicher und moralischer Stabilität eine Strafe oder eine Maßregel eingeführt oder abgeschafft wird, kann an der Veränderung der kriminalstatistischen Verurteilungsreihen vielleicht etwas über die generalpräventive Wirkung solcher gesetzlicher Eingriffe abgelesen werden. Es müssen also die vielen übrigen Faktoren, die bei einer bestimmten politischen und wirtschaftlichen Umwelt und Gesittung den Umfang der Kriminalität in dieser Bevölkerung bestimmen, sei es fördernd, sei es hemmend, in dem zu untersuchenden Zeitraum als einigermaßen konstant eingeschätzt werden können, wenn man die Wirkung eines einzelnen Gegenfaktors, wie die eines gesetzlichen Straftatbestandes und der mit ihm verbundenen Strafdrohung, säuberlich herauspräparieren will. Für die Todesstrafe liegen Dutzende solcher Untersuchungen nicht nur für Deutschland, sondern auch im Ausland vor. Wenn man alle die statistischen Untersuchungen ausscheidet, deren Zeiträume nicht die oben geforderte Konstanz der Faktoren einigermaßen zeigten, weil sie ζ. B. durch Wirtschaftskrisen, Revolutionen, Krieg oder ähnliche Ereignisse erheblich gestört war, dann zeigen die verbleibenden Untersuchungen,

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Kriminalpolitik

ganz gleich, in welchem Lande sie angestellt sind, immer wieder dasselbe Bild: Die Bewegung der Verurteilungszahlen wird weder durch die Abschaffung der Todesstrafe noch durch die Wiedereinführung noch durch die abermalige Abschaffung nennenswert beeinflußt. Die Verurteilungen haben nach Abschaffung der Todesstrafe in aller Regel nicht zugenommen, sondern es zeigt sich oft im Gegenteil ein leichtes Absinken der Verurteilungszahlen (-> „Todesstrafe"). Diese unerwartet geringe abschreckende Wirkung der Todesstrafe, ihrer gesetzlichen Androhung und ihres Vollzuges ist auch in solchen Zeiten sichtbar geworden, in denen sie geradezu inflatorisch häufig angewendet worden ist. Das gilt für die Kriminalrechtspflege Europas bis in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts hinein; es gilt auch für die nationalsozialistische Zeit, insbesondere während des Zweiten Weltkrieges. Die düstere Voraussage der hohen englischen Richter in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, daß die von der Regierung dem Parlament vorgeschlagene Beseitigung der Todesstrafe für Diebstähle von Gegenständen im Wert von mehr als 10 sh und ihr Ersatz durch eine Freiheitsstrafe oder gar Geldstrafe einen völligen Zusammenbruch der Rechtsmoral zur Folge haben würde, ist nach Abschaffung der Todesstrafe für diese Delikte auch nicht vorübergehend bestätigt worden. Eine Durchmusterung der Dokumente der Kriminalgeschichte erlaubt den Schluß, daß insbesondere die Verurteilungszahlen der Vermögensdelikte heute nicht höher liegen, sondern wahrscheinlich geringer sind als zu den Zeiten, in denen diese Delikte mit Todesstrafe bedroht waren. Daß der ö f f e n t l i c h e Vollzug der Todesstrafe, als besonders intensive Abschreckung gedacht, nicht nur nicht wirkungslos geblieben ist, sondern im Gegenteil schlummernde kriminelle Latenzen bei den Zuschauern erst aktualisiert hat, ist mit Sicherheit aus diesen alten Dokumenten zu entnehmen und hat zur Hinrichtung intra muros einer Strafanstalt, also unter Ausschluß der Öffentlichkeit, in fast allen Staaten der Welt geführt, in Deutschland seit über 100 Jahren. Die Annahme einer generalabschreckenden Wirkung der Todesstrafe ist also als eine Illusion erwiesen. Es gibt wenig derartig gesicherte Erkenntnisse in der Kriminologie. Aber darf man dieses Ergebnis für die Androhung anderer Strafarten und ihre Verhängung im Strafurteil und ihren Vollzug verallgemeinern? Die generalpräventive Unwirksamkeit der Todesstrafe bei Mord beruht vermutlich auf dem besonderen Umstand, daß der Kreis von Menschen, die zum Mord neigen, abnorme Persönlichkeitszüge und Verhaltensreaktionen zeigt, die den Anruf selbst dieser Strafdrohung nicht zum Gegenmotiv werden lassen. Die kriminologischen Untersuchungen von Hunderten von Mörderpersönlich-

keiten und der Vorstadien und des Stadiums ihrer Tat beweisen die Begründetheit dieser Vermutung für die große Mehrheit dieser Täter (-» „Tötungsverbrechen"). Soviel darf man wohl sagen: Alle generalpräventiven Erfahrungen mit den verschiedenen Formen der Strafe haben die Unbrauchbarkeit des Denkmodells des Abschreckungsmechanismus der gesetzlichen Strafdrohung und eines nur auf den Ernstcharakter dieser Abschreckung eingestellten Strafvollzuges erwiesen. Feuerbachs Theorie des psychologischen Zwanges der gesetzlichen Strafdrohung ging von der Hoffnung aus, daß jeder Bürger sich die notwendige Rechtskenntnis über Recht und Unrecht, insbesondere strafwürdiges Unrecht, verschaffe und daß er zu seinem rechtmäßigen Handeln durch eine kühl die Vorteile und die Nachteile abwägende Überlegung bestimmt werde, also in einer Versuchungssituation angesichts des drohenden Strafübels sein Gelüst zu einem Verbrechen vernünftigerweise aufgeben werde. Warum war und ist diese Spekulation irreal ? Mit der Kenntnis strafgesetzlicher Vorschriften ist es außerhalb des Kreises der ausgebildeten Juristen notorisch schlecht bestellt. Die Strafgesetzbücher sind entgegen der Hoffnung der Aufklärungszeit auch nach Beseitigung des Analphabetentums keine allgemeinen Lesebücher geworden. Sie werden es wegen der Sprödigkeit des Stoffes, aber auch des abstrakten Stils für den Laien niemals werden. Umfangreiche, repräsentative Befragungen in der Bevölkerung zur Feststellung der Rechtskenntnisse fehlen noch. Aber die wenigen Stichproben, die wissenschaftlich exakt gemacht worden sind, ergeben immer wieder ein fast völliges Vakuum selbst einfacher Grundkenntnisse des Rechtes. Eine jüngst angestellte repräsentative Untersuchung mit den Methoden der Meinungsbefragung sollte u. a. das Ausmaß der verkehrsstrafrechtlichen Kenntnisse bei Verkehrsteilnehmern feststellen, also eines höchst aktuellen Gebietes des Strafrechtes, in das jeder Bürger heute, sowie er auf die Straße tritt oder auf ihr fährt, praktisch in jedem Augenblick verwickelt werden kann; ein Rechtsgebiet, das laufend und intensiv in der Presse, im Rundfunk, im Fernsehen, in Autofahrkursen erörtert und in der Bevölkerung laufend, zum Teil leidenschaftlich diskutiert wird. Das Ergebnis ist, daß, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei den meisten Verkehrsteilnehmern weder die wichtigsten Straftatbestände des Verkehrsstrafrechtes noch die Art und das Minimum und Maximum der angedrohten Strafrahmen und der sichernden Maßregeln, wie ζ. B. der Entziehung der Fahrerlaubnis, mit einiger Zuverlässigkeit bekannt sind. Auch stichprobenartige Befragungen von Strafgefangenen und Untersuchungsgefangenen

Kriminalpolitik und Ermittlungen im Strafverfahren darüber, welche Vorstellungen diese Personen sich über die strafrechtliche Qualifikation ihrer Tat und die angedrohten Rechtsfolgen vor ihrer Begehung gemacht haben, ergeben immer wieder, daß die meisten diese Seite ihres Unternehmens gar nicht näher bedacht haben; entweder weil diese Frage gar nicht in ihrem Bewußtsein auftauchte oder weil sie diese Frage, als sie sich aufzudrängen begann, rasch verdrängten, mit einem Leichtsinn, der für den nachträglichen Beobachter oft kaum verständlich ist und ihn an der Glaubwürdigkeit dieser Angaben zweifeln läßt, jedoch nur in manchen Fällen zu Recht, in den meisten zu Unrecht. Noch häufiger ist dagegen die folgende Angabe: Als man sich zu einem solchen Tun hingezogen gefühlt habe, habe man es wohl, ohne seine rechtliche Wertung genau zu kennen, doch als etwas von den Mitmenschen Mißbilligtes — „Das tut man nicht" — erkannt und empfunden. Dann aber sei der Gedanke aufgetaucht, ob dieses Vorhaben denn entdeckt werden könnte. Nachdem man diese Frage als überwiegend unwahrscheinlich für sich beantwortet habe, sei der innere Weg zur Tatausführung frei gewesen. Es leuchtet ein, daß ein zu einer Straftat neigender Mensch, der die Möglichkeit einer Entdeckung gering schätzt, die gesetzliche Strafdrohung, selbst wenn er sie kennen sollte, und ihre Vollstreckung nicht mehr als eine ernsthafte Gefahr einschätzt. Fast jeder der alljährlich rund 250000 wegen vorsätzlicher Verbrechen und Vergehen in der Bundesrepublik Verurteilten, denen das Gericht also nicht nur die Tat nachgewiesen hat, sondern auch die Verantwortlichkeit dafür, ist ein lebendiger Beweis für den Leichtsinn, mit dem im allgemeinen die Möglichkeit einer Entdeckung der Tat verkannt wird. Aber ist denn diese Spekulation, die Tat werde schon nicht herauskommen, so unbegründet? Es sei hier nur kurz darauf hingewiesen, daß die bekanntgewordenen Zahlen von Straftaten von einer alle kriminalpolitischen Überlegungen sehr beunruhigenden „ D u n k e l z a h l " von geschehenen Straftaten begleitet werden, die entweder den Strafverfolgungsbehörden ganz unbekannt bleiben oder doch hinsichtlich der Täterschaft nicht aufgeklärt werden. Die Feststellung der Höhe dieser Dunkelzahl insgesamt und damit der wahren Gesamtkriminalität eines Staates, aber auch ihrer Höhe bei den einzelnen Deliktsarten stößt begreiflicherweise auf größte methodische Schwierigkeiten. Immerhin kann man aus einer Reihe von Anhaltspunkten gewisse Schätzungen vornehmen, aus denen man schließen kann, daß die statistischen Zahlen der Ermittlungserfolge der Polizei und erst recht der Verurteilungen der Strafjustiz nur einen relativ kleinen Ausschnitt aus der wahren Kriminalität erfassen. (Näheres -> „Statistik und Kriminalität".)

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Alle diese Feststellungen ergeben, daß eine K., die sich auf die Furcht der Bevölkerung vor Strafe verläßt, damit eine Rechnung mit vielen Löchern aufstellt, auf die also kein Verlaß ist. Sie versagt besonders gegenüber strafwürdigen, unbewußt fahrlässig herbeigeführten Unfällen, ζ. B. im motorisierten Straßenverkehr (-> „Verkehrsdelikte"). Der Kriminalpolitiker wird daher, wo es nur irgend erreichbar ist, gegenständlichen Sicherungen gegen Straftaten den Vorrang geben,wie ζ. B. Lenkradschlössem gegen Auto-Diebstahl usw. (-»• „Krimmaltechnik"), statt die gesetzlichen Strafdrohungen und die Strafzumessungen zu verschärfen. Erweitert man dagegen die Fragestellung nach der Generalprävention über den engen Aspekt der Abschreckung durch Strafdrohung, Strafurteil und Strafvollzug hinaus, so ergibt sich eine Reihe von sehr verheißungsvollen Ansätzen zu einer generalpräventiven K. Dann rückt das Phänomen in den Vordergrund, daß die große Mehrheit der Bevölkerung sich im großen und ganzen doch rechtstreu verhält und daß das keineswegs in erster Linie auf Furcht vor Strafe beruht, sondern auf der bewußten oder unbewußten Anerkennung unserer sozialethischen Grundwerte und der sozialen Spielregeln. Die Kriminalgeschichte hat immer wieder bis in die jüngste Zeit die Machtlosigkeit des Strafgesetzes und der Strafjustiz gezeigt, wenn dieser Generalkonsens der Bevölkerung zu den sozialethischen und rechtlichen Ordnungen aufhört oder die Möglichkeit sich mindert oder gar verlorengeht, diese Ordnungen einzuhalten, wie in Zeiten der Auflösung des Gesellschafts- und Staatsgefüges oder in Zeiten, in denen für weite Bevölkerungsschichten der wirtschaftliche Standard unter das Existenzminimum für längere Zeit sinkt. Viele Staaten haben das in den beiden letzten Weltkriegen und in den unmittelbar darauf folgenden Jahren erfahren. Dann kann der Staat noch so viel gesetzliche Strafdrohungen neu erlassen und die bisherigen verschärfen und durch Standgerichte noch so brutale Terrorurteile fällen und vollziehen, in einem noch so summarischen, d. h. ohne oder doch nur mit minimalen Rechtsgarantien für den Angeklagten ausgestatteten Strafverfahren — die Kriminalität steigt gleichwohl unaufhaltbar weiter und wird immer mehr von bisher nicht bestraften Tätern begangen, die in sozial gefestigten Zeiten sehr vermutlich niemals straffällig geworden wären. Die Erfahrungen haben aber auch gezeigt, daß die Kriminalität bald auf den gewöhnlichen Umfang zurücksinkt, wenn das wirtschaftliche Auskommen der Bevölkerung durch eine umsichtige Wirtschafts- und Geldpolitik wieder gesichert ist, in der staatliche Lenkung und freie Initiative klug aufeinander abgestimmt sind, ergänzt durch eine die wirtschaftlich schwachen

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Kriminalpolitik

Bevölkerungsschichten stützende Sozialpolitik und durch eine behördliche und freie Sozialhilfe, die sozial besonders anfällige Einzelmenschen vor dem Abgleiten in ein menschenunwürdiges Dasein bewahrt. Auch die generalpräventiven kriminalpolitischen Überlegungen müssen sich die Einsicht aus zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen über die psychologischen und soziologischen Faktoren (social-control, group-control, learning theory), die die Entwicklung eines Menschen zu einer in die soziale Wertordnung der ihn umgebenden staatlichen Gemeinschaft eingeordneten Persönlichkeit bestimmen, zu eigen machen, nämlich, daß ein normentsprechendes Verhalten eines Menschen am wenigsten durch den Intellekt und durch bewußte Willensakte erfolgt, sondern ganz überwiegend auf der Einsenkung der sozialen und kulturellen Wertordnungen in die tieferen Schichten der Persönlichkeit beruht, also gemäß einem instinktartigen, „in Fleisch und Blut übergegangenen Wissen" um die Norm geschieht. Das im ganzen sozial richtige Verhalten der erheblichen Mehrheit der Bürger ist im wesentlichen durch eine Anpassung an das Verhalten und an die Urteile der Umgebung, in der sie aufgewachsen sind, zustande gekommen, ein zum großen Teil wohl unbewußter Vorgang. Entscheidend für rechtliches Verhalten ist, daß der Mensch in seiner Kindheit und Jugend das als sozialethische Norm erlebt und empfunden hat, was als rechtliche Regel in dem Gesetzbuch niedergelegt worden ist. Ist das der Erziehung im Elternhaus, in der Schule, in der Lehrzeit oder Anlernzeit bei einem jungen Menschen gelungen, d. h. in sein mitmenschliches Verhaltensschema fest eingebaut, so wird ein solcher Mensch die vom Standpunkte des Rechtes richtige Verhaltensentscheidung auch dann finden, wenn er von den Strafgesetzen, ihren Tatbeständen und ihren Strafdrohungen nur von ferne gehört hat. Allerdings kann auch ein so in sich abgesicherter Mensch gleichwohl zu Straftaten getrieben werden, wenn er schicksalhaft durch Krieg, Hungersnot, persönliches Unglück u. ä. in eine für ihn existentiell bedrohliche Ausnahmesituation gerät, die ihn dann emotional und intellektuell überfordert (sog. Konfliktkriminalität) und ihm mit dem äußeren auch den inneren Halt nimmt. Sind diese Einsichten über die Faktoren, die das rechtstreue Verhalten eines Menschen bestimmen, richtig, dann gewinnen für den generalpräventiv überlegenden Kriminalpolitiker auch die Kultur- und Bildungspolitik seines Landes besondere Bedeutung, vor allem die Fragen der ethischen Erziehung und damit der Gewissensbildung der Jugend und der Erwachsenen; aber auch die Verkehrserziehung gegen Unfälle u. dgl.; die Behandlung von Verbrechen und Strafe in der Literatur (-> „Kriminalroman"), in Film, Rund-

funk, Fernsehen und Presse (-> „Massenmedien"). Die K. versteht sich mit diesen Einsichten als eine staatsbürgerliche Aufgabe, und so gesehen, tragen auch die Strafgesetzgebung und die Strafrechtspflege ihren Teil zur Rechtserziehung der Bürger und damit zu einer Generalprävention vor Kriminalität bei; die Strafgesetzgebung dadurch, daß die Strafgesetze durch ihre Feststellung, welche Verletzungen von Rechtsgütern strafwürdig sein sollen, die Geltung der sozialethischen Werte im Bewußtsein und Rechtsgefühl der Bevölkerung festigen. Die Rechtspflege aber dürfte stark durch das Vorbild der Rechtlichkeit als einer der Grundaotwendigkeiten allen menschlichen Zusammenlebens, wenn dieses erträgüch und erfreulich sein soll, wirken. Diese allgemeinen rechtserzieherischen Beiträge sind aber nicht auf die Strafjustiz beschränkt, sondern gehen von der Justiz im ganzen aus. Der Strafrichter und der Staatsanwalt, der Strafverteidiger und der Sachbearbeiter der Kriminalpolizei, der Strafvollzugsbeamte und der Bewährungshelfer können rechtserzieherisch in die Allgemeinheit dadurch hineinwirken, daß sie die Werte des Rechtes und der Sozialethik menschlich überzeugend und damit werbend vorleben, sei es in der Einzelvernehmung oder in der Hauptverhandlung durch faire Verhandlungsführung, sei es durch gerechtes Urteil — auch ein Freispruch kann generalprävenierend in diesem Sinne wirken —; in der Strafanstalt durch Verständnis für die schwierige Situation eines Gefangenen, durch gerechte Behandlung und den taktvollen Versuch der Hilfe zur inneren Arbeit an sich selbst. Der rechtserzieherischen und damit generalprävenierenden Wirkung der Strafrechtspflege stehen heute einige Mängel der Strafgesetzgebung entgegen, was deutlich macht, daß schon die Strafgesetzgebung ein wichtiger kriminalpolitischer Akt ist, der gar nicht sorgfältig genug gegen ungute Auswirkungen abgesichert werden kann. Schon Franz v. Liszt hatte auf die innere Fragwürdigkeit des Umstandes hingewiesen, daß das Strafgesetz die strafwürdige Verletzung von Rechtsgütern des Bürgers und der Allgemeinheit dadurch beantwortet, daß es in sonst strafrechtlich geschützte Rechtsgüter des Täters eingreift, nämlich in seine Freiheit, in sein Vermögen und, wo die Todesstrafe noch eingeführt ist, sogar ihn seines Lebens beraubt. Das kann nur hingenommen werden (und entspricht auch der Bewertung, die das Grundgesetz von 1949 diesen Rechtsgütern durch seinen Katalog der „Grundrechte" gibt), wenn diese als Kriminalstrafe gedachten Eingriffe auf Rechtsbrüche beschränkt werden, die die Grundwerte der staatlich geordneten Gemeinschaft verletzen oder doch erheblich gefährden. Bis zum ersten Weltkrieg hat der Strafgesetzgeber sich im großen und ganzen an diese

Kriminalpolitik Richtlinie gehalten, aber seither ist die Zahl der Strafbestimmungen, beginnend mit dem sog. Kriegswirtschaftsstrafrecht, ungeheuerlich gewachsen und hat den strafrechtsfreien Raum unseres sozialen Lebens sehr eingeengt. Die Mehrzahl dieser neuen Strafbestimmungen bedroht Verhaltensweisen, die nicht die Grundwerte des menschlichen Zusammenlebens erschüttern, sondern bloßen ethisch wertneutralen Ordnungswidrigkeiten entgegenwirken wollen. Dadurch ist eine sehr ernste Entwertung der rechtserzieherischen, generalprävenierenden Wirkung der gesetzlichen Straftatbestände und Strafarten sowie der Strafrechtspflege überhaupt eingetreten. Es ist eine wichtige kriminalpolitische Aufgabe unserer Zeit, die Strafgesetzbücher und die Nebenstraigesetze von allen Strafbestimmungen zu befreien, die materiell nicht strafwürdigem Verhalten gelten, und dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten von 1951 zuzuweisen, dessen schwerste Rechtsfolgen nur Geldbußen, Konzessionsentziehungen und ähnliche Maßnahmen sind, unter denen aber die Freiheitsstrafe fehlt (-> „Ordnungswidrigkeiten", „Strafrechtsreform"). Der Gesetzgeber sollte aber auch bei den Rechtsverletzungen, die nach dem Ausscheiden der Ordnungswidrigkeiten aus dem Strafgesetzbuch und den strafrechtlichen Nebengesetzen bleiben, sehr zurückhaltend mit der Erklärung zu strafwürdigen sein und solange wie möglich sich mit den ausgleichenden Rechtsfolgen (wie ζ. B. Schadensersatz) der übrigen Rechtsgebiete begnügen. Nur wo es zur Sicherung der Einhaltung der Rechtsordnung und damit zum Schutz der Rechtsgüter der Bürger und der Allgemeinheit sich als wirklich notwendig erwiesen hat, zusätzlich mit einer Kriminalstrafe zu reagieren, sollte der Gesetzgeber ein solches rechtswidriges Verhalten auch als strafwürdig erklären. Er sollte sich insbesondere zurückhalten, wenn es sich um ein Verhalten handelt, dessen Verwerflichkeit weniger in der Verletzung oder Gefährdung von Rechtsgütern Anderer liegt als vielmehr darin, daß es als unerträglich unsittlich empfunden wird. Die Poenalisierung eines solchen Verhaltens verläßt die nüchterne Sachaufgabe des Strafrechtes als Schutzordnung der wichtigsten Rechtsgüter und ist dann nur noch poenalisierte Ethik. Nur bei der Frage, ob und in welchem Umfange Rechtsgüter auch durch Krimmalstrafe gesetzlich geschützt werden sollen, sollten sozialethische Erwägungen herangezogen werden. Für die kriminalpolitische Aufgabe des Strafgesetzgebers ist, so alt sie ist, noch keine gesicherte Methode gefunden, Kriterien strafwürdigen Verhaltens herauszuarbeiten. Dabei müßte von der Frage ausgegangen werden, welche Funktion dem Strafrecht in der heutigen Gesellschaft zu-

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kommt. Auch diese kriminalpolitische Frage ist heute nicht mehr ohne wissenschaftliche Forschungen zu beantworten, die dem Gesetzgeber ein kriminologisches Erfahrungsmaterial zu den jeweiligen Einzelfragen liefern, das methodisch einwandfrei gesichert ist. Es werden heute noch immer Entscheidungen in der Strafgesetzgebung getroffen, die auf ungesicherten Tatsachenbehauptungen beruhen und deshalb sich bald als fehlerhaft erweisen. Nicht nur an dieser Stelle zeigt sich bereits, daß K. heute nicht betrieben und nicht verantwortet werden kann, wenn ihr nicht die Erkenntnisunterlagen, die sie für ihre Entscheidungen braucht, durch eine entsprechend breit angelegte kriminologische Forschung vermittelt werden. Der Gesetzgeber sollte sich aber auch bei der Poenalisierung von sozial bedenklichen Verhaltensweisen sehr zurückhalten, wenn er nicht mit einiger Sicherheit damit rechnen kann, daß eine solche neue Strafbestimmung den sozialethischen Konsensus der großen Mehrheit der Bevölkerung erreichen wird. Der offenkundige Mißerfolg der Alkohol-Prohibitionsgesetzgebung mit ihren strengen Strafbestimmungen in den USA, der schließlich wieder zu ihrer Aufhebung führte, ist ein warnendes Beispiel. Es zeigt zugleich, wie eine solche kriminalpolitisch zwar sehr gezielte, aber die sozialpsychologischen Zusammenhänge nicht genügend bedenkende Gesetzgebung dazu führen kann, ihrerseits ganz neue und sehr gefährliche Kriminalitätsformen unwillkürlich zu züchten, die den betreffenden Staat sogar in schwere innenpolitische Krisen reißen können. Die Höhe der Dunkelzahl erreicht dann Dimensionen, die zum Skandal werden, weil sie ein Bild von der völligen Ohnmacht der Strafrechtspflege bieten. Auf dem Gebiet der Sittlichkeitsdelikte ist die Poenalisierung der gleichgeschlechtlichen mannmännlichen Beziehungen unter Erwachsenen, bei denen Gesichtspunkte des Jugendschutzes oder des Schutzes vor gewaltsamer Vornahme keine Rolle spielen, ein weiteres warnendes Beispiel (-> „Sexualdelikte"). Eine Strafvorschrift, wie § 175 StGB, deren Berechtigung und Tunlichkeit überwiegend zweifelhaft geworden ist, pflegt sich gleichwohl noch lange am Leben zu erhalten mit dem Argument, daß ihre Beseitigung einer Erklärung des Gesetzgebers gleichkomme, dieses Verhalten sei nunmehr zu billigen oder ethisch indifferent. Der Kriminalpolitiker kann demgegenüber nur darauf hinweisen, daß die große Menge von ethisch verwerf liehen Handlungen nicht unter Strafe gestellt ist, daß also die Verneinung der Strafwürdigkeit in aller Regel nicht eine ethische Unbedenklichkeitsbescheinigung durch den Gesetzgeber bedeutet. Kriminalpolitisch bedenklich ist auch, wenn eine Strafbestimmung ζ. B. gegen die heterologe Insemination mit der Begründung vorgeschlagen

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wird, daß vielleicht mit dieser medizinischen Maßnahme Mißbrauch getrieben werden könnte, obwohl es zur Zeit noch nicht der Fall ist. Der Strafgesetzgeber sollte ein Verhalten erst dann als strafwürdig erklären, wenn negative Auswirkungen tiefgreifender Art über einen genügenden Zeitraum hin erwiesen sind und deshalb strafrechtliche Gegenmaßnahmen erfordern. Der deutsche Kriminalpolitiker unserer Zeit muß ferner noch die Erschütterung des Vertrauens in die Strafgesetzgebung und in die Strafrechtspflege bei der Bevölkerung Deutschlands in Rechnung stellen, die durch die Perversion des Rechtes unter dem nationalsozialistischen Regime eingetreten war, indem es „gesetzliches Unrecht" (Radbruch) schuf und es zur Vernichtung politisch Andersdenkender und bestimmter Bevölkerungsgruppen benutzte. Dieses Regime hat a l l e Funktionen des Strafrechts auf das höchste mißbraucht und keineswegs nur die individualpräventive Funktion, wie oft sehr einseitig behauptet wird. Nicht weniger schwer wurden die Prinzipien des Schuldstrafrechtes und der Generalprävention durch Verknüpfung mit den Maßstäben der „nationalsoz. Weltanschauung" pervertiert, die schließlich in Form des Terrors auch mit strafrechtlichen Mitteln praktiziert wurde. Aber auch in anderen politischen Systemen, die von einer intoleranten, einseitigen politischen Ideologie beherrscht sind, wird die strafrechtliche Ordnung oft so eingerichtet, daß der „Klassenfeind" sich in Straftaten verstricken muß wie in einer Zwickmühle, um damit den kriminellen Vorwand zu seiner Ausschaltung oder gar Vernichtung zu schaffen. Auch ein solches Strafrecht erzeugt nur Terrorwirkungen, aber nicht „law abiding citizens", die auf lange Sicht allein eine wirkliche Geltung der Rechtsordnung garantieren. Die Notwendigkeit, kriminalpolitische Überlegungen schon bei der Strafgesetzgebung auf eine breite Erfahrungsbasis zu stellen, sowie der unverkennbare Trend in der Welt, größere, die Einzelstaaten übergreifende Einheiten politisch und wirtschaftlich zu schaffen, was ohne eine gewisse Vereinheitlichung des Rechtes nicht möglich ist, zwingt immer mehr auch zu einer Berücksichtigung und einem sorgfältigen Studium der Vorgänge auch in der Strafgesetzgebung des Auslands. Vergleiche mit den ausländischen Strafgesetzen, mit den Entwürfen zu Strafgesetzreformen und mit der Art der Praxis, wie die Strafgesetze von den Gerichten und Behörden ihres Geltungsbereiches gehandhabt werden, gehören heute zu dem unentbehrlichen Handwerkszeug der K., das allerdings nur dann Nutzen stiftet, wenn man den Regelungen im Ausland nicht schon mit einer vorgefaßten Meinung über die Richtigkeit eines bestimmten kriminalpolitischen Modells gegenübertritt, sondern sie unvoreingenommen prüft.

Es ist eine der zentralen Aufgaben der heutigen K., die D u n k e l z a h l der Rechtsbrüche und ihrer Täter soweit wie möglich zu verringern, um das tatsächliche Risiko für die zu Straftaten geneigten Personen zu erhöhen, entdeckt und verfolgt zu werden. Mustert man die verschiedenen Organe der Strafrechtspflege daraufhin durch, welchen diese Aufgabe in erster Linie zufällt, so ist es nicht die Tätigkeit der Kriminaljustiz, sondern die der Polizei, speziell der Kriminalpolizei, der nach § 163 der bundesdeutschen Strafprozeßordnung die Aufgabe des „ersten Eingriffs" bei der Ermittlung von Straftaten und ihren Tätern zufällt. Soweit ein Abschreckungseffekt durch die Kriminalrechtspflege überhaupt erzielt werden kann, scheint dies nach bisheriger Erfahrung am erfolgreichsten durch eine Kriminalpolizei zu erreichen zu sein, die sich in der Bevölkerung verdientermaßen den Ruf erwirbt, daß sie Straftaten zuverlässig und möglichst rasch aufdeckt und die Täter dem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft und von dort ggf. dem Hauptverfahren vor dem Strafgericht zuführt. Der Kriminalpolitiker muß daher alle Bemühungen der Polizei unterstützen, den Schlichen und technischen Fortschritten der Verbrecherwelt überlegen zu werden und zu bleiben durch ständige Verbesserung ihrer Aufklärungsmethoden, wie ζ. B. der naturwissenschaftlichen Kriminalistik, der Vernehmungstechnik usw., durchgeführt von einem zahlenmäßig ausreichenden Stab von möglichst gut ausgebildeten Kriminalbeamten, die menschlich überlegen, unbestechlich und furchtlos ihrem Beruf nachgehen. In Ländern und Zeiten, in denen die Polizei, insbesondere die Kriminalpolizei, nicht intakt ist, sei es, weil sie personell zu schwach besetzt ist, sei es, daß ihre Ausbildung und ihre kriminaltechnischen Mittel nicht oder nicht mehr ausreichen, sei es, daß sie korruptive Beziehungen zu den Verbrechern eingeht, ist als Folge immer eine Zunahme vor allem von wirtschaftlich lukrativen Verbrechen, wie Erpressung, Betrug, Raub, Fälschung, Rauschgifthandel und Spielkriminalität, heute festzustellen, die bis zum wirksamen Terror gegen ganze Bevölkerungsgruppen und Berufszweige ausarten kann, wie aus mutigen Untersuchungen von amerikanischen Kriminologen über solche Zustände in manchen Teilen der USA recht genau bekannt ist; sie haben dargelegt, wie die Tater dieser Bereicherungsdelikte größten Stils mit der zunehmenden Höhe des auf solche Weise errafften Vermögens in ihrem Lebensstil Gewohnheiten der sozialen Unterwelt ablegen und nunmehr in Luxusvillen mit Swimming-pool und Klima-Anlage in den stillen und teuren Vorstädten der großen Städte wohnen; sie führen dort nach außen hin das Leben eines friedfertigen, sozial eingeordneten Mitglieds der oberen Zehntausend, während sie hinter dieser Fassade weiter kriminell höchst schädlich

Kriminalpolitik tätig bleiben. Mangelndes Risiko der Entdeckung, weil der kriminalpolizeiliche Apparat entweder korrumpiert oder aber in der Prüfung hochkomplizierter Buchführung und Bilanzierung nicht genügend ausgebildet ist, hat ferner zuerst in den USA zur Erscheinung der „White-collar-crimes", d. h. der Weiße-Kragen-Kriminalität, geführt. Ihr Wesen ist, daß Manager großer Unternehmen der Industrie, der Bankwelt, der Versicherungsinstitute ihre führenden Machtstellungen und die Kompliziertheit und Undurchsichtigkeit der finanziellen und wirtschaftlichen Struktur der modernen Wirtschaft für den Laien dazu ausnutzen, um auf kriminelle Weise sich persönlich zu bereichern. Einer der wichtigsten Fälle dieser neuartigen Kriminalität ist der die Schwelle des Strafwürdigen überschreitende Mißbrauch im Aktienwesen, aber auch raffinierte Formen von Steuerentziehungen großen Stils, ferner strafwürdige Preisabsprachen bei öffentlichen Ausschreibungen, verbunden mit Bestechungen, gehören hierher. Schon wenige solcher Täter richten ein Vielfaches an Schaden an, als es die Straftaten der vielen kleinen Diebe, Erpresser, Betrüger und Veruntreuer im gleichen Zeitraum und Gebiet zusammengerechnet tun. Es ist vor der Illusion zu warnen, daß die Erscheinung der gefährlichen, aber schwer aufzudeckenden „White-collarcrimes" noch nicht auf Europa und die Bundesrepublik übergegriffen habe; vielmehr müssen die Kriminalpolizei und die Strafjustiz durch entsprechenden Einsatz von besonders für diese Aufgabe ausgebildetem Spezialpersonal eine wirksamere Bekämpfung dieser gegen Entdeckung besonders raffiniert abgeschirmten Straftaten sicherstellen, ehe diese auch in unserem Wirtschaftsleben beginnende Kriminalität in unserem gesellschaftlichen Gefüge zu wuchern beginnt und dann sehr schwer zu unterdrücken sein wird (-»• „Wirtschaftskriminalität"). Wenn auch die generalpräventiven Erfahrungen dahin gehen, daß die entscheidenden Beeinflussungen der Kriminalität als gesellschaftliche Erscheinung nicht durch die Kriminalrechtspflege, sondern durch die Wirtschafts-, Sozial- und Fürsorgepolitik und durch die Erziehungsmächte des Elternhauses, der Schulen, der Kirchen, der Erwachsenenbildung, aber auch durch die Massenkommunikationsmittel des Films, des Fernsehens und der Presse geschehen und die Kriminalrechtspflege nur eine diese Bemühungen exemplarisch stützende Funktion ausüben kann, so schließen diese generellen Erfahrungen nicht aus, daß spezielle, g e z i e l t e g e n e r a l p r ä v e n t i v e M a ß n a h men der Kriminalrechtspflege gegen bestimmte Gruppen von kriminellen Erscheinungen in bestimmten Gebieten gute Wirkung haben. Die Indikation für solche gezielten generalpräventiven Maßnahmen ist noch wenig erforscht, ebenso wie sie methodisch am zweckmäßigsten anzulegen

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sind. Aber Voraussetzung für einen Erfolg scheint zu sein: 1. Es muß sich um lokal neu aufkommende Kriminalitätsformen, die noch den Reiz des Neuen und Ungewohnten haben, oder um längere Zeit vergessene, aber nun wieder erstehende handeln; 2. es muß durch eine laufende sorgfältige Polizeistatistik, die rasch Erkenntnisse liefert, d. h. nicht erst Jahre nach der Ermittlung der Tat, diese Steigerung in ihrer lokalen Bedeutung nachgewiesen werden; 3. sodann konzentrierter Einsatz der Kriminalpolizei — wenn nicht anders erreichbar, durch vorübergehende Zurückstellung weniger bedeutsamer Aufgaben — zur raschen Aufklärung der Taten und zur Ermittlung der Täter; 4. danach rasche Bearbeitung durch die Staatsanwaltschaft; 5. möglichst kurzfristig angesetzte Hauptverhandlung und Aburteilung durch das Gericht, nicht notwendig aber zu überhöhten Strafen; 6. gleichzeitig mit den behördlichen und gerichtlichen Maßnahmen gute Öffentlichkeitsarbeit zur Aufklärung und Warnung des Publikums. Sind minderjährige Täter in größerer Zahl beteiligt, empfiehlt sich eine Rechtsbelehrung in den Klassen der Berufsschulen, die möglichst durch einen Jugendrichter oder Jugendstaatsanwalt oder Bewährungshelfer vorgenommen werden sollte. Schließlich sei noch einer Problematik der durch generalpräventive Gesichtspunkte beeinflußten S t r a f z u m e s s u n g kurz gedacht. Ganz abgesehen von der Fraglichkeit der generalpräventiven Wirkung von gesetzlicher Strafdrohung, richterlicher Bestrafung und Strafvollzug ergeben sich vom Gedanken der Schuldstrafe schwerste Bedenken gegen die Berücksichtigung der Generalprävention bei der Strafzumessung im Urteil. Denn die Höhe und Art der Strafe wird hier von einem Umstand mit abhängig gemacht, der nichts mehr mit der Täterschuld im Verhältnis zu der begangenen Tat zu tun hat. Der TäteT wird nämlich straferhöhend dafür verantwortlich gemacht, daß vielleicht irgend jemand aus der Bevölkerung sich ein böses Beispiel an seiner Straftat nehmen könnte. Er büßt also über seine Tatschuld hinaus, damit unbekannte andere potentielle Täter vielleicht dadurch gewarnt werden. Man könnte die generalpräventive Straferhöhung im Urteil über das Maß der Tatschuld hinaus nur sehr gezwungen damit begründen, daß jeder Täter einer Tat damit für ihn voraussehbar die latenten kriminellen Tendenzen in der Bevölkerung zu ebensolchen Straftaten verstärkt. Dann enthielte jedes Erfolgsdelikt ein überschießendes abstraktes Gefährdungsdelikt — eine im Gesetz nicht zum Ausdruck gekommene und daher unzulässige Interpretation. Lit. zur Generalprävention: van Veen A 1949; Aubert A 1954; Spendel A 1954, Β 1957, 1960; ν . Weber A 1956; Johnston A 1962; Η. Mayer

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A 1962; Coors A 1963; Schmidhäuser A 1963; Rubin A 1963; Tappan A 1960; Clinard A 1961, Β 1962; Beutel A 1957; Wooton A 1963; Allen A 1964; Bundeskriminalamt A 1964; Andenaes A 1965, Β 1952, 1957, 1966; Hoefnagels A 1966; Pfander Β1948; Bockelmann Β 1952; Eb. Schmidt Β 1957; Roeder Β 1961; Bruns Β 1963; Hellmer Β 1963; Aulie Β 1964; Badura Β 1964; Brauneck Β 1965; C. V. Morris Β 1965; Τ. Morris Β 1966; Τ. Sellin Β 1960; Moore u. Collahan A 1943; Ball Β 1955. 2. Die Funktion des Strafrechtes und der Strafrechtspflege, die in der ganzen Welt mit S p e z i a l - o d e r — unmißverständlicher — I n d i v i d u a l p r ä v e n t i o n bezeichnet wird, gilt der Aufgabe, einen individuellen Verurteilten vor künftigem Rückfall in Straftaten zu bewahren. Es ist die Aufgabe, auf Verurteilte, sei es im Rahmen einer Strafaussetzung zur Bewährung, sei es im Rahmen des Vollzuges der verhängten Freiheitsstrafe oder im Rahmen der präventiven Unterbringung in einer Anstalt der Besserung und Sicherung, so einzuwirken, daß sie nicht nur nicht sozial untüchtiger während dieser Zeit der ambulanten oder stationären Behandlung werden, sondern besser befähigt, ein rechtschaffenes Leben zu führen, als sie es vor der Verurteilung taten. Also auch die Individualprävention ist eine sozialpädagogische, staatsbürgerliche Aufgabe. Sie steht durchaus nicht im Widerspruch zu dem Gedanken der Strafe. Wenn das Ziel der Sozialisation des Verurteilten in Zukunft zuverlässig erreicht werden soll, muß alles daran gelegen sein, die Zeit der Strafaussetzung oder des Vollzuges so zu gestalten, daß der Verurteilte die unter der Aufsicht eines Bewährungshelfers oder die in einer Anstalt verbrachte Zeit nicht als eine verlorene in seinem Leben dereinst betrachten muß, sondern sie möglichst positiv verarbeitet. Ihre tiefste Aufgabe hat die Verurteilung zu einer Strafe eigentlich erst dann erfüllt, wenn der Verurteilte später in seinem Leben zu sich sagt: „Diese Zeit, so schwer sie war, möchte ich in meinem Leben nicht missen, denn sie hat mich weitergebracht." Wer das sagen kann, hat wirklich seine Schuld aufgearbeitet und den Sinn seiner Bestrafung erfaßt. Für ihn hat das Erlebnis des Urteils und seines Vollzuges schließlich die neue Einstellung zu seinen Pflichten als Mensch und Staatsbürger gebracht, die von ihm erhofft wurde. Diese Hilfe zur Aufarbeitung der Schuld der Tat, ja vielleicht der Verkehrtheit der ganzen bisherigen Lebensführung und in diesem Sinne zu einer „Strafbereitschaft" ist sicherlich das tiefste Ziel jedes Strafurteils und seines Vollzuges. Es wäre aber völlig verkehrt, dieses Ziel im Strafgesetzbuch oder in einem Strafvollzugsgesetz zu nennen. Dieses muß sich mit der Formulierung der nüchternen individualpräventiven staatsbürgerlichen

Sachaufgabe begnügen, denn jene tiefsten Ziele der Strafe sind nicht rational vom Vollzug anzusteuern, geschweige denn vom Verurteilten zu erzwingen. Man kann nur hoffen, daß der einzelne Verurteilte einen solchen ethischen Durclibruch spontan eines Tages findet und sei es erst als Nachwirkung des Urteils und seines Vollzuges. Man kann nur versuchen, das aber in aller Intensität, die Gesamtheit einer Bewährungshilfe im Falle der bedingten Strafaussetzung und die Gesamtheit des Vollzuges in einer Anstalt bis in die Einzelheiten hinein so zu gestalten, daß eine menschlich so überzeugende Atmosphäre entsteht, daß sie Nährboden für solche Entwicklungen in dem einzelnen Gefangenen werden und sein kann. Zahlreiche Erfahrungen positiver wie negativer Art haben bisher gezeigt, daß nur in einer solchen Gesamtatmosphäre die einzelnen sozialpädagogischen Maßnahmen sich gedeihlich auswirken können, weil nur dann die Willigkeit in den Verurteilten zu entstehen vermag, sie anzunehmen. Im Freiheitsentzug in einer Anstalt setzt die Entstehung einer solchen Gesamtatmosphäre, eines solchen „Anstaltsgeistes" voraus, daß ein Sinn für Zusammenarbeit und eine gegenseitige Achtung die gesamte Beamtenschaft einer Anstalt vom Direktor bis zum jüngsten Aufseher beherrscht, weil sie sich in eine hohe Aufgabe von der Rechtsgemeinschaft berufen und in ihr vereint wissen darf. Es steht mit dieser für eine erfolgreiche Arbeit im Strafvollzug so notwendigen Atmosphäre noch keineswegs in allen Anstalten zum besten; hier ist noch viel zu überlegen und zu tun. Die Einsicht, daß auch die sozialpädagogischen Bemühungen in der Bewährungshilfe und im anstaltsstationären Vollzug dem einzelnen Verurteilten nicht mehr als Hilfe zur Selbsthilfe geben können, teilt die K. mit der gesamten Sozialpädagogik und der Sozialhilfe heute überhaupt. Aber diese Hilfe stößt unter den Bedingungen einer Internierung auf ganz besondere Schwierigkeiten. Enttäuscht von den Ergebnissen der Rückfallsverhütung mit den bisherigen Vollzugsformen, stellen sich seit längerer Zeit in aller Welt die für den Vollzug Verantwortlichen die Frage: Kann man überhaupt einen Verurteilten zum rechten Gebrauch der Freiheit eines Staatsbürgers unter den Bedingungen der Unfreiheit einer Internierung erziehen, einer Internierung, die noch dazu strafweise, d. h. mit einem sozialen Stigma, versehen ist? Die noch junge Wissenschaft der Kriminologie kann auf diese Frage jedenfalls für die Haftformen einer strengen und langen Einzelhaft und einer Tag und Nacht dauernden Gemeinschaftshaft einer größeren Anzahl von Gefangenen bereits eine Antwort geben. Das Studium von Charakterstrukturen von kriminell anfälligen Persönlichkeiten einerseits und der seelischen

Kriminalpolitik Entwicklung von Gefangenen in den genannten Vollzugsformen in den großen Anstalten mit vielen Hunderten von Gefangenen in einem ihnen jede Sorge um den Lebenskampf abnehmenden Vollzuge andererseits hat eindeutig die kriminalpolitisch erschreckende Paradoxie ergeben, daß diese Formen der Behandlung von Gefangenen gerade ihre kriminogenen Eigenschaften weiter verstärken und sie damit zum Rückfall bereiter machen, als sie es vorher waren (-> „Strafvollzug: Gefängnispsychologie und -Soziologie"). Dabei hat sich auch ergeben, daß die wenigen Gefangenen, die in einer wirklichen Sühnebereitschaft die Strafanstalt betreten, schon bald diese Form des Strafvollzuges als sinnlos für sich empfinden, weil sie ihnen jede Möglichkeit zur Initiative nimmt, etwa dem Opfer ihrer Straftat gegenüber eine tätige Wiedergutmachung zu leisten. Gerade den Anhänger des Prinzips von Schuld und Sühne auch als Grundlage des kommenden Strafgesetzbuchs müssen solche Feststellungen tief beunruhigen wie auch die Tatsache, daß unsere Gesellschaft im Durchschnitt gar nicht daran denkt, einen Strafgefangenen, der seine vom Gericht nach dem Maß der Schuld sorgfältig begrenzte Strafe verbüßt hat, nun auch als entsühnt zu betrachten und zu behandeln. Die kommende Strafrechtsreform wird zum mindesten in dem notwendigen Bundesstrafvollzugsgesetz nicht darum herumkommen, neben dem Problem, den Gefangenen auch während des Vollzuges an der Versorgung seiner Familie zu beteiligen, auch die Aufgabe zu lösen, daß der Gefangene schon während des Vollzuges den Schaden, den er seinem Opfer angetan hat, abzutragen beginnt (-* „Viktimologie"). Bei der Lösung dieser Probleme wird das Studium einiger ausländischer Rechtsordnungen hilfreich sein, die diese Fragen schon tatkräftig angepackt haben. Eine Wiedergutmachung schon während des Strafvollzuges wird für viele Gefangene erst den in seiner Abstraktion für einfache Menschen kaum faßlichen Sühnegedanken des Gesetzes anschaulich und zum Erlebnis machen, während heute viele Gefangene meinen, daß die Strafverbüßung sie von einer Pflicht zur Wiedergutmachung gegenüber dem Opfer rechtlich, aber auch moralisch entbindet. Zu alledem ist ferner die Beobachtung getreten, daß eine Verurteilung insbesondere zu einer längeren Freiheitsstrafe, wenn sie vollzogen wird, sich auf die Angehörigen des Verurteilten, wenn sie mit ihm in einer Familie zusammengelebt haben und wirtschaftlich von ihm abhängig gewesen sind, praktisch wie eine Sippenstrafe auswirkt, d. h. diese an der Straftat des Verurteilten oft unschuldigen Personen meist in einen sozialen Abstieg, auch in der Wertung ihrer sozialen Umwelt, und in wirtschaftliche Existenznöte geraten läßt, denen nicht selten nur mit den

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Minimalgeldsätzen des Bundessozialhilfegesetzes begegnet werden kann. Alle diese Einsichten und Erfahrungen haben schon in den Anfängen der modernen Strafrechtsreformbewegung zu der kriminalpolitischen Forderung geführt, mit der Anwendung der Freiheitsstrafe und ihres Vollzuges durch die Strafjustiz so sparsam wie möglich zu sein und statt dessen Straffolgen als Ersatz zu entwickeln, die zwar auch Beschränkungen der freien Betätigung des Verurteilten, aber nicht seine Internierung in einer Anstalt vorsehen. Auf diese Weise ist es zu einer Erweiterung des Anwendungsbereiches der Geldstrafe und zu einer Verfeinerung ihrer Zumessung und Vollstreckung gekommen (-> „Strafrechtsreform"); ferner zu der Entwicklung des Systems der Strafaussetzung zur Bewährung, das in verschiedenen Formen in der Welt sich eingebürgert hat (-> „Strafaussetzung zur Bewährung"). Die Möglichkeiten, die Freiheitsstrafe oder doch ihren Vollzug durch nichtinternierende, aber gleichwohl fühlbare strafartige Rechtsfolgen zu ersetzen, sind im sachlichen und prozessualen Kriminalrecht noch keineswegs voll ausgeschöpft. Hier liegt nach wie vor eine große Aufgabe sozialkonstruktiver K. Es wird aber wohl immer eine Gruppe von kriminell stark anfälligen Rechtsbrechern übrigbleiben, bei denen wenigstens zeitweise die Mittel einer ambulanten Behandlung nicht ausreichen und eine Internierung aus individualpräventiven Gründen nicht umgangen werden kann, unter denen zum Zeitpunkt der Verurteilung zunächst der der Sicherung durchaus im Vordergrund stehen kann und nicht selten steht, weil der Verurteilte wirklich sozialgefährlich für die Mitbürger ist. Für diese Gruppe von Personen entsteht für die K. die Frage: Wie kann der Vollzug der Internierung in der Strafanstalt oder in der Maßregel-Anstalt so gestaltet werden, daß die negativen Wirkungen der bisherigen Vollzugsformen auf die soziale Lebenstüchtigkeit des Gefangenen auf ein Mindestmaß herabgedrückt, ja vielleicht sogar durch positive ersetzt werden ? Der Stand unserer wissenschaftlichen Erkenntnis in der Kriminologie und in der Haftpsychologie erlaubt zwar zur Zeit einige sichere Einsichten darüber, wie man einen Gefangenen nicht behandeln und unterbringen soll, aber die Erkenntnis, welche Unterbringungsformen und Behandlungsmethoden an die Stelle der bisherigen zu setzen sind, ist noch sehr lückenhaft und ungesichert. Die Kriminologie hat viel in der Diagnose von kriminell anfälligen Täterpersönlichkeiten geleistet (-> „Kriminologie", „Kriminalbiologie", „Psychologie des Verbrechens", „Rückfall und Prognose", „Persönlichkeitsforschung"), aber eine Wissenschaft von der richtigen sozialpädagogischen Behandlung dieser Menschen ist erst im Anfang. Am intensivsten wird zur Zeit diese

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„Behandlungswissenschaft" wohl in England gefördert. Dort ist es bemerkenswerterweise die Gefängnisbehörde selbst, die eine ganze Reihe von Forschungsaufträgen in dieser Richtung an die britischen Universitäten gegeben hat und diese Untersuchungen nicht nur finanziell großzügig unterstützt, sondern auch den Forschern unbesorgt ungehinderten Zutritt zu allen Anstalten und zu allen einschlägigen Akten gibt. Auch im Bundesstrafvollzug der USA sind solche Forschungen durchgeführt worden oder doch geplant, desgleichen in Holland, Belgien, Frankreich, Dänemark, Schweden und Norwegen sowie Japan. In Deutschland ist man wissenschaftlich auf diesem Gebiet noch völlig am Anfang der Überlegungen. Wir besitzen aber in den Werken von Karl Peters und Gustav Nass über Kriminalpädagogik eine wertvolle Zusammenstellung unseres gegenwärtigen Wissensstandes, die die weitere Planung sehr erleichtern könnte. Die Reform des Strafvollzuges wäre einfach, wenn man nur das Gegenteil von dem zu tun brauchte, was die Kriminologie und die Sozialpädagogik an den bisherigen Vollzugsmethoden als falsch erkannt haben. In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg hat man in Deutschland vielerorts ganz naiv nach diesem Rezept eine Strafvollzugsreform versucht und erlebte die unvermeidliche Enttäuschung kriminalpolitischen Mißerfolgs. Heute weiß man, daß die Aufgabe der Reform sehr viel komplizierter ist. Es ist nicht mit Erleichterungen des alten repressiven Vollzuges getan, weil das gar nichts an der Verkehrtheit der Grundstruktur ändert. Gewiß ist mit solchen Erleichterungen die Widernatürlichkeit strenger Haft gemildert worden, aber die Gefangenen werden weiter im Zustand nur passiven Lebens ohne eigene Verantwortung gehalten. In den großen Anstalten wird dadurch an dem Zustand, daß der einzelne Gefangene in der Anonymität der Masse verschwindet und leicht, wenn er will, verschwinden kann, nicht das geringste geändert. Die Reform des Vollzuges muß also an diesen für den heutigen Strafvollzug immer noch bezeichnenden Situationen ansetzen, wenn die depravierenden Wirkungen auf die Entwicklung der Persönlichkeit des Gefangenen ausgeschaltet werden sollen. Das bedeutet die Suche nach Vollzugsformen, die das Leben des Gefangenen in der Strafanstalt aktivieren, die ihm reale, wertvolle Aufgaben stellen, welche sein Willensleben und den rechten Umgang mit den Mitmenschen trainieren. Das bedeutet einen Vollzug, der Werte anbietet in der Hoffnung, daß sie doch von vielen Gefangenen als solche — oft erstmals — erlebt und in ihre weitere Lebensführung eingebaut werden. Ein nach solchen Prinzipien gestalteter Vollzug verstärkt nicht mehr die Charakterschwächen weiter, die den Gefangenen auf den Weg der Kriminalität geführt haben, sondern packt ihn gerade an diesen

schwachen Seiten an. Es gibt über einen solchen Vollzug, soweit er in manchen Anstalten des Inund Auslandes über längere Zeit praktiziert wurde, schon die eindeutige Erfahrung, daß er gerade von den kriminell anfälligen Gefangenen als viel schwerer, da anstrengender, empfunden wird als der alte repressive VergeltungsVollzug, weil jener ihren Schwächen hart zusetzt, statt sie wie dieser unwillkürlich zu kultivieren. Diese Erfahrungen mit dem neuen Vollzug liegen auch und gerade aus den Anstalten vor, die in ihrer äußeren Gestaltung als „offene Anstalten" zu bezeichnen sind. Ein solcher Vollzug verlangt allerdings auch von den Beamten eine hohe geistige Anstrengung und Gewandtheit in der Kunst der Menschenfiihrung und in den Methoden moderner Erwachsenenbildung und in den Jugensstrafanstalten Ausbildung in der Pädagogik der Reifezeit. Das verlangt eine hochqualifizierte Ausbildung auf den verschiedenen Gebieten der Menschenkunde und eine dementsprechende Hebung der Stellung der Strafvollzugsbeamten mit allen beamtenrechtlichen Konsequenzen. Der notwendige Umbau des Strafvollzuges, um ihn individualpräventiv effektiver zu machen als bisher, bedarf noch vieler Überlegungen, auch noch vieler Versuche, um weitere Erfahrungen zu sammeln. Bei diesen Überlegungen wird die Frage der richtigen Dosierung der einzelnen Vollzugsmaßnahmen eine wichtige Rolle spielen. Wie leicht schlägt im Vollzug eine an sich positiv wirkende Einrichtung in völlig negative Wirkungen um, wenn sie nicht richtig dosiert ist! Das gilt bereits für die Festlegung der Größe der Anstalten, in denen von einer bestimmten Gefangenenzahl ab die Durchführung der sozialpädagogischen Prinzipien des Strafvollzuges nicht mehr möglich ist, weil die Gefangenen dann nur noch als Masse angesprochen und behandelt werden können. Das gilt für die richtige Befristung der Einzelhaft, die für den Eingangsvollzug und für kurzfristige Strafen eine Haftform von guter Wirkung sein kann, die aber bei zu langer Dauer die Sozialtüchtigkeit des Gefangenen rapide schwächt. Man ist sich heute im wesentlichen einig darüber, daß die neuen Prinzipien den Ersatz der alten Form der Gemeinschaftshaft — dieser „Lehrküchen" des Verbrechens — durch die nächtliche Isolierung des einzelnen Gefangenen in Zellen verlangen und während der Arbeit und in der Freizeit durch die Zusammenfassung in Gruppen unter der Leitung eines Beamten, der die Methoden der Gruppenpädagogik beherrscht. Auch bei der Bildung dieser Gruppen gibt es rasch eine bestimmte Zahl der Mitglieder, bei deren Überschreitung wieder das Phänomen der defensiven Massenmoral auftritt, das jede positive Einwirkungsmöglichkeit für die Beamten äußerst erschwert. Auch

Kriminalpolitik bei der Frage der Zusammensetzung dieser Gruppen treten Dosierungsfragen auf, ζ. B. wieviel ausgesprochen charakteropathische Persönlichkeiten in einer solchen Gruppe verkraftet werden können. Die Beispiele könnten beliebig fortgesetzt werden; hier liegt noch ein weites Forschungs- und Experimentierfeld. Die aufgezeigten Probleme zeigen, daß jede Strafvollzugsreform auf falschem Wege ist, wenn sie versucht, das Problem nur von einem Punkt her zu kurieren. Die vielen hoffnungsvoll begonnenen Reformversuche in der Gefängnisgeschichte, die dann nach wenigen Jahren resigniert wieder abgebrochen werden mußten, sind auch an ihrer methodischen Einseitigkeit gescheitert. Die Einsicht, daß die Struktur des gesamten Vollzuges als solche verändert werden muß, verlangt ein gleichzeitiges Anpacken der Reform auf allen Gebieten des Vollzuges, wobei viele bewährte Einrichtungen keineswegs über Bord geworfen zu werden brauchen, sondern nur in den neuen Gesamtzusammenhang richtig eingestellt werden müssen. Im übrigen sei auf den Artikel „Strafvollzug" mit seinen Unterartikeln verwiesen. Ein besonderes Problem stellen kriminalpolitisch kriminell anfällige Personen dar, die sich in den allgemeinen Strafvollzug nicht einfügen und dann als hartnäckige „Störer" wirken, die auch mit den Disziplinarmöglichkeiten einer Anstalt nicht zur Einordnungsbereitschaft zu bringen sind. Diese Gefangenen gehören bei näherer Untersuchung zu den Persönlichkeiten, deren kriminelle Anfälligkeit wegen besonders liegender Bedingungen im allgemeinen Strafvollzug nicht zweckmäßig behandelt werden kann. Aus diesem Grunde ist als Maßregel die Einweisung in eine Suchtentziehungsanstalt für den Täterkreis entwickelt worden, dessen kriminelle Anfälligkeit mit dem Verfall in Alkoholismus oder eine andere Sucht zusammenhängt. Bei einem anderen Kreis von kriminell anfälligen Persönlichkeiten hat sich erwiesen, daß ihre Anfälligkeit mit seelischen Störungen zusammenhängt, die nur in einem psychiatrischen Krankenhaus behoben werden können. Hier hat eine Reihe von Rechtsordnungen dem Strafgericht die Möglichkeit gegeben, den Angeklagten in ein solches Krankenhaus einzuweisen, wenn anders seine soziale Gefährlichkeit nicht behoben werden kann (-> „Alkoholismus", „Sichernde Maßnahmen", „Strafrechtsreform"). Eine besonders schwierige Aufgabe ist für die K. in der ganzen Welt die Gruppe der kriminell Anfälligen, die, ohne psychotisch erkrankt zu sein, so abnorme Wesenszüge ihrer Persönlichkeit aufweisen, daß die allgemeinen sozialpädagogischen Einwirkungen diese Anfälligkeit nicht zu beheben oder zu verringern vermögen, sondern andere Wege gesucht werden müssen. Diese sind

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vorbildlich in den letzten Jahrzehnten in Dänemark und Holland in Spezialanstalten des Strafvollzuges entwickelt worden (-»- „Heilbehandlung", „Psychopathologie", „Rückfall und Prognose", „Sichernde Maßnahmen", „Strafrechtsreform"). Diese erheblich charakteropathischen Persönlichkeiten unter den kriminell stark Anfälligen sind fast ganz identisch mit den „gefährlichen Gewohnheitsverbrechern" bzw. „Hangtätern", vor denen man sich bis vor kurzem nicht anders zu schützen vermochte als durch die Internierung in der „Sicherungsverwahrung". In Dänemark hat sich bereits ergeben, daß durch die Einrichtung der Spezialanstalten für hartnäckig rückfällige charakteropathische Persönlichkeiten die gesetzlich ebenfalls vorgesehene Sicherungsverwahrung bei den Strafgerichten völlig außer Gebrauch gekommen ist. Die gleiche Entwicklung zeichnet sich in dem ehemals klassischen Land der Sicherungsverwahrung, England, ab (-*• „Sicherungsverwahrung" und „Strafrechtsreform"). Die Frage nach der Notwendigkeit von Sonderanstalten ist noch durchaus im Fluß. In dem Maß, in dem sich die in den Sonderanstalten entwickelten neuen Methoden der Gefangenenbehandlung auch als richtig für den allgemeinen Strafvollzug herausstellen sollten, könnten sich die Unterschiede zwischen den Methoden derart ausgleichen, daß sich eine Unterscheidung zwischen Regelvollzug und SpezialVollzug vielleicht einmal erübrigen wird und eine Anstaltsklassifikation als sozialpädagogisches Ordnungsprinzip im Rahmen des gesamten Strafvollzuges genügt. Die bisherigen Ausführungen betrafen nur das Problem der Individualprävention bei erwachsenen Rechtsbrechern. Von dem Gedanken der Individualprävention durch Erziehung als Grundprinzip ist das J u g e n d k r i m i n a l r e c h t seit dem ersten Jugendgerichtsgesetz von 1923 in Verbindung mit dem Jugendwohlfahrtsgesetz von 1924 getragen. Über die Entfaltung dieses Prinzips in diesem Rechtsbereich und über die damit verbundenen kriminalpolitischen Einsichten „Jugendstrafrecht", „Strafvollzug: -> Jugendstrafvollzug". Daß die stationäre Behandlung im Vollzug durch eine ambulante Nachbehandlung nach der Entlassung des Gefangenen in vielen Fällen gesichert werden muß, um dem Entlassenen zu helfen, die in den ersten Wochen und Monaten erfahrungsgemäß erhöhte Gefahr der Rückfälligkeit zu überwinden, ist eine gesicherte kriminalpolitische Einsicht. Sie verbietet, die Entlassenenfürsorge nur als ein karitatives Anhängsel an den Strafvollzug anzusehen, sondern vielmehr als eine ebenso wichtige individualpräventive Auf gab wie den Vollzug selbst. Die Entlassenenfürsorge muß daher schon während des Vollzuges vorbereitet werden, um in dem Zeitpunkt der Entlassung voll wirksam zu sein (-> „Straffälligenhilfe").

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Kriminalpolitik

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Kriminalpolitik

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KRIMINALPOLIZEI 1. Geschichtliche

Entwicklung

des

Begriffs

Der Begriff „Kriminalpolizei" ist weder gesetzlich festgelegt, noch läßt er sich aus den Materialien zu Gesetzentwürfen, die sich mit der Tätigkeit der Kriminalpolizei im einzelnen befassen, eindeutig entnehmen. Deshalb erscheint es notwendig, ihn historisch zu entwickeln. Das erfordert aber eine kurze Darstellung des Polizeibegriffs im allgemeinen, weil die Kriminalpolizei ihrem Ursprung nach ein Teil der gesamten Polizei ist. Unter dem Ausdruck Polizei, der aus dem griechischen politeia entstanden ist, verstand man im klassischen Altertum die gesamte stadtstaatliche Verwaltung. Da der Stadtstaat die Urzelle des Staates war, war stadtstaatliche Verwaltung gleichbedeutend mit Ordnung des gesamten Staatswesens. Das Mittelalter hielt an dieser Bedeutung im wesentlichen fest. Im 18. Jahrhundert machten sich einzelne Zweige der Staatsverwaltung (Justiz, Finanzen, auswärtige Angelegenheiten, Heer) selb-

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ständig. Die Bezeichnung Polizei galt seitdem nur noch für die innere Verwaltung. Im Zuge dieser Entwicklung gingen die Fürsten, Markgrafen und Landesherren allmählich immer mehr dazu über, den Magistraten und Patrimonialherren die Zuständigkeit in polizeilichen Angelegenheiten zu entziehen. Sie dehnten ihre Macht so weit aus, daß sie schließlich glaubten, auch für die allgemeine Wohlfahrt ihrer Untertanen, ja sogar ihre Glückseligkeit auf moralischem und religiösem Gebiet, verantwortlich zu sein. An diesem polizeistaatlichen Denken entzündete sich mit Beginn der Aufklärung der Widerstand des Bürgertums. Dieser Widerstand führte schließlich dazu, daß die Polizei im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 (ALR), und zwar in dem bekannten § 10 II 17, auf eine viel engere staatliche Tätigkeit als bisher beschränkt wurde. Nach dieser Vorschrift hatte sie „die nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publico oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen". Im 19. Jahrhundert war die Polizei ein Spiegelbild der politischen Kämpfe. Entgegen der einschränkenden Begriffsbestimmung des § 10 II 17 ALR wurde der Polizei nach dem Gesetz über die Polizeiverwaltung vom 11. 3.1850 (GS. S. 265) auch wieder die Wohlfahrtspflege als Aufgabengebiet zugewiesen. Erst durch das epochemachende Kreuzbergurteil des Preuß. Oberverwaltungsgerichts vom 14. 6.1882 (OVG 9, S. 353ff.) wurde in höchstrichterlicher Rechtsprechung festgestellt, daß sich die Zuständigkeit der Polizei gemäß dem noch geltenden § 10 II 17 ALR lediglich auf die Gefahrenabwehr und nicht auf die Wohlfahrtspflege zu erstrecken habe. Mit dieser Feststellung war gleichzeitig der Begriff der S i c h e r h e i t s polizei geprägt. Dieser Begriff der Sicherheitspolizei blieb bis zum Preußischen Polizeiverwaltungsgesetz vom 1. 6.1931 (GS. S. 77), das sich in seinem § 14 eng an die Formulierung des § 10 II 17 anlehnt, herrschend. Der Grundgedanke des § 14 PVG bestimmt auch heute das Handeln der Polizei in allen Ländern der Bundesrepublik, obschon er im Laufe der Zeit eine immer größere Einschränkung erfahren hat. Aus diesem kurzen Überblick über die geschichtliche Entwicklung des materiellen Polizeibegriffs ergibt sich, daß die Polizei ursprünglich eng mit der Kommunalverwaltung verbunden war. Daher erscheint es gerechtfertigt, der Entstehung des Begriffs einer speziellen Kriminalpolizei in den kommunalen Anfängen nachzuforschen. An dem Beispiel der Stadt Berlin, das entwicklungsgeschichtlich auch für viele andere Großstädte symptomatisch ist, soll versucht werden, diese Entstehungsgeschichte zu erläutern. Nach den ersten urkundlichen Unterlagen aus dem 13. Jahrhundert oblag in Berlin die Ver-

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Kriminalpolizei

waltung städtischer Angelegenheiten, zu denen auch die Handhabung der Polizei gehörte, dem von den Bürgern gewählten Stadtrat. Mit zunehmender Machtfülle der Landesherren wuchs deren Einfluß auf die städtische Verwaltung und damit auch auf die Polizei. Im Jahre 1713 wurde die erste staatliche Polizeitruppe geschaffen. Sog. Polizey-Ausreuter, die später (ab 1723) den Kriegsund Domänenkammern unterstanden, hatten die zahlreichen Vorschriften des Polizeistaates auf dem Gebiet der inneren Verwaltung zu überwachen. Seit 1742 (unter Friedrich II.) wurden die polizeilichen Aufgaben durch ein kollegial organisiertes Polizeidirektorium wahrgenommen, an dessen Spitze ein Polizeidirektor stand. Im Jahre 1799 wurde für Berlin die sog. Immediat-Kriminalkommission errichtet, die als ständige Deputation des Kammergerichts die Aufsicht über alle Kriminalgerichte der Stadt und auch über die Sparte der Polizei hatte, der die Verfolgung strafbarer Handlungen übertragen worden war. Die ImmediatKriminalkommission schuf sich im Laufe der Zeit aus Angehörigen der Polizei einen eigenen Ermittlungsapparat, der mit dem Polizeidirektorium nur noch lose verbunden und dessen rechtliche Stellung nie ganz klar war. Die Funktionen der ImmediatKriminalkommission wurden vom Jahre 1804 ab von der Kriminaldeputation des Stadtgerichts unter Leitung eines Stadtgerichtsdirektors ausgeübt. Die polizeilichen Ermittlungsbeamten, deren sich zunächst die Immediat-Kriminalkommission und danach die Kriminaldeputation des Stadtgerichts bedienten, können als Vorläufer einer sog. gerichtlichen Polizei, wie sie später in abgewandelter Form im Lande Baden eingerichtet wurde, angesehen werden. Nach den damaligen Verhältnissen war die Schaffung einer derartigen Gerichtspolizei nicht unzweckmäßig, und zwar deshalb, weil sie fast nur solche Straftaten zu bearbeiten hatte, die von örtlichen Tätern begangen worden waren, und die Polizei des Polizeidirektoriums über keinerlei kriminaltechnische Einrichtungen verfügte, während die ImmediatKriminalkommission und nachher die Kriminaldeputation des Stadtgerichts bereits einen kleinen kriminaltechrdschen Apparat hatte. Nach Einführung der Städteordnung von 1808 wurde die Polizei von der städtischen Verwaltung getrennt und verstaatlicht. Kammerdirektor Justus Gruner wurde zum ersten Polizeipräsidenten der staatlichen Polizeiverwaltung Berlin ernannt (1809). Der neue Polizeipräsident war von der Berliner Stadtverwaltung völlig unabhängig und unterstand unmittelbar dem Preußischen Minister des Innern. Ein beim Berliner Polizeipräsidium eingerichtetes „Sicherheitsbüro" kann als der Beginn der Berliner Kriminalpolizei angesehen werden. Im Jahre 1811 wurde die Sparte der Polizei, die bis dahin dem Stadtgericht angegliedert war, wieder in die Polizeiverwaltung Berlin zurückgegliedert.

Durch Kabinettsorder vom 16. 5.1830 wurde eine besondere Kriminalabteilung geschaffen, die jedoch bei der Erfüllung ihrer Dienstobliegenheiten auf die tatkräftige Unterstützung der Gendarmen und der Revierpolizei angewiesen war. „Um eine bessere Zentralisation, eine Vermehrung der kriminalpolizeilichen Kräfte sowie eine engere Verbindung zwischen Kriminalpolizei und Revierpolizei herbeizuführen", schlug Kriminalpolizeidirektor Stieber im Jahre 1852 die Schaffung einer Revierkriminalpolizei vor. Der damalige Polizeipräsident Hinckeldey erklärte sich mit diesem Vorschlag einverstanden mit dem Erfolg, daß aus jedem der 36 Polizeireviere ein geeigneter Schutzmann zur Kriminalpolizei abgestellt wurde. Das dienstliche Verhältnis zwischen der Revierkriminalpolizei und dem Vorsteher des Polizeireviers (in der Regel ein Polizeihauptmann) war durch eine besondere Dienstanweisung geregelt. Im Jahre 1879 wurde die Kriminalabteilung, die bis dahin haushaltsrechtlich noch der Schutzpolizei angeschlossen war, aus der uniformierten Polizei herausgelöst und dem Polizeipräsidenten unmittelbar unterstellt. Seit 1885 gliedert sich die Kriminalabteilung in Kriminalinspektionen und (inzwischen von der Schutzpolizei unabhängig gewordene) Revierkriminalpolizeien — eine Organisation, wie sie sich im Prinzip bis heute erhalten hat. Die Aufgaben der Berliner Kriminalpolizei, nämlich Vorbeugung und Verhütung strafbarer Handlungen, blieben spätestens seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts immer die gleichen, mag sie nun ihre gesetzliche Ermächtigung aus dem § 10 II 17 ALR, dem § 6 des Gesetzes über die Polizeiverwaltung vom 11. 3.1850 oder dem § 14 PVG vom 1. 6.1931 entnommen haben. Neben diesen landesgesetzlich geregelten Aufgaben der staatlichen Gefahrenabwehr hatte die Berliner Kriminalpolizei aber seit den Reichsjustizgesetzen (1879) auch noch die reichsrechtlich verankerte Pflicht, als Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung und Aufklärung strafbarer Handlungen mitzuwirken. Eine Definition des Begriffs Kriminalpolizei brachte jedoch auch die Strafprozeßordnung nicht. In den §§ 161, 163 und 189 StPO ist lediglich von „Behörden und Beamten des Polizeidienstes" die Rede. Da — mit gewissen Einschränkungen — die allgemeine Vollmacht der Kriminalpolizei zur Gefahrenabwehr und zur Erforschung und Aufklärung strafbarer Handlungen heute in allen Ländern der Bundesrepublik gilt, kann abschließend zu diesem Kapitel folgendes festgestellt werden: 1. Die Aufgaben der Kriminalpolizei wurden in ihren Anfängen — vorwiegend im Rahmen der kommunalen Polizeiverwaltung — durch die uniformierte Polizei wahrgenommen. Auf dem Lande wurde das System der sog. Einheitspolizei durch den Gendarmen verkörpert.

Kriminalpolizei 2. Mit der Spezialisierung des Verbrechertums, insbesondere durch Gaunerbanden, ergab sich die Notwendigkeit, auch die Polizei zu spezialisieren. Das führte in Berlin zur Einrichtung einer speziellen Gerichtspolizei bei der Immediat-Kriminalkommission und der Kriminaldeputation des Stadtgerichts, weiter einer Revierkriminalpolizei zunächst innerhalb der uniformierten Polizei. 3. Durch die Schaffung von Kriminalabteilungen (in Berlin 1830), die später (in Berlin 1879) aus der uniformierten Polizei herausgelöst wurden, und durch die Einrichtung von Kriminalinspektionen und eigenständigen Revierkriminalpolizeien unter einem gemeinsamen staatlichen Polizeiverwalter wurde eine Verselbständigung der Kriminalpolizei angebahnt, die in den 20 er Jahren des 20. Jahrhunderts zur Bildung von Landeskriminalpolizeien führte. Der h i s t o r i s c h e R ü c k b l i c k zeigt, daß sich die Kriminalpolizei auf tatsächlicher Ebene zu einem immer festeren Gefüge entwickelt hat. Ihrer Aufgabenstellung nach gehört die Kriminalpolizei — zum Unterschied von der Ordnungspolizei (uniformierten Polizei) •— zur Sicherheitspolizei. Die Verwaltungspolizei, die ebenfalls sicherheitspolizeiliche Aufgaben zu erfüllen hat, hat durch den von den Besatzungsmächten eingeleiteten Zug zur „Entpolizeilichung", d. h. der Übertragung von verwaltungspolizeilichen Aufgaben (darunter auch das für die Kriminalpolizei so wichtige Einwohner· und Fremdenmeldewesen) auf die Ordnungsbehörden, wesentlich an Bedeutung verloren. (Auf die Stadtstaaten Berlin und Bremen trifft dies jedoch nicht zu.) Nach ihrem gesetzlichen Auftrag übt die Kriminalpolizei eine Doppelfunktion aus, die sich kurz mit „präventiver und repressiver Verbrechensbekämpfung" umschreiben läßt. Soweit sie auf landesgesetzlicher Grundlage tätig wird, leitet sie ihre Befugnisse aus der ihr verliehenen Generalvollmacht ab; soweit sie auf Grund reichs(bundes-)gesetzlicher Ermächtigung ihre Aufgaben erfüllt, ist für sie vor allem die Strafprozeßordnung maßgebend. Die Generalvollmacht kann jedoch nicht dazu benutzt werden, um die Verfolgung begangener strafbarer Handlungen durch die Kriminalpolizei zu rechtfertigen (Hagemann). Die Gefahren, zu deren Abwehr die Polizei berufen ist, müssen drohen, d. h. bevorstehen. Eine drohende Gefahr kann aber nicht (auch nicht unter Berufung auf eine Wiederholungsgefahr) bei bereits begangenen Delikten gesetzlich begründet werden, es sei denn, daß im Einzelfall die Wiederherstellung der gestörten Rechtsordnung das Tätigwerden der Polizei dringend erfordert. R o s c h e r : Großstadtpolizei. 1912. S t i e b e r - S c h n e i c k e r t : Praktisches Lehrbuch der Kriminalpolizei unter besonderer Berücksichtigung der Kriminologie und Kriminaltaktik. 1921. K l a u s e n e r : Die Kriminalpolizei im Polizeiverwaltungfigesetz. Krim. 1 (1932), S. 1.

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2. Entwicklung der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung seit den Reichsjusiizgesetzen (1879) Als die Strafprozeßordnung vor mehr als 85 Jahren in Kraft trat, gab es eine Kriminalpolizei im heutigen Sinne noch nicht. Um so erstaunlicher ist es, daß der damalige Gesetzgeber in dem § 163 StPO eine Bestimmung geschaffen hat, die sich bis heute als eine sehr brauchbare Rechtsgrundlage für die strafverfolgende Tätigkeit der Kriminalpolizei erwiesen hat. Während aber die Stärke der Justiz in ihrer Statik zu sehen ist, liegt sie bei der Kriminalpolizei in ihrer Dynamik. Das beweist die tatsächliche Entwicklung, welche die Kriminalpolizei seit dem Inkrafttreten der Strafprozeßordnung genommen hat. Solange die Kriminalpolizei sich ausschließlich mit ortsgebundenen Tätern zu befassen hatte, bestand für die Schaffung von besonderen kriminalpolizeilichen Einrichtungen zur Ermittlung und Überführung eines Rechtsbrechers kein Bedürfnis. Das änderte sich jedoch schlagartig, als die Massierung der Bevölkerung in den Großstädten ein beunruhigendes Ansteigen der Kriminalität mit sich brachte und der Verbrecher sich unter Ausnutzung der Errungenschaften von Technik und Verkehr mit speziellen Arbeitsweisen und auch überörtlich betätigte. Da nach kriminalpolizeilicher Erfahrung der Verbrecher das kriminalpolizeiliche Handeln, d. h. die Taktik und die Technik des kriminalpolizeilichen Vorgehens, bestimmt, mußte die Kriminalpolizei nach Mitteln und Wegen suchen, um den Vorsprung des Verbrechers nicht zu groß werden zu lassen. Das führte zwangsläufig zu einer Spezialisierung der Kriminalpolizei. Die ersten Auswirkungen einer Spezialisierung zeigten sich auf dem Gebiet A. der P e r s o n e n - u n d S a c h f a h n d u n g Nachdem sich bereits vor Erlaß der Reichsjustizgesetze die sog. „Gaunerlisten" und die Listen der Berliner Immediat-Kriminalkomission bzw. der Kriminaldeputation des Stadtgerichts Berlin sowie der Berliner Kriminalpolizei über unentdeckte Verbrechen, gestohlene Sachen, verdächtige Personen, Festungs- und Zuchthausinsassen, Personen unter Polizeiaufsicht, Prostituierte, Bettler, Hausierer, Landstreicher usw. auf vorwiegend örtlicher Ebene gut bewährt hatten, ging man mit der Fortentwicklung der Methoden

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Kriminalpolizei

des Verbrechertums allmählich dazu über, diese Hilfsmittel auf Orts-, Landes- und später Bundesebene weiter auszubauen. Das führte im Verlauf der Zeit 1. a u f ö r t l i c h e r E b e n e a) zur Bildung von Spezialdienststellen — den Fahndungskommissariaten —, b) zur ständigen Einrichtung von Fahndungsstreifen, c) zur formlosen Überwachung des ortsansässigen Berufs- und Gewohnheitsverbrechertums, d) zur Herausgabe von örtlichen Nachrichtenblättern, Sachfahndungsnachweisen usw., e) zur Unterhaltung von Personen- und Sachfahndungskarteien; 2. a u f L a n d e s e b e n e a) zur Herausgabe von Landeskriminalblättern und Sachfahndungsnachweisen, b) zur Unterhaltung von Personen- und Sachfahndungskarteien; 3. auf B u n d e s e b e n e a) zur Herausgabe des Deutschen Fahndungsbuches (Festnahmen — Aufenthaltsermittlungen) und des Deutschen Sachfahndungsnachweises — Kraftfahrzeuge — sowie des Bundeskriminalblattes, b) zur Unterhaltung einer zentralen Personenfahndungs- und Sachfahndungskartei; 4. a l l g e m e i n zur Inanspruchnahme aller technischen Hilfsund Publikationsmittel, wie Funk, Bildfunk, Fernschreiber, Femsehen, Presse usw. für Fahndungszwecke ; B. der P e r s o n e n f e s t s t e l l u n g Das Personenfeststellungsverfahren dient der Feststellung der richtigen Personalien einer verdächtigen Person, die keine oder vermutlich falsche Ausweispapiere mit sich führt, und der Anerkennung dieser Person durch einwandfreie Auskunftspersonen. In den kriminalpolizeilichen Anfängen wurde die Personenfeststellung mit Hilfe des von dem Franzosen Alphonse Bertillon (1853—1914) ausgearbeiteten Personenbeschreibungsverfahrens (sog. „portrait parl6") und des gleichfalls von ihm erfundenen Körpermeßverfahrens (Anthropometric) durchgeführt. Als sich aber nach dem Diebstahl des Gemäldes der „Mona Lisa" aus dem Louvre in Paris (1911) ergab, daß ein am Tatort gesicherter Fingerabdruck, der vermutlich vom Täter herrührte, nicht klassifiziert werden konnte, entschloß man sich, dem Fingerabdruckwesen im Rahmen der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung mehr Bedeutung als bisher beizumessen. Es dauerte aber noch bis zum Tode von Bertillon, ehe der Internationale Polizeikongreß in Monaco (1914) die Folgerungen aus dieser Erkenntnis zog, um die Einführung der Daktyloskopie als ein brauchbares Mittel der Personenfeststellung (Zehn-

finger-Daktyloskopie) und der Identifizierung von Tatortfingerspuren (Einzelfinger-Daktyloskopie) allen auf dem Kongreß vertretenen Nationen zu empfehlen; C. des F i n g e r a b d r u c k w e s e n s Die Daktyloskopie, die als Identifizierungsmittel bereits bei den Assyrern und Babyloniern (2200 v. Chr.) und seit der Tang-Dynastie (618 bis 906 n. Chr.) bei den Chinesen sowie bei den Japanern seit 720 n. Chr. bekannt war und deren Entwicklung in Europa durch Namen wie Malpighius, Purkinje, Welker, Faulds, Herschel, Eber, Galton, Henry, Vucetich und Heindl gekennzeichnet wird, ist heute in der ganzen Welt als ein polizeiliches Identifizierungsmittel von hohem Rang anerkannt. Daran können auch die gelegentlichen (meist sensationell aufgemachten) Presseveröffentlichungen, in denen der Beweiswert der Daktyloskopie angezweifelt wird, nichts ändern. Bisher ist es noch immer gelungen, solche Veröffentlichungen leicht zu widerlegen. Die beiden Grundtatsachen der Daktyloskopie, wonach jeder Mensch andere individuelle PapiÜarleistenbilder hat, die nicht vererblich sind und die von der Geburt bis zum Tode (Auflösung des Körpers) konstant, d. h. von Natur aus unveränderlich, sind, konnten bis heute nicht erschüttert werden; D. der K r i m i n a l t e c h n i k Der Begriff „Kriminaltechnik" ist nicht eindeutig geklärt. Μ. E. ist die Kriminaltechnik ein Teilgebiet der Kriminalistik, d. h. der Technik und Taktik der Verbrechensaufklärung. In diesem Rahmen hat sie die Aufgabe, mit naturwissenschaftlichen Methoden und unter Ausnutzung moderner technischer Hilfsmittel sachliche Beweise und Spuren zu untersuchen und zu bewerten und damit zur Feststellung des objektiven Sachverhalts beizutragen. Ermittlungsbeamter und Kriminaltechniker haben Hand in Hand zu arbeiten, um den Schuldigen zu überführen und den Unschuldigen zu entlasten. Die Kriminaltechnik ist jedoch nur an den sog. materiellen (physischen) Spuren interessiert, während die sog. immateriellen (psychischen) Spuren in erster Linie für die Aussagepsychologie von Wert sind. Materielle Spuren können mechanischer, chemischer, physikalischer, biologischer oder medizinischer Art sein. Nach dieser Erkenntnis haben die kriminaltechnischen Untersuchungsstellen der Kriminalpolizei in den Ländern der Bundesrepublik und die Abteilung „Kriminaltechnik" des Bundeskriminalamtes auch ihre Aufgabengebiete aufgegliedert; E. der N a c h r i c h t e n s a m m l u n g wertung

und

-aus-

Das Kernstück der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung ist die kriminalpolizeiliche Nachrichtensammlung und -auswertung. Die kri-

Kriminalpolizei minalpolizeiliche Nachiichtensammlung und -auswertung beruht auf der Erfahrungstatsache, daß vor allem der Berufs- und Gewohnheitsverbrecher bei der VerÜbung seiner Straftaten das Bestreben hat, die einmal erprobte Arbeitsweise immer wieder anzuwenden. Worauf dieses Phänomen zurückzuführen ist, braucht in diesem Zusammenhang nicht näher untersucht zu werden. Hier genügt es lediglich festzustellen, daß die Erkenntnis, wonach der Verbrecher im allgemeinen seiner bewährten Arbeitstechnik treu bleibt und ihr dadurch schließlich zum Opfer fallen muß, in allen fortschrittlichen Ländern der Welt zu einem wohldurchdachten kriminalpolizeilichen Nachrichtendienst geführt hat. Nach diesem System wird auf Grund von Tatbeschreibungen, die an kriminalpolizeiliche Zentralstellen nach einem bestimmten Vordruck gemeldet werden, nach Tatausführungen ähnlicher Art geforscht; die bereits nach ihrem modus operandi registrierten Straftaten von bekannten Tätern werden dabei mit Meldungen über Straftaten unbekannter Täter verglichen. Die Vergleichsarbeit dient bei erfolgreicher Auswertung zu Hinweisen auf Tatzusammenhänge mit Taten noch unbekannter Täter oder zu Hinweisen auf bekannte Täter. Auch läßt sich nach dieser Vergleichsarbeit der mutmaßliche Reiseweg eines zunächst noch unbekannten Täters bestimmen. Das beschriebene Auswertungsprinzip ist heute international anerkannt. Aus dieser gedrängten Übersicht über einige von der Kriminalpolizei entwickelte Möglichkeiten zur Intensivierung der Verbrechensbekämpfung ergibt sich, daß der äußere Anlaß zu ihrer Entwicklung im repressiven Bereich liegt, ihr wesentlicher Gehalt und ihre Wirkung jedoch vornehmlich im präventiven Bereich verankert sind. Mit der Aufklärung einer strafbaren Handlung durch die Kriminalpolizei ist in der Mehrzahl aller Fälle dem Prozeßinteresse vom Standpunkt individueller Strafrechtspflege aus Genüge getan, während das Polizeiinteresse in der gleichen Sache fortbestehen kann und nicht selten sogar muß. Nach § 154 StPO braucht der Staatsanwalt unwesentliche Nebendelikte nicht zu verfolgen, wenn es ihm auf eine straffe Konzentration der Ermittlungen ankommt, wohingegen die Kriminalpolizei auch in diesen Fällen auf Grund ihres Generalauftrages, ζ. B . bei Eigentumsdelikten, zur Wiederherbeischaffung des Stehlgutes im Interesse des geschädigten Eigentümers verpflichtet bleibt. In den Kommissariaten, die mit der Bearbeitung von Mord- und Totschlagsdelikten beauftragt sind, werden nicht nur diese Fälle bearbeitet, sondern alle „Todesermittlungssachen", einmal weil sich zu Beginn der Ermittlungen vielfach nicht eindeutig feststellen läßt, ob ein Todesfall auf Unfall, Selbstmord oder Verbrechen zurückzuführen ist, und zum anderen, weil die Öffentlichkeit einen

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Anspruch darauf hat, daß auch die nicht-kriminellen Fälle einwandfrei geklärt werden. Aus diesem Grunde ist auch die Fahndung nach Vermieten und die Identifizierung von unbekannten Toten eine typisch polizeiliche Aufgabe. B e i der Bekämpfung von Brandstiftungsdelikten beschreiten Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei nur so lange einen gemeinsamen Weg, als es um die Aufklärung in einem einzelnen Fall geht. Soweit jedoch die Erforschung der Brandursachen zum Zwecke einer zukünftigen Verhinderung von Bränden in Betracht kommt (auch wenn es sich nicht um den Verdacht einer strafbaren Handlung handelt), geht die Kriminalpolizei ihren Weg allein. Auf dem Gebiet der Bekämpfung von Glücks- und Falschspiel darf nach § 33 d der Gewerbeordnung die Erlaubnis der Ortspolizeibehörde zur Veranstaltung eines im Einzelfall beschriebenen Spieles nur erteilt werden, wenn der Veranstalter im Besitz einer vom Bundeskriminalamt ausgestellten Unbedenklichkeitsbescheinigung ist. Mit dieser Regelung soll der Spieltrieb nicht unterbunden werden (was übrigens gar nicht möglich wäre), sondern lediglich in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Bei der vorbeugenden Bekämpfung der Betrugsdelikte ist die Kriminalpolizei bestrebt, die äußeren Ursachen, die dem Betrüger sein Treiben bisher so leicht gemacht haben, zu beseitigen, d. h. vor allem, die Geneigtheit des Publikums, sich täuschen zu lassen, zu verringern. Dies geschieht nach den bisher gemachten Erfahrungen am besten durch Aufklärung des Publikums. Presse, Rundfunk, Fernsehen und gemeinnützige Verbände können hierbei wertvolle Mitarbeit leisten. Komplexe Erscheinungen, die durch den Gesetzgeber noch nicht erfaßt werden können, weil sie seitens der Kriminologie noch nicht genügend durchforscht sind, wie ζ. B . die sog. „Weiße-Kragen-Kriminalität", werden durch die Kriminalpolizei mit Tatsachenmaterial „belegt", wodurch die Gefahrenherde als solche wenigstens erkannt werden können. Auch auf dem Gebiet der Bekämpfung der Sittlichkeitsdelikte (ζ. B . bei der Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur, des Strichjungenunwesens, der Verhinderung von Auswüchsen durch die Prostitution, der Abwehr von Gefahren, die vornehmlich Kindern drohen, der Erfassung von Triebverirrungen, die strafrechtlich nicht relevant sind) hat die Kriminalpolizei wesentliche Aufgaben vorbeugender Art zu erfüllen. Die Entwicklung der Jugendkriminalität und Jugend Verwahrlosung, die Einbeziehung der Heranwachsenden in den Anwendungsbereich des neuen Jugendgerichtsgesetzes und die Einführung der Bewährungshilfe haben die Kriminalpolizei ebenfalls vor neue Probleme gestellt. Die Jugend, entsprechend dem ihr zukommenden körperlich-seelischen Reifungsgrad, d. h. jugendgemäß, zu behandeln, ist eine Aufgabe, die nur solchen Kräften anvertraut

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werden kann, die auch sozialpädagogisch und sozialpsychologisch besonders geschult sind. Das ist aber bei den Kräften der Weiblichen Kriminalpolizei und den Jugendsachbearbeitern der Kriminalpolizei der Fall. Ihre Bemühungen erstrecken sich in erster Linie darauf, die Gestrauchelten vor weiteren strafbaren Handlungen und (soweit es sich um weibliche Jugendliche handelt) vor dem Abgleiten in die Prostitution und anderen Schäden zu bewahren, die sich aus Veranlagung, Entwicklungsschwierigkeiten und Umwelteinflüssen ergeben. Diese aufbauende polizeiliche Tätigkeit ist vom Menschlichen her gesehen besonders reizvoll und befriedigend, vor allem deshalb, weil von der ersten Begegnung eines jugendlichen Rechtsbrechers mit der Polizei oft die Gestaltung seines ganzen ferneren Lebens abhängt. Mit Hilfe der Polizeilichen Kriminalstatistik versucht die Kriminalpolizei, einen Überblick über Stand und Bewegung der Kriminalität zu geben, um dadurch u. a. den hierfür in Betracht kommenden Stellen die Möglichkeit zu verschaffen, aus den statistischen Angaben Schlußfolgerungen prophylaktischer Art zu ziehen. Mit der Einrichtung von Beratungsstellen über Betrugsabwehr, Diebstahlsverhütung usw. verfolgt die Kriminalpolizei den Zweck, die Gelegenheiten zur Begehung solcher Straftaten zu vermindern, ζ. B. durch Warnung vor Hochstaplern und Heiratsbetrügern, durch die Empfehlung von technischen Sicherungen (kombinierte Lenksäulen· und Zündschloßvorrichtungen) beim Betrieb eines Kraftfahrzeuges u. a. m. Zeiterscheinungen, wie sie sich bis 1957 in den sog. „Ringund Sparvereinen" (Organisierte Unterwelt) verkörperten, bedürfen ebenfalls einer ständigen aufmerksamen Beobachtung durch die Kriminalpolizei, damit sich nicht unterirdisch Gefahrenherde bilden, die eines Tages zu einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Sicherheit werden können. Eine besonders wichtige vorbeugende Tätigkeit ist für die Kriminalpolizei nach dem Entwurf eines Strafgesetzbuches (Entwurf 1962) vorgesehen. Um vor allem Hangtäter und angehende Hangtäter von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten, soll eine Überwachungsbehörde damit beauftragt werden, die Lebensführung eines Verurteilten in Freiheit sowie die Erfüllung der ihm erteilten Weisungen zu überwachen (sog. Sicherungsaufsicht). In den Fällen, in denen nach der Person des Täters die Sicherungsaufgabe überwiegt, soll nach Auffassung der Großen Strafrechtskommission die Aufgabe der Überwachung von der Kriminalpolizei wirksamer gemeistert werden können als von einem Bewährungshelfer. Damit sei allerdings nicht gesagt, daß die Kriminalpolizei dem Verurteilten in seinem Bemühen, ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu führen, nicht auch Helfer sein sollte. Die zuletzt erwähnte Aufgabe, die der Kriminalpolizei de lege ferenda zufallen soll, läßt erkennen,

daß sich (auch in der kriminalpolizeilichen Praxis) das Schwergewicht von der V e r b r e c h e n s bekämpfung immer mehr auf die V e r b r e c h e r bekämpfung verlagert. Das setzt in den hierfür in Betracht kommenden Fällen voraus, daß sich die Kriminalpolizei (noch gründlicher als bisher) mit der Erforschung der Täterpersönlichkeit befaßt. Nach geltendem Recht sind schon im Vorverfahren alle Umstände zu klären, die ζ. B. für die Entscheidung über die Kennzeichnung des Täters als eines gefährlichen Gewohnheitsverbrechers von Bedeutung sind (§ 160 StPO). An dieser Entscheidung wird die Kriminalpolizei in Zukunft, wenn es um die Beurteilung eines Hangtäters geht, gegen den die Sicherungsverwahrung angeordnet werden soll, wesentlich mitzuwirken haben. Ihr sind die Persönlichkeit des Täters, seine Arbeitsweise, seine häuslichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, sein Umgang, seine besonderen Schwierigkeiten und seine individuellen Eigenarten am besten bekannt. Über Verbrechermentalität und Verbrechermilieu wird sie daher gute Auskünfte geben können. Um aber als polizeilicher Sachverständiger vor Gericht auftreten zu können, muß der Kriminalbeamte eine zusätzliche Spezialausbildung durchlaufen, in der er auf kriminalbiologischem, -psychologischem, -soziologischem, sozialpädagogischem und kriminalpolitischem Gebiet besondere Kenntnisse nachzuweisen hat. Die kriminalbiologische und -psychologische Diagnose und Prognose der Täterpersönlichkeit muß selbstverständlich in erster Linie dem medizinisch-psychiatrischen und psychologischen Sachverständigen vorbehalten bleiben. Der Spezialsachbearbeiter der Kriminalpolizei in Vorbeugungssachen sollte — wenn es um die Sicherungsaufsicht geht — seine Vorschläge zur Überwachung des Verurteilten so individuell und so konkret wie möglich machen. Auflagen, die sich nicht überwachen lassen, sollten nicht befürwortet werden. Mit anderen Stellen, die sich mit der Persönlichkeitserforschung des zu Überwachenden befassen (ζ. B. Strafanstalten), müßte enger Kontakt herbeigeführt werden. Die Kontrolle der Einhaltung der Weisungen sollte so vorsichtig durchgeführt werden, daß dem Überwachten nach Möglichkeit keine persönlichen Nachteile (ζ. B. Kündigung der Wohnung, Verlust des Arbeitsplatzes) entstehen. Soweit der zu Überwachende resozialisierbar ist, müßten alle Anstrengungen gemacht werden, um ihn wieder in die Gemeinschaft einzugliedern. Aus dem bisher Gesagten folgt, daß auch bei der Kriminalpolizei der Grundsatz: „Vorbeugen ist besser als Heilen" gilt. Darüber hinaus versucht die Kriminalpolizei noch, durch ihre Beiträge zur „Latenz der Straftaten" das Dunkel um die nicht entdeckte Kriminalität, die nur zu einem ganz geringen Teil durch Zufallsentdeckungen be-

Kriminalpolizei kannt wird, aufzuhellen und ein kriminologisch bisher sehr stiefmütterlich behandeltes Gebiet zu erschließen, wodurch sich für die Vorbeugung wahrscheinlich noch bessere Möglichkeiten ergeben könnten. Repressive und präventive kriminalpolizeiliche Verbrechensbekämpfung sind — wie dieser kurze Überblick gezeigt haben dürfte — so eng miteinander verbunden, daß man sie praktisch als unteilbar bezeichnen muß. Es kann daher nicht dringend genug davor gewarnt werden, diese historisch begründete Einheit zu zerstören. Die Aufgabe der Kriminalpolizei kann nun einmal nicht — wie dies Eb. Schmidt will — nur justitiell gesehen werden. Ebenso verkehrt wäre es natürlich, die kriminalpolizeiliche Verbrechensbekämpfung ausschließlich nach dem Zweckgedanken (Ordnungs- und Sicherheitsgedanken) auszurichten. Zwischen dem Zweckdenken und dem Rechtsdenken braucht aber in Wirklichkeit kein Widerspruch zu bestehen. Sie müssen sich nur harmonisch ergänzen. Für diesen harmonischen Ausgleich zu sorgen, ist aber der Sinn und Zweck einer jeden staatlichen Macht, die im Dienste der Gerechtigkeit steht. W e i ß : 25 Jahre Kriminalpolizei. Pol. (1928) S. 209. B ö h m e : Um die Zukunft der Kriminalpolizei. Pol. (1933) 8.10. H a g e m a n n : Kriminalpolizei. HwbKrim. 1. Aufl. Bd. I (1933) S. 871. L e i b e r : Künftige Organisation der Kriminalpolizei. Krim. 9/10 (1952) S. 97; 11/12 (1952) S. 121. P i o c h : Das Polizeirecht einschließlich der Polizeiorganieation. 2. verm. Aufl.; = Grundriß des Verwaltungsrechts. Beihe B, Verfassungs- und Verwaltungsrecht. Bd. 25 (1952). Z i r p i n s : Die Entwicklung der polizeilichen Verbrechensbekämpfung in Deutschland. 1955. N i g g e m e y e r : in Schriftenreihe des Bundeskriminalamtes (BKA) „Probleme der Polizeiaufsicht (Sicherungsaufsicht)" (1955/3) S. 81. D e r s . : in: Vortragsreihe des BKA über „Bekämpfung von Rauschgiftdelikten (1956) S. 7. D e r s . : Begriff und Aufgaben der Kriminaltechnik: in: Vortragsreihe des BKA über „Grundfragen der Kriminaltechnik" (1958) S. 7. Εb. S c h m i d t : Probleme der Struktur des Strafverfahrens unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten. I)RZ (1959) S. 16.

3. Die Organisation der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung Ms zum, Zusammenbruch Die Organisation der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung richtet sich ·— ebenso wie das kriminalpolizeiliche Vorgehen im Einzelfall — in erster Linie nach den Notwendigkeiten, die der Kriminalpolizei durch den Verbrecher aufgezwungen werden. Unter diesem Blickwinkel stellte sich die örtliche Gebundenheit der Kriminalpolizei sehr bald als ein empfindlicher Mangel heraus. Am Beispiel des Landes Baden läßt sich das anschaulich darstellen. Die Kriminalpolizei in Baden wurde durch landesherrliche Verordnung vom 7. 7.1879 fachlich unmittelbar der Staatsanwaltschaft unter-

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stellt. Diese enge Verbindung mit der Staatsanwaltschaft kam auch darin zum Ausdruck, daß sie räumlich im Dienstgebäude der Staatsanwaltschaft untergebracht war. In personeller und disziplinarrechtlicher Beziehung unterstand sie jedoch dem zuständigen Polizeiverwalter. Ermittlungstechnisch hatte sie im Auftrag der Staatsanwaltschaft die im Dienstbereich der Staatsanwaltschaft bekannt werdenden Verbrechen und Vergehen aufzuklären und zu verfolgen. Die Organisation ging auf ein französisches Vorbild zurück und stellte eine Art „police judiciaire" dar, wie wir sie bereits bei der Immediat-Krimnialkommission des Kammergerichts und später der Kriminaldeputation des Stadtgerichts in Berlin hatten. Als die Notwendigkeit einer überörtlichen Fahndung und Sachbearbeitung jedoch immer zwingender wurde, richtete man im Jahre 1902 in allen Städten Badens mit staatlicher Polizei sog. Fahndungsabteilungen ein, die im Gegensatz zur staatsanwaltschaftlichen Kriminalpolizei der fachlichen Weisungsbefugnis des jeweiligen örtlichen Polizeiverwalters unterstanden. Das Nebeneinander dieser örtlichen und überörtlichen Organisation verlagerte sich noch mehr zu Ungunsten der staatsanwaltschaftlichen Kriminalpolizei, als nach dem ersten Weltkrieg (1918) bei den Polizeibehörden erkennungsdienstliche und kriminaltechnische Einrichtungen geschaffen wurden, deren sich die Staatsanwaltschaft nur im Wege der Amtshilfe bedienen konnte. Mit der Errichtung des Badischen Landeskriminalamtes in Karlsruhe (1922) wurde der Zustand immer kritischer. Es dauerte jedoch noch Jahre, bis man diese „Zweispurigkeit" der kriminalpolizeilichen Organisation beseitigte. Außerhalb des Landes Baden war man der Organisation der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung gegenüber aufgeschlossener. So wurde bereits im Jahre 1897 auf der Polizeikonferenz in Berlin das Erfordernis eines ständigen kriminalpolizeilichen Nachrichtenaustauschs zwischen den deutschen Ländern und freien Städten klar erkannt. Im Jahre 1907 forderte die Internationale Kriminalistische Vereinigung (IKV) in Posen zum Zwecke der Intensivierung der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung eine Zentralisation des organisatorischen Aufbaus der Kriminalpolizei. Ausgehend von diesen Bestrebungen schuf der Dresdener Polizeipräsident Koettig im Jahre 1912 nach dem Vorbild der „mobilen Brigaden" in Frankreich eine mobile Landeskriminalpolizei, welche die zersplitterten Kräfte der Kriminalpolizei im Lande einte und nach einem einheitlichen Plan ausrichtete. In beschränktem Umfang, der wegen eines andersartigen Verwaltungsaufbaus begründet war, Schloß sich das Land Württemberg im Jahre

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1913/14 der sächsischen Regelung durch Errichtung einer Landespolizeizentrale an. Auf einer weiteren Polizeikonferenz in Berlin (1912) wurde in konkreter Form die Schaffung einer gemeinsamen deutschen kriminalpolizeilichen Nachrichtenzentrale erörtert. Eine Kommission aus Vertretern der größeren deutschen Länder wurde damit beauftragt, entsprechende Vorschläge auszuarbeiten. Der damalige Reichsminister und Abgeordnete Dr. Bell ging sogar einen Schritt weiter, indem er am 4 . 1 2 . 1 9 1 3 im Preußischen Abgeordnetenhaus die Reformierung der deutschen Kriminalpolizei im Sinne einer „Reichskriminalpolizei" als dringend erforderlich bezeichnete. Alle diese Bemühungen scheiterten jedoch am Ausbruch des ersten Weltkrieges. Nach dem Kriege wurde immer klarer, daß das überhand nehmende Verbrechertum mit der bisherigen Organisation der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung nicht mehr gemeistert werden konnte. Unter dem Eindruck der Ermordung der Reichsminister Erzberger und Rathenau griff daher das Reichsinnenministerium im Jahre 1922 den Gedanken des früheren Abgeordneten Dr. Bell aus dem Jahre 1913 wieder auf und schlug die Schaffung einer Reichskriminalpolizei vor mit dem Erfolg, daß das von dem Geheimen Legationsrat Dr. Robert Heindl ausgearbeitete Gesetz am 2 1 . 7 . 1 9 2 2 als R e i c h s k r i m i n a l p o l i z e i g e s e t z (RGBl. I 1922 S. 593) verkündet werden konnte. Das Kernstück des Gesetzes war die Zusammenarbeit zwischen Reich und Ländern auf dem Gebiet der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung und die Errichtung eines gemeinsamen Nachrichten- und Erkennungsdienstes. In Ausnahmefällen sollte das neu zu schaffende Reichskriminalpolizeiamt auch Exekutivbefugnisse haben, und zwar in den Fällen, in denen das Interesse des Reiches unmittelbar berührt war oder die Aufdeckung und Aufklärung einer Ermittlungssache sich über das Gebiet mehrerer Landeskriminalpolizeiämter erstreckte und eines der beteiligten Landeskriminalpolizeiämter um die Ermittlungen ersuchte. Obwohl das Gesetz verfassungsmäßig zustande gekommen war, versagten ihm einige Länder (Bayern, Sachsen) für ihr Gebiet die Geltung, weil sie darin einen Eingriff in ihre Landeshoheit erblickten. Der Widerstand dieser Länder bewirkte, daß das Reichskriminalpolizeigesetz nie in Kraft getreten ist. Dennoch war die Entwicklung nicht aufzuhalten. Wiederum war es das Land Sachsen, das sich die Grundgedanken der reichsrechtlichen Regelung zu eigen machte und am 1 . 1 0 . 1 9 2 2 seine Kriminalpolizei völlig neu organisierte und verstaatlichte. In Abweichung von dem im Jahre 1912 versuchsweise übernommenen System der „mobilen Brigaden", die noch der jeweiligen Staats-

anwaltschaft fachlich unterstellt waren, wurde jetzt das Landeskriminalamt die fachliche Spitze für alle Kriminaldienst verrichtenden Dienststellen im Lande. Die Neuorganisation der Kriminalpolizei in Sachsen wurde vorbildlich für die Regelung in allen anderen Bundesländern. Nach dem Muster des Freistaates Sachsen verstaatlichte im Jahre 1923 auch das Land Württemberg seine Kriminalpolizei. Durch Runderlaß des Preußischen Ministers des Innern vom 20. 5 . 1 9 2 5 wurde des weiteren in Preußen eine Landeskriminalpolizei geschaffen. Obschon mit dieser Neuregelung der kriminalpolizeilichen Organisation auf Landesebene schlagartig eine beachtliche Verbesserung der Verbrechensbekämpfung einherging, wurde die fehlende kriminalpolizeiliche Zusammenarbeit im Verkehr zwischen den Bundesländern und den Freien Städten, insbesondere bei der Bekämpfung des sog. reisenden Verbrechertums, weiter als ein schmerzlicher Mangel empfunden. Diesem Mangel abgeholfen zu haben, dürfte vor allem das Verdienst des Präsidenten des sächsischen Landeskriminalamtes Dr. Palitsch gewesen sein. Auf Veranlassung von Dr. Palitsch wurde vom 2 2 . — 2 4 . 6 . 1 9 2 5 in Karlsruhe eine Polizeikonferenz abgehalten, die sich vornehmlich mit Fragen der engeren Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Bundesländern auf dem Gebiet der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung sowie der Schaffung einheitlicher kriminalpolizeilicher Einrichtungen und Maßnahmen befaßte. Der Vorschlag von Dr. Palitsch, zur Herbeiführung dieser Zusammenarbeit eine „Deutsche Kriminalpolizeiliche Kommission ( D K K ) " aus Fachvertretern der Deutschen Länder und Freien Städte ins Leben zu rufen, wurde allgemein begrüßt und durch Beschluß angenommen. Die Gründung der D K K war, da die Länder eifersüchtig darüber wachten, daß ihre Polizeihoheit nicht beschnitten wurde, dringend notwendig, weil sonst die Probleme einer gemeinsamen Verbrechensbekämpfung wohl kaum in Angriff genommen worden wären. Eine derartige Initiative war weiter geboten, weil inzwischen in Wien (1923) die „Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission" zur Bekämpfung des internationalen Verbrechertums gegründet worden war und in Deutschland noch keine gleichartige Organisation „zur Systematisierung und Vereinheitlichung des Kampfes gegen das in Deutschland tätige schwere und reisende Verbrechertum" (Palitsch) zur Verfügung stand. Die D K K , die im Prinzip eine Arbeitsgemeinschaft der deutschen Kriminalfachleute war, hatte sich vori allem die Aufgabe gestellt, den Länderregierungen gutachtliche Vorschläge über zweckmäßige Einrichtungen und Maßnahmen zur erfolgreichen gemeinsamen Bekämpfung des überörtlichen Verbrechertums zu unterbreiten. Ein

Kriminalpolizei Länderausschuß aus Vertretern der größeren Bundesländer überprüfte die Vorschläge und leitete sie nach genereller Billigung, ggf. mit Änderungen und Zusätzen, an die Länderregierungen mit der Empfehlung um Annahme weiter. Die sanktionierten Vorschläge wurden dann von den gesetzgebenden Körperschaften oder Regierungen der Länder in Form eines Gesetzes oder einer Verwaltungsanordnung für verbindlich erklärt. Die Arbeit der DKK, die im allgemeinen sehr fruchtbar war, litt vor allem darunter, daß der Kreis der Delegierten oft zu groß war und daß die Vertreter der Länderregierungen nicht immer die Fachleute waren, die sie nach dem jeweiligen Diskussionsgegenstand hätten sein sollen. Auch war das eine oder andere Land nicht selten aus Prestigegründen genötigt, der Lösung von praktischen Fragen, die im Allgemeininteresse waren, die Zustimmung zu versagen. Dennoch hat die DKK in der Verfolgung ihrer Ziele für die Organisation der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung Beachtliches geleistet. Es braucht in diesem Zusammenhang nur an den allmählichen Aufbau eines einheitlichen kriminalpolizeilichen Nachrichten-, Erkennungsund Fahndungsdienstes erinnert zu werden, wenn auch bei der Errichtung dieser Zentralstellen noch manche Sonderinteressen der Länder berücksichtigt werden mußten. Alles in allem war die DKK jedoch eine Verlegenheitslösung, die zu keiner Zeit als wirklicher Ersatz für die fehlende deutsche Einheit auf dem Gebiet der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung angesprochen werden konnte. Unter diesen Umständen blieb es leider — zum Schaden der deutschen Kriminalpolizei — den nationalsozialistischen Machthabern vorbehalten, eine Entwicklung zu vollenden, die auch ohne sie unaufhaltsam gewesen wäre, indem sie nämlich in den Jahren 1936/37 „zur einheitlichen Zusammenfassung der polizeilichen Aufgaben im Reich" die zentral gesteuerte Reichskriminalpolizei schufen. Die Polizei, die bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung immer eine Hoheitsangelegenheit der Länder gewesen war, war nunmehr Reichsangelegenheit. Das Reichskriminalpolizeiamt wurde mit der Fachaufsicht über alle Kriminaldienst verrichtenden Dienststellen im Reich beauftragt. Es hatte vor allem die Aufgabe, die Zusammenarbeit zwischen allen Kriminalpolizeien im Reich zu fördern, für die Aus- und Weiterbildung der Kriminalbeamten zu sorgen, kriminalpolizeiliche Arbeitsergebnisse auszuwerten und zu diesem Zweck Reichszentralen (ζ. B. Reichserkennungsdienstzentrale, Reichszentrale zur Bekämpfung von Kapitalverbrechen, Reichszentrale zur Bekämpfung reisender und gewerbsmäßiger Einbrecher, Reichszentrale zur Bekämpfung reisender und gewerbsmäßiger Betrüger und Fälscher usw.) zu errichten und zu unterhalten. Für alle kriminal-

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technischen Untersuchungen und Begutachtungen wurde dem Reichskriminalpolizeiamt ein Kriminaltechnisches Institut (KTI) angegliedert (1939). Der Auslandsschriftverkehr der gesamten deutschen Kriminalpolizei war ebenfalls Sache des Reichskriminalpolizeiamtes. Seine Befugnisse erstreckten sich auch auf die Übernahme von Ermittlungen im gesamten Reichsgebiet. An die Stelle der bisherigen Landeskriminalpolizeiämter traten nach kriminalgeographischen Gesichtspunkten die Kriminalpolizeileitstellen. Diesen wiederum waren die Kriminalpolizeistellen und die örtlichen Kriminalabteilungen nachgeordnet. Die Funktion der Kriminalpolizeileitstelle war eine dreifache: innerhalb des Ortspolizeibezirks nahm sie die Aufgaben einer Kriminalabteilung wahr, innerhalb ihres Kriminalpolizeistellenbereichs die einer Kriminalpolizeistelle und innerhalb ihres Kriminalpolizeileitstellenbereichs die einer Kriminalpolizeileitstelle. So war ζ. B. die Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart für den Ortspolizeibezirk Stuttgart Kriminalabteilung, für den Kriminalpolizeistellenbereich Stuttgart Kriminalpolizeistelle und für die Kriminalpolizeistellen Karlsruhe, Ludwigshafen und Saarbrücken Kriminalpolizeileitstelle. Durch die Intensivierung des kriminalpolizeilichen Meldedienstes, des Fahndungs- und Erkennungsdienstes, die Einrichtung und Unterhaltung von Reichszentralen zur Bekämpfung bestimmter Delikte, die Angliederung eines kriminaltechnischen Instituts zur Untersuchung und Begutachtung von Beweisstücken und Spuren auf physikalischem, chemischem und sonstigen naturwissenschaftlichen Gebieten, die Übernahme der Bearbeitung von wichtigen überörtlichen Fällen durch besonders geschulte kriminalpolizeiliche Spezialsachbearbeiter sowie eine wohldurchdachte internationale Zusammenarbeit gelang es bald, die schwere Kriminalität erheblich zurückzudrängen. Die weitere organisatorische Entwicklung der Kriminalpolizei wurde vorwiegend durch politische Überlegungen bestimmt. So wurden durch Runderlaß vom 7. 9.1943 (nicht veröffentlicht) die Dienststellen der staatlichen und der Gemeinde-Kriminalpolizei von den Behörden der örtlichen Polizeiverwaltungen losgelöst und die Gemeindekriminalpolizeien abgeschafft sowie die haushaltsmäßige und personelle Betreuung der Kriminalpolizei dem Reichssicherheitshauptamt übertragen. Damit war die Kriminalpolizei zwar selbständig geworden, gleichzeitig aber auch eine durch Tradition begründete Verbindung mit der allgemeinen inneren Verwaltung jäh unterbrochen. Nicht richtig ist allerdings die Auffassung, die mitunter auch im Schrifttum vertreten wird, daß der Runderlaß vom 7. 9.1943 die Grenzen zwischen der kriminalpolizeilichen und staatspolizeilichen Tätig-

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keit verschoben habe. Kriminalpolizei und Staatspolizei blieben bis zum Zusammenbruch in ihren Zuständigkeitsbereichen völlig voneinander getrennt. Wenn man von der zuletzt geschilderten Fehlentwicklung absieht, dann läßt sich zusammenfassend zu diesem Kapitel folgendes sagen: Durch den Auf- und Ausbau von Landeskriminalpolizeien hörte das unproduktive Nebeneinanderarbeiten der verschiedenen örtlichen Kriminalpolizeien allmählich auf und wurde zunächst auf Landesebene durch eine sinnvolle und systematische Zusammenarbeit abgelöst. Durch die Zentralisation der kriminalpolizeilichen Aufgabe auf Reichsebene, die nach dem Willen der damaligen Machthaber bedauerlicherweise auch mit einer Zentralisation der personellen Organisation verquickt wurde, wurde die Kriminalpolizei im Kampf gegen das nicht bodenständige Verbrechertum, insbesondere den Berufs- und Gewohnheitsverbrecher, zu einem äußerst wirksamen Instrument der Verbrechensbekämpfung. Dies wurde auch im Ausland allgemein anerkannt. Außer den bereits erwähnten Vorteilen einer gemeinsamen Ausrichtung der kriminalpolizeilichen Tätigkeit auf Landes- und Reichsebene trugen die Schaffung einheitlicher Richtlinien für die kriminalpolizeiliche Arbeit, die einheitliche Ausbüdung der Kriminalbeamten, die Erarbeitung neuer Methoden der Verbrechensbekämpfung, die Auswertung der polizeilichen Kriminalstatistik, die kriminalwissenschaftliche Forschung u.v.a.m. zu einer erheblichen Steigerung und auch besseren Erfolgen der kriminalpolizeilichen Arbeit bei. J e s s : Die Not der Kriminalpolizei. Krim. 5 (1956) S. 149ff., S. 195. U l l r i c h : Die Organisation der deutschen Kriminalpolizei. Diss. Köln 1958.

4. Die Zerschlagung der deutschen Kriminalpolizei und ihr Wiederaufbau (seit 1945) Nach dem Zusammenbruch wurde die Polizei durch die Besatzungsmächte zerschlagen. Gemäß den Beschlüssen in Jalta (Winter 1944/1945) wurde ihr Wiederaufbau durch vier Hauptziele bestimmt: Demilitarisierung, Denazifizierung, Dezentralisierung und Demokratisierung. Daneben spielte auch noch die sog. „dilimitation" eine Rolle, d. h. die Ausklammerung aller gesetzgeberischen, richterlichen und administrativen Funktionen aus dem Bereich der exekutiven Polizei. Die Demilitarisierung der deutschen Polizei wurde durch die drei Alliierten Hohen Kommissare anläßlich der Gründung der Bundesrepublik Deutschland (September 1949) ausdrücklich angeordnet. Insbesondere wurden alle militärischen Ränge in den Polizeisystemen der drei Besatzungszonen abgeschafft, die Art und Zahl der von der Polizei zu verwendenden Waffen genau bezeichnet

und alle Dienstgepflogenheiten militärischen oder militärähnlichen Charakters verboten. Die Entnazifizierung der deutschen Polizei wurde in allen Besatzungszonen nach sog. Entnazifizierungsgesetzen durchgeführt. Bei der Einstellung von neuen Polizeikräften erfolgte die Auswahl mehr nach politischen als nach fachlichen Gesichtspunkten. Die Dezentralisation in den einzelnen Besatzungszonen wurde ohne Rücksicht auf die historische Entwicklung der deutschen Polizei vorgenommen. Im allgemeinen wurden die Organisationssysteme eingeführt, welche die Besatzungsoffiziere von ihrem Heimatland her kannten. Das bedeutete, daß die Polizei in der amerikanischen und britischen Zone vorwiegend kommunalisiert und in der französischen Zone nach französischem Muster verstaatlicht wurde. Im Rahmen der „dilimitation" wurde die Polizei auf ihre „rein polizeilichen Aufgaben", d. h. die Exekutive, zurückgeführt. Aufgaben der früheren Verwaltungspolizei wurden (wie bereits erwähnt) auf Ordnungsbehörden bzw. Ordnungsämter übertragen. Die Vollzugspolizei wurde nach dem Prinzip der sog. Einheitspolizei aufgebaut, wobei die Kriminalpolizei — entgegen ihrer Tradition — der uniformierten Polizei unterstellt wurde. Diese Zersplitterung und Uneinheitlichkeit im Aufbau der deutschen Polizei machten sich bald sehr störend bemerkbar. Die ζ. T. nur unzureichend ausgebildete und völlig isoliert arbeitende neue Kriminalpolizei war nicht in der Lage, das immer mehr um sich greifende Verbrechertum, das nicht zuletzt durch die Entlassung von etwa 6 000 sicherungsverwahrten Berufs- und Gewohnheitsverbrechern starken Auftrieb bekam, in Schach zu halten. Das Anwachsen der Kriminalität, durch das allmählich auch die Sicherheit der Besatzungsmächte bedroht wurde, führte nach und nach zu einer Auflockerung der Dezentralisierungspolitik. Hinsichtlich der Kriminalpolizei erkannte die Britische Besatzungsmacht bereits Ende 1945 die Notwendigkeit an, sie zumindest in ihrer Zone zentral zusammenzufassen. Am 1.1.1946 wurde auf Zonenebene, und zwar mit Sitz in Hamburg, für die kriminalpolizeiliche Nachrichtensammlung und -auswertung das „Zonal Crime Records Bureau" geschaffen, für das sich die deutsche Bezeichnung „Kriminalpolizeiamt für die britische Zone (KPABrZ)" einbürgerte. Das KPABrZ war aber nicht nur zentrale Nachrichtensammei- und -auswertungssteile, sondern gab auch das Fahndungsbuch und das Kriminalpolizeiblatt für die Britische Zone heraus. Ein fachliches Weisungsrecht oder gar Exekutivbefugnisse standen ihm jedoch nicht zu. Das KPABrZ gilt als Vorläufer des Bundeskriminalamtes. In den anderen Zonen kam es ebenfalls schon frühzeitig zur Zusammenfassung der kriminalpolizeilichen Kräfte auf Landesebene, so ζ. B. am

Kriminalpolizei 11. 5.1946 im „Landeserkennungsamt Bayern", das später (1949) in „Zentralamt für Kriminalidentifizierung, Polizeistatistik und Polizeinachrichtenwesen" umbenannt wurde, weiter im „Landesamt für Erkennungsdienstwesen, Polizeistatistik und Technisches Polizeinachrichtenwesen" in Württemberg-Baden, im „Großhessischen Landeskriminalbüro für Identifizierung, Meldedienst und Polizeistatistik" und im „Landeskriminalamt Rheinland/Pfalz" (1947). Das Landeskriminalamt Rheinland/Pfalz war — im Gegensatz zu den anderen hier aufgeführten kriminalpolizeilichen Zentralstellen — von Anfang an gegenüber allen Kriminaldienst verrichtenden Dienststellen im Lande weisungsbefugt. Darüber hinaus hatte es eine eigene Exekutive. Demilitarisierung, Denazifizierung, Dezentralisierung und „dilimitation" wurden im übrigen als eine Vorstufe für die Umerziehung der Polizei im demokratischen Sinne angesehen. Das Ziel der Demokratisierung wurde (und wird auch heute noch) im wesentlichen dadurch angestrebt, daß man bei der Schulung des kriminalpolizeilichen Nachwuchses besonderes Gewicht auf die demokratisch-staatsbürgerliche Erziehung und Fortbildung legt. Dieser kurze Überblick über die tatsächliche und rechtliche Situation der Polizei nach dem Kriege zeigt, daß die Organisation und die Befugnisse der Polizei, insbesondere der Kriminalpolizei, in den 12 Ländern der westlichen Besatzungszonen ζ. T. stark voneinander verschieden waren. Die einzelnen Kriminalpolizeien in Stadt und Land führten mehr oder weniger ein Eigendasein, ohne gemeinsame Richtlinien, ohne gemeinsame Fahndungshilfsmittel, ohne einen gemeinsamen Nachrichtenund Erfahrungsaustausch und ohne gemeinsame Ausbildungsstätten. Den Nutzen hiervon hatte der Verbrecher, vor allem der sog. reisende Täter, der ungestört durch die Länder der westlichen Besatzungszonen reisen und seine Straftaten verüben konnte, ohne daß er in seinem Tun durch die Polizei wesentlich behindert wurde. Nur wenn er sich besonders dumm angestellt hatte oder der Zufall half, mußte er mit seiner Entdeckung und Überführung rechnen. Zusammenfassend läßt sich daher sagen, daß die von den Besatzungsmächten verfolgte Politik einer Umorganisation der Polizei zumindest hinsichtlich der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung ein Fehlschlag war. Durch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, das am 23. 5 . 1 9 4 9 verkündet wurde, bahnte sich jedoch (auch für die Kriminalpolizei) eine neue Entwicklung an. In Art. 73 Ziff. 10 GG ist bestimmt, daß der Bund die ausschließliche Gesetzgebung hat über „die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in der Kriminalpolizei, die Einrichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes sowie die internationale Verbrechensbekämpfung".

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Um diesen Artikel des Grundgesetzes wurde in den Beratungen lebhaft gekämpft. Vor allem wurde es von dem Lande Bayern (ähnlich wie bei den Beratungen zu dem Reichskriminalpolizeigesetz aus dem Jahre 1922) als verfassungspolitisch bedenklich angesehen, wenn es zur Schaffung einer Bundeskriminalpolizei komme, weil dadurch die Polizeihoheit der Länder ausgehöhlt werden könne. Diese Bedenken konnten jedoch nach langen Verhandlungen zerstreut werden, womit an sich der Weg für die Errichtung eines Bundeskriminalamtes frei war. Bei der Erörterung der Möglichkeiten, die in dem Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG gesehen wurden, ergaben sich jedoch neue Schwierigkeiten. Nach dieser Vorschrift war der Bund ermächtigt, durch Bundesgesetz „Zentralstellen für das polizeiliche Auskunfts- und Nachrichtenwesen" und „zur Sammlung von U n t e r l a g e n " . . . für die Kriminalpolizei einzurichten. Da die Vorschrift eine Kannvorschrift war, bemühten sich die Länder in verschiedenen inoffiziellen Besprechungen, u. a. anläßlich einer Tagung der Sicherheitsreferenten der Bundesländer in Stuttgart am 7 . 1 0 . 1 9 4 9 , um die Klärung der Frage, welche Länder unter Umständen bereit seien, die erforderlichen zentralen Einrichtungen für das Bundesgebiet, ζ. B. die Nachrichtensammlung und -auswertung, die Zentralfahndung, den Erkennungsdienst, die Zentralstelle zur Bekämpfung von Falschgelddelikten, der Rauschgiftdelikte usw., zu übernehmen. Zu einer Schaffung von Länderzentralen auf bestimmten Teilgebieten kam es jedoch — wir müssen heute sagen: glücklicherweise — nicht. Sie wären auf die Dauer auch nicht geeignet gewesen, die Lücke in der Bekämpfung des interlokalen und internationalen Verbrechertums zu schließen. Eine solche Regelung wäre (ebenso wie die Wiedererrichtung der D K K ) Stückwerk geblieben, weil die kriminalpolizeiliche Verbrechensbekämpfung nur dann ihren besten Nutzeffekt hat, wenn die erwähnten Zentralstellen in einer Hand sind. Dies war auch schließlich die Meinung der Mehrheit in den für die Entscheidung dieser Frage maßgeblichen Gremien, so daß es am 8. 3 . 1 9 5 1 zum E r l a ß des G e s e t z e s ü b e r die „ E i n r i c h t u n g eines B u n d e s k r i m i n a l p o l i z e i a m t e s ( B u n d e s k r i m i n a l a m t e s ) " kam. Das Kriminalpolizeiamt für die Britische Zone (KPABrZ) blieb zunächst weiter bestehen. Durch Verordnung der Bundesregierung vom 3 1 . 1 0 . 1 9 5 1 wurde es nach Art. 130 Abs. 1 GG in die Verwaltung des Bundes überführt und in das Bundeskriminalamt eingegliedert. Für die Eingliederung des KPABrZ in das Bundeskriminalamt waren folgende Gründe maßgebend: es war organisatorisch bereits so aufgebaut, daß die von ihm geschaffenen Einrichtungen (einschl. des hierfür notwendigen Stammpersonals) ohne weiteres vom Bundeskriminalamt übernommen werden konnten

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und lediglich auf Bundesebene erweitert werden mußten; es verfügte als zentrale kriminalpolizeiliche Dienststelle einer Zone mit der größten Bevölkerungsdichte über das umfangreichste Material in seinen kriminalpolizeilichen Sammlungen und Karteien; die bereits vorhandene Kriminaltechnische Anstalt (KTA) war sowohl materiell als auch personell erstklassig ausgestattet und hatte sich durch ihre Arbeit im In- und Ausland einen guten Ruf erworben. Als Außenstelle des Bundeskriminalamtes behielt das KPABrZ vorläufig seinen Sitz weiterhin in Hamburg, da in dem für die Errichtung des Bundeskriminalamtes vorgesehenen Raum (Wiesbaden) zunächst keine geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten zur Verfügung standen. Im Frühjahr 1952 waren die Schwierigkeiten so weit gelöst, daß die Abteilung „Kriminaltechnik" bereits ihre Arbeiten in Wiesbaden aufnehmen konnte. Die Übersiedelung der übrigen Abteilungen erfolgte nach Fertigstellung des Neubaus am 31. 7.1953. Damit war die Errichtung der durch das Gesetz vorgesehenen Zentralstelle für die Kriminalpolizei abgeschlossen. H o l l e : Schriftenreihe des B K A . Kriminaldienstkunde, I . Teil, Organisation der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung. 1956/2.

5. Die Kriminalpolizei in den Ländern der Bundesrepublik Das Gesetz über die Einrichtung eines Bundeskriminalamtes war auch für die kriminalpolizeiliche Verbrechensbekämpfung in den Ländern der Bundesrepublik von Bedeutung. Da sich die kriminalpolizeiliche Arbeit jedoch in der Regel von der Ortsebene über die Landesebene bis zur Bundesebene abwickelt und alsdann in der InterpolEbene ihre Fortsetzung findet, dürfte es zweckmäßig sein, bevor auf die Aufgaben und den Aufbau des Bundeskriminalamtes eingegangen wird, die kriminalpolizeiliche Organisation der Verbrechensbekämpfung in den Ländern darzustellen. Baden-Württemberg G e s e t z l i c h e G r u n d l a g e : Polizeigesetz (PG) vom 2 1 . 1 1 . 1 9 5 5 (BWGB1. Nr. 25 vom 10.12.1955 S. 249) i. d. F. der Änderungsgesetze vom 23.1.1956, 3 0 . 1 . 1 9 5 6 , 1 0 . 1 2 . 1 9 5 6 und 1 7 . 1 1 . 1 9 5 8 sowie der dazu ergangenen Durchführungsverordnungen vom 27. 3 . 1 9 5 6 (BWGB1. Nr. 10 S. 79, 81), vom 1. 4 . 1 9 5 6 (BWGB1. Nr. 10 S. 86), vom 28. 6.1957 (BWGB1. Nr. 12 S. 75), vom 2 2 . 1 1 . 1 9 5 8 (BWGB1. Nr. 21 S. 211) und vom 5. 6 . 1 9 6 1 (BWGB1. Nr. 14 S. 195). A u f g a b e n der P o l i z e i : Nach § 1 PG hat die Polizei die Aufgabe, den einzelnen und das Gemeinwesen vor drohender Verletzung von Recht oder Ordnung zu schützen und rechts- oder ordnungswidrige Zustände zu beseitigen, soweit es im öffentlichen Interesse geboten ist. Sie hat insbe-

sondere die verfassungsmäßige Ordnung und die ungehinderte Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte zu gewährleisten. Außerdem hat die Polizei die ihr durch andere Rechtsvorschriften übertragenen Aufgaben wahrzunehmen. O r g a n i s a t i o n : Der Polizeivollzugsdienst gliedert sich in Polizeidienststellen als Landeseinrichtungen (zu denen u. a. das Landeskriminalamt und die Landespolizeidirektionen mit den ihnen nachgeordneten staatlichen Dienststellen gehören), in einen staatlichen Polizeivollzugsdienst in Gemeinden mit mehr als 75000 Einwohnern (Eßlingen, Freiburg, Heidelberg, Heilbronn, Ulm) und in einen städtischen Polizeivollzugsdienst in Gemeinden mit mehr als 75000 Einwohnern, bei denen das Innenministerium auf Antrag bestimmt hat, daß die Aufgaben des Polizeivollzugsdienstes von der Gemeinde wahrgenommen werden (Karlsruhe, Mannheim, Pforzheim, Stuttgart). Dem Landeskriminalamt in Stuttgart unterstehen die Kriminalhauptstelle Karlsruhe für den Bereich des Regierungspräsidiums (bzw. der Landespolizeidirektion) Nordbaden, die Kriminalhauptstelle Stuttgart für den Bereich des Regierungspräsidiums (bzw. der Landespolizeidirektion) Nordwürttemberg, die Kriminalhauptstelle Freiburg für den Bereich des Regierungspräsidiums (bzw. der Landespolizeidirektion) Südbaden und die Kriminalhauptstelle Tübingen für den Bereich des Regierungspräsidiums (bzw. der Landespolizeidirektion) Südwürttemberg-Hohenzollern. Die staatliche Kriminalpolizei (Kriminalhauptstellen, Kriminalkommissariate, Kriminalaußenstellen) hat die Aufgabe, Verbrechen und Vergehen zu verfolgen und (ζ. B. bei der Bekämpfung der Jugendkriminalität) auch vorbeugend tätig zu werden. Die Kriminalpolizei des staatlichen Polizeivollzugsdienstes in Gemeinden mit mehr als 75 000 Einwohnern (Eßlingen, Freiburg, Heidelberg, Heilbronn, Ulm) hat im Gemeindegebiet die gleichen Aufgaben wie die den Landespolizeidirektionen nachgeordneten Kriminalpolizeidienststellen. Die Kriminalpolizei des städtischen Polizeivollzugsdienstes in Gemeinden mit mehr als 75 000 Einwohnern (Karlsruhe, Mannheim, Pforzheim, Stuttgart) ist in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ebenfalls auf den Gemeindebezirk beschränkt und hat außerhalb des Gemeindebezirks lediglich das Recht der Nacheile oder zur unmittelbaren Verhinderung einer mit Strafe bedrohten Handlung. Das Landeskriminalamt hat die gesamte kriminalpolizeiliche Tätigkeit im Lande fachlich zu leiten und zu beaufsichtigen sowie auf planmäßige Zusammenarbeit zwischen dem staatlichen und städtischen Kriminaldienst hinzuwirken. Zur Durchführung seiner Aufgaben kann es fachliche Weisungen erteilen. Die sachliche Zuständigkeit des Landeskriminalamtes erstreckt sich auf

Kriminalpolizei die kriminalpolizeiliche Nachrichtensammlung und -auswertung sowie die Führung einer Kriminalstatistik; die Unterrichtung der Polizeidienststellen über die Ergebnisse dieser Auswertung und die Aufklärung der Bevölkerung über Mittel und Maßnahmen zum Schutze der Bevölkerung; die Unterhaltung nachrichten- und erkennungsdienstlicher sowie kriminaltechnischer Einrichtungen, die Erstattung kriminaltechnischer Gutachten und die Herausgabe eines Landeskriminalblattes; die Durchführung von Personenfeststellungsverfahren; die Unterstützung des Bundeskriminalamtes mit Nachrichten und Unterlagen, damit dieses seine Aufgabe erfüllen kann; die Aufklärung und Verfolgung einzelner Straftaten in eigener Zuständigkeit (ζ. B. Hochverrat, Landesverrat, Staatsgefährdung, Falschgeld- und Rauschgiftdelikte), sofern der Innenminister es aus besonderen Gründen anordnet oder die Staatsanwaltschaft um die Übernahme der Verfolgung ersucht. E i n z e l b e f u g n i s s e : Zur Aufklärung des Sachverhalts in einer bestimmten polizeilichen Angelegenheit oder zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen (nach § 30 PG) kann die (Kriminal-)Polizei eine Person v o r l a d e n (§21 PG). Bei der Ladung soll jedoch deren Grund angegeben werden. Erkennungsdienstliche Maßnahmen (Abnahme von Fingerabdrücken, Lichtbildaufnahmen usw.) können ohne Einwilligung des Betroffenen (außer im Falle des §81b StPO) nur vorgenommen werden, wenn die Identität des Betroffenen auf andere Weise nicht zuverlässig festgestellt werden kann oder wenn der Betroffene ohne festen Wohnsitz umherreist. Bayern Gesetzliche G r u n d l a g e : Gesetz über die Aufgaben und die Befugnisse der Polizei in Bayern (Polizeiaufgabengesetz — PAG —) voml6.10.1954 (Bayer. GVB1. Nr. 23 S. 237), geändert durch Änderungsgesetz vom 26. 10. 1962 (Bayer. GVB1. Nr. 19 S. 270), Neufassung vom 3. 4.1963 (Bayer. GVB1. Nr. 6 S. 95, ber. S. 120), Entschl. des Bayer. StMdl vom 17. 5. 1963 (Bayer. MAB1. S. 219) zum Vollzug des PAG und Gesetz über die Organisation der Polizei in Bayern (Polizeiorganisationsgesetz — POG —) vom 20.10.1954 (Bayer. GVBI. Nr. 23 S. 245). A u f g a b e n der Polizei: Nach Art. 2 PAG hat die Polizei die Aufgabe, als Vollzugsorgan der Behörden der allgemeinen inneren Verwaltung und als Hilfsorgan anderer Verwaltungsbehörden bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch Abwehr von Gefahren und durch Unterbindung und Beseitigung von Störun-

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gen mitzuwirken. Im Rahmen dieser Aufgabe hat sie insbesondere die Verfassung und die Grundrechte zu schützen sowie bei Unglücksfällen und bei gemeiner Gefahr oder Not unbeschadet der Aufgaben anderer Einrichtungen die erforderliche Hilfe zu leisten. Sie hat ferner (Art. 3 PAG) die Aufgaben zu erfüllen, die ihr durch andere Gesetze zugewiesen sind, insbesondere Handlungen, die mit Strafe oder als Ordnungswidrigkeiten mit Geldbuße bedroht sind, zu verfolgen. O r g a n i s a t i o n : Träger der Polizei sind der Staat und die Gemeinden (Art. 1 POG). Nach Art. 9 POG hat jede Gemeinde das Recht und die Pflicht, zur Wahrnehmung des ständigen Polizeivollzugsdienstes (Einzeldienstes) innerhalb des Gemeindegebietes eine eigene Polizei zu errichten. Erscheint in einer kreisangehörigen Gemeinde die Unterhaltung einer eigenen Polizei im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit der Gemeinde nicht dauernd gesichert, so kann die Gemeinde beim Staatsministerium des Innern beantragen, daß die der Gemeindepolizei obliegenden Aufgaben durch die Landpolizei wahrgenommen werden. In jeder Gemeinde mit eigener Polizei ist durch den Gemeinderat ein leitender Polizeibeamter zu bestellen (Art. 13 POG). Die Wahrnehmung des ständigen polizeilichen Vollzugsdienstes (Einzeldienstes in Gemeinden ohne eigene Polizei sowie in gemeindefreien Gebieten) ist Aufgabe der Bayerischen Landpolizei (staatliche Polizei) — Art. 24 POG —. Dienststellen der Bayerischen Landpolizei sind die Landpolizeistationen, die Landpolizeiinspektionen, die Landpolizeidirektionen und das Präsidium der Bayerischen Landpolizei (Art. 27 POG). Die Aufgaben, welche die staatliche und die städtische Polizei im Rahmen der geltenden Gesetze, des Polizeiaufgabengesetzes und des Polizeiorganisationsgesetzes zu erfüllen haben, sind im allgemeinen nach dem Enumerationsprinzip bestimmt. Das B a y e r i s c h e L a n d e s k r i m i n a l a m t ist eine staatliche Behörde und dem Staatsministerium des Innern unmittelbar nachgeordnet. Es unterhält eine Abteilung für Verbrechenskunde und eine Ermittlungsabteilung (Art. 49 POG). Die A b t e i l u n g f ü r V e r b r e c h e n s k u n d e hat die Aufgabe, alle für die Verhütung und polizeiliche Verfolgung mit Strafe bedrohter Handlungen bedeutsamen Nachrichten und Unterlagen zu sammeln und auszuwerten; die Polizeidienststellen des Staates und der Gemeinden über den Stand der Kriminalität laufend zu unterrichten und über wirksame und zweckmäßige Maßnahmen zur Verhütung und polizeilichen Verfolgung mit Strafe bedrohter Handlungen zu beraten; Einrichtungen für kriminaltechnische und erkennungsdienstliche Untersuchungen und Forschungen zu unterhalten;

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auf Ersuchen einer Polizeidienststelle des Staates oder der Gemeinden, eines Gerichts oder einer Staatsanwaltschaft kriminaltechnische und erkennungsdienstliche Untersuchungen durchzuführen und Gutachten zu erstatten; eine Polizeistatistik zu führen. Der E r m i t t l u n g s a b t e i l u n g obliegt die polizeiliche Verfolgung des ungesetzlichen Rauschgifthandels, der Münzverbrechen und Münzvergehen, des Mädchenhandels, der Verbrechen und Vergehen gegen das Sprengstoffgesetz. Sie wird ferner in Einzelfällen tätig, wenn das Landeskriminalamt von einer Polizeidienststelle des Staates oder der Gemeinden, einem Gericht oder einer Staatsanwaltschaft um sein Tätigwerden ersucht wird oder wenn das Staatsministerium des Innern es aus schwerwiegenden Gründen anordnet. Das Landeskriminalamt ist zugleich zentrale Dienststelle der Kriminalpolizei im Sinne des § 3 Abs. 1 des Gesetzes über die Einrichtung eines Bundeskriminalamtes (Art. 50ff. POG). E i n z e l b e f u g n i s s e : Wenn eine Person, die auf Grund eines Gesetzes vorgeladen wird, der Vorladung nicht Folge leistet, so kann die Polizei sie vorführen. § 81 c StPO bleibt unberührt (§15 PAG). Berlin G e s e t z l i c h e G r u n d l a g e : Gesetz zur Änderung des Polizeiverwaltungsgesetzes vom2.10.1958 (BerlGVBl. 1958 Nr. 60 S. 960), Bekanntmachung der Neufassung des Polizeiverwaltungsgesetzes vom 2 . 1 0 . 1 9 5 8 , Polizeiverwaltungsgesetz in der Fassung vom 2 . 1 0 . 1 9 5 8 , Gesetz über die Zuständigkeiten in der allgemeinen Berliner Verwaltung (Allgemeines Zuständigkeitsgesetz — AZG) vom 2 . 1 0 . 1 9 5 8 (BerlGVBl. 1958 Nr. 60 S. 947), Gesetz über die Zuständigkeit der Berliner Polizei- und Ordnungsbehörden (Polizeizuständigkeitsgesetz — PolZG) vom 2 . 1 0 . 1 9 5 8 (BerlGVBl. 1958 Nr. 60 S. 959). A u f g a b e n der P o l i z e i : Die Polizeibehörden haben im Rahmen der geltenden Gesetze die nach pflichtmäßigem Ermessen notwendigen Maßnahmen zu treffen, um von der Allgemeinheit oder dem einzelnen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird. Daneben haben die Polizeibehörden diejenigen Aufgaben zu erfüllen, die ihnen durch Gesetz besonders übertragen sind (§ 14 PVG). O r g a n i s a t i o n : In Berlin werden staatliche und gemeindlicheTätigkeit nicht getrennt (§ 1 AZG). Polizeibehörde ist der Polizeipräsident. Durch Rechtsverordnung können dem Polizeipräsidenten auch Ordnungsaufgaben übertragen werden (§ 1 PolZG). Die Polizeibehörde ist zuständig für die Aufklärung und Verfolgung strafbarer Handlungen (Kriminalpolizei),

die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, insbesondere den Schutz von Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum und Besitz und die Verhütung und Unterdrückung strafbarer Handlungen, soweit unaufschiebbare Maßnahmen in Betracht kommen, sowie den Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung (Sicherheitspolizei). Nach der Verfügung des Polizeipräsidenten in Berlin vom 6. 5 . 1 9 6 3 — Κ 10.00/1.63 — betr. die Organisation und Zuständigkeitsverteilung der Abteilung Κ (Kriminalpolizei) ergibt sich für die Kriminalpolizei folgende Gliederung und Ges chäf tseinteilung: Zum Aufgabengebiet der Kriminaldirektion (KD) gehören u. a. Führung und Einsatz, Verkehr mit der Presse (KD I), Generalien und Organisation, kriminalpolizeilicher Meldedienst, Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern und dem Bundeskriminalamt, Angelegenheiten der IKPO (Interpol), Fahndung ( K D II), Beamtenrechts- und Disziplinarangelegenheiten (KD III), naturwissenschaftliche und technische Untersuchungen von Spuren und Beweismitteln (KD IV), Aus- und Weiterbildung der Beamten (KD V), Personalangelegenheiten (KD VI), kriminalpolizeiliche Forschung, Kriminalstatistik, Öffentlichkeitsarbeit (KD VII). Die den zentralen Kriminalreferaten nachgeordneten Kriminalinspektionen sind für die Bearbeitung nur solcher Ermittlungssachen zuständig, denen entweder Spezialdelikte zugrunde liegen oder Straftaten, die von Wiederholungstätern (insbesondere Berufs- oder Gewohnheitstätern) begangen worden sind. Die Frage, ob es sich bei noch unbekannten Tätern um Wiederholungstäter handelt, ist dabei jeweils nach Lage des Einzelfalles zu beurteilen. Die den örtlichen Kriminalreferaten nachgeordneten Kriminalinspektionen sind für die Bearbeitung aller übrigen Ermittlungssachen zuständig. Ihre örtliche Zuständigkeit bestimmt sich nacheinander nach dem Tatort in Berlin (West), nach der Wohnung des Beschuldigten (ζ. Ζ. der Anzeige), wenn ein Tatort in Berlin (West) nicht bestimmbar ist, nach der Wohnung des Anzeigenden, wenn weder Tatort in Berlin (West) noch Wohnung des Beschuldigten in Berlin (West) bestimmbar sind, nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit. E i n z e l b e f u g n i s s e : Zur Ermittlung oder Aufklärung einer Handlung oder Unterlassung, die den Verdacht eines Verbrechens oder Vergehens rechtfertigt, ist die (Kriminal-)Polizei befugt, die Vorladung von Personen im Zwangswege durchzuführen (§ 17 PVG).

Kriminalpolizei Bremen G e s e t z l i c h e G r u n d l a g e : Polizeigesetz (PG) vom 5. 7.1960 (BremGBl. Nr. 24, S. 73, Nr. 35 S. 127). A u f g a b e n der P o l i z e i : Nach § 1 PG hat die Polizei die gleiche Aufgabe wie die Polizei in Berlin nach § 14 PVG. O r g a n i s a t i o n : Die Polizei ist nach § 5 6 PG eine Angelegenheit des Landes. Der Polizeivollzugsdienst gliedert sich in Schutzpolizei, Kriminalpolizei, Wasserschutzpolizei und Bereitschaftspolizei (§ 67 PG). Der Kriminalpolizei obliegt nach § 71 PG insbesondere die Aufklärung und Verfolgung von Verbrechen und Vergehen sowie deren vorbeugende Bekämpfung. Nach der Begründung zu dieser Vorschrift ist es möglich, die Aufklärung und Verfolgung der sog. „kleinen Kriminalität" (Bagatellsachen) auf die Schutzpolizei zu übertragen. Das Landeskriminalamt, das zum Polizeivollzugsdienst des Landes gehört, ist dem Senator für Inneres unmittelbar unterstellt. Ihm obliegt die fachliche Leitung und Beaufsichtigung der kriminalpolizeilichen Tätigkeit des gesamten Polizeivollzugsdienstes. Als zentrale Dienststelle der Kriminalpolizei des Landes im Sinne von § 3 Abs. 1 des Gesetzes über die Einrichtung eines Bundeskriminalamtes hat es die notwendige sachliche Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern der übrigen Bundesländer und mit dem Bundeskriminalamt zu pflegen (§ 72 PG). Die sachliche Zuständigkeit des Landeskriminalamtes ergibt sich aus § 73 PG. Danach hat es alle Nachrichten und Unterlagen für die kriminalpolizeiliche Verbrechensbekämpfung und die Verfolgung mit Strafe bedrohter Handlungen zu sammeln und auszuwerten sowie eine Kriminalstatistik zu führen; die Polizeidienststellen über die Ergebnisse dieser Auswertung zu unterrichten und die Bevölkerung über Mittel und Maßnahmen zum Schutze gegen das Verbrechertum aufzuklären; erkennungsdienstliche sowie kriminaltechnische Gutachten zu erstatten und ein Landeskriminalblatt herauszugeben; Personenfeststellungsverfahren durchzuführen; dem Bundeskriminalamt die zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Nachrichten und Unterlagen zu übermitteln; die Aufklärung und Verfolgung einzelner Verbrechen und Vergehen durchzuführen, wenn der Senator für Inneres es aus besonderen Gründen im Einzelfall anordnet. E i n z e l b e f u g n i s s e : Da das bremische Polizeigesetz an dem alten Begriff der „Polizei" festhält und die organisatorische Trennung zwischen Polizei als Exekutive und sog. Ordnungsverwaltung nicht vornimmt, ist die sachgemäße Erfüllung des kriminalpolizeilichen Auftrags wesentlich bes3

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ser gewährleistet als in den Ländern, in denen diese Trennung besteht. Alle für die kriminalpolizeiliche Fahndung wichtigen Dienststellen, wie ζ. B. das Einwohnermeldeamt, das Amt für Ausländerangelegenheiten, die Straßenverkehrsbehörde, die Gewerbepolizei, sind mit der Schutz- und Kriminalpolizei in einer Behörde, nämlich dem Stadt- und Polizeiamt, vereint. Dadurch hat die Kriminalpolizei die Möglichkeit, bei Tag und Nacht in die Karteien und Sammlungen dieser Dienststellen Einsicht zu nehmen, auf die es ζ. B . bei Eilfahndungen dringend ankommt. Es braucht wohl im einzelnen nicht begründet zu werden, wie wichtig dieser Umstand für die Ermittlungs- und Aufklärungsarbeit der Kriminalpolizei ist. Unbeschadet sonstiger gesetzlicher Vorschriften hat die (Kriminal-)Polizei in Bremen auch ein gesetzliches Vorladungs- und Vorführungsrecht (§ 10 PG), wenn dies zur Aufklärung des Sachverhalts in einer bestimmten polizeilichen Angelegenheit oder zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen nach § 23 PG erforderlich ist. Nach § 8 1 b StPO sind erkennungsdienstliche Maßnahmen zur Durchführung eines Strafverfahrens oder für Zwecke des Erkennungsdienstes nur zulässig, wenn dadurch Beschuldigte betroffen werden. Gemäß § 23 PG ist aber über die Vorschrift des § 81b StPO hinaus eine (notfalls gegen den Willen des Betroffenen) erkennungsdienstliche Behandlung aus präventiv-polizeilichen Gründen auch dann möglich, wenn — die Identität des Betroffenen auf andere Weise nicht zuverlässig festgestellt werden kann oder der Betroffene ohne festen Wohnsitz umherzieht oder — dies zur vorbeugenden Bekämpfung mit Strafe bedrohter Handlungen erforderlich erscheint. Hamburg G e s e t z l i c h e G r u n d l a g e ; Hamburger Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (HbgSOG) vom 14. 3. 1966 (GVB1. S. 77) und Dienstanweisung des Polizeipräsidenten von Hamburg vom 28. 3. 1966 (RA: 71.03/66/702) sowie Anordnung der Einrichtung der Behörde für Inneres vom 24. 4. 1962 (Amtl. Anzeiger S. 411). A u f g a b e n der P o l i z e i : Nach § 3 HbgSOG wird die Aufgabe der Polizei ebenfalls von dem Grundgedanken des § 14 PVG bestimmt. O r g a n i s a t i o n : Die Polizei ist Angelegenheit des Staates (ζ. T. der Behörde für Inneres). Dem Polizeipräsidenten als Leiter der Polizei untersteht u. a. auch das Kriminalamt in Hamburg. Das Kriminalamt Hamburg ist zugleich Landeskriminalamt im Sinne des § 3 Abs. 1 BKA-Gesetz. Die Tätigkeit der Kriminalpolizei in Hamburg ist am besten mit der der Kriminalpolizei in Berlin zu vergleichen.

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E i n z e l b e f u g n i s s e : Hinsichtlich der Einzelbefugnisse ergeben sich keine Besonderheiten. Hessen G e s e t z l i c h e G r u n d l a g e : Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) vom 17. 12. 1964 (GVB1. S. 209). A u f g a b e n der P o l i z e i : Nach § 1 Abs. 2 HSOG hat die Polizei die gleichen Aufgaben wie die Polizei in Berlin nach § 14 PVG. O r g a n i s a t i o n : In Hessen gibt es sowohl staatliche als auch kommunale Polizei. Staatliche Polizeibehörden im Polizeivollzugsdienst sind u. a. das Landeskriminalamt und die staatliche Kriminalpolizei. Kommunale Polizeibehörden im Polizeivollzugsdienst sind u. a. die Polizeipräsidien in Darmstadt, Frankfurt/M., Kassel, Oüenbach und Wiesbaden sowie die Polizeidirektionen in Fulda, Gießen, Hanau und Marburg. Die staatliche Kriminalpolizei hat alle die Straftaten zu bearbeiten, die nicht zur sog. kleinen Kriminalität gehören und nicht in die örtliche Zuständigkeit der kommunalen Kriminalpolizei fallen. Bagatellsachen werden von der uniformierten Schutzpolizei (Landpolizei) bearbeitet. Das Landeskriminalamt führt die Fachaufsicht über die staatliche und kommunale Kriminalpolizei und kann die zur Durchführung kriminalpolizeilicher Aufgaben erforderlichen fachlichen Weisungen erteilen; es hat die zweckmäßige Ausstattung und Ausrüstung der Dienststellen des kriminalpolizeilichen Vollzugsdienstes sowie die Einheitlichkeit der Ausund Fortbildung aller Kriminalbeamten im Lande sicherzustellen, kriminalpolizeilich bedeutsame Unterlagen zu sammeln und auszuwerten sowie ein Landeskriminalblatt herauszugeben, nachrichten- und erkennungsdienstliche sowie kriminaltechnische Einrichtungen zu unterhalten und auf erkennungsdienstlichem und kriminaltechnischem Gebiet Gutachten zu erstellen, eine polizeiliche Kriminalstatistik zu führen. Des weiteren unterhält das Landeskriminalamt Zentralstellen zur Bekämpfung von Kapitalverbrechen, der Wirtschaftskriminalität, der Jugendkriminalität sowie der Bearbeitung von Staatsschutzdelikten usw. Es übernimmt die Verfolgung einer strafbaren Handlung selbst, wenn es der Minister des Innern in einem Eiuzelfall anordnet oder wenn die zuständige Kriminaldienststelle darum ersucht oder dies wegen der Bedeutung der Tat für erforderlich hält. E i n z e l b e f u g n i s s e : Die Polizei darf Personen vorladen, wenn es zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist, jedoch nicht zwangsweise vorführen (§ 17 HSOG).

Niedersachsen G e s e t z l i c h e G r u n d l a g e : Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (SOG) vom 21. 3 . 1 9 5 1 (NsGVBl. Nr. 10 vom 21. 3 . 1 9 5 1 S. 79) in der Fassung des Gesetzes vom 2 3 . 4 . 1 9 5 5 (NsGVBl. S. 175). A u f g a b e n der P o l i z e i : Nach § 1 SOG obliegt der Polizei die Gefahrenabwehr. O r g a n i s a t i o n : Die Polizei ist eine Angelegenheit des Landes (§ 52 SOG). Sie gliedert sich in die Schutzpolizei, Kriminalpolizei und Nachrichtenpolizei. Die Aufgaben der früheren Verwaltungspolizei sind auf die Ordnungsämter übergegangen. Die Kriminalpolizei ist im Niedersächsischen Ministerium des Innern verankert. Zentrale kriminalpolizeiliche Landesbehörde ist das Landeskriminalpolizeiamt. Dem Landeskriminalpolizeiamt in Hannover sind die Landeskriminalpolizeistellen Aurich, Braunschweig, Hannover, Hildesheim, Lüneburg, Oldenburg, Osnabrück und Stade nachgeordnet. Das Landeskriminalpolizeiamt hat u. a. folgende Aufgaben: zentrale Bearbeitung aller strafbaren Handlungen auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität, der Bekämpfung von Rauschgift- und Falschgelddelikten, des Wildererunwesens usw. (einschl. der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung), fachliche Lenkung der gesamten kriminalpolizeilichen Arbeit im Lande und einheitliche Ausbildung des kriminalpolizeilichen Nachwuchses, Übernahme der Ermittlungen in Fällen, deren Bedeutung über den Zuständigkeitsbereich einer Landeskriminalpolizeistelle hinausgeht, Übertragung der Ermittlungen an bestimmte kriminalpolizeiliche Dienststellen, Zusammenarbeit mit den übrigen Landeskriminalämtern und dem Bundeskriminalamt. Den Landeskriminalpolizeistellen obliegt im Rahmen ihres Regierungs- bzw. Verwaltungsbezirks die repressive und präventive Bekämpfung von Verbrechen und Vergehen (mit Ausnahme der sog. leichten Kriminalität und der Verkehrskriminalität), die Bekämpfung der Jugendkriminalität und die vorbeugende Bekämpfung des Berufs- und Gewohnheitsverbrechertums. E i n z e l b e f u g n i s s e : Nach § 4 SOG ist die (Kriminal-)Polizei nicht befugt, die Vorladung einer Person im Zwangswege durchzuführen. Ist die Anhörung einer Person gesetzlich vorgeschrieben und unterläßt es diese trotz Aufforderung durch die Polizei schuldhaft, sich zur Sache zu äußern, so braucht sie in derselben Sache nicht mehr gehört zu werden. Nordrhein-Westfalen G e s e t z l i c h e G r u n d l a g e : Gesetz über die Organisation und die Zuständigkeit der Polizei im Lande Nordrhein-Westfalen (POG) vom 11. 8.

Kriminalpolizei 1953 (NWGVB1. Nr. 50 S. 330), Änderungsgesetz vom 15. 5. 1956 (NWGVB1. Nr. 25 S. 153), 2. Änderungsgesetz vom 2. 4. 1957 (NWGVB1. Nr. 23 S. 79), Änderungsgesetz vom 29. 4 . 1 9 5 9 (NW GVB1. Nr. 19 S. 89), Änderungsgesetz vom 23. 7. 1963 (NWGVB1 Nr. 29 S. 249). Verwaltungsverordnung zum POG vom 24. 9 . 1 9 5 3 (MB1NW 1953 S. 1573) und Preußisches Polizeiverwaltungsgesetz in der für den Aufgabenbereich der Polizei geltenden Neufassung auf Grund der Bekanntmachung vom 2 7 . 1 1 . 1 9 5 3 (NWGVB1. Nr. 69 S. 403). A u f g a b e n der P o l i z e i : Für den Aufgabenbereich der Polizei gilt der frühere § 14 PVG. O r g a n i s a t i o n : Die Polizei ist Angelegenheit des Landes (§ 1 POG). Für die polizeiliche Verhütung und Verfolgung bestimmter mit Strafe oder Geldbuße bedrohter Handlungen sind neben den örtlichen Kriminalpolizeien der Kreispolizeibehörden auch namentlich bezeichnete Kriminalpolizeien der Kreispolizeibehörden als Kriminalhauptstellen (ζ. B. Aachen, Dortmund, Bochum, Bielefeld, Düsseldorf, Essen, Köln und Recklinghausen) zuständig. Die örtliche Zuständigkeit einer Kriminalhauptstelle erstreckt sich auf den Bereich der Kriminalhauptstelle, d. h. den der dazu gehörenden Kreispolizeibehörden. Ihre sachliche Zuständigkeit beschränkt sich auf die Verhütung und Verfolgung von Verbrechen und Vergehen wider das Leben, die ungesetzliche Rauschgiftverbreitung, die Herstellung und Verbreitung von Falschgeld, die Brandstiftung und auf Verbrechen und Vergehen, bei denen die Täter ihre Straftaten vermutlich nicht nur im Bereich einer Kreispolizeibehörde verübt haben. Ein fachliches Aufsichtsrecht gegenüber den übrigen Kriminalpolizeien der Kreispolizeibehörden in ihrem Bereich haben die Kriminalhauptstellen nicht. Wird den örtlichen Kriminalpolizeien der Kreispolizeibehörden eine der oben erwähnten Straftaten bekannt, so haben sie ihre Kriminalhauptstelle hierüber unverzüglich zu unterrichten. Auf Ersuchen der örtlichen Kriminalpolizei der Kreispolizeibehörde ist die Kriminalhauptstelle verpflichtet, den Fall zu übernehmen. Über diese Ermittlungstätigkeit hinaus haben die Kriminalhauptstellen alle Nachrichten über Straftaten und Täter aus ihrem Bereich zu sammeln und auszuwerten, ggf. auch an das Landeskriminalamt weiterzuleiten. Das Landeskriminalamt, das dem Innenminister des Landes unmittelbar untersteht, hat u. a. folgende Aufgaben: die Unterhaltung von Einrichtungen für kriminaltechnische und erkennungsdienstliche Untersuchungen und Forschungen sowie die Durchführung von kriminaltechnischen und erkennungsdienstlichen Untersuchungen einschl. der Erstattung von Gutachten; die Sammlung und Auswertung von kriminalpolizeilich bedeutsamen Nachrichten und Unter3·

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lagen und die Mitteilung der Ergebnisse dieser Auswertung an die übrigen Kriminalpolizeien; die Verfolgung von Verbrechen oder Vergehen in bestimmten Fällen, wenn eine Staatsanwaltschaft oder ein Gericht darum ersucht. Dem Landeskriminalamt steht, ebensowenig wie den Kriminalhauptstellen, ein fachliches Aufsichtsrecht zu. E i n z e l b e f u g n i s s e : Die Vorladung von Personen im Zwangswege durchzuführen, ist die (Kriminal-)Polizei nur befugt, soweit diese Maßnahme zur Ermittlung oder Aufklärung einer Handlung oder Unterlassung erforderlich ist, die den Verdacht eines Verbrechens oder Vergehens rechtfertigt (§ 17 PVG). Rheinland-Pfalz G e s e t z l i c h e G r u n d l a g e : Polizeiverwaltungsgesetz von Rheinland-Pfalz (PVG) vom 2 6 . 3 . 1954 (RhldPfGVBl. Nr. 6 S. 31), Erste Anweisung über die Durchführung des PVG vom 1. 8 . 1 9 5 4 (MB1. S. 733), Zweite Anweisung über die Durchführung des PVG vom 10. 2 . 1 9 5 6 (MB1. S. 217), Aufbau und Organisation der staatlichen Polizeiverwaltungen und der Gendarmerie-RdErl. des Mdl vom 1. 8 . 1 9 5 4 (MB1. S. 747) in der Fassung des RdErl. vom 17. 3.1957 (MB1. S. 323). A u f g a b e n der P o l i z e i : Die polizeiliche Aufgabe wird auch in Rheinland-Pfalz vom Grundgedanken des § 14 PVG bestimmt. O r g a n i s a t i o n : Träger der Polizeihoheit ist das Land. Alle Polizeibehörden handeln in Ausübung staatlicher Gewalt (§ 72 PVG). Der kriminalpolizeiliche Vollzugsdienst gliedert sich wie folgt: In den Ortsbezirken werden die kriminalpolizeilichen Aufgaben von den LKA-Nebenstellen, in den Landkreisen von den LKA-Außenstellen und in den Städten Kaiserslautern, Koblenz, Ludwigshafen, Mainz und Trier von den LKA-Abteilungen wahrgenommen. Das Landeskriminalamt führt nach Weisungen des Ministers des Innern die fachliche Aufsicht über die kriminalpolizeiliche Tätigkeit der Polizeidienststellen des Landes. Es kann die zur Durchführung seiner Aufgaben erforderlichen Weisungen erteilen und Richtlinien für die vorbeugende Verbrechensbekämpfung sowie die Verfolgung strafbarer Handlungen erlassen. Ihm obliegt ferner die notwendige sachliche Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern der übrigen Bundesländer und mit dem Bundeskriminalamt (§ 82 PVG). Es hat ferner die Aufgabe, alle Nachrichten und Unterlagen für die Verbrechensbekämpfung und die Verfolgung strafbarer Handlungen zu sammeln und auszuwerten sowie eine Kriminalstatistik zu führen; die Polizeidienststellen über die Ergebnisse der Auswertung von Nachrichten und über Zusam-

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menhänge strafbarer Handlungen zu unterrichten und die Bevölkerung über Mittel und Maßnahmen zum Schutze gegen das Verbrechertum aufzuklären, nachrichten- und erkennungsdienstliche sowie kriminaltechnische Einrichtungen zu unterhalten und ein Landeskriminalblatt herauszugeben. Sachlich zuständig ist das Landeskriminalamt für die Verfolgung des ungesetzlichen Rauschgifthandels und der Falschgeldherstellung. In bestimmten im PVG genannten Fällen (§ 84) kann es die Verfolgung eines Verbrechens oder Vergehens selbst übernehmen, u. a. auch dann, wenn eine Polizeidienststelle oder die Staatsanwaltschaft darum ersucht. Beamte des Landeskriminalamtes können im Rahmen dieser Aufgaben im ganzen Landesgebiet Amtshandlungen vornehmen. Sie sollen zu ihren Ermittlungen Beamte der örtlich zuständigen Polizeidienststelle hinzuziehen (§ 86 PVG). E i n z e l b e f u g n i s s e : Die (Kriminal-)Polizei kann Personen schriftlich oder mündlich unter Angabe des Zweckes vorladen. Leistet eine Person einer Vorladung, die der Aufklärung von Verbrechen oder Vergehen dient, ohne hinreichenden Grund keine Folge, so kann die (Kriminal-) Polizei sie vorführen (§ 4 PVG). Maßnahmen zum Zwecke des Erkennungsdienstes (ohne Einwilligung des Betroffenen) können außer im Falle des §81b StPO auch vorgenommen werden, wenn dies zur vorbeugenden Bekämpfung strafbarer Handlungen erforderlich erscheint (§ 21 PVG). Saarland Gesetzliche G r u n d l a g e : Preußisches Polizeiverwaltungsgesetz vom 1. 6.1931 (PrGS 1931 S. 77), Gesetz über die Allgemeine Landesverwaltung im Saarland vom 13. 7. 1950 (ABl. S. 796) (§ 37), Erlaß über die Errichtung des Landeskriminalamtes Saarland vom 25.2.1959 (ABl. S.590). A u f g a b e n der Polizei: Für die Aufgaben der Polizei gilt auch hier der § 14 PVG. O r g a n i s a t i o n : Die Landeskriminalpolizei besteht aus dem Landeskriminalamt und den Dienststellen der Kriminalpolizei (Kriminalinspektionen, Kriminalkommissariate). Der Leiter des Landeskriminalamtes untersteht unmittelbar dem Minister des Innern. In seiner Eigenschaft als Leiter der Landeskriminalpolizei ist er dem Leiter der Polizeiabteilung im Ministerium des Innern unterstellt. Die Landeskriminalpolizei ist zuständig für die Bearbeitung von Verbrechen und Vergehen, die durch die Schwere der Tat die öffentliche Sicherheit besonders beeinträchtigen oder wegen der Art der Begehung oder des entstandenen Schadens oder der Motive oder der Täter oder aus sonstigen Gründen geeignet sind, in der Bevölkerung Aufsehen oder Beunruhigung hervorzurufen;

deren Aufklärung eine Spezialvorbildung verlangt oder die nach Art und Tatbegehung auf Täter schließen lassen, die ihr Tätigkeitsfeld nicht auf bestimmte Landesgebiete beschränken (reisende Täter) und die Rauschgift-, Falschgeld- und Staatsschutzangelegenheiten betreffen. Darüber hinaus obliegt der Landeskriminalpolizei die Bekämpfung des Berufs- und Gewohnheitsverbrechertums sowie die Bekämpfung der Jugendkriminalität, der Jugendgefährdung und Jugendverwahrlosung. Bei bestimmten (namentlich bezeichneten) Übertretungen ist ebenfalls eine Zuständigkeit der Landeskriminalpolizei gegeben. Das Landeskriminalamt hat u. a. zu sorgen: für eine einheitliche Steuerung der gesamten kriminalpolizeilichen Arbeit im Lande, für die zweckmäßige Ausrüstung und Ausstattung aller Kriminalbeamten und eine einheitliche Ausund Weiterbildung, für die Unterhaltung von nachrichten- und erkennungsdienstlichen sowie kriminaltechnischen Einrichtungen, für die Führung einer Kriminalstatistik. Zur Erfüllung seiner Aufgaben hat das Landeskriminalamt Landeszentralen zu errichten, welche die Bearbeitung von bestimmten Straftaten in eigener Zuständigkeit durchführen. Für die Bearbeitung von Rauschgift-, Falschgeld- und Staatsschutz-Angelegenheiten bleibt jedoch das Landeskriminalamt ausschließlich zuständig. Das Landeskriminalamt hat die Fachaufsicht über alle Kriminaldienst verrichtenden Polizeidienststellen. E i n z e l b e f u g n i s s e : Die (Kriminal-)Polizei im Saarland hat die gleichen Einzelbefugnisse wie sie in anderen Bundesländern, in denen das frühere Preußische Polizeiverwaltungsgesetz gilt, gegeben sind. Schleswig-Holstein Gesetzliche G r u n d l a g e : Polizeigesetz für das Land Schleswig-Holstein (PG) vom 23. 3.1949 (GVOB1. Schl.H. Nr. 10 S. 61) in der Fassung des Gesetzes vom 23. 1. 1950 (GVOB1. Schl.H. Nr. 6 S. 23) und vom 31. 3.1951 (GVOB1. Schl.H. Nr. 14 S. 91), Gesetz über die Organisation der Polizei in Schleswig-Holstein (Polizeiorganisationsgesetz) — POG — vom 22.12.1952 (SchlHGVB1. Nr. 36 S. 185), Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Organisation der Polizei in Schleswig-Holstein vom 25.3.1953 SchlHGVBl. Nr. 9 S. 338) in der Fassung der Ergänzungsverordnung vom 3. 7.1953 (GVOB1. Schl.H. Nr. 19 S. 91) und der Änderungsverordnungen vom 15. 2. 1956 (GVOB1. Schl.H. Nr. 2 S. 16), vom 7. 11. 1956 (GVOB1. Schl.H. Nr. 23 S. 162), vom 7. 2. 1961 (GVOB1. Schl.H. Nr. 3 S. 18) und vom 25. 3. 1964 (GVOB1. Schl.H. S. 36).

Kriminalpolizei A u f g a b e n d e r P o l i z e i : Der Grundgedanke des früheren § 14 PVG bestimmt auch die Aufgaben der Polizei in Schleswig-Holstein. O r g a n i s a t i o n : Die Polizei ist eine Einrichtung des Landes; sie untersteht dem Innenminister (§ 1 POG). Die Kriminalpolizei gliedert sich in das Landeskriminalpolizeiamt (Kiel), die Bezirkskriminalpolizeistellen (Flensburg, Kiel, Itzehoe, Lübeck), die Kriminalpolizeistellen (Eutin, Heide, Husum, Neumünster, Pinneberg, Schleswig) und die Kriminalpolizeiaufienstellen (§§ l l f f . POG). Die Bezirkskriminalpolizeistellen, die grundsätzlich in Anlehnung an die Landgerichtsbezirke eingerichtet worden sind, haben die kriminalpolizeiliche Tätigkeit in ihrem Dienstbezirk zu leiten und gemeinsam mit den Kriminalpolizeistellen durchzuführen. Die Zuständigkeit der Kriminalpolizeistellen erstreckt sich auf Kreise und kreisfreie Städte, in denen eine Bezirkskriminalpolizeistelle nicht besteht. Sie sind den Bezirkskriminalpolizeistellen, in deren Bezirk sie liegen, nachgeordnet. Das Landeskriminalpolizeiamt hat alle für die Verhütung und polizeiliche Verfolgung mit Strafe bedrohter Handlungen bedeutsamen Nachrichten und Unterlagen zu sammeln und auszuwerten; die Polizeidienststellen des Landes über die Ergebnisse dieser Auswertung zu unterrichten; kriminaltechnische und erkennungsdienstliche Untersuchungen durchzuführen und Gutachten zu erstatten; die einheitliche Durchführung der kriminalpolizeilichen Aufgaben zu beaufsichtigen. Darüber hinaus hat es vor allem die Bearbeitung von Falschgelddelikten, Rauschgiftdelikten und Verbrechen nach dem Sprengstoffgesetz zu übernehmen; ferner die Aufklärung und polizeiliche Verfolgung einzelner Verbrechen und Vergehen zu leiten, wenn der Innenminister es im Einzelfall aus besonderen Gründen anordnet oder eine Bezirkskriminalpolizeistelle oder die Staatsanwaltschaft darum ersucht. E i n z e l b e f u g n i s s e : Nach § 6 PG darf die (Kriminalpolizei die Vorladung von Personen mit Zwang nur durchführen, soweit diese Maßnahme zur Ermittlung oder Aufklärung einer Handlung oder Unterlassung erforderlich ist, die den Verdacht eines Verbrechens oder Vergehens rechtfertigt. R e t z l a f f - P a u s c h : Polizei-Handbuch. Bd. 8. Teil VII: Kriminalpolizei; Teil VI: Die Polizeiverwendung, Abschn. 3: Die Organisation. U l l r i c h : Die Organisation der Kriminalpolizei in den Ländern der Bundesrepublik (Stand 1. 1.1956). Die Neue Polizei 3 (1956) S. 35. S c h n e i d e r : Polizeirecht. Rechtsvorschriften über das Polizeiwesen in Bund und Ländern. 13. neubearb. Aull. 1957. U l l r i c h : Die Organisation der Kriminalpolizei in den Ländern der Bundesrepublik (Stand 1.1.1957). Die Neue Polizei 1 (1957) S. 9.

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E n d e r : Das neue Polizeigesetz der Freien Hansestadt Bremen in kriminalpolizeilicher Sicht. Krim. 2 (1961) S. 67; 3 (1961) S. 96.

6. Das Bundeskriminalamt Nach dem Gesetz über die Einrichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes (Bundeskriminalamtes) vom 8.3.1951 (BGBl. I S. 165) liegt der Schwerpunkt seiner Aufgaben in der Herbeiführung einer engen kriminalpolizeilichen Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern (§ 3), in der Sammlung und Auswertung von Nachrichten und Unterlagen (soweit sie über den Bereich eines Landes hinaus von Bedeutung sind) für die kriminalpolizeiliche Verbrechensbekämpfung und die Verfolgung strafbarer Handlungen, in der Unterrichtung der Behörden der Länder über die sie betreffenden Nachrichten und die in Erfahrung gebrachten Zusammenhänge strafbarer Handlungen sowie in der Unterhaltung nachrichten- und erkennungsdienstlicher sowie kriminaltechnischer Einrichtungen (§ 2), in der Durchführung des Dienstverkehrs mit ausländischen Polizei- und Justizbehörden zum Zwecke der Bekämpfung internationaler gemeiner Verbrecher (§ 7). Das Bundeskriminalamt hat grundsätzlich kein Weisungsrecht gegenüber den kriminalpolizeilichen Dienststellen der Länder, da die Wahrnehmung der kriminalpolizeilichen Befugnisse nach Art. 30 GG im allgemeinen eine Hoheitsangelegenheit der Länder ist. Zur Sicherung der Zusammenarbeit des Bundes mit den Ländern sind die Länder jedoch verpflichtet, für ihren Bereich zentrale Dienststellen der Kriminalpolizei (Landeskriminalämter) zu unterhalten und dem Bundeskriminalamt die zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Nachrichten und Unterlagen zu übermitteln (§§ 3, 6). Das Bundeskriminalamt verfolgt eine strafbare Handlung selbst (§ 4 Abs. 2), wenn eine zuständige Landesbehörde darum ersucht oder der Bundesminister des Innern es aus schwerwiegenden Gründen anordnet. In diesen Fällen kann das Bundeskriminalamt den zuständigen Landeskriminalämtern (§ 3 Abs. 1) ausnahmsweise Weisungen für die Zusammenarbeit geben. Innerhalb seiner Zuständigkeit bekämpft das Bundeskriminalamt (auch im Rahmen des § 7 BKA-Gesetz) nur den gemeinen Verbrecher (§ 1 Abs. 2). Das Bundeskriminalamt, das eine Bundesoberbehörde ist und unter der Leitung eines Präsidenten steht, gliedert sich in Abteilungen, Referate und Sachgebiete. Die Abteilung I n l a n d (IL) arbeitet eng mit den Landeskriminalämtern und anderen Behörden zusammen, unterhält den Verkehr mit Presse,

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Rundfunk, Film und Fernsehen und gibt die Polizeiliche Kriminalstatistik für das Bundesgebiet heraus. Zwecks Koordination der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung in Bund und Ländern werden auf den regelmäßigen Arbeitstagungen des Bundeskriminalamtes mit den Leitern der Landeskriminalämter gemeinsame Arbeitsgrundlagen geschaffen und „Richtlinien" vereinbart, die von den Ländern in ihren Bereichen für allgemein verbindlich erklärt werden. Durch diese interne Abstimmung der gegenseitigen kriminalpolizeilichen Belange konnte bisher auf die Wiedererrichtung der früheren „Deutschen Kriminalpolizeilichen Kommission (DKK)", die ursprünglich geplant war, und auf den Erlaß von Durchführungsvorschriften zum BKA-Gesetz (§ 8) verzichtet werden. Der Abteilung A u s l a n d (AL) obliegt die Durchführung des Dienstverkehrs mit ausländischen Polizei- und Justizbehörden zur Bekämpfung internationaler gemeiner Verbrecher, die Zusammenarbeit mit dem Generalsekretariat der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) in Paris und den Nationalen Zentralbureaus der IKPO, die Herausgabe der Deutschen Ausgabe der „Internationalen Kriminalpolizeilichen Revue", die Bearbeitung von einschlägigen Grundsatzfragen, die Abwicklung des internationalen Funkverkehrs und die Betreuung ausländischer Besucher. Die Ausbildung von ausländischen Polizeibeamten wird gemeinsam mit der Abteilung Kriminalistisches Institut (KI) durchgeführt. Die Abteilung K r i m i n a l i s t i s c h e s I n s t i t u t (KI) befaßt sich mit der Auswertung der durch die kriminalpolizeilichen Arbeitsergebnisse gewonnenen allgemeinen kriminalistischen Erkenntnisse, der Untersuchung von kriminologischen Fragen (auch auf dem Gebiet der Jugendkriminalität) und der Ausarbeitung von Vorschlägen für organisatorische, technische und gesetzgeberische Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung. Die Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Forschungsstätten des In- und Auslandes (ζ. B. dem Kriminologischen Institut der Universität Cambridge) und der Austausch von Kriminalfachleuten werden gefördert. Als Hilfsmittel für die forschende und auswertende Tätigkeit stehen eine rechts-, kriminal- und naturwissenschaftliche Bücherei, in- und ausländische Fachzeitschriften und ein Archiv zur Verfügung. Eine Dokumentation und eine Lehrmittelsammlung, die in ständiger Fühlungnahme mit der Praxis auf dem laufenden gehalten werden soll, werden ζ. Z. aufgebaut. Seinen Zweck als Lehranstalt erfüllt das Kriminalistische Institut durch die regelmäßige Abhaltung von Fach- und Speziallehrgängen (ζ. B. für Sachverständige für Daktyloskopie, für kriminaltechnische Spezialbeamte). Zur Vertiefung der Ergebnisse der Forschung werden Arbeitstagun-

gen abgehalten, zu denen hervorragende Praktiker und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland herangezogen werden. Die auf den Arbeitstagungen gehaltenen Vorträge werden (mit den Diskussionsbeiträgen) in einer gedruckten „Vortragsreihe" zusammengefaßt und veröffentlicht. Seit Januar 1955 gibt die Abteilung Kriminalistisches Institut auch die „Schriftenreihe des Bundeskriminalamtes" heraus. Die „Schriftenreihe" will durch die Veröffentlichung von systematischen und erschöpfenden Einzeldarstellungen auf dem Gebiet der Kriminologie und Kriminalistik zu einer wirksamen und erfolgreichen Verbrechensbekämpfung beitragen. Sie ist in der Hauptsache als das tägliche Handwerkszeug des Kriminalbeamten an der „Front" gedacht. Die Abteilung E r k e n n u n g s d i e n s t (ED) hat die Aufgabe, daktyloskopische Unterlagen zu sammeln und auszuwerten sowie Personenfeststellungsverfahren durchzuführen, bei denen u. a. Feststellungen im Ausland erforderlich sind. Die Z e h n f i n g e r d a k t y l o s k o p i e dient neben der Personenfeststellung auch der Identifizierung von unbekannten Toten und unbekannten hilflosen Personen sowie dem möglichst frühzeitigen Erkennen reisender Rechtsbrecher. Die E i n z e l f i n g e r d a k t y l o s k o p i e hat den Zweck, Personen zu identifizieren, die am Tatort Fingerabdruckspuren hinterlassen haben. Durch die Sammlung und Auswertung der Einzelfingerund Handflächenab drücke und deren Vergleich mit den Tatortspurensammlungen können auch Tatzusammenhänge nachgewiesen werden. Die Abteilung K r i m i n a l t e c h n i k (KT), in deren Zuständigkeit die kriminaltechnisch-naturwissenschaftliche Untersuchung von Beweismitteln und die Erstattung entsprechender Gutachten fällt, hat folgende Aufgabengebiete: Spurenidentifizierung (Schußwaffenspuren, Werkzeugspuren), chemische und physikalische Untersuchungen, biologische, bodenkundliche und medizinische Untersuchungen, Urkundenprüfung (Fälschungsnachweis, Handschriften-, Maschinenschrift- und TypendruckUntersuchungen). Die Kriminaltechnik ist kein Selbstzweck, sondern — wie der Erkennungsdienst, die Nachrichtensammlung und -auswertung und die Zentralfahndung — ein Hilfsmittel der Verbrechensaufklärung. Wenn das Bundeskriminalamt auch großen Wert auf leistungsfähige Landeskriminalämter und personell und materiell gut ausgestattete kriminaltechnische Untersuchungsstellen in den Ländern legt, so war es doch unumgänglich notwendig, im Interesse einer wirksamen Verbrechensbekämpfung den Schußwaffen-, Handschriften- und Schreibmaschinenerkennungsdienst beim Bundeskriminalamt zu zentralisieren. Mit Rücksicht auf die nicht selten internationale Ge-

Kriminalpolizei fährlichkeit der Schußwaffenverbrecher und „schreibenden" Rechtsbrecher sollte m. E. sogar ernstlich erwogen werden, diese Erkennungsdienste auf internationale Ebene zu verlagern. Die Kriminalpolizeien der Länder lassen die Untersuchungen, die sie mit eigenen Spezialkräften und Apparaten (ζ. B. dem Kristalloflex, dem Infraxot-Spektrographen und dem Elektronenmikroskop) nicht erledigen können, im Bundeskriminalamt durchführen. Staatsanwaltschaften und Gerichte machen von dieser Möglichkeit — nicht selten, wenn es um die Erstattung eines Obergutachtens geht — ebenfalls in erheblichem Umfang Gebrauch. In schwerwiegenden Fällen, besonders bei Bränden und Explosionen, entsendet das Bundeskriminalamt auf Anfordern Sachverständige zum Tatort. Mit den kriminaltechnischen Untersuchungsstellen in den Ländern wird eine enge Zusammenarbeit angestrebt. Die Beamten und Angestellten der Abteilung Kriminaltechnik führen auch Forschungsaufträge durch. Zum Aufgabengebiet der Abteilung Z e n t r a l f a h n d u n g (ZF) gehören die Erfassung der kriminell in Erscheinung getretenen Personen, die Personen- und Sachfahndung und die Bereitstellung von Fahndungshilfsmitteln (Deutsches Fahndungsbuch — Festnahmen, Deutsches Fahndungsbuch — Aufenthaltsermittlungen, Deutscher Sachfahndungsnachweis, Bundeskriminalblatt und Fahndungskarteien) für die Kriminalpolizeien der Länder. Im D e u t s c h e n F a h n d u n g s b u c h werden die Namen derjenigen Personen listenmäßig zusammengefaßt, die zur Festnahme oder Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben werden. Die bei der Abteilung ZF geführte H a f t b e f e h l s s a m m l u n g erleichtert der festnehmenden Stelle die Einhaltung der Frist gemäß § 114b StPO und dem Vorführungsrichter die Entscheidung darüber, ob der Haftbefehl aufrechterhalten werden kann oder nicht. Der D e u t s c h e S a c h f a h n d u n g s n a c h w e i s (Kfz) enthält alle im Bundesgebiet als gestohlen gemeldeten Kraftfahrzeuge. Das B u n d e s k r i m i n a l b l a t t , das fünfmal wöchentlich erscheint und den Polizei- und Justizbehörden sowie einer Reihe von ausländischen Polizeizentralen geliefert wird, enthält vor allem Ausschreibungen über ungeklärte Straftaten und Straftaten bekannter Rechtsbrecher, insbesondere reisender Täter, mit charakteristischer Arbeitsweise und Personenbeschreibung, Sachfahndungen sowie Abbildungen von Personen und Sachen. Die F a h n d u n g s k a r t e i e n (etwa 90 in der Bundesrepublik) sind die aktuellsten Fahndungsliilfsmittel der Kriminalpolizei, weil sie täglich auf den neuesten Stand gebracht werden, und zwar durch den Versand von Fahndungskarteikarten, welche die neu eingegangenen Fahndungsersuchen zur Festnahme (seit Erscheinen des

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Deutschen Fahndungsbuches — Hauptausgabe und Nachtrag) und die Erledigungsmitteilungen enthalten. Der Kriminalbeamte, der anhand des Deutschen Fahndungsbuches die Überprüfung einer verdächtigen Person vornimmt, muß sich daher, wenn diese zur Festnahme ausgeschrieben ist, zusätzlich bei der nächstgelegenen Fahndungskartei informieren, ob das Fahndungsersuchen noch zu Recht besteht oder ob es inzwischen gelöscht wurde. Die Abteilung N a c h r i c h t e n s a m m l u n g u n d - a u s w e r t u n g (NA) ist eine der wichtigsten Abteilungen des Amtes. Sie sammelt Nachrichten und Unterlagen über bekannte Täter und unaufgeklärte Straftaten und wertet sie nach kriminologischen und kriminalistischen Gesichtspunkten aus. Hierbei macht sich die Kriminalpolizei die bereits in anderem Zusammenhang erwähnte Erfahrung zunutze, daß vor allem der Berufs- und Gewohnheitsverbrecher bei der Begehung seiner Straftaten die einmal mit Erfolg angewandte Arbeitstechnik immer wieder anzuwenden versucht (Verbrecherperseveranz). Die nach dieser Erfahrung beim Bundeskriminalamt aufgebauten modus-operandi-ICarteien ermöglichen es dem gut ausgebildeten Spezialbeamten, den kriminalpolizeilichen Dienststellen in den Ländern und im Ausland anhand der durch die Vergleichsarbeit gewonnenen Erkenntnisse Hinweise über Tatzusammenhänge und Personen zu geben, die als mutmaßliche Täter einer Straftat in Betracht kommen. Die sinnvolle Arbeit an den modusoperandi-Karteien trägt nicht nur zur Überführung von straffällig gewordenen Rechtsbrechern bei, sondern kann — wie schon früher angedeutet — auch zur Verhütung weiterer Verbrechen dienen. N i g g e m e y e r : Aufgaben und Organisation des Bundeskriminalamtes. Seine Zusammenarbeit mit den Justizbehörden. GA 3 (1966) S. 75. D e r s . : Die Stellung des Bundeskriminalamtes im Kähmen der krimlnalpollzellichen Verbrechensbekämpfung. DÖV 3—4 (I960) S. 97.

7. Internationale Jcriminalpolizeiliche Zusammenarbeit Als Nationales Zentralbureau der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (IKPO) ist das Bundeskriminalamt verpflichtet, dem Generalsekretariat der Interpol-Organisation in Paris alle die Nachrichten zu übermitteln, die Straftaten bekannter internationaler Verbrecher oder solche Straftaten betreffen, die vermutlich von internationalen Verbrechern begangen wurden. Was verstehen wir nun unter einem internationalen Verbrecher ? In den Generalversammlungen der InterpolOrganisation hat man sich seit ihrem Bestehen (1923) bereits mehrfach mit den Begriffen „internationaler Verbrecher" und „internationales Ver-

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brechen" beschäftigt, ohne daß es jedoch m. W. bis heute zu einer einheitlichen Begriffsbestimmung gekommen ist. Im kriminalpolizeilichen Sprachgebrauch handelt es sich bei einem internationalen Täter immer um einen Täter, welcher für die Interessenssphären mehrerer, d. h. mindestens zweier Staaten in Betracht kommt. Das ist zunächst einmal bei dem reisenden Täter der Fall, der seine verbrecherische Tätigkeit über die Grenzen eines Staates hinaus erstreckt oder sogar — wie es heute nicht selten ist — in international organisierten Banden ausübt. Zu diesem Typus können der Falschgeldhersteller und -Verbreiter, der Räuschgifthändler und der internationale Taschendieb gerechnet werden. Die Verletzung oder Gefährdung wesentlicher Rechtsgüter eines fremden Staates auf dem Gebiet des gemeinen Rechts braucht jedoch nicht mit Notwendigkeit durch einen reisenden Täter begangen worden zu sein. Sie ist auch gegeben, wenn der Täter die eigene Landesgrenze nie überschritten hat, doch mit seiner Arbeitsweise über die Landesgrenzen hinaus „wirkt", wie dies ζ. B. bei dem Hersteller falscher ausländischer Banknoten oder Münzen der Fall sein kann. Auch der flüchtige Verbrecher wird in der internationalen kriminalpolizeilichen Praxis einem internationalen Verbrecher gleich geachtet, obschon er im eigentlichen Sinne kein internationaler Verbrecher ist. Daraus folgt, daß das internationale Verbrechen in der internationalen kriminalpolizeilichen Zusammenarbeit nicht unbedingt ein Verbrechen zu sein braucht, das in allen mit der Verfolgung befaßten Mitgliedstaaten gleicherweise strafwürdig ist. Es genügt, daß es in einem der beteiligten Staaten als strafwürdig gilt. Notwendig ist aber, daß mehrere, d. h. mindestens zwei Staaten mit der Suche nach dem Rechtsbrecher oder mit dem Ersuchen um seine Festnahme befaßt sind. Die überregionale Bearbeitung macht die im Einzelfall zu beurteilende Straftat zu einem „internationalen Verbrechen". Hiervon unabhängig ist die Frage zu entscheiden, ob ζ. B. ein solcher Täter nach seiner Festnahme auch an einen fremden Staat ausgeliefert werden kann. Das ist aber kein polizeiliches Problem mehr, sondern ein Justizproblem. Im Rechtssinne ist nur der Täter als „internationaler Verbrecher" zu bezeichnen, der ein Verbrechen begeht, das nach dem sog. Weltstrafprinzip strafbar ist (ζ. B. ein Münz- oder Sprengstoffverbrechen). Aus dem Umstand, daß internationale Verbrecher nach Verübung ihrer Straftat oder ihrer Strataten nicht selten der Gerichtsbarkeit verschiedener Staaten unterliegen, ergeben sich Schwierigkeiten, die geeignet sind, den Kampf gegen das insbesondere organisierte Verbrechertum zu paralysieren. Um diesen Schwierigkeiten

zu begegnen, werden (vor allem in der Literatur) immer wieder Vorschläge gemacht, die darauf abzielen, ein sog. „Internationales Strafrecht", eine sog. „Internationale Kriminalpolizei" als supranationale Organisation mit eigenen mobilen Brigaden u. a. m. zu schaffen. Ob und inwieweit derartige Vorschläge zu verwirklichen oder von vornherein als utopisch zu verwerfen sind, soll hier nicht näher untersucht werden. Fest steht auf jeden Fall, daß die Kriminalpolizei, insbesondere in den europäischen Ländern, vor diesen Hindernissen nicht kapituliert und immer wieder versucht hat, sich selbst zu helfen. Die von Franz von Liszt bereits im Jahre 1905 auf dem 10. Kongreß der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV) zu Hamburg erhobene Forderung, in sämtlichen Staaten „Zentralstellen zur Bekämpfung des internationalen Verbrechertums" einzurichten, wurde von einer Reihe von Polizeifachleuten aufgegriffen und auf dem „1. Internationalen Polizeikongreß" zu Monaco (1914) eingehend erörtert. Der Ausbruch des 1. Weltkrieges erstickte jedoch diese Bemühungen um eine intensivere Bekämpfung des internationalen Verbrechertums im Keime. Dem unermüdlichen Einsatz des Kapiteins der Koninklijke Marichaussee M. C. van Houten, Niederlande, des Geheimrats Dr. Heindl, Deutschland, des Hofrats Dr. Dressler, des Polizeipräsidenten Dr. Schober, Österreich, und vieler anderer Persönlichkeiten gelang es nach dem 1. Weltkrieg, den jäh zerrissenen Faden einer sich anbahnenden internationalen kriminalpolizeilichen Zusammenarbeit wieder vorsichtig zu knüpfen und im Jahre 1923 den „Internationalen Polizeikongreß in Wien" einzuberufen. Dieser Kongreß kann als die Geburtsstunde der Interpol-Organisation betrachtet werden. Sie nannte sich zunächst „Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission (IKK)". Das wichtigste Ergebnis des Kongresses war wohl der Beschluß, in Zukunft alle Fragen der internationalen Verbrechensbekämpfung in sich periodisch wiederholenden Konferenzen einer gemeinsamen Lösung zuzuführen. Die Wiederbelebung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (IKK) unter der Bezeichnung „Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission (IKPK)" im Jahre 1946 in Brüssel ist vor allem das Verdienst des Inspecteur Giniral au Ministere de la Justice F. E. Louwage aus Brüssel. Seit der 25. Generalversammlung in Wien (1956) lautet die offizielle Bezeichnung „Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation — IKPO — (Interpol)". Wenn auch die Beschlüsse der IKPO, die ihrem Charakter nach wohl als eine beratende Arbeitsgemeinschaft anzusprechen ist, für die in der Organisation vertretenen Staaten völkerrechtlich nicht verbindlich sein können, so hat sich die

Kriminalpolizei Interpol in der Zeit ihres Bestehens dennoch ein solches Ansehen erworben, daß sie von den Regierungen aller angeschlossenen Staaten praktisch anerkannt werden, wohl nicht zuletzt wegen der in den Statuten vom 13. 6.1956 (Art. 3) vereinbarten Regelung, daß „der Organisation jede Betätigung oder Mitwirkung in Fragen oder Angelegenheiten politischen, militärischen, religiösen oder rassischen Charakters strengstens untersagt ist". Der Erfolg der Interpol-Arbeit hängt wesentlich von der Bereitschaft der einzelnen angeschlossenen Staaten zu einer loyalen Zusammenarbeit und der Leistungsfähigkeit der jeweiligen Nationalen Zentralbureaus ab. Unterstützung darf den Kriminalpolizeibehörden eines anderen Landes jedoch nur im Rahmen der im eigenen Lande geltenden Gesetze gegeben werden (Art. 2 der Statuten). Gesetzliche Grundlagen dieser Art sind in der Bundesrepublik vor allem das Deutsche Auslieferungsgesetz vom 23.12.1929 i. d. Fassung des Gesetzes zur Änderung des Deutschen Auslieferungsgesetzes vom 12. 9.1933 (RGBl. I S. 618) und mehrseitige — meist zweiseitige — internationale Verträge. Wenn auch zuzugeben ist, daß das Deutsche Auslieferungsgesetz immer noch eines der fortschrittlichsten Auslieferungsgesetze in der Welt ist, so ist es trotzdem in vielen Belangen nicht mehr als zeitgemäß anzusehen. Um es mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen, müßte es elastischer und großzügiger gestaltet werden, damit es im Kampf gegen das immer gefährlicher werdende internationale Verbrechertum auch tatsächlich die Waffe darstellt, die es sein sollte. Inzwischen ist auch an maßgebender Stelle erkannt worden, daß das Deutsche Auslieferungsgesetz den modernen Anforderungen nicht mehr genügt und daß es einer grundlegenden Revision unterzogen werden muß. Mit einer Verbesserung der rechtlichen Grundlagen für eine internationale Zusammenarbeit wäre aber der Interpol-Arbeit, soweit die Bundesrepublik in Betracht kommt, schon wesentlich gedient. N i g g e m e y e r : Wesen und Bedeutung der internationalen Verbrechensbekämpfung, in: Vortragsreihe des BKA über „Internationale Verbrechensbekämpfung" (I960) S. 11 ff. S i c o t : Die internationale kriminalpolizeiliche Zusammenarbeit, ebenda S. 19ff.

8. Die weibliche Kriminalpolizei (WKP), schutzorganisationen der Kriminalpolizei, sachbearbeiter

JugendJugend-

Die Wurzel der W K P - A r b e i t ist in der Polizeifürsorgearbeit zu erblicken. Der Fürsorgegedanke und der Polizeigedanke schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich. Beide fallen unter den gemeinsamen Begriff der Gefahrenabwehr. In ihren Anfängen (Stuttgart 1903, Altona 1917) war die polizeiliche Fürsorge eine Gefähr-

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detenfürsorge. Sie beschränkte sich auf die Fürsorge für jugendliche Prostituierte und die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Im Zuge der Entwicklung verselbständigten sich einige der Polizeifürsorgeämter zu Pflegeämtern. 1923 überschnitt sich die Entwicklung mit der Einrichtung einer Frauenwohlfahrtspohzei in Köln. Die Frauenwohlfahrtspolizei, die uniformiert war und nach englischem Vorbild aufgebaut wurde, hatte die Aufgabe, in gemeinsam mit der englischen weiblichen Polizei durchgeführten Streifen vor allem obdachlose und sittlich gefährdete weibliche Jugendliche aufzugreifen und zwecks weiterer Betreuung den Fürsorgeämtern zu überstellen. Nach einem Erlaß des Preußischen Ministers für Volkswohlfahrt vom 24. 7.1924 bestanden auch keine Bedenken, daß die ersten Vernehmungen durch die weibliche Polizei vorgenommen wurden. Da in der Folgezeit jedoch keine amtliche Stelle bereit war, für die Frauenwohlfahrtspolizei die notwendigen Kosten zu übernehmen, wurde sie am 1. 5.1925 wieder aufgelöst. Inzwischen waren aber private und öffentliche Fürsorgeeinrichtungen, auch Landtags- und Reichstagsabgeordnete, auf die von der Frau in der Polizeifürsorge und im Rahmen der Frauenwohlfahrtspolizei geleistete Arbeit aufmerksam geworden. Es setzte sich auch immer mehr der Gedanke durch, daß Kinder und Jugendliche als Beschuldigte, Zeugen oder Opfer (ζ. B. in Sittlichkeitsstraftaten) nicht als eine „verkleinerte Ausgabe" von Erwachsenen anzusehen sind, sondern daß sie in der strafgerichtlichen Praxis entsprechend ihrem körperlichen und seelischen Reifungsgrad behandelt werden müssen. Der hohe Prozentsatz, den die Jugendlichen nach der seit 1882 erscheinenden Reichskriminalstatistik unter den Straffälligen einnahmen, führte schließlich (1923) zur Schaffung eines Jugendgerichtsgesetzes, in dem der Erziehungsgedanke im Vordergrund aller gesetzlichen Bemühungen steht. Durch die Schaffung der Institution der Jugendgerichte und der Jugendstaatsanwälte wurde auch die Kriminalpolizei vor neue Aufgaben gestellt. Man war sich nur nicht darüber klar, in welcher Organisationsform sie mit diesen betraut werden sollte. In Baden, Hamburg, Sachsen und Preußen entschied man sich (1926/27) für die Form der Weiblichen Polizei. Die Weibliche Polizei in Baden hielt sich dabei an das Kölner Vorbild, während die WKP in Hamburg eine selbständige Sparte innerhalb der Kriminalpolizei bildete. In Sachsen entstand zunächst (1927) eine weibliche Schutzpolizei. Da sich die Unterstellung unter die Schutzpolizei jedoch nicht bewährte, wurde sie im Jahre 1931 der Kriminalpolizei angegliedert. Der Grundstein

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für die Gründung der späteren Weiblichen Kriminalpolizei in Deutschland wurde aber in Preußen (1926) gelegt. Am 20. 2.1926 wurde der Polizeipräsident in Frankfurt/M. vom Preußischen Ministerium des Innern beauftragt, im Rahmen der allgemeinen Kriminalpolizei den Aufbau eines weiblichen Kriminalkommissariats durchzuführen. Die frühere Leiterin der Frauenwohlfahrtspolizei in Köln ·— Frau Erkens — wurde nach Ablegung des Kriminalkommissar-Examens mit der Führung dieses Kriminalkommissariats beauftragt. Die Aufgaben der ersten Weiblichen Kriminalpolizei waren von vornherein auf solche kriminalpolizeilicher oder gefährdetenpolizeilicher Art beschränkt. Eine fürsorgerische Tätigkeit kam für sie nicht in Betracht. Diese blieb nach wie vor den Fürsorgeeinrichtungen (Jugendamt, Gefährdetenfürsorge) vorbehalten. Als Vorbildung wurde von den Bewerberinnen für die Weibliche Kriminalpolizei aber schon sehr bald (1928) neben anderen Voraussetzungen die staatliche Anerkennung als Wohlfahrtspflegerin verlangt. Der Teil der männlichen Kriminalpolizei, der gehofft hatte, daß ihn das neue Korps der Weiblichen Kriminalpolizei in der eigenen kriminalistischen Tätigkeit (ζ. B. bei Observationen) unterstützen würde, wurde enttäuscht. Die Weibliche Kriminalpolizei hat sich im Laufe der Jahre (abgesehen von Einzelfällen) mit Erfolg dagegen gewehrt, im Rahmen ihrer Tätigkeit zu irgendwelchen ObservationsAufgaben herangezogen zu werden. Nach der sog. Verreichlichung der Polizei im Jahre 1937 wurden auch einheitliche Richtlinien für die Neuordnung der Weiblichen Kriminalpolizei (einschl. ihrer Ausbildung) aufgestellt. Hiernach hatte sie die Aufgabe, Kinder, weibliche Jugendliche und Minderjährige zu vernehmen, die als Beschuldigte oder als Zeugen mit der Kriminalpolizei in Berührung kamen. In besonders gelagerten Fällen war sie auch befugt, die Vernehmung von erwachsenen Frauen durchzuführen. Neben diesen rein kriminalpolizeilichen Aufgaben hatte sie nach wie vor gefährdetenpolizeiliche Aufträge zu erfüllen. Im übrigen war sie das Bindeglied zwischen der Polizei und den Einrichtungen der Fürsorge, ohne aber selbst Fürsorgearbeit zu leisten. Dem Referat „Weibliche Kriminalpolizei" beim Reichskriminalpolizeiamt (Leiterin: Frau Wieking) wurde im Jahre 1939 eine Reichszentrale zur Bekämpfung der Jugendkriminalität angegliedert. Die Aufgabe dieser Reichszentrale bestand vor allem in der kriminalpolizeilichen Überwachung von Kindern and Jugendlichen mit erblich-krimineller Belastung. Während des Krieges befaßte man sich auch ernsthaft mit der Frage der Schaffung einer besonderen Jugendkriminalpolizei für die gefährdete und kriminell gewordene weibliche u n d männliche Jugend. Im Zuge dieser Bestrebungen wurden im Jahre 1943 „Beauftragte für Jugend-

sachen" bestellt; die beabsichtigte Einrichtung von Jugendkommissariaten unterblieb jedoch. Diese immerhin beachtlichen Versuche, eine Jugendkriminalpolizei ins Leben zu rufen, mu£ten scheitern, weil man die Materie von oben her regeln und nicht organisch von der Peripherie her ordnen wollte. Hinzu kommt, daß die bei den Kriminalpolizeileitstellen und Kriminalpolizeistellen eingesetzten sog. Jugendsachverständigen nicht die Ausbildung hatten, die sie zur Wahrnehmung ihrer umfangreichen Aufgaben hätten haben müssen. Der Zusammenbruch Deutschlands im Jahre 1946 stellte auch die Weibliche Kriminalpolizei vor einen neuen Beginn. Viele Dienststellen wurden aufgelöst; andere (ζ. B. in den Ländern Baden, Bayern, Rheinland-Pfalz und Württemberg) konnten ihre alte Tätigkeit nur in beschränktem Umfang fortsetzen. Wie bei der männlichen Kriminalpolizei versuchten die Besatzungsmächte, auch bei der weiblichen ihre Organisationssysteme einzuführen. Allmählich erkannte man jedoch, daß sich diese Systeme auf die organisch gewachsene deutsche Weibliche Kriminalpolizei nicht übertragen ließen. Nach langjährigen Bemühungen ist es der Weiblichen Kriminalpolizei gelungen, in allen Ländern der Bundesrepublik wieder das zu werden, was sie einst war. Dennoch sind noch viele Probleme der WKP (ζ. B. hinsichtlich der Organisation, des Stellenplans und der Ausbildung) nur zum Teil als gelöst anzusehen. Die Arbeit der Weiblichen Kriminalpolizei bestimmt sich nach den bundeseinheitlichen Richtlinien über die „Behandlung von Kindern und Jugendlichen bei der Polizei", die von der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landeskriminalämter mit dem Bundeskriminalamt im Jahre 1956 erarbeitet wurden. Hiernach besteht die Aufgabe der Polizei nicht nur darin, mit Strafe bedrohte Handlungen von und an Kindern und Jugendlichen zu verfolgen, sondern auch darin, Kindern und Jugendlichen drohende oder von diesen ausgehende Gefahren zu verhüten oder zu beseitigen. Für die Behandlung von Kindern, weiblichen Jugendlichen und in der Regel auch weiblichen Heranwachsenden sind die Sachbearbeiterinnen der Weiblichen Kriminalpolizei zuständig. Ausgenommen sind jedoch Knaben im Alter von 12—14 Jahren, die bei polizeilichen Ermittlungen anläßlich der Aufklärung von Sittlichkeits-Straftaten gehört werden müssen. Die Behandlung dieser Knaben sowie der männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden ist durch hierfür besonders geeignete Sachbearbeiter der jeweils zuständigen Dienststellen vorzunehmen. Die Vernehmung von Kindern und Jugendlichen als Zeugen soll sich nicht auf die Erforschung der von diesen selbst gemachten Wahrnehmungen beschränken. Es muß vielmehr versucht werden, durch die Be-

Kriminalpolizei fragung auch neue wesentliche Erkenntnisse (weitere Zeugen, Spuren und sonstige Beweismittel) zu gewinnen. Mit allen für die Fragen der Jugendgefährdung, Jugendkriminalität und Jugendhilfe zuständigen Amtsstellen, wie ζ. B. Jugendamt, Gesundheitsamt, Schule, Vormundschafts- und Jugendgericht, Jugendstaatsanwalt, Arbeits- und Sozialamt sowie mit den freien Verbänden der Jugendwohlfahrt und den Jugendorganisationen, ist seitens der Polizei eine ständige und intensive Zusammenarbeit anzustreben. Bei der Weiblichen Kriminalpolizei ist außerdem eine Jugendkartei über Kinder und Jugendliche, die bei der Polizei als Beschuldigte, Verletzte oder wichtige Zeugen in Erscheinung getreten sind, zu führen. Diese Kartei soll einen Überblick über die Entwicklung auffällig gewordener junger Menschen ermöglichen und die rechtzeitige Einleitung vorbeugender Maßnahmen sicherstellen. In den allgemeinen Bestimmungen zu diesen Richtlinien wird gesagt, daß die Vernehmung von Kindern und Jugendlichen eine besonders schwierige Aufgabe ist und daß ihr Erfolg wesentlich von der Persönlichkeit, dem Wissen und Können des Vernehmenden abhängt. Voraussetzungen hierfür sind Erfahrung und Eignung, theoretische Schulung, psychologische und pädagogische Fähigkeiten. Es wird daher als erstrebenswert angesehen, nach Möglichkeit auch Jugendsachbearbeiter, die diese Voraussetzungen erfüllen, mit der Bearbeitung von Fällen, in die Kinder und Jugendliche verwickelt sind, zu betrauen. Auf diese Notwendigkeit hat das Bundeskriminalamt (nach dem Vorbild des Landes Niedersachsen) bereits auf seiner Arbeitstagung über die „Bekämpfung der Jugendkriminalität" im Herbst 1954 eindringlich hingewiesen. Das Land Niedersachsen hat als erstes Land mit der Einrichtung von sog. J u g e n d s c h u t z d i e n s t s t e l l e n begonnen (1954). Bei der Einrichtung spielte u. a. die Überlegung eine Rolle, daß der männliche Jugendliche und Heranwachsende den gleichen Anspruch auf jugendgemäße Behandlung haben wie die weiblichen Minderjährigen. Jugendschutzdienststellen, die sich aus der Weiblichen Kriminalpolizei und aus Jugendsachbearbeitern zusammensetzen, sind für den Bereich einer jeden Landeskriminalpolizeisteile eingerichtet worden. Neben der kriminalpolizeilichen Exekutivtätigkeit obliegt ihnen insbesondere die zentrale Sammlung und Auswertung von Nachrichten über Jugendkriminalität und Jugendverwahrlosung sowie die sich hieraus ergebende Bearbeitung von Grundsatzfragen. Die Erfassung der lrrimiTip.11 Gefährdeten ist eine weitere Aufgabe der Jugendschutzdienststellen. Niedersachsen, das mit seinen Jugendschutzdienststellen gute Erfahrungen gemacht hat, stützt sich ζ. Z. bei einer Bevölkerungszahl von

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6,6 Millionen Einwohnern auf insgesamt 126 Beamtinnen der WKP und 115 Jugendsachbearbeiter. Nach der niedersächsischen Regelung ist in jedem Falle sichergestellt, daß die maßgebende Leitung der Ermittlungen in der Hand der Jugendschutzdienststelle liegt, damit sie auch jugendgemäß geführt werden. Hinsichtlich der Frage, ob bei der Kriminalpolizei generell Jugendschutzdienststellen bzw. Jugendsachbearbeiter eingeführt werden sollen, können in den einzelnen Bundesländern keine einheitlichen Maßstäbe angelegt werden. Vergleiche der Verhältnisse in Niedersachsen mit denen in anderen Ländern sind problematisch, weil die organisatorische und strukturelle Situation zur Behandlung dieser Frage in jedem Lande verschieden ist. Sie richtet sich auch nach kriminalgeographischen Schwerpunkten, die in den Ländern — vor allem in den Stadtstaaten — jeweils anders gelagert sein können. Falls man jedoch nach den besonderen Verhältnissen eines Landes den Standpunkt vertritt, keine besondere männliche Jugendkriminalpolizei (Jugendsachbearbeiter) zu benötigen, dann sind eine Personalvermehrung zur besseren Bekämpfung der Delikte, bei denen der Anteil der Minderjährigen an der Gesamtzahl der von der Polizei als Täter festgestellten Personen besonders hoch ist (ζ. B. Diebstahl, Einbruch, Raub, Sittlichkeitsdelikte), und eine intensivere Schulung aller Beamten in Vernehmungspsychologie und -technik — auch gegenüber Kindern und Jugendlichen — dringend erforderlich. Auf diese Weise könnte dann indirekt ebenfalls ein Beitrag zum Abbau der Jugendkriminalität geleistet werden. B a r c k : Ziele und Aufgaben der weiblichen Polizei in Deutschland. (1928). G i p k e n s : Strukturwandlungen der Weiblichen Polizei. Krim. (Juni 1949) S. 134. N i g g e m e y e r : Vortragsreihe des BKA über „Bekämpfung der Jugendkriminalität" (1955) S. 7. S c h u l z , G.: Die Kriminalpolizei in der Jugendstrafrechtspflege. ZblJugR (1957) S. 157. W i e k i n g : Die Entwicklung der weiblichen Polizei in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart. Kleine Polizei-Bücherei. Bd. 23/24. 1958. S i e v e r t s : Die Verteilung der Funktionen zwischen dem Jugendrichter und den anderen Mitarbeitern in der Jugendkriminalrechtspflege. ZblJugR (1959) S. 241. E m m e r i g : Polizeifragen auf einem Kongreß der Vereinten Nationen in London. Die Neue Polizei (Nov. I960), S. 158.

9. Die Laufbahnen der Kriminalpolizei (Ausbildung)

Die Kriminalpolizei ist aus der allgemeinen Polizei hervorgegangen und seit mehr als 50 Jahren langsam, aber stetig zu einer selbständigen Polizeisparte geworden. Die Verselbständigung geht nicht auf das Bestreben der Kriminalpolizei zurück, ein Sonderdasein führen zu wollen, son-

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dem sie wurde ihr von dem Verbrechertum, das sich die Errungenschaften von Technik und Verkehr meist vor der Kriminalpolizei zunutze machte, regelrecht aufgezwungen. Während der örtlich gebundene Rechtsbrecher früher noch durch eine sog. staatsanwaltschaftliche Polizei, d. h. eine mit der Justiz räumlich und fachlich verbundene Kriminalpolizei, erfolgreich bekämpft werden konnte, ist das heute bei dem Überhandnehmen des Berufs- und Gewohnheitsverbrechertums unmöglich. In eigenständiger Entwicklung hat daher die Kriminalpolizei zur Bekämpfung des sog. reisenden Verbrechertums, das in seinen Methoden immer vollkommener wurde, auf Landes- und Bundesebene einen überörtlichen Nachrichtenund Fahndungsapparat aufgebaut. Ersuchen um Herbeiführung internationaler Fahndungsmaßnahmen in einzelnen Ländern oder in allen Mitgliedstaaten der IKPO sowie Ersuchen um Mitwirkung bei der erkennungsdienstlichen Identifizierung (Personenfeststellung von Rechtsbrechern, aufgegriffenen Jugendlichen und hilflosen Personen) werden von der Kriminalpolizei nach dem Gesetz (§ 7 BKA-Gesetz) ebenfalls in eigener Zuständigkeit bearbeitet. Die Aufklärung eines Sachverhalts unter Anwendung moderner kriminaltechnischer und kriminaltaktischer Methoden, ζ. B. auf dem Gebiet der Bekämpfung des immer brutaler mit Schußwaffen operierenden Berufsverbrechertums, der Wirtschaftsverbrecher, der sog. politischen Verbrecher, die Durchführung der kriminalpolizeilichen Aufgaben auf dem Gebiet der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung (ζ. B. bei der Bekämpfung der Jugendkriminalität) und der Forschung und Auswertung verlangen von dem Kriminalbeamten äußerst vielseitige Fähigkeiten. Es ist daher dringend erforderlich, daß sich der Kriminaldienst nicht nur oder fast ausschließlich aus Beamten der uniformierten Polizei ergänzt, sondern auch aus Angehörigen anderer Berufe (Bank- und Wirtschaftsfachleuten, Volkswirten, Juristen, Technikern, Medizinern, Chemikern, Physikern, Biologen, Verwaltungsfachmännern usw.). Die breite Streuung von Fachkräften aus den verschiedensten Berufen innerhalb der Kriminalpolizei hat in der Vergangenheit entscheidend zu ihrer Schlagkraft beigetragen. Bei besonders verwickelten Tatbeständen auf einem bestimmten Teilgebiete konnte jeweils auf einen Spezialsachbearbeiter zurückgegriffen werden, der sich auf Grund seiner theoretischen und praktischen Vorbildung in der Spezialmaterie am besten auskannte. Der gute Ruf, den die Kriminalpolizei vor allem in der Weimarer Zeit hatte, war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Laufbahn der Kriminalpolizei entsprechend den besonderen Erfordernissen des kriminalpolizeilichen Vollzugsdienstes eine Sonderlaufbahn war.

Die Laufbahn der Kriminalpolizei des Bundes ist nach dem Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Polizeivollzugsbeamten des Bundes (Bundespolizeibeamtengesetz — BPolG —) vom 19. 7 . 1 9 6 0 (BGBl. I S. 569) — wie früher — eine zweigeteilte. Die Laufbahnverordnung (Verordnung über die Laufbahnen des kriminalpolizeilichen Vollzugsdienstes des Bundes (KrimLV) vom 21. 7. 1964 (BGBl. I I I . 2030-6-3) sieht einen allgemeinen Kriminaldienst (Besoldungsgruppe A 7 — A 1 0 ) und einen leitenden Kriminaldienst (Besoldungsgruppe A 11 und höhere Ämter) vor. Der allgemeine Kriminaldienst ist auf den Sachbearbeiter und den gehobenen Sachbearbeiter abgestellt. Die Führungskräfte der Kriminalpolizei sind im leitenden Kriminaldienst zusammengefaßt. Hierfür werden sowohl akademisch vorgebildete Bewerber als auch solche benötigt, die sich besondere Spezialkenntnisse in einem Beruf (ζ. B. als Bankfachmann) erworben haben (Abiturienten mit abgeschlossener Berufsausbildung und mindestens zweijähriger Berufserfahrung). In jeder Laufbahngruppe gibt es grundsätzlich nur eine Prüfung. Das Eingangsamt der Laufbahn des leitenden Kriminaldienstes (A 11) wird als Durchgangsstadium für den höheren Dienst angesehen. Vorbereitungs- und Probezeit sind ausschließlich nach den Bedürfnissen der kriminalpolizeilichen Praxis ausgerichtet. Hervorragende Beamte des allgemeinen Kriminaldienstes können als Aufstiegsbeamte nach Ablegung einer Aufstiegsprüfung in den leitenden Kriminaldienst übernommen werden. Der Vorschlag des Bundeskriminalamtes zur Regelung der Laufbahn seiner Beamten basiert auf einer mehr als 35jährigen Tradition und hat echte Parallelen in vielen ausländischen Kriminalpolizeien. Er soll dazu beitragen, die Nachwuchssorgen des Bundeskriminalamtes zu beheben und qualitativ gute Nachwuchskräfte heranzuziehen. Damit wird zugleich erreicht, daß dem spezialisierten Berufsverbrecher ein Kriminalbeamter gegenübergestellt werden kann, der ζ. B. auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, der Kriminaltechnik, der Kriminalbiologie, der Kriminalpsychologie, im Buchf ührungs-, Kassen- und Bankwesen so geschult ist, daß er ihm im Einzelfall an Wissen und Können nicht nur gleichwertig, sondern sogar überlegen ist. Das Laufbahn-Problem ist deshalb auch ein wichtiges Problem der öffentlichen Sicherheit. In den Ländern der Bundesrepublik gliedert sich die Kriminalpolizei in drei Laufbahnen. Die nach den Vorschlägen des Arbeitskreises I I der Innenminister (Senatoren) der Länder eingeführte Einheitslaufbahn, wonach die Beamten der Kriminalpolizei in der überwiegenden Mehrzahl aus der uniformierten Polizei hervorgegangen sein müssen und bis zu den oberen Stellen im kriminalpolizeilichen Vollzugsdienst aufrücken können, leidet an verschiedenen Mängeln.

Kriminalpolizei Es ist gegen sie vor allem folgendes einzuwenden: Eine Einheitslaufbahn für Schutzpolizei und Kriminalpolizei ist unzweckmäßig, weil die Aufgabenbereiche der beiden Sparten verschieden sind. Das Schwergewicht der schutzpolizeilichen Tätigkeit liegt im Ordnungs-, das der kriminalpolizeilichen im Sicherheitsbereich. Die als ideal hingestellte Austauschmöglichkeit zwischen den höheren Rängen in der Schutz- und Kriminalpolizei gibt es praktisch nicht. Die fortschreitende Spezialisierung des Verbrechertums erfordert auch eine Spezialisierung der Kriminalpolizei und damit eine Trennung der Laufbahnen. Die Kriminalpolizei kann es sich nicht leisten, sich ihren Nachwuchs nur aus einer Berufssparte auszuwählen. Sie muß Nachwuchs mit bereits vorhandenen Fachkenntnissen haben. Der Prozentsatz von Bewerbern aus freien Berufen, der für die Kriminalpolizei zugelassen ist, ist viel zu gering. Durch die besoldungsrechtliche Abwertung des Kriminalkommissars alter Art (nach A 4 c 2 U) besteht auch bei Bewerbern aus freien Berufen kein besonderer Anreiz mehr, sich für die Laufbahn des gehobenen Kriminalbeamten zu interessieren. Der mittlere kriminalpolizeiliche Vollzugsdienst endet im allgemeinen beim Kriminalhauptsekretär (Kriminalhauptmeister). Dieser Dienstgrad wird in der Regel in den 40er Jahren erreicht. Bis zur Pensionierung hat aber auch der hervorragende Beamte noch viele Jahre ohne eine reelle Beförderungschance vor sich, was personalpolitisch erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringt. Das Prüfungs- und Beförderungssystem ist zu langwierig und zu kompliziert. Nach dem 30. Lebensjahr sollten grundsätzlich keine Lehrgänge und Prüfungen mehr durchgeführt werden. Zwischen dem Alter von 30 und 40 Jahren ist der Kriminalbeamte am leistungsfähigsten. Diese Zeit muß daher ausschließlich der Praxis gehören. Hinsichtlich der Ausbildung, die im allgemeinen 2—3 Jahre dauert, werden an den Kriminalbeamten in Bund und Ländern in den einzelnen Laufbahngruppen verschiedene Anforderungen gestellt. Gemeinsam ist jedoch allen Laufbahngruppen die Auslese (Berufseignungsprüfung) und die Grundausbildung. Der Grundausbildung des Beamten schließt sich je nach der Art seiner Verwendung eine Spezialausbildung an. Bei der Berufseignungsprüfung, die im allgemeinen 2 Tage dauert, wird Wert darauf gelegt, daß der Bewerber neben einer guten körperlichen Verfassung (Polizeidienstfähigkeit) und einer entsprechenden Allgemeinbildung über bestimmte geistige Eigenschaften und Fähigkeiten verfügt, die ihn für den Beruf eines Kriminalbeamten als besonders geeignet erscheinen lassen. Das sind vor allem: Auffassungs- und Beobachtungsgabe, Gedächtnis- und Konzentrationsfähigkeit, logisches und kombinatorisches Denken, Phantasie (ohne Phantastereien!), Urteils- und Kritikfähigkeit.

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Während der Grundausbildung wird dem Bewerber neben seiner praktischen Schulung ein Wissensstoff vermittelt, der folgende Lehrfächer umfaßt: Kriminologie, Kriminalistik, Kriminalstatistik, Kriminalpolitik, Gerichtliche Psychiatrie, Gerichtliche Medizin; Strafrecht, Strafverfahrensrecht, Überblick über das Bürgerliche Recht, das Zivilprozeßrecht und das Konkursund Vergleichsverfahren, Handels-, Wechsel- und Scheckrecht, Verwaltungsrecht, Allgemeines Polizeirecht, Allgemeine Staatslehre, Staatsrecht, Beamtenrecht, Dienststrafrecht; Staatspolitische Gegenwartsfragen, Haushaltswesen, Wirtschaftsverwaltung, Waffenschulung, Technisches Nachrichtenwesen, Körperschulung. In der Vorbereitungszeit gibt es genügend Gelegenheiten, sich auch über die Persönlichkeit des Bewerbers (ζ. B. sein Verhalten und seine Einstellung zur Umwelt, sein Rechtsbewußtsein, seine Verantwortungsfreudigkeit, seinen Arbeitseifer, seine Disziplin, seine Zivilcourage, seine Einsatzbereitschaft, seine Objektivität, seine Menschenkenntnis, sein psychologisches Einfühlungsvermögen u. v. a. m.) ein Bild zu machen. Da es den allround-Kriminalisten heute nicht mehr geben kann, führt der Weg des Kriminalbeamten über kurz oder lang zum Spezialisten, ζ. B. als kriminaltechnischer Spezialbeamter, als Sachverständiger für Daktyloskopie, als Jugendsachbearbeiter, als Sachbearbeiter auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität, als Wildereisachbearbeiter, als Brandermittlungsbeamter, als Sachbearbeiter für Kapitalverbrechen, als Sachbearbeiter in Staatsschutzsachen usw. Dennoch wird auf eine generelle Austauschbarkeit des Beamten, die infolge der gleichartigen Grundausbildung auch möglich ist, Wert gelegt. S c h n e i c k e r t : Eignungsprüfungen für den Kriminaldienst. 1923. H o r s t : Der Dienstvorgesetzte als Lehrer. 1927. Römer: Eignungsprüfung für Kriminalanwärter. Krim. (1932) S. 49, 82, 107. v a n den B e r g h : Der Polizeifachunterricht. 1952. K l e i n s c h m i d t : Auslese und Schulung für den Kriminaldienst. Krim. (1955) S. 87. K r ü g e r - T h i e m e : Die Eignungsprüfung als Auslesemöglichkeit für den Kriminaldienst. Krim. (1955) S. 306. L e i c h t w e i ß : Blätter zur Berufskunde. Bd. 3,1958, Berufe für Abiturienten, Kriminalbeamter.

10. Die heutige Situation der Kriminalpolizei Die heutige Situation der Kriminalpolizei wird zunächst durch das Bestreben gekennzeichnet (Eb. Schmidt, Kern, Sarstedt, Arndt u. a.), den gesamten kriminalpolizeilichen Dienst aus dem Ressort der Innenministerien herauszunehmen und mit der in personeller Hinsicht ganz erheblich zu verstärkenden Staatsanwaltschaft zu einer justitiellen Strafverfolgungsbehörde zu vereinigen; weiter durch die Tendenz, das kriminalpolizeiliche Potential immer mehr abzubauen; nicht zuletzt aber auch durch eine starke Überbelastung der

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Kriminalpolizei

Kriminalbeamten, durch das Nebeneinander von kommunalen und staatlichen Zuständigkeiten und durch eine unzureichende Ausbildung der Kriminalbeamten. Entgegen Eb. Schmidt u. a. muß auch in diesem Zusammenhang noch einmal festgestellt werden, daß sich das badische Beispiel einer „staatsanwaltschaftlichen Kriminalpolizei" nur solange bewähren konnte, als es um die Bekämpfung des ortsansässigen Rechtsbrechers ging. Diese Art der Verbrechensbekämpfung ist aber durch die Entwicklung längst überholt. Aus einer ursprünglich im Schatten der Justiz stehenden Kriminalpolizei ist in mehr als 85 Jahren eine mit allen Mitteln der Wissenschaft und Technik arbeitende fachliche Organisation geworden, welche die Methoden der Verbrechensbekämpfung mit ihren eigenen Kräften immer mehr vervollkommnet hat. Neben die Strafrechtswissenschaft ist dabei im Laufe der Zeit die Kriminalwissenschaft (Kriminalistik) getreten. Die Kriminalpolizei hat in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben „das Ermittlungsverfahren nicht an sich gerissen" (Eb. Schmidt), sondern lediglich ein Vakuum ausgefüllt. Auch die Kriminalpolizei weiß, daß ein harmonischer Ausgleich zwischen dem Zweck- und Rechtsdenken nicht immer leicht ist. Deshalb legt sie besonderen Wert auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft. Diese Zusammenarbeit ließe sich noch vertiefen, wenn die Angehörigen beider Berufssparten mehr voneinander wüßten und in ihrer Ausbildung auch die Arbeit der anderen Sparte einmal richtig kennengelernt hätten. Wenn auch die Kriminalpolizei mit der Staatsanwaltschaft viele Aufgaben gemein hat, so liegt doch das Schwergewicht der kriminalpolizeilichen Tätigkeit — auch bei der Aufklärung von begangenen strafbaren Handlungen — im sicherheitspolizeilichen und präventiven Bereich und damit eindeutig im Bereich der inneren Verwaltung. Eine Herauslösung der Kriminalpolizei aus der inneren Verwaltung und damit auch aus dem Gesamtverband der Polizei würde dazu führen, daß die Verbrechensbekämpfung auf vielen Gebieten (ζ. B. dem der engen Zusammenarbeit mit der uniformierten Polizei beim sog. ersten Angriff in Kapitalsachen) lahmgelegt würde. Der Staatsanwaltschaft, die als Justizbehörde den Rechts willen des Staates verkörpert, wäre nämlich ein Übergreifen in den Bereich der vollziehenden Gewalt (uniformierte Polizei) verwehrt. Abgesehen hiervon sind auch die „Hilfsdienste" der Kriminalpolizei (Nachrichtensammlung und -auswertung, Erkennungsdienst, Fahndungskarteien usw.) untrennbar mit der Exekutive verbunden. Bei der gesetzlichen Verankerung der Kriminalpolizei im Strafprozeß dürfte es m. E. vollkommen genügen, wenn der derzeitige tatsächliche Zustand legalisiert würde. Rechtsstaatliche

Bedenken können hiergegen mit guten Gründen kaum geltend gemacht werden. Im Strafverfahren sollte der Kriminalpolizei ein ihrer Bedeutung entsprechender Platz eingeräumt werden. Dazu gehört auch die Änderung des Zustandes, wonach der Kriminalbeamte bei der Vernehmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht zugegen sein darf. Man sollte zumindest zulassen, daß der Kriminalbeamte in der Hauptverhandlung als erster Zeuge vernommen wird. Um die Verfolgungsintensität bei Verbrechen und Vergehen zu verbessern, sollten Mittel und Wege gefunden werden, die Kriminalpolizei von der Bearbeitung sog. Bagatellsachen zu entbinden. In Anbetracht der gewaltigen Kriminalitätssteigerung ist es auch nicht zu empfehlen, die Kriminalpolizei ihrer gesetzlichen Wirkungsmöglichkeiten zu berauben, wie dies auf dem Gebiet des Hotelfremden-Meldewesens, des Personalausweis-Wesens, der Auskunftserlangung aus dem Straf- und Erziehungsregister bereits geschehen ist. Um den schnell beweglichen Rechtsbrecher besser über die räumlichen Zuständigkeitsgrenzen hinweg verfolgen zu können, ist in allen Bundesländern eine nach einheitlichen Gesichtspunkten aufgebaute staatliche Kriminalpolizei erforderlich Damit wird selbstverständlich einer übermäßigen Zentralisierung nicht das Wort geredet. Es ist lediglich an eine Zentralisation der Aufgabe gedacht. Die Fahndungskommissariate in den Großstädten müssen mit jungen leistungsfähigen Kriminalbeamten besetzt werden, da man Rechtsbrecher in ihren Schlupfwinkeln nur aufspüren kann, wenn man auch nach ihnen „fahndet". Die Ausbildung der Kriminalpolizei muß verbessert und intensiviert werden, um die immer schwieriger werdenden Aufgaben bewältigen zu können. Die im Bundesgebiet bestehenden Polizeischulen vermitteln dem Polizeibeamten zwar wertvolles Wissen für seine tägliche Arbeit. Doch fehlt es noch an einer zentralen Ausbildungsstätte, an der Spezialisten und vor allem Anwärter für den gehobenen und leitenden kriminalpolizeilichen Vollzugsdienst einheitlich und in lebendiger Wechselwirkung von Theorie und Praxis auf ihren zukünftigen Beruf vorbereitet werden. Die Zersplitterung des Ausbildungswesens in Bund, Ländern und Gemeinden gibt den jüngeren Beamten ζ. B. kaum eine praktische Vorstellung von den Wirkungsmöglichkeiten des Bundeskriminalamtes und der Interpol. Die Auffassung, zukünftige Kriminalbeamte in einem rein akademischen Lehrbetrieb auf ihren Beruf vorbereiten zu können, ist heute längst überholt. Zwar befaßte sich das frühere Polizeiinstitut in Berlin-Charlottenburg ebenfalls in erster Linie mit der Vermittlung theoretischen Wissens. Nach der Errichtung des Reichskrimmalpolizeiamtes bemühte man sich jedoch immer mehr, die Verbindung mit der Praxis herzustellen. Es sollte daher überlegt werden,

Kriminalpolizei — Kriminalroman ob sich diese zentrale Schulungsstätte, in der der Einklang zwischen Theorie und Praxis ideal zu verwirklichen wäre, nicht im Bundeskriminalamt einrichten ließe. Das Bundeskriminalamt beschäftigt sich nicht nur mit den Arbeitsgebieten „Recht", Kriminalwissenschaft und -praxis, der Auswertung kriminalpolizeilicher Arbeitsergebnisse, der Darstellung ihrer Beziehungen zum geltenden und werdenden Strafrecht, der Untersuchung von Kriminalfällen, denen eine allgemeine Bedeutung zukommt, dem Studium der für die Polizei wesentlichen öffentlich-rechtlichen Verhältnisse in fremden Ländern, sondern es hat auch die Möglichkeit, die Fachreferenten aller Abteilungen als wertvolle Lehrkräfte f ü r die Schulung heranzuziehen, am einzelnen Arbeitsplatz Zweifelsfragen zu klären und darüber hinaus seine umfangreichen Erfahrungen als Nationales Zentralbüro der IKPO nutzbringend zu verwerten. Theorie und Praxis sind bei der im wesentlichen auf der Empirie aufgebauten Schulung der Kriminalpolizei unlösbar miteinander verbunden. Wohl in keinem anderen Beruf kommt es so sehr auf das team-work an wie gerade bei der Kriminalpolizei. Infolgedessen kann die Arbeit der Kriminalpolizei auch nur komplex gesehen werden. Nach dieser Erkenntnis muß sich die Ausbildung richten, wenn sie sinnvoll sein soll. Abschließend darf gesagt werden, daß die Exekutive kein Selbstzweck ist, sondern eine Einrichtung des Staates zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Das erfordert aber auch eine wirkungsvolle Verbrechensbekämpfung. Man kann der Polizei nicht ständig neue Aufgaben aufbürden und ihr auf der anderen Seite die Mittel versagen, die zu dieser Aufgabenerfüllung notwendig sind. Das Interesse des einzelnen wird stets in einem Gegensatz stehen zu den Interessen der Allgemeinheit, die vor strafbaren Handlungen geschützt werden muß. Bei aller Anerkennung der Rechte des Beschuldigten sollte aber auch nicht vergessen werden, daß es Opfer und Verletzte gibt, deren Interessen mindestens ebenso schutzwürdig sind wie die der Rechtsbrecher. B ö h m e : Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft. Krim. (1029) 8.193. D e h l e r , W.: Die Stellung der Polizei zu Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichter. 1930. K o e n e n : Selbständige Hechte und Pflichten der Kriminalpolizei bei der Ermittlung strafbarer Handlungen. Diss. Köln 1938. K e r n : Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei. Deutsche Rechtsprechung 1947, S. 327. Eb. S c h m i d t : Die Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft. MDB (1951) S. 1. W e n z e l : Geschichtlicher Überblick über das Verhältnis zwischen Polizei und Justiz. Die Neue Polizei. (1954) S. 96, 111. Gay: Probleme der Strafrechtsreform. Krim. (1955) S. 477, (1956) S. 203, M e i n e r t : Polizei und Justiz, In: Die Polizei und ihre Aufgaben. Internationale Polizeiausstellung (1956) in Essen. S. 39.

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G a y : Die Stellung der Kriminalpolizei im Strafprozeß. Krim. (1957) S. 157, 311. J a n e t z k e : Die Tatortarbeit aus der Sicht des Staatsanwalts. Vortragsreihe des BKA über „Das kriminalpolizeiliche Ermittlungsverfahren" (1957) S. 161. S a n g m e i s t e r : Die heutige Situation der deutschen Kriminalpolizei, Vortragsreihe des BKA über „Kriminalpolitische Gegenwartsfragen" (1959) S. 115. M e i n e r t : Die Entwicklung der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung seit den Reichsjustizgesetzen(1879). Vortragsreihe des BKA über „Strafrechtspflege und Strafrechtsreform" 1961. W e n z k y : Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei vor der Strafprozeßreform. Die Polizei (1961) S. 1. S a r s t e d t , in: Welt am Sonntag vom 19. 5.1963. A r n d t : Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, 12. Ausschuß, Protokoll Nr. 4 des Rechtsausschusees zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeß Ordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes (StPÄG) — Drucksache IV/63 —. BERNHARD NIGGEMEYER

KRIMINALPROGNOSE - > Rückfall und Prognose KRIMINALPSYCHIATRIE Psychopathologie, Sozialpsychiatrie KRIMINALPSYCHOLOGIE Psychologie des Verbrechens KRIMINALPÄDAGOGIK ^ Heilbehandlung, Heilpädagogik, Psychologie des Verbrechens, Schule, Strafvollzug (insbesondere Jugendstrafvollzug, Erwachsenenbildung im Strafvollzug)

KRIMINALROMAN I. DAS VERBRECHEN IN KUNST, MUSIK UND LITERATUR Versteht man soziales Verhalten als geordnetes, geregeltes Verhalten, so schließt es die Möglichkeit eines abweichenden Verhaltens, des Verbrechens als stärkster Form der Störung dieser gesellschaftlichen Ordnung in sich. Das Verbrechen bleibt zwar im allgemeinen Ausnahme, es stellt aber dennoch bis zu einem gewissen Grade einen „normalen" Bestandteil gesellschaftlichen Lebens dar. So ist es nicht verwunderlich, daß sich das Volk und besonders seine Künstler, Komponisten, Dichter mit diesem mitmenschlichen Urphänomen, dieser Grenzsituation im Leben eines Einzelmenschen besonders oft darstellend und deutend auseinandersetzen. Denn die „Dämonie" des Bösen, das Abseitige, Entsetzliche, Grausam-Phantastische, die Nachtseiten des Lebens üben seit jeher eine fast magische Anziehungskraft auf die menschliche Vorstellungswelt aus. Die Verbrechen in Sagen, Märchen, Liedern und Balladen sind unzählbar. Auch das Schauspiel hat sich des Verbrechens als Gegenstand bemächtigt. Im modernen Theater ist die Darstellung des Zuhälter- und Dirnenmilieus besonders beliebt (G. B. Shaw, Frau Warrens Gewerbe). Es gibt Kriminaltragödien (ζ. Β. T. S. Eliot, Mord im Dom) und Kriminalkomödien (ζ. B. G. Hauptmann, Biberpelz). In der Malerei spielt das Verbrechensmotiv in J a n Vermeer van Delfts

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„Kupplerin" und in der Radierung „Vergewaltigt" von Käthe Kollwitz ζ. B., in der Musik in Ludwig van Beethovens „Fidelio" eine Rolle. II. DER KRIMINALROMAN IN SEINER KRIMINOLOGISCHEN BEDEUTUNG A. Der Begriff des Kriminalromans und seine Abgrenzung gegenüber der Kriminalnovelle Bei den Verbrechensdarstellungen erzählender Art nehmen die Kriminalnovelle und der Kriminalroman eine führende Stellung ein. Vorläufer des Kriminalromans waren die mittelalterlichen Verbrecherepen sowie die Schelmen-, Ritter-, Räuberund Schauerromane des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Kriminalroman wird inhaltlich dadurch abgegrenzt, daß die Entstehung und Verfolgung eines Verbrechens und die Entwicklung und Behandlung eines Verbrechers dem erzählenden Werk sein Gepräge verleihen. Es kommt nicht darauf an, ob das psychische und soziale Geschehen bis zur Tatbegehung, die Tatermittlung, die Aburteilung des Täters durch das Gericht oder die Strafverbüßung den Rahmen der Handlung bilden (H. J . Schneider, 1965). Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch gehört zur Gattung des Kriminalromans auch die Detektivgeschichte, in deren Mittelpunkt nicht das Verbrechen (crimen), sondern die Arbeit des Detektivs, die Aufklärung (detectio) des Verbrechens steht. Der Kriminalroman ist formell gekennzeichnet durch Geschehnisfülle, Welthaltigkeit, innere und äußere Lebensbreite sowie die Beschreibung der Umwelt der handelnden Personen. In diesem Sinne hat Thomas Mann Dostojewskis „Raskolnikow" als den größten Kriminalroman der Weltliteratur bezeichnet. Die Kriminalnovelle (ζ. B. Th. Fontane, Unterm Birnbaum; H. v. Kleist, Michael Kohlhaas; R. L. Stevenson, Dr. Jekyll und Mr. Hyde; Α. Schnitzler, Fräulein Else) stellt demgegenüber — im Unterschied zum Kriminalroman — in knapper, nüchterner Form und strengem Handlungsaufbau das Verbrechen als eine einzelne „unerhörte Begebenheit" dar, die in dem äußeren und inneren Schicksal des „Helden" eine Wendung herbeiführt. Für die Kriminologie wird das Wesen des Kriminalromans allerdings vor allem inhaltlich bestimmt. Die formelle Abgrenzung gegenüber Kriminalerzählung, Kriminalnovelle, Prozeßbericht ist allein schon im Hinblick auf die Einbeziehung der Detektivgeschichte in die Gattung des Kriminalromans fliellend. B. Die Verbreitung des Kriminalromans 1. Statistische Angaben für die Bundesrepublik Deutschland Kriminalromane erscheinen in Büchern, Taschenbüchern, Zeitungen, Zeitschriften und Heften. Während in den USA festgestellt wurde, daß schon im Jahre 1949 mit 405 selbständigen Titeln ein Viertel der damals 1644 Buch- und

Hefttitel auf die Detektivliteratur entfiel, kommt die Buch- und Heftproduktion in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1961 nur auf etwa ein Fünftel. Von rund 5300 Titeln der belletristischen Literatur, zu der auch der Kriminalroman rechnet, können 675 Titel zur Gruppe der Kriminalliteratur gezählt werden. Von diesen 675 Titeln erschienen 154 oder etwa 23% in der Form von Büchern, 248 oder 37% als Taschenbücher und 273 oder 40% als Hefte. Von den Büchern und Taschenbüchern waren allein 75% Übersetzungen, darunter von den Taschenbüchern 90% aller Kriminaltitel, gegenüber 4 9 % bei den Büchern. Für beide Gruppen überwiegt der Anteil der englischen Sprache. Bei den als Bücher erschienenen Kriminalromanen entfallen 9 4 % der Übersetzungen auf diese Sprache, davon kommen 53% aus den USA. Bei den Taschenbüchern ist die Übertragung aus der englischen Sprache mit 9 4 % gleich hoch, doch stammen 6 3 % der übersetzten Kriminaltitel aus den USA. Einige Übersetzungen kommen aus der französischen — bei den Taschenbüchern 5 % , bei den Büchern 3 % —, die übrigen aus skandinavischen Sprachen (vgl. Bär, 1963). Die Kriminaltaschenbuchreihe eines deutschen Verlages, der allein etwa die Hälfte des gesamten Umsatzes in deutschsprachigen Kriminalromanen deckt, erreichte nach lOjährigem Bestehen im Jahre 1962 eine Gesamtauflage von etwa 25 Millionen Exemplaren. Die Weltauflagen der Kriminalromane von Autoren wie Agatha Christie, Georges Simenon, Edgar Wallace, Ellery Queen, Erle Stanley Gardner gehen ebenfalls in viele Millionen Exemplare. Dabei sind die Jahreszahlen in ständigem Steigen begriffen. Nach einer Umfrage unter der erwachsenen Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland, die das Emnid-Institut durchführte, interessieren sich 8 % der Bevölkerung (darunter 13% Männer, 3 % Frauen; 13% Arbeiter, 6 % Angestellte, 4 % Beamte, 7 % Selbständige, 5 % Landwirte, 4 % Rentner; 12% 16 bis 30jährige, 8 % 30 bis 50jährige, 5 % über 50jährige) besonders für Kriminal- und Abenteuerromane (Fröhner, 1961, S. 132/133). Kriminalromane werden von allen Kreisen der Bevölkerung gelesen. Nach einer eigenen Umfrage bei deutschen Kriminalromanverlegern soll der Umsatz in Kriminalromanen während der Ferienmonate Juli und August steigen. Von medizinischen Fachzeitschriften wird eine Reihe von Kriminalromanen als Krankenlektüre empfohlen, um die Kranken von ihren Beschwerden abzulenken und zu zerstreuen. Intellektuelle, Politiker und Wirtschaftsführer sollen in ihrer Mußezeit mit Vorliebe Kriminalromane zur Entspannung lesen. Philosophen und Dichter, wie Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Kasimir Edschmid, Andr6 Gide, Romano Guardini, W. Somerset Maugham, Ludwig Reiners und Bertrand Russell, haben sich öffentlich zum Kriminalroman bekannt.

Kriminalroman 2. Gründe für die weite Verbreitung des Kriminalromans Zu der kriminologisch interessanten Frage, warum gerade gegenwärtig so viele Kriminalromane gelesen werden, gibt es Hypothesenansätze. Man hat darauf verwiesen, daß zwei Weltkriege ein alles durchdringendes Gefühl von Schuld und Verhängnis hinterlassen hätten und daß sich die Menschen die Fragen zu beantworten suchten, wer für die begangenen schweren Verbrechen verantwortlich sei und wer wieder solche Verbrechen in Zukunft begehen werde. Man hat ferner von „Fluchtliteratur" gesprochen: Der moderne Leser brauche die Spannung. Denn das zivilisatorische Gleichmaß von Arbeit und Vergnügen erzeuge Langeweile, Angst und innere Leere. Diesen spannungslosen Zustand suche man durch die Lektüre von Kriminalromanen zu verdecken und zu verscheuchen. Man hat darauf aufmerksam gemacht, daß ein enger Zusammenhang zwischen Erlebnishunger und Glücksverlangen, zwischen Spannung und Entspannung, zwischen Lösung und Erlösung besteht. Schließlich hat man die ungeheuere Anziehungskraft, die die klassische Detektivgeschichte und ihre modernen Sonderformen auch heute noch auf den neuzeitlichen Menschen ausüben, auf das Verlangen des Menschen der Gegenwart nach Helden- und Heiligenverehrung zurückzuführen versucht. Die Idealisierung des Detektivs beruht auf dem Bedürfnis des breiten Publikums nach Autoritätsersatz, der bis zum Gottesersatz gehen kann. Der unbedingte Glaube an die Macht der menschlichen Intelligenz, den der Detektiv der klassischen Detektivgeschichte verkörpert, läßt den Leser zudem Sicherheit und Geborgenheit vor den Stürmen und Zufällen des Lebens in der technisierten zivilisatorischen Massengesellschaft fühlen. C. Entwurf einer kriminologischen Typologie des Kriminalromans Die Kriminalromane besitzen nicht nur ein äußerst unterschiedliches literarisches Niveau, sondern auch eine Fülle von Erscheinungsformen. Nach diesen Erscheinungsformen richtet sich jeweils ihre kriminologische Bedeutsamkeit. 1. Die Detektivgeschichte Die wichtigste Erscheinungsform des Kriminalromans ist die Detektivgeschichte, obwohl sie weder inhaltlich noch formell den Merkmalen des Kriminalromans voll entspricht. Dennoch wird die Detektivgeschichte nach dem allgemeinen Sprachgebrauch gleichsam als Prototyp des Kriminalromans angesehen. Diesem Umstand und ihrer weiten Verbreitung muß die Kriminologie dadurch Rechnung tragen, daß sie die Detektivgeschichte in ihren verschiedenen Erscheinungsformen in die Gattung „Kriminalroman" einordnet. 4

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a. H i s t o r i s c h e W u r z e l n der D e t e k t i v g e s c h i c h t e und M ö g l i c h k e i t e n i h r e r T y p i sierung. Die Wurzeln der Detektivgeschichte liegen in den Tragödien des Sophokles. Ernst Bloch nennt den ödipusstoff den „Urstoff des Detektorischen schlechthin" (1960, S. 676). Auch Shakespeares Hamlet betätigt sich erfolgreich als „Detektiv" ; denn er sucht den Mörder seines Vaters, und es gelingt ihm eine imponierende Rekonstruktion des Tatgeschehens. Das eigentliche Arbeitsmodell und die analytische Technik der modernen Detektivgeschichte sind hingegen von dem amerikanischen Dichter Edgar Allan Poe (1809 bis 1849; Der Mord in der Rue Morgue 1841) entwickelt worden. Nahezu alle Detektivgeschichten, die Denkspiele darstellen, verlaufen stereotyp nach einem bestimmten Schema: Eine Untat, meist eine mörderische, liegt im Rücken der Geschichte. Es ist nun Aufgabe des Detektivs und Thema der Geschichte, das Rätsel dieser Untat aufzudecken. Für die Erscheinungsformen der Detektivgeschichte kann man verschiedene Typologien entwickeln. Nach der Art der Schilderung kann man unterscheiden, ob die Geschichte aus der Sicht des Täters, der seiner Überführung zu entgehen sucht, aus der Perspektive des Detektivs, der den Täter in systematischer Kleinarbeit entdeckt, oder aus dem Blickpunkt der Gesellschaft erzählt wird, die weder das Verhalten des Verbrechers noch das des Detektivs durchschaut und so fortwährend irregeführt wird. Kriminologisch relevant sind solche Arten der Schilderung wegen der Identifikationsmöglichkeiten des Lesers. Ferner kann man Untergruppen nach den Detektivtypen der Geschichten bilden. So wird die Aufklärungsarbeit eines einzelnen Berufs- oder Amateurdetektivs oder die polizeiliche Teamarbeit in den Detektivgeschichten veranschaulicht. Nach dem geschilderten Detektivtyp richtet sich dann auch weitgehend das dargestellte Milieu. So deckt beispielsweise Erle Stanley Gardners scharfsinniger New Yorker Strafverteidiger Perry Mason die kompliziertesten Verbrechen und Justizirrtümer (Gerichtshof der letzten Zuflucht) regelmäßig im Gerichtssaal auf. Der Schriftsteller macht sich damit die große Faszination zunutze, die eine Gerichtsverhandlung als Ausübung menschlicher Gerichtsbarkeit erzeugt. Die kriminologisch bedeutsamste Typologie der Detektivgeschichte ist jedoch auf ihrer geistesgeschichtlichen Entwicklung aufgebaut. b. Die k l a s s i s c h e Detektivgeschichte. Die Detektivgeschichte konnte in ihrer gegenwärtigen Gestalt erst entstehen, als der Indizienbeweis das durch Folter erpreßte Geständnis ersetzte. Der geistige Gehalt der klassischen Detektivgeschichte rührt aus der Gedankenwelt des westeuropäischen Positivismus her. Dieser Typ der Detektivgeschichte spiegelt die Naturwissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts wider, die

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eine Welt der strengen Naturgesetzlichkeit annahm. So ist auch die Tendenz des 19. Jahrhunderts verständlich, das Verbrechen vorwiegend als logisch-technisches Problem zu begreifen. Der Detektiv der klassischen Detektivgeschichte präsentiert sich als rationaler Übermensch; mit Allwissenheit und Allgegenwart besitzt er göttliche Attribute. Charles Dickens schuf mit seiner Erzählung „Bleak House" (1853) die erste englische Detektivgeschichte (vgl. auch Ph. Collins, 1962). England ist das klassische Land der Detektivgeschichte geblieben. Das versucht man, daraus zu erklären, daß der Glaube an die Vorausbestimmung des Calvinismus in der mathematischen Berechenbarkeit der Vorgänge der Detektivgeschichte Nahrung findet und der Sieg des Guten in der Detektivgeschichte ganz den Vorstellungen des englischen Puritanismus entspricht. Arthur Conan Doyle (1859—1930) brachte die klassische Detektivgeschichte (Der Hund von Baskerville 1902) mit seinem legendär gewordenen Detektiv Sherlock Holmes zu Weltruhm. Bei der Verbrechensaufklärung geht Holmes naturwissenschaftlichinduktiv vor. Er erringt seine Triumphe auf Grund seiner überlegenen Vernunft, der Ordnung und Methodik seines Denkens und des Einsatzes der modernen Hilfsmittel der Kriminalistik. Emile Gaboriau (1832—1874) und Edgar Wallace (1875—1932) haben die klassische Form der Detektivgeschichte in eigenständiger Weise weiterentwickelt (vgl. zur Geschichte und heutigen literarischen Bedeutung der Detektivgeschichte: Gerteis, 1953; Gilbert, 1959; Murch, 1958; Scott, 1953; Symons, 1962). Wallace stellt sie in den phantastischen Raum der Sensation, der Skurrilität und des Gruseins. Der Wert seiner Detektivgeschichten ist allerdings umstritten. Fritz Wölcken urteilt: „Es sind nicht nur sehr schlampig geschriebene Arbeiten, die von Figur zu Figur springen und gut dreiviertel der Vorgänge unerklärt lassen, sondern überhaupt keine Detektivgeschichten. Es sind vielmehr mit so unzusammenhängenden wie bunten und wilden Abenteuern vollgepackte, unvergleichliche Fabulationen" (1953, S. 162). c. S o n d e r f o r m e n der D e t e k t i v g e s c h i c h t e . An den klassischen Typ der Detektivgeschichte schließen sich in neuerer Zeit Sonderformen an, die sich durch abenteuerliche oder sonst außergewöhnliche Milieuschilderungen auszeichnen. So spielen die Detektivgeschichten von Thomas Muir oft auf dem Hintergrund von Meer und Schiffahrt. Schauplatz des Detektivromans „Das schwarze Einhorn" von June Drummond ist die Südafrikanische Union. In Australien ist Inspektor Bonaparte, kurz Bony genannt, beheimatet, der in den Detektivromanen von Arthur W. Upfield eine maßgebende Rolle spielt. In dem Detektivroman „Bony und die schwarze Jungfrau" steht das Rassenproblem im Mittelpunkt. Der Sohn eines

australischen Farmers liebt eine junge Eingeborene. Weite und Einsamkeit australischer Landschaft, eine drei- bis vierjährige Dürrezeit mit ihren verheerenden Folgen, der danach einsetzende Regen, der die Fülle und Buntheit der australischen Busch-Welt neu erweckt, die Eingeborenenmentalität, ihre Bräuche, die Kaninchenplage, ein echt australisches Problem, werden teilweise sehr ausführlich und anschaulich geschildert. So vergißt man bei der Lektüre dieses Detektivromans, der eine seltsame Mischung zwischen Kriminalund Abenteuererzählung darstellt, bisweilen, daß Inspektor Bony in dieser Umwelt eigentlich zwei Morde aufklären will, die in eigentümlicher Verkettung mit der Liebe des Farmerssohns zu dem eingeborenen Mädchen verübt worden sind. Ein flämisches Mönchskloster ist der Schauplatz des Detektivromans „Jeden zweiten Donnerstag" von Jacques Ouvard, während Eric Shepherd einen „Mord im Nonnenkloster" aufzuklären sucht. Im „Fenstersturz in Harlem" legt der farbige Amerikaner Chester Hirnes schließlich das Hauptgewicht auf die Darstellung der Lebensverhältnisse und des Lebensgefühls der schwarzen Bevölkerung des New Yorker Stadtteils Harlem. Im Laufe der kulturgeschichtlichen Entwicklung hat der klassische Typ der Detektivgeschichte eine Verfeinerung und eine Vergröberung erfahren. So ist einerseits der Typ der Detektivgeschichte mit literarischem Anspruch (mystery story) und andererseits der Typ der pseudorealistischen Detektivgeschichte (thriller) entstanden. Die Erschütterung des Positivismus und der Wandel im Weltbild der Naturwissenschaften zeitigten auch Rückwirkungen auf die Detektivgeschichte. Agatha Christies Detektiv Hercule Poirot (Der Mord an Roger Ackroyd 1891) setzt nunmehr mit seinen „kleinen grauen Zellen" nicht mehr so sehr auf die induktive Karte, sondern er intuitioniert den gesamten Fall, wie es dem irrationaler gewordenen Denkbetrieb des späteren Bürgertums zukommt. Für die literarisch wertvolle Detektivgeschichte ist die vorgezeichnete Technik der klassischen Detektivgeschichte immer nur Ausgangspunkt zu ethischer Vertiefung, die den Detektiv in den Hintergrund treten läßt. Dorothy Sayers spricht von einer dem Sittenroman angenäherten Form. In ihrer Erzählung „Lord Peters abenteuerliche Hochzeitsfahrt" werden Echtheit des Gefühls, intensive Persönlichkeitsschilderung, künstlerische Ausarbeitung des kleinsten Details aufgewandt. Der innerste Ring der Erzählung gehört den beiden Liebenden. Von hier aus ordnet sich die Vielfalt der Erzählung zur Einheit. Die Lösung des Kriminalfalls wird zur Aufgabe, an der sich die Liebe bewähren muß. Die theologisch-metaphysischen Detektivgeschichten C. K. Chestertons gehören ebenfalls in diesen Zusammenhang. Pater Brown, der Priester als Detektiv, denkt sich in die Geistesverfassung des Verbrechers hinein, versucht

Kriminalroman seine Motive und sein Vorgehen zu durchschauen. Er ist Detektiv zum höheren Ruhme Gottes und der sittlichen Weltordnung. Er betrachtet Detektivarbeit als eine Art Seelsorge im Kampf gegen das Chaos. Eine ähnliche Zielsetzung verfolgt auch Leonard Holton mit seiner Detektivgeschichte „Der Tote, der einen Mord beging". Schließlich ist die literarisch hochwertige Detektivgeschichte auch im deutschsprachigen Raum vertreten. Zwei Beispiele seien angeführt: Friedrich Dürrenmatt erörtert in seiner Detektivgeschichte „Der Richter und sein Henker", wie der „Richter" Gastmann, der glaubt, sich unerkannt über alle Gesetze mit einem „vollendeten Mord" um des Mordens willen hinwegsetzen zu können, der dann aber selbst wegen eines von ihm nicht begangenen Mordes „hingerichtet" wird, und sein „Henker" Tschanz, der mit der Aufklärung des von ihm selbst begangenen Verbrechens beauftragt ist, sich — in noch größere Schuld verstrickend — selbst verraten und „richten". Im Hintergrund spinnt Kommissar Bärlach, selbst ein vom Tode gezeichneter Mann, die Fäden. Rolf Schroers zeigt in seiner Erzählung „In fremder Sache" bei der Aufdeckung eines Kriminalfalls die Verstricktheit und Undurchsichtigkeit der menschlichen Beziehungen und die Verpflichtung des Menschen seinem Nächsten gegenüber, gerade in einer Zeit, die kollektivistisch und gefühllos zu reagieren pflegt. Bei der pseudorealistischen Detektivgeschichte tritt an die Stelle des an Geist und logischer Vernunft überlegenen, gebildeten „Entwirrers" der Probleme des Verbrechens der Bekämpfer des Verbrechens auf derselben Ebene, auf der sich auch der Verbrecher befindet: der „tough guy", der „Schläger", der sich im wesentlichen auf seine physische Überlegenheit und auf eine brutale Methode der Gewaltanwendung verläßt. Hier wird offenbar, daß der moderne Mensch seinen Glauben an die durch den Staat gewährleistete Sicherheit, an die organisierte Gesellschaft, an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft doch weitgehend verloren hat und daß sein Verhältnis zu Macht und Gewalt ernstlich gestört ist. Es wird nicht nur der zum Scheitern verurteilte Versuch unternommen, durch die Darstellung von Gewaltakten Licht auf menschliche Krisen zu werfen, sondern die im Rahmen der Verbrechensbekämpfung eingesetzten Gewaltanwendungen sollen auch Einblick in das Wesen der Gewalt selbst gewähren, was durchweg nicht glückt. Vertreter dieser „hard boiled" (hartgesottenen) Variante der Detektivgeschichte sind ζ. B. Dashiell Hammett (1894—1961), Raymond Thornton Chandler (1888—1958) und Rex Stout (Zu viele Köche, Aufruhr im Studio). Man spricht von einer „Handlungsliteratur" wegen der Lebhaftigkeit des Vortrags und der Fülle und des Tempos der Handlung. Der Darstellungsstil zeichnet sich durch eine harte, unerbittliche Sprache unter Verwendung von Slangausdrücken, durch 4*

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ungewöhnlichen Bilderreichtum, Farbigkeit und Prägnanz der Schilderung aus. Die Handlungsweise der „Helden" ist häufig sehr grob, ja brutal: Sie trinken unmäßig viel Alkohol, prügeln sich fortwährend; das Sexuelle spielt eine übergroße Rolle. Dennoch hat Andri Gide „die mit Meisterhand geführten Dialoge" in den Detektivgeschichten „Bluternte" (1929) und „Malteser Falke" (1930) von Hammett als beispielhaft für Hemingway und Faulkner gelobt (Pons, 1958, S. 356). 2. Die Gangstergeschichte Eine Entartungserscheinung der pseudorealistischen Detektivgeschichte ist die Gangstergeschichte. In ihr wird die minutiöse Schilderung rohester Verbrechen, brutalster Gewalttaten und Grausamkeiten Selbstzweck. In ordinär-verwilderter Sprache werden mit geradezu sadistischer Freude grausige Einzelheiten von Verbrechen und grob sexuelle Szenen ausgemalt. Als Beispiele hierfür sollen einige Sätze zitiert werden. In der Geschichte „Keine Orchideen für Miss Blandish" von James Hadley Chase wird die Tötung eines Menschen folgendermaßen beschrieben: „Er hatte noch nie einen Menschen langsam getötet, und er begann vor Erregung zu zittern . . . Der Drang zu töten nahm ganz von ihm Besitz. Er hörte, wie sein Opfer hysterisch zu jammern begann . . . Das gefiel ihm." Und zwei Seiten weiter heißt es: „Er stand über ihm, während er starb. Er ließ sein Opfer nicht in Frieden sterben, sondern trat ihm in die Rippen, sacht zuerst, doch dann mit erregter Wildheit. Er spürte die gleiche Ekstase, die ihn immer beim Töten durchlief." Als Beispiel für eine der vielen obszönen Sexualszenen seien folgende Sätze aus Mickey Spillanes „In einsamer Nacht" zitiert: „Meine Finger taten ihr weh, aber es machte ihr nichts. Ihre Lippen waren leuchtend rot und feucht. Sie teilten sich langsam, und ihre Zungenspitze schnellte hervor und lud mich ein, näher zu kommen. Ihr Mund war ein hungriges Tier, das nach mir verlangte. Die Wärme, die von den Flammen kam, schien von der herrlichen Länge ihrer Beine auszustrahlen und sich in dem Tal ihres Leibes zu sammeln, ehe sie hinauf zur unvergleichlichen Schönheit ihrer Brüste stieg. Sie streckte einladend ihre Arme aus und Schloß sie um meinen Nacken." In der Gangstergeschichte werden Menschen immer wieder durch heimtückisches oder zwangsweises Beibringen von Rauschgift gefügig gemacht; sie werden durch brutalste körperliche Züchtigungen bis zum Wahnsinn und zu völliger Willenlosigkeit getrieben. Immer von neuem werden nackte junge Mädchen auch gepeitscht und erschossen. Menschen werden mit Benzin Übergossen und dann lebend verbrannt, wobei sich die Zuschauer an den Zuckungen der Opfer im Todeskampf weiden. Der Detektiv ist Polizist, Richter und Henker in einer Person. Er tötet die Verbrecher, sehr oft sog. „vertierte"

Kriminalroman

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Mörder oder „schmierige" Homosexuelle, mit eigener Hand und unter eigener Verantwortung (meist mit Hilfe des Systems der Provokation von Notwehrlagen). Überhaupt sind Menschenleben von geringem Wert. Spillane läßt seinen Helden, den Detektiv Mike Hammer, einmal sagen: „Im Krieg habe ich Blut gerochen und kann seither das Töten nicht lassen." In der Gangstergeschichte wird die Identifizierung von Detektiv und Verbrecher vollzogen. Der Verbrecher wird nicht als Mensch, sondern als Bestie geschildert. Der Detektiv steht aber als Gegenspieler des Verbrechers nur zufällig auf der anderen Seite. Er wird selbst zum Verbrecher, handelt, denkt, spricht wie ein Verbrecher. Er ist genau so ein Rowdy und Killer wie der Verbrecher. Er arbeitet mit denselben verbrecherischen Mitteln; er wendet ζ. B. schwere Mißhandlungen zum Zwecke der Aussageerzwingung an. Die zur amtlichen Verfolgung der Verbrechen berufenen Organe, insbesondere Staatsanwälte und Untersuchungsrichter, werden als vollkommene, arrogante Dummköpfe dargestellt, die nicht die Verbrecher, sondern die Detektive verfolgen. Die Polizei ist in diesen Geschichten unfähig, und sie versagt durchweg. Als weitere Beispiele für Gangstergeschichten seien genannt: Jeff Briester, Der Todesrubin; Richard S. Prather, Mexiko-Bar und Spillane, Die Rache ist mein. In der Bundesrepublik Deutschland sind nach dem Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (in der Fassung vom 29. 4.1961, BGBl. I S. 497) solche Gangstergeschichten, die geeignet sind, Kinder und Jugendliche sittlich zu gefährden, von einer Bundesprüfstelle in eine Liste aufzunehmen. Strafvorschriften sollen gewährleisten, daß diese Art Trivialliteratur Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich gemacht wird (Näheres zur Gangstergeschichte: Schilling, 1959, S. 64/65). 3. Die humoristische

Detektivgeschichte

Die humoristische Detektivgeschichte ist eine weitere Sonderform der Detektivgeschichte. In ihr sollen die herkömmlichen Elemente der Detektivgeschichte, insbesondere das feststehende Schema der klassischen Detektivgeschichte oder die physische Überlegenheit des Detektivs der pseudorealistischen Detektivgeschichte, durch Häufung und Übertreibung ad absurdum geführt werden. Solche Versuche sind hingegen meist mißlungen; denn die Detektivgeschichte bietet wenig Raum für Humor, weil sie viel zu knapp konstruiert und viel zu ausschließlich mit der eigenen Technik eines schematischen Ablaufs beschäftigt ist. Eben wegen dieses Umstandes aber tragen viele ernstgemeinte Detektivgeschichten bereits die Merkmale ihrer eigenen Parodie in sich. Immerhin stellt die Erzählung „Einladung zum Mord" von Simon Troys eine gelungene Satire auf die klassische Detektivgeschichte dar. Der Italiener Carlo Manzoni schildert in seiner

Detektivgeschichte „Der Finger im Revolverlauf" bei der Suche nach einem geheimnisvollen Mörder die unwahrscheinlichsten Begebenheiten. Die pseudorealistische Detektivgeschichte soll damit zur Zielscheibe seines Spottes werden. Sein Detektiv Chico, der mit einem Hund als Partner ein Detektivbüro betreibt, heftet die Verbrecher mit zwei Sicherheitsnadeln an den Sitzen ihrer Wagen fest, damit sie sich nicht rühren können. Bevor seine Gegner einen Schuß abfeuern können, pflegt er einen Finger in den gegen ihn gerichteten Revolverlauf zu stecken, so daß der Schuß „nicht losgehen" kann. Ausströmendes Gas macht er dadurch unschädlich, daß er — mit gebundenen Händen und Füßen im Raum liegend — durch die Nase einatmet und den Gegendruck durch den Mund in das Gasrohr bläst. Auch das Ehepaar Rolf und Alexandra Becker hat eine Reihe humoristischer Detektivgeschichten geschrieben. In der Detektivgeschichte „Gestatten — mein Name ist Cox" schildern die Verfasser in urkomischer Weise, wie ein auf Grund zahlreicher Indizien selbst in dringenden Tatverdacht geratener harmloser, friedfertiger Junggeselle den Mörder entlarvt. In der Detektivgeschichte „Dickie Dick Dickens" läßt der Titelheld, der „gefährlichste Mann der Vereinigten Staaten von Amerika", seine Verbrecherkonkurrenz für sich arbeiten, um im rechten Augenblick die fette Beute selbst einzustreichen. Die Polizei ist ihm in keiner Weise gewachsen. Es gelingt ihm immer wieder, ihr auf raffinierteste Weise zu entgehen. Nachdem Dickie Dick Dickens seine brutale Verbrecherkonkurrenz auf seine friedfertige, freundliche Art ausgeschaltet hat, will er ein neues Leben beginnen. Sein langjähriger Hehler besorgt ihm hierfür einen neuen Ausweis. Er heißt nun Maxim Frank Poltingbrook und kann jetzt auch endlich seine Braut Effie Marconi heiraten. Doch das Glück währt nicht lange. Eines Tages wird er wegen Bigamie festgenommen. Der wirkliche Poltingbrook, der — von den Behörden unbemerkt — Selbstmord begangen hatte, war nämlich — das war Dickie entgangen — schon als verheiratet gemeldet. 4. Die

Jugenddetektivgeschichte

Eine besondere Erscheinungsform der Detektivgeschichte ist schließlich noch die Jugenddetektivgeschichte, die in der Kriminologie deshalb Beachtung verdient, weil sie Kinder und Jugendliche zur Vorsicht gegenüber möglichen Verbrechern mahnt und ihnen nahelegt, sich in allen Schwierigkeiten vertrauensvoll an die Polizei zu wenden. In der Jugenddetektivgeschichte werden — meist in spaßiger Form — die mehr oder weniger unfreiwilligen Abenteuer kleiner Amateurdetektive geschildert, die der Polizei in die Hände arbeiten. Erich Kästner erzählt ζ. B. die spannende Geschichte um „Emil und die

Kriminalroman Detektive". Die Mutter Emils ist eine fleißige, aber arme Frau. Sie hat mühsam 140 Mark gespart, damit Emil seine Großmutter und seine Tante in Berlin besuchen kann. Im Abteil des Zuges wird dem Jungen das Geld aber von einem Dieb gestohlen, der sich vorher in freundlicher Weise an Emil herangemacht hatte. Emil folgt dem Dieb, und eine organisierte Verbrecherjagd beginnt in der Riesenstadt Berlin, an der sich auch Gustav, der „Junge mit der Hupe", der „Professor" und der kleine Dienstag beteiligen. Den Kindern gelingt es endlich, den Verbrecher in die Hände der Polizei zu treiben, die in ihm einen gesuchten Bankräuber feststellt, für dessen Ergreifung 1000 Mark Belohnung ausgesetzt worden sind. In der Jugenddetektivgeschichte „Milo und die goldenen Adler" von Ellery Queen jr. erleben die Kinder in ihren Sommerferien am Meer ähnliche Abenteuer. Besonders haben sich allerdings skandinavische Schriftsteller der Jugenddetektivgeschichte angenommen. Nils-Olof Franzens Detektiv „Agaton Sax" kommt unter aufregenden Umständen Banknotenfälschern hinter ihre Schliche. Astrid Lindgrens kleiner „Meisterdetektiv Blomquist" bringt mit seinen Freunden und dem gemütlichen Polizisten „Onkel Björk" gefährliche Juwelendiebe zur Strecke. Als die Verbrecher zu entkommen drohen, dürfen die Kinder sogar an der schnellen Verfolgungsfahrt der Polizei teilnehmen. In der Jugenddetektivgeschichte „Jan hat Glück" von Knud Meister und Carlo Andersen geht es ebenfalls um Juwelendiebstahl. Der Schmuck wird Jans Schwester Lis und ihrer Freundin Kirsten gestohlen, die in ihren Ferien in der Schmuckabteilung des größten Warenhauses Kopenhagens arbeiten. Jans Vater, Kriminalkommissar Helmer, leitet die Verbrecherjagd, an der sich Jan und seine Freunde beteiligen dürfen und die für J a n durchaus nicht gefahrlos bleibt. 5. Der realistische Kriminalroman Die Erscheinungsform des realistischen Kriminalromans nähert sich sehr stark dem Prozeßbericht. Realistische Kriminalromane sind zwar poetische Werke; sie beruhen aber auf tatsächlichen Begebenheiten, die die Autoren gewöhnlich sorgfältig studiert haben. Der realistische Kriminalroman ist insofern eine Fortentwicklung des Prozeßberichts, dessen Ahnherr der französische Rechtsgelehrte Francois Gayot de Pitaval war. Er gab die Sammlung „Berühmte und interessante Kriminalfälle" heraus, deren erste deutsche Ausgabe im Jahre 1747 erschien. Anselm von Feuerbach, Willibald Alexis, J . F. Hitzig, Hermann Mostar und Robert A. Stemmle führten die Reihe alter und zeitgenössischer internationaler Kriminalfälle in dokumentarischer Darstellung nach Pitavals Vorbild fort. Der realistische Kriminalroman unterscheidet sich jedoch insofern vom

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Prozeßbericht, als es ihm nicht nur auf die Darstellung, sondern auch auf die dichterische Deutung der Fakten ankommt. Als Beispiel sei zunächst der Kriminalroman „Reise ohne Wiederkehr" von Robert A. Stemmle genannt. Er beruht auf dem Fall des Arztes Dr. Marcel Petiot, der die Rassengesetze der deutschen Besatzungsmacht ausnutzte, um in den Jahren 1941—1944 siebenundzwanzig jüdische Flüchtlinge in Paris zu morden. Dem Autor ging es in seinem Kriminalroman nicht nur darum, die Tatsachen zu berichten. Er macht vielmehr die Geschichte eines Mörders deutlich, für dessen Handeln der verbrecherische Krieg eine der unerläßlichen Voraussetzungen war. Den Krieg mit seinen plötzlichen Notlagen und der Entwurzelung vieler Menschen, den Krieg als den Entwerter des Menschenlebens hat Petiot mit kaltblütiger, rücksichtsloser Systematik ausgenutzt. Ein weiteres Beispiel für einen realistischen Kriminalroman ist „Der Fall Dominici" von Jean Giono. Der Autor stellt mit dichterischer Intuition den Mordfall dar, der in einer Augustnacht des Jahres 1952 in Südfrankreich, nahe der Cöte d'Azur, begangen worden ist. Der englische Forscher Jack Drummond, seine Frau und sein kleines Töchterchen waren die Opfer. Zwei Jahre später stand der 74jährige Gaston Dominici unter Mordanklage vor dem Schwurgericht in Digne und wurde nach 14tägiger Verhandlung zum Tode verurteilt. Der französische Dichter Giono aus Manosque, einem südfranzösischen Städtchen unweit vom Tatort, hat dem Prozeß gegen Gaston Dominici beigewohnt. Aber auch ihm ging es nicht allein um die Darstellung der Fakten. Er formte das Tatgeschehen vielmehr zu einem faszinierenden Charakterbild, in dessen Zügen er Mensch und Landschaft mit Geschichte und Gesellschaft verwob. Ihn fesselte der Umstand, daß für das rätselhafte, grausige Geschehen kein Tatmotiv entdeckt werden konnte. Ihm kam es darauf an, zu zeigen, daß unter der dünnen Zivilisationsschicht des 20. Jahrhunderts Dämonisches, vulkanischer Boden sichtbar werden kann. „Der Fall John Bodkin Adams" hat weit über Englands Grenzen hinaus Aufmerksamkeit erregt. Sybille Bedford hat den 17 Tage währenden Prozeß verfolgt und einen spannenden Bericht darüber verfaßt. „Im Gefängnis ist alles anders" hat Friedrich Matthias seinen Bericht genannt, mit dem er die Wirklichkeit und die Probleme des Strafvollzugs in der Bundesrepublik darstellen will (vgl. auch Η. P. Müller, 1966). 6. Der psychologische

Kriminalroman

Beim psychologischen Kriminalroman stehen die Persönlichkeit des Täters, seine seelische Eigenart, die Stufen seiner Entwicklung, seine Beziehung zum Opfer und manchmal auch die Persönlichkeit des Opfers der Straftat im Mittel-

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Kriminalroman

punkt des Interesses. Der Autor forscht nach den zum Verbrechen hindrängenden Motiven. Bisweilen wird aber auch der Rechtsbruch selbst mit allen Gräßlichkeiten und in allen Einzelheiten ausgemalt. Dann werden die Seelenzustände des Täters vor, während und nach der Tat mit allen psychologischen und psychoanalytischen Feinheiten beleuchtet. Vorläufer des psychologischen Kriminalromans ist Friedrich Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre". Die eigentlichen Wurzeln des psychologischen Kriminalromans liegen indessen in der Romantik, die das Verbrechen in die Sphäre des Geheimnisvollen und Geisterhaften eintaucht. Alewyn (1963, S. 131ff.) versucht sogar seine Meinung zu begründen, nach der die literarische Herkunft und die geistige Heimat des Detektivromans überhaupt in der Romantik und nicht im Rationalismus liegen. Mit ihrer Zuneigung für die Nachtseiten des Lebens, für das Unbewußte, Triebhafte versucht die romantische Dichtung, den Tiefen der menschlichen Seele und ihren krankhaften Neigungen nachzuspüren (Radine, 1960). Das Thema des „wahnsinnigen" Verbrechers wird mit besonderer Vorliebe aufgegriffen. Als Darstellung eines solchen Verbrechertyps kann wohl der Goldschmied Cardillac in Ε . T. A. Hoffmanns „Fräulein von Scuderi" gelten. Feinsinnige psychologische Charakterstudien über asoziale Menschen mit anomalen Charakterzügen gehören ebenfalls zum psychologischen Kriminalroman; denn das „fast"kriminelle „abweichende, sozial unangepaßte Verhalten" bildet den Nährboden, auf dem die Kriminalität wächst. Beispiele für solche Charakterstudien sind F. M. Dostojewskis „Spieler", Alexandre Dumas' „Kameliendame" und Hans Falladas „Trinker". Auch die Typen des Betrügers und Hochstaplers, ihre schauspielerische Begabung, ihre instinktive Fähigkeit, alle sich bietenden Gelegenheiten zum Betrüge auszunutzen, und ihre nachtwandlerische Sicherheit, sich in einer Welt des Scheins zu bewegen, werden von Thomas Mann in den „Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krall" und von Sacha Guitry im „Roman eines Schwindlers" mit dichterischer Überzeugungskraft veranschaulicht. In den psychologischen Kriminalromanen geht es hingegen nicht immer nur um Abnormitäten des Trieblebens und der Willensbildung. Kam es der Detektivgeschichte auf die Entdeckung des Verbrechers durch den Detektiv an, so fragt der Autor des psychologischen Kriminalromans: „Wie lange kann das schreckliche Geheimnis des Verbrechens in der Seele des Täters verschlossen bleiben?" Die bewußte oder unbewußte Selbstentdeckung und das Strafbedürfnis des Täters kommen hier mit ins Spiel. Man gibt sich ferner nicht mit der Überführung des Täters allein zufrieden, sondern beschäftigt sich aus tiefster metaphysischer Neugier heraus auch

mit dem „Nachher". So zeichnen insbesondere russische Autoren wie Lermontow, Melnilcow, Lesskow, Tschechow, Brjussow, Turgenjew, Saltykow, Kusmin Charakterbilder von Verbrechern mit leidenschaftlicher Eindringlichkeit. In dem Kriminalroman „Raskolnikow" erzählt F. M. Dostojewski die erschütternde Geschichte des jungen tatenlosen Titelhelden, der sich durch eine ungewöhnliche Tat von seiner Energielosigkeit befreien möchte. Unter dem Einfluß latenter krimineller Neigungen versucht er, sich an einem Mord aufzurichten. Er hat von der Theorie gehört, wonach es einer starken übermenschlichen Persönlichkeit gestattet sei, auch über Leichen hinweg das Glück seiner Mitmenschen zu gestalten. Ganz zufällig hört Raskolnikow in einem Gasthaus das Gespräch eines Studenten mit einem Offizier über eine alte geizige und bösartige Pfandleiherin. Der Student sagt scherzhaft: „Ich will die vermaledeite Alte totschlagen und berauben, und ich versichere dir, ich würde nicht die geringsten Gewissensbisse darüber empfinden." Die Inkubationszeit bis zur Mordtat wird nun vom Dichter in liebevoller psychologischer Kleinmalerei dem Leser vor Augen geführt. Alle Einzelheiten, jede Empfindung und Vorstellung des Täters vor und bei Ausführung der Tat werden aufs feinste gezeichnet. Raskolnikow erschlägt die Pfandleiherin und ihre Schwester, die unerwartet dazukommt, in ihrer Wohnung. Und dann beginnt das Ringen mit der Polizei und dem Untersuchungsrichter. Hatte Raskolnikow zur Tat selbst noch eine ausreichende Energie, so bringt er nun die Kraft nicht mehr auf, sie geheim in seiner Seele zu bewahren. Der Dichter schildert ein feines analytisches Beispiel der zwanghaften Wiederkehr des Mörders an den Tatort. Mit dichterischer Einfühlungskraft wird auch die Beziehung Raskolnikows zu der Prostituierten Sonja wiedergegeben, die ihn bedrängt, seinen Gewissensqualen durch Selbstanzeige ein Ende zu setzen. Der Atheist Raskolnikow muß erkennen, daß er schwere Schuld auf sich geladen hat, von der er sich nur durch Sühne befreien kann, zu der er sich selbst bekennt. Mit den Problemen von Reue und Buße hat sich F. M. Dostojewski auch in seiner Erzählung „Aus einem Totenhause" auseinandergesetzt, die in einem Zwangsarbeitslager in Sibirien spielt. Oscar Wilde hat in seinem Roman „Das Bildnis des Dorian Gray" gleichfalls eindringliche Charakterbilder und bestürzende „kriminelle Bekenntnisse" vorgelegt. „Jeder Trieb, den wir zu unterdrücken suchen, brütet im Innern weiter und vergiftet uns . . . Die einzige Art, eine Versuchung zu bestehen, ist, sich ihr hinzugeben", sagt Lord Henry, der Dorian zu allen nur möglichen Lastern verführt. Dorian muß an seinem Bildnis, das sein Gewissen versinnbildlicht, die gräßliche Verderbnis seiner Seele erkennen. Durch den Mord am Maler seines Bildes versucht er,

Kriminalroman dieser Erkenntnis zu entgehen. Die Ermordung des Malers wird mit guter Intuition erzählt. „Wie schnell war das alles geschehen. Er fühlte sich merkwürdig ruhig, ging zum Fenster, öffnete es und trat auf den Balkon hinaus . . . Er blickte den Ermordeten nicht mehr an. Er empfand, daß das Geheimnis der ganzen Sache darin bestand, sich die Situation nicht vorzustellen." Aber das gelingt ihm nur für kurze Zeit. „Allmählich schlichen sich die Geschehnisse der vergangenen Nacht auf leisen, blutbefleckten Sohlen in sein Gehirn und bauten sich dort mit fürchterlicher Deutlichkeit auf." Auch Dorian kann das Angstgefühl des ihn quälenden Gewissens nicht vertreiben. Er versucht, Lord Henry den Mord zu gestehen. Henry wehrt ab: „Das Verbrechen ist ein ausschließliches Vorrecht der niederen Stände. Ich will damit keinen Tadel aussprechen. Ich vermute einfach, daß das Verbrechen für sie ist, was die Kunst für uns, einfach eine Methode, sich außergewöhnliche Empfindungen zu verschaffen." Dorian sehnt sich nach Reinigung durch Buße. Er bestraft sich selbst. Er zerfetzt sein Bildnis und begeht Selbstmord. Vladimir Nabokov schildert in seinem Roman „Lolita" in teilweise zynisch-vulgärer Weise das Persönlichkeitsbild eines Pädophilen. Bis in alle Einzelheiten wird das sexuelle Verhältnis des Stiefvaters zu seinem unter 14 Jahre alten Töchterchen dargestellt, das bereits sexuelle Erfahrungen mit gleichaltrigen Mädchen und Jungen hatte. Nabokov charakterisiert die Entwicklungsphase, in der Mädchen noch weithin kindlich erscheinen, aber schon deutlich der Schimmer beginnender sexueller Reifung über ihnen liegt. Er nennt die bevorzugten Opfer der Sexualdelikte „Nymphchen" oder „Dämonkinder". Diese Nymphchen sollen besondere Persönlichkeitsmerkmale besitzen: „die Koboldgrazie, der unbegreifbare, verschmitzte, seelenzerrüttendc, heimtückische Zauber" und „die zarte, träumerische Kindlichkeit, in die sich eine koboldhafte Gewöhnlichkeit mischt". Abschließend sollen hervorragende Beispiele für psychologische Kriminalromane zweier deutschsprachiger Autoren erwähnt werden. Der Österreicher Joseph Roth hat in seiner „Beichte eines Mörders" dem Leser das einen Menschen beherrschende Frustrationserlebnis vor Augen geführt; der „Held" des Romans, der selbst der natürliche Sohn eines russischen Adligen war und sich durch den Adoptivsohn seines Vaters dauernd zurückgesetzt fühlte, wurde durch dieses Erlebnis zum Mörder. Werner Bergengruen hat in seinem „Feuerzeichen" mit erstaunlicher psychologischer Klarsichtigkeit die seelische Entwicklung des Gastwirts Hahn aufgezeigt, der schuldlos schuldig wurde, sich aber mit Starrsinn bis zum Selbstmord verrannte, weil er seine „Schuld" vor den Menschen nicht anerkennen und die Gnade nicht annehmen wollte.

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7. Der ethisch-metaphysische Kriminalroman Im ethisch-metaphysischen Kriminalroman, der aus der literarisch wertvollen Detektivgeschichte erwachsen ist und der auch in vielen Fällen Kennzeichen des realistischen und psychologischen Kriminalromans aufweist, geht es darum, hinter der vordergründigen Wirklichkeit kriminellen Geschehens die wahren Grundlagen und Zusammenhänge kriminellen Seins zu entdecken und letzte, gültige Wertinhalte und Wertgesetzlichkeiten sichtbar zu machen. So beschäftigt sich Bergengruen in seinem Werk „Der Großtyrann und das Gericht" bei der Aufklärung eines Mordfalles mit dem Thema der Versuchung der Mächtigen und der Leichtverführbarkeit der Bedrohten. Auch Graham Greenes Kriminalromane lassen einen Raum offen, in den hinein sich die Vermutung vorwagen darf, daß das Leben mit seinen handgreiflichen Realitäten nicht erschöpft ist. Das gilt ζ. B. für seinen „Orientexpress", in dem eine ganze Reihe von Menschenschicksalen verwoben werden, die mit krimineller Schuld beladen sind. Das trifft aber auch für den „Dritten Mann" zu, der im Milieu der von den vier Besatzungsmächten verwalteten Stadt Wien in der Nachkriegszeit seinem Schicksal nicht entgeht. Die Erzählung „Die Panne" des Schweizers Dürrenmatt ist ebenso ein gutes Beispiel für einen ethisch-metaphysischen Kriminalroman: Während eines Herrenabends, an dem außer vier älteren Herren noch zufällig ein Textilvertreter teilnimmt, dessen Wagen eine Panne hat, spielen die vier alten, pensionierten Herren ihren früheren Beruf. Sie waren einmal Richter, Staatsanwalt, Rechtsanwalt und Scharfrichter. In fröhlicher Tafelrunde freundlich beisammensitzend, treten sie zu einer Gerichtsverhandlung zusammen, bei der der Textilvertreter den Angeklagten spielen muß. Im Kreuzverhör mit dem Angeklagten, der ursprünglich davon überzeugt war, nie eine Straftat begangen zu haben, überfällt diesen plötzlich ein merkwürdiger Zwang zum Geständnis; denn ihm wird mit einem Male klar, daß er einen Menschen — wenn auch nur aus Gedankenlosigkeit — gemordet hat. In ihm stieg „eine Ahnung von höheren Dingen, von Gerechtigkeit, von Schuld und Sühne" auf. Das Urteil des Gastgebers, der den Richter spielte, lautete auf Mord und auf die Todesstrafe. Die alten Herren, die bis zum Abschluß des Spiels fast völlig betrunken waren, lärmten und lachten über den gelungenen Spaß. Sie sahen im Verbrechen nämlich nichts Unschönes, Schreckliches mehr. Denn: „Wer von uns kennt sich, wer von uns weiß von seinen Verbrechen und geheimen Untaten ?" Für den Angeklagten wurde aber aus dem Spiel bitterer Ernst. Er überführte sich nicht nur selbst, sondern er richtete sich auch mit eigener Hand, indem er noch in derselben Nacht Selbstmord beging. Schließlich sei noch auf Carl Zuckmayers „Fast-

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nachtsbeichte" hingewiesen, bei der die Aufklärung eines Mordfalls während des Mainzer Karnevals 1913 im Vordergrund steht. An Hand dieses Mordfalls arbeitet der Dichter die Fragwürdigkeit dessen heraus, was man gemeinhin „die Liebe" nennt: das „harte Götterbild der gnadenlosen Liebe", die Liebe, die das andere Leben um jeden Preis ganz besitzen, behalten, nie mehr loslassen, nur für sich haben will, die „tödliche, mörderische Liebe", auf die der begangene Mord letztlich zurückzuführen ist. Ferner setzt er sich mit der Frage um Schuld und Sünde auseinander. „Es gibt . . . sehr viele Arten von Schuld und Sünde, und es gibt sehr wenige Möglichkeiten ihrer Tilgung . . . Irdische Gerechtigkeit, die wir alle erstreben, entspricht nur bedingt der wahren, göttlichen, deren Wesen im überzeitlichen Ausgleich beruht. Das meiste Unrecht, die meisten Sünden und Vergehen, sind kaum im Gesetz und nicht einmal in den Geboten genau zu fassen . . . " In der „Fastnachtsbeichte" am Aschermittwochmorgen im Mainzer Dom muß die wahre Täterin ihre Schuld bekennen. Sie hat zwar den Mord nicht mit eigenen Händen begangen. Sie hat ihn aber gewollt und gebilligt, und ihre Gedanken waren für die Tat unmittelbar ursächlich. 8. Der justizkritische

Kriminalroman

Der justizkritische Kriminalroman versucht, Mißstände und Unzuträglichkeiten bei der Verbrechensbekämpfung und der Behandlung des Rechtsbrechers durch Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht und Strafvollzug aufzudecken. Die wenigen Kriminalromane dieses Typs kommen aber vielfach über allgemeine, oft nichtssagende Bemerkungen zur Justizkritik nicht hinaus. Jakob Wassermann behandelt in seinem „Fall Mauritius" einen verhängnisvollen Justizirrtum, der nicht durch die Gerichtsbehörden, sondern durch den menschlichen Einsatz eines jugendlichen Idealisten aufgedeckt, hingegen keineswegs bereinigt wird. Der Autor rügt mit harten Worten die Versäumnisse und Nachlässigkeiten im Ermittlungsverfahren, die Skrupellosigkeit des Staatsanwalts, der um seiner Karriere willen selbst einen unschuldigen Menschen zu opfern bereit ist, die Gedankenlosigkeit und Beeinflußbarkeit der Richter, insbesondere der Laienrichter, die die geschickte Argumentation eines Plädoyers nüchterner Beweisführung vorziehen, den seelisch zermürbenden Strafvollzug, der für ein Leben in der Freiheit untüchtig macht. In dem Kriminalroman „Der letzte Zeuge" von Maximilian Vernberg werden eine Reihe von Vorschriften der Strafprozeßordnung und die Praxis des Ermittlungsverfahrens kritisiert. Die Vernehmungsmethoden der Kriminalpolizei und des Untersuchungsrichters werden als oberflächlich und entwürdigend beurteilt. Das Milieu der Untersuchungshaft, „das durch seine primitiven Verhältnisse den Betroffe-

nen denk- und konzentrationsunfähig macht", wird als niederdrückend geschildert. Zwis chen der Ermittlungsbehörde und der Verteidigung herrscht — nach Ansicht des Autors — zudem keine „Waffengleichheit". Die Rechte der Verteidigung werden vielmehr stark beschnitten (ζ. B. Beschränkungen bei der Akteneinsicht). Die Gutachten der Sachverständigen sind angeblich oft mit fehlender Sachkunde vorbereitet und für die Verfahrensbeteiligten weitgehend unverständlich. Die Voreingenommenheit des Gerichts gegenüber der Angeklagten wird bemängelt, die ein unmoralisches Vorleben geführt hatte. Der wahre Täter kann demgegenüber nur durch die äußersten Anstrengungen der Verteidigung in letzter Minute und gleichsam gegen den Widerstand der Strafverfolgungsbehörden entdeckt werden. Fallada hat in seinem Roman „Wer einmal aus dem Blechnapf frißt" schließlich versucht, die Mißstände darzulegen, die im Strafvollzug — nach seiner Meinung — herrschen. Eindrucksvoll wird geschildert, wie sich der haftgewohnte Schwerkriminelle durch geschickte äußere Anpassung an die Gefängnisatmosphäre alle nur möglichen Vergünstigungen zu verschaffen vermag, während der unerfahrene Erstbestrafte durch seine Mitgefangenen nur noch mehr kriminell infiziert wird und nach seiner Entlassung wegen der Gleichgültigkeit, Verständnislosigkeit, ja Feindseligkeit der Bevölkerung nicht mehr in die Gesellschaft wiedereingegliedert werden kann. 9. Der gesellschaftskritische

Kriminalrom

an

Im gesellschaftskritischen Kriminalroman werden die Ursachen für das Verbrechen in sozialen Mißständen gesucht. Die Schwäche und Anfälligkeit der modernen Zivilisationsgesellschaft für das Verbrechen werden sichtbar gemacht. Dem Leser wird vor Augen geführt, daß das freche, organisierte Verbrechertum, das — so wird es dargestellt — selbst hohe Staatsämter und die Strafverfolgungsbehörden durchsetzt hat, der Gesellschaftsordnung der Gegenwart überlegen ist, die — moralisch indifferent — vor allem den äußeren materiellen Erfolg und ein menschenunwürdiges Luxusleben schätzt. Diese Gesellschaft besitzt nur noch ungenügende moralische Kräfte, um sich vom organisierten Verbrechertum zu reinigen. Der Luxemburger Norbert Jacques hat in seinem Kriminalroman „Dr. Mabuse, der Spieler" die Verwilderung der Sitten und die Spielwut nach dem 1. Weltkrieg beleuchtet. Der Psychiater Dr. Mabuse, der „geniale Verbrecher von höchster Vollendung menschlichen Könnens", nimmt den Kampf mit der Staatsmacht auf. Er schändet die Menschen, die ihn anbeten und sich freudig für ihn opfern. Mit dem Spiel in Münchner Spielsälen unter Einsatz seiner suggestiven Kräfte, mit Schmuggel größten Stils, Spekulationen usw. erwirbt er ein Riesenvermögen. Er befehligt „Be-

Kriminalroman seitigungs- und Befreiungskommissionen", die jeden beliebigen Menschen töten oder aus staatlichem Gewahrsam befreien können. Mit der schamlosen Ausbeutung und der systematischen Terrorisierung der Arbeiter in einem New Yorker Hafenbezirk durch die Funktionäre der Hafenarbeitergewerkschaft setzt sich Budd Schulberg in seinem Roman „Die Faust im Nacken" auseinander. Die Hafenarbeitergewerkschaft ist mit Verbrechern unterwandert, die mächtigen Einfluß in der Stadtverwaltung, bei der Polizei und selbst in der Kirche haben und die ein gnadenloses Gewalt- und Schreckensregime über den Hafenbezirk errichten. Angst, Elend, Alkoholismus, Hoffnungslosigkeit herrschen bei den Arbeitern, die an die Verbrecher mehr oder weniger alle verschuldet sind. Einzelne todesmutige Männer wagen es, gegen dieses Gangstertum aufzubegehren; sie scheitern und zerbrechen aber alle im Grunde. Mit seinem Kriminalroman „Fahrraddiebe" hat Luigi Bartolini ein erschütterndes Bild der italienischen Nachkriegsgesellschaft gezeichnet. Die Polizei ist den Fahrraddieben gegenüber machtlos; das gesteht sie sogar unverhohlen ein. Auch die Selbsthilfe des Bestohlenen hilft nichts; denn die Verbrecher bilden eine verschworene Gemeinschaft und bedrohen offen ihre Opfer. So hilft dem Bestohlenen nichts weiter als der Rückkauf seines Fahrrades, der durch eine ihm von früher bekannte Prostituierte vermittelt wird, die für den Bestohlenen bei dem Dieb ein gutes Wort einlegt und die von dem Bestohlenen auch noch eine „Provision" erhält. Die westdeutsche „Wirtschaftswunder"-Gesellschaft ist von Erich Kuby in seinem Roman „Rosemarie, des deutschen Wunders liebstes Kind" heftig angegriffen worden. Das Mädchen Rosemarie, eine Frankfurter Prostituierte, bei der sich Industrielle gern aussprechen, versucht, durch Industriespionage und Erpressungen ihren Verdienst aufzubessern, wird aber schließlich selbst das Opfer eines Mordes. Jehanne Jean-Charles hat in seinem Roman „Schrei, wenn du kannst" das moralisch völlig zerrüttete Leben Pariser Studenten und Studentinnen dargestellt. Es soll angeblich gekennzeichnet sein durch nackte, grobe Sexualität, Geldgier, Verachtung geistiger Werte, Verspottung jeder Moral, Hochschätzung unredlich erlangter akademischer Erfolge und eines arbeitsscheuen Luxuslebens. Fleiß und menschliche Anständigkeit führen zum Mißerfolg. Unschuld und Unerfahrenheit sind gleichsam tödlich.

10. Der politische Kriminalroman a) Grundsätzliche kriminologische R e c h t f e r t i g u n g des p o l i t i s c h e n K r i m i n a l r o m a n s . Es ist ein grundsätzlich legitimes kriminologisches Anliegen, die Möglichkeiten einer engen Verflochtenheit zwischen Politik und Ver-

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brechen im politischen Kriminalroman aufzudecken. Denn gerade die jüngste deutsche Vergangenheit hat deutlich werden lassen, daß politische Verbrechen die schwersten und schmerzlichsten Folgen haben können. In seinem Roman „Erfolg" hat Lion Feuchtwanger die nationalsozialistischen Untaten vor der Regierungsübernahme dieser Partei in Deutschland aufgezeigt. Dem verbrecherischen Antisemitismus ist Stemmle in seinem Buch „Affäre Blum" mutig entgegengetreten. Anna Seghers hat in ihrem Roman „Das siebte Kreuz" bei der Schilderung der Verfolgung von sieben aus dem Konzentrationslager Westhofen ausgebrochenen Häftlingen ein ergreifendes Bild der scheußlichsten und verabscheuungswürdigsten Verbrechen gezeichnet, die in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern verübt worden sind. Der Schweizer Dürrenmatt schildert in seinem Kriminalroman „Der Verdacht", wie ein ehemaliger Lagerarzt eines Konzentrationslagers auch gegenwärtig noch Verbrechen begeht, wie er seiner öffentlichen Brandmarkung durch Morde zu entgehen sucht, während seine in ihrer Persönlichkeit zerbrochenen Opfer aus nationalsozialistischer Zeit armselig in Kellern hausen. b) D e r p o l i t i s c h - t e n d e n z i ö s e K r i m i n a l r o m a n . Neben dem politischen Kriminalroman, der echte kriminologische Einsicht vermittelt, gibt es indessen auch noch den politisch-tendenziösen Kriminalroman, der ausschließlich im Dienste einer bestimmten politischen Ideologie steht. Viele Kriminalromane aus kommunistisch regierten Ländern gehören heute zu diesem Typ. Diese Kriminalromane versuchen, die Bevölkerung in aggressiv-einseitiger und polemischer Weise von den Vorteilen des von ihnen vertretenen politischen und sozialen Systems und von den Nachteilen der von ihnen abgelehnten politischen und sozialen Systeme zu überzeugen. In dem ungarischen Kriminalroman „Attentat im Morgengrauen" von Gabor Thurzö wird ζ. B . veranschaulicht, wie im Jahre 1931 der internationale Schnellzug nach Wien auf der Talbrücke bei Biatorbägy in die Luft gesprengt wird und wie sich dann die Aufklärung dieses Falles entwickelt: Wegen eines am Tatort gefundenen Briefes, der Andeutungen kommunistischer Agitation enthält, wird das Verbrechen den Kommunisten in die Schuhe geschoben. Obgleich die Polizei den wahren Täter schon kennt, wird seine Festnahme bewußt so lange hinausgezögert, bis ein führender unbequemer Kommunist verurteilt und hingerichtet ist. Die politischen Angriffe zweier Kriminalromane aus Ostdeutschland richten sich vor allem gegen West-Berlin, das als Agenten- und Spionagezentrum schlimmster Art charakterisiert wird. In dem Kriminalroman „Spuren im Gras" von Horst Boas geht es um Wilderei und Mord, weil der Täter „Republikflucht" nach West-Ber-

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lin begehen wollte. Er wollte sich „von den Steuergroschen der Arbeiter" ausbilden lassen, um dann in den Westen zu fliehen. „Der sichere Platz in der Republik war ihm nicht gut genug." In dem Kriminalroman „Froschmann in der Oder" von Günter Radtke wird dargelegt, wie ein nach West-Berlin geflohener Verbrecher gezwungen wird, für den amerikanischen Geheimdienst zu arbeiten und wie selbst "harmlose" Bürger der DDR aus Gleichgültigkeit und Unerfahrenheit den raffinierten Methoden des amerikanischen Geheimdienstes erliegen. Eva Müthel beschreibt andererseits in ihrem Kriminalroman „Für dich blüht kein Baum", wie eine Volksschullehrerin und ein Student in der russischen Besatzungszone Deutschlands in der Nachkriegszeit antisowjetische Flugblätter verteilen und vom sowjetischen Staatssicherheitsdienst verhaftet werden. Grobe Mißstände bei der Verurteilung und bei der Strafverbüßung dieser politischen Straftäter werden dem Leser vor Augen geführt. c) Der m a r x i s t i s c h - l e n i n i s t i s c h e K r i m i n a l r o m a n . Nicht alle Kriminalromane, die in der DDR und Osteuropa erscheinen, sind politisch-tendenziöse Kriminalromane, die in sich ständig wandelnden politischen Situationen nur vordergründigen Augenblickszielen dienen. Es gibt vielmehr auch Kriminalromanautoren, die sich durchaus bemühen, die sozialen Hintergründe für die begangene Straftat und die Motive des Rechtsbrechers zu analysieren. Vor allem wird der Versuch unternommen, so etwas wie eine kommunistische Kriminalpädagogik zu entwickeln. Bei solchen Versuchen ist allerdings fast stets leicht erkennbar, daß sie letztlich doch wieder auf die traditionelle ideologisch-dogmatische Verbrechenslehie des Marxismus-Leninismus zurückgeführt werden können: Dem „gesellschaftlichen Gesetz" der schrittweisen Überwindung und des „Absterbens" der Kriminalität in der kommunistischen Gesellschaft wird das „gesellschaftliche Gesetz" der Steigerung der Kriminalität und der allmählichen schrittweisen kriminellen „Verseuchung aller Gesellschaftsbeziehungen in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung" gegenübergestellt (Pfeiffer, 1960; Ε. K. Wenig, 1960). Aus diesen beiden „gesellschaftlichen Gesetzen" werden drei Grundthesen abgeleitet: Alle Verbrechen haben in letzter Instanz gesellschaftliche Ursachen. Der militante kapitalistische Imperialismus betreibt seine Politik mit kriminellen Mitteln. Soweit das Verbrechen in der kommunistischen Gesellschaftsordnung überhaupt noch vorkommt, beruht es letztlich auf den Resten kapitalistischer Vergangenheit (Rudiment-Theorie). Mit solchen Resten der bürgerlichen Gesellschaft hatte man sich — nach der marxistisch-leninistischen Verbrechenslehre — auch herumzuschlagen, als es nach der kommunistischen Revolution und dem Bürger-

krieg (1917—1920) um die Bekämpfung jugendlicher Banden in der Sowjetunion ging. Dieses bei den sowjetischen Schriftstellern sehr beliebte und von ihnen oft behandelte Thema liegt auch den Romanen „Der Weg ins Leben" von A. S. Makarenko und „Vagabunden" von Wjatscheslaw Schischkow zugrunde. Makarenko erzählt aus der Sicht des Pädagogen von der Gründung und Entwicklung einer Arbeitskolonie für jugendliche Rechtsbrecher in der Nähe von Poltawa in den Jahren 1920—1926. Er will diese Rechtsbrecher nicht nur zu unschädlichen und ungefährlichen Mitgliedern der kommunistischen Gesellschaft erziehen, sondern aus ihnen „sozialistische" Persönlichkeiten machen, die aktiv am Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung mitwirken. Mit Offenheit und nicht ohne Humor berichtet Schischkow über die damaligen grausamen und unwürdigen Zustände in der Sowjetunion. In seinem Buch, das Romain Rolland „bemerkenswert" genannt hat, gibt er die innere Wandlung der jugendlichen Kriminellen aus ihrem unmittelbaren Erleben heraus wieder. Für Makarenko und Schischkow ist das wirksamste Mittel zur Bekämpfung der Jugendkriminalität die Bildung schlagkräftiger, straff organisierter Kollektive, die selbst bestimmen, richten, gemeinsam handeln und keinen Stillstand kennen. Diese Kollektive sollen alle ihre Mitglieder selbst erziehen, ohne daß ihre Mitglieder es überhaupt merken. Auch der sowjetische Schriftsteller Lew Schejnin bekennt sich in seinem Kriminalroman „Spione" zu solcher Umerziehung. „Wenn man die kriminellen Elemente zur Verantwortung zieht, muß man gleichzeitig an ihre Umerziehung und an ihre Rückkehr zu einem ehrlichen Leben denken. Und in unserer Gesellschaftsordnung soll selbst die Strafe ein Erziehungsmittel werden." Hans Pfeiffer entrollt in seinem Kriminalroman „Sieben Tote brauchen einen Mörder" ein Bild von der „kriminellen Verseuchung der kapitalistischen Gesellschaft". In den tschechoslowakischen Kriminalromanen „Die Uhren des Herrn P" von Karel Michal und „Serie C L" von Eduard Fiker wird ausgemalt, wie sich die „sozialistische" Gesellschaft nur unter Aufbietung aller ihrer Kräfte von einem gefährlichen, brutalen und wohlorganisierten Verbrechertum befreien kann. Der kriminellen Bande steht das Polizeikollektiv in unerbittlichem Kampf gegenüber. Zwar bleibt für untergeordnete Aufgaben innerhalb dieses staatlichen Kollektivs die private Eigeninitiative bedeutsam. Gleichwohl kann der entscheidende Schlag gegen die Verbrecher nur unter gemeinsamer härtester Anstrengung des gesamten Kollektivs geführt werden. Auch der sowjetische Schriftsteller Arkadij Adamow hat in seinem Kriminalroman „Die bunte Bande von Moskau" einen solchen Kampf eines Kollektivs der Moskauer Kriminalpolizei gegen eine gefährliche kriminelle Bande geschildert. Der Autor

Kriminalroman äußert sogar offen seine Ansicht, warum es auch heute noch eine so starke Kriminalität in der Sowjetunion gibt: „Bei uns sind noch ernsthafte Mängel im Schulwesen, bei der Erziehungsarbeit in Industrieobjekten und in den Mauern der Hochschulen vorhanden." D. Zusammenlassende Beurteilung der kriminologischen Bedeutung der verschiedenen Typen des Kriminalromans Die hier entworfene Typologie des Kriminalromans soll nicht Selbstzweck, sondern nur Hilfsmittel sein. Bei der Einordnung von Mischtypen von Kriminalromanen in diese Typologie ist eine Schwerpunktbetrachtung notwendig, da Überschneidungen vorkommen können. Aber nicht die richtige Einordnung ist kriminologisch entscheidend. Die entwickelte Typologie soll vielmehr durch den Aufweis einer breiten Skala von Erscheinungsformen Einblicke in das kriminologische Wesen des Kriminalromans selbst vermitteln. Sie soll ferner die verschiedenartige kriminologische Valenz jeder Erscheinungsform dartun. 1. Schriftstellerische Intuition und Introspektion in die Psyche des Täters als kriminologische Erkenntnismittel a) Die v e r s c h i e d e n a r t i g e k r i m i n o l o g i sche V a l e n z v e r s c h i e d e n e r K r i m i n a l r o m a n t y p e n . Bei den verschiedenen Arten der Detektivgeschichte kann ζ. B. weder der Kriminalist noch der Kriminologe aus den Schilderungen der technischen Durchführung des Verbrechens, des Vorgehens des Täters, der sich dem polizeilichen Zugriff zu entziehen sucht, oder der Methoden, die der Detektiv zur Überführung des Verbrechers anwendet, wesentliches lernen. Denn alle diese Darstellungen sind zumeist recht phantastisch und haben mit der Wirklichkeit kriminellen Geschehens nichts mehr gemein (so auch Dahncke, 1958 und Sicot, 1961). Allenfalls könnte ein potentieller Rechtsbrecher auf neue Ideen für die Durchführung eines von ihm geplanten Verbrechens gebracht werden. Der politisch-tendenziöse Kriminalroman ist gleichfalls kriminologisch wertlos, weil seine Ziele zu vordergründig politisch sind. Beim realistischen, psychologischen, ethisch-metaphysischen, justiz- und gesellschaftskritischen Kriminalroman kann dagegen die dichterische Intuition und Introspektion in die Psyche des Täters als kriminologisches Erkenntnismittel bedeutsam sein, wenn die Erkenntnisse des Schriftstellers als Anregung zum weiteren Nachdenken und nicht einfach unkritisch übernommen werden. Für die Praxis der Verbrechensbekämpfung wie für die kriminologische Forschung kann es nicht gleichgültig sein, wie Schriftsteller die Verbrechensphänomene, ζ. B. die menschliche Situation aus Anlaß einer Straftat, sehen und

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welche Kritik sie an der Strafverfolgung durch Polizei, Gericht und Strafvollzug üben. b) Kriminalphänomenologische und - ä t i o l o g i s c h e A n a l y s e n in K r i m i n a l r o m a nen. Die Darstellung der Charakterbilder von Menschen, die mit den schrecklichen und geheimnisvollen Tatsachen des Lebens nicht fertig werden, kann gerade für denjenigen von unschätzbarem Wert sein, der beruflich mit sozial Anpassungsunfähigen, sog. gescheiterten Existenzen, krankhaft Ehrgeizigen, Alkoholsüchtigen, sexuelltriebhaft Gestörten zu tun hat. Aber nicht nur für die Praxis der Strafverfolgung, sondern auch für die kriminologische Forschung und Lehre erscheinen Kriminalromane — im Rahmen der Hypothesenbildung (des Modelldenkens) und als Anschauungsmaterial — dann erheblich, wenn sie dem kriminellen Menschen unserer Tage nahezukommen und ihn so zu sehen versuchen, wie er in Wirklichkeit ist. Einige in diesem Sinne kriminologisch wertvolle Kriminalromane, die die erschreckende Kontaktarmut und Einsamkeit des modernen Menschen, seine Existenzbedrohung, seine Verständnislosigkeit seinen Mitmenschen gegenüber und seine Glaubenslosigkeit als Verbrechensursachen herausarbeiten, seien als Beispiele genannt: Georges Simenon, der in seinen besten Kriminalromanen die Motive zur Tat in einer sublimen psychologischen und soziologischen Analyse zu ergründen sucht und dem es auf das sozialpsychologische Eindringen in die Struktur der zwischenmenschlichen Beziehungen ankommt, hat in seinem Kriminalroman „Bellas Tod" gezeigt, wie ein angesehener Bürger, Lehrer in einer nordamerikanischen Kleinstadt, in den unbegründeten Verdacht gerät, einen Lustmord begangen zu haben, und gesellschaftlicher Ächtung verfällt. Da er auch in seiner eigenen Gewißheit, an dem Mord unschuldig zu sein, keine Stütze mehr findet, wird er durch die unerbittlich konformistische Gesellschaft zu einer Verzweiflungstat getrieben, durch die er sich von seiner ihm unlösbar erscheinenden Verstrickung zu befreien sucht. In dem Kriminalroman „Die Brüder Rico" schildert derselbe Autor die psychische Entwicklung eines Mannes, der einer Gangsterorganisation in den USA angehört und der wegen der erbarmungslosen Disziplin in seiner Bande in den seelischen Konflikt gerät, entweder seine eigene gesellschaftliche Stellung aufzugeben oder an einem Mord an seinem Bruder mitzuwirken. Einen Einblick in die psychische Situation eines Mannes, der eine folgenschwere Fahrlässigkeitsstraftat im Straßenverkehr begangen hat, gibt Simenon in dem Kriminalroman „Die Komplicen", in dem er überzeugend auseinanderlegt, wie das Leben eines modernen Alltagsmenschen von einer Sekunde zur anderen durch eine winzige Unachtsamkeit eine entscheidende Wendung erfahren kann. Die nüchtern getroffenen

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Vorbereitungen eines minutiös geplanten Giftmordes, der erst am Ende des Romans begangen wird, aber sein Opfer verfehlt und eine „SchuldigUnschuldige" trifft, beschreibt er in dem Kriminalroman „Es geschah an einem Sonntag". Simenon versucht, in den Kernbereich des Motivationsprozesses bei der Vorsatztat einzudringen, indem er die psychischen Fehlverarbeitungen des Täters deutlich macht, die sich auf seine Frustrationen und Fehleinstellungen wegen der Härte und Gefühllosigkeit des von ihm ins Auge gefaßten Opfers ihm gegenüber gründen und die ihm die Tat am Ende schicksalhaft notwendig erscheinen lassen. Erlebniseinengung, Affektbündelung, Tatvorsetzung und Tatentschluß werden mit großem psychologischem Einfühlungsvermögen herausgearbeitet. In dem Kriminalroman „Der Schnee war schmutzig" wird ein durch seine Umwelt verdorbener, scheinbar gefühlskalter, erbarmungslos-mordender heranwachsender Rechtsbrecher durch die unbedingt-hingebungsvolle Liebe eines jungen Mädchens in einem einzigen Augenblick resozialisiert, das er selbst schändlich betrogen und als bloßes Objekt mißbraucht hat und das ihm dennoch — kurz vor seiner Hinrichtung — ihre unerschütterliche Zuneigung bekennt. Der norwegische Schriftsteller Bernhard Borge hat in seinem Kriminalroman „Der Nachtmensch" versucht, die psychoanalytische Lehrmeinung für die Verbrechensaufklärung im Kriminalroman nutzbar zu machen. Die wirklichen Wurzeln für jedes Verbrechen sollen allein in der frühen Kindheit des Täters liegen, die der Kriminalist bei seiner Verbrechensaufklärung sorgfältig untersuchen muß. Auch der nordamerikanische Schriftsteller Joseph Hayes hat kriminologisch bedeutsame Kriminalromane geschrieben. In dem Roman „An einem Tag wie jeder andere" wird sichtbar gemacht, wie sich eine Familie in den USA durch den Ausbruch dreier Schwerverbrecher aus einem Gefängnis, die im Haus dieser Familie Zuflucht suchen, plötzlich in ihrem äußerlich gesicherten, bürgerlichen Dasein bedroht und vor letzte Entscheidungen gestellt sieht. Die Handlung des Kriminalromans „Die Stunden nach Mitternacht" dauert nur zwei Stunden und fünfzehn Minuten. Der Autor berichtet über die abenteuerliche Entführung eines jungen Mädchens durch einen Jugendlichen, der sich durch das Geld, das er vom Vater dieses Mädchens erpresserisch zu erlangen hofft, vom Militärdienst loskaufen will. Auch hier steht über dem gesamten Roman die Frage nach der Einsamkeit und Kontaktlosigkeit des einzelnen in der modernen Gesellschaft. In Hubert Monteilhets Kriminalroman „Tödliche Ehen", der sich in Form einer Materialsammlung aus Dokumenten, Privat- und Geschäftsbriefen, Tagebuchaufzeichnungen zusammensetzt, wird das Verbrechen endlich auf die atheistische Geisteshaltung des Täters zurück-

geführt, der seine Mitmenschen als Nur-Objekte seines eigennützigen Gewinnstrebens benutzt. c) K r i m i n o l o g i s c h b e d e u t s a m e Schilder u n g e n von G e r i c h t s v e r h a n d l u n g e n . Ein Kriminalroman, der einen Kriminalfall auf dem Hintergrund einer Gerichtsverhandlung beleuchtet, ist mitunter dann kriminologisch bedeutsam, wenn der Autor Anregungen für die praktische Gestaltung der Gerichtsverhandlung gibt. Simenons Kriminalromane „Die Zeugen" und „Maigret vor dem Schwurgericht" tragen solche justizkritischen Züge. Schwurgerichtsverhandlungen bilden einmal aus der psychischen Perspektive des Gerichtsvorsitzenden („Die Zeugen") und zum anderen aus der Sicht des Kriminalbeamten („Maigret vor dem Schwurgericht") den Rahmen der Handlung. Die Atmosphäre im Gerichtssaal wird kritisch kommentiert. Das Theatralische, Dramatische, aber auch Zeremoniell-Formelhafte der Verhandlung, die verschiedenen Rollen der Beteiligten, ihre nur zu oft krampfhaft-steife Haltung und die Verständnislosigkeit und Gefühlskälte der „anständig" gebliebenen Zuschauer dem Angeklagten gegenüber werden anschaulich hervorgehoben. Zwar wird eingeräumt, daß alle beteiligten Juristen, die Richter, der Staatsanwalt und der Verteidiger, um die Wahrheit der Urteilsfindung aufrichtig bemüht sind. Andererseits wird aber bemängelt, daß diese Verfahrensbeteiligten nur eine „theoretische" Kenntnis vom Angeklagten, den Zeugen und dem Tatort aus den Strafakten haben und daß für sie auf diese Weise der Angeklagte ein „abstrakter Begriff" und die Zeugen „Karikaturen, schematisierte Menschen" werden. Vom Untersuchungsrichter wird in dem Kriminalroman „Maigret vor dem Schwurgericht" gesagt, daß er die Menschen, die an einer Straftat mitgewirkt haben, überhaupt nur noch losgelöst von ihrem persönlichen Leben in der neutralen, sterilen Atmosphäre seines Arbeitszimmers sehen kann: „Er verfügt . . . nur über eine begrenzte Zeit. Von der Presse, von der Volksmeinung bedrängt, in seiner Initiative durch einen Haufen von Vorschriften gehemmt, überschwemmt von Verwaltungsformalitäten, die ihm seine meiste Zeit rauben, was kann er da schon entdecken?" (vgl. zum Leben und Werk Georges Simenons näher: C. Collins, 1957; Β. de Fallois, 1961; Q. Ritzen, 1961; R. Stephane, 1961). d) B e h a n d l u n g s k r i t i k in S t r a f v o l l z u g s r o m a n e n . In zunehmendem Maße gehen Schriftsteller heute dazu über, die Strafvollzugsproblematik zu erörtern. Ihre Darstellung der Probleme ist jedoch meist so einseitig und affektiv belastet, daß sie eher geeignet ist, die fach- und sachgerechte Diskussion über die Strafvollzugsreform zu stören und zu verwirren, als ihr zu nützen. In dem Roman „Thalia und die Ganoven" hat Roland Friese erzählt, wie Gefangene im Strafvollzug begeistert Theater spielen, wie sie für ihr

Kriminalroman Theater kämpfen und welch' gewaltigen pädagogischen Eindruck das Spielen von Klassikern auf sie macht. Das Theaterspielen wird als die Resozialisierungsmaßnahme herausgestellt. Erscheint dies Konzept in seiner Ausschließlichkeit schon sehr bedenklich, so vermag vollends nicht zu überzeugen, daß ausgerechnet der Strafanstaltspsychologe, der versucht, das Theaterspielen der Gefangenen in einen größeren Behandlungsplan einzubauen, dem Gefangenentheater zum Verhängnis wird. Auch Henry Jaeger hat in seinem Roman „Die bestrafte Zeit" leidenschaftliche Angriffe gegen die heutige Strafvollzugspraxis gerichtet. Der Autor, ein ehemaliger Strafgefangener, hält den Strafvollzug in der Bundesrepublik in seiner heutigen Form für pädagogisch sinn- und zwecklos, da er eine Wiedergutmachung des durch den Täter angerichteten Schadens und damit eine echte Reue und Sühne für begangene Schuld verhindere und nur dazu diene, den Strafgefangenen seelisch zu brechen und ihn für ein Leben in der freien Gesellschaft ungeeignet zu machen. „Der Rentabilitätsgedanke führt den Strafvollzug ad absurdum. Fragen Sie einmal nach der Rückfallziffer!" Ist es zwar grundsätzlich gerechtfertigt, die Meinung ehemaliger Sträflinge bei der Strafvollzugsreform nicht unberücksichtigt zu lassen, so schießt gleichwohl diese tief pessimistische Beschreibung der Strafvollzugspraxis weit über ihr vertretbares Ziel hinaus, die den heutigen Strafvollzug in der Bundesrepublik mit der Praxis der nationalsozialistischen Konzentrationslager vergleicht und die Mehrzahl der Strafvollzugsbeamten als beschränkte Dummköpfe oder gefühllose, gewaltanwendende Rohlinge schildert. Es ist — in egozentrischer Weise — viel vom Leid der Gefangenen, aber niemals von den Qualen die Rede, die sie ihren Opfern zugefügt haben. Von einer in so hohem Maße subjektiven Darstellung darf man keine objektiv kriminologisch verwertbaren Aufschlüsse erwarten. Sie bleibt gleichwohl eben wegen ihrer höchst subjektiven Schauweise für den Kriminologen aufschlußreich. 2. Kriminologisch-relevante Wirkungen nalromans

des

Krimi-

Der Kriminalroman interessiert die Kriminologie indessen nicht nur als Erkenntnismittel, sondern auch in seinen Wirkungen auf den Leser. a) Drei H y p o t h e s e n k r i m i n o g e n e r Wirk u n g e n des K r i m i n a l r o m a n s . Geht man einmal davon aus, daß der Kriminalroman überhaupt einen relevanten psychischen Einfluß auf seine Leser auszuüben vermag und daß dieser Einfluß im Motivationsprozeß stark genug ist, um außerpsychische Wirkungen zu zeitigen, so können hinsichtlich der Art des Einflusses drei Grundhypothesen aufgestellt werden: Die brutalen und grob sexualisierten Szenen der Gangstergeschichte ha-

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ben auf verbrechensbereite Leser (emotionell Gestörte) einen verbrechenauslösenden Effekt (unmittelbare kriminogene Wirkung). Die Art und Häufigkeit der Darstellung von Verbrechen in Gangstergeschichten haben auf die Leser eine abstumpfende, verrohende und enthemmende Wirkung, die besonders Jugendliche und Heranwachsende in unlösbarem Zusammenwirken mit anderen Faktoren verbrechensbereit macht (mittelbare kriminogene Wirkung). Gegen diese beiden Hypothesen wird bisweilen eingewandt, daß doch das „Gute" auch in vielen Gangstergeschichten siege und daß deshalb von einer kriminogenen Wirkung nicht die Rede sein könne. Diesem Einwand ist entgegenzuhalten, daß es nicht so sehr darauf ankommt, d a ß das Gute in den Kriminalromanen siegt, sondern auch wie es siegt und was geschieht, bis es siegt. Die dritte, den beiden ersten scheinbar widersprechende Grundhypothese lautet: Das Lesen von Kriminalromanen ermöglicht die Abreaktion latenter krimineller Affekte und Aggressionstriebe. Im Rahmen dieser Hypothese wird — auch mit Bezug auf die klassische Form der Detektivgeschichte — darauf verwiesen, daß der moderne Mensch eine Jagdpassion von seinen Urahnen aus grauer Vorzeit geerbt habe; beim Lesen von Detektivgeschichten könne er dieser Jagdpassion frönen; denn der Verbrecher spiele in der Detektivgeschichte die Rolle des gejagten Wildes (Greifeneder, 1950). Außerdem hebt man hervor, daß der Verbrecher, der am Ende der Detektivgeschichte fast stets sein Leben hergeben müsse — meist auf schreckliche Weise, indem er nach atemloser, bis zur Neige ausgekosteter Todesangst verblutet, zerschellt oder ertrinkt —, sich in den Augen der Leser dem nähert, was das Opfertier einst für den heidnischen Kult gewesen ist (Ude, 1950). b ) G e f ä h r d u n g e n d u r c h die p h a n t a s t i s c h e W i r k l i c h k e i t s f r e m d h e i t der k l a s s i s c h e n D e t e k t i v g e s c h i c h t e u n d einzelner i h r e r S o n d e r f o r m e n . Beunruhigt den Kriminologen schon die Möglichkeit kriminogener Wirkungen der Gangstergeschichte, so ruft eine Rechtfertigung der Detektivgeschichte als gedankliche Menschenjagd in ihm nicht weniger Unbehagen hervor. Denn schließlich wird hier der kriminelle Mensch als Bestie herabgewürdigt, die es nur zu erlegen und zu opfern gilt. Eine solche Sicht, die die Herstellung eines primitiven Kontrastes zwischen tugendhaften und abscheulichen Menschen nahelegt, bestärkt den Leser in seinem Gefühl moralischer Selbstzufriedenheit. Er haßt den Verbrecher, weil er sich eine Tat erlauben durfte, die er sich selbst versagen muß. Dabei sind in Wirklichkeit an dem Schuldigen zumeist viele andere „anständige" Menschen mitschuldig geworden. Es kommt ferner noch hinzu, daß die manchmal fast ans Spielerisch-Märchenhafte grenzende Wirklichkeitsfremdheit der klassischen Detektivge-

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Kriminalroman

schichte deshalb kriminologisch so bedenklich ist, weil alle ihre Charaktere — streng genommen — brillant geführte Schachfiguren, Marionetten, ausgestopfte Schurken in einem blutleeren Denkspiel sind. Diesem Vorwurf entgehen auch die literarisch-hochwertige und pseudorealistische Detektivgeschichte nicht ganz. In der Detektivgeschichte existiert zumeist das Mysterium des Bösen nicht mehr; ihre Welt ist ganz ohne Zufall. Von dem Opfer des Verbrechens, seinen Leiden und Todesqualen, von der Trauer der Hinterbliebenen ist niemals die Rede. Der Tod wird seines Ernstes und seiner Würde entkleidet (Günther, 1948). Es besteht die ernste Gefahr, daß das Verbrechen — besonders im humoristischen Detektivroman — verniedlicht und verharmlost wird. Das Böse ist bloß noch Reiz, Kitzel, Sensation. Zwar ist es durchaus richtig, daß der Konsument der Detektivgeschichte Unterhaltung und Entspannung durch Spannung sucht, aber keine menschliche Erschütterung und kein Gefühl seiner eigenen Mitverantwortung für den Verbrecher auf sich nehmen will. Die Kriminologie neidet ihm sein intellektuelles Vergnügen an der Denksportaufgabe nicht, solange er sich bewußt bleibt, daß er sich in einer phantastischen Welt des Scheins befindet. Sie ist aber verpflichtet, auf die Gefahr aufmerksam zu machen, die dadurch entstehen kann, daß man aus der Aufklärung von Verbrechen ein Spiel, einen Sport macht. Der Leser einer Detektivgeschichte muß sich immer im klaren darüber sein, daß ihn kein unübersteigbarer Abgrund vom Verbrecher trennt, sondern daß latente kriminelle Neigungen auch in ihm schlummern. Er muß ferner wissen, daß sich der Gesetzestreue in vielen Fällen vom Verbrecher nur dadurch unterscheidet, daß er durch den Zufall glücklicher Lebensumstände nicht bis zu einem Punkt getrieben worden ist, der jenseits der Grenze des Erträglichen liegt. Das Verbrechen ist für den Rechtsbrecher zumeist folgenschwerer als für sein Opfer (Vonessen, 1966). Dürrenmatt hat in seiner Detektivgeschichte „Das Versprechen" die Unwirklichkeit der Detektivgeschichte gerügt: „Ein Geschehen kann schon allein deshalb nicht wie eine Rechnung aufgehen, weil wir nie alle notwendigen Faktoren kennen, sondern nur einige wenige, meistens recht nebensächliche . . . Unsere kriminalistischen Mittel sind unzulänglich, und je mehr wir sie ausbauen, desto unzulänglicher werden sie im Grunde." m . DIE KRIMINALPOLITISCHE UND -PÄDAGOGISCHE AUFGABE DES KRIMINALROMANS Für die Kriminologie ist der Kriminalroman ein notwendiges, wertvolles Instrument der offenen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Verbrechens in der Gesellschaft. Verherrlichung,

Verharmlosung und Verdrängung des Verbrechens sind gleicherweise gesellschaftliche Fehlhaltungen. Im Kriminalroman sollte der Verbrecher deshalb weder als Held noch als Tier noch als Kranker noch als Opfer der Gesellschaft hingestellt werden. Der Kriminalroman hat vielmehr die Aufgabe, das Verbrechen so wirklichkeits- und tatsachennah wie nur möglich darzustellen und die Persönlichkeit und die Straftat des Rechtsbrechers verstehend zu begreifen, um so das Gefühl der Mitverantwortung jedes einzelnen in der Gesellschaft für den Verbrecher und c eine Tat zu wecken und zu stärken. Der Krimina.roman kann diese kriminalpolitische und -pädagogische Aufgabe erfüllen, wenn er die Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit der Bevölkerung den sozial weniger oder gar Un-Tüchtigen gegenüber überwinden hilft und diesen so eine echte Lebenshilfe gewährt. Auf diese Weise kann der Kriminalroman dazu beitragen, daß das Phänomen des Verbrechens in einem Reifungs- und Reinigungsprozeß der Gesellschaft bewältigt wird (vgl. auch „Massenmedien"). Monographien F . A r n a u : Bas Auge des Gesetzes, Macht und Ohnmacht der Kriminalpolizei, o. J . P h . Collins: Dickens and Crime. London 1962. W. D a h n c k e : Kriminalroman und Wirklichkeit. 1958. B. de F a l l o i s : Simenon. 1961. R. F r ö h n e r : Das Buch in der Gegenwart. 1961. W. G e r t e i s : Detektive, Ihre Geschichte im Leben und in der Literatur. 1953. M. G i l b e r t (Hrsg.): Crime in good company, essays on criminals and crime writing. London 1959. W. H e i n r i c h : Meister der Kriminalistik. 1962. Μ. H o t t i n g e r (Hrsg.): Mord, angelsächsische Kriminalgeschichten. 1959. M. J a c t a : Berühmte Strafprozesse. 1962. H. L i e p m a n : Verbrechen im Zwielicht. 1959. Η. P. M ü l l e r : Ein Tag wie tausend andere. Staatsbürger im Gefängnis. 1966. Α. E. M u r c h : The development of the detective novel. London 1958. W. N u t z : Der Trivialroman, seine Formen und seine Hersteller. 1962 (bes. S. 67—66). H. P f e i f f e r : Die Mumie im Glassarg, Bemerkungen zur Kriminalliteratur. Rudolstadt 1960. S. R a d i n e : Quelques aspects du roman policler psychologique. Genf 1960. C. Riese: Bestseller. 1960 (bes. S. 123—137; S. 242—261; S. 307—324). Q. R i t z e n : Simenon, avocat des hommes. 1961. 11. S c h i l l i n g : Literarischer Jugendschutz. 1959. S. S c o t t : Blood in their ink. 1953. Κ. S e e b e r g e r : Das sind Zeiten. 1961 (bes. S. 136 —139). R. S t e p h a n e : Le dossier Simenon. Paris 1961. S. S y m o n s : The detective story in Britain. London 1962. F. W ö l c k e n : Der literarische Mord, eine Untersuchung über die englische und amerikanische Detektivliteratur. 1953. Zeitschriften- und Sammelwerkaufs&tze R. A l e w y n : Das Rätsel des Detektivromans. Definitionen, Essays zur Literatur (Hrsg. A. Frisi) 1963. S. 117—136. K. A n d e r s : Kriminalroman. Lexikon der Weltliteratur im 20. Jahrhundert. 2. Bd. (1961) Sp. 80—84. Μ. H. B ä r : Die Detektivgeschichten auf dem deutschen Büchermarkt. Vervielfältigtes Manuskript des Börsenvereins des deutschen Buchhandels e. V. (Frankfurt/M.). 1963.

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KRIMINALSOZIOLOGIE I . ALLGEMEINES A. Anlage und Umwelt 1. Soziale

Umwelt

Die Kriminologie als Ganzes ist ein Teilgebiet der Soziologie. Denn ihr Gegenstand ist das Verbrechen, d. i. ein menschliches Verhalten, das sich auf die Gemeinschaft oder eines ihrer Glieder bezieht: es ist asoziales oder antisoziales Verhalten. Wenn man als ein Teilgebiet der Kriminologie die Kriminalsoziologie ansieht, versteht man darunter die Lehre von ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit, von der Bedeutung der sozialen Umwelt für sie.

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Sitte gehemmt oder gefördert werden (Prohibition, Besteuerung, Enthaltsamkeit der Sportler, Jugendschutz einer-, Festefeiem, Weinwerbewochen, Zutrinken, Stammtisch, Kneipe andererseits). Man kann also hier, je nachdem auf welche Seite man Gewicht legt, im Alkohol eine natürliche Ursache oder im gesellschaftlich bedingten Genuß alkoholischer Getränke eine soziale Ursache der Kriminalität sehen. Ähnlich liegt es bei den jahreszeitlichen Schwankungen der Kriminalität, die sowohl auf rein äußeren Umwelteinflüssen, wie Veränderungen der Temperatur, der Tageslänge oder der psychophysisch bedingten Periodizität des Menschen als auch unmittelbar auf den durch den Wechsel der Jahreszeiten verursachten Veränderungen des menschlichen Zusammenlebens beruhen können. Der Zusammenhang kann also physikalischer, physiologischer oder soziologischer Art sein (Exner). Geprüft werden sollen hier nur die verhaltenserheblichen Tatsachen, die sich aus dem Sozialleben der Menschen ergeben; sie können äußerst mannigfaltig sein. 2. Unmittelbare und mittelbare der Umwelt

Wirkung

Die Bedeutung der Umwelt können wir aber nun in 2 Richtungen prüfen. Es fragt sich, welche Bedeutung die Umwelt im Zeitpunkt der Tatbegehung hatte. Wir haben dann eine Täterpersönlichkeit mit bestimmten charakterlichen Eigenschaften, die in einer bestimmten Situation die Tat begangen hat. J e harmonischer die Täterpersönlichkeit ist, je mehr sie dem Ideal des sozial angepaßten Menschen entspricht, umso mehr werden wir geneigt sein, in bestimmten Umständen der sozialen Umwelt (Konjunktur, politische Lage, öffentliche Meinung) die entscheidende Ursache für die Begehung der Tat zu sehen. Aber die Umwelt hat noch eine andere Bedeutung. Die Tatzeitpersönlichkeit ist das Ergebnis der Entwicklung der Anlage des Täters durch die Umwelt; die Formung des Menschen zum sozial angepaßten Bürger vollzieht sich innerhalb der durch die Anlage gesetzten Grenzen durch die Anforderungen, die die Umwelt an ihn stellt, seine Persönlichkeit wird durch die Umwelt „geprägt". Wenn wir den Anpassungsfehler in der Täterpersönlichkeit aufspüren wollen, müssen wir uns daher fragen, welche sozialen Erlebnisse ihn — bei den gegebenen Anlagen — herbeigeführt haben. Neben der unmittelbaren Wirkung der Umwelt im Augenblick der Tat müssen wir daher auch ihre mittelbare Wirkung über die Täterpersönlichkeit beachten.

Soziale Umwelt ist nur ein Teil der kriminologisch bedeutsamen Umwelt, d. h. der Gesamtheit der körperlichen und geistigen Tatsachen außerhalb der Person des Täters, die seine Tat beeinflussen können. Es scheidet hier also aus die -> „natürliche" Umwelt, wie ζ. B. Wetter, Bodengestaltung und -fruchtbarkeit, hygienische Verhältnisse u. a. m. Dabei läßt sich beides nicht immer sauber scheiden. Natürliche Umstände haben oft soziale Auswirkungen, ja sie können soziale Verhaltensweisen bestimmen. So hat etwa der getrunkene Alkohol als natürlicher Umstand 3. Umweltfaktoren durch seine enthemmende Wirkung zweifellos BeNun ist die Zahl der Umweltfaktoren, welche deutung für die Kriminalität, aber der Genuß für die Begehung einer strafbaren Handlung uralkoholischer Getränke, der Alkoholismus, kann sächlich sind, unübersehbar groß. Wir unterdurch staatliche Regelung oder gesellschaftliche | scheiden, ohne daß sich immer eine scharfe Grenze

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ziehen liesse, wirtschaftliche, politische und kulturelle Umwelt. J e nach der Aufgabe, die wir uns kriminalpolitisch stellen, wird sich die Auswahl der zu untersuchenden Umweltfaktoren verschieden gestalten. Einmal können wir solche Umweltfaktoren betrachten, die nur bei einzelnen Tätern oder Tätergruppen oder bei ihnen, wie etwa Stadt und Land, in verschiedener Stärke bestehen; wir können aber auch solche Umweltfaktoren, die zeitlich in ihrem Vorhandensein schwanken (Konjunktur) oder sich in bestimmter Richtung positiv oder negativ (Massen-, Ständegesellschaft) entwickeln, ins Auge fassen. Ebenso wie bei den kriminalitätsbegünstigenden Persönlichkeitsfaktoren, bei denen wir diejenigen betrachten, die pädagogisch oder therapeutisch heilbar sind, soweit wir nicht wegen ihrer Gefährlichkeit mit Sicherungsmaßregeln vorgehen müssen, werden wir dabei auf diejenigen Umstände der sozialen Umwelt unsere besondere Aufmerksamkeit richten, die durch Maßnahmen der Sozialpolitik im weitesten Sinne geändert werden können, wobei auch hier Sicherungsmaßregeln nicht ausgeschlossen sind (II C 3 b). Die ältere Kriminologie bevorzugte in einer monokausalen Betrachtungsweise die Untersuchung der Bedeutung einzelner Umweltfaktoren für die Entwicklung der Kriminalität. Dabei neigte sie dazu, zu übersehen, daß im Flusse des Gemeinschaftslebens nur eine kaum übersehbare Fülle von Faktoren der sozialen Umwelt das menschliche Verhalten bestimmt. Nur ihre Kombination ist ursächlich. Eher kann man erwarten, daß bestimmte Syndrome von Umweltfaktoren sich als typisch kriminalitätsfördernd oder -hemmend erweisen. Über einen einzelnen Umweltsfaktor kann etwas Bestimmtes nur ausgesagt werden, wenn die übrigen Faktoren unverändert bleiben. Trotzdem darf die Kriminologie nicht die Untersuchung einzelner sozialer Faktoren vernachlässigen, wenn sie auch im Erlebnisstrom des sozialen Lebens leicht etwas Künstliches hat. Denn je nach der Kombination, in der dieser Faktor steht, kann er kriminalitätsfördernd oder -hemmend sein, so daß bei dieser Gegenläufigkeit der Eindruck des Einflusses geschwächt oder aufgehoben sein kann. Trotzdem ist es Aufgabe der Kriminologie, Antwort zu geben auch auf die Frage, welche Folgen die Änderung bestimmter Umweltfaktoren, ζ. B. die Aufhebung oder der Erlaß eines Gesetzes, ein Krieg, eine Konjunkturschwankung, für die Kriminalität haben. Nur darf eine solche Untersuchung nicht in eine monokausale Methode zurückfallen. Insbesondere ist zu beachten, daß ein solcher Faktor auf die verschiedenen Formen der Kriminalität verschiedene Wirkungen haben kann. So gibt es etwa bei Konjunkturschwankungen „Aufschwungs-" und „Abschwungsdelikte" (vgl. I I A 1 c). Er kann aber auch die Struktur der Krimi-

nalität, j a der einzelnen Delikte beeinflussen, indem sich ihre Objekte und Begehungsformen ändern. Das betrifft nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Delikte, die sich unabhängig von einander entwickeln können. Ein Delikt kann an Zahl abnehmen und trotzdem an Sozialgefährlichkeit zunehmen und umgekehrt; für diese ist die Höhe der erkannten Strafen ein Anzeichen. Die kriminelle Wirkung eines Umweltfaktors hängt aber nicht nur von der Mitwirkung anderer Umweltfaktoren, sondern auch von der Persönlichkeit der Betroffenen, von der Tatzeitpersönlichkeit ab, deren Fähigkeiten und Charaktereigenschaften aus ihren Anlagen erwachsen und durch die Umwelt geprägt sind. Wäre die Umwelt konstant und für alle Bürger gleich, so würde es nur von der Anlage abhängen, ob die Umwelt Fähigkeiten und Eigenschaften bildet, die den Täter unter bestimmten Umweltsituationen in bestimmter Weise kriminell werden ließen. Da die Umwelt aber außerordentlich variabel ist, müssen wir dem Zusammenhang zwischen Anlage und Umwelt nachgehen. Über das Verhältnis der Bedeutung von Anlage und Umwelt für die Kriminalität hat man gestritten. Einerseits hat man allein die Anlage entscheidend sein lassen. Lombroso prägte das Schlagwort vom „geborenen Verbrecher". Die Zwillingsforschung sprach vom Verbrechen als Schicksal ( J . Lange). Höchstens die Form, aber nicht die Tatsache der Kriminalität sei umweltbedingt. Andererseits verschob man den Schwerpunkt auf die Umwelt. Dazu neigt die Kriminologie in den USA, wenigstens soweit zurechnungsfähige Täter in Frage kommen. Das erklärt sich aus der weitgehenden Einheit der Reaktionsformen im sozialen Leben, die sich aus der Erziehung der „außengeleiteten" (Riesman) Individuen ergibt. Aber diese einseitigen Auffassungen widersprechen unseren wissenschaftlichen Erfahrungen (Brauneck, Hallermann, Nagel). Ebenso, wie schon die Vielfalt der Umweltfaktoren ein nur schwer auflösbares Geflecht von Kriminalitätsursachen ergibt, bedarf es auch der Betrachtung der Anlagen zu ihrem Verständnis. Dabei kann die Änderung eines Umweltfaktors die Wirkung haben, daß Kriminelle ordentliche Bürger werden und daß bisher Unbestrafte kriminell werden. War die Kriminalität der vergangenen Zeiten weitgehend durch Pauperismus geprägt, so haben wir heute eine Wohlstandskriminalität anderer Täterschichten und anderer Tatformen (vgl. I I A 1 d). Auch der Glaube, daß eine Änderung unserer Sozialordnung die Kriminalität zum Verschwinden bringen könne, ist unbegründet und unbewiesen. Sicher ist die Höhe und Art der Kriminalität von Hochstand und Schwäche der Staats- und Gesellschaftsgesinnung abhängig. Aber keine Sozialordnung kann die Spannungen

Kriminalsoziologie zwischen persönlichen Interessen und Gemeinschaitserfordernissen beseitigen. Das schließt nicht aus, daß wir im einzelnen Fall der Anlage oder der Umwelt die überragende Rolle zuschreiben müssen. In Notzeiten begehen fast alle Bürger Verstöße gegen die Zwangswirtschaft oder Diebstähle (Kohlenklau); andererseits lassen bestimmte Anlagen den Täter fast unter allen Umständen Triebverbrechen begehen. B. Feststellung der Zusammenhänge 1. Variabilität der Kriminalität Wie können wir den Einfluß der sozialen Umwelt auf die Kriminalität feststellen ? Zunächst einmal handelt es sich bei der Kriminalität um einen variablen Gegenstand (von Weber, 1939) wie bei allen Gegenständen (Politik, Kultur, Wirtschaft), mit denen sich die Soziologie beschäftigt; und zwar nicht nur in dem Sinne, daß die Kriminalität rhythmische Schwankungen aufweist — tages-, wochen-, jahreszeitliche, konjunkturelle u. a. —, sondern auch mehr oder weniger schnelle Entwicklungen in bestimmter Richtung, einen „trend". Die Kriminalität heute ist anders, als sie vor einem, zehn, hundert, tausend Jahren war, und sie wird in einem, zehn, hundert, tausend Jahren anders sein als heute. Der Grund liegt darin, daß die Anforderungen, die die Gemeinschaft an das soziale Verhalten des Individuums stellt, sich mit der wirtschaftlichen, politischen, kulturellen Entwicklung wandeln; gleichzeitig kann sich aber auch die Bereitschaft des Individuums, diesen Anforderungen zu entsprechen, ändern. Die Schnelligkeit der Änderungen der Kriminalität ist abhängig von der Schnelligkeit dieser Entwicklungen; nur in stabilen Zeiten kann die Kriminalität auch für ihre Dauer ziemlich unverändert bleiben. Es ist daher erforderlich, die Kriminalität ständig zu beobachten, ihren Umfang und ihre Art festzustellen und ihre Gründe zu analysieren. Eine heute zutreffende Anschauung kann schon morgen falsch sein. 2. Art des Zusammenhanges In der Kriminalsoziologie kann man, um Gesetzmäßigkeiten festzustellen, anders als in den Naturwissenschaften aus praktischen Gründen keine Experimente machen. Man ist daher darauf angewiesen, Änderungen der Kriminalität und Änderungen sozialer Faktoren zu vergleichen und daraus auf die Ursächlichkeit dieser Schlüsse zu ziehen. Nun kann aber die blosse Übereinstimmung oder Gegenläufigkeit solcher Änderungen die Ursächlichkeit nicht beweisen. Es kann sein, daß sie rein zufällig sind und überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Der Zusammenhang muß vielmehr aus der Erfahrung erklärt werden. Dieser kann aber doppeldeutig sein. Es ist durchaus möglich, daß der Zusammenhang besteht, 5

H d K , 2. Aufl., Bd. I I

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ohne daß doch der soziale Faktor Ursache der Kriminalität ist (Nagel). Wenn wir etwa feststellen, daß die Geschiedenen unverhältnismäßig, d. h. über ihren Anteil an der strafmündigen Bevölkerung, an der Kriminalität beteiligt sind (Dünnbier, 1953), so sagt das noch nicht, daß die Scheidung die Ursache für ihre Kriminalität ist. Wir werden vielleicht Straftaten feststellen können, die der Täter nicht begangen hätte, wenn seine Ehe nicht geschieden wäre. Umgekehrt werden wir aber auch Fälle finden, wo die Kriminalität des Täters zur Scheidung geführt hat. Aber meist werden gewisse Charaktereigenschaften des Täters seine Unfähigkeit begründen, sowohl den Anforderungen der Gemeinschaft als auch einer guten Ehe zu genügen. Ehescheidung und Kriminalität laufen parallel, es besteht zwischen ihnen eine Korrelation, weil für sie gemeinsam eine bestimmte Ursache in der Person des Täters gegeben ist. Ursache der Kriminalität ist aber ein sozialer Faktor nur dann, wenn sein Wegfall die Kriminalität beeinflußt. Es bedarf daher, wenn man gleich- oder gegenläufige Bewegungen von sozialen Faktoren und Kriminalität festgestellt hat, immer der Nachprüfung, ob ein Zusammenhang tatsächlich besteht und bejahendenfalls, ob der soziale Faktor ursächlich für die Kriminalität ist. Das kann durch Stichproben an einer nicht ausgelesenen begrenzten Zahl von Straftaten geschehen. Stößt man ζ. B. auf einen Anstieg des Alkoholkonsums und gleichzeitig ein Anwachsen der Körperverletzungskriminalität oder auf Konjunkturabschwung und Zunahme des Diebstahls, so ist im 1. Fall festzustellen, ob die Täter wirklich Alkohol genossen, im 2. Fall, ob die Diebe aus Not gehandelt haben. Solche Sicherstellung vermuteter Ursächlichkeiten wird sehr häufig unterlassen. 3. Statistische Erfassung Zum Vergleich von sozialen Umweltfaktoren und Kriminalität bedürfen wir der Hilfe der Statistik, deren Umfang und Qualität allerdings diese Möglichkeit begrenzen. Soziale Umweltfaktoren sind in weitem Umfang statistisch zuverlässig erfaßt. Das gilt vor allem von wirtschaftlichen Faktoren: Umfang und Gegenstand der Produktion, Preise, Löhne, Konjunktur, Arbeitslosigkeit u. a. m. Aber auch Zusammensetzung der Bevölkerung (Geschlecht, Alter, Personenstand, Schulbildung) und manche anderen Umweltfaktoren wie Tätigkeit der Rechtspflege werden gründlich festgestellt, ohne daß man bei diesen Statistiken an die Kriminalität denkt. Politische und kulturelle Umweltfaktoren entziehen sich dagegen als geistige Tatsachen sehr oft einer zuverlässigen Feststellung; sie können nur mittelbar, in ihrer Auswirkung auf eine äußerlich gegebene Tatsache erfaßt werden. Wenn wir etwa nach der Bedeutung der Religion für die Kriminalität fragen (vgl. II C 2),

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so kann uns die Statistik keine Zahlen über die religiöse Haltung der Bevölkerung, sondern nur über ihre äußere Zugehörigkeit zu einem Bekenntnis geben. Diese formale Zugehörigkeit sagt aber nicht notwendigerweise etwas über die innere Haltung, die Gläubigkeit der gezählten Individuen aus. Über viele, namentlich kulturelle Umweltfaktoren verfügen wir überhaupt nicht über Statistiken ; sie fallen für eine Erfassung der Zusammenhänge auf diesem Wege überhaupt aus. Soweit vorhanden, ist die Erfassung der sozialen Umweltfaktoren im allgemeinen zuverlässig. Anders ist das bei der Kriminalstatistik. Wir führen in Deutschland eine Strafverfolgungsstatistik und eine Polizeistatistik. Jene zählt die von den Gerichten abgeurteilten Täter, diese die der Kriminalpolizei bekanntgewordenen Taten. 1962 wurden 564479 Täter verurteilt; im gleichen J a h r wurden der Kriminalpolizei 2106469 Taten bekannt und von ihr 1321432 Täter ermittelt. Der Unterschied der Zahlen ist groß (dabei laufen nicht alle abgeurteilten Fälle über die Kriminalpolizei, ζ. B . Straßenverkehrs-, Staatsschutzdelikte, die seit 1963 auch grundsätzlich aus der Polizeistatistik ausgeschieden sind, selbst wenn die Kriminalpolizei eingeschaltet war). Er zeigt, daß von der Strafverfolgungsstatistik nur ein unvollständiges Bild der Kriminalität wiedergegeben wird. Es gibt bei ihr ein grosses Dunkelfeld, das hier sichtbar wird in der Differenz der bekannt gewordenen Taten und der verurteilten Täter; aber es breitet sich auch aus vor der Polizeistatistik der bekannt gewordenen Taten, sei es, daß die Behörde oder der Geschädigte die Tat selbst nicht bemerkt oder dieser sie nicht anzeigt. Dabei ist dieses Dunkelfeld bei den einzelnen Delikten verschieden groß. Die Schätzungen der Größe dieser verschiedenen Dunkelfelder gehen begreiflicherweise sehr auseinander; gleichwohl ist sicher, daß es einzelne Delikte gibt (Mord, Widerstand gegen die Staatsgewalt), bei denen der Anteil der Täter, die verurteilt werden, verhältnismäßig hoch, während er bei anderen Delikten (Abtreibung, Homosexualität) ganz gering ist; der Vergleich der Verurteilungszahlen sagt also nichts aus über den relativen Anteil der Taten. Die Größe des Dunkelfeldes ist aber auch innerhalb der einzelnen Deliktstatbestände verschieden. Jedes Delikt weist verschiedene Begehungsformen auf, manche wie Diebstahl oder Betrug sogar sehr viele, so daß die Kriminalpolizei zum Zweck der Verfolgung sie aufgliedert. Hier ist es nun möglich, daß eine Begehungsform ein größeres Dunkelfeld hat als die andere. Wenn etwa der Landstreicher eine Strohmiete anzündet, um sich für den Winter ein Quartier im Gefängnis zu verschaffen, so wird es hier kaum ein Dunkelfeld geben, da der Landstreicher ja sonst sein Ziel nicht erreicht. Der jugendliche landwirtschaftliche Arbeiter oder die Magd, die aus Rache wegen

schlechter Behandlung oder aus Heimweh die Scheune ihres Bauern anzünden, werden nicht immer, aber doch verhältnismäßig oft zu überführen sein. Der Versicherungsbrandstifter, der überlegt und mit Vorsicht zu Werke geht, entzieht sich dagegen häufig der Verurteilung. Die Strafverfolgungsstatistik wird uns daher über die Zusammensetzung der Brandstifter nach Alter, Personenstand, Beruf, Vorstrafen und sonstigen persönlichen Merkmalen ein schiefes Bild geben, da die Eigentümer, Jugendlichen und Landstreicher in der statistischen Erfassung nicht nach ihrem wahren Verhältnis bei der Täterschaft erfaßt sind. Die Kriminalstatistik spiegelt daher die Kriminalität nicht nur lückenhaft, sondern auch verzerrt. Außer dem Dunkelfeld beschränkt aber eine aus praktischen Gründen unvermeidliche methodische Begrenzung der Erfassung den Wert der Strafverfolgungsstatistik. Jeder Täter wird bei einer Verurteilung wegen mehrerer Verbrechen nur einmal, und zwar sowohl bei tateinheitlichem Zusammentreffen wie bei Tatmehrheit, mit der Tat aufgenommen, die nach dem Gesetz mit der höchsten Strafe bedroht ist. Das kann dazu führen, daß viele Taten, weil sie häufig mit anderen schwereren Taten konkurrieren, nicht nach ihrer wirklichen Bedeutung in der Kriminalität und auch nur mit einzelnen Begehungsformen in der Statistik erscheinen. So findet eine Zählung der Delikte der Verletzung des Postgeheimnisses nach § 354 StGB fast nur in den verhältnismäßig seltenen Fällen statt, wo der Postbedienstete aus Neugier Einblick in die Sendung genommen, dagegen nicht, wenn er sich ihren Inhalt angeeignet hat (Neuhoff). Auch hier ist es Aufgabe von Stichproben, die sich ergebenden Verzerrungen nach Möglichkeit richtigzustellen; die unkritische Verwendung kriminalstatistischer Zahlen kann zu erheblichen Irrtümern führen. Man hat nun freilich gemeint, daß das Dunkelfeld die Feststellung der Zusammenhänge nicht störe, da zwar nicht die absolute, aber doch die relative Änderung der Kriminalität ermittelt werden könne, weil nach dem „Gesetz der konstanten Verhältnisse" der Anteil der ins Dunkelfeld fallenden Kriminalität unverändert bleibe. Aber dieses „Gesetz", in Wirklichkeit ein Erfahrungssatz, ist nicht bewiesen; ja seine Unrichtigkeit hat sich verschiedentlich herausgestellt. Unter stabilen Verhältnissen mag der Anteil zur Verurteilung gebrachter Täter über längere Zeit unverändert bleiben. Aber immer dann, wenn sich die soziale Umwelt ändert — und solche Zeiten interessieren vornehmlich —, besteht die Möglichkeit, daß auch die Faktoren, die die Größe des Dunkelfeldes bestimmen, sich ändern. Schon die Tatbestände ändern sich, nicht nur offen durch die Gesetzgebung, sondern auch verdeckt durch

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die Rechtsprechung mit manchmal großer Auswirkung für die Häufigkeit der Verurteilung (v. Weber, 1939). So hat etwa der Tatbestand des Betruges seit seinem Erlaß eine allmähliche erhebliche Ausweitung erfahren (Naucke). Weiter bleiben Intensität und Umfang der Strafverfolgung nicht gleich. Die in der Statistik ausgewiesene Zahl der Verurteilungen ist nicht nur von der Höhe der Kriminalität, sondern auch von den bei den einzelnen Delikten verschiedenen, auch sich zeitlich ändernden Umständen der Strafverfolgung abhängig (v. Weber 1939). Es kann daher ein Wandel in der Höhe der Kriminalität sich gar nicht oder nur abgeschwächt in der Statistik ausdrücken, j a selbst gegenläufige Bewegungen sind denkbar. Ebensowenig braucht eine Änderung der Verurteilungszahlen eine Änderung der Kriminalität anzuzeigen; so ist das Ansteigen der Verurteilungszahlen wegen Abtreibung in Deutschland in der Zeit nach 1933 sicher nicht eine Folge des Ansteigens der Abtreibungskriminalität. Auch hier bedarf es stets einer kritischen Überprüfung, ob die Strafverfolgung unverändert geblieben ist oder sich in ihrer Intensität verschoben hat. Diese Unsicherheit der Zahlen mindert den Wert statistischer Methoden für die Feststellung der Zusammenhänge zwischen Kriminalität und sozialer Umwelt erheblich.

Neben der Schwierigkeit, die sich für die Kriminalstatistik aus der Variabilität des Dunkelfeldes ergibt, tritt bei der Sozialstatistik der Umstand, daß die statistisch ermittelten sozialen Umweltfaktoren selten eine einzige für die Kriminalität wichtige Ursache, sondern in der Regel einen Komplex solcher Ursachen umfassen, aus dem die entscheidende Ursache herauszufinden schwierig sein kann. Untersuchen wir einen solchen sozialen Umweltfaktor, wie ζ. B . Krieg, Generalstreik, Konjunktur usw., so sind in ihm eine Fülle von einzelnen Gegebenheiten enthalten, die für die Kriminalität im Ganzen und für ihre einzelnen Formen in verschiedener Weise wichtig werden können: beim Krieg (vgl. I I Β 3) etwa die veränderte Einstellung zur Gemeinschaft wie Einsatz- und Opferbereitschaft, aber auch „Wanderung" der Bevölkerung durch Einstellung ins Heer, Verpflichtung zur Rüstungsarbeit mit ihrer Lösung von der Heimat und der Trennung der Familien, Beschränkungen der Freiheit, des Verbrauchs, der Erholung usw. Jede von diesen Auswirkungen des Krieges kann die Kriminalität der Bevölkerung, möglicherweise verschieden, ja sogar gegensätzlich bei den einzelnen Bevölkerungsgruppen oder den einzelnen Formen der Kriminalität, beeinflussen.

Die Unterschiede in der Statistik, die sich daraus ergeben, daß sich die Zahl und die Zusammensetzung der Bevölkerung ändern, lassen sich rechnerisch ausschalten. Die Zunahme der Bevölkerung muß zu einer Zunahme der Verurteilungen auch dann führen, wenn die Neigung zur Begehung von Verbrechen nicht gewachsen ist. Ihr begegnet man mit der Ermittlung von Kriminalitätsziffern, üblicherweise der Zahl der Täter auf 100000 der strafmündigen Bevölkerung. Die Neigung zur Begehung von Taten ist nach Geschlecht und Alter sehr verschieden. Ändert sich die Zusammensetzung der Bevölkerung, was in und nach den beiden Weltkriegen in den kriegführenden Staaten, besonders in Deutschland, in erheblichem Maß der Fall war, so muß man bei Vergleichen über den Einfluß sozialer Umstände, die zu verschiedenen Zeiten eingetreten sind, ebenfalls die Verurteilungszahlen bereinigen und sie für eine exakte Analyse auf eine Bevölkerung mit stationärer Zusammensetzung beziehen (vgl. Gleitze, 19B1 und H. Kaufmann). Entzieht ein sozialer Umstand bestimmte Bevölkerungsgruppen dem Zugriff der bürgerlichen Strafjustiz, wie die Mobilmachung im Kriege die der besonders kriminalitätsanfälligen jüngeren Männer, so muß bei der Prüfung, welchen Einfluß der Krieg auf die Kriminalität hat, die Kriminalität der Frauen und der durch die Mobilmachung nicht berührten Jahrgänge der Männer (Jugendliche, alte Männer) verglichen werden.

Die Ermittlung der Zusammenhänge zwischen sozialer Umwelt und Kriminalität mit statistischen Methoden wurde erst möglich, nachdem die Statistik ausgebaut war, die uns die erforderlichen Zahlen zur Verfügung stellt. Das aber ist erst seit dem Beginn des technischen Zeitalters im 19. Jahrhundert, in Deutschland für die Strafverfolgungsstatistik erst seit 1882, für die Polizeistatistik bundeseinheitlich sogar erst seit 1953 der Fall. Wenn auch seitdem die soziale Entwicklung erhebliche Fortschritte gemacht hat, so ist doch der Sozialaufbau heute noch auf derselben Grundlage der industriellen Geldwirtschaft errichtet, wie er schon damals gegeben war, wenn diese Grundlage sich auch verschoben hat und weiter verschiebt. Ob und wie unsere heutige Kriminalität durch unsere arbeitsteilige technische städtische Lebensweise bestimmt wird, können wir nur erkennen, wenn wir sie mit der Kriminalität auf den früheren Stufen der Kulturentwicklung vergleichen. Dazu bedürfen wir der historischen Kriminologie. Sie kann uns natürlich nicht mit statistischen Zahlen helfen; aber wir können uns doch von Art und Umfang der Kriminalität früherer Zeiten ein genügend deutliches Bild verschaffen. Allerdings steht die Wissenschaft der historischen Kriminologie noch in den Anfängen (Radbruch, Bader 1962, Recktenwald), und es bedarf noch vieler Forschungsarbeit, ehe wir uns von hier aus ein zuverlässiges Bild vom Einfluß der sozialen Umwelt auf die Kriminalität machen können.



C. Historische Kriminologie

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Die Untersuchung erscheint deshalb besonders aussichtsreich, weil die Anlage des Menschen und die natürliche Umwelt von der Kulturentwicklung unberührt zu bleiben scheinen. Bei der Anlage des Menschen trifft das im allgemeinen auch zu, wenn auch denkbar ist, daß gewisse Anlagen durch die Kulturentwicklung gefördert oder ausgeschieden werden; auch kann durch Wanderungen der Bestand der Bevölkerung, die Zusammensetzung ihrer Anlagen verändert werden. Starken Einfluß kann aber die Kulturentwicklung auf die natürliche Umwelt ausüben (Rodung, Wasserregulierung, Bodenkultur, Bebauung, Verkehrsausbau). Diese Änderungen der natürlichen Umwelt beeinflussen über die sozialen Lebensformen auch die Kriminalität. Vergleiche der Kriminalität auf den verschiedenen Kulturstufen machen aber vor allem die Bedeutung der kulturellen Umwelt deutlich. Das Strafrecht primitiver Kulturstufen ist uns in seinen Begehungsformen und in seiner Reaktion oft kaum verständlich, weil wir deren Vorstellungen nicht nachvollziehen können. Aber auch die Kriminalität noch gar nicht so weit zurückliegender Zeiten ist ganz andersartig als die heutige. Zur Zeit Carpzovs etwa spielten der Mord, die Gotteslästerung und der Ehebruch die Hauptrolle, während der Betrug eine noch fast unbekannte Deliktsform war. Auch abergläubische Machtausübung zur Schädigung anderer Personen wurde häufig geübt, worauf man in Hexenprozessen fehlsam reagierte. Die Erkenntnisse, die wir aus der historischen Kriminologie gewinnen können, werden unterstützt durch einen Vergleich der heutigen Kriminalität hochkultivierter Völker mit derjenigen der noch auf primitiverer Kulturstufe stehenden, der unterentwickelten Völker. Auch bei diesen werden wir eine hohe Tötungskriminalität, vielleicht auch eine Kriminalität im Zusammenhang mit der Anwendung zauberischer Mittel feststellen können, während Delikte, die in einer hochentwickelten Wirtschaft häufig vorkommen, dort fehlen. D. Heutige Veränderungen Die moderne soziale Entwicklung führt aber zu raschen Verschiebungen der Sozialordnung, die die Kriminalität beeinflussen. Gerade diese Veränderungen sind kriminalpolitisch wichtig, da sie die Verbrechensbekämpfung vor besondere und dringende Aufgaben stellen können. Sie haben seit dem ersten Weltkrieg eine lebhafte, in jüngster Zeit geradezu stürmische Entwicklung genommen. Die moderne Großraumwirtschaft führt zur Massenproduktion und ihrer entsprechenden Organisation. Der Wettlauf der Staaten um die politische Führung liegt bei Wirtschaft und Technik. Dies hat in der Krafterzeugung und in der Produktion neuer Stoffe zu Entdeckungen geführt, die in die Lebensgewohnheiten tief einschneiden.

Die Wirtschaftsordnung ist verändert. Während das Sozialprodukt der Industrie ständig wächst, gehen manche andere Formen der Produktion wie Landwirtschaft und Bergbau zurück; im Handel vollziehen sich Umschichtungen. Innerhalb der Industrie verschiebt sich das Schwergewicht zu qualifizierten Kräften. Die noch in der Entwicklung befindliche moderne industriell-demokratische Staats- und Gesellschaftsverfassung verändert aber auch die Stellung des Einzelnen. In der Massengesellschaft verliert er seine Selbständigkeit und damit seine Freiheit i. S. der agrarischfeudalen undbürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Gesicherte Position mit Pension wird Lebensziel. Arbeitsteilung (teamwork) und Spezialisierung bis hin zur Forschung werden erforderlich. Die sozialen Bedürfnisse werden größer und zugleich ausgeglichener. Die moderne Gesellschaft wird zur Mittelstandsgesellschaft. Die technisch-industrielle Entwicklung, die Fortschritte der Zivilisation schaffen die Mittel zur Befriedigung neuer Bedürfnisse. Sie genießen als Rechtsgüter normalerweise strafrechtlichen Schutz, ζ. B. neue, u. U. sehr wertvolle Produkte als Eigentum Schutz gegen Diebstahl. Insoweit kann sich die Kriminalität nach den Objekten der Handlung verschieben (vgl. II A 1 c). Auch können sich die Formen der Begehung, das äußere Erscheinungsbild der Kriminalität, ändern, wenn neue Werkzeuge, Waffen, Verkehrsmittel auftauchen. Die weite Verbreitung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs etwa hat die „Geldschrankknacker" aus ihrer führenden Stellung unter den Einbrechern verdrängt, ohne daß diese Täter ihr Gewerbe aufgegeben haben; sie führen jetzt andere Vermögensdelikte, etwa Raub, Überfälle auf Banken oder Juweliergeschäfte aus. Moderne technische Mittel werden zur Begehung der Delikte eingesetzt, der Kraftwagen etwa zur raschen Annäherung an den Tatort und zur Flucht nach der Tat benutzt; wo solche Mittel zur Sicherung der Tatobjekte oder -opfer eingesetzt werden, kann erhöhter Schutz die Verbrechen mindern. Neue Verkaufsformen (Selbstbedienungsläden), überhaupt die komplizierte Organisation von Handel und Industrie können die Versuchung zu Diebstahl oder Betrug steigern und auch bisher unberührte Kreise zur Tatbegehung führen. Diese Verschiebung wird auch sichtbar in der modernen Wirtschaftskriminalität (s. unten II A 3 b), die nicht nur die wirtschaftlichen Interessen einzelner Personen angreift, sondern unter Ausnutzung des wirtschaftlichen oder sozialen Ansehens der am Wirtschaftsleben beteiligten Täter durch Mißbrauch des geltenden Rechts oder üblicher Gepflogenheiten die Wirtschaftsordnung als solche gefährdet. Die technisch-industrielle Entwicklung kann aber auch schon bestehende Rechtsgüter erweitern oder neue Rechtsgüter schaffen. Diese Erweite-

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E. Die Einheit der sozialen Umwelt Wir gehen davon aus, daß wir in den modernen Staaten eine einheitliche Normenordnung, die für das Verhältnis aller seiner Angehörigen gilt, und somit eine einheitliche Auffassung von der Kriminalität haben. Jedoch ist dies eine Vereinfachung der Wirklichkeit. Jeder Staatsbürger steht in der nationalen Gemeinschaft; doch sind für ihn wichtiger die konkreten Gemeinschaften, zu denen er gehört: Ehe und Familie, Schule, Beruf, Vereine, Kirche, Gemeinde usf., die jede für sich die Normen ihres Verhaltens bestimmen, zwar auf der Grundlage der nationalen Rechtseinheit, aber doch mit deutlichen, manchmal sogar erheblichen Abweichungen. Innerhalb der nationalen Gemeinschaften kommt es auf Grund konfessioneller, politischer, kultureller, aber auch nur berufszugehöriger, geschäftsmäßiger, freizeitgestaltender u. a. Einstellungen zu Gruppenbildungen, die ihr Gruppenleben nach besonderen Normen führen. Es entstehen „Subkulturen". Solche Gruppen können sogar Normen haben, deren Befolgung im Sinne der staatlichen Ordnung kriminell ist, etwa früher das Duell „satisfaktionsfähiger" Kreise (vgl. II C 1) oder Kuppelei bei bäuerlichen Ehen auf Probe. Ja, es ist bei kriminellen oder revolutionären Vereinigungen denkbar, daß sie zur staatlichen Ordnung in bewußtem Gegensatz stehen. Aber auch abgesehen von derartigen Gruppenbildungen ergeben sich Unterschiede aus der Bildung, der sozialen Reife der Staatsbürger. Es gibt in jedem modernen Volk weite Kreise, die den kulturellen Entwicklungsstand, den die Nation in Anspruch nimmt, noch nicht erreicht haben, die unterentwickelt sind und deren Kriminalität sich aus diesem Rückstand erklärt. Das Volk kennt das Strafgesetzbuch nicht. Dem Einzelmenschen werden die herrschende Wertwelt und die sozialen Lebensformen vermittelt durch die Erziehung im weitesten Sinne, an der außer Elternhaus und Schule noch viele Faktoren: Kirche, öffentliche Meinung, Presse und Massenmedien (II C 3 a), Freunde und Bekannte nicht nur in der Kindheit, sondern durch das ganze Leben beteiligt sind. Wichtig ist dabei die Haltung der Führungsschichten; im modernen Staat ist die Macht des wirtschaftenden Menschen gewachsen, und es bilden sich neue Eliten, die sich neben und vor alte, ζ. B. feudale oder großbürgerliche Schichten stellen. Normalerweise wird die vorgelebte Wertwelt und Ordnung unkritisch übernommen, selbst wenn sie persönliche Interessen behindert oder unvernünftig, ja aus geläuterter Sicht sogar gemeinschaftsschädlich ist. Das kann in Zeiten ideologischer Fehlentwicklungen an sich ganz ordentliche Mitläufer, denen Intelligenz oder Entschlußkraft fehlt, kriminell werden lassen (vgl. II Β 2).

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70 Π. BESONDERES Α. Wirtschaftliche Umwelt

1. Wirtschaftslage Die Bedeutung der Wirtschaftslage für die Kriminalität gehört zu den am meisten, auch schon vor der Entstehung einer kriminologischen Wissenschaft untersuchten Gegenständen (zusammenfassend Roesner; van Bemmelen). Vor allem hat man dem Pauperismus Aufmerksamkeit gewidmet. Die Beobachtung, daß die Masse der Kriminellen, und zwar über ihren Bevölkerungsanteil hinaus, den wirtschaftlich schlecht Gestellten, dem Proletariat (vgl. a. I I A 3 c), angehört, läßt (abgesehen von der Möglichkeit und dem deshalb gern erhobenen Vorwurf ungleicher Behandlung) zwei Erklärungen zu: Armut ist kriminogen oder Armut ist ein Symptom sozialer Untüchtigkeit, die sich auch in Kriminalität manifestiert. a. K o n j u n k t u r s c h w a n k u n g e n . Eine Antwort auf diese Frage hat man aus der Prüfung der Veränderung der Kriminalität bei Änderung der Wirtschaftslage zu gewinnen versucht. Klassisch ist die Untersuchung (1867) von G. v. Mayr über Getreidepreis und Kriminalität in Bayern 1835 bis 1861, der einen erstaunlichen Gleichlauf von Diebstahls- und Roggenpreiskurve feststellte. Entsprechende Untersuchungen der Folgezeit (zusammengestellt bei Roesner) bestätigten dieses Ergebnis. Auch in neuester Zeit ist die Parallelität von Preisen und bestimmten Formen der Kriminalität gefunden worden. So besteht eine Abhängigkeit der Buntmetalldiebstahlskriminalität von den Kupferpreisen, die in den Jahren nach dem Weltkrieg stark schwankten (Goos). Aber während in diesem Fall der Einfluß sich leicht dadurch erklärt, daß bei steigenden Preisen der Diebstahl lohnender wird und die Versuchung zu seiner Begehung wächst, während der Schutz des Rechtsguts kaum verstärkt wird, sind die Zusammenhänge bei den Schwankungen des Getreidepreises komplizierter. Denn sein Steigen ist Anzeichen eines Lebensmittelmangels, j a im äußersten Fall einer Hungersnot, die in das soziale Leben tief und bei verschiedenen Bevölkerungsschichten verschieden eingreift. Seine Bedeutung als Symptom setzt aber auch eine bestimmte Wirtschaftsform, nämlich die Agrarwirtschaft, voraus. Etwa seit der Jahrhundertwende stimmte das von Mayr gefundene Gesetz nicht mehr, da der Getreidepreis in der Industriewirtschaft seine die Wirtschaftslage bestimmende Funktion verlor. Man hat ihn durch andere Bestimmungsgründe zu ersetzen versucht: Lebenshaltungsindex, Konjunktur, Arbeitslosigkeit, Alkoholkonsum u. a. b) A r b e i t s l o s i g k e i t . Wenn diese Faktoren auch aufs engste mit der Wirtschaftslage zusammenhängen, so kommen damit doch auch andere Wirkungen ins Spiel. Das gilt besonders von der

Arbeitslosigkeit (v. Hentig 1962). Auch hier ist der Gleichlauf zwischen Arbeitslosigkeit und Diebstahlskriminalität, etwa in der Zeit von 1926 bis 1936, auffallend. Besonders tritt sie bei der Geldfälschung in Erscheinung. Die Zahl der Verurteilungen in den Jahren 1933—1938 betrug in Deutschland: 778, 387,302, 222,139, 83. Graveure und sonstige Fachleute, die als Täter fast ausschließlich in Betracht kommen, hatten wieder lohnende Arbeit gefunden. Aber bei der allgemeinen Kriminalität erfolgt die Zunahme der Täter nicht nur durch Arbeitslose, die in Not gekommen sind. Ihre Arbeitslosigkeit hat auch Rückwirkung auf andere Personen, besonders auf die Angehörigen. Die Wirkung der Arbeitslosigkeit ist aber auch eine mittelbare, die durch Arbeitslosenunterstützung nicht ausgeschaltet werden kann. Der Arbeitslose wird verstimmt, ja verzweifelt; er ist entwurzelt. Das ist besonders fühlbar bei Jugendlichen. Arbeitslosigkeit führt zu einer Zunahme der jugendlichen Wanderer; sie streunen herum, verfallen vielleicht der männlichen Prostitution. Länger dauernde Arbeitslosigkeit kann die Tatzeitpersönlichkeit ändern. Dieser prägende Einfluß kann auch noch nachwirken, wenn sein Anlaß weggefallen ist. c) A r t des E i n f l u s s e s . Die Untersuchung von Mayr hat die Parallelität von Getreidepreis und Diebstahlskriminalität festgestellt. Es interessiert aber darüberhinaus der Zusammenhang zwischen Wirtschaftslage und Kriminalität im Ganzen. Eine ähnliche Wirkung der Wirtschaftslage wie beim Diebstahl läßt sich auch bei anderen Vermögensverbrechen feststellen, während bei anderen Delikten die Wirkung gegenläufig ist. Es gibt Delikte, die eine gute Wirtschaftslage begünstigt, ζ. B. Körperverletzung, Sachbeschädigung, auch manche Sittlichkeitsdelikte. Schwankungen der Wirtschaftslage verändern deshalb die Zusammensetzung der Kriminalität, nicht notwendig ihre Gesamthöhe. Das gilt aber auch innerhalb der einzelnen Delikte. Ihre Objekte, ihre Formen, ihre Täter ändern sich. So werden ζ. B . in Zeiten der Inflation vorzugsweise Sachwerte, in Zeiten der Not Lebensmittel und Gegenstände des hauswirtschaftlichen Bedarfs gestohlen. In Zeiten einer Zwangswirtschaft sind Lebensmittelmarken und sonstige Bezugsausweise häufig Gegenstand der Urkundenfälschung (Mumdey). In der Inflation hörten versicherungsbetrügerische Brandstiftungen auf, so daß v. Hentig die Inflation als Brandschutz bezeichnen konnte. Bei der Erpressung sind in einer Depression Formen häufig, in denen Beziehungen zwischen Täter und Opfer bestehen und die Tat Reaktion, vielleicht aus Haß oder Rechthaberei, ist; bei steigender Arbeitslosigkeit etwa droht ein vor der Entlassung stehender Arbeitnehmer dem Arbeitgeber mit Enthüllungen aus der Geschäftspraxis, um sich seinen Arbeitsplatz zu erhalten. In Zeiten guter Kon-

Kriminalsoziologie junktur sind dagegen Erpressungen aus Gewinnsucht mit Gewalt oder mit sexuellen Enthüllungen durch Unbekannte häufiger (Schuster). Nicht nur in Notzeiten, auch bei Entstehung günstiger Gelegenheiten (unbewachte Parkplätze, Selbstbedienungsläden, öffentlich zugängliche Warenautomaten) werden andere Sachen gestohlen. Die Beispiele lassen sich vermehren. Mit der Veränderung der Objekte und Formen der einzelnen Delikte verändern sich aber auch die Schichten, aus denen sich die Täter rekrutieren. Gleitze hat in seinen Untersuchungen über den Einfluß der Konjunktur auf die Kriminalitätsentwicklung nachgewiesen, daß sie beim einzelnen Delikt bei verschiedenen Altersklassen verschieden, ja ζ. T. gegenläufig ist. Das läßt sich nicht unmittelbar aus dem Alter erklären, sondern nur aus der verschiedenen Beteiligung der Altersstufen an den verschiedenen Erscheinungsformen desselben Deliktes. Diese Täterschichten unterscheiden sich auch nach anderen Merkmalen als dem Alter, ζ. B. nach ihrem Personenstand oder ihrem Beruf. d) W o h l s t a n d s k r i m i n a l i t ä t . Können wir einerseits viele Delikte aus wirtschaftlicher Not und Mangel erklären, so kann auch umgekehrt der Wohlstand des Einzelnen kriminogen werden (Sauer, Grassberger, Schaffstein, E. Preiser). Im modernen Wohlfahrtsstaat verschiebt sich die Kriminalität sowohl nach ihrer Art als auch nach dem Kreis der Täter. Natürlich gibt es auch in ihm Personen, die infolge unglücklicher Umstände oder ihrer Unzulänglichkeit sich aus ihrer wirtschaftlichen Not nicht herausfinden können oder wollen und den Ausweg in der Vermögenskriminalität suchen. Aber ihre Zahl ist kleiner geworden. Denn Arbeitskraft ist Mangelware. Wer will, findet leicht gut oder ausreichend bezahlte Arbeit, ohne genötigt zu sein, sich bei ihr besonders anzustrengen. Die Vollbeschäftigung führt oft zu einem Sinken der Arbeitsmoral, häufigem Arbeitsplatzwechsel und Verletzungen der Arbeitsdisziplin bis hin zu leichter Kriminalität. Der Wille und die Fähigkeiten zur Anpassung an schwierige Arbeitsverhältnisse geht verloren; die Selbstzucht und Selbstbeherrschung läßt nach. Die Menschen werden bequem. Der technische Fortschritt und die Automation führen zu einem Rückgang der schweren Handarbeit, aber auch zu Tätigkeiten mit Erlebnisleere, die den Ausübenden nicht befriedigen. Diese Inhaltsarmut des Lebens wird infolge des passiven Aufnehmens der Massenmedien auch nicht durch schöpferische Freizeitgestaltung ausgeglichen. So ist es nicht die Not, die die Kriminalität auslöst, sondern ein Erlebnishunger, der sich in Angriffen auf die staatliche Ordnung austobt; die Straftaten haben einen antiautoritären Charakter. Bei steigendem Wohlstand wird der Mensch empfindlicher gegen Rangunterschiede. Er ver-

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langt Gerechtigkeit i. S. einer größeren Chancengleichheit und gleichmäßigerer Einkommensverteilung. Auch jetzt ist das Motiv der Tat oft eine Lage, die der Täter als Not empfindet. Aber diese Not ist nicht nackte Lebensnot, sondern erwächst aus überhöhten Ansprüchen. Das soziale Ansehen wird abhängig vom Besitz und Gebrauch bestimmter Gegenstände (Kraftwagen oder -rad, Fernsehtruhe, Waschmaschine u. a.), die deshalb leichtfertig auf Abzahlung gekauft werden, was oft die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Erwerbers übersteigt. Die steigenden Ausgaben werden von Ehrlichen durch Nebenverdienste (auch Schwarzarbeit), von anderen durch Vermögensdelikte gedeckt. Der Kreis der Kriminellen verschiebt sich deshalb einmal hinsichtlich ihres Alters: Der Anteil der jungen Menschen wächst; sie stammen oft auch aus wirtschaftlich gesicherten, ja wohlhabenden Kreisen, die ihren Kindern alle Annehmlichkeiten des täglichen Lebens zur Verfügung stellen. Aber diese langweilen sich. Auch jetzt bleiben diese Delikte vielfach Vermögensdelikte; Diebstahl, namentlich Kraftfahrzeugdiebstahl (Jansen), wird immer häufiger begangen. Doch ist es nicht die Deckung wirtschaftlicher Bedürfnisse, die angestrebt wird, vielmehr wird das Erlebnis gesucht. Auch Gewaltdelikte, die oft bedrohliche Formen annehmen, fallen in diesen Rahmen. Auch manche anderen sozialen Veränderungen in der Wohlstandsgesellschaft steigern die Kriminalität. Größere Mittel führen zu einer Steigerung des Alkoholkonsums. Die Zahl der im Erwerbsleben stehenden Ehefrauen wächst; das verkürzt ihre familiären Bindungen; die Fürsorge für die Kinder und damit ihre Erziehung leidet unter Zeitmangel und Reizbarkeit. Bedenklich ist auch die Lohnhöhe junger Hilfsarbeiter, die in schiefem Verhältnis zu den Unterhaltszuschüssen für junge Menschen steht, die um ihre Ausbildung bemüht sind. Gerade deren heute gesteigerte Kriminalität hat hier oft ihren Ursprung. Die Abnahme der Schwere und Dauer der Arbeit gibt dem arbeitenden Menschen mehr Freizeit. Ihre Gestaltung kann Bedeutung für die Kriminalität gewinnen (vgl. II C 3). 2. Stadt und Land

Dem Einfluß der Siedlungsgebilde, d. h. von Stadt und Land, auf die Kriminalität hat man vor allem um die Jahrhundertwende (G. von Mayr, Aschaffenburg, abschließend Η. H. Burchardt) große Aufmerksamkeit gewidmet. Die Kriminalstatistiken haben darüber Erhebungen angestellt. Dabei kann man auf den Geburtsort oder den Wohnort des Täters oder den Tatort abstellen. Im ersten Fall steht der Einfluß des Herkommens, im zweiten der der örtlichen Umwelt, des genius loci, im dritten die Gelegenheit zur Tatbegehung im Vordergrund. Die Reichskriminalstatistik hatte

Kriminalsoziologie

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für die Jahre 1883—1892 und 1908—1912 Erhebungen nach dem Tatort vorgenommen. Feststellungen nach dem Wohnort des Täters finden sich ζ. B. in Frankreich. In Deutschland werden jetzt Erhebungen nur in der Polizeistatistik, und zwar über den Tatort, vorgenommen. Von der Bevölkerung der Bundesrepublik einschließlich Westberlin lebten am 30. 6.1964 % in Großstädten, je V« in Mittel(20000—100000 Einwohner) und Klein-(5000 bis 20000 Einwohner)städten und y 3 auf dem Lande (genau: 33,3%, 16,1%, 17,2%, 33,4%). 1954 waren es 32,2%, 14,9%, 15,5%, 37,4%; die Verstädterung der Bundesrepublik macht rasche Fort-

Großstädten

1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964

Mittelstädten

schritte. Dabei ermöglicht die Abstellung auf die Größe der Einwohnerzahl und nicht auf ihren rechtlichen Charakter als Stadt- oder Landgemeinde zutreffende Aussagen über ihren soziologischen Charakter; nur die Übernahme der rechtlichen Gemeindegrenzen ermöglicht Verzeichnungen, da 2 oder mehrere Gemeinden zwar de facto, aber nicht de iure zu einem einheitlichen Siedlungsgebilde zusammengewachsen sein können. Der prozentuale Anteil der bekanntgewordenen Verbrechen und Vergehen (a) und ihre Häufigkeitsziffer — Anzahl der Straftaten auf 100000 Einwohner (b) — betrug dagegen bei den

a)

b)

a)

b)

a)

b)

a)

b)

unbekannt a)

43,4 43,1 43,9 45,7 45,5 45,9 46,4 47,2 47,4 46,8 50,9 51,3

3956 3893 4016 4206 4295 4361 4932 5144 5351 5175 4445 4616

15,2 15,8 15,9 16,3 17,1 17,7 18,2 18,7 18,9 19,6 19,6 19,4

3027 3025 3236 3391 3531 3583 4056 4280 4413 4434 3503 3601

10,4 10,5 10,6 11,0 11,4 11,3 11,3 11,5 11,8 12,0 11,9 12,0

1957 1968 2038 2128 2265 2296 2523 2643 2764 2717 2087 2097

30,3 30,5 29,5 26,9 25,8 24,9 23,9 22,3 21,7 21,4 17,2 16,9

2319 2375 2436 2326 2269 2244 2434 2373 2382 2337 1487 1520

0,7 0,1 0,1 0,1 0,2 0,2 0,2 0,2 0,2 0,2 0,4 0,4

Im Jahrzehnt 1953—1964 lag der Anteil der Großstädte erheblich, der der Mittelstädte deutlich über ihrem Anteil an der Bevölkerung, während es bei den Kleinstädten und dem Land umgekehrt war. Die Häufigkeitsziffer ist in den Städten, auch den Kleinstädten stark gestiegen, während sie auf dem Lande unverändert blieb. Die Kleinstädte haben ihre Spitzenstellung seit 1958 an das Land verloren. Die Häufigkeitsziffer ist 1964 in der Großstadt dreimal so hoch wie auf dem Land. Diese Zahlen bestätigen die herrschende, wenn auch nicht unbestrittene (v. Hentig 1961) Meinung, daß die größeren Gemeinden stufenweise mehr belastet sind als die kleineren. Die Unterschiede sind so groß, daß sie auch durch die zweifellos vorhandenen Ungleichheiten des Dunkelfeldes infolge verschiedener Anzeigeneigung der Bevölkerung und Verfolgungsintensität und durch die verschiedene Bevölkerungszusammensetzung nicht ausgeglichen werden können. Freilich ist der Aussagewert einer solchen Feststellung nicht groß, wenn man die Art der Kriminalität außer Betracht läßt. Wichtig ist, daß sich

Kleinstädten

Landgebiet

die Kriminalität von Stadt und Land nicht nur in ihrer Quantität, sondern auch in ihrer Qualität erheblich unterscheiden. Auch darüber gibt die Polizeistatistik der Bundesrepublik Auskunft. Von den einzelnen Delikten waren 1964 90,3% aller Zuhältereien in der Großstadt begangen, von Kraftfahrzeugdiebstählen 71,3%, schweren Diebstahl 61,7%, Raub 61,3%. In den Mittelstädten ist HersteUung (31,6%) und Verbreitung (27,3%) von Falschgeld, im Landgebiet Sprengstoff-, Munitions- und Waffendiebstahl (41,5%) besonders häufig. Auch fahrlässige (53,6%) und vorsätzliche (40,4%) Brandstiftung ist auffallend hoch. Einbrüche in Banken u. a. Geldinstitute, Geldschrankeinbrüche werden mit mehr als der Hälfte auf dem Land (46,3%) und in Kleinstädten (17,5%) begangen. Man sollte erwarten, daß solche Taten in Großstädten am häufigsten sind, wo die Tatobjekte zahlreicher sind; daß dies nicht der Fall ist, erklärt sich wohl aus der geringeren Sicherung auf dem Land. Die Unterschiede der Kriminalität von Stadt und Land können zunächst einmal darauf beruhen, daß die Tatobjekte sich nur oder vorwiegend ent-

Kriminalsoziologie weder in der Stadt oder auf dem Land befinden. Wilderei ist ein ländliches, Taschendiebstahl ein großstädtisches Delikt. Autospringer wurden auf Fernverkehrsstraßen und Autobahnen außerhalb der Städte tätig (Tegethoff). Es kann auch sein, daß die Gelegenheit zur Tatbegehung hier oder dort günstiger ist. So werden Autodiebstähle vor allem in der Innenstadt der Großstädte begangen, weil die Anonymität des konzentrierten Cityverkehrs den Autodieb ohne Aufsicht läßt (Jansen), Daß die vorsätzliche Brandstiftung ein vorwiegend ländliches Delikt ist, erklärt sich auch mit daraus, daß sich auf dem Land mehr leicht brennbare Objekte befinden und die Möglichkeit, sie unbeobachtet in Brand zu setzen, größer ist. Auffallend ist der hohe Anteil des Landes an den fahrlässigen Tötungen (Häufigkeitsziffer von 1953 bis 1964 51,3, 51,9, 51,7, 50,8, 43,64, 45,9, 46,68, 47,05. 46,3, 48,2, 48,6, 53,6). Fahrlässige Tötungen werden aber heute ganz überwiegend im Straßenverkehr begangen. 1963 hatten sich von 4556 in Deutschland deshalb Verurteilten 4036 im Straßenverkehr schuldig gemacht; nur 11,4% waren sonstige fahrlässige Tötungen. Unfälle mit Todesfolge geschehen aber vorwiegend im schnellen Verkehr auf Überlandstraßen außerhalb der Städte. Die Belastung des Landes hat hier wenig mit seinem sozialen Charakter zu tun. Aber auch nachdem man 1963 in der Polizeistatistik die Verkehrsunfälle ausgeschaltet hat, ist der Anteil des Landes nicht zurückgegangen, sondern noch gestiegen. Auf dem Land lebt man gefährlicher als in der Stadt. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob und wie die Eigenart der Bewohner der verschiedenen Siedlungsgemeinschaften die Kriminalität beeinflußt. Einmal ist der Städter naturfremder als der Landbewohner. Sodann verschiebt sich bei den strafmündigen Tätern die Zusammensetzung durch Binnenwanderung. Vom Land strömen aktive Elemente, die sozial wertvoll sind, in dem Streben, zu Erfolg zu kommen, in die Stadt. Aber auch Menschen, die auf dem Land im Beruf oder in ihren mitmenschlichen Beziehungen gescheitert sind, fliehen in die Stadt, um dort unterzutauchen. Dabei kann die Zahl und Eigenart des Zuzugs in die Stadt verschieden sein, je nachdem, ob es sich um eine Hafen-, eine Industrie-, eine Handels-, eine Verwaltungs- oder eine Luxusstadt handelt. Innerhalb der Großstädte können sich Verbrecherviertel bilden, in denen sich die kriminellen Elemente, „die Unterwelt", sammeln. Diese „delinquency areas" sind besonders in den USA untersucht worden (Shaw and McKay; dazu H. Mannheim). Dabei hat man festgestellt, daß der Charakter eines Ortsteils als Verbrecherviertel manchmal auch dann bestehen bleibt, wenn die Bevölkerung nach ihrer Zusammensetzung wechselt. Chronische Verbrecher suchen in Großstädten unbeobachteten Unterschlupf; sie finden

73

ihn in veralteten, unübersichtlichen Stadtvierteln. Ihre gehäufte Anwesenheit läßt anständige Elemente wegen der unerwünschten Nachbarschaft, aber auch wegen der Rücksicht auf ihren Ruf diese anrüchigen Gegenden meiden. Die Größe dieser Gegenden kann sehr verschieden sein. Es kann sich auch um einzelne Häuser oder Hausgruppen handeln. Wo ganze Stadtviertel Verbrecherviertel werden, in denen die soziale Ordnung nicht mehr gewährleistet ist und deren Betreten, vor allem zur Nachtzeit, gefährlich ist, wie es in manchen Weltstädten (New York, Chicago, Johannesburg) zeitweise der Fall ist, versagt der Kampf gegen das Verbrechen. Die Unterschiede der Siedlungsstätten sind von Einfluß auf die Entwicklung der Bewohner und prägen ihren Charakter. In der Stadt ist, zunehmend mit ihrer Größe, der Lebensrhythmus schneller. Die Eindrücke, die die Stadt vermittelt, sind nicht nur andersartig, sondern auch zahlreicher. Der Städter ist lebhafter, angeregter, gehetzter als der Landbewohner. Zugleich lockert sich in der Stadt die Sozialauf sieht, d. h. die Beobachtung und Bewertung durch die Mitbewohner. Auch in der Stadt bestehen Gemeinschaften, Familien, Kirchengemeinden, Vereine usw., die den Zugehörigen zu einem sozialen Verhalten bestimmen, weil er auf seinen Ruf in ihr Wert legt. Aber je größer die Siedlungsgemeinde ist, umso leichter hat es der Bewohner, sich dieser Aufsicht zu entziehen; der Großstadtmensch ist oft, gewollt oder ungewollt, einsam und entbehrt der Hilfe durch seine Mitmenschen, aber auch ihres Interesses, die ihn zu sozialem Verhalten veranlassen. J a , es kann sein, daß sich kriminelle Elemente in Großstädten zu Banden (gangs) zusammentun, um ihre Tätigkeit auszuüben, während noch im Beginn des vorigen Jahrhunderts solche Zusammenschlüsse sich auf dem Lande bewegten (vgl. Bader, 1962). Erst im Laufe des letzten Jahrhunderts war die staatliche Ordnung so gefestigt, daß sie mit diesen Räuberbanden (Schinderhannes u. a.) fertig wurde. Nur in Zeiten politischer Schwäche, so in Deutschland nach dem ersten (Plättenbande, Hölzbande) und nach dem zweiten Weltkrieg, lebten solche Erscheinungen kurzfristig wieder auf. Die großstädtischen Zusammenschlüsse können sich zu organisiertem Verbrechertum, zu „rackets" auswachsen. Dies „racketeering", d. h. verbrecherische Verschwörung (conspiracy), bei der Unterweltstypen zusammenarbeiten, um erlaubte oder verbotene Gewerbe für übermäßigen Gewinn auszubeuten (Elliott), ist insbesondere in den USA zu beobachten. Gangster, die in ihrem Dienst kaltblütig morden, Gewalt anwenden und plündern, haben hier Städte terrorisiert wie Al Capone Chicago (v. Hentig 1959). Endlich ist aber die Bedeutung des Tatortes für die Tatsituation zu beachten. Das Stadtleben

Kriminalsoziologie

74

bietet durch seine allgemeine Aufwendigkeit und Lebhaftigkeit, durch seine zahlreichen Vergnügungsstätten, durch sein Nachtleben viel mehr Versuchungen zu kriminellen Taten als das Land. Der Einzelne ist in ihm weniger bekannt und beobachtet und daher ungehemmter; auch kann er sich einer Verfolgung leichter entziehen. Diesen erhöhten Anreiz zur Tat kann auch der bessere polizeiliche Schutz in der Stadt nicht voll ausgleichen. Es ist nicht zu verkennen, daß der Unterschied von Stadt und Land sich in der neueren Entwicklung verringert. Das liegt neben der zunehmenden Verstädterung an der wachsenden Schnelligkeit und Erleichterung des Verkehrs. Heute leben viele Menschen, die ihren beruflichen Mittelpunkt in der Großstadt haben, in Satellitenöder Trabantenstädten oder auf dem Lande, von wo sie als „Pendler" ihre Arbeitsstätte erreichen. Andererseits geht die Industrie aufs Land und beeinträchtigt damit die bisherige Eigenart des ländlichen Lebens. Aber auch die eigentlichen Landbewohner erreichen heute leicht die Städte und setzen sich mit ihren Annehmlichkeiten auch deren Versuchungen aus. Die zunehmende Beweglichkeit der Bevölkerung verwischt die soziologischen Grenzen. Charakteristische Unterschiede der Kriminalität verschwinden so mehr und mehr. Das Leben in der Kleinstadt und auf dem Lande nimmt Großstadtcharakter an. 3. Beruf a) I m a l l g e m e i n e n . Die kriminalsoziologische Bedeutung des Berufes ist ebenfalls um die Jahrhundertwende eingehend auf kriminalstatistischer Basis untersucht worden. Die vergleichende Darstellung des Systems der Kriminalstatistiken von 33 Ländern, die in der Kriminalstatistik für das Jahr 1927, Berlin 1930, S. 69ff. veröffentlicht wurde, wies nach, daß 18 dieser Länder die Berufszugehörigkeit der Täter erhoben. Allerdings waren dabei die Methoden sehr verschieden, namentlich was die Aufgliederung der Berufe betraf. Bei einigen Staaten war sie sehr knapp,

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 zus.

A

Β

76316 77099 78190 76894 79597 74621 60154 67841 60267 68973 55457 775409

239710 250998 254452 246743 254140 217789 165531 183109 164621 185174 143640 2305907

C 183982 183059 176619 158380 150627 126913 104227 116710 105042 122153 88899 1516611

bei anderen dagegen sehr eingehend, so insbesondere in den USA (v. Hentig 1963), in Italien, Frankreich, der Schweiz und den Niederlanden. In Deutschland wird der Beruf jetzt nicht mehr in der Statistik ausgewiesen. In der Kriminalstatistik des Deutschen Beiches sind seit 1882 bis zum 1. Weltkrieg Erhebungen angestellt und 1895 und 1908 Berechnungen durchgeführt worden. Diese Erhebungen sind 1928 wieder aufgenommen worden, enden aber 1938; für 1937 und 1938 wurden nur noch summarische Angaben veröffentlicht. Die Erhebungen erfolgten für die einzelnen Delikte nach dem abgekürzten Verzeichnis für folgende Berufsgruppen: A) Landund Forstwirtschaft, Jagd und Fischerei, B) Industrie und Handwerk, C) Handel und Verkehr, D) öffentliche Verwaltung, freie Berufe, Gesundheitswesen, E) Häusliche Dienste, F) Lohnarbeit wechselnder Art, G) Ohne Beruf und ohne Berufsangabe. Dabei wurden in Gruppe A—C Selbständige und Geschäftsführer, Angestellte, Gehilfen, Arbeiter, in Gruppe D—F Erwerbstätige und Angehörige, in Gruppe G Selbständige und Angehörige geschieden. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden diese Erhebungen nicht wieder aufgenommen. Nur bei Jugendlichen seit 1950 und bei nach Jugendstrafrecht verurteilten Heranwachsenden seit 1954 stellt man ihre „Tätigkeit" fest und unterscheidet dabei seit 1956 1. Schüler, 2. Lehrlinge oder Anlernlinge, 3. Arbeiter, Hausgehilfen, 4. Beamte, Angestellte, Selbständige, 5. Soldaten, 6. noch ohne berufliche Tätigkeit. Die Polizeistatistik enthält über den Beruf des Täters nichts. Dem Schweigen der Statistik entspricht es, daß in der deutschen Wissenschaft das Problem der Bedeutung des Berufes für die Kriminalität neuerdings wenig behandelt worden ist. Erst v. Hentig hat im 3. Band „Das Verbrechen" 1963, S. 379ff. der Frage Beruf und kriminelle Neigung wieder breitere Ausführungen gewidmet. Die deutsche Statistik ergibt, daß die einzelnen Berufsgruppen sehr verschieden an der Kriminalit ä t beteiligt sind. Es wurden verurteilt in den Jahren 1928—1938 von den Gruppen D

Ε

F

G

20806 20204 20221 19272 19202 17130 14721 16221 15833 17854 13246 194710

10364 10814 10382 9029 7887 7069 6492 7970 7440 9393 7958 94798

39465 36932 40154 39873 39237 32644 21246 24305 19467 20019 14829 328171

15219 14601 14592 14712 13789 12924 11154 13270 12730 14927 11636 149554

Kriminalsoziologie Nach der Berufszählung yon 1925 (Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1930, S. 23) waren von den Wirtschaftsgruppen

Α

Β

C

D

Ε

F

G

Erwerbstätige 30,5 41,4 16,5 4,7 1,8 5,1 Berufszugehörige 23,0 41,3 19,9 5,1 1,5 3,1 9,1

während die Zahl der Verurteilten 1928—1938 sich auf sie im folgenden Verhältnis verteilt: Α Β C D 14,4 43,0 28,3 3,6

Die Unterschiede in der Qualität der Kriminalität sind erheblich; in ihnen spiegelt sich die Eigenart der einzelnen Berufsgruppen und der in ihr liegende Anreiz zur verbrecherischen Tätigkeit, wie etwa die ungünstige soziale Lage des Industriearbeiters, das Gewinnstreben des Handelsmannes, der jugendliche Leichtsinn und die sexuelle Hemmungslosigkeit der weiblichen Hausbediensteten. Doch sind diese Ergebnisse weder besonders wertvoll noch die Vergleiche der Kriminalität der Berufsgruppen unbedenklich. Die Kriminalstatistik hatte sich bei ihren Erhebungen über den Beruf der Täter in der Einteilung an die Berufsstatistik angeschlossen, die aber andere Zwecke verfolgt. Die von ihr gebildeten Gruppen sind für die Kriminologie wenig geeignet, ja zum Teil wertlos (so enthält Gruppe G u. a. etwa Schüler und Studenten, Prostituierte, Rentner), da sie nicht nur sehr verschieden groß, sondern auch nach Alter, Geschlecht, Bildung und anderen für die Höhe der Kriminalität bedeutsamen Umständen ganz verschieden zusammengesetzt sind. Bei den statistisch erfaßten Berufs-

Ε 1,8

F 6,1

G 2,8

Nicht nur die Höhe der Kriminalität ist bei den einzelnen Wirtschaftsgruppen verschieden. Sie unterscheiden sich auch nach ihrer Art. Nach einer Berechnung von Dünnbier sind im Durchschnitt der Jahre 1929—1934 belastet auf je 100000 Berufszugehörige der Gruppen bei

Α Brandstiftung Körperverletzung Sachbeschädigung Raub Sittlichkeitsdel. Mord u. Totschlag Schwer. Diebstahl u. R. Widerstand gegen die Staatsgewalt Unterschlagung Urkundenfälschung Betrug Kuppelei u. Zuhälterei Beleidigung Diebstahl Kindestötung Abtreibung Meineid Blutschande

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1,83 63,8 11,6 0,95 13,7 0,78 4,3 12,3 23,2 9,4 36,7 0,8 38,2 134,6 0,3 4,5 1,8 1,4

Β 0,78 82,6 19,3 2,2 25,2 1,12 10,1 32,5 52,3 19,2 77,7 3,3 57,9 189,9 0,1 6,8 1,7 1,4

C 0,53 49,2 11,7 1,2 25,1 0,77 5,8 34,1 119,9 46,2 178,3 7,4 75,1 118,1 0,1 5,3 1,5 0,6

Ε 0,78 8,7 2,6 0,45 13,6 0,53 2,1 3,2 31,3 14,6 50,4 3,4 28,8 334,6 3,1 33,9 3,45 4,1

gruppen sind es oft nur einzelne Zweige, die kriminell hervortreten, wie etwa im Handel die als selbständig ausgegebenen Provisionsvertreter, die infolge sozialer Not durch Verlagerung des Risikos vom Unternehmer auf sie zeitweise in besonders hohem Maß Betrug und Urkundenfälschung begingen. Auch ist für die Kriminalität nicht nur bedeutsam, zu welchem Beruf der Täter gehört, sondern auch welche Stellung er in ihm einnimmt. Hier unterscheidet die Statistik nur die Selbständigen und Geschäftsführer einerseits, alle Abhängigen aber, mögen sie nun Angestellte, Gehilfen, Gesellen oder Arbeiter sein, andererseits. In dieser Gruppe der Arbeiter i. w. S. ist nun aber wichtig, ob der Arbeiter Facharbeiter ist, der eine Berufsichre durchgemacht hat, oder angelernter Arbeiter oder ungelernter Hilfsarbeiter. Gibt also die Statistik über Punkte, die für die Beurteilung der Berufskriminalität wichtig sind, keine Auskunft, so ist aber auch die Zuverlässigkeit der Zahlen zweifelhaft. Das Strafverfahren zielt nicht auf eine genaue Feststellung der Berufszugehörigkeit des Täters. Der Täter, insbesondere der

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Kriminalsoziologie

chronisch Kriminelle, neigt aber dazu, über seinen Beruf schönfärbende Angaben zu machen, um sein soziales Absinken zu verschleiern. Insbesondere befinden sich unter ihnen viele, die, wenn sie nicht überhaupt berufslos sind, seit langer Zeit infolge mangelnden Arbeitswillens arbeitslos sind oder die häufig den Beruf gewechselt haben. Von einer „Prägung" der Person durch den Beruf oder einem anderen Zusammenhang zwischen Beruf und Kriminalität kann bei ihnen nicht die Rede sein. Die Feststellungen der Kriminalstatistik über die Berufszugehörigkeit der Täter entbehren der Zuverlässigkeit. Die statistischen Ergebnisse sind aber auch deswegen von geringem Wert, weil Kriminalität und Beruf auf sehr verschiedenartige Weise miteinander verknüpft sein können und die Zahlen über die Art des Zusammenhangs zwischen Beruf und Kriminalität nichts aussagen. Der Beruf kann einmal besondere Verbrechensgelegenheiten bieten. Es gibt viele Berufe, deren Ausübung eine besondere Vertrauensstellung gibt und erfordert, weil sie in die Persönlichkeitssphäre anderer Menschen eindringt. Wir gewähren den Berufszugehörigen mehr oder weniger beaufsichtigten Zugang ins Haus oder die befriedete Sphäre, ζ. B. Handwerkern, oder vertrauen ihnen unseren Körper (Arzt), unsere Kinder (Lehrer), unsere Seele (Pfarrer) an. Das Vertrauen, ein Korrelat der Schutzlosigkeit, kann durch kriminelle Zugriffe getäuscht werden; es kommt zu „Opfersituationen der Berufsausübung" (v. Hentig, 1963). Der Beruf kann aber auch besondere Fähigkeiten zur Verbrechensbegehung geben. Ein Schlosser überwindet leichter Schutzvorrichtungen gegen Einbruch, ein Graveur ist imstande, Geld zu fälschen, ein Arzt oder eine Hebamme kann Abtreibungen durchführen. Eine solche besondere oder gesteigerte Fähigkeit ändert zunächst nur die äußere Form des Delikts, aber das Bewußtsein, sie zu besitzen, ist zugleich ein Anreiz zur Begehung solcher Taten. Entscheidend ist die seelische Einstellung des Berufstätigen gegenüber den Versuchungen, die der Beruf mit sich bringt. Und hier ist nun bedeutsam nicht nur, daß der Beruf Anreize in vermehrtem Maß auslöst, denen auch andere Personen ausgesetzt sind, sondern daß nach Charakter, Temperament und verbrecherischen Neigungen zur Kriminalität tendierende Personen solche Berufe wählen, in deren Ausübung sie solche Taten begehen können. Berufswahl ist Umweltwahl, die stark von konstitutionellen Kräften abhängt (v. Hentig 1963). Gewisse Berufe ziehen Persönlichkeiten an, die persönliche Anlagen zu bestimmten Delikten haben, ζ. B. der Metzgerberuf die Anlage zu Gewaltverbrechen, der Kellnerberuf zu Homophilie oder der Lehrerberuf zu Pädophilie usw. Die Kriminalität der Jäger, Metzger, Finanzbeamten, Kassenbeamten, Polizisten, Privatdetektive, Diener, Köche, Kellner, Toten-

gräber, Krankenpfleger, Juristen, Theologen, Mediziner, Lehrer und Schauspieler hat v. Hentig (1963) vor allem unter diesem Gesichtspunkt untersucht. Wo nun die konkreten Zusammenhänge zwischen Beruf und Verbrechen jeweils liegen, das kann nicht allgemein, sondern nur bei der Betrachtung der Kriminalität einzelner Berufe ermittelt werden. Diese Kriminalität kann hier im Einzelnen nicht verfolgt werden; sie ist auch nur zum Teil wissenschaftlich untersucht. Am besten unterrichtet sind wir über die Kriminalität der Beamten, da sie in eigenen Tatbeständen, insbesondere im 28. Abschnitt des StGB: Verbrechen und Vergehen im Amte, §§ 333ff. erfaßt ist und deshalb auch statistisch gezählt wird. Allerdings fällt unter diese Tatbestände, die zum Teil die Verletzung besonderer Amtspflichten (echte Amtsdelikte), zum Teil aber nur Verstöße gegen allgemeine Verbote unter dem qualifizierenden Umstand der Amtsausübung (unechte Amtsdelikte) umfassen, nicht die gesamte Kriminalität der Beamten. Denn die unechten Amtsdelikte behandeln nur einen Teil der im Amt begangenen Delikte und lassen andere, ζ. B. Diebstahl, aus. Auch bei den Amtsdelikten handelt es sich nicht um die Kriminalität „des" Beamten. Die verschiedenen Beamtengruppen sind nach der Art ihres Amtes (Postbeamte vorzugsweise wegen Amtsunterschlagung, Falschbeurkundung im Amt, Brieferöffnung, Kassenbeamte wegen Amtsunterschlagung, Polizeibeamte wegen Bestechlichkeit, Körperverletzung oder Freiheitsberaubung im Amt, Strafanstaltsbeamte wegen Entweichenlassen von Gefangenen und Bestechlichkeit) und ihrer Stellung in ihm in ihrer Kriminalität sehr verschieden (-»• Amtsdelikte). Auch bei einigen anderen Berufen geben Sonderverbrechenstatbestände ein Bild ihrer Kriminalität. Am umfassendsten ist das der Fall bei den Soldaten, wenn und soweit Militärstrafgesetze bestehen (heute in Deutschland WehrstrafG v. 30. 3.1957). Bei anderen Berufen, etwa Ärzten (§§ 278, 300 StGB), Anwälten (§§ 300, 352, 356 StGB) und manchen Gewerbetreibenden (Pfandleiher § 290 StGB, Bauleiter § 300 StGB, Gastwirte GaststättenG, JugendschutzG u. a.), ist nur ein schmaler Einblick eröffnet. Die Reichskriminalstatistik enthielt vor dem ersten Weltkrieg für einzelne Berufe Tabellen über ihre Kriminalität. b) W h i t e c o l l a r c r i m e . Zu der nach der Berufszugehörigkeit ihrer Täter zu bestimmenden Kriminalität gehören auch die „white-collar crimes", die „Verbrechen der besitzenden und gesellschaftlich angesehenen Schichten" (Mannheim), eine Erscheinung, die zuerst für die USA, wo sie besonders schwerwiegende Formen angenommen hat, beschrieben worden ist (Sutherland, Barnes-Teeters), aber auch in Europa vorkommt

Kriminalsoziologie und beachtet wird (Zirpins-Terstegen). Ihre Kriminalität deckt sich, wenn auch nicht vollständig, mit den Wirtschaftsdelikten, denn es handelt sich um Bereicherungsverbrechen, um antisoziales Verhalten im wirtschaftlichen Wettbewerb, durch das im Wirtschaftsleben stehende Personen gehobener Stellung — deshalb auch Oberweltverbrecher — unter Mißbrauch des ihrer Stellung zukommenden und sozial notwendigen Vertrauens zum Nachteil ihrer Partner unberechtigte und unangemessene, also sozialwidrige Gewinne erlangen. Die Gefährlichkeit dieses wirtschaftsschädlichen Verhaltens wird leicht unterbewertet. Die unmittelbaren Schäden, die diese Täter ihren Mitbewerbern, Kunden, Lieferanten, Gläubigern, ja dem Staate oder der Allgemeinheit zufügen, sind finanziell weit erheblicher als etwa die durch Diebstähle erzeugten und betreffen auch oft andere Rechtsgüter, ζ. B. die Gesundheit bei Lebensmittelfälschungen, die nationale Verteidigung bei schlechter Erfüllung von Rüstungsaufträgen. Auch die mittelbaren Schäden können groß sein, da solche Delikte die Wirtschafts- und die Staatsmoral erschüttern können; denn sie haben leicht eine Sog- und Spiralwirkung, weil die Wettbewerber gezwungen sein können, mitzumachen, wenn sie nicht ihre Stellung aufgeben wollen. Deshalb lösen sie oft Kettenreaktionen aus. Dabei lassen sich freilich weder die in Frage kommenden Berufe scharf abgrenzen (selbständige Unternehmer, Manager, Lobbyisten, im Wirtschaftsleben tätige Rechtsanwälte, Journalisten u. a., die zur Geschäftswelt gehören), noch ist das in Frage kommende strafwürdige Verhalten vollständig tatbestandsmäßig als kriminell erfaßt. In Frage kommen vor allem Betrug, Erpressung, Untreue, Wettbewerbs-, Insolvenz- und Steuerdelikte. Eine strafrechtliche Bekämpfung scheitert auch oft an der Ungeeignetheit der vorgesehenen Strafen und an den Umständlichkeiten des Strafverfahrens. In Deutschland ist diese Bekämpfung ζ. T. auf das Ordnungsstrafrecht ausgewichen, so insbesondere im KartellG. v. 27. 7. 1957, das für Ordnungswidrigkeiten neue, weitgefaßte Tatbestände vorsieht (Verbot mißbräuchlicher Ausnutzung der marktbeherrschenden Stellung eines Unternehmens, Verbot von diskriminierenden Maßnahmen, Liefer- oder Bezugssperren u. a. m.), die in einem vereinfachten Verfahren mit hohen, u. U. existenzgefährdenden Geldbußen belegt werden können. Von ihnen können auch Unternehmen, die von juristischen Personen oder von Personenvereinigungen betrieben werden, getroffen werden. c) A r b e i t e r . Von besonderem Interesse ist die Kriminalität der Arbeiter. Bilden sie doch nicht nur die größte Berufsgruppe. In ihren Reihen befinden sich auch unter den Hilfsarbeitern intellektuell schwache und charakterlich labile, sozial abgesunkene Menschen, die für die Kriminalität besonders anfällig sind. Dabei ist der Begriff des

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„Arbeiters" außerordentlich weit gefaßt. Hinsichtlich seiner Neigung zur Kriminalität muß man nicht nur nach seiner Arbeitsstellung unterscheiden — ob er ungelernter, angelernter oder Facharbeiter ist —, auch hinsichtlich der einzelnen Wirtschaftsgruppen, innerhalb derer die Arbeit geleistet wird, können sich für die Kriminalität Unterschiede ergeben. Diese können einmal bestehen hinsichtlich der Schwere der Arbeit. Ist diese sehr groß wie im Bergbau (Bollermann), in der Seeschiffahrt, in der eisenschaffenden Industrie u. a., so kann das Bedürfnis auf Entspannung nach der Arbeit Formen annehmen, die insbesondere infolge übermäßigen Alkoholgenusses zur Kriminalität führen. Auch kann die Eigenart der Arbeit die Ansprüche an die soziale Zuverlässigkeit der Arbeitnehmer mehr oder weniger hoch schrauben und kriminelle Elemente zu den Berufen führen, wo sie niedrig sind. Sie werden dort, ζ. B. als Bauarbeiter, bei der Einstellung nicht nach ihren Vorstrafen gefragt. Das Problem der modernen Industrie, vor allem der Großindustrie, ist das der persönlichen Bindung des Arbeiters. Während der Knecht des Bauern, der Geselle des Handwerkers zum Betrieb „gehört" und nicht nur der Aufsicht des Bauern oder Meisters untersteht, sondern auch selbst nach Erhaltung seiner Stellung durch gute Leistung und Führung strebt, ist das Arbeitsverhältnis in der Industrie infolge der Größe der Betriebe und der loichten Auswechselbarkeit der Arbeitskräfte in Gefahr, auch durch das Klima der Arbeitskämpfe, diese persönlichen Bindungen und Strebungen abzubauen. Die Arbeit wird zum „job". Die Arbeiter werden dadurch für die Kriminalität empfänglicher. In ihrem eigenen wirtschaftlichen Interesse bemühen sich die Unternehmer, ihre Belegschaft stärker an den Betrieb zu binden und ihr Interesse für den Erfolg des Betriebes zu wecken. Durch Erfolgsbeteiligung, also etwa Weihnachtsgelder, die nach dem erzielten Gewinn bemessen werden, durch Einrichtung von Pensionskassen, überhaupt durch Altersversorgung, Werksiedlungen, durch außerbetriebliche Einrichtungen für die Freizeitund Feriengestaltung ,wie Erholungsstätten, Sportplätze, Förderung von Betriebsvereinen aller Art u. a., wird ein gutes „Betriebsklima", d. h. ein gutes menschliches und soziales Zusammenspiel der Belegschaftsmitglieder, das über den Ablauf des technisch-wirtschaftlichen Betriebsgeschehens hinausgeht (Schelsky), erreicht. Der Betrieb wird zu einem eigenständigen sozialen Gefüge. Solche Maßnahmen wirken aber auch kriminalitätsdämpfend, je stärker die emotionelle und intellektuelle Bindung des Arbeiters an seine Arbeit ist, je mehr der Arbeiter an „seinem" Werk hängt. Das ist in Deutschland gerade in Großbetrieben häufig der Fall, während die Bindung in den USA minimal ist. Besonders bedeutsam werden soziale Maßnahmen, wenn, wie es in Werken der Großindu-

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Kriminalsoziologie

strie geschieht, zur Erhaltung der Werksdisziplin der Werkschutz (Amelunxen) eingesetzt wird. Er führt zu einer wesentlichen Straffung der Aufsicht des Werkes, das den Charakter eines Herrschaftsverbandes annimmt, über das Verhalten der Werksangehörigen im Betrieb. Verstöße gegen die Betriebsordnung, sog. „Betriebsverbrechen", werden mit disziplinarischen Mitteln (Ermahnung, Verweis, Versetzung, Entlassung) geahndet (sog. Betriebsjustiz). Viele dieser Verstöße sind auch krimineller Natur, namentlich Diebstähle (Schmidt). Sie verschwinden im Dunkelfeld, da staatliche Stellen nur in schweren Fällen zugezogen oder benachrichtigt werden. d) G a s t a r b e i t e r . Ein heute vielfach aktuelles Problem ist die Kriminalität der ausländischen Arbeitskräfte, der Fremd- oder besser der Gastarbeiter, die in Deutschland 1965 die Zahl von etwa 1,2 Millionen erreicht haben. Ihre Zahl betrug in der Bundesrepublik einschließlich Westberlin Ende Oktober 1964 1013700, darunter 22% Frauen; ihr Anteil an den Arbeitnehmern überhaupt war etwa 4,5%. Auch in Frankreich und der Schweiz (Neumann) spielen sie ζ. Z. eine bedeutende Rolle, während in England der Bedarf an Arbeitskräften durch farbige Einwanderer aus dem Commonwealth gedeckt wird, deren Lebensgewohnheiten von denen der einheimischen Kreise sehr stark abweichen. Gastarbeiter können Saison- oder Dauerarbeiter sein. Sie sind tätig in Industrie- und Gewerbezweigen, in denen sich keine oder nicht mehr genügend einheimische Arbeitskräfte finden, stehen also meist in weniger anziehenden Berufssparten (Bergbau, Schwerindustrie, Bauarbeiten, Hotel- und Gaststättengewerbe, Krankenhäuser u. a.). Ihre Kriminalität wird durch die Art der Arbeit mitbestimmt. Das Problem der Fremdarbeiter ist trotz seiner Aktualität nicht neu. In Deutschland, namentlich im Osten, wurden polnische Erntearbeiter als Saisonarbeiter bis zum 1. Weltkrieg in erheblichem Umfang herangezogen; der Ruhrbergbau nahm seit seiner modernen Entwicklung viele Arbeitskräfte namentlich aus dem Osten, neben Ostdeutschen vor allem Polen und Slowenen auf, die bis zum 1. Weltkrieg ihre nationale Eigenart bewußt betonten; ihre Kriminalität wurde durch den Verlust der Heimat stark geprägt (Brepohl). Bei der Heranziehung ausländischer Arbeitskräfte zu einzelnen Unternehmungen (Nordostseekanal, Tauernbahn) lagen die Verhältnisse hinsichtlich ihrer Zahl, Zusammensetzung und Unterbringung oft anders, so daß ihre Kriminalität mit der heutigen Gastarbeiterkriminalität nicht verglichen werden kann. Bei allen Gastarbeitern sind zwei Umstände kriminalitätsfördernd. Sie verlieren die sozialen Bindungen ihrer Heimat und werden in eine Umgebung gestellt, die sie gleichgültig, manchmal

auch unfreundlich, „mit Ressentiments", aufnimmt. Dabei spielt die Art und Höhe der heimatlichen Kultur eine Rolle. Solche Schwierigkeiten können auch innerstaatlich auftreten, wenn Arbeiter aus rückständigen Gebieten in wirtschaftlich blühende einströmen (süditalienische Arbeitskräfte in die oberitalienische Industrie). In Deutschland sind die entstehenden Schwierigkeiten zur Zeit überwindbar, da die Gastarbeiter meist von verwandter Kultur, Italiener, Spanier, Portugiesen, Jugoslawen, Griechen und Türken sind; bei Österreichern oder Niederländern sind Besonderheiten der Kriminalität kaum spürbar. Hier wird wichtig, ob durch Maßnahmen des Betriebes, der Behörden oder der Wohlfahrtsverbände eine Fürsorge (Unterbringung, Verpflegung, Freizeitgestaltung) ausgeübt wird, die diesen Verlust der Heimat ausgleicht. Auch die Betreuung durch die heimische Kirche kann helfen. Sodann kommen sie in eine Umwelt, die an ihr soziales Verhalten ζ. T. andere Anforderungen stellt als ihre Heimat. Hier fehlt ihnen oft, verstärkt durch sprachliche Schwierigkeiten, das Verständnis für das, was von ihnen erwartet wird. So konnte man eine Zunahme der Körperverletzungen in Betrieben mit italienischen Gastarbeitern beobachten (Goos). Diese Umstände wirken sich verschieden aus, je nachdem, ob die Gastarbeiter nur vorübergehend als Saisonarbeiter oder ob sie zu ihrer Fortbildung und zu ihrem Vorwärtskommen die Arbeit übernehmen oder ob sie eine dauernde Anstellung im Gastland anstreben. In diesem Fall werden sie nur selten kriminell werden. Auch sonst hält sich die Kriminalität der Gastarbeiter in Grenzen, verlangt aber besondere Maßnahmen; wichtig ist ihre Auswahl bei der Anwerbung und die Aufsicht, die ausgeübt wird. Die Möglichkeit der Ausweisung verhindert ein Überhandnehmen der Kriminalität. 4.

Kraftverkehr

Zu einer weitgehenden Verschiebung der Kriminalität hat die Entwicklung des Verkehrs, insbesondere des Straßenverkehrs geführt. Zu den klassischen Verkehrsmitteln des 19. Jahrhunderts, dem Pferdefuhrwerk, der Eisenbahn und dem Fahrrad, ist das Kraftfahrzeug getreten: Es hat mit seiner größeren Schnelligkeit, Weite und Beweglichkeit das Pferdefuhrwerk verdrängt, Fahrrad und Eisenbahn überflügelt. Die Gefährlichkeit des Kraftverkehrs hat zu neuen Pflichten der Verkehrsteilnehmer, insbesondere der Kraftfahrer selbst geführt; die „Verkehrssünder" werden in alten und neuen Tatbeständen erfaßt: zu jenen gehören §§ 222, 230, 330 a StGB, zu diesen §§ 142, 315 a, 316 StGB und das StraßenverkehrsG; an Stelle des §315a sind durch das 2. StraßenverkehrssicherungsG. v. 26. 11. 1964 §§ 315b und c StGB getreten (-> „Verkehrsdelikte").

Kriminalsoziologie Die Zahl der in Deutschland wegenVergehen im Straßenverkehr Verurteilten betrug nach der Strafverfolgungsstatistik in den Jahren (in Klammern weiblich) insges. Verurteilten 1956 232840 (13282) von 546819 564026 1957 242021 (14294) (13531) 549191 1958 218457 1959 231201 (15092) 565110 548954 1960 231075 (15023) 1961 271462 (17208) 602417 1962 275712 (17421) 597198 666683 1963 257415 (15 812) erreichte also in diesen 8 Jahren 43,6% (1963 45,4%) der verurteilten Täter. Dabei sind die nur wegen Vergehens nach dem Straßenverkehrsgesetz Verurteilten zwar sehr zahlreich (1963 110245);

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doch sind diese Vergehen fast durchgehend leichter Natur und deshalb nicht sehr wichtig (Wilms). Verurteilte wegen der neuen Tatbestände gab es im Jahre 1963: wegen Unfallflucht 18614, wegen vorsätzlicher und fahrlässiger Verkehrsgefährdung: 229 und 18413; in Verbindung mit einem Verkehrsunfall wurden 1963 wegen fahrlässiger Tötung 4036, wegen fahrlässiger Körperverletzung 99679, wegen Volltrunkenheit 1550 Täter verurteilt. Bei diesen 3 letzten Tatbeständen ist die Aufteilung nach Begehung im Straßenverkehr statistisch erst seit 1954 durchgeführt; seit 1960 wird bei § 222 und § 230 auch noch unterschieden, ob die Tat in Trunkenheit begangen ist oder nicht. Die Entwicklung bei den fahrlässigen Tötungen gibt die folgende Tabelle wieder: Wegen fahrlässiger Tötung wurden verurteilt

1900 728 1929 1505 1935 1675 1951 1717 1955 3129

1910 684 1930 1716 1936 1927 1952 2118 1956 3653

1925 925 1931 1585 1937 2238 1953 2152 1957 4060

1926 1005 1932 1496 1938 2085

1927 976 1933 1448 1939 1940

insges.

1890 658 1928 1211 1934 1212 1950 1205 1954 2554

1958 3672

1959 4113

davon im Straßenverkehr

2012

2516 1960 4020

3029 1961 4374

3463 1962 4399

3057 1963 4556

3101

3468

3891

3884

4036

366

383

360

494

insges. insges. insges. insges.

insges. davon im Straßenverkehr davon in Trunkenheit

Andererseits gibt der Kraftverkehr neue Gelegenheiten zu Angriffen auf ihn und wird damit als Schutzobjekt bedeutsam. Auch dies hat zu neuen Tatbeständen (§§ 248b, 316a StGB) geführt, wenn auch die Mehrzahl der Taten von den alten Tatbeständen (Diebstahl von, an und aus Kraftfahrzeugen, Taxifahrermorde, Raub in Tankstellen und auf Campingplätzen u. a.) erfaßt wird. Welchen Umfang das annimmt, läßt sich gerade für Deutschland gut nachweisen, weil nach dem Zusammenbruch 1945 der Kraftverkehr praktisch zum Erliegen kam, seither aber einen raschen Aufschwung genommen hat. Statistisch läßt sich die Entwicklung seit 1953 verfolgen, da die Polizeistatistik aus der Zahl der gemeldeten schweren und einfachen Diebstähle (a) und der deswegen festgestellten Täter (b) die Zahl der Kraftfahrzeugund -gebrauchsdiebstähle (c) und der deswegen

festgestellten Täter (d) und in % den jeweiligen Anteil der Erwachsenen (g), der Heranwachsenden (h), der Jugendlichen (i) und Kinder (I) angibt. Seit 1963 sind die Diebstähle von Kraftwagen (α) und von Mopeds und Motorrädern (β) getrennt gezählt (vgl. Tabelle Seite 80). Die Statistik läßt den rapiden Anstieg der überwiegend von Jugendlichen und Heranwachsenden aus Autonarrheit begangenen — bei Jansen waren von 211 Kraftwagendieben nur 40 = 19% über 21 Jahre alt, davon der älteste 32 Jahre — Kraftfahrzeugdiebstähle erkennen, der erst in den letzten Jahren durch Verbesserung der Sicherung der Kraftfahrzeuge, insbesondere durch das sog. Lenkschloß (vgl. § 38 a StVZO, eingefügt durch VO v. 7. 7.1960) zum Halten und leichtem Rückgang gekommen ist. Schon wegen des Versicherungsinteresses der Halter wird man damit rechnen

80

Kriminalsoziologie

a

b

1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963

544110 534607 576619 622385 714087 735679 781797 855033 906094 908186 943423

299188 214732 226231 233507 252171 244003 250954 260129 266127 266988 263581

1964

994714

276647

c 18807 21603 29951 40181 73514 84969 95676 119433 114474 96234 α)44956 jS)50548 α)45609 0)49899

d

g

7602 7559 10446 13521 22108 24316 26645 30186 29770 26124 14015 11964 14117 12220

53,8 50,6 45,5 40,06 38,18 36,74 36,98 37,1 40,3 54,0 27,8 52,7 24,6

können, daß fast jeder Kraftfahrzeugdiebstahl gemeldet wird und daß daher das Dunkelfeld hier sehr klein ist. Umgekehrt kommen auch Fälle unrichtiger Anzeigen vor (bei Jansen etwa 6%). Der Anteil der Frauen am Kraftfahrzeugdiebstahl ist sehr gering.

1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964

i

1

29,0 27,5 27,8 28,81 32,66 33,07 32,44 31,9 31,4 29,6 22,9 27,7 22,3

18,8 16,9 19,9 26,2 30,25 28,29 29,07 29,04 29,7 27,0 15,9 45,8 18,9 49,0

0,3 0,7 0,5 0,88 0,87 1,12 1,54 1,3 1,3 0,5 3,5 0,7 4,1

81,2

Die entsprechenden Zahlen bei den Fabrradund -gebrauchsdiebstählen, die wegen der höheren Dunkelziffer mit den Zahlen für Kraftfahrzeugdiebstähle nur mit Vorsicht verglichen werden können, betragen:

Fälle

Täter

in % Erwachsene

78408 75375 78652 82598 109060 115614 123532 125361 123468 111118 104924 110048

14448 13056 12681 12463 14870 14660 15225 14394 13577 12245 11802 12428

57,7 52,4 48,0 42,17 42,24 39,33 38,67 39,0 41,6 43,7 41,5

Heranwachs.

Jugendliche

Kinder

15,9 16,9 17,7 19,1 20,05 20,26 19,22 17,8 16,1 11,3 10,5

23,7 18,4 21,9 26,2 29,02 27,98 29,45 29,15 28,9 25,7 21,0 23,3

8,0 8,8 8,1 9,61 9,73 10,96 12,96 14,3 16,6 24,0 24,7

76,3

Endlich ist das Kraftfahrzeug kriminologisch bedeutsam als Mittel zur Ausführung von Straftaten, insbesondere zur überraschenden Annäherung an den Tatort und (oder) zur raschen Flucht von ihm (insbesondere im gestohlenen Wagen) bei Überfällen auf Geldinstitute, Postanstalten und Geschäfte. Auch zur Begehung von Sittlichkeitsdelikten werden Kraftwagen nach Entführung der Opfer oft benutzt. Die polizeiliche Kriminalstatistik weist für 1964 aus, daß in 33446 Fällen = 1,9% der bekannt gewordenen Straftaten bei der Tat ein Kraftfahrzeug benutzt wurde. Davon

h



waren fast die Hälfte Diebstähle. Der Anteil der Kraftfahrzeugbenutzung lag bei Notzucht und bei schwerem Diebstahl in Geldinstituten mit je 8,9% aller bekannt gewordenen Fälle sehr hoch. Eine ähnliche Entwicklung wie im Straßenverkehr hat sich auch im Luftverkehr vollzogen: neue Tatbestände bei Verletzung der Verkehrsregeln durch die Verkehrsteilnehmer und Entstehung neuer Schutzobjekte (vgl. §§ 58ff. LuftverkehrsG i. d. F. v. 10.1.1959). Doch sind sie von geringerer praktischer Bedeutung und werden auch statistisch nicht erfaßt. Auch über die kriminolo-

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Kriminalsoziologie gische Bedeutung der Beschleunigung und Mechanisierung des Eisenbahn- und Schiffsverkehrs läßt sich nichts Zuverlässiges sagen. B. Politische Umwelt 1. Reaktion

des Staates und der Gesellschaft auf die Kriminalität Der erste und vielleicht der wichtigste Umstand der sozialen Umwelt für die Kriminalität ist die Reaktion des Staates und der Gesellschaft auf sie. Von dem Grade ihrer Wirksamkeit hängt, was auch bei ihrer Gestaltung nicht aus dem Auge verloren werden darf, deren Größe ab. Wenn sie aufhören würde, würde die staatliche Ordnung und damit der Staat selbst zusammenbrechen. Diese Reaktion selbst ist präventiv und repressiv. Der Staat trifft polizeiliche Maßnahmen, um die Ordnung aufrecht zu erhalten; er reagiert auf die begangene Kriminalität durch Strafen im weitesten Sinne. Der extreme Fall, daß präventiver und repressiver staatlicher Schutz überhaupt aufhört, wird äußerst selten und nur für begrenzte Zeit auftreten und ist schwer feststellbar. Die Kapitulation Deutschlands 1945, als es aller staatlicher Machtmittel beraubt war, die Besatzungsmächte aber nur ihre eigenen Interessen schützten, führte einen solchen Ausnahmefall insofern nicht herbei, als immer noch die Drohung eines sehr scharfen Eingreifens der Besatzungsmächte bei Entstehen von innerer Unordnung bestand. Immerhin löste die Schutzlosigkeit des deutschen Bürgers trotz

(Betriebslänge in km) 1947 1948 1949 1950 1951 1952

Kohlen wurden gestohlen in Köln 1947 18695t, 1948 6384 t, 1949 2938 t. Die Kriminalität fiel dann noch weiter ab. Die Anzahl der Diebstähle pro Kilometer der Betriebslänge betrug in den Direktionsbezirken

Essen

Hamburg

Hannover

Köln

(1467)

(2398)

(3138)

(1568)

(2115)

36,9 15,2 6,9 4,4 5,3 3,9

39,0 19,0 4,0 2,0 3,0 0,9

13,9 10,6 4,0 2,3 4,0 1,8

24,1 15,1 11,4 3,9 5,5 2,8

9,0 4,5 1,6 1,3 1,6 0,7

So wurde der Bahntransport der Kohlen in der Zeit des „Kohlenklaus" zeitweise nahezu unmöglich. Heute erleben wir solche Zustände auf dem Gebiete des Kraftverkehrs (vgl. I I A 4). Der Anstieg der Rraftfahrzeugdiebstähle beruht nicht auf einem Nachlassen der bei der Schwierigkeit der Aufklärung wenig wirksamen Strafverfolgung, sondern auf der zunehmenden Ausnutzung der Schutzlosigkeit der Diebstahlsobjekte. § 38a der Straßenverkehrszulassungsordnung, der die Ausrüstung der Kraftfahrzeuge mit hinreichend wirksamen Sicherheitseinrichtungen vom 1. 7.1961 β

der Lähmung der Bevölkerung durch die politischen Ereignisse sehr bald erhebliche Kriminalität, ausgehend von den DPs aus, die erst durch den Aufbau einer deutschen Polizei gebremst (Bader, Jacobs) und allmählich zurückgedrängt werden konnte. Wohl aber können wir beobachten, wie einzelne Formen der Kriminalität bei Fehlen eines genügenden präventiven oder repressiven Schutzes zum Ausufern gebracht werden können. So schildert Radzinowicz, wie die Verhältnisse im Londoner Hafen, die im 18. Jahrhundert außer Kontrolle gekommen waren und zu einer ungeheuren Kriminalität in ihm geführt hatten, durch Einrichtung einer wirksamen Marinepolizei 1798 völlig geändert wurden. Der ungenügende Schutz kann, namentlich wenn Umstände hinzutreten, die zu einer Begehung anreizen, zum Chaos auf dem jeweiligen Gebiet führen. So geschah es in den ersten Nachkriegs jähren auf der Eisenbahn der Bundesrepublik. Die Zahl der Eisenbahndiebstähle (Heim, Gordies) betrug im Bezirk der Eisenbahndirektion in den Jahren 1946 1947 1948 1949 Köln 17076 38175 24251 18055 Essen 20671 54831 22377 10304

HdK, 2. Aufl., Bd. I I

Münster

Wuppertal (1807) 15,4 7,8 3,2 2,7 2,0 1,3

bzw. 1962 vorschreibt, hat die Zahl der Kraftfahrzeugdiebstähle gemindert. An ihre Stelle ist aber wohl vermehrter Diebstahl aus (1963: 93541, 1964: 111192 gemeldete Fälle) und an (1963: 78772, 1964: 81505 Fälle) Kraftfahrzeugen getreten. Der überhandnehmenden Kriminalität der Provisionsvertreter ist man durch schärfere Überwachung der Reisevertreter (vgl. § 55 GewO), die eine Auswahl nach persönlicher Zuverlässigkeit und Sachkunde und gesündere Anstellungsverhältnisse sicherstellt, mit Erfolg entgegengetreten (Hucko).

Kriminalsoziologie

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Bei der Strafverfolgung spielt die Schärfe der Bestrafung eine geringere Rolle als die Sicherheit ihres Eintritts. So läßt sich bei der Brandstiftung verfolgen, daß die Ausbildung neuer Ermittlungsmethoden und ihre Handhabung durch Brandfahnder, die seit den 20 er Jahren bei den Feuerversicherungsanstalten in Deutschland entwickelt und durchgeführt wurden, eine ganz erhebliche Senkung der Zahl der Brandstiftungen, insbesondere der situationsbedingten, verstandesmäßig motivierten versicherungsbetrügerischen Brandstiftungen herbeigeführt haben (Rohde). So ging in Schleswig-Holstein, das in der Brandverhütung Schrittmacher war, von 1925 bis 1935 der Schadenvomtausendsatz zurück von 1,13 auf 0,27, darunter bei erwiesener oder vermuteter Brandstiftung von 0,3 auf 0,05. 2. Politische

Spannungen

Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen der Bevölkerung, die politisch ausgetragen werden, können für Umfang und Art der Kriminalität von Bedeutung werden. Jeder „Klassenkampf" ist friedensgefährdend. Dabei können diese Spannungen sehr verschiedene Gründe haben. Sie können auf Unterschieden beruhen, die die Beteiligten auf Grund ihres Aussehens, ihres Körperbaus, ihrer Herkunft, ihrer Geschichte, ihrer Sprache, ihrer Kultur als rassisch oder völkisch betrachten (Neger in USA, Zigeuner, nationale Minderheiten). Sie können auf Glaubensunterschiede zurückgehen: Christen und Nichtchristen, insbesondere Juden, innerhalb der Christen verschiedene Konfessionen: Katholiken und Protestanten. Die Gegensätze können auch, allein oder in Zusammenhang mit jenen, wirtschaftlicher Art sein: landwirtschaftlich und industriell tätige Bevölkerung, aber auch in der Stellung des Einzelnen innerhalb der Wirtschaft liegen: Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Solche Gruppenspannungen organisieren sich in politischen Bewegungen oder Parteien, die um die Durchsetzung der Interessen ihrer Anhänger streiten. Sind die Spannungen groß, so entsteht die Gefahr, daß die Regeln für die Austragung politischer Kämpfe verlassen werden, bis sie schließlich in Staatsstreich und Revolution münden. Aber schon ehe es zu Aufstand, Hochverrat und seinen Begleiterscheinungen kommt, wirken sich diese politischen Kämpfe auf die Kriminalität aus. Art und Umfang dieser Kriminalität erlauben Rückschlüsse auf diese Spannungen, auf die „politische Temperatur" eines Volkes. Zeiten eines Hochstandes der Staatsgesinnung mindern, Zeiten ihrer Schwäche erhöhen die Kriminalität. Nur sind die bestimmenden Daten schwer zu erfassen. Denn diese Kriminalität ist nicht nur eine politische, nicht nur Verletzung der Staatsschutzbestimmungen. Die Menschen werden „aufsässig" und achten die Gesetze nicht mehr. So hat man in der Zeit der

Staatsschwäche nach dem 1. Weltkrieg eine Vermehrung der Wilderei beobachtet (v. Weber 1939). Die durch die politische Haltung ausgelösten Feindschaften führen besonders zu emotional bestimmten Delikten, so zu Beleidigung und Körperverletzung, wobei die Tat oft lang verzögert sein kann, wenn der frühere Austrag der Feindschaft durch die politischen Umstände verhindert wurde. Die öffentliche Austragung politischer Spannungen kann zu Landfriedensbruch, Aufruhr und anderen Vergehen gegen die öffentliche Ordnung (nicht genehmigte Demonstrationszüge, „Saalschlachten") führen. Die Taten können aber auch im Rahmen des politischen Kampfes und zu seiner Förderung begangen werden und können dann die verschiedensten Formen als Diebstahl, Betrug, Urkundenfälschung, Erpressung, Brandstiftung, Sprengstoffdelikt annehmen. Sie können sich bis zu Attentaten steigern und sind dann Tötungsdelikte. Alle diese Taten werden in der Statistik nicht als politische Delikte erfaßt. Staaten, in denen die politische Spannung stark ist, pflegen aber zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens auch besondere Strafbestimmungen zu erlassen. Sie begnügen sich nicht mit den herkömmlichen Schutz Vorschriften gegen Hochverrat und Landesverrat, sondern verstärken die Abwehr einmal dadurch, daß sie politisch motivierte Taten als qualifizierte Tatbestände behandeln (z.B. § 187a StGB = politische üble Nachrede) oder daß sie politisch motivierte Verbrechen gegen allgemeine Tatbestände in die Staatsschutzbestimmungen aufnehmen (wie § 94 StGB) oder endlich, daß sie besondere Staatsschutzgesetze erlassen. So gab es in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik ein oft geändertes „Gesetz zum Schutz der Republik", das in Reaktion auf politische Attentate erging. Auch andere Staaten schufen nach dem ersten Weltkrieg solche Republikschutzgesetze. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung erließ der Reichspräsident 1933 eine Verordnung zum Schutz von Volk und Staat. In der Bundesrepublik ist durch das 1. Strafrechtsänderungsgesetz von 1951 in die Staatsschutzbestimmungen ein neuer Abschnitt „Staatsgefährdung" eingestellt worden, der den Staatsschutz der Abwehr moderner Methoden des Umsturzes und des kalten Krieges anpassen soll. Diese große Beweglichkeit des strafrechtlichen Staatsschutzes, die zu erheblichen Verschiedenheiten des Rechtes nach Ort und Zeit führt, macht Vergleiche der Kriminalität zwischen verschiedenen Staaten und innerhalb des gleichen Staates zwischen Perioden verschiedener politischer Haltung, auch wenn man nur die Verurteilung nach Staatsschutzbestimmungen zugrunde legt, nahezu unmöglich. Dabei muß auch bedacht werden, daß in Zeiten politischer Kämpfe deren Ausgang für ihre Erfassung eine Rolle spielt. Die siegende revolutionäre Partei bestraft die von ihr begangenen

Kriminalsoziologie Staatsschutzverletzungen nicht, sichert sich aber gegen „reaktionäre" Handlungen ihrer Gegner. Kommt es zwischen den kämpfenden Parteien zu zeitweiligen Kampfeinstellungen, so wird der Waffenstillstand oft mit einer weitgehenden Amnestie verknüpft. Man kann daher aus der Kriminalstatistik nur mit großer Vorsicht Wesentliches

1954 Hochverrat (§§ 80—83) Staatsgefährdung (§§ 89—93) Straftaten in staatsgefährdender Absicht (§ 94) Verunglimpfung der Staatshoheit (§§ 95—97) Landesverrat (§§ 100,110a u. b) § lOOd: §§ 100 c—f

für die politische Kriminalität entnehmen; nur mit diesem Vorbehalt seien im Folgenden einige Zahlen aus der deutschen Kriminalstatistik wiedergegeben. Die Verurteilungen wegen Staatsverbrechen in Deutschland haben von 1954 bis 1962 folgenden Verlauf genommen:

1955 1956

1957

1958

1959

1960

1961

2 100

1 100

3 56

2 30



62

1 73

4 36

1 42

4

29

92

65

48

92

120

11

25

16

14

7

10

12

14

12

25

12

37

97

174

185

200

1962

1963

22

1 21

105

131

87

17

75

43

41

10

12

210

260

15 6 250

8 16 279

4 15 259



dungsdelikten zeigt sich der rasche Wandel der Begehungs„moden". Bei den Delikten nach §§ 89—93 waren von 1954 bis 1963 verurteilt an Tätern nach

Die Zahlen für Landesverrat fassen ab 1961 die Tatbestände der §§ 100, 100a, b, c und f zusammen und führen landesverräterische Agententätigkeit (§100d) und Beziehungen (§100e) jeweils getrennt an. Gerade bei den Staatsgefähr-

§ 90 a (verfassungsfeindliche Vereine) § 92 (staatsgefährdender Nachrichtendienst) § 93 (staatsgefährdende Schriften)

83

1956

1957

82

87

41

14

5

3

3

11

6

9

4

4

2

2

27

52

20

17

7

3

2

2

4

14

28

18

9

12

9

8

1937 1939 1940 1941 1942 1943 Hochverrat 5255 1126 1112 1917 1357 706 Landesverrat 647 663 697 782 845 750

1959

1960

1961

1863

1955

Die Verurteilungen wegen Hochverrats und Landesverrats in der Zeit des Nationalsozialismus wurden in den Kriminalstatistiken, die für 1934 bis 1938 erschienen, nicht angegeben. Sie betrugen (nach Blau) in den Jahren

1958

1962

1954

In der Zeit der Weimarer Republik war die Zahl der Verurteilungen gegenüber der Zeit des Kaiserreiches verhältnismäßig hoch. Die Reichskriminalstatistik 1927, welche die Ergebnisse der Statistik seit 1882 zusammenfaßt, stellte fest, daß Hochverrat, Landesverrat und verwandte Delikte vor dem 1. Weltkrieg nur unregelmäßig und in unbedeutendem Umfang vorkamen, während des Krieges beträchtlich stiegen und nach dem Krieg als Folge der politischen Unruhen in den ersten Nachkriegs jähren zu ganz außerordentlicher Höhe anschwollen. Die Verurteilungen wegen Landfriedenbruchs betrugen:

1912

1913

1929

1930

1931

1932

1933

1934

1960

1962

1963

32

22

236

437

1570

3040

1178

415

254

180

227

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Kriminalsoziologie

Die politische Kriminalität weist gegenüber der allgemeinen einige Besonderheiten auf. Die Gruppenbildung führt zur gemeinsamen und geplanten Begehung politischer Straftaten, d. h. zur Bandenbildung mit ihrer Schwächung der Verantwortlichkeit des Einzelnen. Diese Zusammenschlüsse können organisiert sein. Die Täter gliedern sich nach Führern, aktiven Teilnehmern, Hintermännern, Mitläufern; es bildet sich ein esprit de corps, der bei staatsfeindlichen Parteien von den staatlich gesetzten Normen erheblich abweichen kann. J e straffer die Gruppe organisiert ist, umso stärker können diese Abweichungen werden. Sie können durch die Kampfsituation gerechtfertigt oder entschuldigt werden (Tyrannenmord). Aber selbst dann werden die hergebrachten Moralauffassungen verdunkelt oder ganz ausgelöscht, das Handeln durch Befehl, oft bei Gewissensnot des Täters, erzwungen. Dabei kann es zu ganz unglaubhaften, in der Rückschau unverständlichen Verbildungen der Moralgrundsätze, die aber doch das Handeln beherrschen können, kommen, wenn eine kämpfende Partei die Herrschaft errungen hat und sie durch Vernichtung des Gegners zu sichern sucht. 3. Krieg a) S p i o n a g e . Politische Spannungen ergeben sich auch zwischen den Bevölkerungen verschiedener Staaten. Doch führen sie nicht zu der gleichen Kriminalität wie bei innerpolitischen Spannungen. Die Auseinandersetzung findet statt zwischen den Staaten als solchen und vollzieht sich, solange der Frieden erhalten wird, in nicht kriminellen Formen. Bricht aber der Krieg aus, so sind Kampfhandlungen, die sonst rechtswidrig und strafbar wären, in völkerrechtlich geregelten Grenzen rechtmäßig. Nur zur Vorbereitung möglicher Kriege werden von den Staaten Nachrichtendienste eingerichtet, welche die Geheimnisse der potentiellen Gegner ausforschen sollen. Sie sind als Spionage und Landesverrat strafbar. Umfang und Gegenstand dieser Spionage hängt von Größe, Art und Richtung dieser Spannungen ab. Der Ost-West-Gegensatz der modernen Welt mit seiner ständigen, weltweiten, ideologischen Feindschaft hat zu einer eigentümlichen Vermischung der politischen Kriminalität von Hochund Landesverrat geführt. Schon Lenin rechnete auf die Kräfte der inneren Revolution als Mittel zum Endsieg des Kommunismus in der Welt. Oppositionelle Gruppen suchen bei ihren politischen Bestrebungen die Hilfe ihnen gleichgesinnter ausländischer Staaten. Umgekehrt bemühen sich diese, bei ihren Auseinandersetzungen mit Staaten anderer Ideologie die Hilfe der oppositionellen Gruppen gleicher Gesinnung in diesen zu erhalten. In gleicher Richtung wirkt die Problematik der militärischen Auseinandersetzung mit modernen

Atomwaffen als Mittel einer vernünftigen Außenpolitik. Man muß sich bemühen, den Widerstand des Gegners durch andere als militärische Mittel zu überwinden. Das hat dazu geführt, daß der früher auf Krieg- und Krisenzeit beschränkte Nachrichtendienst zur Erforschung militärischer Geheimnisse sachlich und zeitlich eine erhebliche Ausdehnung erfahren hat. Alle Staaten pflegen ihn ständig, da die Erforschung der äußeren und innern Politik der fremden Staaten, ihrer Wirtschaft, ihrer technischen und industriellen Entwicklung, ihrer wissenschaftlichen Forschung, ihrer sozialen Evolution für den eigenen Staat Voraussetzung erfolgreicher Außenpolitik ist. Die Nachrichtendienste haben daher zahlenmäßig erheblich zugenommen und sind auch nach einem international ziemlich einheitlichen Schema organisiert. Man schätzt, daß jetzt (1965) in der Bundesrepublik Deutschland 40000 Agenten der UdSSR und 12000 der SBZ tätig sind. Ihre Entdeckung und Aburteilung erreicht noch nicht ein Promille. Die Methoden des „Kalten Krieges" sind vielfach vom Standpunkt des betroffenen Staates kriminell: Zersetzung der Behörden, insbesondere der Sicherheitsorgane des Staates, Organisation von staatsfeindlichen Vereinigungen, Einführung von Propagandamaterial, Sabotagehandlungen u. a. mehr. Diese Tatbestände sind vielfach Neuschöpfungen. Auch hier entspricht Grad und Art der Kriminalität der jeweiligen Spannung des Kalten Krieges. b) V e r b r e c h e n im K r i e g . Bricht aber ein (heißer) Krieg aus, so kann es zur Begehung von Kriegsverbrechen kommen. Diese können sein Verbrechen gegen den Frieden (ζ. B. Angriffskrieg), wenn ein Krieg von einem Staat in völkerrechtswidriger Weise ausgelöst wird. Sie sind aber vor allem Kriegsführungsverbrechen. Darunter versteht man in erster Linie Kampfhandlungen, also Angriffe auf Leib und Leben und auf das Eigentum, die völkerrechtlich nicht zulässig sind, ζ. B. Verwendung verbotener Waffen (Dumdumgeschosse, Giftgas u. a.), Tötung von Kriegsgefangenen, Angriffe auf Verwundete, Angriffe auf Zivilpersonen und unverteidigte Städte (ζ. B. Luft-Terrorangriffe); sodann aber rechnet man hierher auch noch unzulässiges Vorgehen bei der Verwaltung besetzter Gebiete gegen Menschen (Geiselnahme, Zwangsarbeit, Zwangsverschickung) oder gegen die Wirtschaft. Die Schwierigkeit ist, daß die Grenzen der Zulässigkeit namentlich bei neuen Waffen (U-Boote, jetzt Atombomben) völkerrechtlich oft nicht feststehen, ganz abgesehen von den praktischen Möglichkeiten einer allseitigen Bekämpfung dieser Kriminalität. Umfang und Art der Kriegsverbrechen hängen ab von dem Umfang und der Härte des Krieges und dem Maß, in dem die innere Disziplin aufrechterhalten wird. Nicht eigentliche Kriegsverbrechen, wenn auch mit

Rrimiiialsoziologie ihnen verwandt, sondern während des Krieges begangene Verbrechen sind solche Handlungen von Soldaten und Zivilisten, zu denen ihnen die Kriegsereignisse Gelegenheit gaben: Plünderungen, Notzucht im besetzten Gebiet u. ä. Die Wirkung des Krieges auf die Kriminalität geht aber weit darüber hinaus. Jeder Krieg bedeutet für die beteiligten Staaten und ihre Bürger eine tiefgreifende Änderung und Umstellung der persönlichen und sozialen Verhältnisse, die an vielen Stellen und in verschiedener Weise sich auf die Kriminalität mittelbar oder unmittelbar auswirken kann. Man kann daher im Krieg nicht nur eine Ursache sehen, aus der man die Kriminalität erklären könnte, sondern muß die Vielzahl der durch ihn jeweils herbeigeführten sozialen Veränderungen untersuchen. Diese können durchaus verschiedene Folgen bei den verschiedenen Delikten haben; bei gleichen Delikten können sich die Begehungsformen und -modalitäten ändern. Die Kriegswirkungen auf die Kriminalität sind außerordentlich mannigfaltig. Der Krieg ist ein ungewolltes Experiment, das Aufschlüsse über die Bedeutung einzelner sozialer Faktoren gewähren kann. Man hat die Auswirkungen der Kriege auf die Kriminalität schon seit längerer Zeit untersucht (vgl. Roesner). Die älteren Untersuchungen leiden daran, daß sie die Faktoren, welche die Erfassung der Kriminalität im Kriege beeinflussen, nicht genügend berücksichtigen. Diese Fehler vermeiden die von der Carnegiestiftung für internationalen Frieden veranlaßten und geförderten eingehenden Untersuchungen über die Kriminalität während und nach dem ersten Weltkrieg, von denen für Deutschland die Arbeit von Liepmann, für Österreich von Exner hervorgehoben seien (Literaturübersicht bei Roesner). Nach dem zweiten Weltkrieg sind ähnliche, wenn auch nicht so tiefgehende Untersuchungen angestellt worden; beachtenswert ist die Zusammenstellung der Commission Internationale Pinale et Pönitentiaire (Recueil). Die Kriminalstatistik der Kriegszeit kann, wenn ihre Veröffentlichung nicht wie in Deutschland seit 1940 überhaupt eingestellt ist, nur mit Vorbehalt verwendet werden. Der Krieg beeinflußt die Intensität der Strafverfolgung schon wegen der Personaleinschränkungen bei den Strafverfolgungsbehörden und auch wegen der Abnahme der kriminellen Reizbarkeit der Bevölkerung. In extremen Fällen, ζ. B. bei feindlicher Besetzung, kann sie überhaupt ganz oder zum Teil zum Erliegen kommen. Weite Schichten diensttauglicher Männer werden durch Einziehung, evtl. auch durch Amnestien, der bürgerlichen Strafgerichtsbarkeit entzogen. Bei Vergleichen mit der Friedenskriminalität kann man das dadurch korrigieren, daß man seine Aufmerksamkeit auf die Kriminalität der Frauen und bei Männern auf die nicht wehrpflichtigen jugendlichen und die alten

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Jahrgänge richtet. Andererseits entstehen im Kriege neue Pflichten, deren Verletzung strafbar ist; soweit solche Vergehen in neuen Strafvorschriften geahndet werden, können solche kriegsbedingten Strafvorschriften ausgeschiedenwerden. Die kriegsbedingten Änderungen des Gemeinschaftslebens sind einmal äußerliche; der Staat „mobilisiert". Soldaten rücken zur Wehrmacht ein, ein ziviler Luftschutz wird aufgebaut. Die dadurch entstehenden Lücken werden durch kriegsdienstverpflichtete Frauen, Ruheständler und Jugendliche ausgefüllt. Gefährdete Gegenden werden ganz oder teilweise evakuiert (Kinderlandverschickung). Eine Kriegsindustrie wird aufgebaut; bestehende Unternehmen werden verlegt, umgestellt, eingeschränkt oder aufgehoben. Erhebliche Teile der Bevölkerung wechseln den Wohnsitz; es entsteht eine Wanderungsbewegung. Dies alles führt zu einer Lockerung des Familienlebens, die vor allem die Jugendkriminalität fördert. Der Krieg beeinflußt aber auch die seelische Haltung der Bevölkerung; sie hat ein erhöhtes Pflichtbewußtsein. Im Hinblick auf den Opfergang der Soldaten wird in der Heimat Mehrarbeit geleistet; man verzichtet auf viele Vergnügungen. Der Krieg verstärkt den sozialen Zusammenhalt: Man hat ein gemeinsames Ziel und einen gemeinsamen Feind. Die Bedeutung dieser seelischen Haltung im Krieg wird sichtbar auch in vergleichbaren anderen sozialen Erscheinungen: in der Abnahme der Selbstmordneigung, der Ehescheidungen, der Belegung der Heilanstalten für Geisteskranke, in dem Rückgang des Alkoholismus und der Prostitution. Die anfänglich häufig vorhandene Begeisterung läßt freilich mit der Dauer des Krieges nach. Sie kann auch je nach dem Gang des Krieges umschlagen. Bei feindlicher Besatzung entwickeln sich Widerstandsbewegungen, die Ansatzpunkte für kriminelle Elemente sein können (faux risistance) und einen verderblichen moralischen Einfluß („Verdrehung des moralischen Aspektes") haben können. Überspannung der Anforderungen, namentlich Härten der Zwangswirtschaft und Entbehrungen insbesondere bei der Ernährung, führen zur Resignation; Schichten der Bevölkerung, welche die Kriegsziele ablehnen, werden verdrossen und aufsässig. Es kommt zur Kollaboration mit dem Feind. Aber auch abgesehen davon kann der Krieg negative Wirkungen auf das Seelenleben haben in der Freigabe des Hasses. Greuelpropaganda wird getrieben. Es kommt zur Primitivierung des Seelenlebens, indem Aggressionsinstinkte geweckt und gefördert werden; ein guter Soldat kann ein schlechter Bürger sein. Die Mannigfaltigkeit der Kriegswirkungen erlaubt keine Aussage darüber, ob „der" Krieg „die" Kriminalität erhöht oder in bestimmter Weise verändert. Internationale Vergleiche nach dem ersten Weltkrieg haben gezeigt, daß diese Wirkung bei

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den einzelnen Staaten sehr verschieden war. Im Unterschied zu Ländern wie Japan, Kanada und England spielt bei den Zentralmächten vor allem die durch die Blockade erzeugte Not eine entscheidende Rolle, welche die Delikte zur Erleichterung der durch sie herbeigeführten Schwierigkeiten, insbesondere Diebstahl und Hehlerei, anschwellen ließ. Diese Kriminalitätsentwicklung trat aber auch bei einigen neutralen Ländern (Holland, Schweiz, Schweden, Norwegen) auf, die unter Blockadewirkung standen. Hier war Kriegskriminalität Wirtschaftskriminalität (Exner). Als besonders empfindlich erwies sich die Jugendkriminalität infolge der Erziehungsstörungen (mangelnde Aufsicht, Fehlen der Väter) und der verfrühten Selbständigkeit der jungen Jahrgänge. In Deutschland wurden verurteilt 1913

1914

1915

1916

1917

1918

1919

54155 46940 63126 80399 95657 99498 64619 Jugendliche, wobei anzunehmen ist, daß wegen der Kriegsverhältnisse der Anstieg der Verurteilten erheblich geringer ist als der Anstieg der kriminellen Betätigung der Jugendlichen. Im zweiten Weltkrieg ist trotz der sehr einschneidenden Maßnahmen der Regierung die Kriminalität der Jugendlichen in Deutschland noch stärker gestiegen als im ersten Weltkrieg (Blau). Auch hierbei handelt es sich vorwiegend um Diebstahl. c) N a c h k r i e g s k r i m i n a l i t ä t . Wichtiger als die Kriminalität im Kriege selbst, deren Überhandnehmen durch scharfe Maßnahmen der Regierung unter Kriegsverhältnissen beschränkt werden kann, ist ihre Gestaltung in der Nachkriegszeit, also die Frage des Einflusses des Krieges auf diese. Gewisse Wirkungen treten bei

allen Kriegen für alle beteiligten Staaten auf. Das Wirtschaftsleben war umgestellt und seine Wiederingangsetzung bereitet Schwierigkeiten. Die auseinandergerissenen Familien finden sich nicht ohne Störungen wieder zusammen. Bei Kindern und Jugendlichen sind Erziehungs- oder Berufsausbildungsmängel und auch Verwahrlosungserscheinungen oft nicht mehr korrigierbar. Ein Teil der eingezogenen Männer ist gefallen und kehrt nicht an seinen alten Platz zurück; ein anderer Teil ist versehrt und kann die alten sozialen Funktionen nicht wieder aufnehmen oder den angestrebten Beruf nicht ausüben. Die Kriminalität der Schwerkriegsbeschädigten ist infolge ihrer Behinderung im allgemeinen gering. Besonders gilt das von der Vermögens- und der Gewaltkriminalität (Raub, Diebstahl). Die bei ihnen oft anzutreffenden Minderwertigkeitsgefühle, die sie reizbar und neidisch machen, lassen sie aber in erhöhtem Maß Beleidigungen, Körperverletzungen, Widerstand gegen die Staatsgewalt begehen; von Sittlichkeitsdelikten ist die Kinderschändung häufig; an Schwarzmarktgeschäften sind sie rege beteiligt (W. Meyer). Auch die Heimkehrer aus langjähriger Kriegsgefangenschaft sind oft in ihrer Kontaktnahme zur Gemeinschaft gestört, was zu Landstreicherei, Eigentumsdelikten und sexuellen Entgleisungen führt (Gerchow). Die Stärke dieses Einflusses ist von Dauer, Verlauf und Ausgang des Krieges abhängig. Sehr verschieden kann er für Sieger und Besiegte sein. Diese können in eine Nachkriegskrise geraten, welche auf die Kriminalität schwere Wirkungen ausübt. Das zeigte sich bei der Niederlage Deutschlands und Österreichs 1918, die in beiden Staaten zur Erschütterung der Staatsautorität und Schwäche der Wirtschaft (Inflation) und bis zu deren Überwindung zu einer ungeheuren Zunahme der Kriminalität, besonders der Vermögenskriminalität, führte. So wurden in Deutschland wegen | einfachen Diebstahls verurteilt

1913

1919

1920

1921

1922

1923

1924

1925

79554

105121

189519

179075

193818

286178

162693

79465

Weit übertroffen wurde diese Kriminalitätswelle nach der Kapitulation Deutschlands 1945. Diese besonders interessante Entwicklung ist wegen der Verhältnisse nach dem Zusammenbruch nur schwer feststellbar. Statistische Zahlen fehlen bis zur Wiedereinrichtung der Kriminalstatistik der Bundesrepublik Deutschland 1950 fast völlig. Die allgemeine Kriminalität war bei Kriegsende in Deutschland gering. Das Berufsverbrechertum war durch die Maßnahmen der Regierung (Ein-

weisung der chronischen Verbrecher in Konzentrationslager) zerschlagen. Terroristische Strafen schreckten ab. Die Strafrechtspflege beschäftigte sich hauptsächlich mit der politischen Kriminalität. Trotz der Kriegsverhältnisse (schwache Polizeikräfte, Verdunklung, Luftangriffe) war die Sicherheit von Leben und Eigentum vor kriminellen Eingriffen groß. Nach der Kapitulation nahm die Kriminalität einen Neubeginn. An ihr waren die überforderten, apathischen, verschüch-

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Kriminalsoziologie terten, rechtlosen Deutschen zunächst nur mit leichten Delikten (Entwendung von Gut Evakuierter) beteiligt. Kapitalverbrechen, insbesondere Bandenraub, wurden zunächst von den im Land verbliebenen DPs verübt. Doch griffen sie bald auch auf Deutsche über. Die Gewaltdelikte, sehr oft in primitiver und roher Form, in denen sich animalische Antriebe zeigten, nahmen überhand. Bader schätzt, daß in den ersten Nachkriegsjahren der Raub auf das 10- bis 12fache anstieg. In den ersten Nachkriegsjahren war die Gefahr eines Anwachsens der Kriminalität groß. Die eigene Staatsgewalt wurde erst allmählich wieder errichtet, die Behörden waren personell ungenügend besetzt und ausgestattet. Die Besatzungsmächte griffen nur ein, wenn ihre Interessen berührt wurden. Die Rechtsgesinnung der Bevölkerung war geschwächt; die Antipathie gegen alle Obrigkeit war groß. Die soziale Ordnung verfiel auf manchen Gebieten. Plünderungen von Warenlagern, Kohlenzügen u. a. konnten nicht verhindert werden. Der Schwarze Markt übernahm einen Teil der Versorgung. Abgesehen von den von der öffentlichen Meinung zwiespältig beurteilten Verstößen gegen die Wirtschaftsvorschriften war er selbst kriminogen für Fälschungsdelikte, Schmuggel, Diebstahl, Betrug und Erpressung. Er führte zur Korruption in der Beamtenschaft, zum Schwinden des Arbeitswillens und zur Verwahrlosung der Jugend. Deshalb war die Währungsreform, die das Ende des Schwarzen Marktes herbeiführte, von großer Bedeutung. Die Kriminalität im Zusammenhang mit ihm hörte auf. Allerdings blieben noch erhebliche Reste der Zwangswirtschaft bestehen; vor allem der Wohnungsmarkt wurde nicht frei. Aber auch abgesehen von dieser Notkriminalität „normalisierte" sich die Kriminalität nicht. Die Auswirkung der Niederlage auf die Kriminalität war nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland anders und größer als nach dem ersten Weltkrieg. Nach diesem blieb die Sozialstruktur in wesentlichen Teilen, insbesondere der Beamtenstand, erhalten. In der Zeit des Nationalsozialismus fand aber schon vor dem Krieg eine Umschichtung statt, die nach seiner Beseitigung eine Wiederherstellung der alten Formen ausschloß. Eine Deklassierung weiter Bevölkerungsteile durch Verstoßen aus dem Beruf aus politischen Gründen, durch Entmilitarisierung und durch Heimatvertreibung erzwang tiefgreifende Änderungen. d) K r i m i n a l i t ä t der F l ü c h t l i n g e . Der zweite Weltkrieg löste eine Bevölkerungsbewegung in Deutschland aus. Millionen Deutsche wurden aus ihrer Heimat vertrieben oder flohen aus ihr und suchten im Bundesgebiet Zuflucht. Von diesen scheiterten viele: Es gelang ihnen nicht, wieder seßhaft zu werden. Sie wurden „Zonenwanderer" oder Landstreicher oder Strichjungen. Viele junge

Männer gingen in die Fremdenlegion. Doch die Masse wurde „Neubürger" in der Bundesrepublik unter Überwindung vieler Schwierigkeiten: Sie lebten in dürftigen Wohnverhältnissen, mußten oft berufsfremde Arbeit in ungern ausgeübten Hilfs- und Mangelberufen übernehmen und stießen auf Unverständnis, ja Abneigung der alteingesessenen Bevölkerung. Ihre Kriminalität ist durch diese Verhältnisse geprägt: Es gibt bestimmte „Flüchtlingsdelikte" wie Abgabe falscher eidesstattlicher Versicherungen, mittelbare Falschbeurkundung, Ausweismißbrauch, unbefugte Führung des Doktortitels, Bigamie, Aussetzung von Kindern, Konkursdelikte u. a. m. Im ganzen sind diese Neubürger aber kriminell weniger anfällig als die Einheimischen. Immer wieder hat man festgestellt (Bader, Schaffstein 1956, Thomas), daß ihr Anteil an der Kriminalität unter ihrem Anteil an der gleichaltrigen Gesamtbevölkerung liegt. Bei den seßhaft gewordenen Heimatvertriebenen handelt es sich um eine positive Auslese, nicht nur im biologischen Sinn, daß Kranke und Schwache die Flucht nicht unternahmen oder nicht überstanden. Kriminell Anfällige bemühten sich gar nicht um den Wiederaufbau einer vernünftigen sozialen Existenz, sondern blieben entwurzelte Landfahrer. C. Kulturelle Umwelt 1. Spannungen zwischen

Subkulturen

Die Bildung verschiedener Gruppen der Bevölkerung, die sich durch ihre wirtschaftliche, politische und zivilisatorische Stellung unterscheiden, wird von besonderem kriminologischen Interesse, wenn die kulturelle Einheit schwindet und im Staat mehrere Volksgruppen zusammenleben, die sich nicht als zusammengehörig empfinden, wenn das Gruppenbewußtsein das Staatsbewußtsein übertönt. Normkonflikte können aus Spannungen zwischen verschiedenen Subkulturen entstehen (Quensel). Das kann vor allem dann der Fall sein, wenn eine Volksgruppe an einer anderen, namentlich einer primitiveren Entwicklungsstufe festhält und es ablehnt, sich den Anschauungen der staatstragenden Volksteile anzupassen, sondern als Minderheit ihr soziales Verhalten nach eigenen, überlieferten Wertvorstellungen gestaltet. Solche Volksgruppen wirken in unserer modernen Welt wie Fremdkörper; Staat und Gesellschaft in ihrer „Kulturbefangenheit" stehen ihnen im allgemeinen verständnislos und unerbittlich gegenüber und sind geneigt, Verhaltensweisen der Glieder dieser Minderheiten, auch wenn sie deren Rechtsauffassungen entsprechen, als kriminell anzusehen, besonders natürlich dann, wenn sie den Interessen des Staatsvolkes widersprechen. Von allgemeiner Bedeutung sind hier die Zigeuner. Sie sind ein nomadisierender, aus dem indischen Gebiet eingewanderter, in ganz Europa lebender Stamm, der in sich familien- und sippen-

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mäßig gegliedert ist und unter der Führung von Häuptlingen stellt. E r übt eine eigene Gerichtsbarkeit aus und kümmert sich nicht um staatliche Strafen. Die Wanderzigeuner, die an ihrer Lebensart und uralten Tradition festhalten, vermeiden nach Möglichkeit den Konflikt mit dem Staat oder der Bevölkerung. Da sie aber keiner geregelten Arbeit nachgehen, sind sie darauf angewiesen, — neben dem Viehhandel — durch Betteln, Diebstähle (Sammeln) meist von Lebensmitteln und Betrügereien, zu Lasten vor allem der bäuerlichen Bevölkerung, ihren Unterhalt zu fristen. Die Schwierigkeiten mit ihnen mindern sich, wenn es gelingt, worauf in Deutschland nach Lockerung ihrer Sozialverfassung als Folge der nationalsozialistischen Verfolgungen Aussichten bestehen, sie seßhaft zu machen; allerdings sind bisher diese Versuche, die man schon seit langer Zeit unternimmt, sehr oft gescheitert. Die Zigeuner gelten deshalb als falsch, verlogen, diebisch und unzuverlässig. Sehr ernst ist ihre Kriminalität im allgemeinen nicht; die Zigeuner sind asozial, nicht antisozial; sie führen ein parasitäres Leben. Die Kriminalität innerhalb des Zigeunerstammes wird vor den Amtsstellen tunlichst geheimgehalten. Die deutsche Strafverfolgungsstatistik zählt die Zigeuner nicht gesondert. Wohl aber führt die Polizeistatistik unter den reisenden Tätern die „Landfahrer" gesondert auf, d. h. Täter, die aus eingewurzeltem Hang mit Fahrzeugen, insbesondere mit Wohnwagen und Wohnkarren, oder sonst mit beweglicher Habe im Lande umherziehen. Sie führt auf Täter Diebe 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964

3559 1743 1449 1252 1098 1264 1197 897 921 840 1117 1189

1528 623 475 469 445 402 390 328 316 315 442 495

Betrüger SittlichkeitsVerbrecher 807 108 113 387 82 383 353 57 46 288 80 311 251 55 215 10 219 21 14 167 23 327 305 27

Außer den Zigeunern gibt es aber in manchen europäischen Ländern auch andere Stämme mit einer besonderen auf früherer Entwicklungsstufe stehenden sippenhaften Sozialverfassung, so in Italien — die Mafia in Sizilien, die Banditen von Orgosolo auf Sardinien — , in den Donau- und Balkanländern. Es kann dann zur Überlagerung zweier Rechtskreise, eines u. U. sehr primitiven und eines modernen, und damit zu Kollisionen kommen. Ähnlich wie bei den Zigeunern werden

zwar interne Verstöße gegen die Sozialordnung des Stammes, die zu einschneidenden Reaktionen (Blutrache I) führen können, von der allgemeinen staatlichen Verfolgung möglichst ferngehalten. Aber Verhaltensweisen, die nach der primitiven Rechtskultur durchaus rechtschaffen sind, erregen sofort die staatliche Aufmerksamkeit als Kriminalität, wenn das Leben nach Stammessitten die Interessen der Staatsverwaltung oder der nach staatlichem Recht lebenden Bevölkerung, insbesondere deren wirtschaftliche Interessen berührt. Sie läßt die Täter als „Banditen" erscheinen. Anders liegen die Dinge, wenn das Zusammenleben der historisch gewachsenen verschiedenen Stämme von der Tendenz der Assimilierung getragen wird. Auch dann können sich erhebliche Unterschiede in der Kriminalität ergeben, die aber mehr darauf beruhen, daß die Angehörigen der verschiedenen Stämme nach ihrer wirtschaftlichen und sozialen Stellung zu verschiedenen Klassen gehören und damit auch in ihrer Kriminalität deren Eigentümlichkeiten spiegeln. Dabei können natürlich auch Verschiedenheiten der überlieferten kulturellen Entwicklung eine Rolle spielen. So sind Mord und Körperverletzung in den USA typische Negerdelikte, in denen bestimmte kulturelle Faktoren sichtbar werden. Diese Delikte sind überhaupt in archaischen und primitiven kulturellen Verhältnissen wesentlich häufiger als in aufgeklärten Zeiten. So überwiegen ζ. B . auch in Südafrika die Morde innerhalb der Bantubevölkerung die der Weißen um ein Vielfaches. Mit den Fortschritten der Assimilierung verschwinden auch die Unterschiede der Kriminalität. Spannungen, die zur Kriminalität führen können, entstehen aber auch nur bei einzelnen Delikten, wenn zwischen den rechtlichen Anforderungen und den moralischen Grundsätzen, nach denen bestimmte soziale Gruppen, ζ. B . einzelne Stände, leben, Widersprüche entstehen. Sie spielten bis in die Neuzeit eine Rolle bei dem Zweikampf, wo vor allem für das Militär ein Duellzwang bestand: Ein Offizier, der bei Kränkung seiner Ehre den Beleidiger nicht forderte oder als Beleidiger eine Forderung des Beleidigten nicht annahm, mußte den Dienst aufgeben. Das Motiv der T a t waren bestimmte in der Gruppe herrschende und auch vom Staat gestützte Vorstellungen über die Ehre und ihren Schutz, mit deren Schwinden, nachdem England schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts vorangegangen war, auch der Zweikampf verschwand, so daß eine Strafbestimmung gegen ihn im deutschen StGB-Entwurf nicht mehr vorgesehen ist. 2. Religion So kann insbesondere der religiöse Glaube einer Gemeinschaft als herrschende Weltanschauung eine die Kriminalität bestimmende Bedeutung gewinnen, wenn crimen und peccatum gleichgestellt und deshalb der Inhalt des Verbrechens von den

Kriminalsoziologie religiösen Vorstellungen bestimmt wird. Diese Einstellung hatte in der Reformationszeit ihren Höhepunkt erreicht. Mit der allmählichen Trennung von Kirche und Staat oder richtiger von staatlichem Recht und Geboten der religiösen Ethik ist diese Einheit verloren gegangen, ohne daß die rechtlichen Normen sich inhaltlich von diesen religiösen Vorstellungen völlig gelöst hätten. Das deutsche StGB kennt viele Delikte, auch außerhalb des 11. Abschnittes: „Vergehen, welche sich auf die Religion beziehen", die durch Gebote der christlichen Ethik beeinflußt sind. Das gilt insbesondere von den Sittlichkeitsdelikten. Eine andere Frage ist, ob die religiöse Haltung eines Menschen auf seine Kriminalität einen Einfluß hat. Man wird annehmen können, daß der Gläubige einen starken Rückhalt gegen die Versuchung zur Begehung eines Delikts hat, jedenfalls dann, wenn der Tatbestand zugleich durch eine ethische Norm seines Glaubens getragen wird. Sonnenfels hat deshalb in der Aufklärung die Erhaltung der Religion als „Leibriemen zur Gängelung der Untertanen" gefordert. Aber einen Nachweis, daß religiöse Menschen weniger kriminell sind als Ungläubige, können wir nicht führen. Denn über die Gläubigkeit als eine innere, oft verborgene oder vorgespiegelte Tatsache wird keine Statistik geführt. Nur bei einzelnen Sekten ist das anders (Middendorff), die auch oft eine erstaunlich geringe Kriminalität aufweisen. Die Statistik unterrichtet nur über die Zugehörigkeit zu einem Bekenntnis, die über die Gläubigkeit des gezählten Individuums nichts Zuverlässiges aussagt. Vergleiche sind also nur möglich zwischen den Gruppen der Konfessionszugehörigen; man hat sich in früherer Zeit insbesondere hinsichtlich des Anteils der Katholiken und Protestanten darüber lebhaft gestritten (Elster). Hier ergeben sich auch statistisch manche Unterschiede, die man auf gewisse Einrichtungen oder Gebräuche der Konfessionen, ζ. B. Ohrenbeichte mit Absolution, zurückzuführen gesucht hat. Aber das wäre nur überzeugend, wenn im übrigen die Massen der verschiedenen Konfessionsangehörigen gleich wären. Das ist aber keineswegs der Fall. Man hat hier an die Ausschaltung guter Anlagen beim Nachwuchs durch das Coelibat der Geistlichen bei den Katholiken gedacht (van Bemmelen). Insbesondere aber hat es den Anschein, daß die Protestanten im ganzen in einer besseren wirtschaftlichen Lage sind, so daß sich die Unterschiede von hier aus erklären. Nach den Untersuchungen von Tröltsch und Max Weber über Calvinismus und Entstehung des modernen Kapitalismus hat die Konfession einen Einfluß auf diese Entwicklung gehabt. Heute kann man der äußeren Tatsache der Konfessionszugehörigkeit keinen nachweisbaren Einfluß auf die Kriminalität zuschreiben. Die deutsche Kriminalstatistik tut daher recht daran, daß sie sie nicht mehr erhebt. Seit 1918

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erscheint in der Strafverfolgungsstatistik nicht mehr die Tabelle III, welche die persönlichen Verhältnisse der Verurteilten darstellte, seit 1924 wird das Glaubensbekenntnis auch nicht mehr in die Zählkarten aufgenommen. Denkbar ist bei Sektenangehörigen, daß sie trotz ihres im allgemeinen sozialen, der Kriminalität abgeneigten Verhaltens ebenso wie die Angehörigen anderer Minderheiten (II C 1) einzelnen staatlichen Geboten, die mit ihren religiösen Überzeugungen in Widerspruch stehen, aus Gewissensgründen die Gefolgschaft versagen. Ein solcher Konflikt kann sich für die Kriegsdienstverweigerer in Kriegszeiten ergeben. In Deutschland führte er in der nationalsozialistischen Zeit zu schweren Verurteilungen der Zeugen Jehovas, sogar zur Todesstrafe in der Kriegszeit wegen Wehrkraftzersetzung. Durch Art. 4 III GG ist diesem Konflikt der Boden entzogen, soweit der Zeuge Jehovas nicht auch den waffenlosen Dienst oder den zivilen Ersatzdienst verweigert. Es können sich aber aus solchen religiösen Vorstellungen auch andere Schwierigkeiten bei der Befolgung einzelner staatlicher Gebote, deren Übertretung mit Strafe bedroht ist, ergeben, ζ. B. durch Verweigerung der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters zu einer lebensrettenden Bluttransfusion bei einem kranken Kind. Fehlsame Glaubens vorstellungen haben zeitweise auch schwere Straftaten ausgelöst, so Morde und andere todeswürdige Verbrechen durch lebensüberdrüssige Täter, die hingerichtet zu werden wünschten. Sie spielten seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts in vielen Teilen Europas, zuerst in protestantischen Ländern, eine Rolle; die Erkenntnis, daß es sich um „irrige Religionsbegriffe" handelt (Hölle für den Selbstmörder, ewige Seligkeit für den reuigen, wohl vorbereiteten Sünder, der seine Strafe auf sich nahm), ließ sie verschwinden (v. Weber, 1937). 3.

Freizeit

a) M a s s e n m e d i e n . Die Freizeit hat seit jeher kriminologische Bedeutung. Gewisse Delikte werden vorzugsweise an Sonn- und Feiertagen begangen. Diese Kriminalitätsschwankung geht Hand in Hand mit dem an diesen Tagen erhöhten Alkoholkonsum, hört aber nicht auf, wenn einmal alkoholische Getränke, wie in Nachkriegszeiten, nicht zur Verfügung stehen (Räuber). Mit dem Anwachsen der Freizeit (verlängertes Wochenende, allgemeiner Urlaub) wird ihre Bedeutung in dieser Richtung größer. Es kommt darauf an, wie die Freizeit „gestaltet" wird, insbesondere welche Mittel für Unterhaltung zur Verfügung stehen. Die Gefahr der Kriminalität ist besonders groß bei solchen Personen, die mit der Freizeit nichts anzufangen wissen. Von besonderer Bedeutung wegen ihrer Breitenwirkung werden die Unterhaltungsmittel, die man wenig schön und bezeichnend -> „Massenmedien" nennt, d. h.

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Kriminalsoziologie

massenhaft produzierte und verbreitete Literatur (Sensationspresse, Illustrierte, Groschenhefte), Film, Rundfunk und Fernsehen. Das soziale Verhalten des Einzelnen und damit auch sein kriminelles Verhalten wird weitgehend durch Vorbilder bestimmt, die er aus den verschiedensten Quellen empfängt (I E). Dabei können die Massenunterhaltungsmittel durch Information über das soziale Leben und die Vertretung von sozialen Idealen eine wichtige Rolle spielen, ohne daß sie damit zu kriminellem Verhalten anzureizen brauchen. Sie sind insofern neutral; es kommt vielmehr auf ihren Gehalt, auf den übermittelten Stoff an. Freilich ist ihre Intensität gesteigert durch ihre Massenhaftigkeit, durch ihre sensationelle Aufmachung, durch die Verwendung des Bildes — denn Gesehenes wirkt intensiver als Gehörtes und Gelesenes — und bei Film und Fernsehen durch den Anschein der Lebendigkeit. Insoweit besteht die Gefahr, daß durch passives Aufnehmen die aktive Freizeitgestaltung verkümmert und der Benutzer von eigenbestimmter Tätigkeit abgehalten wird. b) J u g e n d s c h u t z . Die Wirkung von Vorbildern kann je nach der Person des Betrachters verschieden sein: Was der eine verabscheut, so daß das Vorbild abschreckt, kann dem anderen einen Anreiz zur Nachahmung vermitteln. Maßgebend sind hier Triebkräfte, Gefühle und sittliche Wertvorstellungen, d. h. der Charakter des Empfängers. Besondere Bedeutung gewinnt das für Kinder und Jugendliche, die durch Gefährdung gegen die Massenunterhaltungsmittel besonders geschützt werden müssen. In Deutschland sind hier wichtig das Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit i. d. F. v. 27. 7.1957 und das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften i. d. F. v. 29. 4.1961. Im Rahmen dieses Jugendschutzes spielt die Bewahrung der Jugend vor Kriminalität eine bedeutende Rolle. Seine Wirksamkeit wird durch die Rücksicht auf Grundrechte, besonders das der freien Meinungsäußerung zugunsten von gewissenlosen Geschäftemachern, die auf abwegige und asoziale Triebe und Interessen Jugendlicher abstellen, vielfach gehemmt. Das Problem des Jugendschutzes stellt sich in allen Ländern und ist auch von der UNO in Angriff genommen worden. Im einzelnen ist zu sagen: Der Film ist für Jugendliche besonders bedeutsam (Lavies, Decurtins). Sie vor allem besuchen ihn und sind als noch mit der Lebenswirklichkeit wenig vertraut durch Verfälschungen der Wirklichkeit (Traumwelt) besonders beeinflußbar. Je näher er dem Kindesalter steht, umso mehr nimmt der Kinobesucher den Film real. Auch wird der Jugendliche über die ihm sonst nicht oder nur beschränkt zugängliche Welt der Erwachsenen aufgeklärt. Der viel erörterte Einfluß des Filmes auf die Jugendkriminalität ist außerordentlich umstritten.

Man muß unmittelbaren und mittelbaren Einfluß unterscheiden. Die Gefahr, daß die Filmhandlung, ζ. B. ein Einbruch, Modell für ein entsprechendes Verbrechen des Zuschauers wird, ist gering. Zwar wird der Film als Schutzbehauptung manchmal von einem schuldigen Jugendlichen vorgebracht, und seine Eltern sehen in ihm gern den Sündenbock. Doch sind die Fälle einer nachweisbaren oder auch nur wahrscheinlichen Kausalität selten. Verbrechensmodelle werden auch aus vielen anderen Quellen gewonnen. Ist eine Filmhandlung aber wirklich Vorbild, braucht nur die Art der Ausführung, nicht die Begehung als solche durch ihn verursacht zu sein. Auch können Filme, aber auch andere Veranstaltungen Halbstarkenkrawalle auslösen. Größer, wenn auch im einzelnen schwer nachweisbar, ist die Gefahr einer nachhaltigen Wirkung auf die allgemeine Haltung. Der Film kann einerseits latente, unbewußte Erlebnisbereitschaften aktivieren, aber auch sozial gefährliche Instinkte in harmloser Form abreagieren. Neben der Gefahr der verfrühten Sexualisierung des Jugendlichen durch unzüchtige Vorführungen, die aber eher zu seiner Verwahrlosung, nur begrenzt zu Sittlichkeitsdelikten führt, besteht die einer Verrohung: Der Faustheld wird das Vorbild, dem man auch im eigenen Leben nacheifert. Auch hier steht der Film aber nur als ein Faktor neben anderen gleichgerichteten: Schundliteratur, Verführung durch Kameraden, mangelnde Beaufsichtigung durch Eltern u. a. Beim Fernsehen, bei dem auch oft Filme vorgeführt werden, bestehen ähnliche Gefahren (Kalb). Doch sind sie geringer wegen der Kleinheit der Bilder und wegen des „Wohnstubeneffektes": Das Fernsehen wird kritischer aufgenommen; auch können ungünstige Eindrücke leichter zurechtgerückt werden. In beiden Fällen ist der prägende Einfluß des Unterhaltungsmittels abhängig vom Gebrauch des Empfängers und von seinem Charakter. Die Gefahr einer Brutalisierung der Jugendlichen ist ebenfalls bei jugendgefährdender Literatur: Sensationspresse, Illustrierte und Wochenzeitschriften, Comics, insbesondere Horrorcomics, Romanhefte gegeben (Schilling). Wenn sie auch mangels lebender Bilder weniger suggestiv sind als Filme, so kann ihre Wirkung wegen der Möglichkeit der Wiederholung der Lektüre doch nachhaltiger sein (->- Kriminalroman). Monographien J. L a n g e : Verbrechen als Schicksal. 1929. K. M u m d e y : Das Delikt der Urkundenfälschung im Bezirk des Landgerichts Gera — Krim. Einzelf. in Thüringen. Η. 1. 1932. Ξ. H. B u r c h a r d t : Kriminalität in Stadt und Land. 1936. W. R ä u b e r : Die Körperverletzungskriminalität = Krim. Einzelf. in Thüringen. H. 8. 1938. H. v. W e b e r : Kriminalsoziologische Einzelforschungen. 1939.

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KRIMINALSOZIOLOGIE -> Theoretische Kriminologie, Vergleichende Kriminologie KMMINALSTATISTIK - > Statistik und Kriminalität

Kriminaltaktik

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KRIMINALTAKTIK I. BEGRIFF Unter Rriminaltaktik ist die Lehre vom rechten, d. h. rechtsstaatlich gemäßen und zweckmäßigen Vorgehen bei der Aufklärung von Sachverhalten zu verstehen, die strafrechtlich beachtlich sein können, einschließlich richtiger Verwendung personeller Kräfte sowie entsprechenden Einsatzes erkennungsdienstlicher und kriminaltechnischer Hilfsmittel und der Anwendung anerkannter naturwissenschaftlich-kriminalistischer Verfahren hierzu. Schneickert hat in die moderne kriminalpolizeiliche Praxis den Begriff „ Kriminaltaktik" eingeführt. Seitdem ist weniger über diesen Begriff, mehr aber über „Kriminaltaktik" als methodisches Vorgehen in Einzelfällen und allgemein in der Kriminaluntersuchung eine umfängliche Literatur entstanden. Solche Veröffentlichungen sind allerdings mehr auf die praktische Untersuchung von Verbrechen (im kriminologischen Sinne) zugeschnitten. Das schließt nicht aus, daß in älteren Handbüchern über die gerichtliche Untersuchungskunde bereits fachlich gediegene Anleitungen zur zweckmäßigen Bearbeitung von Straftaten für den mit einer solchen Untersuchung Betrauten enthalten sind. Schneickert stellte in seiner Erläuterung des Begriffes „Kriminaltaktik" neben die aufklärende Untersuchung von Straftaten im Rahmen der Verbrechensbekämpfung die vorbeugende Tätigkeit. Auf diese Weise gelangt man zu einem ^ngeren und weiteren Begriff der Kriminaltaktik. Eine moderne Bekämpfungsmethode des Verbrechertums gibt sich nicht allein mit der Aufdeckung von Straftaten zufrieden, sie mobilisiert vielmehr wirkungsvolle Kräfte in „rückläufiger" Richtung. Sie verlegt die Abwehr des Verbrechens bereits weit in das Vorfeld möglicher krimineller Phänomene. Somit spricht man von „Kriminaltaktik" im weiteren Sinne, wenn das Gebiet der Vorbeugung mit in die taktische Behandlung eines Kriminalfalles einbezogen werden soll. Aus diesem Gesichtspunkt allein scheint eine Auseinandersetzung über die Richtigkeit der Frage nach Einbeziehung vorbeugenden Tätigwerdens in die Kriminaltaktik heute ohne praktischen Wert. Auf dem Gebiet der Kriminaltaktik bedarf es häufig auch der Erörterung der Frage, ob und auf welche Weise durch bestimmte Verhütungsmaßnahmen Serienverbrechen zumindest abgewehrt werden können, selbst wenn deren Aufklärung (zunächst) erfolglos bleiben sollte. Auch durch die Einführung neuzeitlicher technischer Einrichtungen auf dem Gebiet der drahtlosen Nachrichtenübertragung und des Fernsehfunkes, beispielsweise durch Funksprechverkehr sowie mit Hilfe des transportablen Fernsehauges, des Fernsehempfängers und der Verwendung kon-

ventioneller Fernseheinrichtungen zur Ausnutzung neuer Möglichkeiten für kriminalistische Untersuchungs- und Aufklärungszwecke, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika, hat die kriminaltaktische Disziplin tatsächlich und begrifflich eine noch nicht abzusehende Ausweitung erfahren. Manche zunächst der uniformierten Polizei vorbehaltene Tätigkeit ist aus der Sicht einer erfolgversprechenden Inangriffnahme einer Kriminaluntersuchung in Zukunft zwingend inzwischen neu entwickelten kriminaltaktischen Erfahrungssätzen unterworfen. Wenn aber kriminaltaktische und damit kriminalpsychologische Grunderfahrungen und Lehrsätze gelten sollen, dann gehört zu der Lehre der Kriminaltaktik auch die von ihr abzuleitende kriminalistische Kritik am fehlerhaften Vorgehen, vor allem bei den Untersuchungen von Kapitalverbrechen. Eine solche kriminalistische Kritik bezieht sich nicht allein auf ein kriminalpolizeiliches Untersuchungsverfahren, sondern bis hin zu den Hauptverhandlungen in Strafsachen, in denen Vorsitzender und Staatsanwalt fehlerhaft taktisch ihre unterschiedlichen vom Gesetz zugewiesenen Aufgaben im Hinblick auf die Sachaufklärung zu bewältigen versuchen. Π. KRIMINALTAKTIK IM ENGEREN SINNE Kriminaltaktisch geht man von einer gedanklich folgerichtig zu entwickelnden Untersuchung eines strafrechtlich möglicherweise relevanten Sachverhaltes aus. Wenn man dabei als (verzichtbare) Faustregel das Wer?, Was?, Wo?, Womit?, Warum?, Wie? und Wann? erforscht, so ist zwar die Richtung angedeutet, aber die Reihenfolge nicht verbindlich. Die kriminalistische Praxis diktiert häufig eine andere Folge, wie vorgegangen wird. Das eigentliche kriminaltaktische Vorgehen wird im modernen Sinne besonders von zwei Komponenten wesentlich bestimmt: (1) dem „ersten Angriff" und (2) dem Einsatz technischwissenschaftlicher Hilfsmittel. 1. Unter dem Begriff „erster Angriff" faßt man die ersten taktischen Maßnahmen zusammen, mit denen die Polizei eine Kriminaluntersuchung einzuleiten pflegt. Eine exakte Bestimmung dieses Begriffes fehlte bisher. Allgemein sind unter „erstem Angriff" die allerersten Maßnahmen zur Aufklärung einer Straftat zu verstehen, d. h. das erste Vorgehen der Polizeibeamten am Tatort. Dieser einleitenden Phase solcher Erhebungen ist wesentlich das Element der nicht aufschiebbaren Maßnahmen. Sie gründen sich strafverfahrensrechtlich auf die Bestimmung des § 163 Abs. 1 StPO, nach der alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen von der Polizei zu treffen sind. Hier ist dem Begriff des ersten Angriffs und der strafverfahrensrechtlichen Generalermächtigung (besonders) kriminalpolizeilichen Handelns als Kerninhalt das U n a u f s c h i e b b a r e gemeinsam. Da-

Kriminaltaktik her wird von den zuerst einschreitenden Polizeibeamten insbesondere umsichtiges und initiatives Handeln — zudem meistens völlig unvorbereitet — gefordert. Der erste Angriff soll demnach in der Sicherung der objektiven und subjektiven Beweismittel zur alsbaldigen kriminalpolizeilichen Auswertung bestehen. Aus der Vielzahl dieser objektiven und subjektiven Beweiszeichen sind hier nur die besonders wichtigen aufzuzählen: a) die Indizien-Anzeichen für bestimmte relevante Verhaltensweisen für die Verübung oder Beteiligung an der Straftat; b) die Sachbeweise am Tatort; c) die Tatorte ohne Hinweise oder Spuren — oftmals sehr bedeutungsvoll für die Führung des Beweises, daß ein Delikt vorgetäuscht sein dürfte (beispielsweise ist aus der Darstellung des angeblich Überfallenen auf heftige Kämpfe mit dem Angreifer zu schließen, während in Wirklichkeit am Ort des behaupteten Überfalles Spuren fehlen, die von derartigen Kämpfen in der Umgebung zeugen müßten); d) die Äußerungen von Tatzeugen in bezug auf das Opfer oder den (mutmaßlichen) Täter. Hierzu gehören auch Wahrnehmungen von Auskunftspersonen über Täter oder Tatzeugen. e) Es gehören ferner hierzu sämtliche Wahrnehmungen positiven und negativen Inhalts der zuerst am Tatort erschienenen Polizeibeamten im Hinblick auf etwaige ent- oder belastende Umstände. Die Kriminalpraxis lehrt, daß im allgemeinen sich gerade dem zuerst am Tatort eintreffenden Polizeibeamten besondere Gelegenheit dazu bietet, gewisse Umstände wahrzunehmen, die sich für die spätere kriminalistische Beurteilung als außergewöhnlich wichtig erweisen können. Der erste Angriff bedeutet somit mehr als „Isolierung und Absicherung des Tatortes", er beinhaltet vielmehr die Durchführung des Entschlusses, allererste taktische, die Aufklärung vorantreibende Maßnahmen zu ergreifen. Hierbei scheint die Feststellung wichtig zu sein, daß bei einem taktisch richtig begonnenen ersten Angriff Vorstellungen vorhanden sein müssen, ob und welche Delikte in etwa miteinander in Wettbewerb treten können. Soweit zum ersten Angriff als kriminaltaktischer Maßnahme von besonderer Wichtigkeit. 2. Was den Einsatz technisch-wissenschaftlicher Hilfsmittel für die Verbrechensaufklärung angeht, so leiteten die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine neue Epoche für die Aufdeckung relevanter Sachverhalte ein. Es waren zunächst die E r k e n n u n g s d i e n s t e der Kriminalpolizei mit ihrem herkömmlichen Zubehör, später die kriminaltechnischen Einrichtungen, die der Verbrechensaufklärung zu dienen haben. Zu den letzteren gehören Laboratorien der Kriminalpolizei für vielseitige Zwecke mit ihren apparativen Ausrüstungen nach neuestem wissen-

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schaftlichem Stand zur Untersuchung von auch winzigem Spurenmaterial. Auf Grund solcher Entwicklung gehörte es bald zum umsichtigen taktischen Vorgehen, wenn am Tat- oder Unfallort mit Schußwaffengebrauch nach spezifischem Spurenmaterial gesucht wurde, um Vergleichsuntersuchungen auf dem Gebiet der Schußwaffenidentifizierung und -bestimmung vornehmen zu können. Die Entwicklung hochqualifizierter optischer Geräte gestattet in gleicher Weise die Werkzeugspurenidentifizierung. Sie wurde bedeutungsvoll zunächst für die Aufklärung von schweren Diebstählen; hier sind besonders Einbrüche in Fabrik-, Geschäftsräume und Wohnungen zu nennen, bei denen die Spurensicherung auf die Benutzung von Werkzeugen mit charakteristischen Schneid-, Stanz-, Schlag-, Bruch- u. a. Spuren schließen läßt. Auch die Bemühungen der Kriminaltechnik zur Führung eines zweifelsfreien Herkunftsnachweises bei entwendeten und wiederbeschafften Kraftfahrzeugen, Maschinen u. ä. durch Wiedersichtbarmachen entfernter Nummern- und Prägezeichen in Stahl(blech), Eisen, Kunststoffen und anderen Stoffen erweiterten die Erkenntnisse und führen praktisch dazu, das kriminaltaktische Vorgehen insbesondere in der Spurensuche und -Sicherung am Tat- und Fundort von (Schuß-)Waffen, Munition und Werkzeugen ständig zu verfeinern. Hand in Hand damit lief noch eine andere, entsprechende Entwicklung. Die naturwissenschaftlich-kriminalistischen Laboratorien — im Ausland häufig „Wissenschaftlicher Dienst" genannt — mit ihren chemischen, physikalischchemischen, sprengstoff-chemischen, medizinischen, insbesondere blutserologischen sowie (mikro-)biologischen Abteilungen nahmen an personellem und apparativem Volumen zu. Dem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt entsprechend, werden ihre Untersuchungsmethoden vervollkommnet. Die Rechtsgrundlagen hierfür finden sich in § 2 Ziff. 3 des Gesetzes über die Einrichtung des Bundeskriminalpolizeiamtes vom 8. 3.1951 (RGBl. I S. 165) und den entsprechenden Bestimmungen der Polizei- oder Polizeiorganisationsgesetze der Bundesländer, wonach Bundeskriminalamt und Landeskriminalämter verpflichtet sind, derartige kriminaltechnische Einrichtungen zu unterhalten. Mit dieser Bezeichnung „kriminaltechnisch" sind hier auch die naturwissenschaftlich-kriminalistischen Einrichtungen gemeint. Die Vermehrung solcher Institute hatte allerdings auch eine verstärkte spezialistische Ausbildung im mittleren und gehobenen Dienst der Kriminalpolizei beim Bund und den Ländern zur Folge. Auf diese Weise erhofft man, ein (noch) besseres kriminaltaktisches Tätigwerden vor allem am Tatort zu erhalten. Somit eröffnen die Kriminaltechnik und die naturwissenschaftlich-krimina-

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listische Tätigkeit in diesen Labors einer fachgerecht zu führenden Kriminaluntersuchung neue Möglichkeiten f ü r Spurensuche, -Sicherung u n d -auswertung in bezug auf den Tatort eines Verbrechens, manchmal aber auch erst nachher, beim Zugriff auf einen Beweisgegenstand oder beim Ergreifen eines am Tatgeschehen Verdächtigen. Kriminaltechnische und naturwissenschaftlichkriminalistische Erkenntnisse finden ihren kriminaltaktischen Niederschlag, indem sie Richtung, Urnfang und vor allem die Gründlichkeit einer Kriminaluntersuchung sehr wesentlich zu beeinflussen vermögen. Eine derartige Entwicklung auf dem Gebiet der Verbrechensaufklärung ist inzwischen auch international feststellbar, anerkannt u n d wird durch die Interpol-Organisation gefördert. Kriminaltaktische Erfahrungen von allgemeingültigem Wert werden gerade im Hinblick auf diese technischen und wissenschaftlichen Fortschritte in der Spurenbegutachtung laufend international ausgetauscht. ΙΠ. KRIMINALTAKTISCHES VORGEHEN BEI EINZELNEN VERBRECHENSGRUPPEN A. Kriminaltaktisches Vorgehen bei Tötungsdelikten und Brandstiftung Aufbau, Gliederung u n d Ausrüstung nach (relativ) neuestem Stand bei der Polizei (Schutzpolizei, Landpolizei, Gendarmerie) bringen es mit sich, daß beim Auffinden einer durch verbrecherische Tat oder durch Unfall tödlich verletzten Person oder bei einem Leichenfund uniformierte Beamte des Streifendienstes in der Regel zuerst am Tat-, Unfall- oder Fundort erscheinen u n d die ersten Maßnahmen zur Absperrung des Tat (Fund-) ortes vor dem Betreten Unberufener treffen, neben der (selbstverständlich) allerersten Maßnahme, das (schwer-) verletzte Opfer ohne Verzug ärztlich versorgen zu lassen. Alsdann spielt die Durchführung des Entschlusses zur Nacheile nach dem flüchtigen Täter und zur Auslösung von Fahndungsmaßnahmen (über-) örtlicher Art sowie die sofortige Benachrichtigung der Mordkommission der Kriminalpolizei eine bedeutende Rolle. Weiterhin ist die unverzügliche Sicherung von Spuren vordringliche Aufgabe, deren Vernichtung, beispielsweise durch Regen, Schnee u. a. oder dritte Personen, zu besorgen sein könnte. Insoweit sind die Beamten der uniformierten Streifendienste der Polizei — in Großstädten wie auf dem Lande — sehr stark am „ersten Angriff" in der Kriminaluntersuchung eines Tötungsdelikts (Mord, Totschlag, Kindestötung, Abtreibung mit tödlichem Ausgang, schwerer Raub mit Todesfolge, fahrlässige Tötung ohne Verkehrsunfall, Selbstmord, Tod durch Unglücksfall, Katastrophe, u. a.) heutzutage mitbeteiligt. Insoweit sind sie dadurch nicht unwesentlich mitverantwortlich am Gelingen einer fachlich einwandfreien Tatbefunderhebung. Diese vom

fachkriminalistischen Standpunkt allerdings wenig befriedigende, aber nicht aufzuhaltende Entwicklung h a t aufgrund vieler bitterer Erfahrungen dazu geführt, uniformierte Polizeibeamte des Streifendienstes über wichtigste kriminaltaktische Grundsätze des „ersten Angriffs", ζ. B. beim Verdacht eines Tötungsdeliktes, insbesondere bei allen Kapitalverbrechen, systematisch unterweisen zu lassen. Da diesen Beamten im allgemeinen die spezielle Erfahrung mangelt, daß Gelerntes ohne hinlängliche praktische Ausübung häufig vergessen wird, entschloß m a n sich, allen Streifenbeamten in einem mitzuführenden Merkblatt Leitsätze über das zweckmäßige Verhalten am Tatort eines Kapitalverbrechens zu vermitteln. Diese Übung h a t sich in einigen Bundesländern bei der uniformierten Polizei bewährt. Ungeachtet dessen bleibt für den „ersten Angriff" durch die herbeigerufene Mordkommission noch vieles aufgrund kriminaltaktischer Überlegungen an Grundsätzlichem durchzuführen. In den zwanziger Jahren entwickelte sich bei den polizeilichen Großstadtbehörden die Übung, vom Streifendienst erst den Kriminaloberbeamten vom Dienst befragen zu lassen, ob der Einsatz kriminalpolizeilicher Spezialisten von der Mordkommission erforderlich sei. Das betraf in der Regel dubiose Todesermittlungssachen. Ausbildung u n d Beiziehung von Spezialisten stützen sich auf langjährige kriminalpraktische Erfahrungen vor allem in der Aufdeckung von Tötungsverbrechen. Die Zeiten des Einsatzes eines „Superdetektivs", was immer wieder für den Fachmann wenig überzeugend in-»· Kriminalromanen zur Drastellung gebracht ist, gehören der Vergangenheit an. Die Kunst der Verbrechensaufklärung überfordert in der Gegenwart namentlich durch eine wissenschaftlich betriebene Verbrechensanalyse Kräfte und Können eines Einzelnen. Es liegt auf der Hand, daß die Sachbearbeiter für Todesermittlungssachen im allgemeinen ihren Fachkollegen in anderen Sparten bezüglich der Beurteilung eines dubiosen Todesfalles überlegen sind. Neben ihren kriminalistischen Kenntnissen allgemeiner Art verfügen sie über entsprechendes gerichtsmedizinisches Elementarwissen, auch schon infolge ihres fast täglichen Befaßtseins mit Leichensachen. Sie sind daher erfahrene Fachkräfte, u m zur mutmaßlichen Todesart prima facie Stellung zu nehmen. Sie haben das Auge dafür, die spezifischen Spuren, auf die es ankommt, an bestimmten Stellen zu suchen. Auch müssen sie die Technik ihrer Sicherung beherrschen, abgesehen von Sonderfällen. Es soll nicht verkannt werden, daß es bei kleineren Polizeibehörden an solchen spezialistisch ausgebildeten Sachbearbeitern für die Todesermittlung mangelt. Nicht selten vorgefallene regelwidrige Bearbeitungen von Todesermittlungssachen regten dazu an, durch polizei-

Kriminaltaktik organisationsrechtliche Maßnahmen sicherstellen zu lassen, daß solche Spezialisten der Großstadtbehörden und Landeskriminalämter auf Anforderung oder de lege an Tatorte und bei Verdacht des Kapitalverbrechens auf das Land oder in kleinere Gemeinden entsandt werden. Dieser kriminaltaktische Grundsatz, rechtzeitig in solchen Fällen geeignete qualifizierte Fachkräfte am Tat- oder Fundort einer Leiche zu Rate zu ziehen, ist in der kriminalpolizeilichen Praxis nicht zu jeder Zeit beachtet worden, zum Nachteil der Verbrechensaufklärung. 1. Für die mit modernen Nachrichtenübertragungsmitteln ausgestattete (uniformierte) Polizei ist es in der Zeit des unaufhaltsamen technischen Fortschritts erheblich leichter, verhältnismäßig schnell erforderlich werdende Kriminalspezialisten an den Tatort herbeirufen zu lassen. Der Streifendienst der uniformierten Polizei ist infolge rationeller Arbeitsweise, größerer Bereiche, die von einer Polizeihauptwache zu betreuen sind, Personalmangels und sofortiger Funksprechverbindung vom Binsatzort zur Hauptwache, stark motorisiert. Selbstverständlich h a t die hohe Motorisierung des Streifendienstes für die Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben und intensiver Verbrechensbekämpfung auch taktische Nachteile, beispielsweise gegenüber dem einstmals lautlosen Schreiten der Polizeistreifen zu Fuß. I m Ergebnis jedoch dürfen die Vorteile aus der Motorisierung des Polizeistreifendienstes (durch P K W — teils mit getarntem Kennzeichen des Kraftfahrzeuges — Krafträder u n d Hubschrauber) größer sein und die nicht leugbaren Nachteile aufwiegen. Kriminaltaktisch aber ist jeder motorisierte Streifendienst in der Lage, mit der Zentralstelle der Kriminalpolizei auf dem Funkwege zu sprechen und, falls nötig, die Spezialisten für Todesermittlungssachen u n d des Erkennungs- und kriminaltechnischen Dienstes anzufordern und an den Einsatzort (Tat-, Fund-, Unfall- und Katastrophenort) bringen zu lassen. Durch die Funksprecheinrichtungen ist es auch möglich, nach einiger Zeit Rückfrage über die Notwendigkeit weiterer Fachhilfe oder Informationen zu halten. Hierdurch h a t sich das kriminaltaktische Vorgehen schlechthin verfeinert u n d in bezug auf die Möglichkeiten der Aufklärung verbessert. Denn nicht in jedem Fall am Fundort einer Leiche, beispielsweise auf freiem Gelände, ist es rationell, mit sämtlich abkömmlichen Spezialisten zum Einsatzort auszurücken. Die drahtlose Verbindung zum Tatort k a n n hier entsprechend den Umständen spezialfachlich korrigierend eingreifen. 2. Mit dem Eintreffen der Mordkommission (MK) am Tatort beginnt im allgemeinen eine eingespielte Spezialistengruppe tätig zu werden. Zumindest sollte es nach anerkannten Regeln so sein. Selten beginnt die MK (eine spezialfachliche Bezeichnung, die Ende des 19. Jahrhunderts bei

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der Berliner Kriminalpolizei populär wurde) mit dem „ersten Angriff" in einer Todesermittlungssache. In der Regel trifft sie ein, wenn der erste Angriff, wie bereits erörtert, vor sich geht oder als beendet gelten kann. Es sind mehrere Sachbearbeiter, die nicht ständig im Alarmzustand verfügbar sind. An dem herkömmlichen bewährten System des Wohnungs-Bereitschaftsdienstes der (kriminalpolizeilichen) Spezialisten f ü r die MK h a t sich in den letzten Jahrzehnten Wesentliches geändert. Der technische Fortschritt brachte erhebliche Verbesserungen (durch private oder diensteigene Kraftfahrzeuge, durch Zuweisung von Wohnungsfernsprechanschlüssen, Sprechfunk und durch einen besonders für Spuren- u n d Auswertungsarbeiten am Tatort entwickelten Einsatzwagen f ü r die MK). Allerdings sind solche Einrichtungen, die für die unverzügliche Inangriffnahme der eigentlichen Tätigkeit einer Fachkommission von ganz besonderem Wert sind, örtlich (sehr) unterschiedlich funktionsfähig. Es hängt taktisch sehr viel von dem sofortigen u n d möglichst vollständigen Eintreffen eines im allgemeinen eingespielten Teams von kriminalistischen Spezialisten ab. Die Kommission gilt als vollständig, wenn in Fällen des Verdachts von unnatürlichen Todesfällen (Todesermittlungssachen) Gerichtsarzt und Vertreter der Staatsanwaltschaft hinzugezogen sind. In einigen Bundesländern u n d auch in ausländischen Staaten ist ihre Beiziehung ausdrücklich vorgeschrieben. 3. Tätigkeit und Entschlüsse der eingesetzten Mordkommission vollziehen sich gleichfalls nach bestimmten, durch langjährige kriminaltaktische E r f a h r u n g bewährte Regeln. Das Vorgehen zur Erhebung des Tatbefundes vollzieht sich streng methodisch u n d spezialisiert. Nach Eintreffen der MK am Tatort eines Kapitalverbrechens (oder am Fundort einer Leiche) wird in der Regel mit spezialfotografischen Aufn a h m e n des engeren u n d weiteren Tatortes begonnen. Das geht Hand in Hand mit einem abschnittsweise fortschreitenden planmäßigen Absuchen nach Spuren und ihrer Sicherung vor sich, einschließlich der beim ersten Angriff bereits erfaßten materiellen Spuren. Die Spurensuche h a t sich gegenüber den konventionellen Verfahren inzwischen nicht unerheblich verfeinert. Allgemein wird den Mikrospurenelementen eine besondere Beachtung zu schenken sein. Hierbei kommen in erster Linie Spuren feinsten (Berufs-)Staubes (ζ. B. in Kleidertaschen u. ä), Textilfasern, Haare, Färb- u n d Pflanzenanhaftungen, Lack-, Glas- u n d Bodenpartikelchen in Betracht. In gleicher Weise ist der Fingernagelschmutz von Leichen u n d unter Umständen von den wegen eines Tötungsdeliktes Verdächtigen zur Auswertung in den kriminalwissenschaftlichen Labors zu sichern. Ein solches gezieltes Vorgehen beim ersten Angriff u n d bei der Tatbefundaufnahme erzielt aufgrund besonders

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günstiger Situationen häufig manchen überraschenden Aufklärungserfolg in Kapitalverbrechen, bei denen ein Mensch getötet worden ist. Die moderne Praxis zur Aufdeckung von Verbrechen befaßt sich intensiv mit der laufenden Unterweisung der beim ersten Angriff und in der MK tätigen Sachbearbeiter, u m jederzeit gewährleisten zu können, daß (Mikro-)Spuren- und Vergleichsmaterial beispielsweise an verdächtigen Personen, in Räumen und auf freiem Gelände (staubiges Schuhwerk, fleckige Kleidungsstücke, Munition, Waffen u. ä.) ohne irgendwelche unvermeidbare Berührung u n d in lückenloser Erfassung, soweit wie möglich, mit Hilfe neuzeitlicher Verpackungsverfahren (ζ. B. durch zusammengenähte Kunststoff-Folien, durch ein Folien-Schweiß verfahren u n d die Klebebandmethode) gesichert werden. Dadurch dürften gute Voraussetzungen für eine möglichst ergiebige Spurenauswertung durch Kriminaltechnik und -Wissenschaft geschaffen worden sein (->„Kriminaltechnik" und „Chemische Untersuchungsmethoden"). 4. Das Vorgehen der MK ist a m besten am methodischen Absuchen des Tatortes nach S p u r e n , ζ. B. bei Tötungsdelikten (Mord, Totschlag, Körperverletzung u n d Raub, jeweils mit Todesfolgen, u. ä.) darzustellen. Nachdem sich der verantwortliche Leiter der MK ein vorläufiges, allgemein häufig wechselndes Bild vom mutmaßlichen Tatverlauf gemacht hat, wird planmäßig nach Spuren über Tatablauf u n d vom Täter gesucht. Der S p u r e n b e g r i f f ist nicht einheitlich. Nach Anuschat ist Spur alles, was der Kriminalist wahrzunehmen und irgendwie kriminalistisch zu verwerten vermag. Spur im kriminalistischen Sinne (nach Kleinschmidt) sind Merkmale, aus denen m a n die Tatsache und den Ablauf von Geschehnissen erkennen kann (und die einen Hinweis auf den Täter geben). Alles das scheint begrifflich zu eng gefaßt. Als Spuren sollten gegenständliche oder gasförmige Stoffe bezeichnet werden, die als Hinweise Rückschlüsse auf kriminalistisch bedeutsame Geschehnisabläufe in mitunter sehr eingehender Tendenz gestatten; m a n spricht in diesem Zusammenhang von Indizien als Bündel von Hinweisen oder Zeichen solcher Art. Die kriminalpolizeiliche Praxis unterscheidet mehrere Theorien über Spurensysteme, ζ. B. gliedern sich nach Mally die absoluten Spuren in Stoff-(Substanz-, Material-)spuren und Formspuren sowie psychisch bedingte Spuren (ζ. B. in der Handschrift). Die Praxis ordnet die Spuren nach ihrem Beweiswert verschieden ein. Hier kommt es darauf an, im Rahmen der kriminalistischen Spurenkunde nur einen Überblick über die am Tatort hauptsächlich sich findenden herkömmlichen Spuren(gruppen) u n d deren beweiserhebliche Bedeutung für die Sachaufklärung zu geben.

1. Fingerspuren,

Handflächen-

und

Fußabdrücke

Fingerabdrücke u n d ihre Bewandtnis im Rechtsleben haben eine vieltausendjährige Geschichte. Fingerabdrücke verwendeten die Chinesen bereits im 7. J a h r h u n d e r t n. Chr. als rechtserhebliche Signierungen in schuld- und famUienrechtlichen Angelegenheiten auf Urkunden. Das klassische deutschsprachige Werk über das Fingerabdruckwesen „Das System der Daktyloskopie" s t a m m t von Robert Heindl. Die Einführung und praktische Verwendung der Daktyloskopie in England gehen auf den berühmten englischen Anthropologen, Sir Francis Galton („Memories of my life", 1913) aus London zurück. Sein grundlegendes Werk über das Fingerabdruckwesen „Fingerprints" erschien im J a h r e 1892. E r fundierte die Daktyloskopie wissenschaftlich. Zunächst standen polizeiliche Zwecke nicht im Vordergrund. Die medizinischanatomischen Interessen wichen inzwischen den erkennungsdienstlichen Zielen Galtons. Im Jahre 1895 trafen Galton u n d Henry, Generalinspekteur der Polizei von Kalkutta, zusammen. Es war die Geburtsstunde f ü r die moderne Daktyloskopie zur Identifizierung rückfälliger Verbrecher und der Tatort-Daktyloskopie. Der eigentliche Beweiswert der Fingerabdrücke beruht auf zwei Erfahrungssätzen: 1. Jeder Mensch h a t andere Papillarlinienmuster. Es ist eine Erfahrungstatsache, daß noch nie ein identisches Fingerabdruckmuster bei zwei verschiedenen Menschen festgestellt worden ist. 2. Die Papillarlinienmuster bleiben während des ganzen Lebens unverändert (Heindl, „Daktyloskopie" S. 118, 119; Steinwender „Daktyloskopie" Schriftenreihe des Bundeskriminalamtes, 1955/1, Wiesbaden, S. 15, 28). Steinwender h a t auf eindrucksvolle Untersuchungen der Fingerabdrücke von (ein- und zweieiigen) Mehrlingen (Zwillinge, Drillinge, Vieriinge) hinweisen können, daß auch in diesen Fällen individuelle Papillarleistenbilder in ihrer Einmaligkeit des Musters nicht vererblich sind (Steiirwender a.a.O., S. 17 bis 24). Die immer wieder vielfach in der Tages- und Magazinpresse deutscher u n d ausländischer Herkunft hochgespielte Behauptung, nunmehr sei die Gleichheit vonzweiPapillarlinienmusternzweierverschiedener Menschen festgestellt worden, h a t sich bei gründlicher Überprüfung einer solchen Meldung als unzutreffend herausgestellt. I m Jahre 1903 f ü h r t e Scotland Yard die Daktyloskopie für strafgerichtliche Beweiszwecke ein. Die Polizeibehörden im Deutschen Reich folgten noch im gleichen J a h r e mit entsprechenden Pioniermaßnahmen, zunächst in Berlin, Hamburg und München. Doch das erste deutsche Landeszentralbüro für Klassifizierung und Registrierung von Fingerabdrücken wurde bereits am 24.10.1903 für das Königreich Sachsen in Dresden errichtet. Im Zuge des planmäßig betriebenen Aufbaues der

Kriminaltaktik Kriminalpolizei und ihrer Zentralstellen, beispielsweise durch die Errichtung von Landeskriminalpolizeien und Landeskriminalämtern in den Jahren 1925—1927 (-»- „Kriminalpolizei"), wurde der Austausch beispielsweise von nicht identifizierten Tatortfingerabdruckspuren vermutlich reisender Rechtsbrecher in vollendeter Weise organisiert. Durch die Versendung der am Tatort gesicherten, im Muster bestimmbaren und auswertbaren Fingerabdrücke von zunächst unbekannten Personen an andere Landeszentralen oder Zentralstellen der nationalen Kriminalpolizei anderer Staaten sind bemerkenswerte Erfolge in der Aufklärung von Kapitalverbrechen zustande gekommen. Mit dem Wiederaufbau der Kriminalpolizei seit dem Jahre 1945 sind diese zentralen Sammel- und Auswertungsstellen für daktyloskopische Zwecke bei bestimmten Hauptstellen (den großstädtischen Kriminalpolizeien), den Landeskriminalämtern und dem Bundeskriminalamt (vgl. hierüber die Organisation der Kriminalpolizei) erneut in Funktion. a) E i n z e l f i n g e r a b d r ü c k e . In der kriminalpolizeilichen Praxis sind die Abnahme von „Einzelfingerabdrücken" und die Abnahme von „Zehnfingerabdrücken" als termini technici zu unterscheiden. Danach werden bei Vorliegen bestimmter rechtlicher und tatsächlicher Voraussetzungen einmal die Abdrücke von jedem einzelnen Finger besonders klassifiziert und in die „Sammlung der Einzelfingerabdruckkarten", Einzelfingerabdrucksammlung genannt, eingeordnet. Die zehn Fingerab drücke der nach §81b Strafprozeßordnung oder nach den entsprechenden Vorschriften der Polizeigesetze in den Bundesländern erkennungsdienstlich behandelten Personen werden einzeln klassifiziert und auch einzeln und geirennt nach dem Ergebnis der entsprechenden Formelung registriert (vgl. hierzu „Monodaktyloskopisches System der Tatortdaktyloskopie" über die „Einbrecherspezialregistratur" bei Heindl, a. a. 0. S. 395; über die monodaktyloskopischen Klassifizierungssysteme beim Bund und in den Ländern, Steinwender a. a. 0. S. 114 ff., 127 f). Die Monodaktyloskopie dient der Identifizierung der am Tatort hinterlassenen Fingerspuren, demnach der Aufspürung der Spurenverursacher. Die Zehnfingerabdruckdaktyloskopie dient in erster Linie Zwecken der Personenfeststellung (vgl. Ziffer l b „Zehnfingerabdrücke"). Die Einzelfingerabdrucksammlung hat den Sinn, Straftäter zu überführen sowie in einzelnen Fällen deren einschlägigem verbrecherischem Tätigwerden vorzubeugen, falls die Täter bei Verbrechensbegehung Fingerabdrücke hinterlassen. Es gibt bestimmte Gruppen von Rechtsbrechern, die erfahrungsgemäß vor allem bei manuell ausgeübter Arbeitsweise oft ihre Fingerabdrücke zurücklassen, ζ. B. beim Aufbrechen von Türen, Schränken, Tresoren, Behältnissen, an 7

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Waffen und Werkzeugen, an Toiletten, Wasserbecken, Spiegeln, Armaturenbrettern, Vitrinen, Telefonapparaten und vielem mehr. Die Spurensicherungsbeamten tragen solchen Gepflogenheiten Rechnung. Sie suchen aufgrund ihrer Spezialkenntnisse die in Betracht kommenden Stellen mit peinlicher Sorgfalt ab und sichern derartige am Tatort offenbar vom Täter herrührende Fingerspuren mit verschiedenartigen Sicherungsmethoden. Die beiden gebräuchlichen Verfahren zur Sicherung von sichtbaren Fingerabdrücken an Gegenständen sind das Verfahren mit Schwarzpulver und transparenter Folie sowie die Sicherungsmethode mit Argentorat und schwarzer Folie. Daneben gibt es noch Spezialverfahren zur Sicherung latenter Fingerabdruckspuren. Sichtbar gemachte Papillarlinienbilder werden fotografisch festgehalten und alsdann ausgewertet. Unter Auswerten ist das Bestimmen des Grundmusters und der Untergruppe nach dem jeweiligen Klassifizierungssystem zu verstehen, soweit die Papillarlinienbilder eine Möglichkeit für eine Unterklassifizierung zulassen. Hat man Grundmuster und Untergruppe bestimmt, so führt man die Vergleichsarbeit durch. Man sucht mittels dieser beiden Hauptkennzeichen und gegebenenfalls der Formel nach demselben Papillarlinienmuster in der Einzelfingerabdrucksammlung. Für den daktyloskopischen Identitätsbeweis ist eine bestimmte Zahl und Bewertung von anatomischen Merkmalen in den Papillarlinien erforderlich. Ist beispielsweise an einem Mordtatort der Fingerabdruck eines Unbekannten gefunden worden, von dem aufgrund besonderer Hinweise die Annahme gerechtfertigt ist, er sei Angehöriger eines bestimmten ausländischen Staates, und ist das Muster der Fingerspur bestimm- und auswertbar, dann werden bei einer Nichtidentifizierung dieser Spur in den Sammlungen des Bundesgebietes die Zentralbüros für Daktyloskopie in dem in Betracht kommenden ausländischen Staat durch die Interpol-Organisation (-> „Kriminalpolizei") zu einer Nachschau in ihren daktyloskopischen Sammlungen unter gleichzeitiger Übersendung einer brauchbaren fotografischen Reproduktion der Originalspur veranlaßt. Ein positives Ergebnis vermag theoretisch dann erreicht zu werden, falls der des Mordes verdächtige Unbekannte bei der Kriminalpolizei seines Heimatlandes daktyloskopiert worden war und in der Einzelfingerabdrucksammlung auch einliegt. Das monodaktyloskopische System ist noch stets ein hervorragendes Hilfsmittel in der modernen Verbrechensaufklärung, bis heute unerschüttert in seiner Beweiserheblichkeit. Klassifizierbare und auswertbare, aber noch nicht identifizierte Tatortfingerspuren werden gesondert verwahrt. Sie sollen immer mit den eingehenden Einzelfingerabdruckkarten von erken-

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nungsdienstlich neu behandelten Personen verglichen werden. Auf diese Weise ergibt sich manchmal die als überraschend empfundene Tatsache, daß nach Jahren einem gelegentlich eines anderen Delikts aufgegriffenen Tatverdächtigen eine Beteiligung ζ. B. an einem Kapitalverbrechen nachgewiesen werden kann, weil die unerledigte Tatortfingerspur und der entsprechende Einzelfingerabdruck auf der Einzelfingerkarte ein völlig identisches Papillarlinienbild aufweisen. Nicht häufig liegen die Fingerabdrücke eines Tatverdächtigen in der Sammlung ein. Werden am Tatort eines Mordes Fingerabdrücke, die nicht vom Toten herrühren, ζ. B. auf der polierten Platte eines Schreibtisches gefunden, an dem der Tote saß, so erwägt die Mordkommission u. a. Möglichkeiten, ob und auf welche Weise bekannte Personen zu dem Schreibtisch des Opfers Zugang hatten (Ehegatte, Hauspersonal, Geschäftsfreunde, Bekannte, Besucher usw.). Die MK läßt von diesen Personen, soweit sie nicht früher einmal erkennungsdienstlich behandelt worden sind, nunmehr Fingerabdrücke („Vergleichsfingerabdrücke") nehmen, zum Vergleich, ob die Abdrücke mit den am Schreibtisch gefundenen Tatortfingerspuren identisch sind. Bei positivem Befund können sich hieraus Anhaltspunkte für einen Tatverdacht ergeben. Das Vorhandensein dieser Fingerspuren kann sich aber auch als unverdächtig erklären. Vergleichsabdrücke unverdächtiger Personen werden vernichtet. Den Umständen, unter denen Tatortspuren verursacht worden sind, kommt alsdann wesentliche Bedeutung zu. Stellt sich aber heraus, daß die Tatortfingerspuren vorerst nicht unterzubringen sind, dann vermögen sie den ersten Hinweis auf einen noch unbekannten Täter zu geben, der in den einschlägigen Sammlungen des betreffenden Bundeslandes zwar bisher nicht einliegt, aber eines Tages darin auftauchen kann. Darüber hinaus enthält die Tatortdaktyloskopie noch weitere Anwendungsmöglichkeiten. b) Z e h n f i n g e r a b d r ü c k e . Für die Zehnf i n g e r d a k t y l o s k o p i e werden alle zehn Fingerabdrücke der erkennungsdienstlich behandelten Person zur Bildung der Formel benötigt, nach einem System, das im allgemeinen auf der Methode von Galton-Henry fußt (vgl. Heindl, a. a. 0. S. 207ff.), einheitlich klassifiziert und alle zehn Finger zusammen registriert (s. Steinwender, a. a. 0. S. 71ff.). In den Bundesländern besteht hierzu kein einheitliches Klassifizierungssystem. Das Bundeskriminalamt beispielsweise klassifiziert nach dem inzwischen erweiterten „Berliner System". Fünf Länder klassifizieren nach BKASystem, andere Länder nach dem von GaltonHenry und anderen Systemen. Gelegentlich werden von Außenstehenden diese Unterschiede in den einzelnen Klassifizierungssystemen für die auf diesem Gebiet erforderliche Zusammenarbeit

als zu nachteilig empfunden. In der Praxis des Zehnfingerabdruckwesens scheinen sich vorerst noch kaum erschwerende Umstände für die eigentlichen daktyloskopischen Identifizierungsarbeiten zu ergeben. Bei Anfragen der Kriminalpolizeien von außerhalb des Landes unter Vorlage des Fingerabdruckbogens klassifiziert die angefragte Zentrale nach dem eigenen Landessystem und nimmt nach Umstellung der ZehnfingerFormel die Vergleichsarbeit mit dem Ziel auf, herauszufinden, ob dieselben Zehnfingerabdrücke (mit den charakteristischen anatomischen Merkmalen) in der Sammlung liegen. Allerdings bewirkt der nicht zu leugnende Mangel an Einheitlichkeit der Klassifizierungsgrundsätze innerhalb des Bundesgebietes gewisse arbeitsmäßige Nachteile. Auf die rasche Erteilung von einzelnen Auskünften in Kapitalverbrechen oder besonders bedeutsamen Ermittlungsverfahren durch die Zentralbüros der Zehnfingerabdrucksammlungen hat die differenzierte Klassifizierung noch kaum nennenswerten Einfluß. Derartige Auskünfte werden zur Feststellung der Identität bei den Zentralstellen (Landeskriminalämtern, Bundeskriminalamt) fortlaufend erfragt. Die Echtheit einer Personenfeststellung hat für die kriminalpolizeiliche Praxis eine hohe Bedeutung. Da besonders Berufs- und Hangverbrecher häufig unter falschem Namen auftreten, führt der Weg über die Auswertung der Zehnfingerabdrücke zu einer zweifelsfreien Identitätsfeststellung. Die Identität einer Person kann allerdings auch auf anderem Wege festgestellt werden (durch Lichtbildvorlage, Personenbefragung, Handschriftenvergleich u. a.). Die Fingerabdrücke aber sind das in der kriminalpolizeilichen Praxis am meisten angewandte, zuverlässigste Hilfsmittel. Im Rahmen richtigen taktischen Vorgehens bei der Behandlung von Todesermittlungssachen spielt oftmals die Identifizierung eines unbekannten Toten eine wichtige Rolle. Auf dieses Identifizierungsverfahren ist daher in diesem Zusammenhang kurz einzugehen: Die kriminalpolizeiliche Praxis bezeichnet als „unbekannte Tote" jene Leichen, die nicht sogleich identifizierbar sind. Nicht selten wird ein solcher Fall unter dem Gesichtspunkt eines unnatürlichen Todes zu bewerten sein. Daher sind sämtliche auf die Identifizierung ausgerichteten Maßnahmen mit großer Sorgfalt unter Vermeidung etwaiger Vernichtung von Spuren durchzuführen. Ergibt sich ein Verdacht auf Tötung durch fremde Hand oder ein Verschulden dritter Personen, ist die zuständige Mordkommission einzuschalten. Zur Identifizierung des unbekannten Toten werden im allgemeinen besondere Maßnahmen vorgenommen. Die Leiche ist genau von dem Sachbearbeiter zu besichtigen, insbesondere die Bekleidung in bezug auf Identitätsmerkmale, Legitimationspapiere oder sonstige Schriftstücke, die

Kriminaltaktik eine Identifizierung herbeizuführen oder zu fördern vermögen. Eine Lichtbildaufnahme von dem Gesicht der Leiche von vorn und von der rechten Seite ist geboten. Die Vornahme einer Leichentoilette zu Zwecken der Agnoszierung wird oftmals erst mit gerichtsmedizinischer Hilfe praktisch durchführbar sein. Nach den Ausführungen über die Zehnfingerdaktyloskopie ist die Abnahme von Fingerabdrücken bei Leichen von erfahrenen Fingerabdruckspezialisten vorzunehmen. Identifizierungsmaßnahmen sollen auch nach Beerdigung der unbekannten Leiche möglich sein. Daher werden verschiedene Haarproben genommen. Kleiderproben werden einer sogenannten „Kleiderkarte" angeheftet. Sie enthalten oftmals die für eine Identifizierung so bedeutsamen Wäschezeichen (Nummern von Waschanstalten, von Auftraggebern, ausgeschnittene Monogramme, Fabrikations- und Firmenzeichen, charakteristische Flickstellen u. a.). Daneben werden sichtbare Erkennungsmerkmale (Narben, Warzen, Mißbildungen, Amputationen, Tätowierungen u. ä.) vermerkt. Ein Zahnbild, von einem Facharzt beschrieben, vervollständigt die Beschreibung für eine spätere Identifikation. Neuerdings erfolgt insbesondere bei Katastrophen auch eine Identifikation auf röntgenologischer Grundlage (ζ. B. bei Opfern einer Flugzeugkatastrophe, bei Katastrophen im Bergbau usw.). Auf die Mithilfe der Landeskriminalämter bei der überörtlichen Identifizierungstätigkeit bei unbekannten Toten wird im Abschnitt über „Vermißtenwesen" noch Näheres ausgeführt werden. c) H a n d f l ä c h e n a b d r ü c k e . Handflächenabdruckspuren sind gelegentlich von Wert, insbesondere für die Tatortdaktyloskopie. Nicht selten stützt sich auch ein raffiniert zu Werke gehender Täter in der Meinung, alle Spuren zu vermeiden, unabsichtlich mit der behandschuhten Hand ab, wobei auch die modische Handschuhform einen Teil des Handballens freigibt. Auf diese Weise kann der Täter identifizierbare Spuren hinterlassen. Handflächenabdrücke werden nach einem bestimmten System klassifiziert (Palmaskopie) und dienen Zwecken der Tatortdaktyloskopie wie den zur Identifizierung der Person. d) F u ß a b d r ü c k e . Sie kommen als Spuren von Fußpapillarlinienbildern in der kriminalistischen Praxis der europäischen Länder nicht häufig vor. Hierbei sind Fußabdrücke von Fußeindrücken zu unterscheiden. In letzterem Fall entstehen in besonders weichem bzw. feinpulverisiertem Material (feiner Mehlstaubfilter auf glatter, harter Grundlage) gut erkenn- und auswertbare Papillarlinienbilder von Füßen. Auf das Verfahren zur Sicherung solcher Spuren kommt es besonders an. Vielfach bevorzugt man die Sicherung durch die Fotografie, wie ζ. B. bei fettigen, blutigen, öligen Fingerspuren (siehe hierzu besonders die Angaben zur einschlägigen neuen Literatur). In den südamerika7'

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nischen Erkennungsdiensten der Kriminalpolizeien dagegen werden aus naheliegenden Gründen Abdruck- und Eindruckspuren unbekleideter Füße oft zur Überführung von Rechtsbrechern ausgewertet. e) S c h w e i ß p o r e n (von F i n g e r s p u r e n ) . Falls nur kleine Teile des Papillarlinienbildes aufzufinden sind, erschwert sich die Identifizierung. Es ist alsdann nicht mehr auf die anatomischen Merkmale (Minutien) zurückzugreifen, vielmehr stehen nur noch die „feineren Eigentümlichkeiten der Poren" zur Verfügung. Eine solche Identifizierung nach Form, Größe, Zahl und Stellung der Poren von kleinen Teilen der Hautleisten fällt in das Spezialgebiet der Poroskopie. Die kriminalpolizeiliche Praxis des Auslandes führt im Rahmen der Tatortdaktyloskopie auch poroskopische Beweise an. In der Bundesrepublik dagegen wird die Poroskopie nicht praktiziert. Es liegt u. a. daran, daß sich das übliche Sicherungsverfahren mit der Abziehfolie (ζ. B. Rilloplast o. ä.) nicht hierzu eignet, weil die kleinen Porenkrater mit Schwarzpulverteilchen überdeckt werden und das abgezogene Spurenbild verwischen. Besondere spezialfotografische Aufnahmen (Mikrofotoaufnahmen) sind erforderlich. Mit poroskopischen Untersuchungen befaßten sich Locard („La poroscopie", Archives d'antrop. crim. No. 235, Lyon 1913), Heindl (a. a. 0., S. 137, 419) und Bohne (Arch. Krim. Bd. 102, S. 147f.), der insbesondere spezialfotografische Verfahren zur Sicherung von Fingerspuren für die Praxis entwickelt hat. Söderman („Modern Criminal Investigation", New York, 1951, S. 149) läßt die poroskopische Beweisführung in der kriminalpolizeilichen Praxis gleichfalls gelten. Die indische Polizei entwickelte indessen neuartige daktyloskopische Beweisverfahren durch Auswertung der Form, Zahl, Gruppierung und der anatomischen Merkmale von den Randkonturen der Hautleisten. Diese Spezialart der Tatortdaktyloskopie wird „Edgeoscopie" genannt (S. K. Chatterjee, Calcutta, in „Fingerprint and Identification Magazine, 1962, vol. Sept., S. 617). f) F ä l s c h u n g v o n F i n g e r a b d r ü c k e n . Immer wieder wird in der Presse, besonders in Magazinen und Zeitschriften, die Frage der Fälschung von Fingerabdrücken erörtert. Manchmal wird in sensationeller Aufmachung darüber veröffentlicht. Der Fachmann reagiert gewöhnlich mit betonter Zurückhaltung darauf. Es gibt verbürgte Fälle, in denen Tatverdächtige den Versuch unternommen hatten, ihre Papillarlinienbilder an den Fingerkuppen zu zerstören. Narben in der Epidermis zerstören das Linienmuster nicht immer. Mit Vorbedacht herbeigeführte Verletzungen und deren vernarbte Stellen der Hautleistenbilder sind manchmal — was der Täter gar nicht bezweckt hatte — wertvolle Hinweise für das Signalement des Gesuchten. Eine (nicht ohne weiteres) erklär-

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bare Veränderung der Papillarlinienmuster ist an sich bereits ein Umstand, der dem Sachkundigen verdächtig erscheint. Söderman berichtet von der Operation an Fingerbeeren eines Verbrechers aus USA, North Carolina, durch einen Arzt. Dieser verpflanzte Hautstücke von der Brust des Verbrechers auf die Fingerkuppen, an denen die Haut mit den Hautleistenbildern entfernt worden war. Das allein war schon durch die „fensterartigen" Narbenstellen und durch die Narben an der Brust auffällig genug, abgesehen davon, daß der Identitätsnachweis durch die Linien der Fingerbeugen (die nicht mitentfernt worden waren 1) zweifelsfrei geführt werden konnte. Die sehr schmerzhafte Operation war schließlich völlig umsonst gewesen („Modern Criminal Investigation", New York, 1961, S. 153). In der kriminalistischen Praxis haben gefälschte Fingerabdrücke kaum eine Bedeutung. In Kriminalromanen (ζ. B. „Sünden im Safe" von F. King, S. 28, 52/3,139, Scherz-Verlag, Bern) spielen ge- und verfälschte Fingerabdruckspuren eine nicht unerhebliche Rolle. Da die Daktyloskopen der Kriminalpolizei aller Länder auf ihrem Gebiet im allgemeinen erhebliche und langjährige Routine in der Fingerspurensuche und besonders in der -auswertung aufweisen müssen, ist es theoretisch fast aussichtslos, derartige Manipulationen unentdeckt durchführen zu können. Auch in der Welt des berufsmäßigen Verbrechertums verspricht man sich nicht viel von der sogenannten „Fingerbeerenchirurgie" als einer kriminell gezielten taktischen „Gegenmaßnahme" gegen die Identifizierungswirkung der Daktyloskopie. 2. Fußspuren Die Verwertung von Spuren bekleideter Füße am Tatort ist auch heute (noch) von außerordentlichem Wert für Beweiszwecke. In erster Linie ist an Schuhwerk aller Art zu denken, das Spuren auf einem Boden verschiedenartiger Beschaffenheit (weichem, festem, trockenem, feuchtem Erdboden, Parkett- und frischgestrichenen Böden u. a.) hinterlassen kann. Der Kriminalpraktiker unterscheidet zwischen der einzelnen Fußeindruck- oder Fußabdruckspur am Tatort und seiner weiteren Umgebung sowie dem Gangbild, einem Spurenbündel von Eindrücken oder Abdrücken beschuhter Füße. Tatorte in freiem Gelände, ζ. B. von Tötungsdelikten, insbesondere von Sexualmorden, müssen mit besonderer Sorgfalt nach derartigen Spuren abgesucht werden. Es wäre verfehlt, nur in der unmittelbaren Umgebung des engeren Tatortes nach den Fußspuren des unbekannten Täters suchen zu lassen. Bodenbeschaffenheiten lassen es manchmal nicht zu, daß auswertbare Fußspurenbilder entstehen. Daher wird in der Regel die Mordkommission, ζ. B. bei Kindesmord, systematisch in weitem Umkreis das Gelände des Tatorts auch nach dem Vorhandensein solcher Spuren absuchen. Günstige Bodenverhält-

nisse gestatten es auf diese Weise, ausgezeichnete Hinweise über die Schuhbekleidung des Täters zu erhalten. Solche Hinweise beziehen sich allgemein auf Schuhart, Schuhgröße, -form, Sohlenbeschaffenheit. In einem am 22. 3.1964 in Heiligenhaus (Rhld.) begangenen Sexualmord an einem 14 jährigen Mädchen wurde auf dem vermutlichen Fluchtweg des zunächst unbekannten Täters eine Fußspur gesichert. Es war eine Sohle mit Absatz, profiliert in einem Stück. Da kaum sonstige aufschlußreiche Spuren am Tatort gefunden worden waren, konzentrierten sich sehr stark sämtliche Nachforschungen auf die Herstellungsfirma solcher Sohlen. Die örtlichen Erhebungen zur Auffindung der Herstellungsfirma solcher Formsohlen wie der in Tatortumgebung gesicherten waren erfolglos. Eine zeitlich zufällig stattfindende Konferenz von leitenden fachkundigen Männern der Schuhbranche regte den Leiter der Mordkommission zur Konsultation dieses Gremiums an. Hinweise wurden auf mögliche Fabrikate ausländischen Ursprungs (italienischen, griechischen, türkischen u. a.) gegeben. Letzte Zweifel blieben aber. Um sicher zu gehen, daß deutsche Hersteller nicht in Betracht kamen, wurden sämtliche Herstellerfirmen der Bundesrepublik unter Übersendung einer fotografischen Reproduktion der Tatfußspur um Auskunft gebeten. Eine bundesdeutsche Herstellerfirma identifizierte den Schuhsohleneindruck ( = die mit Gips ausgegossene Sohlenspur in der fotografischen Reproduktion) mit Hilfe von entsprechenden Vergleichsstücken der Gummisohlen aus der Produktion des Unternehmens. Diese Firma fertigte die Sohlen ausschließlich für moderne mit Verzierungen versehene halbe Stulpenstiefel (ein Erzeugnis einer anderen Firma) an. Die Stulpenstiefeletten — ein modisches Erzeugnis der Fußbekleidung für junge Männer, das unter dem Einfluß wiederaufgelebter Cowboy-Romantik entstanden ist — wiesen nunmehr auf einen bestimmten Kreis, in dem vermutlich der Täter zu suchen war. Dieses Beispiel ist ein Modell dafür, wie bei einem Sexualmord mit (zunächst) unbekanntem Täter eine fast aussichtslos zu verfolgende Fußspur durch richtiges, auf langjährige kriminalpraktische Erfahrung gestütztes Vorgehen gezielte Fahndungshinweise ergeben kann. Manche hätten sich mit der als sachkundig geltenden Auskunft zufällig versammelter Experten aus der Schuhfabrikation zufrieden gegeben. Danach wäre diese Spur bei ausländischen Fabrikationsstätten (ergebnislos) verfolgt worden. Mühsame, zeitraubende, oft sehr arbeitsaufwendige Erhebungen sind erforderlich, um zu positiven Ergebnissen zu gelangen. Beispielsweise waren alle in Deutschland ansässigen Unternehmen unter Übersendung geschickt abgefaßter Rundschreiben anzufragen, um die spurenverursachende spezielle Sohlenart aus-

Kriminaltaktik findig machen zu können. Ist das Vergleichsstück ermittelt, beginnt erst die kriminalistische Kleinarbeit. Die Vergleichsarbeit befaßt sich in erster Linie mit der Auswertung der sogenannten Systemmerkmale. Die individuellen Merkmale dagegen sind von entscheidendem Einfluß auf die Beurteilung, ob ein Schuh als Spurenverursacher mit der gebotenen Sicherheit identifiziert werden kann. Als solche individuelle Merkmale persönlicher Abnutzung gelten: schiefgetretene Absätze, Löcher in Sohlen, aufgesetzte Flicken, abgelaufene Stahl- oder Messingecken oder -kanten, abgelaufene oder fehlende Nägel, besonders schadhafte Sohlenränder u. a. m. Die inzwischen zu Beweiszwecken erfolgte Sicherstellung des als Spurenverursacher in Betracht kommenden Schuhs, den der Täter trug, ist hierbei zwingende Voraussetzung. Anzahl, Charakter, Originalität der individuellen Abnutzungsmerkmale, insbesondere ihre Lage zueinander sind für eine Führung des vollständigen Identitätsnachweises maßgebend. Eine Schuhspur mag sich noch so individuell ausgeprägt ansehen, für die exakte Beweisführung kommt es auch auf die Qualität des Verfahrens an, mit dessen Hilfe eine solche Spur gesichert wird (-> „Kriminaltechnik"). Eine Spur von einem Schuheindruck wird nach der gewonnenen praktischen Erfahrung im allgemeinen kaum indiziellen Beweischarakter für sich allein annehmen, es sei denn, daß darüber hinaus besonders günstige Umstände mitwirken. Das wäre der Fall, wenn bei einer Hausdurchsuchung in einem eigens dazu angelegten Versteck das in Betracht kommende Paar Schuhe gefunden würde und noch widersprüchliche Aussagen des bisherigen Trägers der Schuhe hinzukämen. Bei der Suche nach den Spurenträgern, ζ. B. den Schuhen mit individuellen Abnutzungsmerkmalen, ist bereits große Umsicht und Geschicklichkeit zu entfalten, weil die Umstände, die beispielsweise für die Aufbewahrung, Veränderung oder Vernichtung des Schuhwerks bedeutsam sein können, sich in erhöhtem Maße in ent- oder belastender Hinsicht auswirken können. Das Gangbild, der Komplex aufeinanderfolgender Fuß- oder Schuhspuren, kann in anderer Weise kriminalistisch von Wert sein. Der Doppelmord an Lady M. und ihrer Tochter, der getrennt lebenden Ehefrau des Mr. Ch., ist ein selten instruktives Beispiel hierfür. In der Nacht vom 10. zum 11. Februar 1954 beobachtete in London-West (Ealing) der Ehemann, Mr. Ch., der seit Jahren im Ausland lebte, zu später Nachtstunde vom Vorgarten aus das Verlöschen des Lichtes im Schlafzimmer seiner Frau. Um vor den anliegenden Villenbewohnern unerkannt zu bleiben, ging er hinkend auf das Haus zu. Das Gangbild des zunächst unbekannten Vorgartenbesuchers zeigte den Erkennungsdienstspezialisten von Scotland Yard nach den gemessenen Abständen, Fußwinkeln und nach den Schrittlängen die Typik von aufeinander-

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folgenden Schuhspuren, die von einem hinkenden Menschen verursacht sein mußten. An anderer Stelle des Gartens aber, die von den Hausbewohnern nicht eingesehen werden konnte, war ein normales Gangbild derselben Person entstanden. Dieser Befund hatte maßgeblich zur Annahme beigetragen, daß der nächtlich im Vorgarten beobachtete Mann hinreichenden Anlaß gehabt haben muß, vor den Augen anderer für einen fremden Besucher gehalten zu werden. Dieser Umstand lenkte erstmals den Verdacht auf den Hunderte von Kilometern entfernt von London aufhältlichen Ehemann Mr. Ch., der mit dem Schiff über den Kanal nach England und unmittelbar nach der Tat von London mit dem Flugzeug zum Kontinent unter falschem Namen geflogen war. Davor hatte er in Amsterdam ein (falsches) Alibi „aufgebaut", was allerdings erst nach seinem Selbstmord im Kölner Stadtwald (am 16. 2.1954) aufgedeckt worden ist. Über die Einzelheiten von Fuß(Schuh)spuren und Spuren vom Gangbild ist auf eine systematische Darstellung der Fußspuren zu verweisen. Bei Fußspuren an Tatorten, in der Regel auf freiem Gelände, ist oftmals der Einsatz von Fährtenhunden von Nutzen. Hierfür kommen nur geeignete und besonders abgerichtete Hunde in Frage. Diese Ablichtung erfolgt in eigenen Hundeausbildungsstätten der Polizei. Ein guter Fährtenhund vermag nur verhältnismäßig frische Spuren von dem verdächtigen Spurenleger aufzunehmen und mit einigem Erfolg — oftmals über weite Strecken hin — zu verfolgen. Such- und Stöberhunde werden hierfür nicht verwandt. Ihre Ablichtung ist andersartig und dient auch anderen Zwecken. Letzteres ist beispielsweise der Fall, wenn Hunde speziell auf das Auffinden verscharrter Leichen abgerichtet sind. Der Fährtenhund dagegen wird nach 10 bis 12 Stunden kaum noch eine Spur mit Erfolg aufnehmen können. Im Einzelfall sind normale wie außergewöhnliche Erfolge von der zur Zeit der Spurenlegung und insbesondere nachher herrschenden Witterung stark abhängig. Die Erfolgsaussicht ist bei Tatorten auf dem Lande oder in Großstadtgebieten mit ländlich aufgelockerten Siedlungen im allgemeinen weit größer als in typischen Stadtbereichen, wo die Tatfährte alsbald durch andere Gehspuren gekreuzt wird und vielfach überlagert ist. Da heutzutage die oder der Täter oft motorisiert sind, beschränkt sich der Einsatz von Fährtenhunden immer mehr auf Einzelfälle. Der Vollständigkeit halber ist auf Spuren beschuhter Füße einzugehen, die auf dem Erdboden (Parkett-, Stein-, Steinholz-, Kunststoffboden) bestimmte Anhaftungen stofflicher Art (Farbantragungen, Blut, Körpersekrete, öle u. a.) und an dem Schuhwerk hinterlassen. Meistens wird es sich um Abdruckspuren auf relativ festem Untergrund handeln. Werden solche Spuren gesichert und finden sich entsprechende Partikel-

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Kriminaltaktik

chen noch am sichergestellten Schuh, so erfolgt die Identitätsfeststellung der Substanz im Wege chemischer Analyse oder biologischen Nachweises. Durch die spektrografischen Verfahren ist eine Beschleunigung und eine Verfeinerung in der Gewinnung qualitativer und quantitativer analytischer Ergebnisse erzielt worden (-> „Kriminaltechnik"). An Schuhen von Sittlichkeitsverbrechern (ζ. B. Rinderschändern, Notzüchtern) befinden sich oftmals Partikelchen u. a. von Farnen, abgefallenem trockenem Laub, seltenen Gräsern, Waldblumensamen oder von einem seltenen Pilz befallenen sonstigen Pflanzen. Ihr außergewöhnlich seltenes Vorkommen am Tat- oder Fundort der Leiche eines geschändeten Opfers kann dazu beitragen, gegen den Träger der aufgefundenen Schuhe (mit dem gleichen Befund) den Nachweis seiner Anwesenheit am Tat- oder Fundort zu führen, falls u. a. für die botanische Analyse bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Ein solcher Fall demonstriert, wie ungewöhnlich genau, umsichtig und sorgfältig die Spuren suchenden Mitglieder einer Mordkommission, beispielsweise am Tatort eines Sexualmordes auf einem abgelegenen Waldplatz, vorgehen müssen, um sämtliche Möglichkeiten für eine gründliche Spurenauswertung zu berücksichtigen. Übersieht man solche wichtigen Spurenfunde, begibt man sich ausgezeichneter Möglichkeiten, die Anwesenheit des Verdächtigen am Tatort nachweisen oder die Schutzbehauptungen des Verdächtigen, niemals am Tatort gewesen zu sein, widerlegen zu können. 3. Schußspuren Viele Tötungsverbrechen werden durch Gebrauch der Schußwaffe (einer Lang- oder Faustfeuerwaffe) verübt. Zu der ersten Gruppe rechnen Schrot- und Kugelgewehre, mehrläufige Gewehre (Doppelflinten und Doppelbüchsen), Repetier- und Selbstladegewehre, schließlich Flobert-, Luftdruck- und sonstige Gewehre. Bei Faustfeuerwaffen sind Pistolen und Revolver voneinander zu unterscheiden. Nach dem zweiten Weltkrieg hat man allgemein bei der Ausführung besonders organisierter Straftaten (bei Raubüberfällen auf Geldinstitute, Juwelierläden u. a.) die Feststellung treffen müssen, daß die Täter sich in zunehmendem Umfang der Maschinenpistole bedienen. Das Moment der Drohung ist eindrucksvoller und die Feuerkraft — für Eventualfälle beim Rückzug oder auf der Flucht — weit stärker. Die Verwendung von Schreck- und Gaspistolen oder -Revolver bei der Ausführung von Verbrechen hat nach den Aufzeichnungen der Landeskriminalämter der Bundesrepublik zugenommen. Tödlich verlaufene Verletzungen wurden hierbei begangen, indem der Lauf von derartigen Faustfeuerwaffen im Wege eigener Herstellung durchbohrt wurde. Alle diese Waffen rufen bei ihrem Gebrauch recht unterschiedliche Veränderungen in der Außenwelt

hervor. Diese Spuren an den bewußt oder aus Fahrlässigkeit getroffenen Objekten (im weitesten Sinne) sind von besonderer kriminalistischer Bedeutung. Sie können Aufschluß über den Hergang des Tatgeschehens, über die verwendete Waffe und die hierbei verfeuerte Munition geben. Das ist überall dort von Belang, wo ein Mensch verletzt oder getötet, ein Tier widerrechtlich angeschossen oder erschossen, Bekleidung, Gebäude oder sonstige Gegenstände durch Geschosse beschädigt oder zerstört wurden. Beim Suchen, Sichern und Auswerten besonders der Schußspuren kommt es neben der besonders intensiv zu betreibenden Kleinarbeit auf eine gediegene fachliche Ausbildung und langjährige Erfahrung an. Die Beurteilung von Schußwunden an Mensch und Tier gehört zu dem Aufgabenkreis des Gerichtsmediziners; in Sonderfällen wird der forensisch erfahrene Arzt mit dem Chemiker und gegebenenfalls dem kriminaltechnischen Schuß waifenexperten bei den Landeskriminalämtern zusammenarbeiten müssen. Um sich einen Überblick über die Schußwaffenspuren zu verschaffen, sollen die in der Praxis am meisten vorkommenden Schußspurenkomplexe kurz behandelt werden, unter besonderer Berücksichtigung von Tötungsverbrechen, von tödlich verlaufenen Unglücksfällen und des Selbstmordes. Bei einem Tötungsverbrechen durch Erschießen wird eine Mordkommission zunächst ihre besondere Aufmerksamkeit auf das Vorhandensein oder Fehlen der Schußwaffe richten, mit der geschossen sein soll. Das Fehlen der Schußwaffe ( = Tatwaffe) ist im allgemeinen ein Indiz, daß Tötung durch fremde Hand angenommen werden muß. Doch kennt die Kriminalpraxis Fälle, in denen nach verübtem Selbstmord im Freien ein an der Tat unbeteiligter, zufällig des Weges kommender Dritter die Waffe an sich nahm. In Fällen von Selbstmord im Freien, insbesondere in wenig zugänglichem Gelände, hat der Täter es körperlich noch fertig zu bringen vermocht, die Faustfeuerwaffe (nach Abgabe des tödlichen Schusses) noch einige Meter weit fortzuwerfen. In solchen Fällen, wo bei angenommenem Selbstmord die Schußwaffe fehlt, ist ein wiederholtes Absuchen des Geländes unvermeidlich. Erst die gefundene Schußwaffe beseitigt in solchen Fällen die letzten Zweifel am Vorliegen eines Selbstmordes. Der kriminalpolizeiliche Kriminalist verläßt sich lieber auf die Ergebnisse der waffentechnischen Identifizierungsarbeit der Kriminaltechniker. Diese Identifizierungsarbeit, als Schußwaffenerkennungsdienst bezeichnet, wird in den kriminaltechnischen Labors, in England und in den USA in den crime-laboratories, mit Hilfe des Vergleichsmikroskops vorgenommen und fotografisch festgehalten. In den Fällen eines dubiosen Selbstmordes durch Erschießen steht im Vordergrund eine Hauptfrage, ob das in den Körper eingedrungene Geschoß aus

Kriminaltaktik der vorgefundenen Pistole oder dem Revolver, der (die) in der Hand der Leiche gelegen hat, tatsächlich verfeuert worden ist. Den Spuren am Projektil, das aus der Leiche bei der Obduktion entfernt worden ist, kommt daher hohe Bedeutung für die schußwaffenerkennungsdienstliche Beurteilung zu (vgl. hierüber „Kriminaltechnik''). Der waffentechnisch erfahrene Kriminaltechnikerwird daher an einem verfeuerten, nicht allzu stark deformierten Geschoß, beispielsweise aus dem gezogenen Lauf einer Pistole, mehr oder weniger vollständig die Systemmerkmale: Kaliber, Anzahl und Breite der Felder (d. s. die zwischen den Zügen liegenden erhabenen Teile der Laufinnenwand), Drallrichtung und Drallwinkel ablesen können. Solche Systemmerkmale alsbald zu kennen, ist insbesondere beim Vorliegen eines Tötungsverbrechens von entscheidender Wichtigkeit. Daher kommt es in der kriminalpolizeilichen Praxis auf eine ausgezeichnete, d. h. gut funktionierende interne Zusammenarbeit zwischen Mordkommission und den Spezialisten der schußwaffentechnischen Labors an. Man bedenke, daß zum Beispiel am Tatort eines Mordes mehrere Schüsse aus einer Faustfeuerwaffe auf das Opfer abgegeben wurden und die Patronenhülsen bei sorgfältiger Absuche des engeren Tatortes nicht gefunden werden konnten. Hier können nach fachkundigem Entfernen der im Körper des Toten befindlichen Proj ektile anhand der vorgenannten Systemmerkmale durch die Experten umgehend zuverlässige Hinweise auf die vom Täter verwendete Waffe, beispielsweise eine Automatic Colt Super, Kai. 38, für Fahndungszwecke gegeben werden. Mit welcher fast übertrieben wirkenden Gründlichkeit bei der Suche von Geschossen und Hülsen an einschlägigen Tatorten vorzugehen ist, erhellt aus dem am 18. 9.1959 zwischen 11,30 Uhr und 11,40 Uhr im Stadtwald in Aachen begangenen Schußwaffenverbrechen an einem Ehepaar. Die kriminalistische Diagnose lautete seinerzeit irrigerweise zunächst auf Mord an der Ehefrau und auf Selbstmord des Ehemannes. Diese Erkenntnis begegnete gewissen Bedenken, nicht zuletzt an dem — wie es schien — unvollständig erhobenen Tatbefund, der die Hypothese des Doppelmordes nicht auszuschließen vermochte. Zur Vervollständigung des Tatbefundes wurde eine außergewöhnliche, jedoch unumgängliche Maßnahme angeordnet. Der gesamte Waldboden im Umkreis des Fundortes der Leichen wurde vorsichtig abgehoben und durchgesiebt. Zwar wurde die Tatwaffe nicht gefunden, aber mehrere verschossene Patronenhülsen. Damit waren insgesamt 4 Patronenhülsen, Kai. 7,65, aufgefunden worden. Der vervollständigte Tatbefund sprach nunmehr stark für die Annahme eines Doppelmordes durch einen unbekannten Täter. Auf dieser kriminalistischen Annahme wurden neue Erhebungen mit Erfolg angestellt. Neben den auf der 6'escfeo/ioberfläche sich abdrückenden Drall-

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spuren können für die Schuß waffenidentifizierung die verschiedenen Spurenmerkmale an der Patronenhülse von besonderer kriminalistischer Bedeutung sein. Durch die Pulvergasexplosion im Augenblick der Schußabgabe wird der aus Messing oder Kupfer, also aus weicherem Metall, bestehende Hülsenboden auf den stählernen Stoßboden der Schußwaffe gepreßt. Eine solche Anpressung prägt Umrisse und fast nur mikroskopisch wahrnehmbare Unebenheiten oder waffenfabrikatorische Eigenheiten auf dem Patronenhülsenboden in vielen Details ab. Bei günstigen Voraussetzungen können aus solchen Spuren sichere Rückschlüsse auf das bei der Tat verwendete Waffensystem gezogen werden. Hier sind die Möglichkeiten, aus Spuren auf der Patronenhülse sichere Anhaltspunkte zur Feststellung der Identität der Schußwaffe zu gewinnen, nur in großen Zügen anzudeuten. In manchmal hervorragender Weise eignen sich zur Identifizierung der Waffe, aus der der tödliche Schuß abgegeben worden sein soll, charakteristische Spurenkomplexe, beispielsweise hervorgerufen durch die Spitze des Schlagbolzens auf dem eingestülpten Zündhütchen. Spuren der Auszieherki&l\e am Hülsenrand und Spuren, die der Auswerfer hervorruft, vervollständigen auf der Patronenhülse das Spurenbild neben weiteren Möglichkeiten. Die kriminalistische Praxis hat auf dem Gebiet der Schußwaffenidentifizierung in den letzten drei Jahrzehnten weitere Fortschritte gemacht. Die von Kockel, Pietrusky, Brüning, Mezger in Deutschland, Waite und Goddard in den USA, Balthazard, Locard, de Rechter und Mage in Frankreich und Belgien, Medinger in Luxemburg und Matwejeff in Odessa entwickelten einschlägigen Identfikationsmethoden veranlaßten die Kriminalpolizeien fast aller bedeutenden Länder, in Anlehnung an diese Verfahren und mitgeteilten Erfahrungen entsprechende Methoden zu entwickeln. In der Bundesrepublik wurde beim Bundeskriminalamt in der Abteilung „Kriminaltechnik" ein zentral funktionierendes System zur Auswertung und Erkennung solcher Schußwaffenspuren aufgebaut. Dieses Identifikationssystem, in das die entsprechenden Dienste der Landeskriminalämter miteinbezogen sind, hat sich hervorragend bewährt. So wird es auch verständlich, wenn nach zufälligem Auffinden einer Pistole, ζ. B. eines Fabrikates von Sauer &Sohn, Kai. 7,65, einer sogenannten Fundwaffe, planmäßig nachgeforscht wird, ob diese Waffe mit einem Verbrechen in Zusammenhang gebracht werden kann. Das bestätigt sich, falls bei der Auswertung sich ergibt, daß Tatproj ektile mit denselben Spurenkomplexen aus einem Jahre zurückliegenden Mord, der bisher nicht aufgeklärt werden konnte, vorhanden sind. Dieses zentral erarbeitete Auswertungsergebnis von Vergleichs- und Tatprojektilen gibt nunmehr Anlaß zu neuen taktischen Über-

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legungen, wie das zurückliegende Schußwaffenverbrechen aufgeklärt werden könnte. Hier wird man am. Fundort mit behutsam zu führenden Erhebungen beginnen müssen, auf welche Weise diese Waffe, mit der ein Vorbesitzer in Zusammenhang mit dem angenommenen Mord zu bringen ist, an den Fundort gelangen konnte. Fälle dieser Art ereignen sich nicht so selten, wie man allgemein anzunehmen geneigt ist. Da zum Erkennen derartiger Zusammenhänge spezialistische Erfahrungen erforderlich sind, hat man seit einigen Jahren in den Kriminalpolizeien der Bundesländer die Einrichtung von kriminaltechnischen Untersuchungsstellen auch außerhalb der Landeskriminalämter stark gefördert. Vergleichsuntersuchungen an Waffen bleiben aber den kriminaltechnischen Zentralen der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamtes vorbehalten. Bei Schußwaffenverbrechen und tödlich verlaufenen Unglücksfällen mit Schußwaffen spielt häufig die Frage nach der Bestimmung der Schußentfernung eine entscheidende Rolle. Bei Schrotschüssen kann die Frage der Schußentfernung unter nicht gerade ungünstigen Umständen aus den Spuren erlittener Verletzungen der Opfer mehr oder weniger genau beantwortet werden. Derartige Vergleichsuntersuchungen werden im allgemeinen von Experten der Landeskriminalämter häufig im Wege einer Tatrekonstruktion, ζ. B. bei einem tödlich verlaufenen Jagdunfall, vorgenommen. Auf diesem Gebiete werden öfters Zweifelsfragen durch eine rekonstruktive Herstellung des Tatverlaufs geklärt werden können, wobei es allerdings auf das Vorhandensein gleichartiger Bedingungen wesentlich ankommt. Zur Beurteilung von absolutem Nahschuß, relativem Nahschuß und Fernschuß werden Gerichtsmediziner und Chemiker (Physiker) des Bundeskriminalamts und der Landeskriminalämter von Fall zu Fall heranzuziehen sein. Letztere beispielsweise vermögen aus bestimmten mikrospektrographischen Befunden unter Anlehnung an geeignete Ergebnisse aus Vergleichsbeschlüssen exakte Grundlagen (qualitative Analysenergebnisse) für die Berechnung der Entfernung des Schusses zu liefern (-» „Gerichtliche Medizin" und „Kriminaltechnik"). Schließlich ist eine Bestimmung der Entfernung des Schützen aus den Spuren des Einschlags in Holz, Glas u. ä. eine weitere, oft schwierige Aufgabe. Weniger schwierig dagegen ist bei Schüssen auf eine Glasscheibe festzustellen, von welcher Seite und darüber hinaus aus welcher Richtung das Geschoß abgefeuert wurde. Hierzu wird vielfach der waffentechnisch und ballistisch versierte Kriminaltechniker herangezogen werden müssen, oftmals in Form der Teamarbeit. In einem Fall traf ein Jagdbüchsengeschoß, offenbar verschossen aus sehr weiter Entfernung,

auf einen Holzrolladen, durchschlug ihn sowie eine Scheibe aus Fensterglas und drang einem zufällig bei einer Kleinbild-Filmvorführung anwesenden auswärtigen Gast des Hauses unmittelbar in die Schläfe. In der Nähe des Hauses am Rande einer Landgemeinde war keine Jagdgelegenheit.Man nahm zunächst einen Racheakt an. In Wirklichkeit hatte ein Jäger fernab davon den über eine Bergkuppe schürenden Fuchs verfehlt. Das Projektil, ein H-Mantelgeschoß mit Kupferhohlspitze, leicht ablenkbar durch Gräser und Ästchen, war etwa 3,5 km weit über eine Anhöhe geflogen und in das Wohnzimmer eines Hauses am Ortsrand eingedrungen. Im Rahmen der Bestimmung der Entfernung eines Schützen kam es hierbei auf die Frage der Erzielung von außergewöhnlichen Höchstleistungen auch bei weiten Schußentfernungen durch besondere Mantelgeschosse an. Für das diagnostisch-kriminalistische Vorgehen am Tatort bedarf es daher noch der Zuziehung von Spezialisten mit ausgezeichneten Erfahrungen auf ballistischem Gebiet, manchmal unter Inaugenscheinnahme der am Tatort einzusehenden Originalspuren. Nach dem zweiten Weltkrieg hat die Verwendung von Maschinenpistolen in Verbrecherkreisen aus europäischen Staaten zugenommen (ζ. B. Poststellen- und Bankberaubungen mit Schußwaffengebrauch, Anhalten und Berauben von Geldtransporten). Das eigentliche Vorbild hierfür bot die Gepflogenheit der US-amerikanischen gang-Organisationen bereits in den zwanziger Jahren bei ihren Auseinandersetzungen untereinander innerhalb der Großstädte. Kriegführung und Spezialausbildung der sogenannten Kommandounternehmen im letzten Weltkrieg, gleich an welcher Front, ließen viele in der Handhabung solcher Maschinenwaffen vertraut werden. Die Verwendung der Maschinenpistole mit ihrer fast tödlichen Schrecken verursachenden Wirkung kommt heute vorwiegend bei der VerÜbung von Raubüberfällen auf Geldinstitute und Juweliergeschäfte in Betracht. In diesem Zusammenhang ergeben sich an Tatorten mit dem Gebrauch von Maschinenpistolen häufig viele eindeutige Spurenhinweise, die insbesondere für die subjektive Seite des strafrechtlichen Tatbestandes bedeutsam sein können. Hierauf wird noch bei der folgenden Erörterung des taktischen Vorgehens zur Aufklärung von Raubdelikten mit Waffen einzugehen sein. 4.

Sprengstoffspuren

Bekanntlich übertrifft im allgemeinen die Wirkung von Sprengkörpern die der Schußwaffen bei weitem. Tatorte, an denen Sprengkörper zur Explosion gebracht wurden oder kamen, sind bereits infolge der Detonation und des Umfanges der angerichteten Zerstörung sogleich augenfällig gekennzeichnet. Aus den Spuren am Tat- oder Unglücksort werden fast stets nur unter sehr schwie-

Kriminaltaktik rigen Umständen verläßliche Anhaltspunkte über den genauen Hergang der Explosion gewonnen werden können. I m allgemeinen wird eine erfolgte Explosion den Tatort gründlich zerstört haben, so daß Spuren, die vor allem auf die Zündungs- und Sprengkörperart sowie Herkunft des verwendeten Sprengstoffes (beim Zünden auf thermischem und dynamischem Wege) hindeuten können, kaum vorhanden sein werden. Obwohl allgemein bei solchen Situationen die Aussicht zur Gewinnung von auswertbaren Spuren gering sein dürfte, kommt es in der Praxis auf das minuziöse Suchen und Finden von charakteristischen Hinweisen hierfür (Sprengart, -körper, -stoff) an. Dabei können von vornherein durch gewisse günstige Umstände sich Indizien anbieten, die auf eine berufsmäßige oder geschulte Hand zur Anlegung der Sprengung deuten. Wenn Sprengart und sonstiger Sprengmechanismus rekonstruktiv erkannt sind, dann können systematisch geführte Ermittlungen mit einiger Erfolgsaussicht weitergeführt werden. Beispielsweise fallen hierunter Untersuchungen postalisch zum Versand gebrachter Pakete, die Sprengstoffladungen enthalten u n d an bestimmte Personen gerichtet sind, wobei verschiedene Motive, aber auch motivloses Verhalten, vorliegen können. Über das Suchen u n d insbesondere Sichern von solchen Sprengstoff- u n d Sprengkörperspuren gibt es bei der Kriminalpolizei besondere Richtlinien. Die Heranziehung von Sprengstoffsachverständigen, ζ. B. zur fachkundigen Öffnung eines durch die Post eingegangenen Paketes mit einer Sprengstoffladung, ist notwendig. Eine unter größten Vorsichtsmaßnahmen erfolgende Öffnung des sprengstoffverdächtigen Paketes durch fachkundige Hand (ζ. B. mit Hilfe röntgenologischer Durchleuchtung des Paketinhaltes) vermag manchmal zur sofortigen Bestimmung der Herkunft der Sprengladung, der Zünder (Moment- oder Zeitzünder) usw. zu führen, weil alsdann der Sprengkörper unzerstört in die Hände fällt. Dadurch vermehren sich die Anhaltspunkte für eine Identifizierung der an der Fertigstellung und Versendung des Sprengstoffpaketes beteiligten Personen. Eine neuzeitliche kriminelle Erscheinung ist die Zunahme der Bomben- oder Sprengstoffalarme auf Flugplätzen. Hier werden ausländische Flughäfen wie deutsche in gleicher Weise betroffen. Ausgelöst werden allgemein solche Alarme durch anonyme Anrufer, die behaupten, in einer bestimmten startbereiten Maschine sei eine Höllenmaschine versteckt worden. In der überwiegenden Mehrzahl handelt es sich u m „blinde Alarme", strafbare üble Scherze. Es ereignen sich aber auch — wenn auch selten — sehr ernste Fälle. So hatte im Jahre 1963 ein Exilspanier einen Koffer mit Kleidungsstücken auf eine niemals geklärte Weise in den Frachtraum einer vom Flughafen Frank-

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f u r t (M) nach Spanien startbereiten Maschine geschmuggelt. Die a m Kofferdeckel befestigten Zündsätze jedoch entzündeten sich im Frachtr a u m der Maschine, worauf die im Koffer verstauten Kleider in Brand gerieten. Der Brandgeruch konnte unmittelbar vor dem Start noch rechtzeitig wahrgenommen werden. Die Gruppe der in Betracht kommenden Exilspanier wurde gefaßt. Die Durchsuchung solcher bombengefährdeter Maschinen ist eine sehr problematische u n d schwierige kriminaltaktische Aufgabe. Die Fluggesellschaften verhalten sich in bezug auf die Beiziehung von Kriminalbeamten recht unterschiedlich. Die taktischen Maßnahmen ζ. B. US-amerikanischer Fluggesellschaften bestehen darin, daß die startbereiten und durch einen angezeigten Bombenalarm a m Start verhinderten Maschinen aus dem Flugbetrieb für eine gewisse Zeit herausgezogen u n d am äußersten Rand des Flugplatzes zunächst abgestellt werden. Der Flugverkehr wird mit einer Ersatzmaschine weitergeführt. Auf bundesdeutschen Flugplätzen ζ. B. f ü h r t in der Regel die Kriminalpolizei im Benehmen mit der betroffenen Fluggesellschaft auf ausgelösten Bombenalarm hin Durchsuchungen innerhalb der Maschine und gegebenenfalls des Handgepäcks u n d des Frachtgutes durch. Allseitig ist m a n sich darüber im klaren, daß auch noch so sorgfältig angelegte polizeiliche Durchsuchungsaktionen bei einer solchen Lage keine zuverlässigen Hilfsmittel sind, um eine entsprechende Gefährdung von Flugpassagieren und Besatzung völlig ausschließen zu können. Bei Abstürzen von Passagierflugzeugen wird immer die Frage im Vordergrund stehen, ob das Unglück infolge eines technischen Fehlers, eines menschlichen Versagens oder aus verbrecherischer Gesinnung verursacht worden sei. Aus dem Befund am Unglücksort kann m a n manchmal unter günstigen Umständen Hinweise auf die mögliche oder die wahrscheinliche Ursache des Absturzes erhalten. Am 1. 11. 1955 explodierte auf dem Flug von Denver nach Alaska eine Passagiermaschine der United Airlines vom Typ DC-6 B. Die Leichen der 39 Passagiere u n d fünf Besatzungsmitglieder lagen über ein Areal von 2,5 qkm verstreut. Von der Ursache des Absturzes ahnte zunächst niemand etwas •— außer dem Täter. Eine Höllenmaschine war in einem Koffer versteckt worden und hatte auf diese Weise die Explosion des Flugzeugs in der L u f t bewirkt. Kilometerweit lagen nun die Trümmer der Maschine, Fetzen u n d Stücke von Gepäck u n d Leichen verstreut. Das in Betracht kommende Gelände wurde in ein Netz von Planquadraten eingeteilt u n d von fliegerisch-technischem und kriminalistischem Fachpersonal peinlich genau abgesucht. J e des bedeutsame Stück wurde im Plan eingezeichnet und gesammelt. Allmählich gelang es, an einem Holzmodell die gefundenen Teile des Rumpfes der

Kriminaltaktik

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Maschine zusammenzusetzen, bis auf ein großes Loch — der erste Hinweis für eine Explosion von innen. In der Nähe des gezackten Loches aber befand sich der Frachtraum Nr. 4. Von diesem Befund aus nahmen die systematisch betriebenen Nachforschungen über die Persönlichkeit der getöteten Passagiere den Anfang. Beamte des Federal Bureau of Investigation ermittelten schließlich den Täter. Er hatte es auf die Versicherungssumme aus einer von ihm auf dem Flughafen abgeschlossenen Lebensversicherung abgesehen, die im Fall des Todes seiner Mutter an ihn zur Auszahlung gelangt wäre. Der entscheidende Schritt zur Lösung dieses Falles, der kriminologisch unter „Versicherungsmord" einzuordnen sein dürfte, wurde im Zusammenwirken von Spezialisten der Tatbefunderhebung mit naturwissenschaftlichen Kriminalisten vom FBI getan: Die chemische Analyse der aufgefundenen angeglühten Metallstücke, die im weiten Umkreis der Unglücksstätte verstreut lagen, ergab Spuren von Natriumcarbonat, Natriumnitrat und schwefelhaltigen Verbindungen. Es waren Rückstände, wie sie bei Dynamitexplosionen bleiben. Die geständliche Erläuterung des Täters, John G., bestätigte den chemischen Befund. G. hatte mit 25 Dynamitstäben, zwei elektrischen Sprengkapseln, einem Minutenzähler und einer Batterie von 6 Volt eine Zeitbombe konstruiert. 5. Spuren von

Brandstiftung

Die herkömmliche Einteilung der ->• Brandstiftungen im Strafrecht geht u. a. von der subjektiven Tatseite aus. Sie unterscheidet Fälle der vorsätzlichen und fahrlässig begangenen Brandverursachung. Die kriminalistische Bearbeitung dagegen geht in der Regel vom Brandherd aus. Im Vordergrund dieser systematischen Betrachtung stehen Fälle von Brandstiftungen, bei denen Menschen umgekommen sind (Industriebrände, Brände in Kaufhäusern, Theaterbrände, Brandlegungen zur Beseitigung der Spuren von Mord oder sonstigen Straftaten u. ä.). Es werden aber auch, um andere — zum Beispiel verhaftete — Personen zu entlasten, sogenannte „Deckungsbrände" angelegt. Die Brandursachenermittlung ist allgemein ein sehr schwieriges kriminalistisches Spezialfach. Aus diesen Erwägungen begann die Kriminalpolizei schon sehr zeitig mit der Sonderausbildung von Kriminalbeamten zu Brandermittlungsbeamten. Hieran haben sich schon immer die öffentlich-rechtlichen Feuersozietäten und Versicherungsgesellschaften durch gemeinsam mit der Kriminalpolizei (des Bundeskriminalamtes, der Landeskriminalämter) und dem Polizeiinstitut in Hiltrup/Westf. veranstaltete Arbeitstagungen beteiligt. Das hierüber entstandene ausgezeichnete Schrifttum ist aus verständlichen Gründen fast ausschließlich dem Dienstgebrauch vorbehalten und dient der Fortbildung. Bei der Brandur-

sachenerforschung kommt es in erster Linie auf besonders überlegtes taktisches Zusammenwirken von mehreren spezialistisch tätigen Beteiligten an: auf den Brandermittlungsbeamten, Brandsachverständigen, naturwissenschaftlich arbeitenden Kriminalisten, Staatsanwalt, Beauftragten der Feuerversicherungsgesellschaft und last not least: Gerichtsmediziner. In zunehmendem Umfang beschäftigt sich die kriminalistische Brandursachenerforschung mit Industriebrandfällen, bei denen mitunter auch Menschenopfer zu beklagen sind. Die wissenschaftlich- und taktisch-fachgemäße Aufklärung solcher Fälle stellt dem naturwissenschaftlichen Kriminalisten (beim Bundes- und Landeskriminalamt, bei einer Landesbrandkasse) sehr schwierig zu bewältigende Aufgaben. Die Leistungen der Kriminalbeamten und Staatsanwälte zur Aufklärung von Brandfällen im allgemeinen werden kaum geschmälert, wenn die Meinung vertreten wird, daß auf dem naturwissenschaftlich tätigen Sachverständigen bei der modernen Methodik zur Erforschung von Brandursachen die Hauptaufgabe lastet. Man kann vier Phasen des kriminaltaktischen Vorgehens erkennen: a) Sorgfältige Untersuchungen an der Brandstelle, indem die Sachverständigen die eigentliche Brandzone (möglichst) unverändert in Augenschein nehmen können; dabei spielen in bezug auf die Gewinnung von möglichst nur partiell durch den Brand beeinflußten Verbrennungsrückständen die Brandrandstelle und die benachbarte Zone des Brandherdes eine wichtige Rolle. Insbesondere an der Nachbarzone finden sich oftmals durch den Brand unverändert gebliebene Stoffe. Sie sind als materielle Spuren (ζ. B. ausgelaufene brennbare Flüssigkeiten, die trotz Hitzeentwicklung nicht verbrannten) meist sehr aufschlußreich; b) das Fotografieren (insbesondere mehrerer Brandstellen mit Stereo-Fotogrammetrie-Technik), indem der Brandverlauf von dem gesamten Brandobjekt bis zu den kleinsten Details am Brandherd oder an den verschiedenen Brandstellen vollständig in Schwarz-Weiß, gegebenenfalls in Color, festgehalten wird. Dadurch entsteht ein fotografierter Brandermittlungsbefund in einer zusammenfaltbaren Lichtbildmappe in vergrößerten Ausschnitten mit den dazugehörigen Skizzen und Erläuterungen. In ihnen finden sich beispielsweise bei einem behaupteten Kurzschluß als Brandursache die elektrischen Schaltanlagen mit den entsprechenden Befunden im Bild (unversehrte, mangelhafte und zerstörte Anlagen!); c) die Sicherstellung von Verbrennungsrückständen und von unverbrannten oder teilverbrannten Stoffen in ausreichender Menge für spezifische Untersuchungen im Labor; d) die Durchführung des technischen (physikalisch-chemischen) Ablaufs des als sicher angenom-

Kriminaltaktik menen Brandvorgangs durch vergleichsanalytische Untersuchungen der Befunde von der Brandstelle und aus dem Labor, entsprechende Modellversuche miteinbezogen, die vorauszugehen haben. In dieser Verbindung ist auf die Selbstentzündungsvorgänge bei der Brandursachenermittlung hinzuweisen, ohne in diesem Rahmen auf die Brandstiftungskriminalistik näher eingehen zu können. Soviel sei hier ausgeführt, daß der einwandfreien Ermittlung von (echten) Selbstentzündungen naturwissenschaftlich ganz besondere Schwierigkeiten (nach Jach, Mally, Meinert, Tramm, Schwartz u. a.) begegnen. Jach, der sich mit diesem Sondergebiet befaßt hat, meint, daß bei diesen Brandursachen zahlreiche, sich begünstigend auswirkende Faktoren berücksichtigt werden müssen, „die eine Vielzahl von Variationsmöglichkeiten hinsichtlich des Ablauf mechanismus zur Folge haben". Das ist wiederum bedeutsam für die richtige Beurteilung von Selbstentzündungsbrandschäden in Landwirtschaftsbetrieben (ζ. B. bei eingelagerten Erntevorräten wie bei Heu, Klee, Schrot, Kleie usw.). Hier kann Selbsterwärmung oder -erhitzung bis zur Selbstentzündung biologische Ursachen haben, beispielsweise auf Lebensfunktionen von Mikroorganismen zurückgehen. Der in der Bearbeitung von Brandfällen jahrelange Erfahrungen aufweisende Brandermittlungsbeamte kann den Wissenschaftler bei der Herausarbeitung eindeutiger Identifizierungskriterien durch brauchbare Resultate von Vernehmungen der mit der Einlagerung bzw. Umschichtung entsprechender Vorräte befaßten Personen wirksam unterstützen. Bekanntlich ist die Behauptung „vermutlich Heuselbstentzündung" für die Entstehung des Brandes eine gern zur Ablenkung vom tatsächlichen Brandverlauf zitierte Erklärung. Die Literatur über die „Brandstiftungskriminalität" kennt nicht wenige Fälle, in denen unter der Camouflage „Heuselbstentzündung" sich zunächst vorsätzlich verursachte Brände verbergen konnten. Zusammenfassend ist zur Entwicklung der Brandstiftungs-Kriminalistik festzustellen, daß die Methodik der Untersuchung von Verbrennungsrückständen („Brandasservate" in der Fachsprache genannt) von der (den) Brandstelle^) seit den letzten 30 Jahren durch die Pionierarbeiten auf dem Gebiete der physikalischen Chemie enorme Fortschritte gemacht hat. Seitdem sind die Untersuchungsverfahren zur Identifizierung der Verbrennungsrückstände infolge der Infrarot-, Ultraviolett- und Emissionsspektrographie sowie durch die Röntgenfeinstrukturanalyse wesentlich verfeinert werden. Die Ergebnisse der Befunde aus Untersuchungen von Brandasser vaten wurden differenzierter (siehe „ Kri minaltechnik"). Dadurch lassen sich im allgemeinen von den folgenden fünf kriminaltaktischen Hauptfragen bei der Bearbeitung von Brandermittlungsfällen die ersten drei Fragen beantworten:

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1. Welche Brand- oder Explosionsursache liegt vor? 2. Liegt Selbstentzündung oder Brandstiftung vor? 3. Welche beweisfähigen Tatsachen sind hierzu gegeben ? 4. Liegt ein Motiv vor, gegebenenfalls welches (für die zweite Alternative zur 2. Frage) ? 6. Wer kommt nach dem vorläufigen Ergebnis der Brandermittlungssache als Brandverursacher in Betracht ? Das geht vornehmlich zurück auf die Methoden der physikalischen Chemie, die häufig genauer als mit den Verfahren der klassischen Chemie — manchmal aber auch in weit kürzerem Zeitraum — arbeiten. In der Erforschung des Motivs stößt man in der Kriminalpraxis der Brandermittlung oft auf den Beweggrund, sich durch das Inbrandsetzen einer versicherten Sache (Gebäude, Schiffe, Magazine, landwirtschaftliche Erzeugnisse, Kraftwagen u. a.) in betrügerischer Absicht die vereinbarte Versicherungssumme zu beschaffen. Im einzelnen wird beim kriminaltaktischen Vorgehen in Fällen des Versicherungsbetruges noch hierauf näher einzugehen sein. In diesem Zusammenhang ist aber ein typischer Fall des „Versicherungsmordes" kurz zu erwähnen. Es war eines der scheußlichsten Verbrechen, verübt am 27. 11. 1930, am Straßenrand der Reichsstraße 8 zwischen Nürnberg und Regensburg, von dem später hingerichteten Kaufmann Erich Tetzner aus Leipzig. Er hatte einige Tage vorher auf seiner Geschäftsreise einen jungen Menschen, vermutlich einen Landstreicher, angehalten und zur Mitfahrt eingeladen. Er ermordete ihn, setzte die Leiche hinter das Steuer seines Autos und steckte seinen Kraftwagen auf der Reichsstraße 8 in Brand, indem er ihn mit Benzin übergoß und anzündete. Die Leiche verkohlte. Aufgrund im Autowrack halbverkohlt aufgefundener Briefe identifizierte die Ehefrau Tetzner ihren Mann und veranlaßte die Überführung und seine Beisetzung. Alsdann erbat die (angebliche) Witwe telegrafisch die Versicherungssummen aus (kurz vorher) abgeschlossenen vier (I) Lebensversicherungsverträgen. Erich Tetzner hatte sich mit 143 500 Mark für den Todes-und Unglücksfall versichern lassen. Doch Argwohn veranlaßte die Versicherungsgesellschaften, Frau Tetzner kriminalpolizeilich überwachen zu lassen. Sie war zu sorglos in ihren mit einem Kaufmann Sranelli aus Straßburg im Elsaß geführten Ferngesprächen. Die ersuchte französische Kriminalpolizei identifizierte Sranelli als Erich Tetzner. Aus der kriminalistischen Analyse dieses Falles ex post ist zu bemerken, daß der Tatbefund des Autobrandes zu damaliger Zeit offensichtlich Anlaß zu besonderen kriminalistischen Bedenken nicht gegeben hatte. Der Zahnbildbefund, das ge-

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richtsmedizmisch feststellbare Alter der angekohlten Knochen und möglicherweise Ver- oder Mißbildungen an Knochen hätten immerhin berechtigte Zweifel an der beanspruchten Identität mit Erich Tetzner ergeben können. Mit der gegenwärtig entwickelten Methodik, ζ. B. zur Feststellung von Benzinrückständen an Brandstellen am oder im Auto, würden mit Hilfe u. a. des Elektronenmikroskops bei günstigen Voraussetzungen positive Befunde erzielt werden können. Auch die röntgenologische Identifikationsmethode (nach Neiss) hätte hierbei angewandt werden können. Nach dieser Methode wären auf dem Röntgenschirm die Bilder sichergestellter angekohlter Knochen mit den Röntgenfilmen verglichen worden, die aus Anlaß einer ζ. B. orthopädischen Behandlung entstanden waren. Die kurze vergleichende Darstellung des kriminaltaktischen Vorgehens im Falle Erich Tetzner zur damaligen Zeit und vom kriminalistischen Standpunkt der Gegenwart lassen deutlich werden, welche Fortschritte in den kriminalistischen Identifizierungsmethoden inzwischen erzielt worden sind. Das bezieht sich insbesondere auf verfeinerte Differenzierungsverfahren in der Ausmittlung von Verbrennungsrückständen durch die Methoden der physikalischen Chemie. Dies ist aber wiederum von erheblichem Wert bei der Aufklärung von „Kraftwagenbränden". Das kriminaltaktische Vorgehen bei Tötungsdelikten ist damit in einer nur übersichtsmäßigen Darstellung zusammengefaßt worden. Für eine weitergehende Unterrichtung bedarf es in diesem Zusammenhang der Hinweise auf das kriminalistische Schrifttum zu den einzelnen Spurensachgebieten, was im übrigen auch in entsprechender Weise für die nachfolgenden Abschnitte in Anspruch genommen werden darf. B. Kriminaltaktisches Vorgehen bei Sexualverbrechen 1. In allgemeiner Hinsicht Sexualverbrechen ist kein Begriff aus dem geltenden Strafrecht. Der Begriff Sexualverbrechen ist mehrdeutig. Hier wird das Sexualverbrechen kriminologisch gesehen. Insoweit stimmen die im 13. Abschnitt des StGB aufgeführten „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit" nicht mit den der Kriminologie zugeschriebenen Erscheinungen der Sexualverbrechen überein. Unter den kriminologischen Begriff Sexualverbrechen sind einzuordnen: die Tötung und Körperverletzung aus sexueller abartiger Motivation, die qualifizierten Formen der Unzucht zwischen Männern, die Sodomie, Nötigung zur Unzucht, Kinderschändung, Notzucht, öffentliches (geschlechtliches) Ärgernis u. a. Im Vordergrund stehen in der Regel jene Erscheinungen der Sexual-

kriminalität, die die Öffentlichkeit, ungeachtet der Akzentuierung durch die Tages- und Boulevardpresse, in besonderem Maße beunruhigen. Darunter rechnen neben den Kindermorden aus abartiger Triebveranlagung in erster Linie die Fälle der Kinderschändung, Notzuchtsfälle in der Öffentlichkeit, vor allem in qualifizierter Form, sowie exhibitionistische Akte vor Kindern, Mädchen und Frauen in der Öffentlichkeit und sodomitische Taten. Stärkste Beunruhigung in der Bevölkerung rufen meist eine fast periodische Wiederkehr und eine Anhäufung solcher Straftaten aggressiven Charakters innerhalb bestimmter Gegenden oder in Großstädten hervor. Kindermorde aus sexueller Perversion werden im allgemeinen mit gutem Ergebnis aufgeklärt. Dagegen haben Kinderschändungen nach den polizeikriminalstatistischen Unterlagen (siehe „Kriminalstatistik") im Durchschnitt selten eine höhere Aufklärungsquote als 75%. Während bei der kriminalistischen Inangriffnahme eines Falles von Kindermord aus sexueller Motivation alle verfügbaren besten kriminalistischen Kräfte eingesetzt werden, darf man von einem derartigen, oft wochenlangen Aufwand an kriminaltaktischen Maßnahmen und kriminaltechnischen Mitteln in der Regel auch positive Ergebnisse erwarten können. Sicherlich finden sich bei der Erzielung eines Aufklärungserfolges in einer solchen Kindesmordsache auch glückhafte Umstände. Allgemein jedoch werden überraschende Erfolge auf diesem Gebiet erst durch sehr gründliche, unermüdliche und zähe Ermittlungsarbeit ermöglicht. Es liegt auf der Hand, daß man beispielsweise bei Kinderschändungen, Notzuchtsund exhibitionistischen Akten nicht mit dem gleichen hohen Personal- und Sachaufwand kriminalpraktisch ebenso arbeiten kann. Das würde die Aufklärung zahlloser anderer, in etwa gleich schwerwiegender Delikte unverantwortlich hinauszögern. Die Aufklärungsquote für Unzuchtstaten mit und an Kindern in Höhe von 77,5% im Bundesdurchschnitt ist nach der „Polizeilichen Kriminalstatistik", herausgegeben vom Bundeskriminalamt, für das Jahr 1965 angesichts der besonderen Schwierigkeiten, die sich durch die Vernehmung von Kindern als Informationspersonen einerseits und durch den für diese Handlungen in Frage kommenden Tätertyp mit seiner dem Kind angepaßten Arbeitsweise ergeben, als beachtenswert günstig zu bezeichnen. Für die Aufklärung von Notzuchtsfällen müssen wiederum andere Umstände berücksichtigt werden. Zeugen der Tat sind im allgemeinen kaum vorhanden. Der Hundertsatz der dubiosen Beschuldigungen wiegt verhältnismäßig schwer. Der Sachbeweis vermag nicht immer genügend zweifelsfreie Anhaltspunkte für den wahren Sachverhalt zu liefern. Deshalb schwankt die Aufklärungsziffer im allgemeinen in den Ländern und im Bundesgebiet zwischen 64% bis 71,3% ( = Aufklärungsquote in

Kriminaltaktik der „Polizeilichen Kriminalstatistik" für das Bundesgebiet, 1965). Bei den exhibitionistischen Akten liegen die Verhältnisse noch anders. Das Opfer hat gewöhnlich keinen nachhaltigen Eindruck von der plötzlich in sein Blickfeld getretenen Person, dem Täter. Zur Arbeitsmanier der Exhibitionisten gehört es, kurz nach Hervorrufen eines lähmenden Schrekkens bei ihrem Opfer beschleunigt die Flucht zu ergreifen. Das geschieht auf verschiedene Weise, früher mittels des bereit oder versteckt gehaltenen Fahrrades, heute in zunehmendem Maße motorisiert. Dadurch gehen noch stärker mögliche Anhaltspunkte für eine Wiedererkennung, beispielsweise durch Vorlagen von Lichtbildern einschlägig arbeitender Täter, verloren. In der „Polizeilichen Kriminalstatistik" 1965 für das Bundesgebiet werden im Bundesdurchschnitt 57,6% solcher Fälle aufgeklärt. Nun werden exhibitionistische Taten vorwiegend von örtlichen Tätern begangen, mit der Einschränkung, daß auch hier die Motorisierung Ansätze zu überörtlicher Tatausführung erkennen läßt. Die Aufklärungsziffer für diese Straftaten wird in der Jahresstatistik des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen für 1965 mit 53% angegeben. Dabei bleibt zu berücksichtigen, daß das Dunkelfeld der als öffentliches Ärgernis sich vorwiegend darstellenden exhibitionistischen Akte, d. h. die Anzahl der zwar begangenen, aber aus verständlichen Gründen nicht zur Anzeige gebrachten Fälle, ziemlich beträchtlich sein dürfte. Diese Dunkelziffer ist zumindest nach unten bemessen mit 50% der bekannt gewordenen einschlägigen Taten anzugeben. Im Jahre 1965 zum Beispiel wurden 4425 solcher Fälle im Land Nordrhein-Westfalen von der Kriminalpolizei erfaßt. Danach hätten noch mindestens 2200 einschlägige Fälle für das Jahr 1965 hinzugerechnet werden müssen, um halbwegs zu einem auf diesem Gebiet echt wirkenden Kriminalitätsbild (-> „Kriminalstatistik") zu gelangen. Die kurze Einführung zu den Aufklärungsmaßnahmen bei Sexualverbrechen offenbart ziemlich deutlich, daß die einzelnen einschlägigen Straftatengruppen eine teils sehr unterschiedliche taktische Behandlung in bezug auf ihre Klärung erfahren müssen. 2. Zur

Spurenidentifizierung

Nachdem die materiellen Spuren im Rahmen der taktischen Behandlung der Tötungsdelikte im Elementaren dargestellt wurden, sollen hier nun — in bezug auf die kriminalpolizeiliche Aufklärungstaktik von Sexualdelikten — die spezifischen Spurenkomplexe in gedrängter Form zur Darstellung kommen. Dabei wird auf die Erörterung von Aufklärungsprinzipien in den Fällen von Mord aus sexueller Motivation oder im Sexualrausch und Kindesentführung aus sexueller Abartigkeit auch aus Raumgründen verzichtet und auf die ein-

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schlägige Spezialliteratur verwiesen. Es bleibt hier das taktische Vorgehen bei der Aufklärung von Notzuchtsakten, Unzuchtstaten an und mit Kindern sowie Fällen aus exhibitionistischer Neigung darzulegen. Dabei ist aus Gründen der Vollständigkeit auf das gelegentliche Auftreten von Säureund Farbspritzern, Wäschedieben aus fetischistischer Neigung, Voyeuren, Transvestiten, Sadisten, Sodomisten und ähnlich abartigen Tätergruppen aufmerksam zu machen. Einzelheiten über die zuletzt erwähnte kriminologische Typengruppe allerdings werden im Abschnitt über das „modus operandi-System" zu erörtern sein. a) Bei den hier angeführten Straftaten sexuellen Ursprungs wird der Ermittlungsbeamte meist auf das Vorhandensein von Samenflecken zu achten haben. Solche Flecken können an der Kleidung sowohl des Opfers des Notzüchters als auch an der des Täters selbst vorkommen. Das gilt in entsprechender Weise auch für die Kleidung des verletzten Kindes oder des Exhibitionisten oder Frotteurs. Gewöhnlich finden sich solche Spermaspuren an der Unterkleidung des Opfers und vor allem an der Bekleidung (u. a. Hose, Strümpfe, Krawatte, Taschentuch) des Täters. Die kriminalpolizeiliche Praxis nimmt bei der Tatbefundaufnahme oftmals eine sofortige Untersuchung der Kleidungsstücke, vor allem — falls es sich um relativ frische Flecken handelt — unter UV-Licht vor. Sperma fluoresziert relativ hell. Alle größeren Kriminalpolizeiabteilungen sind heute mit einem entsprechenden UV-Gerät (UV = Analysenquarzlampe) ausgestattet. Der negative Befund auf der mit UVStrahlen behandelten Kleidung ist kein einwandfreier Nachweis, daß Spermatozoen nicht vorhanden sind. In solchen Fällen wird immer wieder zu einer gründlichen serologischen (gruppenspezifischen) und mikroskopischen (morphologischen) Untersuchung durch die hierfür in Betracht kommenden Wissenschaftler der Kriminalpolizei (Mediziner, Biologen) angeraten („Naturwissenschaftliche Kriminalistik"). Kommt es zur Durchsuchung in der Wohnung des Beschuldigten, so wird der Kriminalbeamte ein besonderes Augenmerk auf jene Kleidungsstücke richten müssen, die der Verdächtige zur Zeit des Tattages trug, und auf den Umstand, ob der Beschuldigte inzwischen Kleidungsstücke (Oberhemd, Unterkleidung) auswaschen ließ oder die Flecke selbst ausgewaschen hat. Hierdurch kann der naturwissenschaftliche Nachweis von Sperma ungemein erschwert werden. Diese Kleidungsstücke werden sorgfältig verpackt, in einer Form, die die Spermaflecken nicht zerstört — vor allem die Flecken nicht bricht —, und dem Labor zur Untersuchung übersandt. In sämtlichen Fällen von Bedeutung geschieht das unmittelbar, gegebenenfalls um dem Wissenschaftler noch zusätzliche Informationen über die vermutlichen Schwerpunkte seiner vorzunehmenden Untersuchung zu geben. In diesem Zusammenhang

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muß auch gerade im Hinblick auf Ermittlungen in Fällen behaupteter Vergewaltigung darauf hingewiesen werden, daß einwandfreie negative Untersuchungsbefunde sich auch zur Entlastung des zu Unrecht Beschuldigten auswirken können. Erdichtete Beschuldigungen vor allem durch Kinder weiblichen Geschlechts im Alter von 5 bis 8 Jahren sind auch nicht selten. Rekonstruktionen des behaupteten Tatverlaufs können manchmal zur Aufhellung des Vorfalls beitragen. Hierbei spielen Befunde an eingerissenen oder zerrissenen Kleidungsstücken des Opfers eine besondere Rolle. Abgesehen davon, daß Reißstellen durch eine gründliche Textilfaseruntersuchung festgestellt werden können, bringen oft Identifizierungen von Farbanhaftungen an der Unterkleidung die Erklärung, wodurch das Einreißen des Bekleidungsstückes hervorgerufen sein könnte. Beim Einsteigen in eine fremde Wohnung durch den Täter, der einer Frau Gewalt antun wollte, können durch sorgfältige Absuche ζ. B. des Schlafraumes mannigfache Spuren von dem Täter gefunden werden. In einem Fall verlor ein wiederholt einschlägig aufgetretener unbekannter Eindringling auf der Flucht seine Kopfbedeckung (Baskenmütze) und riß sich beim Absprang vom Balkon seine Hose auf. Textilfasern wurden sichergestellt, die auffällig viel Kalkstaub enthielten. Die gruppenspezifische Bestimmung der Blutgruppe durch den entnommenen Schweiß vom schmalen Schweißband der Baskenmütze lieferte ein weiteres Argument. Nach längerer Zeit wurde ein beschäftigungsloser Maurer in flagranti gefaßt, der exhibitionierte und nächtens Frauen genotzüchtigt und zu vergewaltigen versucht hatte. Die aufgefundene Hose zeigte tatsächlich eine Einrißstelle. Die vergleichende Untersuchung der Fasern vom Tatort und von der Hose ergab gerade im Hinblick auf den starken Anteil an Berufsstaub eine Übereinstimmung der Textilfasern, ihrer individuellen Abnutzungserscheinungen und der Staubpartikel in ihrer Zusammensetzung. Der Beschuldigte gestand daraufhin eine Reihe gleichartiger Verbrechen, auch den hier angeführten Fall. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob beim Leugnen des Verdächtigen die materiellen Spurenkomplexe für eine Verurteilung durch eine Indizienbeweisführung als hinreichend erachtet worden wären. b) Die in solchen Fällen gegebenen Personenbeschreibungen sind vielfach unzulänglich und für eine zuverlässige Agnoszierung unbrauchbar. Die Kriminalpraxis hat hier im allgemeinen wenig gute Erfahrungen gemacht. Für ein vollständiges kriminaltaktisches Vorgehen muß man Beschreibungen zur Person jedoch berücksichtigen. Hierbei können sich Hinweise von besonderem Wert ergeben. Dies wäre der Fall, wenn der Täter vom Opfer in die Hand oder in den Finger gebissen worden ist. Insoweit sind defensiv entstandene

Verletzungsspuren am Körper des Täters zeitweilig von identifizierender Bedeutung. c) Verletzungen des Opfers durch den Täter können Blutspuren an und auf der Kleidung des Täters bewirken. Als spezifische Spuren kommen Flecke durch Menstrualblut an der Kleidung des Täters in Betracht (-> „Gerichtliche Medizin"). d) Auch Haare können ihre besondere Bedeutung als Spuren erhalten. Bei heftigem Ringen zwischen Opfer und Täter können Kopfhaare in der Hand des Opfers zurückbleiben. Vergleichende Haaruntersuchungen tragen allerdings nur in seltenen Fällen zur Überführung des Verdächtigen bei, insbesondere dann, wenn spezielle Haarerkrankungserscheinungen vorliegen und zweifelsfrei nachweisbar sind. Ihre Ergebnisse können zur Unterstützung des Tatverdachts mitherangezogen werden. Analog liegt es mit dem Befund von männlichen Schamhaaren, die in der Unterkleidung des vergewaltigten Opfers oder an dessen Körper (im Vaginalsekret) vorgefunden werden. An alle diese Möglichkeiten, die später zur Identifizierung des Täters führen können, muß der Kriminalist denken und im Benehmen mit dem von Fall zu Fall beizuziehenden Gerichtsmediziner (oder in Not- oder Sonderfällen dem nächsterreichbaren Arzt) das Erforderliche zur Sicherung solcher Spuren veranlassen. Zum kriminaltaktischen Vorgehen in solchen Fällen gehört ein besonders ausgeprägtes feines Empfinden, weil die durch derartige sexuelle Gewaltakte betroffenen Frauen und Mädchen allgemein ungern nähere Erläuterungen geben. In diesen Fällen wird man Beamtinnen der weiblichen Kriminalpolizei in der richtigen Situation beiziehen, ohne jedoch auf die konkrete Hilfe des Arztes verzichten zu dürfen (-* „Sexualdelikte"). C. Kriminaltaktisches Vorgehen bei Raubstraftaten und Erpressung 1. Die Auffassung, daß „Organisation, genaue Planung, Befehlsgewalt und Disziplin" für die Durchführung eines großangelegten Raubes „aus dem Kriege übernommen" (von Hentig) worden ist, trifft voll zu. Es sind allerdings nicht nur die Raubüberfälle auf Banken, Sparkassen, Zahlstellen und sonstige Geldinstitute, die organisatorisch gut vorbereitet und auch durchgeführt werden, vielmehr rechnen hierzu auch Raubüberfälle auf erste Juweliergeschäfte in Prachtstraßen von Großstädten. Neuerdings wurde der Raub um eine für nicht möglich gehaltene Nuance bereichert: seit dem Raubüberfall auf einen Postzug im August 1963 in England, wobei den Tätern Werte in Höhe von 30 Millionen Pfund Sterling in die Hände gefallen sind. Es kann am besten ein Überblick über die Aufklärungsmethodik in Raubüberfällen gegeben werden, wenn man zur Art und Weise, wie Raub-

Kriminaltaktik überfalle auf große Objekte in der Planung vorsichzugehen pflegen, Stellung nimmt. Der bisher größte Raub in Deutschland wurde an einem Freitag, dem 24.11.1961, 9,54 Uhr, auf ein Juweliergeschäft in Düsseldorf, Königsallee Nr. 26, verübt. Die Täter raubten Schmuck aus Auslagen und Vitrinen im Werte von 4 Millionen Deutsche Mark. Die Tätergruppe war international, Franzosen aus Korsika und Paris, Polen aus Kaschau und Warschau. Die erste Phase der Planung bestand darin, sich von Paris und Brüssel aus in Deutschland niederzulassen. Man richtete eine Bar in Düsseldorf ein. Vermutlich wäre nach dem gelungenen Überfall die Bar wieder aufgegeben worden. Die Täter hätten sich danach in ein anderes Land begeben und ihre Beute verlebt. Dem mißlungenen Raubüberfall verdanken wir wertvolle Erfahrungen über international arbeitende Juwelenräuber. Daß der an sich geglückte Raubüberfall in der Endphase mißlang, ist der Idee zuzuschreiben, die Taxifahrerzentralen in einer Großstadt bei besonderen Anlässen in das polizeiliche Fahndungssystem einzuschalten, woraufhin die Fahrer an Taxihaltestellen und unterwegs durch Sprechfunk in der heute üblichen kurzen Sprechtechnik vom Sachverhalt unverzüglich unterrichtet sind. Anlaß hierfür sind im allgemeinen Alarmierungen innerhalb des polizeilichen Notrufsystems, einer Alarmanlage im privaten Vermietungssystem, dessen zentrale Überwachungs- oder Kontrollstelle in großen Polizeipräsidien eingerichtet ist. Die Polizeibehörden fast aller Staaten bedienen sich solcher Einrichtungen. Als drei bewaffnete Männer in das Juweliergeschäft zu einer Uhrzeit eindrangen, die nach US-amerikanischen Erfahrungen in Kreisen von Gangstern als besonders günstig gilt, dauerte der Verlauf der eigentlichen Raubhandlung noch nicht drei Minuten, eine Zeitspanne wiederum, die vor nicht einberechneten Überraschungen im allgemeinen sichert. Zur Erzielung von schneller Bereitwilligkeit bei den Überfallenen, von lähmendem Entsetzen und banger Furcht gab der Träger der Maschinenpistole mehrere kurze ungezielte Schußsalven ab, allerdings eine taktische Maßnahme, die in einschlägigen US-amerikanischen Bankräuberkreisen für nicht ratsam gehalten wird (sie verleite zu unüberlegten Gegenmaßnahmen des Geschäftspersonals!). Der Rückzug der Juwelenräuber verlief programmgemäß, ohne daß sie verfolgt wurden. Ihr Mißgeschick ereilte sie, als sie einem bereits durch Funkwarnung unterrichteten Taxifahrer beim Betreten des noch nicht geöffneten Barbetriebes auffielen. Der gab Alarm. Wäre der Raub auf das Juweliergeschäft geglückt, wären mühevolle Erhebungen durchzuführen gewesen, um zunächst einmal den internationalen Hintergrund der Tätergruppe aufzuspüren, ungeachtet der Identifizierung der Gruppe.

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Bei der taktischen Inangriffnahme der Bearbeitung eines solchen Falles geht man u. a. zunächst von zwei Punkten aus, soweit nicht Hinweise auf bestimmte Verdächtige gegeben werden. Letztere haben den absoluten Vorrang in den systematisch betriebenen Aufklärungsmaßnahmen. Es sind dies: 1. der Tatortbefund und seine kriminalistische Auswertung; 2. die vergleichende Untersuchung etwa gleichartiger Arbeitsweisen. Hier kommt es (mehr oder weniger) zu einem kriminalistischen Erfahrungsaustausch, zumal die Erhebung des Tatortbefundes, dessen laufende Ergänzung und Auswertung in der Spitze der Kommissionsgruppe zur Vorlage gelangen, bei der auch die beschafften Informationen über einen gleichartigen modus operandi eingehen. Im Wege des internationalen kriminalpolizeilichen Nachrichtenaustausches über Interpol hätte man, wäre der größte Juwelenraub in Deutschland vollends geglückt, auf zwei am 30.1. und 30.10. 1961 in Brüssel begangene Raubüberfälle hingewiesen, bei denen eine bis dahin noch nicht identifizierte Tätergruppe Schmuck im Werte von (nur) 5 Millionen belgischen Francs erbeutet hatte. In einem derartigen Fall hätten alsdann methodisch vergleichende Untersuchungen zwischen der belgischen und bundesdeutschen Kriminalpolizei eingesetzt. Sie hätten sich bezogen auf: a) die Auswertung der materiellen Spuren, ζ. B. der in Düsseldorf sichergestellten Projektile und Hülsen mit den Schußwaffenspuren aus Brüssel; b) sonstige Spuren (Fingerabdrücke, Abdrücke behandschuhter Hände, fortgeworfene Zigarettenreste u. a.); c) immaterielle Spuren, Redewendungen, Spracheigenheiten, Gestik; d) die Auswertung der Personenbeschreibungen, soweit sie bei einer Teil- oder Vollmaskierung möglich ist; e) Einzelheiten der Arbeitsweise (hierauf wird noch an anderer Stelle im Rahmen des modus operandi-Systems eingegangen werden); f) körperliche Eigenheiten (Hink- oder Plattfuß u. a.); g) gezielte Sachfahndungsmaßnahmen nach besonders schwer abzusetzenden Schmuckstücken ausgefallener Herstellung. Eine derartige kriminalistische Analyse aus zunächst drei solchen Raubunternehmen kann bereits zuverlässige Kombinationen hinsichtlich der einheitlichen Führung, der Beteiligung, Organisation und Durchführung erbringen. Aus solchen relativ gut exerzierten Überfällen wird man dann den Schluß ziehen dürfen, daß die Beteiligten bereits früher bei der Kriminalpolizei in Erscheinung

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getreten waren. Das aber wird Anlaß dazu geben, in einschlägigen Kreisen, die sowohl in Belgien domiziliert scheinen wie in Deutschland, Verbindungen zu unterhalten und spezielle Nachforschungen einleiten zu lassen. Aus den Sammlungen beider Ländererkennungsdienste kämen gezielte Hilfen. Schließlich wäre der Umstand von Bedeutung, daß die Teilnehmer dieser Gruppen voll motorisiert sind und auch in dem Fach des Autodiebstahls nicht unbewandert sein dürften. Möglicherweise würden sie wegen Raubes oder anderer ungesetzlicher Gewaltanwendung gegen Personen und Autodiebstahls bereits vorbestraft sein. Aus der kriminalistischen Betrachtung ex post ist zu bestätigen, daß solche Schlußfolgerungen zu befriedigenden Ermittlungsergebnissen zunächst über den internationalen Hintergrund geführt hätten. 2. Hier handelte es sich um besonders groß angelegte Raubzüge. Der Raub der Alltagskriminalität setzt weniger schwierige Kombinationen voraus. Auch hier ändert sich das kriminaltaktische Vorgehen mit der einzelnen Rauberscheinung. In den Vergnügungsvierteln der Großstädte ereignen sich häufig Raubtaten nach vorangegangener Thekenbekanntschaft. In Straßenräubereien auf allein des Weges gehende Frauen und Mädchen mischt sich oftmals eine sexuelle Komponente. Auch der Raub mit einem Lockvogel als Gehilfen oder Gehilfin hat meistens eine (homo-) sexuelle Grundlage. Diese Basis ist im allgemeinen entscheidend für die Richtung, in der ermittlungsmäßig vorgegangen werden soll. Raubüberfälle auf Geschäftsleute in Etagengeschäften oder in ihren Wohnungen lassen den Schluß zu, daß die örtlichkeiten und Gewohnheiten des Inhabers gründlich ausgekundschaftet wurden. Kompliziert wirkende Fesselungen des Opfers, die in Wirklichkeit unschwer zu beseitigen gewesen wären, tragen den Verdacht der vorgetäuschten Raubtat von vornherein in sich. Nur eine psychologisch sehr geschickte und zugleich behutsame Behandlung des „Opfers" wird auf die Dauer zum Nachweis der Camouflage führen können. RaubÜberfälle auf Taxifahrer durch Fahrgast oder Fahrgäste sowie auf Tankstellenwärter sind oft schwierig aufzuklärende Straftaten, weil hier u. a. eine relative Beziehungslosigkeit zwischen Opfer und Täter bestehen dürfte, andererseits die Angehörigen solcher Berufsgruppen ständig gewissen nächtlich wiederkehrenden Risiken ausgesetzt sind. Auch sind die anfallenden materiellen Spuren kriminalistisch im allgemeinen nicht sehr ergiebig. 3. Der Erpresser vermeidet unmittelbare Gewalteinwirkung. Er setzt sein Opfer insbesondere fernmündlich oder schriftlich durch empfindliche Drohungen in lähmende Angst. Zu seiner Taktik gehört das Drohen mit Wiederholungscharakter. Darauf gründet sich u. a. aber auch das krimina-

listische Vorgehen. Die Kriminalpolizei hat mehrere Arbeitssysteme geschaffen, vermöge deren auch schreibende Erpresser gefaßt werden können. In allen Fällen ist wichtigste Voraussetzung, daß das erpreßte Opfer Vertrauen zu den kriminalistischen Operationen faßt und vor allem den Leiter der Untersuchung über auch peinliche Vorkommnisse aus dem Privatleben des Erpreßten unterrichtet, um die kriminalpolizeilichen Kombinationen und Ermittlungen auch darauf abstimmen zu können. Spuren können ζ. B. durch die Briefe des Erpressers anfallen. Selten gelangen die Erpresserbriefe relativ unberührt in die Hände der Experten, so daß eine spurenmäßige Auswertung noch mit Aussicht auf Erfolg vorgenommen werden kann. Die Praxis kennt Fälle, in denen auswertbare Fingerabdruckspuren aufgrund von Jodogrammen (-> „Kriminaltechnik") erhalten werden konnten. Es gibt aber noch andere Möglichkeiten, durch materielle Spuren den Erpresser zu identifizieren. Die Schriftzüge des Erpressers in handgeschriebenen Briefen bieten Möglichkeiten zur Identifizierung. Gelingt es, geeignetes, aber auch ausreichendes Vergleichsmaterial zu beschaffen, dann kann ein Handschriftenvergleich (anhand der Schriftproben, an die besondere Anforderungen zu stellen sind) durch den e r f a h r e n e n Schriftsachverständigen (nicht Graphologen!) eine hinreichende Grundlage für weitere Erhebungen bieten. In entsprechender Weise gilt das auch für Erpresserbriefe in Maschinenschrift. Hier kann bereits die Bestimmung des Systems (Fabrikat, Modell) der benutzten Schreibmaschine Anhaltspunkte für weitere Erhebungen liefern. Das Vorgehen gegen Erpresser in homosexuell eingestellten Kreisen hier zu erläutern, würde den Rahmen dieser Abhandlung erheblich ausweiten. Es muß auf das besondere hierüber entstandene Schrifttum verwiesen werden, was den kriminalistischen Standpunkt nicht immer in der ihm angemessenen Weise berücksichtigt. Für eine spurenidentifizierende Betrachtung sind kaum Ansatzpunkte vorhanden. Die kriminalpolizeilichen Erfolge gründen sich vorwiegend auf das modus operandi-System „Raub", „Erpressung"). D. Kriminaltaktisches Vorgehen bei Diebstählen 1.

Allgemeines

Die Situation auf dem Gebiet der Bekämpfung der schweren Diebstähle wird von der Erscheinung beherrscht, daß diese Form der Kriminalität seit einem Jahrzehnt fortgesetzt ansteigt und der Index der Aufklärung nach den kriminalstatistischen Unterlagen des Bundes und nach den in vielen Bundesländern absinkt. Die Arbeitsweise der Einbrecher und Einsteigediebe hat von der fortschrittlichen Technik und Motorisierung profitiert. Man knackt heute schneller und besser vor Juwe-

Kriminaltaktik lierläden angebrachte Scherengitter, schneidet mit Trennscheiben Wände und mit neuartigen Schneidgeräten, entwickelt nach dem Thermitverfahren ( = Hitzeentwicklung durch ein Gemisch von Aluminium und oxydiertem Eisen) und anderen neuartigen Methoden (mittels eines Gemisches von Stahlstaub und Sauerstoff durch das Prinzip der „Hohl-Anode"), Stahltüren von Panzerschränken auf. Demgegenüber hat in den letzten 30 Jahren die Geldschrankindustrie unterirdische Tresoranlagen für Geldinstitute mit hochwertigen Sicherungsanlagen gebaut, die es schlechthin unmöglich erscheinen lassen, in die Tresoranlagen unerlaubt einzudringen. In solche unterirdische Bankfestungen von Beton und Stahl könnten heutzutage auch nicht mehr die raffiniertesten Bankeinbrecher der zwanziger Jahre, die Gebrüder Franz und Erich Saß, einbrechen. Von ihnen wurde im Jahre 1929 in die Filiale der Diskontobank am Wittenbergplatz in Berlin eingestiegen. Es fielen ihnen Millionen in bar und immense Werte an Schmucksachen, ausländischen Zahlungsmitteln und Bestände an Gold in die Hände. Sie hatten durch einen sogenannten Tunnelbau die Tresorräume erreicht. Als einzigartig gilt ihre Arbeitsweise. Nächtelang trieben sie von einem Hinterhof einen Stollen unter dem Bürgersteig der Kleiststraße bis zum Tresorraum vor, ohne irgendwie gestört zu werden oder aufzufallen. Einen durch den Gang transportierten Schweißapparat zur Öffnung der Tresortüren hatten sie für mehrere Tausend Mark erst beschaffen müssen. Heutzutage gehört es zu routinierter Arbeitstechnik von Tresoreinbrechern oder nach der berlinischen Ausdrucksweise: von „Schränkern", sich das Schweißgerät aus der Umgebung des Tatortes zu beschaffen. Das trifft vor allem für Einbrüche in Panzerschränke von Geschäfts- und Fabrikbetrieben zu, die über nicht so hochwertige Sicherungsanlagen wie Banken und Kreditinstitute verfügen. Im übrigen hat die einschlägige Industrie zuverlässig arbeitende Sicherungssysteme entwickelt, die einen relativ hohen Eigenschutz gewähren. Hierunter zählen auch die Notrufsysteme. Ihre Unternehmen arbeiten eng mit den Polizeibehörden zusammen. Auf diese Weise ist die laufende Wartung und Pflege, aber auch ihre Verbesserung gewährleistet. Dem Einbrecher und Einsteigedieb von heute begegnen demnach gerade von der Technik her, von der er in bezug auf seine Arbeitsweise selbst gefördert wird, nicht unbeachtliche Hindernisse. Würde man jene Fälle in einer besonderen Statistik erfassen, in denen durch ausgezeichnetes Funktionieren der Sicherungsanlagen ein Einbrechen oder Einsteigen verhindert werden konnte, dann ergäbe sich ein nachweisbarer wertvoller Beitrag durch die vorbeugende V e r b r e c h e n s bekämpfung. 8

HdK, 2. Aufl., Bd. II

2. Einbruehs-(Einsteige)diebstähle befunde

113 und Spuren-

Während der Laie allgemein vom „Einbruch" spricht, bestimmt der Kriminalpraktiker den Einbruch nach den verschiedenen Arten der Arbeitsweise und nach dem Objekt. Nach letzterem unterteilt man beispielsweise die Einbrüche in 1. Geldschränke, Panzerschränke, Tresore, 2. Villen, Landhäuser, Bauernhäuser, 3. Bungalows, 4. Wochenend- und Ferienhäuser, 5. Pfarrhäuser, 6. Wohnungen, 7. Böden, Keller, Mansarden, 8. Banken, Sparkassen u. a. Geldinstitute einschließlich Postkassen, 9. Juwelier- und Uhrengeschäfte, 10. Büros, Schaufenster, 11. Automaten(= Aufbrechen von Automaten; nicht zu vergleichen mit einer Warenentnahme mittels Falschgeld), 12. Kraftwagen, 13. Fabrik- und Lagerräume, 14. Gaststätten, 15. Baubuden. Diese kurze Übersicht läßt erkennen, wie spezialisiert eingebrochen, aber auch andererseits, wie differenziert kriminalistisch die Aufklärung der Einbrüche (Einsteigediebstähle) betrieben wird. Die Spurensicherungsdienste der Kriminalpolizei sind überwiegend mit dem Suchen und Sichern von Spuren aller Art an Tatorten von Einbruchs(Einsteige)diebstählen befaßt. Das betrifft insbesondere diese Spezialdienststellen der Kriminalabteilungen in Großstädten. Der Spurensicherungsdienst ist eine Routinesache im kriminalistischen Alltag, wofür jedoch nur besonders ausgebildete und hierfür geeignete Kriminalbeamte verwendet werden können. Während die mit Sprechfunk ausgerüsteten Kraftwagen beispielsweise außerhalb des Großstadtbereichs allmorgendlich von Einbruchstatort zu -tatort fahren, werden laufend neue Meldungen an die Spurensicherungskräfte durchgegeben aufgrund der bei der Zentrale fernmündlich erstatteten Anzeigen über entdeckte schwere Diebstähle. Hierbei ist immer aufs neue ein schwieriges organisatorisches Problem die Verschmelzung der kriminalistischen Interessen, jeden wichtigen Tatort gründlich nach Spuren abzusuchen, mit den ungeduldigen Anliegen der Geschädigten, möglichst schnell den Tatort aufzuräumen, fertig zu werden. In erster Linie wird an Tatorten des Einbruchs (Einsteigediebstahls) nach Abdrücken von Fingern und Handflächen vom Täter gesucht (vgl. hierüber Ausführungen auf Seite 96 ff. unter „Fingerspuren"). Die Zahl der Überführungen durch Finger- oder Handflächenabdruckspuren an Tatorten von schweren Diebstählen ist noch immer

114

Kriminal taktik

beachtlich. Erst in zweiter Linie fallen geeignete Spuren auf Metallen durch Werkzeuge an, mit denen der Täter gestemmt, aufgebrochen, gerissen, geschnitten, aufgewuchtet oder sonstwie gearbeitet hat. Der Kriminaltechniker spricht in dieser Verbindung von Stanz- oder Präge- und Schartenspuren (-»• „Kriminaltechnik"). Als Trägermaterial kommen u. a. Schlösser aller Art, Tür- und Fensterbeschläge, glatte metallene Flächen von Behältnissen aller Art in Betracht, wo Kanten von Schneide- oder Stemmwerkzeugen angesetzt worden sind. Nicht jeder Komplex von Kratzern und Schrammen eignet sich zur Sicherung und späteren Auswertung. Kriminaltechnisch ausgebildete Spurensucher haben für die Ergiebigkeit des Objektes ein besonderes Auge, kommt es doch vor allem darauf an, daß das verursachende Werkzeug charakteristische Scharten, Riefen, Killen oder besonders fehlerhafte Flächen durch Zufall, Zerstörung oder Abnutzung aufweist. Das Werkzeug (Kneifzange, Seitenschneider, Flachzange usw.) muß aber erst aufgespürt werden, um den Nachweis führen zu können, daß ausschließlich mit diesem und keinem anderen Werkzeug ζ. B. die Stahlkassette aufgebrochen wurde. Werkzeugtatortspuren werden in bestimmten Serieneinbrüchen bei den kriminaltechnischen Abteilungen der Landeskriminalämter gesammelt und von Fall zu Fall mit den sichergestellten Werkzeugen aus gleichartigen Straftaten von besonders ausgebildeten Spezialisten verglichen. Auf diese Weise führte man eines Tages den Nachweis, daß entwendete Konservenbüchsen immer mit einem bestimmten (defekten) Büchsenöffner geöffnet worden waren. Über kleine Fälle der Alltagskriminalität hinaus führte die Identifizierung von übereinstimmenden Spurenkomplexen an ζ. B. durchschnittenen Drähten zu Tatzusammenhängen von Weideviehdiebstählen. Es war wohl der größte Fall von Viehdiebstählen in mehreren Bundesländern seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Haupttäter mit dem Beinamen „König der Viehdiebe" (aus Düsseldorf) wurde durch eine der umfassendsten Fahndungsaktionen auf der Autobahn identifiziert. Spuren bekleideter Füße sind gelegentlich bei der Auswertung von Tatortbefunden in Einbruchs(Einsteige)diebstählen bedeutsam. Abdruckspuren von Profilsohlen leichterer Gummischuhe in feinem Staub lenkten eines Tages nach wiederholten Dieb stählen auf den Zimmern eines ersten Hotels in Köln den Verdacht auf einen Fassadenkletterer. Einsteigediebe sind von beachtlicher körperlicher Gewandtheit. Meistens bevorzugen sie sehr leichtes Schuhwerk und hinterlassen an Stellen, an denen man es nicht vermutet, aus dem Klettervorgang charakteristische Teilabdruckspuren ihrer Fußbekleidung. Der Tatbefundbericht in Sachen des schweren Diebstahls vermittelt erst den erforderlichen Über-

blick über die Arbeitstechnik des im allgemeinen zunächst unbekannten Einbrechers und Einsteigediebs. Die Arbeitsweise aber wiederum ist oft der Schlüssel für die Aufklärung manchmal fast aussichtsloser Fälle (vgl. über modus operandiSystem). 3. Einfache

Diebstähle

und

Spurenbefunde

a) Allgemeines. Aus der Tatsache, daß alljährlich nach der „Polizeilichen Kriminalstatistik" etwa 700000 Diebstähle im Bundesgebiet der Polizei bekannt werden, ist zu schließen, daß die Kriminalbehörden eine derartige Ermittlungsarbeit in exakter Weise mit dem besten Willen kaum zu bewältigen vermögen. (Einfache Diebstähle = 697969; Aufklärungsquote 35% nach der „Polizeilichen Kriminalstatistik" 1965). Trotzdem setzt das Ergebnis in Erstaunen gegenüber dem Resultat der Aufklärungsquote beim schweren Diebstahl (Schwere Diebstähle = 336988; Aufklärungsquote 28,7% s. „Polizeiliche Kriminalstatistik" 1965). Dieser mindere Aufklärungsindex für den schweren Diebstahl gegenüber dem einfachen findet sich beispielsweise auch in der Kriminalitätsanalyse des größten Bundeslandes, in Nordrhein-Westfalen (Einfache Diebstähle 1964 = 239030; 1965 = 236190; Aufklärungsquoten 1964 = 31,2%; 1965 = 31,4%, Schwere Diebstähle 1964=106 354; 1965=121482; Aufklärungsquoten 1964= 25,8%; 1965= 25,6%). Überraschend ist das deshalb, weil der Tatbefund eines Einbruchs oder Einsteigediebstahls durch Überwindung von Hindernissen im allgemeinen bei weitem mehr auswertbare Spuren anzeigt als der Tatbefund bei einem einfachen Diebstahl. Aus solcher beispielhaften Gegenüberstellung kann man in vorsichtiger Weise den Schluß ziehen, daß die kriminalistische Spurenauswertung offensichtlich nicht in ausschlaggebender Weise das kriminaltaktische Vorgehen zu beeinflussen vermag, daß vielmehr die kriminalistische Identifizierung des Täters oder der Täter sich weitgehend auf noch andere erfahrungsmäßige Maxime gründet. Gerade der einfache Diebstahl als geeignetes Paradigma zeigt, daß für eine methodisch betriebene Aufklärung nach wie vor die immateriellen Spuren (Aussagen der Zeugen, Einlassungen des Beschuldigten), die Vernehmungstaktik, das modus operandi-System und das Kombinationsvermögen neben dem materiellen Spurenbefund von erstentscheidender Bedeutung sind. Es gibt eine Gruppe von Diebstählen, die materielle Spurenbefunde kaum aufweisen oder bei denen die materielle Spur aus vielen, hier nicht näher zu erörternden Gründen gar nicht zur Auswertung gelangen kann. Hier wird man im Wege der Befragung oder Vernehmung den Sachverhalt zu rekonstruieren versuchen. Ist in dem Verdächtigen der Täter zu vermuten und kann die Vermutung sich auf bestimmte Anhaltspunkte

Kriminaltaktik gründen, wird oftmals eine Durchsuchung nach den entwendeten Gegenständen erforderlich sein, soweit bei eigener Entschließung des Polizei- oder Kriminalbeamten als Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft hierzu die strafverfahrensrechtlichen Erfordernisse gegeben sind (§§ 152 GVG, 102ff., 105 StPO). Die Ausführungen allgemeiner Art zum kriminaltaktischen Vorgehen bei schweren und einfachen Diebstählen in vergleichender Betrachtung sollen abschließen mit dem Hinweis aus der Kriminalpraxis, daß in einer überwiegenden Anzahl von angezeigten Fällen des einfachen Diebstahls zwar ein materieller Spurenbefund kaum vorliegt, was aus dem Phänomen der Diebstahlshandlung erklärbar ist, jedoch ein konkretisierbarer Verdacht oder eine entsprechende bestimmte Vermutung für die Täterschaft angedeutet wird. Damit dürfte sich in einer Beziehung zumindest die höhere Aufklärungsquote des einfachen Diebstahls im polizeilichen Ermittlungs- und Erfassungsbereich erklären lassen. b) F o r m e n des D i e b s t a h l s . Seit dem Jahre 1963 hat sich die für alle Polizeibehörden des Bundes und der Länder verbindliche Erfassungsweise der „Polizeilichen Kriminalstatistik" den modernen kriminalistischen Erfordernissen der Kriminalpraxis angenähert. Insbesondere trifft das für bestimmte Erscheinungsformen des einfachen Diebstahls zu. Die Aufklärung bestimmter Formen ζ. B. von Diebstählen aus Kraftfahrzeugen oder an Kraftfahrzeugen (Reifen, Räder u. a.) ist nicht nur schwierig im Einzelfall zu nennen, sondern stößt auf kaum lösbare personelle und sachliche Probleme. In der Praxis wird man versuchen, Schwerpunkte solcher Diebestätigkeit zu erkennen, um alsdann kriminaltaktisch durch Observation und Spezialstreifen in die Kreise der Täter einzudringen (vgl. hierüber Ausführungen über Funkwagenstreifen-System). Soweit Gruppen Jugendlicher oder Heranwachsender hieran beteiligt sind, gelingt die Erfassung von Verdächtigen durch wiederholte Sistierungen, vor allem wenn an den gefährdeten, unbewachten Abstellplätzen der Kraftwagen stets dieselben Personen ohne einleuchtende Gründe angetroffen werden. In diesem Zusammenhang dürfte hinreichend erkennbar werden, daß geschickte befragungstaktische Maßnahmen die Aufklärung von beunruhigenden Seriendiebstählen aus Kraftwagen (die im überwiegenden Maße sich strafrechtlich als Einbrüche in Kraftwagen darstellen!) nicht unerheblich fördern können. Oftmals ergeben sich aus solchen systematisch betriebenen Erfassungen von verdächtigen Gruppen Jugendlicher schlagartig veranstaltete Durchsuchungs- und gegebenenfalls Festnahmeaktionen zum Auffinden der gestohlenen Beute (Aktentaschen, Reisetaschen mit Initialen des Bestohlenen, Kleidung mit Namenszeichen u. a.). 8·

115

Beim Diebstahl aus Kaufhäusern tritt die Kriminalpolizei zumindest in der ersten Phase des Aufgriffs der Täterin oder des Täters in den Hintergrund. In den zwanziger Jahren setzte sich in den großen Kaufhäusern der Großstädte die Übung durch, sich zumindest an Tagen des Ausverkaufs oder besonderen Alldranges vor Festtagen privatdetektivischer Überwachung zu bedienen. Später stellte die Leitung eines Kaufhauses geeignete weibliche und männliche Personen als detektivisch tätige Überwachungsorgane fest an. Im allgemeinen ist es Gepflogenheit, auf frischer Tat des Diebstahls betroffene „Kunden" (§ 127 Abs. I StPO) erst bei der Kaufhausdirektion zu verhören. Von dem Ergebnis der Befragung des Betroffenen, aber auch von dessen Bereitschaft, den durch Diebstahl angerichteten Schaden wiedergutzumachen, ist es im allgemeinen abhängig, ob die angehaltene Person auf freien Fuß gesetzt oder der Polizei übergeben wird. Personen, die einschlägig bekannt sind, werden ohne weiteres der Kriminalpolizei überstellt. Eine dann sofort veranlaßte Durchsuchung der Wohnung fördert oftmals überraschende Tatzusammenhänge zutage. Die hier entwickelte detektivische Betätigung wirkt sich im übrigen sehr positiv auf den Aufklärungsindex von Diebstählen in Kaufhäusern aus. Aus kriminaltaktischen Gründen hat man vom Jahr 1963 an in der „Polizeilichen Kriminalstatistik" und für die Zukunft auch die Diebstähle in Selbstbedienungsläden miteinbezogen. Diebstahl aus Kaufhäusern und Selbstbedienungsläden 1965 = 55344 aufgeklärte Fälle = 52939 = 95,6% Der K r a f t w a g e n - u n d - g e b r a u c h s d i e b s t a h l als interessantes Phänomen unserer Zeit bedarf noch eingehender Erörterung. Kriminaltaktisch macht diese Erscheinung jedem Leiter einer großstädtischen Kriminalpolizei im Bundesgebiet manche Sorgen. Dabei ist zu bemerken, daß das unaufhaltsame Ansteigen des Kraftfahrzeug· und -gebrauchsdiebstahls nunmehr abgefangen zu sein scheint. Das hat besondere Gründe. In den Jahren 1959/1960 wurde von kriminalpolizeilicher Seite in immer vernehmbarerer Form auf das dringende Erfordernis eines Einbaues von Sicherheitseinrichtungen in Personenkraftwagen zum Schutze vor mißbräuchlicher Ingebrauchnahme und gegen Diebstahl hingewiesen. In den Jahren davor war besonders die großstädtische Kriminalpolizei unermüdlich, jene Autotypen und -modelle aufgrund von spezialstatistischen Einzelerhebungen festzustellen, die für eine rechtswidrige Wegnahme besonders anfällig zu sein schienen, indem sie sich auch ohne Zündschlüssel verhältnismäßig leicht in Gang setzen ließen. Schließlich erzwangen gesetzgeberische Maßnahmen stufenweise die obligatorische Installierung von Sicherheitsvorrichtungen gegen unberufene

116

Kriminaltaktik

Inbetriebnahme. Nach § 38 a der Straßenverkehrszulassungsordnung ist bestimmt, daß eine Sicherungsvorrichtung gegen Diebstahl des Kraftfahrzeuges anzubringen ist. Es folgte hierauf sowohl nach den Zahlenangaben in der „Polizeilichen Kriminalstatistik" des Bundeskriminalamtes wie auch in den Kriminalstatistiken der Länder auf diesem Gebiet eine augenfällige Abnahme des Kraftfahrzeug- und -gebrauchsdiebstahls. Diese aktuelle Entwicklung soll durch weitere einschlär gige Erkenntnisse aus dem Land NordrheinWestfalen veranschaulicht werden:

Fälle In

Kraftfahrzeug- und KFZ.Gebrauchs-Diebstahl im Lande Nordrhein Westfalen

1000

(AufklärungeanteUe Im weisen Feld)

70

Gemeldete und aufgeklärte Fälle 62748 59985

60

50

40

30

20 13706

10

1955 1956 1957 1958 1959 1960

Im Jahre 1963 wurde erstmals bundeseinheitlich der Kraftwagen- und -gebrauchsdiebstahl statistisch gezählt. Für Nordrhein-Westfalen ergaben sich 1964: 21403, 1966: 25670 Fälle, Aufklärungsindex 25,6% zu 26,2%. Diese niedrige Quote (Bundesschnitt 1965: 33,2%) stellt die Frage, ob im Rahmen des methodischen Vorgehens gegen Autodiebe und mißbräuchliche

Rraftwagenbenutzer nichts besonders unternommen werden k a n n . aa) In spurenmäßiger Hinsicht darf man nicht allzu viel erwarten, bb) Die gestohlenen oder mißbräuchlich entwendeten Kraftwagen werden im allgemeinen bald aufgefunden, dem Halter oder der Polizei gemeldet. Die Angaben der verschiedenen großstädtischen Kriminalpolizeien, in welchem Verhältnis die Wagen zurückgeschafft werden konnten, schwanken zwischen 89% und 95%. Man stellt hierzu seit Jahren übereinstimmend fest, daß ein sehr hoher Hundertsatz gestohlener und unbefugt in Gebrauch genommener Kraftwagen nach verhältnismäßig kurzer Zeit (in der Regel innerhalb von 2 bis 8 Tagen) aufgefunden wird; vereinzelt allerdings in weit entfernten Orten, auch des Auslandes, und dann nach erheblich längeren Zeiträumen. Ein erheblich unter 10 vom Hundert verbleibender Anteil von gestohlenen und nicht zurückkehrenden Kraftwagen wird entweder im Bundesgebiet „umfrisiert", d. h. mit anderen technischen Daten (Fahrgestellnummer, Motornummer) versehen und meistens — allgemein über die Grenzübergangsstellen — in das Ausland verbracht (vorwiegend in die Niederlande, auch in die Schweiz). Dort ist ein gutgläubiger Erwerb am gestohlenen Kraftwagen unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Aus dieser Sicht ist die Situation, ζ. B. gestohlene Kraftfahrzeuge nach Holland zu bringen und dort zu veräußern, weit günstiger als in Deutschland (vgl. hierüber spezielle Literatur), cc) Die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung in die Verbrechensaufklärung hat inzwischen auch auf dem Gebiet der Fahndung nach entwendeten Kraftwagen zu völlig neuen kriminaltaktischen Erkenntnissen geführt. In den USA hat sich die Gefahr des Entdecktwerdens, falls man ein gestohlenes Auto benutzt, durch die Fahndung mittels Computers erheblich erhöht (vgl. Literatur über Computersysteme als kriminaltaktische Hilfsmittel). In kriminalpolitischer Beziehung wurde infolge des gesetzlich vorgeschriebenen Einbaues einer Sicherungsvorrichtung prophylaktisch ein unbestreitbarer starker Effekt erzielt. Es bleibt dahingestellt, ob eine solche Wirkung in Zukunft andauert. Dabei muß die zukünftige Entwicklung in der Motorisierung innerhalb der Bundesrepublik abgewartet werden. Eine relative Zunahme wird sich allein aus dem Ansteigen der Zahlen der zur Zulassung in den nächsten Jahren kommenden Kraftwagen ergeben.

117

Kriminaltaktik Es eröffnen sich auch noch andere Aspekte. Seit den Jahren 1962/1963 wird in der kriminalpolizeilichen Praxis die Meinung vertreten, aufgrund einzelner, von Großstadtkriminalpolizeien geführter Spezialstatistiken über den Diebstahl aus Kraftfahrzeugen sei diese Erscheinung stark im Ansteigen begriffen. Möglicherweise stellen sich die Autodiebe nunmehr auf Diebstähle aus Kraftwagen oder Autoeinbruch um. Vorbeugende (gesetzliche) Maßnahmen haben diese Kreise in eine andere kriminelle Richtung „abgedrängt". Diese Ausführungen mögen erkennen lassen, daß eine moderne und elastisch arbeitende Kriminalpolizei die kriminalpolitische Entwicklung besonders auf diesem Gebiet laufend aufmerksam zu verfolgen hat. Sie hat dabei neu auftretende Erscheinungen in gleicher Weise zu beobachten, um rechtzeitig vor allem zentralgesteuerte Maßnahmen, beispielsweise gegen die Zunahme des Einbruchs in Kraftwagen, das Ansteigen von Mopedund Rraftwagendiebstahl, erwägen zu können. Grundlage solchen kriminaltaktischen Denkens wurde die Entschließung, das bundeseinheitlich gestaltete kriminalstatistische Verfahren um die Erfassung 1. des Diebstahls a u s Kraftfahrzeugen und 2. des Diebstahls a n Kraftfahrzeugen sowie 3. des Diebstahls und Gebrauchsdiebstahls von Kraftwagen zu erweitern. Die in der „Polizeilichen Kriminalstatistik" 1963 erstmals hierüber erfaßten und veröffentlichten Zahlen zwingen in bezug auf die Diebtähle a u s und lan Kraftfahrzeugen zu besonderen präventiven und repressiven Maßnahmen: Diebstahl a u s Kraftfahrzeugen = Aufklärungsquote = Diebstahl a n Kraftfahrzeugen = Aufklärungsquote =

93541 Fälle 23,7% 78772 Fälle 10,5%

Daraus ersieht man, daß sich diese Straftaten zu Massenphänomenen kriminellen Charakters herausgebildet haben, die durch einen verhältnismäßig schlechten Aufklärungsindex — was in der Art des Objekts und in der gewissen Eigenart der Begehung begründet scheint — immer wieder zu sich wiederholender Verübung provozieren. Solche Massenerscheinung gleichartig begangener Diebstähle v o n , a n und a u s Kraftfahrzeugen drängt den Gedanken auf, gegen derartige Mengen von Tätern kriminaltaktisch auszurichtende Bekämpfungsmaßnahmen organisieren zu sollen. In der Tat entwickelt die Kriminalpolizei von Zeit zu Zeit Systeme, die zentralgesteuerte Einrichtungen zur Aufklärung und Fahndung nach auf strafbare Weise abhanden gekommenen Kraftwagen enthalten. Ähnliche Systeme werden in Zukunft für die anderen Massenstraftaten an Kraftfahrzeugen mobilisiert werden.

Diese Ausführungen zum Diebstahl v o n , a u s und a n Kraftfahrzeugen rufen den Eindruck hervor, als ob nur solche und ähnliche Massenphänomene in der kriminalpolizeilichen Praxis im Vordergrund stehen. Dem ist nicht so. Mannigfache Begehungsformen des Diebstahls erfordern spezialistisch tätige Kriminalbeamte, wie ζ. B. der Taschendiebstahl, der allerdings seine Bedeutung von vor 35 Jahren nicht unerheblich eingebüßt hat. Die auf diesem Gebiet erworbene kriminelle Fingerfertigkeit wird im Zeitalter der Massenphänomene einmal kaum in dem alten Umfang geübt, zum anderen gibt es mehr gewinnbringende Objekte. Die Versorgung der ausländischen Gastarbeiter mit Bauschgift und die Beteiligung an illegalen Einfuhren von Kraftfahrzeugen deutschen Ursprungs ins Ausland sind lohnendere Betätigungen geworden. Geld-, Werk- und Benzindiebstähle u. a. werden häufig mit speziellen kriminaltechnischen Hilfen (Diebesfallen, Markierungszusätzen) zur Aufklärung gebracht. Die Aufklärung von Trick-, Laden- u n d Weideviehdiebstählen, meistens von überörtlich auftretenden Tätern verübt, stellen hohe Anforderungen an die Zusammenarbeit von kriminalpolizeilichen Nachrichtensammelstellen untereinander mit den Landeskriminalämtern und dem Bundeskriminalamt (-* „Diebstahl"). E. Kriminaltaktische Vorgehen bei Betrugs- und Korruptionestraftaten 1. Die kriminologischen

Formen

im

allgemeinen

Die kriminalpolizeiliche Praxis vertrat lange Zeit hindurch die Auffassung, daß gegenüber Dieben, Einbrechern und Räubern die Typen von Betrügern der Gruppe der „Intelligenzverbrecher" zuzurechnen seien. Demzufolge hat eine kriminalistische Leitung der polizeilichen Verbrechensaufklärung stets darauf gesehen, geistig besonders gut veranlagte, wendige und vernehmungstaktisch in natürlicher Weise befähigte Kriminalbeamte in den einzelnen Kriminaldienststellen für Betrugsspezialitäten zu verwenden. Diese Meinung von dem „Qualitätsvorrang" der Aufklärungskräfte bei der Bekämpfung von Betrugsstraftaten ist im Laufe letzter Jahrzehnte mit Recht abgebaut worden; beispielsweise zugunsten der Bekämpfung von berufsmäßig arbeitenden Räubertypen, Täterkreisen, die eine Zentralsammelstelle einer interlokal arbeitenden Geldtransportfirma oder einen Postzug überfallen und ausrauben lassen. Solchen generalstabsmäßig vorbereiteten und nach Zeitund kriminellen Mobilmachungsplänen durchgeführten Raubunternehmen liegen beachtenswerte Leistungen an starker Entschluß- und ausgezeichneter Vorstellungskraft, an Organisationsfähigkeit und geistiger Weitsichtigkeit zugrunde.

118

Kriminaltaktik

Daneben nehmen sich die Routinetricks der betrügerischen Schwindler im kriminellen Alltag recht kümmerlich ausl Die Betrugsbearbeitimg der Kriminalpolizei geht von einer in der Kriminologie verwendeten Einteilung des Betruges aus. Diese Einordnung geht wiederum auf die Erfahrung, also auf die Kriminalpraxis und deren exakte Beobachtung, zurück. Man unterscheidet den Schwindel vom Betrug. Zu den Formen des Betruges rechnen: a) die betrügerische Erlangung von Be- oder Anzahlung für nicht gelieferte Waren oder Werkleistungen oder für minderwertige (auch verfälschte) Waren u. ä., b) die betrügerische Erlangung von Waren u. a. durch Anzahlung, c) der Betrug mit Grundstücken, Parzellen, Bauverträgen u. a., d) der Kautions- und Beteiligungsbetrug u. a., e) die betrügerische Erlangung von Darlehen, Betrug an Banken, Scheck- und Wechselbetrug, f) die betrügerische Erlangung von Provisionen u. ä. Schwindler im Sinne der kriminalpolizeilichen Praxis arbeiten mit Hilfe bestimmter Tricks und eigentlich außerhalb kaufmännischer Usancen. Die Opfer solchen Schwindels zeichnen sich allgemein durch eine gewisse Unerfahrenheit aus. Die aus dem geglückten Schwindel erlangte Beute ist in der Regel gering. Die geprellten Opfer empfinden jedoch die erlittenen wirtschaftlichen Schäden besonders hart, weil sie häufig der minderbemittelten Bevölkerung zuzurechnen sind. Während der Täter auf dem Gebiet des kaufmännischen Betruges seiner Person nach im allgemeinen als bekannt gilt, seine Persönlichkeit zumindest unschwer feststellbar ist, arbeitet der Schwindler häufig unter falschen Personalien. Unter diese Gruppe fallen u. a. Heiratsschwindler, Sammelund Unterstützungsschwindler, Krankenhausaufenthaltsschwindler, Kurpfuscher, Bauernfänger, Nepper. Der Hochstapler gehört kriminologisch auch in die Kategorie der Schwindler. Für seine Arbeitsweise gelten aber besondere Erfahrungssätze, auch in bezug auf den Kreis der in Betracht kommenden Opfer.

2. Kriminaltaktische Prinzipien in der Betrugsbearbeitung In Kreisen des kriminalpolizeilichen Ermittlungsdienstes gilt die Bearbeitung der alltäglichen Betrugskriminalität nicht als ein Sachgebiet, dem man sich allgemein aus besonderer Neigung zugewendet hat oder zuwendet. Das liegt beispielsweise daran, daß die Hauptlast der anfallenden Ermittlungsarbeit in Anzeigen besteht, die wegen Anzahlungs- oder Teilzahlungsbetrages von der kaufmännischen Geschäftswelt gegen säumige Teilzahler, die inzwischen verzogen sein sollen,

erstattet worden sind. Viele Experimente der Kriminalpolizei, die tägliche Flut solcher Strafanzeigen auf ein vertretbares Maß zurückführen zu lassen, indem die lediglich kriminell verdächtigen Fälle einer eingehenden kriminalistischen Bearbeitung unterzogen werden sollten, scheiterten an dem strafverfahrensrechtlichen Legalitätsprinzip, unter dem die Staatsanwaltschaft nach § 152 Abs. I I StPO steht. Etwa 8 0 — 9 0 % der wegen Anzahlungsbetruges eingeleiteten Ermittlungsverfahren kommen nach Erörterung, in deren Verlauf es nach den Erfahrungen der kriminalpolizeilichen Praxis allgemein zur Befriedigung der wirtschaftlichen Belange des Anzeigenden kommt, zur Einstellung durch die Staatsanwaltschaft. Soweit es sich um Fälle des behaupteten kaufmännischen Betruges handelt und die Person des Beschuldigten feststeht, erfolgen die Erörterungen zum strafrechtlichen Tatbestand des § 263 StGB und zum Sachverhalt im allgemeinen aufgrund von kaufmännischen Geschäftspapieren (Buchführungsunterlagen, Belegen, Kundenkarteien, Prospektmaterial, Verträgen pp.) meistens durch mehr oder weniger lange Vernehmungen. Komplizierten Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des Betruges, ζ. B. auf dem Gebiet der zweckentfremdeten Verwendung von Baumitteln (Mitteln des Staates zum sozialen Wohnungsbau u. ä.), gehen häufig Maßnahmen zur Sicherstellung umfangreicher Beweismittel (Lieferantenschriftwechsel, Konten aller Art) voraus. Mehrere Phasen in solchen umfangreichen Ermittlungssachen wirtschaftskriminalistischer Art sind feststellbar: a) Ermittlungen über Bonität, Vorwürfe im einzelnen, erst jedoch in komplexer Übersicht; b) soweit die verfahrensrechtlichen Voraussetzunge vorliegen, Durchsuchung von Betriebs· (Wohnungs-) räumen zwecks Sicherstellung der im einzelnen Fall erforderlichen Geschäftsunterlagen als Beweismittel; c) Auftrag an Wirtschaftsprüfer als Sachverständige zur Erhebung des wirtschaftlichen Status und Prüfung von Geschäftsvorfällen, die aus den Gesichtspunkten u. a. der kaufmännischen oder allgemeinen Untreue (Mißbrauchs- oder Treubruchstatbestand) des § 266, der Unterschlagung nach § 246, des Betruges nach § 263 Strafgesetzbuch, des einfachen und betrügerischen Bankrotts nach §§ 240, 239 Konkursordnung, der Gläubigerund Schuldnerbegünstigung nach §§ 241,242 Konkursordnung bedeutsam sein können. d) Während dieser wirtschaftlichen Prüftätigkeit setzen meistens schon parallel zu führende neue Erhebungen mit der Zielrichtung zur Konkretisierung des strafrechtlich relevanten Verhaltens (ζ. B. Nichtachtung der Zweckgebundenheit der staatlich oder sonstwie öffentlich-rechtlich zur Verfügung gestellten Finanzmittel durch Einschieben von

Krimmaltaktik eigenen privaten Bauvorhaben infolge Zwischenfinanzierung mit zweckgebundenen Geldern anderer) ein. In den letzten Jahren hat sich aus der Kriminalpraxis eine Form der Ermittlungstätigkeit herausgebildet, die gerade für eine umfangreiche, jedoch schwierige Aufklärung wirtschaftskriminalistischer Tatbestände sehr rationell zu sein scheint: die überörtlich tätig werdende Sonderkommission von Spezialisten der Kriminalpolizei. Kriminaltaktisch gilt wegen der engen fachlichen Zusammenarbeit zwischen Kriminalbeamten und Staatsanwalt dies insofern als eine anerkannt gute Lösung, weil damit durch eine z e n t r a l e Bearbeitung die Aufklärung des Sachverhalts auch zugunsten des Beschuldigten letztlich nur gefördert werden kann und dürfte. Im Rahmen solcher Verfahren haben oft Behauptungen, eine Urkunde sei verfälscht oder total gefälscht worden, eine besondere Bewandtnis. Die kriminalistische Urkundenechtheitsprüfung kann sich heute auf hochleistungsfähige optische Geräte stützen (ζ. B. Monochromator, InfrarotBildwandler), vermöge deren Anwendung innerhalb sehr kurzer Zeitspannen Fragen nach Teilund Ganzfälschungen im allgemeinen eindeutig durch sofortige Inaugenscheinnahme zu beantworten sind (siehe „Kriminaltechnik"). 3. Betrügerische Erlangung von leistungen

Versicherungs-

Eine der interessantesten Materien auf dem Gebiet komplizierter Betrugsbearbeitung sind Fälle der betrügerischen Erlangung von Versicherungsleistungen (siehe auch unter „Brandstiftungsspuren"). Der Täter geht meistens mit außerordentlicher Vorsicht und Umsicht zu Werke. Im allgemeinen wird eine Anzeige erstattet, wobei das versicherte Objekt, die versicherte Gesundheit oder der versicherte Todesfall in unmittelbarer Beziehung zu der behaupteten Straftat, ζ. B. zu dem Einbruch in das Modegeschäft, zu dem Diebstahl des wertvollen Schmuckes oder zu der fahrlässig erlittenen Unfallverletzung, stehen. Im Verlauf späterer Erhebungen kristallisieren sich sodann die Tatumstände heraus, die Zweifel an dem behaupteten Hergang aufkommen lassen. Es ist jedoch nach den Erfahrungen der Praxis mit langwierigen und schwierigen Ermittlungen verbunden, den Nachweis einer vorgetäuschten Straftat, ζ. B. eines Einsteigediebstahls in ein Lager mit Orientteppichen, exakt zu führen. Danach ist besonders schwierig, zu beweisen, daß ein Einsteigediebstahl durch fremde, nicht etwa „auf Bestellung" arbeitende Personen verübt wurde. Erste Hinweise kann die finanzielle Lage des Anzeigenden als angeblich Geschädigten liefern. Aber das

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ist keineswegs ein erfolgversprechender Ansatzpunkt. Falls mit Handwerkzeugen eingebrochen worden ist, die später im Gewahrsam des Anzeigenden aufgefunden werden, ist ein besserer Ansatzpunkt vorhanden. Doch auch hier wäre es verfehlt, dem Anzeigenden über das Ergebnis des positiv verlaufenen Werkzeugspurenvergleichs in diesem Abschnitt der Ermittlungen bereits Kenntnis zu geben. Insoweit ist man auch auf die spezialfachlichen Hilfen des Werkzeugspurenspezialisten mit seinem Sachverstand angewiesen. Der Nachweis eines vorgetäuschten Einbruchs dürfte immer erst dann die handfeste Beweisform annehmen, falls das angeblich gestohlene Gut in der Obhut des Anzeigenden aufgefunden wird oder die „bestellten" Einbrecher ein entsprechendes Geständnis ablegen. 4. Korruptionsfälle Die Bearbeitung der Fälle von Korruption in Wirtschaft und Staat setzt neben einer langjährigen Erfahrung große Sachkenntnis einschlägiger Fragen und eine völlig unanfechtbare eigene Stellung voraus. Korruption als Begriff ist relativ und bezieht sich auf den Katalog vielfältiger strafrechtlich relevanter verderblicher Erscheinungen im Behörden- und Wirtschaftsleben. Die Erscheinungen selbst aber sind in bezug auf ihre Bewertung von der Wirtschaftsstruktur und Sozialordnung unserer Zeit wesentlich geprägt, innerhalb der sie auftreten. Korruptiv sein heißt, Amtsgewalt im gewinnbringenden Geschäftssinne handhaben. Das Charakteristische auf dem Gebiet der Korruptionsbekämpfung besteht in der von der Erfahrung getragenen Tatsache, daß Korruptionsverfahren kaum durch eine Anzeige ihren eigentlichen Anfang nehmen. Korruptionsermittlungen beginnen in der Regel anders. Sie werden aufgrund von Presse- oder Magazinveröffentlichungen, Anfragen politischer Gremien hierzu oder exklusiv oder durch vertrauliche Informationen eingeleitet. Die Angehörigen eines „Korruptionsringes" sind durch ihre vielfach überdurchschnittliche Intelligenz auf eine Nachprüfung ihrer fehlerhaften Verwaltungsgeschäfte und ihrer inzwischen untergebrachten oder ins Ausland transferierten Gewinne von Anfang an vorbereitet. Sie sind mit bis ins einzelne gehenden Verteidigungsvorbringen als plausibel frisierten Erklärungen sowie unvollständigen Akten fast stets auch sofort zur Hand. Korruptionsermittlungsverfahren werden aus den nur kurz angedeuteten Gründen am zweckmäßigsten und rationellsten nicht durch einzelne Kriminalbeamte geführt, vielmehr durch Sonderkommissionen der Kriminalpolizei, die in engem Kontakt mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten (-* „Betrug").

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Kriminaltaktik

IV. KRIMINALTAKTIK AIS KRIMINALPOLIZEILICHES SYSTEM A. Das modus operandi-System 1. Mittel zur Aufklärung von Verbrechen unbekannter Täter Das System modus operandi ist ein büromäßiges Verfahren, entwickelt aus den Erfahrungen der Kriminalpraxis, zu dem hauptsächlichen Zweck, von noch unbekannten Tätern verübte Verbrechen aufzuklären. Der Kernwert des modus operandi im weiteren Sinne liegt im Aufspüren von arbeitsmethodisch kongruenten Tatsituationen eines unbekannten Täters und von solchen eines bereits bekannten Verbrechers, um sodann feststellen zu können: zeitlich und örtlich sind es verschiedene Taten, aber von ein und demselben Täter. Zeigt sich eine Kongruenz mit einem derartigen exakten Ergebnis an, so ist von einer klassischen Identifizierung anhand der individuell-markanten Arbeitsweise oder -technik die Rede. Infolge eines solchen indiziellen Hinweises vom modus operandiSystem aus auf den Täter nehmen nunmehr die weiteren Nachforschungen durch den Sachbearbeiter selbst ihren routinemäßigen Fortgang. Der Verbrecher wird auf Grund seiner eigenen Arbeitsmethode gefaßt, er wird ein Opfer seines eigenen Arbeitsstils. Dieses Aufklärungsverfahren kann als „regressiv" bezeichnet werden. Die büromäßige Auswertung greift zur Aufklärung eines von einem Unbekannten verübten Verbrechens zurück auf bereits früher registrierte Taten einer gleichen, gleichartigen oder mindestens ähnlichen Arbeitsweise eines früher identifizierten und in seiner Person zweifelsfrei festgestellten Verbrechers. In der Praxis der deutschen Kriminalpolizei sind derartige positive Hinweise, die auf einen bereits bekannten Täter aufmerksam machen, nicht allzu zahlreich. Von tüchtigen Kriminalpraktikern wird immer wieder die Forderung erhoben, die Erfolge des modus operandi-Systems zu steigern. Gay bezeichnete bereits im Jahre 1928 den kriminalpolizeilichen Nachrichtendienst als Kernpunkt landeskriminalpolizeilicher Tätigkeit. Nach ihm gehört das richtige Handhaben dieses Nachrichtendienstes zu den elementaren Voraussetzungen einer ordnungsmäßigen und erfolgversprechenden kriminalpolizeilichen Aufklärung. Er rügte, daß diesem System so wenig Verständnis entgegengebracht und es in so mangelhafter Weise angewendet werde, im Gegensatz damals zu den Ländern Württemberg und Sachsen, die den Nachrichtendienst in vorbildlicher Weise aufgebaut hatten und betrieben. Gay ist seitdem unablässig für eine verstärkte Benutzung des kriminalpolizeilichen Nachrichtendienstes eingetreten. Diese Forderung gilt zunächst einmal für die Inanspruchnahme und Ausschöpfung der Möglichkeiten dieses Systems zum Aufklären von Einzel-

taten unbekannter Täter, die einem erkennbaren Arbeitsstil anhängen. Das modus operandi-System ist jedoch bevorzugt für die Aufklärung von Serienverbrechen unbekannter Täter als Hilfsmittel heranzuziehen. Gewöhnlich werden in derartigen Fällen zahlreiche Hinweise auf bereits bekannte Täter gegeben. Bevor es aber zur Überprüfung solcher Hinweise im einzelnen kommt, müssen die kumulierenden Straftaten gleichartiger Begehungsweise unter den Direktiven einer einheitlichen Bearbeitung in einem Komplex zusammengefaßt werden. Die hieraus abzuleitenden Erfahrungen lehren, daß a) nur eine Stelle die Ermittlungen führen darf, selbst wenn die Tatorte der dem Komplex zuzurechnenden Taten sich über mehrere Polizeibezirke erstrecken; b) aufgrund der in der modus operandi-Kartei einliegenden Meldungen über zurückliegende gleichartige kriminelle Taten Unbekannter sämtliche Ermittlungsakten von den Staatsanwaltschaften beizuziehen und nach einheitlichen Gesichtspunkten auszuwerten sind. In diese einheitliche Auswertung werden einbezogen: die Tatortbefundberichte mit den darin beschriebenen Arbeitsweisen; die aus Anlaß einer Rekonstruktion aller Tatortsituationen hierbei zutage getretenen arbeitsmethodischen Auffälligkeiten; die Besonderheiten in der Wahl des Zeitpunktes der Tat (insbesondere bezüglich der Uhrzeit) und des bevorzugten Ortes der Tatbegehung durch den oder die Täter; sämtliche erörterten Kombinationen in Beziehung auf vor allem eine etwa vorhandene technische Fertigkeit oder eine besonders geistig hervorstechende Eigenschaft beim Täter; sämtliche gesicherten Beweismittel in Ansehung auf eine mögliche Spurengleichartigkeit (ζ. B. hinsichtlich der Identität von Schartenspuren durch ein fehlerhaft arbeitendes Werkzeug); die Hinweise auf sämtliche bisher verdächtigen Personen. Diese Verdächtigen sind alle daraufhin neu zu überprüfen, ob sie die in den entsprechenden anderen Fällen gesetzten Voraussetzungen für die Täterschaft erfüllen können. Auf diese Weise gelingt es häufig, den Kreis der bisher Verdächtigen zumindest einzuschränken, was als relativer Fortschritt in der Aufklärung eines solchen Komplexes zu werten sein darf; c) durch ein solches Verfahren einer Auswertung sämtlicher entsprechenden Taten mit übereinstimmender Arbeitsweise schrittweise zu einer relativen Vervollständigung des Bildes vom unbekannten Serienverbrecher und seinem Arbeitsstil zu gelangen ist. Die im Einzelfall möglicherweise vorhandenen, aber bisher zu wenig hervorgetretenen oder zu

Kriminaltaktik gering bewerteten Umstände zur Identifizierung des Täters können infolge einer Vielzahl von koordinierten Einzelfällen und hieraus gezogenen Schlußfolgerungen bessere Ansätze für eine positive kriminalistische Diagnose bieten. Innerhalb eines solchen Abschnitts der Ermittlungstätigkeit gelangt man manchmal überraschend schnell zur Erkennung des Täters. Durch diese Art der Auswertung gewinnt das modus operandi-System erheblich an Wert. In sehr schwierig gelagerten Fällen ist diese Methode oft der einzige Weg, die Aufklärung von Serienstraftaten unbekannter Täter erfolgreich in die Hand zu nehmen. Der Komplex der sogenannten „Autobahnmorde" fällt beispielsweise hierunter mit der Einschränkung, daß die Meinung der Öffentlichkeit, es sei ein Serienverbrechen gewesen, erst maßgebend durch journalistische Publizistik gebildet wurde. Aus dem Gesichtspunkt der „progressiven" Auswertungsmethode wurden insgesamt 20 ungeklärte Frauenmorde im Jahre 1955 auch von zentraler Stelle im Land Nordrhein-Westfalen behandelt. Wenn auch sämtliche Fälle eine befriedigende Aufklärung bisher nicht fanden, wurde doch mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die Feststellung getroffen, daß es den erdachten Typ des „Autobahnmörders" nicht gibt. Vier Morde an Frauen von insgesamt zwanzig, einheitlich u. a. nach Zeit, Tatort, spezialistischer Begehungsweise, vermutlicher Motivlage und Auswahl des Opfers untersuchten Mordfällen sind vorhanden, bei denen in jeweils zwei Fällen einige wenige bestimmte Merkmale für eine übereinstimmende Ausführung der Tat zu sprechen scheinen. Hier einer zweifelsfreien, sich entsprechenden Arbeitsweise vom fachkriminalistischen Standpunkt das Wort zu reden, erscheint zu gewagt. Diese progressive Auswertungsmethode, die zwar sehr schwierig, mühevoll und äußerst zeitraubend ist, die sich vor den Augen der Öffentlichkeit kaum wahrnehmbar abzuspielen pflegt, die auch tunlichst nach außen hin im einzelnen nicht näher erläutert werden sollte und von der in der Kriminalpraxis verhältnismäßig zögernd Gebrauch gemacht wird, hat jedoch zur relativen Aufhellung von echten und vermeintlichen umfassenden und die Bevölkerung stark beunruhigenden Serienstraftaten stets wesentlich beigetragen. 2. Nachweis der spezialistisch-kriminellen Betätigung des Täters Wird ein lokal arbeitender „Autoknacker", kriminalphaenomenologisch also: ein Täter, der parkende Personenkraftwagen mittels Gewaltanwendung „bestiehlt", vorläufig festgenommen, so kann es manchmal innerhalb kurzer Zeit gelingen, diesem Dieb mit Hilfe der entsprechenden Unter-

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lagen aus der modus operandi-Sammlung seine letzte kriminelle Tätigkeit lückenlos nachzuweisen. Dies ist dann möglich, wenn dieser Täter sich bisher einer besonderen Technik beim öffnen der Personenkraftwagen bediente, indem er ζ. B. stets einen bestimmten Autotyp, einen Opel-Kapitän, bevorzugte, hierbei mittels eines schraubenzieherähnlichen (selbstgefertigten) Werkzeuges ein Entlüftungsfenster gewaltsam aufbog und auf diese Weise durch öffnen der Wagentür an die darinliegenden Gegenstände gelangte. Voraussetzung ist ferner, daß sämtliche von einem zunächst nicht bekannten Täter verübten „Einbrüche in Personenkraftwagen" der Kriminalpolizei gemeldet und von ihr entsprechend dem modus operandi des „Autoknackens" ausgewertet worden sind. In einem solchen Fall treten aufgrund charakteristischer, erkennbarer Einzelheiten in der Arbeitsweise sämtliche bisher erfaßten Taten der offenbar gewordenen spezialistisch-kriminellen Betätigung unvermittelt aus dem Hintergrund. Zeit und Ort der bisher vom Tatverdächtigen weder zu- noch angegebenen Verbrechen spielen hier manchmal eine bedeutende Rolle, weil ζ. B. ein dem Täter mißglückter Alibinachweis die in mehreren einschlägigen Fällen begründete Belastung verstärkt. Spezialistisch arbeitende Täter, die bei Ausführung ihrer letzten Tat rein zufällig ergriffen werden konnten, sind insofern stets als stark gefährdet anzusehen, weil nunmehr die bereits lange hinter ihnen liegenden einschlägigen kriminellen Taten aus einer minuziös geführten modus operandi-Kartei durch die Exaktheit ihrer Technik zwingend auf sie hinweisen. Damit können dem über einen Haftantrag entscheidenden Richter Tatsachen unterbreitet werden, die einerseits die Dringlichkeit des Tatverdachtes der geleugneten Taten zu bestätigen vermögen und andererseits die Verdunkelungsgefahr in zureichendem Maße begründen helfen. Die vormalige — entdeckte, aber noch nicht identifizierte — kriminell-spezialistische Betätigung kann sowohl örtlich auftretenden als auch überörtlich arbeitenden Tätern manchmal sofort nach ihrer zufälligen Ergreifung nachgewiesen werden. Einige Großstadtkriminalpolizeien haben gemäß dieser Erkenntnis vielfach aus eigenem Entschluß derartige modus operandi-Teilsysteme für bestimmte Tatengruppen eingerichtet, obschon sie die Funktion als Nachrichtensammelstelle nicht haben. Hierfür kommen Diebstähle aus parkenden PKW, Raubüberfälle mit Hilfe eines weiblichen Lockvogels sowie exhibitionistische Taten u. a. besonders in Betracht. Nach Ergreifung der überörtlich arbeitenden Täter sollen auch die Hinweise aus den modus operandi-Sammlungen der Landeskriminalämter oder des Bundeskriminalamtes folgen. Auf diese Weise wird ein über ein Land hinaus arbeitender

Kriminaltaktik

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Spezialist, wenn er der Kriminalpolizei in die Hände fällt, auf Mitbeteiligung an einschlägigen, seinem Arbeitsstil entsprechenden Verbrechen untersucht. In gleicher Weise ist bei zwischenstaatlich auftretenden festgenommenen Tätern, ζ. B. bei internationalen Einbrechern, Taschenund Trickdieben, Scheckbetrügern u. ä., zu verfahren. Der schweizerische Staatsangehörige A. R. schrieb im Dezember 1955 an einen Direktor einer großen Versicherungsgesellschaft in Köln einen Brief aus Belgien unter dem Pseudonym „ARGUS", in dem er die Veröffentlichung eines Aufklärungswerkes, „Moderne Alchemie" ankündigte, an dem eine Gruppe von sechs russischen Wissenschaftlern arbeite. Die Verbreitung dieses Werkes in der Öffentlichkeit würde katastrophale Auswirkungen für die gesamte Versicherungswirtschaft hervorrufen, so argumentierte der Pseudonyme Verfasser. Er sei in der Lage, das Erscheinen dieses Werkes zu verhindern, fordere jedoch eine Überweisung von 288000,— DM und für seine vermittelnde Tätigkeit 28800,— DM. Er verlangte am 3. Januar 1956 einen telefonischen Bescheid. Es gelang „ARGUS", der von London aus in Köln angerufen hatte, eine Falle zu stellen. „ARGUS" konnte schließlich in Antwerpen identifiziert und später in Braunschweig verhaftet werden. Er galt nach kriminalphänomenologischer Bestimmung zunächst als „internationaler Drohbriefschreiber". Belgien, England, Österreich und die Schweiz wurden durch das BKA in Wiesbaden über seine Arbeitsweise unterrichtet. Aus der modus operandi-Kartei in Bern gelangte eine Anfrage nach Köln, worauf Originalschriftproben nach Bern als Vergleichsmaterial versandt wurden. Später stellte sich allerdings ein Zusammenhang mit den an Persönlichkeiten in Bern gerichteten erpresserischen Briefen nicht heraus. Dieser Modellfall demonstriert, wie auf dem internationalen kriminalpolizeilichen Arbeitsfeld die nationalen modus operandi-Dienste ineinandergreifen. Auf diese Weise werden zum Nachweis bisheriger kriminell-spezialistischer Betätigung die nationalen modus operandi-Sammlungen herangezogen, falls ein Täter sich auch außerhalb der Bundesrepublik verbrecherisch betätigt haben könnte. 3. Diagnostizierung

des

Tätertyps

Am Tatort oder bei sonstiger Erforschung des Sachverhalts wird dem Kriminalpraktiker nicht selten die Frage begegnen, welchem kriminologischen Typ innerhalb der in Betracht kommenden kriminellen Tat der oder die Täter angehören. Nach den allgemeinen kriminalpraktischen Erfahrungen ist es nicht immer möglich, eine zuverlässige Antwort zu erteilen. Fundierte Kenntnisse über den jeweiligen modus operandi selbst sind

erforderlich. Diese werden es im allgemeinen dem sachkundigen Beurteiler rasch ermöglichen, aus der Arbeitsweise einen Gelegenheitstäter, Berufsoder Triebverbrecher und dessen spezielle Richtung zu erkennen. Das Sichbefassen mit dem umfassenden Katalog verbrecherisch - spezialistischer Arbeitsmethodik schärft den Blick, eine kriminelle Situation für das modus operandi-System zuverlässig beurteilen und klassifizieren zu können. Eine solche Klassifizierung kann einen anonymen Täter manchmal überraschend schnell typisieren und damit die entscheidende Richtung für die zu treffenden Aufklärungshandlungen — manchmal bereits im Rahmen des ersten Angriffs — weisen. 4. Vorbeugende

Wirkungen

Kritisch wird die Situation für die Ermittlungsarbeit dann, wenn kriminelle Taten der gleichen Arbeitsweise eines noch unbekannten Täters sich fortgesetzt wiederholen. Die mit der Aufklärung befaßte Stelle ist alsdann meistens gehalten, Maßnahmen auch vorbeugender Art zu erwägen und durchzuführen. Hier stehen häufig zu ein und demselben Zeitpunkt Fahndungsmaßnahmen aus strafprozeßrechtlichen Gründen mit den Forderungen aus der präventiv-polizeilichen Verpflichtung in Wettbewerb und damit in einem scheinbar gegensätzlichen Verhältnis zueinander. Manchmal sprechen starke Momente für die Wahrscheinlichkeit, den oder die Täter im Augenblick der nächsten sich wiederholenden Tat ergreifen zu können. Dem Verlangen, zu verhindern, daß beispielsweise weitere Personen verletzt werden, gebührt andererseits oftmals im Rahmen der Güterabwägung der Vorrang. Daher entschließt man sich meistens zur Veröffentlichung von Warnungen an die Bevölkerung oder an bestimmte Personenkreise. In solchen Fällen wird die Arbeitsmethodik eines Täters der Öffentlichkeit preisgegeben werden müssen. Hierbei wird die Möglichkeit, daß der Verbrecher seine Arbeitsweise variiert, sie wesentlich abändert, oder daß der Täter vorerst einmal untertaucht, in Kauf genommen werden müssen. Die Lösung des Einzelfalles in der Praxis richtet sich meistens nach dem Leitsatz, daß der polizeiliche Schutzgedanke für kurze Zeit das Erfordernis sofortiger Verfolgung überwiegen kann. Die Erfahrungen der Kriminalpraxis aber lassen merkwürdigerweise erkennen, daß berufs- oder gewohnheitsmäßig sich betätigende Verbrecher durch veröffentlichte Warnrufe von ihrem Beharrungsstreben, die Arbeitsweise zu wiederholen, sich kaum abbringen lassen. Die Frage, ob im Hinblick auf Verbrechensuntersuchungen generell eine Veröffentlichung der Arbeitsmethodik Schaden anrichten könne, oder ob eine Veröffentlichung sich für präventive Zwecke günstig auswirke, kann erst dann befrie-

Kriminaltaktik digend beantwortet werden, wenn untersucht wird, in welchen Kreisen der oder die Täter ihre Opfer suchen. Ein derartiger vom Täter bevorzugter Kreis von Personen kann auf internen Wegen gewarnt werden, ζ. B. auf dem Weg über eine Interessengemeinschaft. In diesen Fällen kommt eine Veröffentlichung der Warnung an alle in Fortfall. Der Warenschwindler mit Deputatkohlen Heinrich R. aus Dasing/Bayern reiste im Jahre 1949 nach einem „Arbeitsplan" von Süddeutschland nach dem Ruhrgebiet und dem Rheinland, ohne seine Arbeitsmethode irgendwie zu verändern. Die Geschädigten waren Kohlenhändler. Sie gaben vertrauensselig Vorschüsse für angekündigte Lieferungen. In einem Rundschreiben eines Kohlenhändlerverbandes wurden der Arbeitstrick und die vermutliche Reiseroute des R. signalisiert. Dies geschah auf kriminalpolizeiliche Veranlassung. Grund war der gleichbleibende modus, aus dem man auch seine Reiserichtung folgern konnte. Hierauf veranlaßte ein gewarnter Kohlenhändler bei erneutem Auftreten in der Nähe von Köln die Festnahme des Bergmannes R. aus Dasing. Mannigfache eindrucksvolle Beispiele aus der alljährlichen Praxis gut geführter Nachrichtensammelstellen der Kriminalpolizei ließen sich hier anschließen. Solche Warnungen, vor allem vor Hoteleinmieteschwindlern, vor Trickdieben u. a., erfolgen vielfach in den Fachblättern der Innungen, Berufsverbände und ähnlicher Organisationen. Das wesentliche Kennzeichen für die warnende Wirkung sind nicht so sehr Personenbeschreibung und bekanntgegebene falsche Namen, es sind vielmehr eigentypische Kernmerkmale des arbeitsmethodischen Auftretens, beispielsweise die schwindelhafte Erzählung. 5. Der modus operandi

in der

Weiterentwicklung

Kenntnisse und Erfahrungen über die spezialistische Arbeitsweise der Verbrecher sind von bedeutsamem Wert, insbesondere für die Ausbildung des kriminalpolizeilichen Nachwuchses. a) Das Studium der speziellen Methoden in der englischen Kriminalpolizei auf diesem Gebiet läßt erkennen, daß aus dem so stark differenzierten englischen modus operandi-System wertvolles Anschauungsmaterial zu Lehrzwecken gewonnen wird. Der deutschen Kriminalpolizei ist eine so weitgehende Auswertung zwar bekannt, sie nimmt sie jedoch routinemäßig nicht vor. In den Jahresberichten der METROPOLITAN POLICE in London registriert man beispielsweise Häufigkeit und Arten des Einsteigens (Einbrechens) in Wohn-, Geschäfts- und Warenhäuser, um hieraus Erkenntnisse zunächst in allgemeiner Hinsicht zu

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gewinnen und dann in concreto praktische Hinweise über Vorkommen und Häufigkeit verschiedener Methoden im Einsteigen oder Einbrechen herauszuarbeiten. Als Nutzanwendung sei am Rande bemerkt, daß bei der Zentrale der englischen Kriminalpolizei der Erkennungsdienst und das statistische Büro enger zusammenarbeiten, als dies bei den Kriminalpolizeien im Bundesgebiet im allgemeinen üblich ist. Eine solche erkennungsdienstlich-statistische Arbeitsweise nach dem Vorbild von Scotland Yard ist vor allem auch eine Frage der personellen Möglichkeiten. Aus den Unterlagen eines zurückliegenden Jahresberichtes der METROPOLITAN POLICE soll eine englische Methode der Demonstration über die Ausführungsarten des „Einbrechens in Wohnund Geschäftshäuser" („housebreaking and burglary") dargelegt werden. Die Engländer zeigen hierbei mit Vorliebe Schaubilder, die optisch sehr wirkungsvoll sein können. In den angeführten Beispielen handelt es sich um die Arten des Einbruchs (Einsteigens) in ein Wohn- und in ein Warenhaus. aa) Übersicht über die Modalitäten und ihre anteilmäßige Häufigkeit des Einsteigens und Einbrechens in ein Wohnhaus in Groß-London aufgrund der erfaßten Anzahl verübter schwerer Diebstähle in einem Jahr. Sie wurden verübt 1. in 39,4% der Fälle an der Hinterfront des Hauses, davon durch das Fenster in 30,3%, durch die Tür in 9,1% der Fälle; 2. in 32,8% der Fälle an der Vorderseite des Hauses, davon durch die Tür in 22,4%, durch das Fenster in 10,4% der Fälle; 3. in 10,2% der Fälle an der Hausseite; 4. in nur 4% der Fälle über das Dach durch das Bodenfenster; 5. in 13,7% der Fälle durch andere Arbeitsweisen, die zu differenziert sind, als daß sie in dieser Art der Betrachtung hervorgehoben werden sollen. bb) Die entsprechende Übersicht über die Modalitäten des Einsteigens und Einbrechens in ein Warenhaus stellt sich wie folgt dar: 1. in 41% der Fälle an der Vorderseite des Geschäftshauses, davon durch das Fenster in 21,9%, durch das Tor in 19,1% der Fälle; 2. in 25,1% der Fälle an der Rückseite, davon durch das Fenster in 16,4%, durch Tore in 8,7% der Fälle;

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3. in 9% der Fälle über das Dach des Warenhauses ; 4. in 8,3% der Fälle an der Seite des Geschäftshauses ; 5. in 16,6% der Fälle durch andere Methoden (wie Zerschneiden der Gitter, durch Nachschlüssel u. a. m.). Aus solcher Art kriminalistischer Darstellung lassen sich vor allem mannigfache Möglichkeiten für vorbeugende Maßnahmen gewinnen. Sie gliedern sich in richtungweisende Erkenntnisse für die zuständigen Sachbearbeiter der Beratungsstelle zum Schutze gegen Einbruch, Maßnahmen zur Unterweisung des uniformierten Streifendienstes in seiner modernen Form als motorisierter Revierwachdienst und zur Schulung des Nachwuchses der Kriminalpolizei. b) Die fototechnische Entwicklung weist den kriminalistischen Demonstrationen aus den Erkenntnissen über das Wesen des modus operandi neue Wege. Das frühere Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) in Berlin befaßte sich bereits mit der Herstellung von Schmalfilmen u. a. über spezialistische Arbeitsmethoden des Einbrechens zu Zwecken der kriminalistischen Schulung, verbunden mit einer einprägsamen Darstellung über die historische Entwicklung des Schlosses. Insoweit wurden die besonderen Arten der Ausführung bestimmter Taten der kriminellen Praxis abgesehen und im Film archiviert. Dadurch entstand der durch Film dokumentierte modus operandi. Hier ist auch der vom Generalsekretariat der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation kontrollierte und herausgegebene Film über Geldfälschungen zu nennen, der im Oktober 1954 auf der Generalversammlung (XXIII.) der IKPK in Rom in einer englischen, französischen, spanischen und deutschen Fassung zur Vorführung kam und szenisch wie stofflich ungeteilte Zustimmung erhielt. Dieser Film zerfällt in drei Teile, von denen der erste die von Geldfälschern angewandten Arbeitsweisen zeigt, der zweite die Organisation der Fälscherbanden und den modus bringt, nach dem Falschgeld verbreitet wird, während der dritte Teil die polizeiliche Methodik der Bekämpfung im einzelnen darstellt. c) Mit fortschreitender Entwicklung, insbesondere durch bessere, zeitgemäßere Ausrüstung der deutschen Kriminalpolizei, werden diese durch Film fixierten modi operandi nicht mehr allein im Vordergrund stehen. Es wird bereits bei der deutschen Kriminalpolizei vereinzelt der Versuch unternommen, in außergewöhnlichen Fällen charakteristischer Arbeitsweisen die Technik des Täters mit seinem Einverständnis filmisch festzuhalten; einerseits aus Gründen der Demonstration, andererseits zur Registrierung und späteren möglichen Identifizierung ausgefallener, aber be-

sonders subtiler Arbeitsweisen von einschlägigen Taten durch zunächst noch unbekannte Verbrecher. Hier ist die Technik des Banknotenfälschers Peglow und das vom Landeskriminalamt Niedersachsen gewählte Verfahren anzuführen. Karl Peglow war die Hauptperson einer kleinen Fälscher- und Verbreitergruppe, die in der Zeit von September 1951 bis April 1955 vornehmlich in den Ländern Niedersachsen und NordrheinWestfalen tätig war, Falschnoten zu 10,— und 20,— DM erzeugte und im Nennwert von etwa 50000,— DM verbreitete. Es handelt sich um einen — von der technischen Fertigung her gesehen — Notenfälscher von Format, der sich auch mit dem Problem der Herstellung von Dünndruckpapier und dem Druck der Falschnoten im Schnellpreßverfahren beschäftigt hat. Sein Lebenslauf ist genau so interessant wie seine Methode zur Erzeugung des Untergrundmusters, der Guillochen und Seriennummern. Die in Hameln sichergestellten Gerätschaften für seine „Produktion" und die Materialien hierzu wurden nach Hannover transportiert und die gesamte Fälscherwerkstatt wieder aufgebaut. Peglow hat, während er in Untersuchungshaft saß, die einzelnen Arbeitsvorgänge der Falschgeldherstellung bereitwillig — nicht ohne selbstgefälligen Stolz — vorgeführt. Sie sind im Film festgehalten worden, einmal aus dem Gesichtspunkt der Fixierung „seines Arbeitsstils", zum anderen zu Lehrzwecken. Eine Tonbandaufnahme erläutert die speziellen Arbeitsvorgänge. Die Auswertung von Tonbandaufnahmen geständiger Serienstraftäter entwickelt sich in zunächst noch experimentellem Umfange zu einem durchaus geeigneten „fachkriminalistischen Unterrichtsmittel" von zunehmender Bedeutung, um die Arbeitsweise in wissenswerter, detaillierter Form lebendig, lebenswahr und nachhaltig zu erläutern, und zwar in einer Weise, die der Täter selbst nur kennt. Aufgrund solcher Demonstrationen wird das Verfahren zum Registrieren und Klassifizieren der angewandten Technik und des Arbeitsstils im einzelnen verfeinert. Damit wird gleichzeitig der Blick für eine treffsichere Erkennbarkeit einer Spezialmethodik auf einzelnen Gebieten verbrecherischen Arbeitens besser geschärft. d) Die US-amerikanische modus operandi-Systematik dagegen erscheint uns stark simplifiziert. Dieses System nimmt beispielsweise allein die Komponente „verbrecherische Energie" zum Maßstab charakteristischer Merkmalskennzeichnung. Die praktisch eingestellten Amerikaner sammeln alle jene Unterlagen über kriminelle Täter mit besonders hervortretender verbrecherischer Energie in einem besonderen Register, ungeachtet einer Einordnung in die kriminologisch aufgegliederte Verbrechensgruppe. Scheinbar durchbrechen sie hiermit den Grundsatz von der Per-

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Kriminaltaktik severanz des Verbrechens. In Wirklichkeit aber erklären sie damit die „kriminelle Aktivität" zu einem Indiz mit perseverantem Charakter. In gleicher Weise lassen diese amerikanischen Polizeifachleute einen Blick für das Praktische erkennen, wenn sie außer den Einzelaufnahmen von einer zusammengehörigen Verbrechergruppe „team" - Aufnahmen fertigen und so eine „Kolonne" oder „Bande" in ihrer speziellen kriminellen Funktion personenbildlich demonstrieren. Das hat Wirkungen in zweifacher Hinsicht: auf den Kriminalpraktiker als Ermittler und auf die in die Sammlung Einsicht nehmenden Zeugen und Geschädigten oder Verletzten. Für seine Recherchen hat der Detektiv in den USA ( = Kriminalbeamter) eine breitere und damit bessere Grundlage, weil seine Kombinationen vielseitige bildliche Hilfen erhalten. Dem in die modus operandiKartei Einsicht nehmenden Überfallenen beispielsweise können bei der bildlichen Vorführung von Räubergruppen in bezug auf ihre personelle Zusammensetzung und ihre jeweiligen charakteristischen Körper- und Kleidungsattribute in der bildlichen Darstellung Vorgänge in Erinnerung treten, die beim Betrachten der Einzelaufnahmen nicht ohne weiteres zum Bewußtsein kommen, weil sie nur separate Erinnerungsbilder entstehen lassen, aber wenig assoziativen Charakter aufweisen. Der Denk- und Wiedererkennungsprozeß im Lichtbildvorlageverfahren beispielsweise beim deutschen Zeugen, der — vor die gleiche Situation gestellt — anhand der Einzellichtbilder die Täter wiedererkennen soll, ist nicht unerheblich komplizierter. Die Amerikaner wählen auch hier eine Art, die vom Standpunkt des Betrachters weniger Anforderungen an das Erinnerungsvermögen stellt. Sie legen Gruppenkompositionen vor. Hier ist noch auf eine weitere Neuerung im Lichtbildvorlageverfahren einzugehen. Soweit nämlich Lichtbilder von Verbrechern in Vollansicht (Ganzaufnahmen) zur Vorlage kommen, werden sie den Zeugen und Geschädigten (Verletzten) als farbige Diafotos (color transparencies) in einem Projektor vorgeführt. Die realative Farbechtheit derartiger Farbdias in bezug auf eine charakteristische Farbe der Haut, der Augen und des Haares, ζ. B. naturechter Strähnen verschiedenfarbigen Haares, insbesondere aber auch hinsichtlich spezifischer Bekleidungsattribute, die mit der Wiedergabe erst plastisch hervortreten, kann hierbei zu besseren Wiedererkennungsergebnissen führen. In diesem Zusammenhang braucht nichts mehr über die allgemeinen Vorteile der Farbfotografie gegenüber der Schwarz-Weiß-Fotografie gesagt zu werden. Der New Yorker Polizeierkennungsdienst hat mit der Einführung dieses Verfahrens die entsprechenden Verbrecherlichtbilder durch farbige Ganzaufnahmen ersetzen lassen, was für eine positive Beurteilung spricht. Das US-amerikanische

modus operandi-System hat somit in dieser speziellen Richtung durch die Fortschritte der Fotografie eine wesentliche Unterstützung erhalten. Mit solcher Planmäßigkeit wenden die deutschen Erkennungsdienste die Color-Fotografie zu Agnoszierungszwecken bisher nicht an. Typisch für die Konstruktion des US-modus operandi ist die diesem System innewohnende Mehrzweck-Form. Das System dient: aa) der Identifizierung unbekannter Täter aufgrund einer Methodenregistrierung und eines Methodenvergleichs; es ist sein Hauptzweck; bb) der Wiedererkennung von kriminellen Tätern anhand von Lichtbildern aus der Verbrecherlichtbildsammlung; damit dient es einem speziellen Nebenzweck; cc) der Fahndung nach gesuchten Straftätern. Die Verquickung dieses Zweckes mit der modus operandi-Einrichtung ist für die konservativen Systeme außergewöhnlich. Die mit Lichtbild versehenen Karteikarten in der modus operandi-Abteilung tragen einen roten Reiter ( = red tab attached to the card bearing their picture) als Kennzeichen dafür, daß diese Personen zur Festnahme ausgeschrieben sind. Zweifellos ist das amerikanische System praktisch. Eine einzige karteiliche Einrichtung dient dreifachen Zwecken. Nach der herkömmlichen englischen und deutschen Entwicklung gibt es hierfür drei getrennte Karteisysteme. Filmbänder treten neuerdings in den USA an die Stelle der Diapositiv-Sammlungen über registrierte Verbrecher. 6. Die

Verbrecherperseveranz

Bei der bisherigen Behandlung des modus operandi als ein in der Kriminalpraxis angewandtes Auswertungssystem wurde unterstellt, daß im besonderen der verbrecherische Arbeitsstil von beharrlichem Charakter ist, ansonsten wäre es ohne Wert, ein System eigens hierfür aufzubauen. Es ist aus jahrzehntelangen Erfahrungen im Umgang mit Kriminellen herzuleiten, daß die insbesondere im berufs-, gewohnheits- und triebmäßigen Verbrechen sich entäußernde Methodik der Ausführung betont ausdauernde Züge aufweist. Dieses eigentümliche Beharrungsstreben, Verbrechen mit gleichartiger eigentypischer Technik zu wiederholen, mit derselben handwerklichen Eigenart oder mit der gleichen körperlichen Gewandtheit zu begehen oder nach einem individuell-typischen geistigen Plan immer wieder durchzuführen, tritt besonders augenfällig hervor. Diese Erscheinung wird Verbrecherperseveranz genannt. Auf deren charakteristische Züge gründet sich das System des modus operandi. Seit Heindl sind auf diesem Gebiet SpezialVeröffentlichungen lange Zeit nicht

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Kriminaltaktik

mehr erfolgt. Erst in den letzten Jahren nahmen zu dieser Frage der Untersuchung der Verbrecherperseveranz andere Autoren in monographischen Arbeiten Stellung. B . Methodik der kriminalpolizeilichen Fahndung 1. Fahndung allgemein Zur grundsätzlichen Seite: Seit den dreißiger Jahren hat sich das kriminalpolizeiliche Fahndungswesen in technischer und inhaltlicher Art häufig verändert. Wir stehen in der Gegenwart an der Schwelle einer neuen grundsätzlichen Veränderung des Fahndungswesens in der Bundesrepublik. Sie dürfte in Zukunft durch die eingesetzten technischen Mittel (beispielsweise Fernschreib- oder Telex-System in Verbindung mit Anlagen der elektronischen Datenverarbeitung, Fernsehstationen und -empfänger für interne Polizeizwecke, ferner durch Verwendung von polizeieigenen Hubschraubern mit Sprechfunk und Filmkamera) bestimmt werden. Ansätze hierzu sind bereits vorhanden. Auch ist das kriminalpolizeiliche System der konventionellen Fahndung nach gesuchten Personen und Gegenständen durch eine die Polizeigewalt einschränkende Tendenz gekennzeichnet infolge der auch auf diesem Gebiet sich äußernden Liberalisierung im rechtsstaatlichen Denken. Es bedarf hierbei allerdings der Beobachtung, daß das Leben der Staatsbürger durch die gewonnene (ungebundenere) Freiheit nicht gewissen Unsicherheiten durch Elemente kriminellen Ursprungs ausgesetzt ist. Eine stark vertretene Meinung aus Kreisen der Kriminalpraxis weist demgegenüber beispielsweise darauf hin, daß die (fast totale) Aufhebung der Kontrolle durch die Fremdenmeldezettel infolge der teilweisen und unterschiedlichen Änderung der Meldegesetzgebung in den Bundesländern zu nachteiligen Rückwirkungen auf dem Gebiet der kriminalpolizeilichen Fahndung nach wegen Verbrechen und Vergehen gesuchten Personen geführt hat. Über diese interessanten Probleme unterrichten die im Schrifttumsnachweis besonders herausgestellten Aufsätze und Abhandlungen. 2. Fahndung nach Personen Die systematisch betriebene kriminalpolizeiliche Fahndung unterscheidet zwischen Aufspüren von gesuchten Personen und Sachen. Die Personenfahndung ist unterteilt in eine Fahndung nach dem Täter zur vorläufigen Festnahme und aufgrund eines Haft- oder Unterbringungsbefehls gemäß §§ 127 Abs. 2,112 ff. StPO, beispielsweise in einem gerade verübten und entdeckten Kapitalverbrechen (siehe auf Seite 94.), nach wichtigen Zeugen zur Aufenthaltsermittlung aufgrund § 163 Abs. I StPO und nach Personen (zur Verbringung in Strafhaft) aufgrund erlassener Steckbriefe nach §§ 131,457 StPO. Es gibt alsdann noch polizeiliche

Fahndungen nach flüchtigen Geisteskranken und entwichenen Fürsorgezöglingen aufgrund besonderer Gesetze. Hier steht die kriminalpolizeiliche Fahndung nach flüchtigen Straftätern im Mittelpunkt. Diesem Zweck dient u. a. das polizeiliche Fernschreib- und Funknetz. Es ist das für unverzügliche und zuverlässige Fahndung unentbehrliche Nachrichtenübertragungsmittel. Sein System der Dringlichkeitsstufen gewährleistet eine sofortige Durchgabe unter Hintansetzung weniger wichtiger Fernschreiben (FS) und Funksprüche. Die FSFahndung „an alle Polizeibehörden mit FS-Anschluß im Bundesgebiet" gilt als das modernste Fahndungsmittel, soweit der FS-Inhalt auch eine geeignete Grundlage zu einer sofortigen zweckdienlichen Bearbeitung bietet. Der FS-Verkehr der Polizeibehörden untereinander hat innerhalb der letzten zehn Jahre an Umfang immens zugenommen, so daß Fachleute der Kriminalpolizei in Anbetracht der täglichen Flut von Fernschreiben, die sich in Fahndungsangelegenheiten über eine großstädtische Kriminalabteilung ergießt, die Besorgnis äußern, ob durch Mißbrauch von Dringlichkeitsstufen der an sich ausgezeichnete Fahndungswert dieser Einrichtung nicht verlorengehe. Es würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen, wollte man dieses ernste nachrichtentechnische Problem für die Kriminalpolizei eingehend darstellen. Die FS-Flut kann man wohl kaum durch ministerielle Anordnungen eindämmen, weil das FS sich zum zeitgemäßen Fahndungs- und Nachrichtenmittel entwickelt hat. Vielmehr wird man zu neuen Formen der Kategorisierung und Auswertung durch einen zentralen Büro- und Auswertungsdienst beim Empfänger kommen müssen. Nach überwiegender Fachansicht sollten die FSZentralstellen die Landeskriminalämter sein. Die FS-Fahndung führt fortgesetzt zu erfolgreichen Zugriffen vor allem flüchtiger überörtlicher Täter. Der Delinquent selbst rechnet im allgemeinen nicht mit einem so raschen Funktionieren des polizeilichen Fahndungssystems. Ein „blitz"-Fernschreiben von Düsseldorf nach München unterbricht augenblicklich sämtlichen auf dieser Leitung sich abwickelnden normalen Polizei-FS-Verkehr und gibt in kürzester Zeit die Möglichkeit, einen ζ. B. wegen ungesetzlichen Rauschgifthandels dem Flugplatz München zustrebenden, dringend tatverdächtigen Ausländer rechtzeitig vor dem Abflug abfangen zu können. Selbstverständlich ist mit der Anordnung einer solchen außerordentlichen Maßnahme eine hohe Verantwortung verknüpft, mit der der Leiter der Kriminalpolizei in jedem Fall belastet werden muß. In immer stärkerem Maße arbeiten die in der Interpol- Organisation zusammengeschlossenen Staaten, vornehmlich diejenigen in Europa, miteinander. Aus der Zunahme des Schriftverkehrs

Kriminaltaktik untereinander, der sich aus gesetzlichen Gründen ausschließlich über das Bundeskriminalamt abwickelt und von Wiesbaden aus an sämtliche Landeskriminalämter sich richtet und auch von letzteren ausgeht, ist herzuleiten, daß die Verflechtungen der nationalen Kriminalpolizeibüros untereinander (das ist für die Bundesrepublik das Bundeskriminalamt in Wiesbaden) durch das internationale Verbrechertum sich enger gestalten. So ist aus dem Jahresbericht des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen zu entnehmen, daß die Interpol-Ersuchen (die allerdings nicht sämtlich fahndungsmäßiger Art waren) von 1961 mit 1778 Ersuchen auf 3684 im Jahre 1964 anstiegen. Nach der gleichen Quelle erhöhte sich im Jahre 1964 die Zahl der eingehenden Fahndungsschreiben (Fernschreiben) von 16500 auf 52300. Die Relation dürfte in anderen Bundesländern — außer den Stadt-Staaten — ähnlicher Art sein. a) W e i t e r e k r i m i n a l p o l i z e i l i c h e Möglichkeiten, aa) Die Fahndungskartei ist das wichtigste Fahndungsmittel der Kriminalpolizei nach gesuchten Personen. Diese Kartei, die in bestimmten Bundesländern nach organisationsrechtlichen Gesichtspunkten eingerichtet ist und die im Umfang und Inhalt der des Bundeskriminalamtes voll entspricht, kann jederzeit Auskunft an Polizeidienststellen darüber erteilen, ob eine bestimmte Person zur Festnahme gesucht wird. Inhalt, Einteilung, Geltungsdauer und Grundsätze der Auswertung sind in allen Bundesländern und beim Bundeskriminalamt in gleicher Weise geregelt. Daneben gibt es noch weitere Möglichkeiten, Personen zur Festnahme vormerken bzw. nachprüfen zu lassen: die kriminalpolizeilichen Spezialkarteien, wie Spitznamen-, Decknamen·, Merkmalskarteien u. a., die Einwohnerkarteien der Meldebehörden, die Strafregisterbehörden u. a. bb) Das Deutsche Fahndungsbuch (DFB) ist eine namentliche Veröffentlichung in abcFolge der zur Verhaftung (oder vorläufigen Festnahme) gesuchten Personen. Anhand des DFB werden aufgegriffene Verdächtige oder aus anderem polizeilichen Anlaß überprüfte Personen als gesuchte Täter festgestellt und dem Richter oder der Strafvollstreckung zugeführt, cc) Jedes Landeskriminalamt gibt für seinen Landesbereich ein Landeskriminalblatt mit Bekanntmachungen kriminalpolizeilichen Inhalts heraus; in entsprechender Weise geschieht das für das gesamte Bundesgebiet durch das Bundeskriminalblatt. Solche Veröffentlichungen dienen insbesondere der Aufklärung von Straftaten, dem Erkennen von Tatzusammenhängen und der Fahn-

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dung nach gesuchten Straftätern sowie der Ermittlung vermißter Personen und noch anderen Zwecken. Auch Aufenthaltsermittlungen sind in diesen gedruckten, periodisch oder nach Bedarf erscheinenden Blättern vermerkt. Sämtliche Polizeibehörden sind gehalten, sie auszuwerten. Auf diese Weise entsteht ein dichtes Netz von Dienststellen mit verpflichtenden Fahndungsaufgaben, dd) Personen, deren Aufenthalt aus bestimmten kriminalpolizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen u. a. Anlässen gesucht wird, ζ. B. Personen, die zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe (Ersatzfreiheitsstrafe) von weniger als 2 Wochen gesucht werden, sind unter ihrem Namen in der Aufenthaltsermittlungsliste für den polizei- und meldebehördlich internen Gebrauch zu veröffentlichen. ee) Ferner gibt es Möglichkeiten der ö r t l i c h e n Fahndung auf polizeiinternem Wege: So ist beispielsweise die Bekanntgabe der Namen und Lichtbilder von gesuchten Personen zu Fahndungszwecken an sämtliche Kriminalbeamte innerhalb des großstädtischen Dienstbereichs in den Dienstversammlungen der Kriminalbeamten (auch kriminalpolizeiliche Frühbesprechungen genannt), die im allgemeinen zweimal wöchentlich stattfinden, häufig von ausgezeichnetem Fahndungserfolg. Bei der New Yorker Polizei (Police Department City of New York) laufen zur Zeit Fernsehvorführungen festgenommener Tatverdächtiger für polizeiinterne Zwecke auf einem bestimmten Fernsehkanal, die an sämtliche Fernsehempfänger auf den Polizeistationen von New York ausgestrahlt werden, mit dem Ziel der Anfrage, ob diese Personen noch zu anderen Ermittlungsvorgängen gesucht werden, b) Die I n a n s p r u c h n a h m e der Ö f f e n t l i c h k e i t d u r c h die k r i m i n a l p o l i z e i l i c h e F a h n dung. Die Frage der Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Fahndung nach einer gesuchten Person ist nicht immer einfach zu beantworten. Mitfahndungsersuchen an die Bevölkerung unterrichten auch den flüchtigen Täter und möglicherweise die der Kriminalpolizei noch unbekannten Täter über die kriminalpolizeilichen Fahndungsziele. Daher müssen den Entschließungen, mit der Fahndung in die Öffentlichkeit zu gehen, reifliche Überlegungen vorausgehen. Als Fahndungsmaßnahmen zur Unterrichtung der Öffentlichkeit kommen in Betracht: Veröffentlichung in der Tagespresse, unter bestimmten Voraussetzungen in Rundfunk und Fernsehen. In schwierigen Fahndungsangelegenheiten hat sich die Veröffentlichung in der Fachpresse als ein wirksames Hilfsmittel erwiesen, insbesondere bei der Fahndung

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Kriminaltechnik

nach Sachen, wie ζ. Β. nach Kunstwerken, nach der Herkunft eines bestimmten Reparaturzeichens in einer Uhr (Uhrmacherzeichen) zwecks Identifizierung eines unbekannten Toten. In Mordsachen beispielsweise hat es sich wiederholt als wirkungsvoll erwiesen, im Wege von Postwurfsendungen Haushaltungen eines bestimmten Bezirks einer Großstadt auf Einzelheiten eines Tatherganges zu einer bestimmten Uhrzeit anzusprechen und zu Fahndungszwecken, ζ. B. nach dem unbekannten Mörder einer Geschäftsfrau, um Mitteilung hierüber zu bitten. Zahlreiche Mordfälle konnten durch die auf diese Weise erhaltene Mitarbeit der Bevölkerung schon aufgeklärt werden. Bildvorführungen im Reklameteil von Kinovorstellungen und eine Ausstellung von Beweismitteln, ζ. B. der am Tatort zurückgelassenen Mütze des Täters u. ä., sind geeignete Hilfsmittel für Fahndungszwecke. Immer wieder sind — vor allem bei völlig negativen Ergebnissen — Wiederholungen solcher Veranstaltungen der Kriminalpolizei geboten, allein auch schon aus der leider nicht vereinzelt feststellbaren Gleichgültigkeit, mit der in der Bevölkerung solchen Veröffentlichungen oftmals begegnet wird. Wiederholungen scheinen psychologisch erklärbare Eigenantriebe zur Mitarbeit an der Aufklärung auszulösen. Auch tritt der Umstand hinzu, daß oft nach Tagen erst zeitlich zurückliegende Ausgaben der bezogenen Tageszeitungen gelesen werden. Erfahrungen lehren, daß sogar erst eine mehrfache Wiederholung der Meldung über die Tateinzelheiten das Interesse anregt, den Sachverhalt auf der Straße oder im Familienkreise eingehend zu erörtern. Hierbei ergeben sich alsdann Anlässe, die Kriminalpolizei über verdächtig erscheinende Personen zu informieren. Eine moderne Kriminalpolizei hat auch eine psychologisch durchdachte Fahndungstaktik zu betreiben. 3. Fahndung nach Sachen Der Laie vermag sich von der Einrichtung einer Sachfahndung nicht immer eine dem Zweck entsprechende Vorstellung zu machen. Eine unendliche Vielzahl von Gegenständen aus Straftaten wird stets gesucht. Es sind dies entwendete Aktentaschen aus Kraftwagen mit persönlichen wertvollen Aufzeichnungen, Herren- und Damenarmbanduhren aus Geschäftseinbrüchen, wertvolle Schmuckstücke aus einem Raubüberfall, gestohlene Schreib- und Rechenmaschinen aus Büros, wertvolle Orientteppiche aus Villeneinbrüchen u. a. m. Bei einem Kapitalverbrechen, ζ. B. einem Mord, wird öfters aus einer Laune ein vielleicht gar nicht besonders wertvoller Gegenstand, beispielsweise ein Ring mit Monogramm, vom Täter an sich genommen. Soweit solche Gegenstände in ihrer Gestalt unverändert bleiben, hinreichend charakteristisch geformt oder gekennzeichnet und daher wiedererkennbar sind, gelten sie als

ausgezeichnete Fahndungshilfsmittel. Kommt eines Tages ein solcher Gegenstand ans Tageslicht und erhält hiervon die Kriminalpolizei Kenntnis, dann ergibt sich unschwer eine Verbindung zwischen der aufgefundenen oder angetroffenen Sache und dem Verbrechen, bei oder nach dessen Verübung diese Sache, beispielsweise der Ring mit Monogramm, abhanden gekommen war. Ein solcher an charakteristischen Merkmalen kenntlicher Gegenstand führt unter günstigen Umständen nicht selten zur überraschenden Aufklärung eines begangenen Verbrechens. Diese Erfahrungen über Wege zur erfolgversprechenden Sachfahndung gaben der Kriminalpolizei bereits frühzeitig Veranlassung, sich in ihrer speziellen Ermittlungstätigkeit eigens aufgestellter Listen zur Fahndung nach bestimmten, aus Straftaten herrührenden Gegenständen zu bedienen. Diese Fahndungslisten entwickelten sich später zu Sachfahndungskaxteien. In Zukunft wird man sie in elektronische Datenverarbeitungsanlagen für die Kriminalpolizei mit einbeziehen. Die bisherigen konventionellen Einrichtungen bestehen in der Bundesrepublik bei allen größeren Polizeibehörden, den Landeskriminalämtern und dem Bundeskriminalamt. In der im größten Bundesland in Nordrhein-Westfalen beim Landeskriminalamt Düsseldorf geführten Sachfahndungskartei ( = Diebesgutregister) stieg im Jahre 1965 die Zahl der registrierten gestohlenen Gegenstände von (1962) 45700 auf 87229. Hieraus wird deutlich ersichtlich, welcher realisierbarer Aufklärungswert in einer solchen Sammlung enthalten ist. Jede fernmündliche oder schriftliche Anfrage an das Diebesgutregister kann Tatzusammenhänge oder Täterhinweise ergeben. In der Praxis ζ. B . des nordrhein-westfälischen Amtes erfolgen in der Regel Hinweise u. a. auf Fotoapparate, Radio- und Tonbandgeräte, Schreib- und Rechenmaschinen als gestohlen gemeldete Gegenstände. Das Bundeskriminalamt dagegen beschränkt sich aus verständlichen Gründen auf die Erfassung nur solcher Gegenstände, die in Verbindung mit begangenen Kapitalverbrechen stehen oder u. a. von ganz erheblichem Wert sind. Das Bundeskriminalamt und in ähnlicher Weise die Landeskriminalämter gliedern ihre Sachfahndungskarteien u. a. nach Gegenständen wie Büromaschinen, Motoren, Kraftfahrzeugreifen, optischen Geräten, Paß- und Personalausweisvordrucken, Rundfunk- und Fernsehgeräten, Schmucksachen, Tonbandgeräten, Uhren, Wertpapieren und Verschiedenes. Eine Sichtstreifenkartei ordnet zusätzlich wiederum die gleiche Anzahl von Gegenständen nach Fabrikmarken, Typen, Fabrik- und Typennummern. Eine solche zweite karteiliche Einteilung erspart beispielsweise Zeit, wenn Rückfragen bei der Sachfahndungszentrale nach Gegenständen mit bestimmten Fabrik- oder Typennummern gestellt werden.

Kriminaltaktik Bei einem des Autodiebstahls Verdächtigen fiel während der vorgenommenen Durchsuchung nach den Autopapieren, die auch entwendet sein sollten, der Besitz mehrerer verhältnismäßig teurer, jeweils in der Ausstattung unterschiedlicher Reisenecessaires auf. Sie waren teils mit den Anfangsbuchstaben von Namen versehen. Die sofort fernmündlich gehaltene Rückfrage bei einer Sachfahndungszentrale ergab das Vorliegen einer Suchnachricht für die namentlich gekennzeichneten Behältnisse für Toilettenutensilien. Die Gegenstände waren in einem Landeskriminalblatt unter genauer Beschreibung ausgeschrieben und hiernach in den Nachweis aufgenommen worden. Dadurch konnte die anfangs unter dem Tatverdacht des Autodiebstahls festgenommene Person nunmehr durch die als Beweismittel sichergestellten Behältnisse für Toilettensachen des mehrfachen Einbruchs in Personenkraftwagen — stets verübt an Kraftwagen von ausländischen Touristen — überführt werden. Dieser Ausschnitt aus der Tätigkeit der Sachfahndung zeigt ein Zusammenwirken von vollzugspolizeilicher Tätigkeit an der Front der Verbrechensbekämpfung mit der Auskunftstätigkeit bei der Zentralstelle des Landes für Sachfahndung. Die ausgesprochen büromäßige Sachfahndung vollzieht sich noch in anderer Weise: Die Landeskriminalblätter und das Bundeskriminalblatt veröffentlichen von Fall zu Fall in dem Abschnitt „Sichergestellte Gegenstände" Mitteilungen über noch nicht identifizierte, offensichtlich aus Straftaten herrührende Gegenstände von Wert. Die in den Landeskriminalämtern und dem Bundeskriminalamt mit der Vergleichsarbeit befaßten Bediensteten werten solche Meldungen über beispielsweise aufgetauchte Rechenmaschinen aus, indem sie jede einzelne einliegende Fahndungskarte hierüber überprüfen, es sei denn, daß die als gestohlen registrierte Rechenmaschine bereits auf den ersten Blick im Fabrikat und in der notierten Fabriknummer übereinstimmt. Man wird hierbei die Frage stellen, ob der Aufwand eines so weit verzweigten Sachfahndungssystems büromäßiger Art überhaupt lohnenswert ist. Im Jahre 1962 ζ. B. wurden von der Sachfahndungszentrale beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen 185 Hinweise (1965 = 506) auf gestohlen gemeldete Wertgegenstände gegeben. Das bedeutete, daß mehrere Dutzend von Tatzusammenhängen erkennbar werden und Täterhinweise gegeben werden konnten. Es handelt sich hier um ein System, das taktisch von Schreibtisch zu Schreibtisch arbeitet. Die Sachfahndungsarbeit wird von besonderer Bedeutung sowohl für die Aufklärung der täglich anfallenden Kriminalität wie auch für Einzelermittlungen im Rahmen einer Mordaufklärung, wenn kleine Gruppen von Kriminalbeamten der Fahndungsdienststelle einer Großstadtkriminal9

HdK, 2. Aufl., Bd. I I

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polizei Kontrollen durch Einsichtnahmen in die Geschäftsräume, Magazine und Geschäftsbücher (gemäß §§ 34 Abs. 1, 2, 25 Abs. 2 GewO und den hierzu erlassenen Länderverordnungen) der Pfandleiher und des Gebrauchtwarenhandels (früher als Trödelhandel firmiert) vornehmen. Die auf diesem speziellen Fahndungsgebiet tätigen Kriminalbeamten geben häufig wichtige Hinweise auf Tatzusammenhänge, wodurch oftmals insbesondere auch zeitlich zurückliegende besonders schwere Diebstähle aufgeklärt werden können. Eine gut funktionierende Sachfahndung erhöht in beachtenswerter Weise die Aufklärungsziffer insbesondere beim einfachen und schweren Diebstahl. Außer der allgemeinen Sachfahndungskartei gibt es auf diesem Gebiet aus kriminalistischen und arbeitswirtschaftlichen Erwägungen spezielle Verfahren zur Erfassung a) gestohlener oder sonstwie durch eine strafbare Handlung abhanden gekommener Fahrräder ( = FahiTadkartei), b) gestohlener oder mißbräuchlich benutzter Kraftfahrzeuge ( = Kraftfahrzeug-Verlustkartei). Die Zahlen aus der nordrhein-westfälischen Fahrradkartei vermitteln einen hinreichenden Überblick über den Umfang, in dem in der Gegenwart mit dem Trend zur Motorisierung im Straßenverkehr Fahrräder gestohlen oder das neuwertige gegen das eigene alte Fahrrad „umgetauscht" werden, wobei das eigene Fahrrad dort abgestellt wird, wo das entwendete gestanden hat. Danach befanden sich 1965 in der Fahrradkartei NW 11736 gefundene und sichergestellte Fahrräder, die im eigenen Bereichnicht unterzubringen waren, weil keine Anzeige und somit auch ein Geschädigter nicht bekannt geworden ist. Die Zahl der gestohlenen Fahrräder betrug 1965 in Nordrhein-Westfalen jedoch 37309 bei einer Aufklärungsquote von nur 11,7%! Zweifellos wird in anderen Staaten, wo die Fahrräder benutzende Bevölkerung zahlenmäßig stärker ist als in der Bundesrepublik, ζ. B. in der Schweiz und in den Niederlanden, auf fahndungspolizeilichem Gebiet aktiver vorgegangen. So kennt beispielsweise die Schweizer Polizei den modus operandi der Fahrraddiebe genau. Sie unterhält eine Kartei jener Tatorte, an denen Fahrräder gestohlen wurden. Aus der Häufigkeit der gleichartigen Tatorte zieht die kriminalpolizeiliche Fahndung ihre Schlüsse und führt Observationen für zukünftige Fälle mit großem Erfolg durch. 4. Fahndung nach Kraftfahrzeugen Mit dem bundesdeutschen Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg nahm mit jedem weiteren Jahr die Zahl der neu zugelassenen Kraftfahrzeuge unaufhaltsam zu. Ein solcher Boom im motorisierten Verkehr blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Bewegungen der allgemei-

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Kriminaltaktik

nen Kriminalität. Das seit 1952 einsetzende und dann fortdauernde Ansteigen der Diebstähle von Kraftfahrzeugen (Mopeds, Motorrollern, -rädern, Kraftwagen) zwang dazu, ein geeignetes, schnelles und zuverlässiges System der Fahndung nach gestohlenen oder anderweitig abhanden gekommenen Kraftfahrzeugen zu schaffen. Zu berücksichtigen blieb, daß es einem Autodieb oder anderem Täter möglich ist, den Tatort rasch zu verlassen und in ein anderes Bundesland überzuwechseln. Es bedarf bei einer Flucht mit Kraftwagen keines erheblichen Zeitaufwandes, um beispielsweise innerhalb von 1 y 2 bis 2 Stunden die Bereiche von drei Bundesländern auf der Autobahn zu durcheilen. Ein solches wirkungsvolles Fahndungssystem kam dann auch unter sehr starker Einschaltung der Landeskriminalämter, vor allem in den Territorialstaaten der Bundesrepublik, zustande. Das Fahndungssystem nach gestohlenen Kraftfahrzeugen baut sich auf vier Maßnahmen auf: a) dem örtlichen Streifensystem der uniformierten Polizei, b) der überörtlichen Fahndung, in der täglichen Praxis vorwiegend von den motorisierten Verkehrsstreifen der uniformierten Polizei durchgeführt, c) der zentralen Erfassung sämtlicher Anzeigen über gestohlene oder sonstwie abhanden gekommene Kraftfahrzeuge in der Kraftfahrzeug-Verlustkartei, d) dem vom Bundeskriminalamt herausgegebenen Sachfahndungsnachweis für Kraftfahrzeuge. Diese Notierungen sind unterteilt nach Fabrikat, Type, Fahrgestell- und Motornummer sowie amtlichen Kennzeichen. Die örtlichen Fahndungsstreifen (vgl. auch hierzu die Ausführungen unter I I über den polizeilichen Funkstreifendienst) haben innerhalb großstädtischer Bereiche stets die Möglichkeit, bei Kontrollen des Autoverkehrs in der Zentrale der Sachfahndung nachzufragen. Die motorisierten Streifendienste bedienen sich auf ihren Streifenfahrten, ζ. B. auf Rast- oder Aufenthaltsplätzen der Autobahn, in erster Linie des Sachfahndungsnachweises für Kraftfahrzeuge. Der interessanteste Fahndungsbetrieb spielt sich jedoch in der Zentrale der Kraftfahrzeugkartei bei den Landeskriminalämtern ab. An diesen Stellen laufen Tag und Nacht entsprechende Nachfragen ein. Dabei werden neue, durch Fernschreiben eingehende Suchmeldungen notiert; von angehaltenen Kraftfahrzeugen wird die Fahndung gelöscht. Von Zeit zu Zeit werden die amtlichen und technischen Kennzeichen der noch nicht aufgefundenen Kraftfahrzeuge an die Zentralkartei des Bundeskriminalamtes weitergeleitet. Auf diese Weise entsteht ein ziemlich engmaschiges Fahndungsnetz. In entsprechender Weise wirken dabei auch die Kraftfahrzeug-Zulassungsstellen, das

Kraftfahrzeugbundesamt und die GroßstadtKriminalpolizeien mit. Die wirksamste Unterstützung erhält dieses System durch Kraftfahrzeug-Fahndungskarteien bei den Landeskriminalämtern und dem Bundeskriminalamt. Hier werden alle als gestohlen oder anderweitig abhanden gekommen gemeldeten Kraftfahrzeuge unter v i e r verschiedenen Gesichtspunkten jeweils erfaßt nach: a) dem amtlichen Kennzeichen, b) der Fahrgestellnummer, c) der Motornummer, d) Fabrikat und Type. Diese Ordnung gewährleistet nicht allein eine schnelle Unterrichtung, vielmehr trägt die Trennung in Kennzeichen-, Fahrgestellnummer-, Motornummer- sowie Fabrikat- und Typenkarteien besonders dazu bei, sich bei Manipulationen mit dem Kennzeichen und dem Typenschild (Fahrgestell- und Motornummer), beispielsweise bei „umfrisierten" Kraftwagen, verhältnismäßig schnell zurechtzufinden. Diese gesondert geführten Karteiunterlagen sind eine außerordentlich wichtige Basis für die Führung des Nachweises, in welchem Umfange gestohlene Kraftwagen als angeblich reparierte, aufgekaufte verkehrsunfallzerstörte Wagen nach dem Ausland verschoben worden sind, wenn eine Bande internationaler Autodiebe und -hehler dingfest gemacht werden konnte. Nur wenige Länder in Europa können ein im allgemeinen so vollständig arbeitendes und zentralgesteuertes Kraftfahrzeugfahndungssystem aufweisen. In zunehmendem Umfang wird die konventionelle Kraftwagenfahndung mit Datenspeichern auf Computerbasis und Datenfernverarbeitungsanlagen (sog. terminals) in den USA betrieben. Eine solche modernste Fahndungszentrale wurde am 8. April 1965 beim Police Department, City of Chicago eingerichtet (hierzu vgl. besondere Literaturhinweise). 5. Fahndung

nach auf Schiffen

tätigen

Personen

a) auf deutschen Binnenschiffen. Am 17. August 1954 wurde in Köln, unweit der Mülheimer Brücke, eine Frauenleiche aus dem Rhein geborgen. Sie war in einem Papiergewebesack verpackt. Nach gerichtsärztlicher Feststellung lag eine praemortale Verletzung am Hinterkopf vor, vermutlich von stumpfer Gewalt herrührend, was eine sofortige Betäubung der Verletzten bewirkt haben mochte. Der Tod war durch Erdrosselung mit einer Kordel verursacht worden. Unter- und Oberschenkel waren zusammengeschnürt. Die Mordkommission bemühte sich nach Kräften, um die Ermordete zu identifizieren. Aber über den Bemühungen zur Aufklärung der Mordsache stand von Anfang an kein guter Stern. Man glaubte zunächst, in der unbekannten Toten eine heimliche Dirne von der Rheinpromenade in Köln wieder-

Kriminaltaktik zuerkennen. Der später beschuldigte Matrose identifizierte nunmehr die Tote als die Dirne R., die in Wirklichkeit zu der angenommenen Todeszeit aus Köln verschwunden war und anderswo lebte. Daraufhin geriet der Matrose, der ihr letzter Liebhaber vor dem kritischen Todeszeitpunkt gewesen war, in Verdacht, die als Dirne identifizierte Frau getötet und die Leiche in den Rhein versenkt zu haben. Der Beschuldigte aber bestritt mit aller Entschiedenheit. Um die Persönlichkeit des als Täter verdächtigten Matrosen genau zu erheben, mußten seine frühere Ehefrau und Leumundszeugen dringend befragt werden. Diese Personen sollten noch irgendwo im Binnenschiffahrtsdienst tätig sein. Ihre Anhörung mußte auch aus Gründen der Entlastung alsbald vorgenommen werden. Für eine Fahndung nach Personen (als Zeugen und Beschuldigte) auf deutschen Binnenschiffen bedarf es besonderer Kenntnisse und Erfahrungen, die vor allem die Eigenart dieser Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu berücksichtigen haben. Es gelang innerhalb kürzester Zeit, die benötigten Personen, die tatsächlich auf verschiedenen Schiffen auf dem Rhein und den westdeutschen Kanälen in Dienst standen, zu ermitteln und zu befragen. In solchen Fällen nimmt man die Hilfe der Wasserschutzpolizei in Anspruch. Sie stützt sich in Fahndungsangelegenheiten auf bestimmte Einrichtungen aufgrund gesetzlicher Vorschriften und Verwaltungsanordnungen. Wer auf einem deutschen Binnenschiff als Schiffsjunge, Matrose, Bootsmann, Steuermann, in ähnlicher Stellung oder als Hilfskraft in einem Dienstverhältnis steht, hat nach dem Gesetz über Schifferdienstbücher vom 12. 2.1951 (BGBl. I I S. 3 ff) im Besitz eines auf seinen Namen lautenden Schifferdienstbuches zu sein. Der Schiffsführer darf beispielsweise jemanden als Angehörigen der Schiffsmannschaft nur nach Empfang von dessen Schiffsdienstbuch in Dienst nehmen. Jede Reise mit dem Tag ihres Beginns und der Beendigung sowie der befahrenen Stromstrecke, mit Instandsetzungs-, Überwinterungs- und Wartezeiten von mehr als zwei Monaten ist durch den Schiffsführer unterschriftlich darin einzutragen. Solche Schifferdienstbücher werden von den Wasser- und Schifffahrtsämtern ausgestellt. Diese führen Listen über die ausgestellten Schifferdienstbücher, in denen u. a. Name, Geburtsdaten und Wohn- (oder Heimat-)ort des Schiffsmannes enthalten sind. Infolge der auch im Binnenschiffsverkehr erreichten Motorisierung haben heute durchweg die Schiffe einen schnelleren Umlauf erreicht, wodurch sich weit kürzere Aufenthaltzeiten in den angelaufenen Häfen des Rheins, der anderen schiffbaren Flüsse und der westdeutschen Kanäle ergeben. Die Zentralfahndungsstelle für die Binnenschiffahrt im Bundesgebiet ist die Wasserschutzpolizeidirektion Nordrhein-Westfalen in Duisburg. Sie unterhält in dieser Eigenschaft: 8·

131

aa) eine Schiffsnachweisstelle; diese Dienststelle ist für kriminalistische Fahndungssachen von außerordentlicher Bedeutung. Von ihr werden nach einem bestimmten Plan die Schiffsbewegungen aller insbesondere auf den westdeutschen Kanälen verkehrenden Wasserfahrzeuge, deren Schiffsführer und ihre Ablöser Inbegriffen, regelmäßig erfaßt; bb) einen Nachweis über den Bergverkehr auf dem Rhein bei Emmerich; in dieser Nachweisung werden täglich alle aus dem Ausland (u. a. Belgien, Holland) kommenden und in das Bundesgebiet fahrenden Fahrzeuge mit Angabe der Fahrtziele erfaßt. cc) Sie führt einen Fahndungsnachweis der Wasserschutzpolizeien der Bundesrepublik Deutschland. Diese NachWeisung enthält Festnahmeersuchen, Aufenthaltsermittlungen und Sachfahndungen. In dem innerhalb dieses Abschnittes eingangs erwähnten Fall des Mordes an einer (unbekannten) Frau ergab sich unvermittelt eine neue, wie es schien, mehr aussichtsreiche Spur, zumal man bezüglich des inzwischen unter Haftbefehl gestellten Matrosen in der Führung des Indizienbeweises kaum befriedigend weitergekommen war. Zeugen hatten etwa zwei Tage vor der Anlandung der Frauenleiche vom Ufer aus in der Frühe des Morgens beobachtet, wie ein Schiffsmann auf einem Lastschiff, etwa einen Kilometer von der Anlandungsstelle der Leiche rheinaufwärts entfernt, ein Kleiderbündel in den Rhein geworfen hatte. Nur die Liegestelle, aber nicht der Name des Schiffes war in Erfahrung zu bringen gewesen. Ermittlungen bei der Schiffsnachweisstelle in Verbindung mit der Erfassungsstelle oberhalb von Köln führten in einer langwierigen Kleinarbeit zur Feststellung sämtlicher Schiffe, die zum angegebenen Zeitpunkt auf dem Rhein in der in Betracht kommenden Höhe der Innenstadt vor Anker gelegen hatten. Tagelang dauerten die Ermittlungen nach dem Rreis der Schiffsangehörigen, die ihren Aufenthalt täglich verändert hatten. Der Schiffsmann, der das Kleiderbündel versenkt hatte, wurde gefunden und entlastet. Es hatte sich um alte Kleider gehandelt, die Zeugen aber hatten durchaus richtig beobachtet. Der Mordfall selbst wurde durch die später erfolgende richtige Identifizierung der Toten aufgeklärt. Der Täter war nicht der Matrose, sondern ihr Ehemann. b) auf Seeschiffen. Die Fahndung nach Besatzungsmitgliedern von Schiffen als Beschuldigten und Zeugen gestaltet sich wesentlich schwieriger, weil die Nachforschungen räumlich unbegrenzt sein können. In diesem Zusammenhang sind Feststellungen, die für eine Fahndungsmaßnahme bedeutsam sind, u. a. besonders zu führen:

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Kriminaltaktik

1. bei den Seemannsämtern (nach §§ 9, 11 des Seemannsgesetzes vom 26. 7. 1957; BGBl. II S. 713); 2. in der Seemannskartei der See-Berufsgenossenschaft in Hamburg 11 (Seehaus). In dieser Nachweisung der See-Berufsgenossenschaft sind alle in der deutschen Schiffahrt bediensteten Seeleute erfaßt, soweit sie der Versicherungspflicht unterliegen. Unter diesen Personenkreis fallen Kapitäne, Offiziere, Mannschaften und alle sonstigen im Dienstverhältnis stehenden Personen der See- und Küstenschifffahrt, der Hochsee- und Küstenfischerei. Auch bestimmte Gruppen von deutschen Seeleuten auf ausländischen Schiffen werden in dieser Kartei erfaßt. 6. Großfahndungen Die Boulevardpresse zitiert (allzu) gern die polizeilichen und kriminalpolizeilichen Fahndungsmaßnahmen als „Großfahndungen". In der Regel sind sie es in fahndungsfachlicher Hinsicht nicht. Denn die Fahndungsaktionen, die sämtliche verfügbaren Beamten der Schutz- und Kriminalpolizei sowie Kräfte anderer Dienststellen und Organisationen unter der fachlichen Leitung der Kriminalpolizei zu einem überörtlichen Suchen schnell und planmäßig beanspruchen, sind zugleich außergewöhnlich und tatsächlich selten. Diese Fahndungsunternehmen, meistens großräumig beabsichtigt, bedürfen umfassender und gründlicher Vorbereitungen und Vorarbeiten. Die Vorarbeiten werden sich u. a. mit der Zusammenstellung der wichtigsten Fahndungsanlässe für Aktionen derartigen Ausmaßes zu befassen haben, wobei dem Gesichtspunkt der Alarmierung, Auswahl, Bereitstellung, Zusammenziehung und des Einsatzes solcher Kräfte besonders durch Alarmpläne Rechnung zu tragen ist. In dieser Verbindung interessiert lediglich der kriminelle Anlaß, in dem Fahndungsaktionen derartigen Ausmaßes ausgelöst werden sollen. In Anbetracht der hohen Kosten und der Umstände, daß andere wichtige fahndungspolizeiliche und kriminalpolizeiliche Tätigkeit unterbrochen oder sogar vorübergehend eingeschränkt wird, müssen Großfahndungen in einem angemessenen und vertretbaren Verhältnis zu der hierzu Anlaß gebenden Straftat stehen. Hierunter darf man insbesondere Attentate, Menschen- und erpresserischen Kindesraub sowie schwere Raubüberfälle rechnen. Es wäre jedoch kriminaltaktisch verfehlt, wollte man die Fälle der Auslösung von Groß- oder Alarmfahndungen kasuistisch beschränken. Die Unübersehbarkeit krimineller Formen mahnt vielmehr dazu, in derartige Überlegungen auch sonstige besonders schwere Verbrechen miteinzubeziehen, die geeignet sind, erhebliche Unruhe in der Bevölkerung auszulösen. Das haben vor allem seit dem Kindermörder A. Seefeldt Fälle vermißt gemeldeter Kinder offenbart, bei denen aufgrund be-

stimmter Umstände ein Verbrechen als Grund ihres Nichtauftauchens angenommen werden muß. C. Das Vermißtenwesen 1. Begriff, Grundlagen des kriminalpolizeilichen Vermißtenverfahrens, Abgrenzung des betroffenen Personenkreises Der Begriff des Vermißten ist vieldeutiger Art. Der Vermißtenbegriff im Zusammenhang mit Kriegs- und Kriegsfolgehandlungen ist nicht identisch mit dem Begriff des Vermißten in kriminalpolizeilichen Vermißtensachen. Danach gilt eine Person als vermißt, wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis ohne objektiv erkennbare Gründe verlassen hat und ihr Aufenthalt zur Zeit unbekannt ist. Hierunter fallen u. a.: a) Personen, bei denen infolge Abwesenheit vom Wohn- oder Aufenthaltsort durch ungewöhnliche Umstände die Annahme begründet erscheint, daß der Grund des Verschwindens eine an ihnen begangene Straftat, ein Unglücksfall, Hilflosigkeit oder Selbstmord sein kann; b) Minderjährige oder Entmündigte, die sich ohne Wissen oder gegen den Willen ihres gesetzlichen Vertreters von ihrem Wohnoder Aufenthaltsort entfernt haben. Die Bearbeitung von Vermißtensachen ist eine polizeiliche Angelegenheit. Sie gehört zu den Aufgaben, die im Rahmen der Gefahrenabwehr von dem einzelnen oder der Allgemeinheit zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch die Polizei wahrgenommen werden müssen. Das Tätigwerden der insbesondere hierfür zuständigen Kriminalpolizei stützt sich auf das Polizeirecht der Länder. Die Verbindung mit dem Strafverfahrensrecht ist in besonderen Einzelfällen häufig, wie noch darzulegen sein wird. Unter diesen von der Kriminalpraxis entwickelten Vermißtenbegriff fallen solche Personen nicht, die a) ihren Aufenthaltsort freiwillig verlassen haben, um sich anderenorts niederzulassen, b) sich verborgen halten, um sich einem Strafoder Ermittlungsverfahren oder sonstigem behördlichen Zugriff zu entziehen (ζ. B. der rechtsmäßigen Einweisung in eine Anstalt zur Beobachtung des Geisteszustandes), c) einer Anstalts- oder einem Krankenhausaufenthalt unerlaubterweise entwichen sind, es sei denn aus Gründen, Selbstmord zu verüben, d) sich im Kindesalter befinden und sich lediglich verlaufen haben, wobei unabhängig von der Einleitung eines förmlichen Vermißtenverfahrens aus allgemeinen polizeilichen Gründen durch die Polizei die entsprechenden Fahndungsmaßnahmen mit der gebotenen Eile einzuleiten sind.

Kriminaltaktik 2. Polizeitaktisches Vorgehen Nach polizeitaktischen Prinzipien für die Bearbeitung einer Vermißtensache ist grundsätzlich die Polizeibehörde sachlich und örtlich zuständig, in deren Bereich die vermißte Person aufhältlich war. In der Regel führt sie alle im Dienstbereich möglichen Ermittlungen nach dem Verbleib des Vermieten und der Ursache seines Verschwindens. Im Rahmen der Bearbeitung von Vermißtensachen stößt man sehr häufig auf menschlich sehr tragische Geschehnisse, schicksalhafte Verstrikkungen und oft auch auf Verhaltensweisen, die ihre Ursache in Konflikten mit dem Strafgesetz haben. Die meisten als vermißt gemeldeten Personen finden sich nach einiger Zeit wieder ein. Als örtliche Nachforschungen nach der als vermißt gemeldeten Person kommen beispielsweise in Frage: a) zunächst die Nachprüfung seiner Personalien anhand amtlicher Unterlagen, um von vornherein sicher zu sein, daß die Identität der vermißten Person zweifelsfrei feststeht; b) die Durchsicht der persönlichen Sachen der vermißten Person, Unterlassene Gegenstände (Koffer, Reisetaschen, Behältnisse in benutzten Personenkraftwagen u. ä.), des Schriftwechsels, von Notizbüchern, Aufzeichnungen usw., um Anhaltspunkte über die näheren Umstände zu gewinnen, die zum Verschwinden beigetragen haben können. Hierzu gehören Anfragen in Krankenhäusern, bei Unfallstellen, in Gefängnissen genauso wie Nachfragen bei Angehörigen oder Bekannten der vermißten Person über die Lebensgewohnheiten und die Gemütsverfassung in der letzten Zeit. Eine Routinemaßnahme ist die Veröffentlichung eines (zutreffenden) Lichtbildes von der vermißt gemeldeten Person in der Tagespresse. Hier bedarf es jedoch in der Regel der Zustimmung zur Veröffentlichung durch die Angehörigen. Im Fall einer Ablehnung kann man sich nur auf die Veröffentlichung einer Vermißtenmeldung mit Personenbeschreibung und Mitteilung besonderer sichtbarer Kennzeichen beschränken. In der Praxis hat sich bei der Bearbeitung von Anzeigen über vermißte Kinder und Jugendliche, vor allem weiblichen Geschlechts, in den letzten Jahren in zunehmendem Umfange die Übung herausgebildet, bereits in einem sehr frühen Abschnitt des Vermißtenverfahrens die Veröffentlichung eines Lichtbildes, beispielsweise von dem vermißten Mädchen, im Fernsehen zu verlangen. Das Fernsehen ist ein hervorragendes Hilfsmittel im Rahmen fachlich beratender Sendungen zur Verbrechensaufklärung und zur Fahndung nach gesuchten und vermißten Personen. Das aber, was in diesem Zusammenhang in einer Fernsehsendung gebracht wird, bestimmen die Anstalten selbst.

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Es bestehen zwar Vereinbarungen gerade auf diesem Gebiet zwischen Kriminalpolizei, den Rundfunk- und Fernsehanstalten im Bundesgebiet, jedoch müssen aus naheliegenden Gründen insbesondere Fernsehveröffentlichungen über vermißt gemeldete Kinder und Jugendliche eine angemessene Einschränkung erfahren. Die Erfahrung lehrt, daß unter den Jugendlichen insbesondere weiblichen Geschlechts viele Herumtreiberinnen und Ausreißerinnen sich befinden. Ebenso trifft es zu, daß nach einigen Tagen Heramstreunens insbesondere in der warmen Jahreszeit als vermißt gemeldete Jugendliche beiderlei Geschlechts bald wieder bei ihren Angehörigen auftauchen. Kritisch wird es, wenn fünf- bis dreizehnjährige Mädchen verschwinden, denen gute Erziehung, einwandfreier Umgang und ein solides Elternhaus bestätigt wird. Rundfunk und Fernsehen lassen gemäß bundeseinheitlicher Absprache mit der Kriminalpolizei eine Durchsage erst zu, falls in einer entsprechenden Vermißtensache der Verdacht eines Kapitalverbrechens begründet erscheint. Nach den kriminalistischen Erfahrungen aus den letzten zehn Jahren wird man beim Verschwinden eines Kindes, insbesondere eines Mädchens im Alter von fünf bis dreizehn Jahren, vom Standpunkt der kriminalpolizeilichen Bearbeitung der Vermißtensache nicht stets in der Lage sein, Anhaltspunkte für den Verdacht eines Kapitalverbrechens zu äußern. Die Aussagen der informatorisch gehörten Zeugen sind in der Regel erst (sehr) unklar. Erst langsam erhält man ein genaues Bild über den Ablauf der Geschehnisse aus Anlaß des Verschwindens. Andererseits drängen in solchen Situationen die Zeit und möglicherweise unkontrolliert in Umlauf gesetzte Gerüchte, die Öffentlichkeit zur Mitarbeit, beispielsweise durch Rundfunkdurchsagen, auffordern zu lassen. Berücksichtigt man die so tragischen Kindesentführungen in den letzten Jahren im Bundesgebiet, so ist man geneigt, sich in besonderen Einzelfällen für eine Durchbrechung des Grundsatzes in der Fernsehdurchsage einzusetzen, wonach erst der Verdacht eines Kapitalverbrechens begründet zu sein hat. Diese Auffassung findet auch eine Stütze in der Überlegung, daß aus irgendeinem Anlaß es wiederum zu einer merkwürdigen Anhäufung von Kindesmorden kommen könnte, wie sie sich im Jahre 1962 im Lande Nordrhein-Westfalen ereigneten. Damals konnten die ermittelten Täter in einen kriminogen erklärbaren Zusammenhang nicht gebracht werden. Diese Anhäufung der Taten schien vielmehr zufälliger Art zu sein. Man wird mit sehr viel psychologischem Einfühlungsvermögen in Abstimmung mit den speziellen Erfahrungen der Kriminalpraxis entsprechende Entschließungen treffen müssen, ohne in breiter Front Berufungsfälle zu schaffen. Häufigere Fernsehfahndungen auf diesem Spezialgebiet dürften nicht unwesentlich zur Minderung der bisher er-

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Krimmaltaktik

fahrungsgemäß zu erwartenden Fahndungserfolge beitragen. з. Zentrale Ermittlung von Vermißten und die Identifizierung von unbekannten Toten Stärke und Umfang der Aufklärungstätigkeit in der Kriminalpolizei bestimmen sich auf vielen kriminalistischen Gebieten durch die auswertende Tätigkeit von Zentralstellen. In den Bundesländern sind nach einheitlichem Modell Vermißtenzentralen innerhalb der Landeskriminalämter eingerichtet (siehe „Kriminalpolizei"), die vor allem die einschlägige Ermittlungstätigkeit der in der Sache nachgeordneten Kriminalabteilungen der Polizeibehörden unterstützen. Daher ist es aus der Sicht der zentralen auswertenden Tätigkeit begründet, Fälle, in denen anzunehmen ist, daß die vermißte Person durch Selbstmord, Unglücksfall oder Verbrechen umgekommen oder entführt worden sein soll, oder es sich um Geisteskranke oder hilflos umherirrende Personen handelt, unverzüglich zu melden. Die Unterlagen werden zunächst in die zentrale Landesvermißtenkartei aufgenommen, um auf entsprechende Anfragen der Polizeibehörden des eigenen Landes und der außerhalb des Landes jederzeit Auskunft geben zu können. Alsdann aber werden die neu eingegangenen Meldungen über vermißte Personen mit den vorhandenen Unterlagen über unbekannte Tote verglichen. In der Praxis sind allerdings die Fälle häufiger, in denen Meldungen über das Auffinden unbekannter Toten anhand des Karteimaterials über vermißte Personen ausgewertet und auf diese Weise — am Schreibtisch — die Identität des unbekannten Toten festgestellt wird (vgl. Ausführungen auf Seite 99). In verschiedenen ausländischen Staaten werden im Rahmen der Bearbeitung von Vermißtensachen intensivere Vorarbeiten als im Bundesgebiet für eine mögliche spätere Identifizierung durch Beiziehung von Unterlagen über das Zahnbild, Zahnprothesen und Röntgenaufnahmen von Zähnen, insbesondere anomalen Zahnstellungen и. ä., geleistet. Das gilt insbesondere in Vermißtenfällen, die bereits mehr als drei Monate alt sind, und in denen mit dem Tod der vermißten Person zu rechnen ist. Die Landeszentrale für Vermißte veranlaßt über die hier bereits erwähnten Auswertungsarbeiten besondere überörtliche Fahndungsmaßnahmen, ζ. B. die Unterrichtung sämtlicher Polizeibehörden des Landes, in dem die vermißte Person im Landeskriminalblatt ausgeschrieben wird, falls anzunehmen ist, daß sich der Vermißte noch im Landesbereich aufhält. Anderenfalls ist ein Ausschreiben im Bundeskriminalblatt, gegebenenfalls mit Lichtbild, erforderlich. Gleichzeitig damit erfolgt eine Ausschreibung im Deutschen Fahndungsbuch und das Einlegen einer Suchkarte in die Personenfahndungskartei. Falls anzunehmen ist, daß der Vermißte sich ins Aus-

land begeben hat, leitet — vielfach auf entsprechende Anregung durch ein beteiligtes Landeskriminalamt — das Bundeskriminalamt auf internationalem Wege Fahndungsmaßnahmen ein. Sie richten sich in erster Linie auf Ermittlung des Aufenthaltes. Bei minderjährigen Vermißten, insbesondere Jugendlichen, die unberechtigt das Elternhaus verlassen haben, erfolgt auf Wunsch des gesetzlichen Vertreters die Anweisung durch die Polizei, den jugendlichen Vermißten bis zur Abholung durch die Eltern in polizeiliche Verwahrung zu nehmen. Das gilt in gleicher Weise für Ausreißer im Kindesalter. Eine Vermißtensache wird im allgemeinen als erledigt betrachtet, wenn a) die vermißte Person zurückgekehrt, b) ihr gegenwärtiger Aufenthaltsort ermittelt, c) sie als flüchtiger Rechtsbrecher festgestellt, d) sie tot oder hilflos aufgefunden und zweifelsfrei identifiziert worden ist. Hierbei darf als selbstverständlich unterstellt werden, daß alsdann allen mit der Suche nach der vermißten Person befaßten Dienststellen der Grund der Einstellung der Fahndungsmaßnahmen bekanntgegeben wird. Die folgenden Zahlenangaben vermitteln einen Überblick über die bei der Vermißtenzentrale des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen bearbeiteten Vermißtenfälle: am 1.1.1965 gab es 611 Vermißtenfälle; am 31. 12.1965 waren 745 Fälle für das Land Nordrhein-Westfalen registriert. Diese Zahlenangaben über die Vermißtenfälle besagen keineswegs, wieviel Personen innerhalb des gesamten Jahres 1965 als vermißt gemeldet wurden und inzwischen wieder aufgetaucht sind. Um hier einen Einblick in die umfängliche Ermittlungstätigkeit auf diesem Gebiet zu gewinnen, wird in diesem Zusammenhang auf die beachtliche Anzahl der bei der Vermißtenzentralstelle des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen im Jahre 1965 insgesamt eingegangenen 15180 Fernschreiben (1964 = 13287) zu verweisen sein. Eine sehr aufwendige Arbeit, wenn man hierbei berücksichtigt, daß in nur einem verhältnismäßig geringen Umfang vermißte Personen nicht ermittelt oder tot aufgefunden werden, andererseits wiederum eine notwendige Tätigkeit aus polizeilich-präventiven Gründen. Unter diesen wenigen Fällen gibt es allerdings sehr interessante Vermißtenschicksale, die erst nach vielen Jahren bekannt werden. Solche als vermißt gemeldeten Personen werden überwiegend durch Zufälle aufgespürt. Sie haben sich von der Familie, dem Ehepartner oder einem Kreis nahestehender Personen getrennt, um ein neues Leben — wie sie im allgemeinen glauben — meistens in einem anderen Beruf und unter anderem Namen, zu beginnen. So reiste jahrelang ein verheirateter Mann nach seinem plötzlichen Verschwinden als Musiker mit

Kriminaltaktik einem Zirkus umher, ohne daß hierbei der oft zur Geltung kommende Grundsatz „cherchez la femme" bedeutsam war. Seine Neigung zum Zirkusleben war der echte Grund für das urplötzliche Verschwinden gewesen. Durch einen Zufall wurde er wiedererkannt. Manchmal werden jahrelange Nachforschungen über vermißte Personen ohne jedes Ergebnis geführt. In Stuttgart verschwand vor Jahren ein etwa 40 jähriger Mann (mit Familie), der regelmäßig neue Personenwagen einer bedeutenden Automobilfabrik von Stuttgart nach Köln überführte. Niemals mehr hörte man etwas über seinen Verbleib. Die Sachfahndung nach dem Kraftfahrzeug, das mit ihm verschwunden war, wurde zunächst auf die der Interpol angeschlossenen Staaten ausgedehnt. Fahrzeug und der Vermißte traten nicht mehr in Erscheinung seit dem Augenblick, wo der Vermißte sich in einer Bäckerei in Stuttgart auf dem Wege zur Autobahn Brötchen gekauft hatte. Selbst die Ermittlungen über die ausländischen Reparaturdienste und Vertretungen dieser Weltfirma anhand der Fahrgestell- und Motornummern des möglicherweise unterschlagenen Kraftwagens blieben ohne greifbares Resultat. Das System der Vermißtenfahndung befaßt sich infolge der ihm eigenen Kontrollmöglichkeiten selbst nach Jahren immer aufs neue mit den nicht abgeschlossenen Vermißtensachen. Von Zeit zu Zeit werden kriminalpolizeilicherseits planmäßig angelegte Unternehmen mit dem Ziele durchgeführt, von neuem sämtliche noch aktuellen Anhaltspunkte anläßlich des Verschwindens überprüfen zu lassen. Gelegentlich stößt man dann auf Identifizierungen, die allerdings oftmals für die Angehörigen der Vermißten mit peinlichen Überraschungen aufgrund jahrelanger Abwesenheit von zu Hause verbunden sein können. D. Die Zusammenarbeit mit Vertrauenspersonen Die Zusammenarbeit mit polizeilichen Vertrauenspersonen bestimmt sich nach Leitsätzen der polizeilichen Kriminalpraxis. Für Vertrauenspersonen werden oft die Bezeichnungen „Konfidenten" und „Vigilanten" verwendet. Dabei lehnt sich nach herkömmlicher Auffassung der Vigilant eng an die kriminelle Unterwelt an. Es gibt nur in sehr geringem Umfang geschriebene Leitsätze über die Zusammenarbeit mit Vertrauenspersonen der Polizei. Die ungeschriebenen überwiegen bei weitem. Es kann dahingestellt bleiben, ob die letzteren vor einer objektiven Kritik der öffentlichen Meinung zu bestehen vermögen. Eine allgemeine Dienstanweisung über grundsätzliches Verhalten im Verkehr mit Vertrauenspersonen der Kriminalpolizei bestand weder früher für den preußischen Dienstbereich noch innerhalb der Reichskriminalpolizei. Es finden sich in nur wenigen Erlassen der früheren Länder des Reiches Hinweise über ein zweckmäßiges Verhalten gegen-

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über Vertrauenspersonen. Dazu sind sie inhaltsmäßig noch sehr dürftig und geben keinen eindeutigen Aufschluß, wie man sich als Kriminalbeamter zu verhalten hat und wieweit dienstliche Belange ein Tätigwerden von Konfidenten (Vertrauten, Vertrauensleuten) vertretbar erscheinen lassen. Die polizeiliche Praxis hat wiederholt den Wunsch nach einer gründlichen Regelung dieser Materie geäußert, zugunsten der auf Hilfen angewiesenen Kriminalbeamten und im Hinblick auf das Ansehen des Staates in der Öffentlichkeit. In einer früheren Verwaltungsanordnung des Preußischen Ministers des Innern wurde bestimmt, daß für Vertrauenspersonen (Vigilanten) keinerlei Ausweise und Bescheinigungen auszustellen seien. Es ist dies ein überlieferter Grundsatz von besonderer Bedeutung, gegen den immer wieder verstoßen wird. Es gibt noch zwei wichtige Grundsätze, die bestimmend für die Zusammenarbeit mit Vertrauenspersonen innerhalb der Polizei sind: 1. Die Kriminalpolizei ist bei ihrer Ermittlungstätigkeit auf die Verwendung von Vertrauenspersonen angewiesen. 2. Diese Verwendung findet zwingend dort ihre Grenzen, wo das grundgesetzlich geschützte Recht auf die Ehre und Würde des Menschen verletzt zu werden droht. Zunächst bedarf es der Bestimmung des Begriffes „Vertrauensperson". Innerhalb der kriminalpolizeilichen Praxis handelt es sich hierbei um eine Person, die für den amtlichen Bereich der kriminalpolizeilichen Verbrechensaufklärung wiederholt Informationen über Straftaten a n d e r e r zuträgt, sei es gegen Entgelt oder unentgeltlich. Eine Person, die bei der Polizei eine Straftat anzeigt, aber ihren Namen nicht offenbaren möchte, fällt nicht unter den Personenkreis der Vertrauensleute oder Vigilanten. Bei einer solchen Anzeige handelt es sich vielmehr um eine sogenannte „vertrauliche Mitteilung", die im allgemeinen mit dem Wortlaut beginnt: „Vertraulich wird mitgeteilt...". Es scheint in diesem Zusammenhang kriminaltaktisch allerdings zweckvoller, wenn der Anfang einer solchen Anzeige durch folgende Form bestimmt wird: „Wie hier bekannt geworden i s t . . . " . Bevor die Frage der Preisgabe oder Nichtpreisgabe des Namens eines Vertrauensmannes behandelt wird, sollte noch kurz darauf eingegangen werden, auf welche Weise die Kriminalpolizei Vertrauenspersonen in der Regel gewinnt. Aus der kriminalpraktischen Erfahrung ergibt sich, daß es meistens ein bestimmter Typ des Kriminalbeamten ist, dem es gelingt, gut arbeitende Vertrauenspersonen zur Verbrechensaufklärung heranzuziehen. Die Hauptfrage ist die nach dem Vorhandensein eines menschlichen Kontaktes. Fairneß und Taktgefühl dürften die wesentlichsten Faktoren für eine Gewinnung von solchen Vertrauensleuten sein. Dabei

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Kriminal taktik

ist von grundlegender Bedeutung auch die Behandlung von festgenommenen Personen, die vor allem sich vordem berufsverbrecherisch betätigt haben. Oftmals sind Typen unter ihnen, die nach ihrer langjährigen Strafverbüßung weiterhin ihre früheren Beziehungen zur Unterwelt wieder aufnehmen, sich jedoch von der Begehung strafbarer Handlungen in erstaunlicher Weise fernhalten. Sie zeigen manchmal echte Gefühle für die Notwendigkeit, die Aufklärung schwerer Verbrechen zu unterstützen. In dieser Verwendung wird ein psychologisch geschickt vorgehender Kriminalpraktiker, der zudem starke menschliche Kontaktfähigkeit aufzuweiseD hat, in der Aufklärung von schwierigen Kapitalverbrechen oftmals sehr wertvolle Hilfe durch Vertrauenspersonen erhalten können. Das Problem des Rechtsschutzes für Vertrauenspersonen bedarf im Rahmen der Erörterung von Grundsatzfragen der Zusammenarbeit zwischen Kriminalpolizei und Vertrauensleuten noch der Behandlung. Die Notwendigkeit, Namen von Vertrauenspersonen bei der Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren geheimzuhalten, ist von verschiedenen Autoren in der Fachliteratur mit dem Hinweis auf rechtspolitische Gründe zutreffend hervorgehoben worden. Gemäß der Regelungen im Bundesbeamtengesetz vom 14. 7.1953 (§§ 61f.) und der verschiedenen einschlägigen Ländergesetze sind Bundes- und Landesbeamte verpflichtet, über die ihnen aufgrund ihrer amtlichen Tätigkeit bekanntgewordenen Angelegenheiten Verschwiegenheit zu bewahren. Ausgenommen sind dienstliche Mitteilungen oder Tatsachen, die offenkundig sind oder ihrer Bedeutung nach keiner Geheimhaltung bedürfen. Die Behörde des Beamten entscheidet, ob eine geheim zu haltende Angelegenheit vorliegt. Bei geheimzuhaltenden Angelegenheiten darf ohne Genehmigung des Dienstvorgesetzten weder vor Gericht noch außergerichtlich ausgesagt oder eine Erklärung abgegeben werden. Das Erfordernis der Aussagegenehmigung beschränkt in solchen Fällen die grundsätzlich bestehende Zeugnispflicht. Die vorgesetzte Dienstbehörde bestimmt im allgemeinen die „Grenze der Amtsverschwiegenheit". Letztere Formulierung wurde vom Bundesgerichtshof (BGH-Urteil vom 10. 7. 1952 Az. 3 StR 796/51) gewählt. Die Versagung der Aussagegenehmigung muß sich auf einen gesetzlich vorgesehenen Aussagebefreiungsgrund stützen. Damit ist der Ermessensbereich der entscheidenden Behörde nicht unerheblich eingeschränkt. Das Bundesbeamtengesetz sieht nur dann die Möglichkeit vor, eine Aussagegenehmigung zu verweigern, wenn 1. die Aussage dem Wohle des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bringt oder 2. die Erfüllung öffentlicher Aufgaben ernstlich gefährdet oder erheblich erschweren würde.

Zu der Frage, ob und wann die Preisgabe des Namens eines Vertrauensmannes unter eine der vorgenannten Voraussetzungen fällt, hat die Rechtsprechung mehrfach und unterschiedlich Stellung genommen. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 10. 7.1952 die Geheimhaltung des Namens eines Anzeigenden in seinen entscheidenden Ausführungen mit polizeilichen Belangen begründet. Der BGH hat bewußt davon abgesehen, einen Katalog von Voraussetzungen hierfür aufzustellen. Die Geheimhaltung wird nur aus lilligenswerten Gründen zugelassen. Damit ist der Schutzzweck dieser Entscheidung in bestimmter Richtung festgelegt. Es geht in erster Linie um die Aufdeckung von Verbrechen. Es gilt, die die Sicherheit des einzelnen oder der Allgemeinheit bedrohenden Straftaten zur Aufklärung zu bringen und hinter die verbrecherischen Urheber zu kommen. Wer insoweit mit zweckdienlichen Täter- oder Sachhinweisen die Kriminalpolizei in ihrer aufklärenden Tätigkeit unterstützt, ist vor drohender Rache oder vor Repressalien zu schützen. Der psychologische Faktor Furcht, der das aus sittlichem Antrieb erwachsene entsprechende Tätigwerden des Staatsapparates oftmals hemmt, soll durch den Grundsatz absoluter Geheimhaltung beseitigt werden. Es sind feine psychologische Erwägungen, die eine geheimzuhaltende Situation des Vertrauens schaffen möchten. Die Kriminalpraxis ist verpflichtet, nach diesem Grundsatz zu verfahren, falls die Voraussetzungen für eine vertrauliche Behandlung des Anzeigenden gegeben sind. Oftmals liest man in den Akten der kriminalpolizeilichen Ermittlungsverfahren, in denen die Aufklärung des Verbrechens erst durch einen vertraulichen Täterhinweis in die richtige Richtung gelenkt werden konnte, den vollen Namen des Informanten, allerdings mit dem Zusatz, daß der Hinweis vertraulich erfolge. Wenn der Informant einen echten, aus eigenem Handeln und Wissen erfolgenden wesentlichen Beitrag zur Aufklärung des Falles geleistet hat, dann gehört der Name allenfalls in die polizeilichen Handakten (Retent), nicht aber in die Hauptakten. Für den polizeilichen Praktiker ist dies eine ernste und wichtige Verpflichtung. Es ist ein elementarer Grundsatz, der sich aus der Pflicht zur Amtsverschwiegenheit ergibt. Viele Verbrechen können oftmals nur durch Hinweise von Personen zur Aufklärung kommen, die mit Unterweltkreisen Kontakt halten. Manchmal herrscht hier weniger die Furcht vor Rache als die Besorgnis vor Enthüllungen über einstmals begangene, vielleicht nicht sonderlich bedeutsame Straftaten, die den Informanten in keiner Weise geneigt sein lassen, ohne weiteres Angaben unter seinem Namen zu machen. Bieten solche Personen beträchtliche Informationen ohne Namensnennung

Kriminaltaktik an, dann fallen auch sie unter den geheimhaltungswürdigen Personenkreis. A u c h ihre Gründe sind billigenswert, denn sonst blieben die kriminalpolizeilichen Angebote auf den Litfaßsäulen zur vertraulichen Behandlung der Angelegenheit oder i m T e x t der roten Mordplakate oder i m Wortlaut der Handzettel ohne nachhaltigen Widerhall. Hinter einem solchen A n g e b o t auf verbriefte Geheimhaltung des Täter- oder Sachhinweises s t e h t nunmehr die Praxis der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes i n Strafsachen. Aber die Entscheidungsgründe des Urteils des B G H v o m 10. 7 . 1 9 5 2 erkennen die Beweggründe des Anzeigenden nur insoweit an, als sie nichts Unrechtes beinhalten. B s ist selbstverständlich, daß falsche Anschuldigungen durch die Vertrauensperson v o n der Gewährleistung der Geheimhaltung nicht betroffen werden. Die Polizei würde in n i c h t wenigen Fällen eines wichtigen Mittels zur Aufklärung v o n Verbrechen beraubt, wollte m a n ihr vorschreiben, die E n t gegennahme v o n Anzeigen oder v o n anzeigeähnlichen Informationen, die unter der Bedingung der Geheimhaltung des Anzeigenden a n g e b o t e n werden, mit d e m Hinweis abzulehnen, eine Geheimhaltung könne nicht zugesichert werden. Monographien R. H e i n d l : System und Praxis der Daktyloskopie und der sonstigen technischen Methoden der Kriminalpolizei. 3. Aull. 1927. H. S c h n e i k e r t : Die Kriminalpolizei. 2. Aull. 1927. H. S c h n e i k e r t : Kriminaltaktik. 5. Aull. 1940. H. T e t z n e r : Die Photographie In der Kriminalistik. 1949. F. M e i n e r t : Die Brandstiltung und ihre kriminalistischen Erfordernisse. 1950. H. S ö d e r m a n n : Modern Criminal Investigation. New York, 4. Aufl.. 1952. H. v. H e n t i g : Zur Psychologie der Einzeldelikte. Bd.I Diebstahl, Einbruch, Kaub. 1954. K. Z b i n d e n : Kriminalistik. 1954. H. Gross und E. Seelig: Handbuch der Kriminalistik Bd. I. II. 8.19. Aull. 1954. F. M e i x n e r : Kriminaltaktik in Einzeldarstellungen. I. Bd. 1954. II. Bd. 1957. S v e n s s o n — W e n d e l : Tatortuntersuchung. 1956. R. Μ a l l y : Kriminalistische Spurenkunde. Bd.I. Bd. II. Schrittenreihe des Bundeskriminalamtes Wiesbaden 1958/1, 1958/2. O. W e n z k y : Zur Untersuchung der Verbrecherperseveranz. Der modus operandi als kriminalphaenomenologisches Element und kriminalistisches System. Schriftenreihe des Bundeskriminalamtes Wiesbaden. 1959/2. F. M e i x n e r : Der Indizienbeweis. 2. Aufl. 1962. W. Z i r p l n s und O. T e r s t e g e n : Wlrtschaftskriminalit&t. 1963, insbes. Bekämplung der Amts-Korruption, S. 742. St. B e r g : Das Sexualverbrechen. Hamburg 1963. Zeitschriftenaufsätze R. K o c k e l : Identifizierung von Werkzeugspuren. ArchKrim. 83 (1928) S. 288. F. W i t t l i c h : Rekonstruktion ausgefeilter Nummern und Prägezeichen. ArchKrim. 102 (1938) S. 53. O. B u h t z - E h r h a r d t : Die Identifikation von Bißwunden, DZGerMed. 29, (1938) S. 453. O. W e n z k y : Kriminalistische Erkenntnisse aus der Behandlung von Korruptionserscheinungen. Polizeiblatt 12 (1949) S. 81.

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Kriminaltaktik — Kriminaltechnik

O. W ι' η ζ k ν: Die Kriminaltechnik und naturwissenschaftliche Kriminalistik. Vortragsreihe über „Justiz und Polizei". Arbeitstagung 1961 in der Michael-Ilottschule, Mosbach/Baden. F a l t e r : Die kriminalpolizeiliche Leichenbehandlung im Katastrophenfall. Krim. 15 (1961) S. 374. M. O e g e n f u r t n e r : Diebstahl in Warenhäusern. Krim. 15 (1961) S. 350. W. Gay — W. G o e d e c k e : Vorbeugen durch Sicherungseinrichtungen für Kraftfahrzeuge. Krim. 15 (1961) S. 444. E. S c h r a m m und K. K a i s e r : Der homosexuelle Mann als Opfer von Kapitalverbrechen — Ursachen und Aufklärungsschwierigkeiten. Krim. 16 (1962) S. 255. O. W e n z k y : Der Fernsehfunk im Dienst der Kriminalpolizei? Pol. 53 (1962) 8. 218. O. W e n z k y : Elektronik als Hilfsmittel. Pol. 57 (1966) S. 98. O. W e n z k y : Verbrechensbekämpfung in den USA. Pol. 57 (1966). Fahndungs- und Ermittlungsdienst mit Computer, S. 203, 294, 318. Arbeitsmaterial Jahresübersichten des Landeskriminalamtes KordrheinWestfalen 1958—1966. Polizeiliche Kriminalstatistik der Bundesrepublik Deutschland 1962—1965, hrsg. v. Bundeskriminalamt Wiesbaden. Vorträge über Fragen der Brandermittlung, Bericht über die IV. Internationale Brandermittlertagung in Kiel 1958. OSKAR WENZKY

KRIMINALTECHNIK A. Allgemeines 1. Begriff und

Aufgaben

a) Unter dem Begriff Kriminaltechnik ist das Teilgebiet der Kriminalistik zu verstehen, dem es obliegt, unter Heranziehung und Nutzbarmachung bestehender technischer Verfahren sowie wissenschaftlicher Erkenntnisse und Praktiken, teilweise auch unter Entwicklung spezialisierter Untersuchungsmethoden, durch Sicherung und Untersuchung sachlicher Beweismittel zur Verbrechensaufklärung beizutragen. Die Kriminaltechnik steht neben der gerichtlichen Medizin. Wenn dem Begriff Kriminaltechnik in der Vergangenheit eine umfassendere Bedeutung zugemessen wurde und in einigen Veröffentlichungen auch heute noch wird, so entspricht die Verwendung des Kompositums nicht dem ihm ursprünglich zugedachten Inhalt, der durch die gegebene Definition abgegrenzt wird. Kanger hat darauf hingewiesen, daß das Wissensgebiet, welches in den ab 1913 in verschiedenen russischen Städten gegründeten „Kabinetts für wissenschaftliche Gerichtsexpertise" eine Pflegestätte fand und die Ermittlung und Untersuchung sachlicher Beweise und Spuren zum Gegenstand hatte, Kriminaltechnik genannt wurde. Das Wort Technik muß hier in seinem engeren Sinne als Naturbeherrschung durch und für den Menschen begriffen werden. Als das Wort Kriminaltechnik später auch in der deutschen Literatur Eingang fand, wurde es, der

Mehrdeutigkeit des Wortes „Technik" entsprechend, sowohl in dem ursprünglichen, engeren als auch im ausgedehnteren Sinne verwendet, wobei Technik als das Wissen verstanden wird, wie man etwas machen kann. Heute bedient sich die Praxis des Wortes „Kriminaltechnik" nur in seiner engeren Bedeutung, und auch die Literatur ist diesem Sprachgebrauch im allgemeinen schon gefolgt. Der Sinn synonym verwendeter Ausdrücke wie „naturwissenschaftliche Kriminalistik", „kriminaltechnische Untersuchungskunde", „Kriminalistik im engeren Sinne", „Polizeitechnik" ist vom Wort her nicht bestimmter als der des Wortes Kriminaltechnik. Sie haben deswegen, vom Ausdruck „naturwissenschaftliche Kriminalistik" abgesehen, keine allgemeine Anwendung gefunden. Die Kriminaltechnik als eigenen Wissenschaftszweig zu bezeichnen, ist — zumindest was die deutschen Verhältnisse angeht — noch nicht angezeigt. Sie ist aus verschiedenen Disziplinen erwachsen, wurde und wird weiterhin von ihnen gespeist und wird in Lehre und Forschung nur zögernd von der Disziplin aufgenommen, der sie funktionell zuzuordnen ist, nämlich der Rechtswissenschaft. b) A u f g a b e n g e b i e t e der Kriminaltechnik sind neben der objektiven Personenidentifizierung die Anwendung und Förderung der allgemeinen Spurenkunde und der besonderen Untersuchungskunde. Während die erstere vor allem das Feld des Ermittlungsbeamten darstellt, der in der Regel die Spuren zu suchen, zu sichern und zum Teil auch auszuwerten hat, ist die Untersuchungskunde, die sich mit allen sachlichen Beweismitteln und nicht nur mit Spuren befaßt, das Arbeitsgebiet des Kriminaltechnikers, wenn ihm auch in besonderen Fällen die Suche und Sicherung von Spuren obliegt. Seine örtliche und sachliche Zuständigkeit ist durch Gesetze, Erlasse und Dienstanweisungen begrenzt. Um die Definition des Begriffes Spur hat man sich vielfach bemüht. Mally unterscheidet in Übereinstimmung mit Zbinden zwischen immateriellen und materiellen Spuren und bezeichnet als materielle Spur alles, was als stoffliche Erscheinung mit unseren Sinnen — unmittelbar oder mittelbar — wahrgenommen werden kann, einen Zusammenhang zur Tat und zum Täter aufweist und der Tataufklärung dienlich erscheint. Das Vorgehen bei der Spurensuche wird sowohl von kriminaltaktischen als auch von kriminaltechnischen Regeln geleitet. Die Technik der Spurensicherung und die zweckmäßige Asservierung sachlicher Beweismittel überhaupt unter Anwendung geeigneter Geräte und Materiahen ist der Art des Beweismittels und der jeweiligen Situation anzupassen. Ziel der kriminaltechnischen Untersuchung ist vor allem die Feststellung der Identität von Personen und Sachen und die Fest-

Kriminaltechnik Stellung von Eigenschaften strittiger Dinge. Der Begriff Identität ist hier weder im logischen noch im mathematischen Sinne zu verstehen. Er hat vielmehr — soweit er sich nicht auf Personen bezieht (-*• C 1 a) — nur die Bedeutung, daß die Übereinstimmung zu vergleichender signifikanter Merkmale beweist, daß Material- oder Formspuren gleicher Herkunft sind. Grundlage dieser Feststellungen sind Befunde, die unter Anwendung der für den Einzelfall geeigneten Methoden erhoben werden. Soweit es sich um die Feststellung physikalischer oder chemischer Eigenschaften (-> Chemische Untersuchungsmethoden) strittiger Dinge handelt, geht der Befund häufig als Feststellung in das Verfahren ein. Beim Identitätsnachweis trifft der Sachverständige Feststellungen, indem er unter Anwendung von Erfahrungsgrundsätzen Schlüsse aus dem Befund zieht. Regeln für eine Bewertung von Art und Zahl der Merkmale im Hinblick auf den Aussagewert seiner Feststellungen sind ihm durchweg nicht gegeben. Eine Ausnahme bildet hier der daktyloskopische Identitätsnachweis (-»• D i e ) , bei dem die Zahl der für eine sichere Identifizierung erforderlichen Merkmale aber eher Ausdruck eines in den verschiedenen Ländern unterschiedlich groß gewählten Sicherheitsfaktors als eines statistischen Wertes ist. Hier wird auch darauf verzichtet, bei Vorliegen einer geringeren Zahl von Merkmalen Feststellungen mit einem bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrad zu treffen. Derartige Feststellungen werden aber sonst regelmäßig von den Prozeßbeteiligten erwartet. Die Abstufungen der Beweiskraft des Befundes, wie sie in der Gerichtspraxis üblich sind, gehen fast nie auf mathematische Werte zurück, sondern werden vom Sachverständigen auf Grund seiner Erfahrungen gewählt; der Sachbeweis erhält damit eine subjektive Komponente, die weitaus gewichtiger sein kann als der objektive Befund. Durch Auswertung einer großen Zahl von Befunden unter Anwendung statistischer Methoden und der Informationstheorie zu einem höheren Aussagewert der Befunde zu gelangen, ist eine wesentliche Aufgabe der Kriminaltechnik. 2. Geschichte und

Einrichtungen

a) G e s c h i c h t e . Solange im Strafverfahren vor allem formale Beweismittel Grundlage für die Urteilsfindung waren, hatte die Auswertung von sachlichen Beweismitteln, insbesondere von Spuren, keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung, es sei denn, daß sie zur Fahndung nach dem flüchtigen Täter dienten. Die gerichtliche Medizin, die in ihrer frühen Zeit als Inbegriff aller ärztlichen und naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden im Rahmen der Aufklärung von Straftaten zu gelten hat, entwickelte sich in Deutschland als Institution erst

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mit der Constitutio Criminalis Carolina (1532). Im Zuge der großartigen Fortschritte, welche die Chemie im Laufe des 18. Jahrhunderts machte, wurde von ihr auch ein fester Platz im Strafverfahren erobert. Wenn sich das Hauptinteresse vorerst auf die Giftausmittlung richtete, so wurden doch sehr bald auch andere, ferner liegende Probleme forensisch-chemischer Tätigkeit, wie das der Selbstentzündung, Gegenstand der Bemühungen. Die deutschen Strafprozeßordnungen aus den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts enthalten außer den Vorschriften, welche die Obduktion betreffen, auch solche über den Beweis durch Sachverständige überhaupt, wobei des Schriftsachverständigen besonders gedacht wird. Sie schreiben die Beachtung aller Spuren vor, die bei der Tat entstanden sein können, und verlangen eine besondere Untersuchung, wenn zu erwartende Spuren nicht vorgefunden werden. Damit waren die prozessualen Voraussetzungen f ü r die Entwicklung einer Kriminaltechnik gegeben. Die Praxis sah allerdings weithin anders aus. Wenn auch aus der ersten Hälfte der vorigen Jahrhunderte einige in kriminaltechnischer Hinsicht bemerkenswerte Fälle berichtet werden, so ist doch nicht zu übersehen, daß der Sachbeweis eine verhältnismäßig geringe Rolle spielte und seine schon damals gegebenen Möglichkeiten keineswegs allen mit der Aufklärung strafbarer Handlungen betrauten Personen bekannt waren. Die von Jagemann in dem 1838 erschienenen „Handbuch der gerichtlichen Untersuchungskunde" gegebenen Hinweise sind im Vergleich zu den Ausführungen über die anderen Maßnahmen des Untersuchungsrichters spärlich. Dessen Bestreben war es, den Tathergang durch Zeugenaussagen aufzuklären und den Beschuldigten durch geschickte Vernehmungen zum Geständnis zu bringen. In Stiebers „Practischem Lehrbuch der Criminal-Polizei" (Berlin, 1860) sind schon eine ganze Reihe von Spuren verschiedenster Art aufgezählt. Als Sachverständige wurden außer Ärzten, Chemikern und Apothekern solche Personen herangezogen, von denen auf Grund ihres Berufes oder Gewerbes erwartet wurde, daß sie Spuren der Tat oder andere sachliche Beweismittel sachgemäß zu beurteilen in der Lage waren. Die Polizeibeamten sollten Spuren zur Gewinnung von Fahndungshinweisen auswerten. Fußspuren wurden von ihnen auch zur Identifizierung des Spurenlegers genutzt. Der Wirkungsbereich der Polizeibeamten auf kriminaltechnischem Gebiet war aber sehr begrenzt, da es an entsprechender Vorbildung, Ausbildung und Anleitung fehlte. Mit der Einrichtung von Lichtbildstellen und der Erkennungsdienste (in Berlin 1876 bzw. 1896), die vorerst in der Hauptsache der objektiven Personenidentifizierung dienten, begann die Ent-

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Wicklung spezieller kriminaltechnischer Einrichtungen bei den Polizeibehörden, und damit setzte auch eine nach und nach allgemein werdende Förderung der technischen Fertigkeiten der Polizeibeamten ein. So wenig die mit Ermittlungen in Strafsachen befaßten Exekutivbeamten von den schon vorhandenen Möglichkeiten des Sachbeweises unterrichtet waren, so wenig waren auch die meisten Richter und Staatsanwälte damit vertraut. Das „Handbuch für den Untersuchungsrichter" von Hanns Groß, das 1893 erschien und in kurzer Zeit mehrmals neu aufgelegt wurde, gab zum erstenmal einen zusammenfassenden Überblick über die Gebiete, auf denen ein Sachverständiger zur Unterstützung des Untersuchungsführers tätig werden kann. b) Mit Entschiedenheit setzte sich Groß auch dafür ein, entsprechende E i n r i c h t u n g e n in Form kriminologischer Institute an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten zu schaffen. Zu deren Aufgaben sollte unter anderem auch die Durchführung kriminaltechnischer Untersuchungen in dafür geeigneten Laboratorien und die Forschung und Lehre auf diesem Gebiet gehören. Leitend war hierbei der Gedanke, dem Juristen Gelegenheit zu geben, sich kriminaltechnische Kenntnisse zu erwerben und diese auch erweitern zu können. Dieser Forderung wurde aber nur zögernd und in geringem Umfang nachgekommen. Vorerst nahmen sich vor allem die Institute für gerichtliche Medizin der Entwicklung kriminaltechnischer Untersuchungsmethoden an. Im Rahmen ihres Lehrbetriebes boten und bieten sie allein an den meisten deutschen Universitäten für den Rechtsbeflissenen Möglichkeiten, sich im Rahmen des Studiums Kenntnisse auf dem Gebiet der Kriminaltechnik zu erwerben. Selbständige, als gerichtliche Sachverständige tätige Chemiker und solche, die in staatlichen oder kommunalen Untersuchungsämtern tätig waren, förderten in hohem Maße die Spurensicherung und die Methodik der Beweismitteluntersuchung. Aber auch die Erkennungsdienste einiger Großstadtkriminalpolizeien befaßten sich im Rahmen ihrer personellen und technischen Möglichkeiten neben der Ausarbeitung und Praktizierung von Methoden der objektiven Personenidentifizierung, welche eine Domäne der Kriminalpolizei wurde, insbesondere mit der Auswertung von Finger- und Formspuren, auch im makroskopischen Bereich. Ihrer besonderen Verantwortung auf dem Gebiete der Spurensuche und -Sicherung trugen die Kriminalpolizeibehörden durch den Erlaß entsprechender Dienstanweisungen Rechnung. Der nur gelegentlich auf Grund seiner beruflichen oder gewerblichen Erfahrungen zur Beurteilung sachlicher Beweismittel herangezogene Sachverständige trat immer mehr zurück, da er häufig nicht in der Lage war, im Rahmen des Sachbeweises mit der notwendigen Sicherheit

Feststellungen zu treffen. Es wurde die Notwendigkeit erkannt, auf bestimmten Gebieten, welche bis dahin diesen Sachverständigen vorbehalten waren, vor allem auf dem der Werkzeug- und Schußwaffenspuren, spezifische Untersuchungsmethoden zu schaffen. Hier hat u. a. Rudolf Kockel, seit 1900 Direktor des Instituts für gerichtliche Medizin der Universität Leipzig, Besonderes geleistet. Ein kriminalistisches Institut, das in etwa den von Groß erhobenen Forderungen entsprach, wurde zuerst an der Universität Lausanne eingerichtet. R. A. Reiß, der dort ab 1901 über Photographie und ab 1906 über „police scientifique" las, regte die Einrichtung eines „Instituts für wissenschaftliche Polizei" an. Dieser Anregung folgte der Kanton Waadt im Jahre 1909. Das Institut entfaltete eine rege Tätigkeit und bietet heute Gelegenheit zu einer siebensemestrigen Ausbildung, die mit einer polizeiwissenschaftlichen Diplomprüfung abschließt. Die in der Folgezeit an österreichischen, deutschen und anderen Universitäten im Rahmen der rechtswissenschaftlichen Fakultäten errichteten kriminalistischen bzw. kriminologischen Universitätsinstitute dienten und dienen der kriminologischen Forschung und Lehre allgemein, schulen den juristischen Nachwuchs aber auch auf kriminaltechnischem Gebiet und führen Untersuchungen aus. Zu nennen sind hier u. a. das seit 1912 bestehende kriminalistische Universitätsinstitut in Graz, die 1923 gegründeten einschlägigen Institute an den Universitäten Wien, Köln und Riga, die Institute für Kriminalistik an den Universitäten in Ostberlin (1952) und Leipzig sowie die Institute für Kriminalistik und Kriminologie, die in der Nachkriegszeit an mehreren französischen Universitäten eingerichtet wurden. Das 1929 an der Northwestern University in Chikago errichtete „Scientific Crime Detection Laboratory", dem gleiche Institute an anderen nordamerikanischen Universitäten folgten, das „Kriminalistische Laboratorium" der Reichsuniversität in Gent und das 1947 gegründete „Department of Criminal Science" an der Universität Cambridge sind weitere Beispiele für Universitätsinstitute, denen die Forschung, Lehre und Gutachtenerstattung auf kriminaltechnischem Gebiet obliegt. Die Polizeibehörden beschränkten sich in Deutschland im ersten Quartal des 20. Jahrhunderts darauf, den Erkennungsdienst auszubauen, der aber nicht nur auf seinem eigentlichen Gebiet, der Personenidentifizierung, tätig wurde, sondern sich auch der Untersuchung von Spuren und anderen Beweismitteln annahm. Einige staatliche Untersuchungsämter, wie das Königl. Materialprüfamt an der Technischen Hochschule zu Berlin vor dem ersten Weltkriege, später die Preußische Landesanstalt für Lebensrnittel-, Arzneimittelund gerichtliche Chemie in Berlin und das

Kriminaltechnik Städtische chemische Untersuchungsamt in Stuttgart arbeiteten eng mit der Polizei zusammen. Das 1915 von Heindl in Dresden eingerichtete chemische Polizeilaboratorium erlangte wegen der Kriegsverhältnisse keine Bedeutung. In Frankreich nahm 1910 das Polizeilaboratorium in Lyon unter der Leitung von Edmond Locard seine Tätigkeit auf. Der Erkennungsdienst der Pariser Polizeipräfektur wurde durch ein kriminaltechnisches Laboratorium vervollständigt. In Wien entfaltete das 1924 gegründete Kriminaltechnische Institut der Polizeidirektion unter der Leitung von S. Türkl einen die Kriminaltechnik stark befruchtenden Forschungs- und Lehrbetrieb, der Anfang der dreißiger Jahre eingeschränkt werden mußte und mit der 1932 erfolgten Eingliederung in den Erkennungsdienst praktisch sein Ende fand. In Nord- und Südamerika wurden in den zwanziger und dreißiger Jahren in verschiedenen größeren Städten Polizeilaboratorien gegründet, so ζ. B. 1923 als älteste städtische Institution dieser Art in den USA das Kriminaltechnische Laboratorium von Los Angeles, 1932 das Polizeilaboratorium in La Paz, Bolivien. Nach dem zweiten Weltkrieg sind vielen größeren Polizeidienststellen kriminaltechnische Laboratorien mit unterschiedlich abgesteckten Arbeitsgebieten anoder eingegliedert. Einige staatliche kriminaltechnische Laboratorien sind einem Ministerium direkt unterstellt oder angeschlossen, so das „Gerechtelijk Laboratorium" in Den Haag dem Niederländischen Justizministerium und die 1962 eröffnete Kriminaltechnische Zentralstelle in Wien dem Bundesministerium des Innern. Das Kriminalistische Institut des Kantons Zürich, welches u. a. die Aufgabe hat, die Funktionäre der Strafrechtspflege auf dem Gebiete der Kriminaltechnik zu fördern, untersteht der Aufsicht der Justizdirektion des Kantons Zürich. In Deutschland wurde 1938 ein Kriminaltechnisches Institut der Sicherheitspolizei (KTI) im Zuge der Zentralisierung der Kriminalpolizei eingerichtet. Es ging aus dem Städt. Chem. Untersuchungsamt in Stuttgart hervor. 1941 konnten bei den Kriminalpolizei-(Leit-)Stellen, denen ein beim KTI ausgebildeter Spezialbeamter zur Verfügung stand, Kriminaltechnische Untersuchungsstellen (KTU) eingerichtet werden. Deren Tätigkeit erstreckte sich, der Vor -und Ausbildung dieser Beamten entsprechend, nur auf einige fest umrissene Gebiete. Alle Untersuchungen, die eine wissenschaftliche Ausbildung erforderten, mußten an das KTI abgegeben werden. Die KTU waren den Erkennungsdiensten angegliedert. 1942 wurde der Reichserkennungsdienst mit dem KTI in einer Gruppe vereinigt. Daß das KTI nicht in der Lage war, alle Untersuchungen auszuführen, für die es nach dem Organisationsplan zuständig war, wurde schon in den ersten Jahren seines Bestehens offenbar.

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c) Die O r g a n i s a t i o n k r i m i n a l t e c h n i s c h e r E i n r i c h t u n g e n in der B u n d e s r e p u b l i k ist keineswegs einheitlich. Beim Wiederaufbau nach dem Zusammenbruch 1945 schlug man in den vier Besatzungszonen unterschiedliche Wege ein. Während in der britischen und sowjetischen Besatzungszone zentrale kriminaltechnische Institute mit einem Unterbau von regionalen kriminaltechnischen Untersuchungsstellen geschaffen wurden, schaffte man in der amerikanischen und französischen Besatzungszone auf Länderebene kriminaltechnische Laboratorien recht unterschiedlicher Größenordnung. War in Bayern die geplante personelle und gerätemäßige Ausstattung von vornherein darauf abgestellt, fast alle Untersuchungen selbst durchführen zu können, so beschränkten sich andere Länder darauf, den Tätigkeitsbereich der früheren KTU mehr oder weniger stark auszuweiten, insbesondere in Richtung auf die chemisch-physikalischen Untersuchungen, im übrigen aber andere Einrichtungen, insbesondere Hochschulinstitute, in Anspruch zu nehmen. Der Polizeiorganisation entsprechend, wurden bei einigen kommunalen Polizeibehörden kleinere kriminaltechnische Laboratorien eingegerichtet. Als 1951 das Kriminalpolizeiamt für die britische Zone einschließlich seiner Kriminaltechnischen Anstalt im neu errichteten Bundeskriminalamt aufging und die Kriminalpolizeien der Länder neu organisiert wurden, begann man in den Ländern auch den Ausbau der kriminaltechnischen Einrichtungen mit Nachdruck zu betreiben. Ihre Organisationsformen und Größe sind verschiedenartig gestaltet (->• Kriminalpolizei). Alle Landeskriminalämter haben ein kriminaltechnisches Laboratorium, das in den größeren Ländern mit Technikern und mit Wissenschaftlern verschiedener Sparten wie Chemikern, Physikern, Biologen und auch — im Gegensatz zum früheren KTI — mit Gerichtsmedizinern besetzt ist. Darüber hinaus bestehen in einigen Ländern kleinere örtlich oder regional zuständige Stellen, deren Tätigkeit sich vor allem auf das Gebiet der Spurensicherung und der einfachen optischen Untersuchungen erstreckt. Das Bundeskriminalamt ist nach dem Gesetz über die Einrichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes (Bundeskriminalamtes) vom 8. 3. 1951 (BGBl. I, S. 165) verpflichtet, kriminaltechnische Einrichtungen zu unterhalten (§ 2, Ziff. 3). Untersuchungen, für welche die Einrichtungen der Landeskriminalämter nicht ausreichen, werden vom BKA übernommen; außerdem unterhält die Abteilung Kriminaltechnik des BKA den zentralen Schußwaffen-, Hand- und Maschinenschrifterkennungsdienst. Es schult und prüft die kriminaltechnischen Spezialbeamten und Daktyloskopen. Die Notwendigkeit, besondere polizeiliche kriminaltechnische Laboratorien zu errichten, resul-

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tiert aus zwei Überlegungen. Einmal gibt es sonst keine Institution, die in der Lage ist, alle oder fast alle Untersuchungen, die in einer Ermittlungssache anfallen, durchführen zu können und Sachverständige, auch für den Einsatz am Tatort, zur Verfügung zu stellen. Zum andern kann eine Institution, die organisatorisch nicht eng mit der Polizei verbunden ist und demgemäß nur im Einzelfall untersuchen kann, nicht zu einer optimalen Spurenauswertung gelangen. Dazu gehört unter anderem die Auswertung von Spuren und Tatwerkzeugen im Hinblick auf Tatzusammenhänge auch über größere zeitliche und räumliche Distanzen hinweg, für die im Rahmen der polizeilichen Organisation die Finger- und Werkzeugspurensammlungen, Schußwaffen-, Handschriftund Maschinenschrifterkennungsdienste bei den Landeskriminalämtern und beim Bundeskriminalamt eingerichtet sind (->- D l c , D 4 a, D 6f, D 7 g). Selbständige Sachverständige, welche die kriminaltechnischen Untersuchungsmöglichkeiten in ihrer ganzen Breite kennen und beherrschen, kann es heute nicht mehr geben. Auf Spezialgebieten tätige Sachverständige, die nur gelegentlich mit der Untersuchung und Begutachtung von Spurenmaterial betraut werden, sind nicht immer in der Lage, alle an sich vorhandenen Möglichkeiten auszuschöpfen. Abgesehen davon, daß ihnen nicht in jedem Fall die dafür erforderlichen Geräte zur Verfügung stehen, verlangt die Spurenuntersuchung ein hohes Maß von Wahrnehmungsfähigkeit, wie sie nur in der stetigen Erfahrung an den Befunden erworben werden kann. Von diesen Gedanken ausgehend, haben sich auch die Zollverwaltung und die Bundespost Einrichtungen geschaffen, die sich auf die in dem Arbeitsbereich dieser Behörden anfallenden Untersuchungen spezialisiert haben. d) Die Einrichtung der polizeilichen k r i m i n a l t e c h n i s c h e n L a b o r a t o r i e n bei den LKÄ und dem BKA verlangt einen erheblichen personellen und materiellen Aufwand. Meinert hat auf Grund der Erfahrungen, die er bis 1966 beim Bayerischen Landeskriminalamt sammelte, auf je 1 Million Einwohner einen Wissenschaftler, zwei Kriminaltechniker und zwei Hilfskräfte für ein solches Laboratorium gefordert. Diese Forderung entspricht dem auch an anderen Orten zu beobachtenden Arbeitsanfall, sie ist aber bislang nicht überall erfüllt. Das ist um so bedenklicher, als in Zukunft die Tätigkeit der Kriminalpolizei sich in viel höherem Maße als bisher auf die Sicherung von Spuren und anderen sachlichen Beweismitteln wird erstrecken müssen und das Heranbilden des Personals einige Zeit in Anspruch nimmt. Soweit es sich bei den wissenschaftlich gebildeten Kräften nicht um Gerichtsmediziner handelt, sind auf den einzelnen Spezialgebieten bereits als Gutachter tätig gewesene Wissenschaftler, die ohne besondere Ein-

weisung tätig werden können, nur selten anzutreffen. Weiter bietet nur eine ausreichende personelle Besetzung der Laboratorien den Gutachtern die Möglichkeit der wissenschaftlichen und technischen Weiterbildung, die verhindert, daß ihre Tätigkeit zur Routine wird. Die kriminaltechnischen Spezialbeamten rekrutieren sich aus der Kriminalbeamtenschaft. Ihre Ausbildung richtet sich nach bundeseinheitlichen Vorschriften. Nachdem sie mindestens 3 Jahre bei einer Untersuchungsstelle praktisch gearbeitet haben, können sie an einem Lehrgang beim BKA teilnehmen, der mit einer Prüfung abschließt. Danach kann der kriminaltechnische Spezialbeamte als Gutachter für die Polizei eingesetzt werden, wobei sich seine Tätigkeit auf bestimmte Gebiete beschränkt. Für die Ausbildung von Schriftsachverständigen der Polizei gelten besondere Vorschriften, ebenso für die der DaktyloskopeD ( C 3 h). Die gerätemäßige Ausstattung der Laboratorien erfordert in Anbetracht des Zwanges, auch aus geringen Mengen von Material die größtmögliche Zahl von Informationen zu gewinnen, einen erheblichen Aufwand. Abgesehen von der üblichen Laboreinrichtung, von Labormikroskopen und Mikroskopen für Sonderzwecke, werden insbesondere für chemische und physikalische, aber auch für medizinische und biologische Untersuchungen eine Reihe von größeren Geräten für die Aufbereitung des Untersuchungsmaterials, für die Emissions- und Absorptionsspektralanalyse, für Röntgenfeinstrukturanalysen, die Gaschromatographie, für Materialprüfungen u. a. mehr benönötigt. Entsprechend groß ist auch die Zahl und Weite der notwendigen Arbeitsräume, die sich weni ger nach der Zahl des Personals als nach den gepflegten Untersuchungsgebieten und -methoden richtet. e) Die kriminaltechnischen G u t a c h t e r der Polizei werden zumeist bereits im Zuge des Ermittlungsverfahrens für die Untersuchung von Spuren und anderen sachlichen Beweismitteln herangezogen. Dieser Gutachter wird dann in der Regel auch vom Gericht zum Sachverständigen bestellt. Daß ein bereits im Ermittlungsverfahren tätig gewordener Gutachter, auch wenn er Polizeibeamter ist, nach §§ 74, 22 Ziff. 4 StPO als Sachverständiger abgelehnt werden kann, weil er „in der Sache als Polizeibeamter tätig gewesen ist", wird sowohl vom BGH (Urteil v. 24.6.1958, NJW 1958, S. 1308) als auch von der herrschenden Rechtslehre verneint. Ob wegen einer Tätigkeit im Auftrage der Polizei oder als Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft ein Sachverständiger als befangen abgelehnt werden kann, richtet sich nach der Lage des einzelnen Falles. Im allgemeinen wird dies zu bejahen sein, wenn der Sachverständige bei der Ermittlung Dicht bloß beratend tätig geworden ist, sondern vor allem sicherheitspolizeiliche Aufgaben wahrgenommen hat (Urteil vom 11.1.1963, MDR 1963, S. 430).

Krirainaltechnik Durch entsprechende innerdienstliche Anweisungen ist dem polizeilichen Sachverständigen in der Behörde eine Stellung zuzuweisen, welche Mißdeutungen seiner dienstlichen Funktion im Hinblick auf seine Position im Strafverfahren verhindert und seine Unabhängigkeit in bezug auf die Gutachtenerstattung gewährleistet. Monographien R. E. T u r n e r : Forensic Science and Laboratory Technics. 1949. P. L. K i r k : Crime Investigation. Physical Evidence and the Police Laboratory. 1953. Gross-Seelig: Handbuch der Kriminalistik. 9. Aull, des „Handbuchs für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik". 1954. K. Z b l n d e n : Kriminalistik. Strafuntersuchungskunde. 1954. H. B e c k e r u . a . : Kriminaltechnik. 1955. A. S v e n s s o n u . O. W e n d e l : Tatortuntersuchung. Moderne Methoden der Verbrechensaufklärung. 1956. R. M a l l y : Kriminalistische Spurenkunde. 1958. H.-H. H u e l k e : Spurenkunde. 3. Aufl. 1965. E. W i g g e r : Kriminaltechnischer Leitfaden. 1965. Zeitschriftenaufsätze K. Mehl: Die Kriminaltechnische Anstalt des Landesfahndungsamtes Württemberg-Baden. Krim. 1 (1946) S. β. B e c k e r : Das Krimlnaltechnische Institut beim Kriminalpolizeiamt für die britische Zone in Hamburg. Krim. 3 (1949) S. 246. W. F i n k e : Das Polizeilaboratorium in Lyon. Krim. 3 (1949) S. 102. B. G n l r s : Metallsuchgeräte bei der Aufklärung von Verbrechen. Krim. 4 (1950) S. 237. M. F r e i - S u l z e r : Die Sicherung von Mikrospuren mit Klebband. Krim. 5 (1951) S. 190. F. M e i n e r t : Die Ausschöpfung naturwissenschaftlicher Aufklärungsmethoden. Die Neue Polizei 5 (1951) 8. 85. J u l i e r : 50 Jahre Kriminaltechnik. Krim. 5 (1951) S. 173; 6 (1952) S. 28 u. 278; 7 (1953) S. 204. H. D o m b r o w s k i : Der polizeiliche Sachverständige im Strafverfahren. Krim. 9 (1955) 8. 210. M. E b e r h a r t : Die Spurensicherung als wichtiger Teil der Aufklärungsarbeit. Krim. 9 (1955) S. 135. R. Η ei η dl: Naturwissenschaftliche Kriminalistik. ArchKrim. 118 (1956) S. 41. F. M e i n e r t : Das Laboratorium des Bayer. Landeskriminalamts. ArchKrlm. 118 (1956) S. 39. H. A r n e t : Die Verwendung von Metallsuchgeräten im Polizeidienst. Krim. 11 (1957) S. 466. A. B r ü n i n g : Überblick über die historische Entwicklung der naturwissenschaftlichen Kriminalistik. ArchKrim. 119 (1957) S. 103. A. K a n g e r : Der Begriff „Spur" und seine Definition. Schriftenreihe der Deutschen Volkspolizei. Heft 8 (1957) S. 2. B. N i g g e m e y e r : Die Bedeutung der Tatortuntersuchung für das Strafverfahren. Krim. 11 (1957) S. 6. W. S p e c h t : Die gegenwärtige und zukünftige Situation der Kriminaltechnik. Krim. 11 (1957) S. 317. A. D o l e z a l u. C. R e p l s : Von der Bertillonage zur modernen Kriminaltechnik, öffentliche Sicherheit. 23 (1958) Heft 9, S. 7. M. F r e i - S u l z e r : Die Beschaffung des Vergleichsmaterlals für kriminaltechnische Gutachten. Krim. 12 (1958) S. 98. Das Institut für Kriminalistik und Kriminologie der Universität Aix-MarseiUe. RIPC 13 (1958) S. 155. K. S c h u l z : Zusammenarbeit zwischen Ermittlungsbeamten und Kriminaltechniker. Krim. 12 (1958) S. 81. W. S t e d r y : Die Spureneuche, ein Stiefkind der Kriminalpolizei. Krim. 12 (1958) S. 84.

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Kriminaltechnik

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B. Photographie 1. Allgemeines a) Der p h o t o g r a p h i s c h e P r o z e ß hat das Erzeugen bleibender Bilder durch sichtbare oder unsichtbare Strahlen auf lichtempfindlichem Material zum Gegenstand. In den meisten Fällen bedient man sich dazu einer Kamera, in die mit einer lichtempfindlichen Schicht (Emulsion) versehene Glasplatten oder Filme eingelegt werden. Auf ihr wird beim Belichten durch das Objektiv der Kamera das zu photographierende Objekt abgebildet. Die Eigenschaften der in der Emulsion liegenden lichtempfindlichen Substanzen, in der Regel Halogensilberkristalle, erfahren dabei Veränderungen. Beim Entwickeln werden die durch das Belichten veränderten Kristalle zu metallischem Silber reduziert. Die unbelichteten Silberhalogenide werden beim Fixieren aus der Schicht gelöst. Das so gewonnene Negativ zeigt das Weiß des abgebildeten Objektes schwarz, das Schwarz weiß. Farben sind in Grautönen wiedergegeben, die aber, je nach der Art des benutzten Negativmaterials, mehr oder weniger stark von der subjektiven Helligkeit des Objektes abweichen, da die spektrale Empfindlichkeit der Silbersalze von der des menschlichen Auges verschieden ist. Durch Zusatz von Sensibilisatoren kann sowohl die Licht- als auch die Farbempfindlichkeit der Emulsion in bestimmten Spektralbereichen gesteigert werden. Durch Verwendung mehrerer Sensibilisatoren ist es möglich, die spektrale Empfindlichkeit des Aufnahmematerials der des normalen menschlichen Auges weitgehend anzunähern. Auch Farbfilter, welche der spektralen Empfindlichkeit und den Farben des Aufnahmegegenstandes entsprechen, können — bei der Aufnahme vor oder hinter das Objektiv der Kamera gesetzt — zur tonwertrichtigen Wiedergabe beitragen. Abweichungen sind aber in einzelnen Bereichen immer vorhanden. Wird eine lichtempfindliche Schicht, die sich gewöhnlich auf Papier befindet, durch das Negativ belichtet und alsdann entwickelt und fixiert, erhält man ein Bild des Negativs mit umgekehrten Helligkeitswerten, das Positiv. Beim Belichten kann das Negativ mit seiner Schicht dem Kopierpapier unmittelbar aufliegen, es kann aber auch mit Hilfe eines Gerätes vergrößert oder verkleinert auf dem Papier abgebildet werden. Diapositive auf Filmen oder Platten für die Projektion oder

Betrachtung bei durchfallendem Licht sind sowohl auf diese Weise als auch durch das den Negativund Positivprozeß vereinigende Umkehrverfahren herzustellen. b) Von den photographischen Verfahren, die eine W i e d e r g a b e des Aufnahmegegenstandes i n natürlichen F a r b e n zum Ziel haben, sei hier nur das skizziert, bei welchem ein Mehrschichtenfilm mit Farbkupplern verwendet wird. Dieser Film, der in jeder normalen Kamera belichtet werden kann, hat eine blau-, eine grün- und eine rotempfindliche Schicht, die jeweils Farbkuppler für gelbe, purpurfarbene bzw. blaugrüne Farbstoffe enthält. Eine Gelbfilterschicht unter der obersten blauempfindlichen Schicht läßt das blaue Licht nicht in die darunter liegenden Schichten gelangen. Neben dem Silberbild entsteht beim Entwickeln des belichteten Films in jeder Schicht ein Farbstoffbild. Beim Bleichen wird das Silberbild, beim Fixieren das restliche Bromsilber aus der Emulsion gelöst. Vom Negativ, welches die Komplementärfarben des Aufnahmegegenstandes zeigt, wird ein Positiv auf Papier oder Film angefertigt. Auch hier ist es möglich, durch Umkehrentwicklung Diapositive zu schaffen. Die Farbwiedergabe des heute verfügbaren Materials genügt den Ansprüchen der Praxis. c) Die Bearbeitung der Negative und Positive erfordert eine Dunkelkammer, über die heute alle größeren Kriminalpolizeidienststellen verfügen. Sie kostet aber auch Zeit, insbesondere, wenn es sich um Farbaufnahmen handelt. Das P o l a r o i d V e r f a h r e n ermöglicht die Herstellung eines Papierbildes in der Kamera (Spezialkamera oder Spezialkassette), wobei das Schwarzweißbild etwa 10 Sekunden, das Farbbild etwa 60 Sekunden nach dem Belichten der Kassette entnommen werden kann. Die Möglichkeit, eine Photographie gleich nach der Aufnahme auf ihre Brauchbarkeit überprüfen zu können, ist auch für kriminalistische Zwecke von Belang. 2. Die Photographie in der Kriminalistik a) Von den Strafverfolgungsbehörden ist die Photographie alsbald nach ihrer Erfindung (1839) für die Abbildung von Verbrechern angewendet. Auf die B e d e u t u n g der P h o t o g r a p h i e f ü r die K r i m i n a l i s t i k hat in Deutschland Odeb r e c h t als erster nachdrücklich hingewiesen (in GA 12 [1864] S. 660). Aber erst nach der Einführung der Trockenplatte (1871) gewann sie auf diesem Gebiet Bedeutung. Heute dient die Photographie den verschiedensten kriminalistischen Zwecken. Von den anzuwendenden Verfahren können nur einige kurz dargestellt werden. Die Photographie hat hier einmal die Aufgabe, vorübergehende Zustände oder Phasen von Vorgängen im Bild festzuhalten, nnd ist damit vor allem konservativen und deskriptiven Charakters, oder sie wirkt explorativ. Hierbei stellt sie unter

Krimmaltechnik Ausnutzung der Eigenschaften des Photomaterials und unter Anwendung spezieller Aufnahmetechniken Dinge dar, die sich der sinnfälligen Wahrnehmung sonst ganz oder teilweise entziehen. Sowohl in dem einen als auch in dem anderen Falle ist die Photographie nicht ohne weiteres als objektive, dokumentarische Darstellung zu werten. Ganz davon abgesehen, daß ein Lichtbild nicht identisch ist mit dem abgebildeten Gegenstand, seine Betrachtung also nur einen mehr oder weniger guten Ersatz für die Betrachtung des abgebildeten Gegenstandes selbst darstellt, kann der Aussage-Inhalt der Bilder zufällig oder gewollt gegenüber der Wirklichkeit verändert sein. Auf die zum Teil erheblichen Unterschiede, die zwischen dem subjektiven Helligkeitseindruck und der Bildschwärzung bestehen, wurde oben schon hingewiesen. Bei nicht sachkundiger Auswahl und Verarbeitung sowohl des Aufnahmeals auch des Positivmaterials kann das Lichtbild einen völlig falschen Eindruck vom dargestellten Objekt hinsichtlich der Helligkeitswerte bei Schwarzweißaufnahmen bzw. der Farben bei Farbaufnahmen vermitteln. Sind auf der Photographie die Abmessungen in der Tiefe ohnehin anders vergrößert oder verkleinert als die senkrecht zur optischen Achse stehenden, so kann dieser Effekt durch Verwendung eines Weitwinkel- oder Teleobjektivs noch erheblich verstärkt werden. Auch die Wahl des Kamerastandortes bei der Aufnahme spielt eine Rolle. Abweichungen von der gewohnten Perspektive täuschen von der Wirklichkeit abweichende Proportionen vor. Bei extrem flacher oder steiler Beleuchtung treten Höhenunterschiede stark in Erscheinung oder verschwinden. Besonders im Bereich der Makro- und Mikrophotographie können durch falsche Beleuchtung Irrtümer erweckende Abbildungen produziert werden. Doch auch zufällige Erscheinungen, wie Überstrahlungen oder Mängel im Negativ, ergeben eine von der Wirklichkeit im entscheidenden Punkt abweichende Abbildung. Daß durch gezielte Manipulationen, wie durch Photomontagen, Lichtbildern ein falscher Inhalt gegeben wird, ist bekannt. b) Die polizeiliche P e r s o n e n p h o t o g r a p h i e wurde durch Bertillon maßgeblich beeinflußt. Da das Lichtbild die wesentliche Identifizierungsgrundlage darstellte, bestand ein Interesse daran, Personenaufnahmen nach bestimmten, gleichbleibenden Regeln anzufertigen. Nachdem Bertillon 1890 in seinem Buch „La photographie judiciaire" eine zweiteilige Personenaufnahme (Enface- und Profilbild) unter Gebrauch von zwei im rechten Winkel zueinander stehenden Kameras vorgeschlagen hatte, entwickelte er später eine Einrichtung, bei der die Kamera und ein drehbarer Stuhl fest miteinander verbunden sind (BertillonKamera). In Deutschland wurde eine dritte Aufnahme im dreiviertel Profil hinzugenommen. Die 10

HdK, 2. Aufl., Bd. II

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Verwendung von farbigen Papierbildern, Diapositiven und auch von Filmen zur Darstellung von Verbrechern beschränkt sich zur Zeit noch auf Ausnahmefälle. Für die heimliche Aufnahme von Personen, wie sie etwa im Zuge von Observationen erforderlich ist, eignen sich Kleinstkameras, die man in der Hand verbergen kann oder die Form eines unauffälligen Gebrauchsgegenstandes haben. Ist es nicht möglich, sich dem Aufnahmegegenstand so weit zu nähern, daß mit solchen Apparaten brauchbare Ergebnisse zu erzielen sind, führt die Fernphotographie vielleicht zum Erfolg. Kleinbildkameras in Verbindung mit Teleobjektiven sind dafür besonders gut zu verwenden. Rechtliche Grundlage für die Photographie eines Beschuldigten ist § 8 1 b StPO; Einzelheiten -»• C 3i. Für die Zwecke der Rechtspflege und der öffentlichen Sicherheit dürfen von den Behörden Bildnisse ohne Einwilligung des Berechtigten sowie des Abgebildeten oder seiner Angehörigen vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zur Schau gestellt werden (§ 24 Kunst UrhG). c) Die T a t o r t p h o t o g r a p h i e stellt an den Photographen und an die Aufnahmegeräte vielfältige Anforderungen. Unterschiedliche Aufnahmebedingungen und Aufnahmemaßstäbe verlangen eine gute photographische Ausrüstung. Hierzu gehört einmal eine Plattenkamera mit langem Balgauszug, verstellbarer Standarte für Entzerrung, leicht auswechselbaren Objektiven und Mattscheibeneinstellung, zum andern eine Kleinbildkamera mit auswechselbaren Objektiven und gekuppeltem Entfernungsmesser. Weiter müssen ein stabiles Stativ, ein Blitzgerät und ein Belichtungsmesser vorhanden sein. Ein Leiteroder Brückenstativ ist von Nutzen. Das Raumbildverfahren wird bei der Tatortphotographie kaum verwendet. Entscheidend ist hier vor allem die Schwierigkeit, die Bilder mehreren Betrachtern gleichzeitig vorzuführen. d) Von größerer Bedeutung sind die Vorteile, welche die P h o t o g r a m m e t r i e bei der Aufnahme von Tatorten und Unfallstellen bietet. Es handelt sich um vermessungstechnische Verfahren, welche der Herstellung des technisch-konstruktiven Zeichenbildes aus photographischen Aufnahmen dienen. Die Einbildphotogrammetrie, die schon Bertillon für kriminalistische Zwecke vorgeschlagen hat und die später auch insbesondere von Heindl propagiert wurde, hat in der kriminalpolizeilichen Praxis keinen Platz gewonnen. Ihre Methoden sind zu kompliziert und nicht genau genug. Von den Firmen Zeiss-Aerotopograph GmbH in München (früher Jena) und Wild in Heerbrugg (Schweiz) entwickelte photogrammetrische Spezialgeräte für die Nahbildmessung genügen sowohl hinsichtlich der Genauigkeit als auch hinsichtlich der Einfachheit der Bedienung den Anforderungen

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Krimmaltechnik

der polizeilichen Praxis. Als Aufnahmegerät finden Stereometerkammern (Doppelkammern) mit 40 cm Basis für den Aufnahme!) ereich von 1,20 bis 6 m, solche mit 120 cm Basis für den Bereich von 6 bis 100 m Verwendung. Zur Auswertung werden die beiden Negative im Stereoautographen ausgemessen. Im binokularen Betrachtungssystem des Gerätes erscheinen die Negative achtfach vergrößert und vermitteln einen übertriebenen plastischen Eindruck. Mit einer durch zwei Handräder und einer Fußscheibe bewegbaren Wandermarke im Betrachtungssystem werden die Kanten, Linien usw. im räumlichen Bild nachgefahren. Diese Bewegungen teilen sich einem Zeichenstift mit, welcher die abgetasteten Linien auf ein Zeichenblatt überträgt. Die Höhen über der Aufnahmebasis sind einer Skala in Metern und Zentimetern zu entnehmen. Der Maßstab der Zeichnung kann von 1:10 bis 1:200 gewählt werden. Die nicht unerheblichen Anschaffungskosten für die beschriebenen Instrumente einerseits und die Tatsache, daß man in vielen Fällen mit Hilfe von einfachen Aufnahmen und Vermessungen für die Praxis ausreichende Ergebnisse erzielen kann, sind der Grund dafür, daß die Photogrammetrie nicht allgemein Eingang bei der Polizei gefunden hat. e) Im Rahmen kriminaltechnischer Untersuchungen ist die Makro- u n d M i k r o p h o t o g r a p h i e für die Darstellung von Spuren, für ihre Auswertung und zur Dokumentation des Untersuchungsbefundes unentbehrlich. Geben Übersichtsaufnahmen mit einem der Größe des Objektes angepaßten Abbildungsmaßstab einen Begriff von der Situation der Spur am Tatort oder auf dem Spurenträger, so sind durch die Makrophotographie, welche die Darstellung von Objekten im Bereich der Vergrößerungen von 1:1 bis 30:1 umfaßt, und die Mikrophotographie auch kleinste Spuren im Detail und unter Hervorhebung der für den Befund wichtigen Erscheinungen abzubilden. Für die Mikrophotographie bedient man sich, falls die Kamera nicht fest mit dem Mikroskop verbunden ist (Kameramikroskop), einer Stativ- oder Aufsatzkamera. Neuartige Kameramikroskope erlauben Serienaufnahmen bei fortlaufender Beobachtung. Die Belichtungszeit wird automatisch gesteuert. Im Mikroskop beobachtete Eigenheiten des Objektes, welche die Grundlage für den Befund des Sachverständigen sind, sollen immer im Lichtbild dargestellt werden. Einmal ermöglicht das Lichtbild eine Kontrolle der direkten Beobachtung, zum andern kann es dem Gericht und auch weiteren Sachverständigen einen Eindruck von den Gegebenheiten verschaffen, auf welche der Untersucher sein Gutachten aufbaut. f) Die P h o t o g r a p h i e spielt bei o p t i s c h physikalischen Untersuchungsmethoden

eine erhebliche Rolle, sei es, daß sie zum Nachweis latenter Spuren mit Hilfe des Lichts bestimmter Wellenlängen oder zur Dokumentation kurzfristig angeregter Strahlungen dient. Da die lichtempfindlichen Schichten geringe Helligkeitsunterschiede deutlicher machen und bei visueller Betrachtung gleich erscheinende, aber physikalisch verschiedene Farben in unterschiedlichen Grautönen wiedergeben können, gelingt es, dem Auge gar nicht oder kaum wahrnehmbare Differenzen photographisch darzustellen. In dem einen Falle wird der Umstand ausgenutzt, daß die Helligkeitsunterschiede kontrastreicher dargestellt werden, als sie dem Auge erscheinen. Hier kommt es wesentlich auf die Auswahl geeigneten Negativund Positivmaterials und die Entwicklung an. In dem anderen Falle wird die spezifische spektrale Empfindlichkeit des für den Einzelfall ausgewählten Negativmaterials in Verbindung mit Farbfiltern genutzt. Die Anwendung geeigneter Färb- und Sperrfilter ist auch für die L u m i n i s z e n z p h o t o g r a p h i e von entscheidender Bedeutung. Unter Luminiszenz versteht man das kalte Leuchten, zu dem Stoffe durch die Einwirkung von Licht oder Elektronenstrahlen angeregt werden. Die dabei ausgesandten Strahlen sind regelmäßig längerwellig als die erregenden. Hält die Luminiszenz nur so lange an, wie die Anregung dauert, bezeichnet man sie als Fluoreszenz. Leuchten die Stoffe noch weiter, nachdem die anregende Strahlung aufhörte, wird sie Phosphoreszenz genannt. Kriminaltechnisch ist vor allem die Fluoreszenz von Interesse. Zur Anregung der Fluoreszenz dient ultraviolettes und kurzwelliges violettes Licht. Als Lichtquelle werden vor allem Quecksilberdampflampen genutzt. Sie haben einen Quarzkolben, der den Austritt der UV-Strahlung nur wenig behindert. Da viele im Tageslicht nicht sichtbare oder farblich gleich erscheinende Stoffe im UV in verschiedenen Farben fluoreszieren, die zum Teil höchst charakteristisch sind, können die Fluoreszenzerscheinungen zur Identifizierung eines Stoffes, zur Differenzierung im Tageslicht gleich erscheinender Stoffe und zum Sichtbarmachen latenter Spuren genutzt werden. Die Leuchterscheinungen sind visuell zu beobachten, soweit es sich nicht um unsichtbare Fluoreszenz handelt (s. u.). Die Photographie dient aber nicht nur zu ihrer Demonstration und Dokumentation, sie ist vielfach notwendig, um unter Anwendung geeigneter Filter verschiedenfarbige Fluoreszenzerscheinungen zu differenzieren und schwache Fluoreszenz deutlich zu machen. Sperrfilter sind bei der Aufnahme notwendig, um die reflektierten UV-Strahlen von der lichtempfindlichen Schicht fernzuhalten. Unsichtbare Strahlen, deren Wellenlänge kleiner oder größer ist als die des sichtbaren Lichtes, schwärzen nämlich auch die photographischen

Kriminaltechnik Schichten. Photoplatten oder Filme werden deshalb auch zum Aufzeichnen von Bildern verwandt, die mit Hilfe solcher Strahlen zu erzeugen sind; sie dienen zur Dokumentation bei Untersuchungsmethoden, bei denen Strahlen verschiedener Wellenlänge im sichtbaren und unsichtbaren Bereich oder ausschließlich im unsichtbaren Bereich kurzfristig auftreten oder wenn das Verhalten einer monochromatischen Strahlung auszuwerten ist. Für die Rriminaltechnik sind insbesondere die ultravioletten, die infraroten und die Röntgenstrahlen von Interesse. Von den UV-Strahlen werden nur die im Bereich von 390—200 ταμ genutzt. Da die Absorption und Reflexion des UV mitunter von der des sichtbaren Lichtes abweicht, können visuell nicht erkennbare Differenzen durch UV-Photographie dargestellt werden. Durch kurzwellige UV-Strahlen (313 ταμ und darunter) angeregte unsichtbare Fluoreszenz wurde von Langenpruch für die Urkundenuntersuchung vorgeschlagen. Die im Bereich von 350—400 πιμ liegende Fluoreszenz ist auch nur photographisch darzustellen. Die Tatsache, daß UV-Strahlen photographische Schichten schwärzen, nutzt man auch bei der E m i s s i o n s - S p e k t r a l a n a l y s e . Hier wird die zu untersuchende Substanz, von der nur geringe Mengen erforderlich sind, durch Energiezufuhr (Lichtbogen, Funkenentladung) zum Aussenden von Licht angeregt. Dieses Licht wird im Spektrographen in Spektrallinien zerlegt, welche für die Elemente, aus denen die Substanz besteht, charakteristisch sind. Diese Linien, die zum Teil dem sichtbaren, zum Teil dem unsichtbaren ultravioletten Teil des Spektrums angehören, werden photographisch festgehalten. Die Auswertung geschieht anhand der Photoplatte. Außer der qualitativen ist auch eine quantitative Analyse möglich. Grundlage ist die Schwärzung der einzelnen Linien, die gemessen wird. Bei der R ö n t g e n p h o t o g r a p h i e , die hier im Hinblick auf die Untersuchung verdächtiger Pakete und Spielgeräte, die Materialprüfung usw. interessiert, fallen die Röntgenstrahlen (Wellenlänge 25—0,5 πιμ) nach Durchgang 'durch das Aufnahmeobjekt unmittelbar auf eine photographische Schicht. Die photographische Wirksamkeit der Strahlen wird durch eine der lichtempfindlichen Schicht aufgepreßte Verstärkerfolie erhöht. Die Folie fluoresziert beim Auftreffen der Röntgenstrahlen bläulich. Diese Fluoreszenz trägt zur Schwärzung der Schicht erheblich bei. Gelangen die Röntgenstrahlen nach dem Durchgang auf einen Fluoreszenzschirm, entsteht auf diesem ein visuell zu beobachtendes Bild, das einfach zu photographieren ist (Schirmbildphotographie). Bei der R ö n t g e n f e i n s t r u k t u r u n t e r s u c h u n g gibt die Ablenkung oder Beugung, die eine 10*

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monochromatische Röntgenstrahlung in einer kristallinisch-pulverförmigen Substanz erfährt, Auskunft über deren Kristallstruktur. Die abgelenkten Strahlen schwärzen eine photographische Schicht. Lage und Intensität der Schwärzung erlauben Rückschlüsse auf die Kristallstruktur der untersuchten Substanz. Werden die normalen photographischen Schichten sowohl von UV- als auch von Röntgenstrahlen geschwärzt, so ist zur Darstellung von Bildern, welche mit I n f r a r o t s t r a h l e n (Wellenlänge 760 πιμ —1 mm) erzeugt werden sollen, besonders sensibilisiertes Negativmaterial erforderlich. Es ist auf verschiedene Spektralbereiche eingestellt. Durch Auswahl geeigneter Filter oder Filterkombinationen wird aus dem Licht einer Glühlampe, eines Kohlelichtbogens oder einer anderen geeigneten Strahlungsquelle eine Infrarotstrahlung mit einem Maximum entsprechender Wellenlänge herausgefiltert. In der Hauptsache wird Negativmaterial, das für Wellenlängen zwischen 760 und 900 ταμ sensibilisiert ist, benutzt, da das für größere Wellenlängen bestimmte nur kurze Zeit gelagert werden kann. Mit durchfallendem oder reflektiertem infraroten Licht sind u. a. überschmierte oder durch Überklebungen verdeckte Texte, im Tageslicht gleich aussehende, im Infrarot aber deutlich voneinander abweichende Schreibmittel, von Tinte überlagerte Graphitspuren, Schriften auf angekohltem Papier, Schmauchspuren von Nahschüssen darzustellen. Zur Urkundenuntersuchung kann auch das Thermo-Fax-Trockenkopiergerät, das mit Infrarot von etwa 860—900 ταμ Wellenlänge arbeitet, genutzt werden. Da für die Herstellung einer Kopie nur einige Sekunden nötig sind, ist es möglich, auch kurzfristig eine größere Zahl von Papieren zu überprüfen. Bildwandler, welche die Infrarotbilder in Elektronenbilder umwandeln, die durch Fluoreszenz auf einem Bildschirm sichtbar werden, erleichtern kriminaltechnische Untersuchungen im Infrarot erheblich, da ein dem Auge sichtbares Bild entsteht, welches mit gewöhnlichem Negativmaterial photographiert werden kann, wobei hinsichtlich der Untersuchungsobjekte praktisch keinerlei Grenzen gegeben sind. g) Der F i l m wird für kriminalistische Zwecke bislang verhältnismäßig wenig eingesetzt. Auf kriminaltechnischem Gebiet dient er einmal Schulungszwecken, wobei bislang Arbeitsweise und Organisation kriminaltechnischer Einrichtungen, die Wirkungsweise technischer Einrichtungen und Spurensicherungspraktiken dargestellt wurden. Er diente aber auch gelegentlich der Untersuchung schnell ablaufender Vorgänge, wobei mit Hilfe der Hochfrequenzkinematographie u. a. das Verhalten durchschossener Glasscheiben und des Pulverschmauchs beim Schuß sowie der Ablauf der Kugel bei rouletteähnlichen Spielen gezeigt wurden.

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Kriminaltechnik

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Kriminaltechnik Agnoszierung, hergestellt oder herzustellen versucht, wobei das Ergebnis trotz des guten Willens aller Beteiligten durchaus zweifelhaft sein kann. Die unbeabsichtigte Verwechslung von Neugeborenen und die vorsätzliche Veränderung oder Unterdrückung des Personenstandes (§ 169 StGB) sind zwar selten, zeigen aber, wie schwierig es im Einzellall ist, die Verbindung von Person und Personalien schlüssig zu knüpfen. Die objektive Personenidentifizierung soll mit Hilfe von konstanten und registrierbaren Merkmalen zu der Feststellung führen, daß Personen, die zu verschiedenen Zeiten erfaßt wurden, identisch sind. Wenn darüber hinaus auch eine Verbindung von Personalien und Person durch ein sogenanntes Personenfeststellungsverfahren angestrebt wird, so geschieht dieses nur im Hinblick darauf, daß alle einschlägigen Register nach den Personalien geordnet sind. b) Von B e d e u t u n g ist die Personenidentifizierung insbesondere für die Strafverfolgung. Sie schafft die Voraussetzung für die Überprüfung des Vorlebens eines Straftäters, sie ermöglicht vor allem die Feststellung von Vorstrafen. Von größerem Gewicht kann sie im Einzelfall auf anderen Lebensgebieten sein, insbesondere dann, wenn es sich um die Identifizierung von Leichen handelt. Da der kriminalpolizeiliche Erkennungsdienst, zu dessen Aufgaben die Identifizierung von straffällig gewordenen oder beschuldigten Personen gehört, über die dazu notwendigen Einrichtungen und Erfahrungen verfügt, werden aus Beamten dieser Dienststellen in Katastrophenfällen auch Identifizierungstrupps gebildet. 2. Geschichte

a) Bis B e r t i l l o n . Die spiegelnden Strafen und das Brandmarken des Mittelalters werden in der Geschichte des Erkennungsdienstes häufig als Mittel zur Identifizierung der rückfälligen Verbrecher angeführt. Bei diesen Maßnahmen handelte es sich ihrer Natur nach aber nicht um solche, die eine spätere Identifizierung der betroffenen Personen ermöglichen sollten. Es waren primär Strafen, die der Sühne und der Spezialprävention dienten. Diese Verstümmelungen und Marken konnten auch nur die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Straftätern ausweisen, waren aber allein nicht kennzeichnend für eine bestimmte Person. Zeichen und Zahlen am Körper von Menschen einzubrennen oder zu tätowieren und diese Menschen danach registermäßig zu erfassen, blieb späteren Zeiten vorbehalten. Solange die zuständigen Behörden keine Sammlung von Unterlagen über bestrafte Personen führten, war die Frage, ob der Beschuldigte unter seinen richtigen Personalien oder unter beliebigen anderen verurteilt wurde, von nachgeordneter

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Bedeutung. Soweit es sich um ortsansässige Personen handelte, kam es ohnehin nicht zu Komplikationen. Die ortsfremden Täter richtig einzuordnen und abzuurteilen, konnte freilich ein erhebliches Problem sein. Zwar wurden schon im 15. Jahrhundert zwischen verschiedenen Städten vereinbart, sich gegenseitig die Personenbeschreibungen vorbestrafter Personen mitzuteilen. Derartige Mitteilungen konnten aber nur von Nutzen sein, wenn ihre Zahl nicht zu groß und das zu überprüfende Material noch übersichtlich blieb. Erst um 1820 wurde in dieser Beziehung eine Verbesserung erzielt: Gaunerlisten mit ausführlichen Personenbeschreibungen, die nach den Namen geordnet waren, erhielten einen Anhang, in dem die besonderen Merkmale der erfaßten Personen nach Körperteilen aufgeführt waren und von denen auf die Personalien der betreffenden Person verwiesen wurde. In solchen Listen sind die ersten Ansätze einer erkennungsdienstlichen Einrichtung zu erblicken, die es erlaubt, auf Grund von objektiv erfaßbaien körperlichen Merkmalen, welche nach bestimmten Regeln registriert sind, eine Person zu identifizieren. Daß auf Grund von Personenbeschreibungen, selbst wenn man sich dabei auf besondere körperliche Merkmale stützen kann, keine absolut sichere Identifizierung möglich ist, beweisen Einzelfälle aus der Kriminalgeschichte der neuesten Zeit. Schon bald nach der Erfindung der Daguerreotypie (1839) wurden in Belgien Lichtbilder von solchen Strafgefangenen gemacht, die entlassen werden sollten (1843). Ob diese frühen Photographien zur Fahndung oder zur Identifizierung vorbestrafter Personen dienten, ist unklar. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte legte man in den größeren Städten Lichtbildsammlungen vorbestrafter Personen sowohl für Fahndungs- als auch für Identifizierungszwecke an. Mit dem Anwachsen der Sammlungen wurde ihr Nutzen als Identifikationsmittel immer fragwürdiger, da ein Herausfinden der in Betracht kommenden Lichtbilder zunehmend mühseliger und im Ergebnis unsicherer wurde. „Bis jetzt bewegen sich Polizei und Gerichte in einem circulus vitiosus. Man photographierte Personen, um ihre Namen feststellen zu können, aber um eine früher gemachte Photographie aufzufinden, benötigten wir den Namen des Beschuldigten." b) Bertillon, ab 1880 chef du service de l'identit6 judiciaire in Paris, stützte mit dieser Feststellung seinen Vorschlag, die Verbrecherlichtbilder nach verschiedenen Körpermaßen zu ordnen (1879). Er griff dabei auf die Ergebnisse von Untersuchungen des belgischen Statistikers Quetelet zurück. Grundlage seiner A n t h r o p o m e t r i e war die Feststellung, daß sich die Maße bestimmter Körperteile eines erwachsenen Menschen nicht mehr verändern und daß es nicht zwei Menschen gibt, die sich in Gestalt und in diesen Maßen so gleichen, daß sie

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miteinander verwechselt werden können. Bertillons System sah Messungen von 11 Körperteilen, die Klassifizierung der Augen nach ihrer Farbe und die Aufstellung einer ausführlichen Personenbeschreibung vor. Aus den Maßen wurde die Registrierungsformel gebildet, nach der die Karten abgelegt wurden. Ab 1894 wurden die Meßkarten zwar mit den Abdrücken des rechten Daumens, Zeige- und Mittelfingers versehen, zur Registrierung wurden diese aber nicht verwertet. Die Anthropometrie wurde 1882 in Paris eingeführt und eroberte in den folgenden Jahren viele Staaten. 1896 wurde in Berlin der „Erkennungsdienst" eingerichtet, dem es obliegt, Unterlagen für die objektive Personenidentifizierung zu sammeln und auszuwerten. Bertillons System wurde in modifizierter Form übernommen (nur 7 Registriermaße) und seine Einführung in den deutschen Bundesstaaten propagiert. Eine am 14. und 15. 6.1897 veranstaltete Polizeikonferenz vereinigte die Vertreter von 12 deutschen Bundesstaaten, des Reichsjustizamtes und Beobachter der Niederlande, Österreich-Ungarns und Rumäniens. Eine Resolution brachte zum Ausdruck, daß die Bertillonsche Methode bis dahin geübte Verfahren der Signalementsaufnahme auf eine neue und zweckmäßige Grundlage stelle. Die Notwendigkeit, eine Zentrale einzurichten, wurde anerkannt, als Sitz wurde das Königl. Polizei-Präsidium in Berlin bestimmt. Die in Dresden bereits bestehende Zentrale für das Königreich Sachsen wurde aufgelöst, ihr Material an Berlin abgegeben. 1902 gab es im Deutschen Reich 59 Meßstationen bei Polizeibehörden und Strafvollzugsanstalten. Zu erfassen waren gewerbsmäßige Täter und solche, die es werden konnten, ausgewiesene Personen, die vermutlich einen falschen Namen führten, wenn die Personenfeststellung von Bedeutung war, Personen, die wegen Eigentumsvergehen festgenommen waren und vermutlich rückfällig werden würden, Landstreicher oder wenn sonstige besondere Gründe bestanden. Daß die Polizeibehörden berechtigt seien, Verhaftete den Bertillonschen Messungen zu unterwerfen und zu photographieren, wurde durch eine Reichsgerichtsentschcidung vom 2. 6.1899 anerkannt (RGSt. Bd. 32, S. 199). Die erkennungsdienstlichen Unterlagen reisender und internationaler Täter wurden von Anfang an mit ausländischen Meßzentralen ausgetauscht. Die Grundzüge einer funktionsfähigen Organisation des Erkennungsdienstwesens war somit vorhanden, als die Daktyloskopie als Identifizierungsmethode eingeführt wurde. 3.

Daktyloskopie

a) P h y s i o l o g i s c h e G r u n d l a g e n . Als Daktyloskopie (grch. „Fingerschau") wird die Wissenschaft von den Hautleisten, welche an der Innen-

seite der Finger, der Zehen, der Hand- und Fußflächen des Menschen und vieler Säugetiere zu finden sind, bezeichnet. Der Verlauf dieser Hautleisten ist durch die Anordnung der Papillen bestimmt, das sind zapfenförmige Ausstülpungen, welche die Lederhaut mit der Oberhaut verbinden. Die Papillen bilden in den beschriebenen Bereichen Doppelreihen (Papillarleisten), während sie sonst unregelmäßig gelagert vorkommen. In den Papillarleisten enden die Schweißdrüsenausführungsgänge (Poren). Die Hautleisten verbessern das Tastgefühl und die Reibung. Sie entstehen schon beim Embryo und bleiben nach Form und Lage das ganze Leben über bis zur Zerstörung der Haut unveränderlich. Die von ihnen insbesondere auf den Finger- und Zehenbeeren gebildeten Figuren lassen sich zwar in bestimmte Muster ordnen, deren Vorkommen und Anordnung erbbedingt sind und deshalb auch bei erbbiologischen Untersuchungen genutzt werden, in ihren Einzelheiten unterscheiden sich die Papillarlinienbilder aber immer und sind niemals einem anderen völlig gleich. Unveränderlichkeit und Einmaligkeit der Papillarlinien machen sie zur wichtigsten Grundlage der Personenidentifizierung, zumal sie mit einfachen Hilfsmitteln genau abzubilden sind. Die Hautleisten der Fingerbeeren, auf die man sich für diesen Zweck beschränkt, werden mit Druckerschwärze oder anderen geeigneten Farbstoffen eingefärbt und dann auf Papier abgedruckt (Fingerabdrücke). Bei sachgemäßer Anwendung dieser Methode werden genügend Details der Papillarlinien wiedergegeben, die selbst bei unvollständiger Abbildung eine Identifizierung ermöglichen. b) Daß F i n g e r a b d r ü c k e f ü r I d e n t i f i z i e r u n g s z w e c k e geeignet sind, soll in China und Japan schon im 7. Jahrhundert n. Chr. bekannt gewesen sein. Der Beweis dafür steht aber auf schwachen Füßen, genauso wie der für den Gebrauch von Fingerabdrücken zur Personenidentifizierung in China vom 8. bis zum 19. Jahrhundert. In Europa wurden die Papillarlinienmuster zuerst von den Anatomen N. Grew (1684), G. Bidloo (1685) und M. Malpighius (1686) zeichnerisch dargestellt bzw. beschrieben. Der Physiologe J. E. Purkinje hat als erster den Versuch gemacht, die Hautleistenmuster der Fingerbeeren zu klassifizieren. Die Anwendung der Daktyloskopie zur Identifizierung von Personen und zur Ermittlung des Täters anhand von Tatortfingerspuren (-> D 1) wurde zuerst von den Engländern Sir William James Herrschel und Henry Faulds vorgeschlagen. Herrschel, der als oberster Verwaltungsbeamter des Bezirkes Hooghly (Bengalen) tätig war, hat 1857 zum ersten Male einen Handabdruck von einem Vertragspartner genommen, um ihn identifizieren zu können. Ob er dazu durch die Übung der Analphabeten unter der indischen Bevölke-

Krimin altechnik rung, Fingerabdrücke als Handzeichen zu gebrauchen, angeregt wurde, muß dahingestellt bleiben. Daß dieser Brauch zeremoniellen Charakter hatte und nicht zur Identifizierung des Unterzeichners dienen sollte, kann als ziemlich sicher angenommen werden. Nachdem Herrschel die Brauchbarkeit der Daktyloskopie zur Identifizierung von Strafgefangenen überprüft hatte, machte er 1877 den Vorschlag, die Daktyloskopie in den Gefängnissen der Provinz Bengalen und bei der Armee für Identifizierungszwecke anzuwenden. Dabei konnte er sich auf das seit 1857 gesammelte Material stützen, welches ihm als Beweis dafür diente, daß sich die Papillarlinienbilder im Laufe der Zeit nicht verändern. Sein Vorschlag wurde nicht aufgegriffen. Veröffentlicht hat er seine Beobachtungen und Erfahrungen erst im November 1880 (Nature 23 [1880—81] S. 76), nachdem in der vorhergehenden Nummer dieser Zeitschrift eine Arbeit „On the Skin-Furrows of the Hand" von Henry Faulds erschienen war. Faulds, der als Arzt in Tokio arbeitete, wurde durch Fingereindrücke an Tongefäßen zum Studium der Papillarlinien angeregt. Er erkannte ihren Wert für die Identifizierung von Personen und die Möglichkeit, den Spurenleger von Fingerspuren festzustellen. Das Ergebnis seiner Beobachtungen und Versuche unterbreitete er 1888 britischen Behörden. Anders als Herrschel, der Abdrücke nur von ein oder zwei Fingern nahm, schlug er vor, alle zehn Finger zu daktyloskopieren. Das Verfahren wurde aber abgelehnt, weil es zu schwierig zu handhaben sei. Ähnlich erging es dem Berliner Tierarzt Wilhelm Eber, der auf Grund der von ihm häufig beobachteten blutigen Fingerabdrücke Versuche anstellte und 1888 dem Preußischen Ministerium des Innern eine Abhandlung vorlegte, in welcher er auf die Verwertung von Fingerabdrücken für polizeiliche Zwecke hinwies. Auch seine Vorschläge wurden nicht aufgegriffen. Der englische Anthropologe Sir Francis Galton stellte in den Jahren 1888 bis 1891 eingehende Untersuchungen über die Möglichkeiten an, die Daktyloskopie zur Personenidentifizierung zu nutzen. Die Ergebnisse veröffentlichte er 1892 in seinem Buch „Finger Prints". Sie gipfelten in der Feststellung, daß die Papillarlinienbilder sich nicht wiederholen, unveränderlich sind, klassifiziert und registriert werden können. Galtons Klassifizierungssystem ging von vier Klassen aus: Bogenmuster nach rechts oder links verlaufend, Schleifen und Wirbel. Sir Edward H e n r y , seit 1891 Generalinspekteur der Polizei in Bengalen, wandte die Daktyloskopie zusätzlich zur Bertillonage in seinem Amtsbereich an und entwickelte ein brauchbares Klassifizierungssystem, wobei er auf der von Galton 1895 veröffentlichten erweiterten Klassifikation aufbaute. Ab 1897 wurde die Daktyloskopie in ganz Britisch-Indien ange-

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wandt. 1901 führte sie Henry bei der Londoner Polizei ein, die Bertillonage wurde aufgegeben. In Argentinien hatte Vucetisch, seit 1889 Leiter des Erkennungsdienstes in La Plata, 1891 ein Klassifizierungssystem entwickelt, das auf Galtons ursprünglichem System basiert. Im gleichen Jahr begann er eine Fingerabdrucksammlung anzulegen, aber erst 1905 erfuhr die Daktyloskopie als Identifizierungsverfahren die staatliche Anerkennung. In Österreich-Ungarn wurde die Daktyloskopie 1902 neben der Anthropometric eingeführt (Polizeidirektionen Wien und Budapest). 1903 folgte in Deutschland zuerst Dresden, wo durch Köttig auf Vorschlag von Heindl eine Fingerabdrucksammlung für das Königreich Sachsen aufgebaut wurde. Berlin, Hamburg, Nürnberg und Augsburg begannen ebenfalls 1903 mit dem Aufbau einer Zehnfingerabdrucksammlung. Die preußischen „Meßstationen" wurden mit einem Schreiben des Berliner Polizeipräsidenten vom 20. 6.1903 aufgefordert, auf den Meßkarten in jedem Fall auch Fingerabdrücke aufzunehmen (Daumen, Zeige-, Mittel- und Ringfinger der rechten Hand), was schon seit 1896 vorgesehen, aber noch nicht obligatorisch war. Daß man diese Fingerabdrücke bis dahin schon nutzte, geht aus einer Aktennotiz der Kriminalinspektion Hannover vom 3. 4.1913 hervor, wonach 1897 zwei, 1898 vier, 1899 fünf, 1900 sechs, 1901 acht und 1902 neun Personen „durch Daktyloskopie ermittelt" wurden. Mit Schreiben vom 21.11.1903 wurden die preußischen Polizeibehörden angehalten, neben der Meßkarte einen Fingerabdruckbogen auszufertigen, „damit die Centrale des deutschen Erkennungsdienstes bei allgemeiner Einführung der Daktyloskopie über das erforderliche Material verfügt". Obwohl die Bedeutung des Erkennungsdienstes klar erkannt wurde, war die erkennungsdienstliche Erfassung der Straftäter, von denen Fingerabdrücke genommen werden sollten, außerhalb der größeren Städte lückenhaft. Insbesondere ließ auch die Beschickung der „Reichssammelstelle" beim Polizeipräsidium in Berlin zu wünschen übrig. Die Beschlüsse der Polizeikonferenzen in Berlin (1912) und in Wiesbaden (1913) wurden wegen des bald darauf ausbrechenden Krieges nicht mehr recht wirksam. Während in Sachsen bereits zum 1.1.1905 die Daktyloskopie allgemein eingeführt war, folgten die anderen deutschen Staaten zum Teil nur zögernd. In Preußen wurde sie erst 1927 zur Pflicht gemacht. c) Die in den einzelnen deutschen Zentralen eingeführten K l a s s i f i z i e r u n g s m e t h o d e n gehen zwar alle im wesentlichen auf das System GaltonHenry zurück, sie wurden aber in mehr oder weniger großem Umfange modifiziert und erfuhren im Laufe der Zeit noch weitere Abänderungen. Die Anwendung unterschiedlicher Klassifizierungs-

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Kriminaltechnik

systeme bringt einige Nachteile mit sich, die aber nicht so gewichtig sind, als daß sie die große Arbeit rechtfertigen könnten, die für eine Vereinheitlichung aufgewendet werden müßte. d) Die Vordrucke zur A u f n a h m e von F i n g e r a b d r ü c k e n für die Zehnfingerabdrucksammlungen enthalten 10 Einzelfelder für die Finger und Felder für Kontrollabdrücke der rechten und linken Hand, Raum für die Personalien, für Angaben über das Personenfeststellungsverfahren, für eine Personenbeschreibung und für die Daten, welche die erkennungsdienstliche Behandlung selbst betreffen. Zur Herstellung der Fingerabdrücke wird Druckerschwärze auf einer Glas- oder Metallplatte dünn ausgewalzt. Das vordere Glied des abzudruckenden Fingers wird auf dieser Platte von Nagelkante zu Nagelkante abgerollt und dann mit gleicher rollender Bewegung im entsprechenden Feld des FA-Bogens abgedruckt. Fehlende Finger, Verkrüppelungen und Verletzungen werden besonders vermerkt. Andere Methoden der Fingerabdrucknahme, die insbesondere darauf abzielen, ohne Einfärbung der Finger auszukommen, haben sich in der Praxis noch nicht allgemein durchsetzen können. Die Fingerabdrucknahme bei Leichen kann im Einzelfall schwierig sein, sei es, daß die Finger stark gekrümmt sind, sei es, daß die Haut schon stark in Mitleidenschaft gezogen ist. Besonders ausgebildete Aufnahmeverfahren können hier weiterhelfen. e) Die Aufnahme von Fingerabdrücken gehört zu der sogenannten e r k e n n u n g s d i e n s t l i c h e n B e h a n d l u n g , die außerdem noch die Herstellung eines dreiteiligen Personenlichtbildes (in bestimmten Fällen auch die einer Ganzaufnahme) und einer Personenbeschreibung zum Gegenstand hat. Der Kreis der erkennungsdienstlich zu behandelnden Personen ist im Bundesgebiet durch die „Erkennungsdienstlichen Richtlinien" umrissen, welche von der Arbeitstagung der Leiter der Landeskriminalämter mit dem Bundeskriminalamt 1953 akzeptiert wurden. Diese Richtlinien sind inzwischen zum Teil geringfügig abgeändert oder in den einzelnen Ländern ergänzt, wobei insbesondere Unterschiede hinsichtlich des Umfangs der wiederholten erkennungsdienstlichen Behandlung bestehen. Handelt es sich um Personen, die Straftaten begangen haben, bei welchen erfahrungsgemäß Fingerspuren des Täters zurückbleiben, sind weitere Fingerabdrücke für die Einzelfingerabdrucksammlungen zu nehmen ( D 1 c). f) Die erkennungsdienstliche Behandlung ist von den örtlichen Polizeidienststellen durchzuführen. In der Regel sind die Fingerabdruckblätter und Lichtbilder dem zuständigen Landeskriminalamt in doppelter Ausfertigung einzureichen, das je eine Ausfertigung an das Bundeskriminalamt

gibt. Die im Einzelfall notwendige schnelle Übermittlung der FA-Blätter und Lichtbilder durch Bildtelegraphie oder -funk ist zwar seit geraumer Zeit technisch möglich, polizeieigene Einrichtungen dafür fehlen aber in der Bundesrepublik wie in vielen anderen Ländern. Steht es nicht zweifelsfrei fest, daß die daktyloskopierte Person die richtigen Personalien angegeben hat, muß ein P e r s o n e n f e s t s t e l l u n g s v e r f a h r e n eingeleitet werden. Zur Personenfeststellung gehören die Anerkennung durch Angehörige oder andere Auskunftspersonen, welche die Person vom Elternhaus oder aus der Kindheit kennen, und die Überprüfung der Personalien anhand der standes- oder pfarramtlichen Register. Das Personenfeststellungsverfahren kann im Einzelfall viel Zeit in Anspruch nehmen und großen kriminalistischen Spürsinn erfordern. g) In den Z e h n f i n g e r a b d r u c k s a m m l u n g e n wird zuerst anhand der angegebenen Personalien überprüft, ob die erkennungsdienstlich behandelte Person bereits in der Namenskartei erfaßt ist. Zutreffendenfalls wird das Blatt aus der nach Formeln geordneten Sammlung gezogen und mit dem neu eingegangenen verglichen. Ist die Person noch nicht in der Namenskartei erfaßt, wird das Zehnfingerabdruckblatt klassifiziert und mit dem unter gleicher Formel einliegenden Blättern verglichen. Bei der Klassifizierung von Zehnfingerabdruckblättern nach dem BKA-System werden 5 Grundmuster unterschieden: Bogenmuster U, Bogenmuster Τ (steile Bogen), Schleife nach rechts E, Schleife nach links I, wirbeiförmige Muster 0. Die Formel enthält drei Haupt- und drei Unterklassen. In der Hauptklasse I wird das Vorkommen der O-Muster durch einen Zahlenbruch zum Ausdruck gebracht. Die Finger sind dazu durchlaufend numeriert, beginnend beim rechten Daumen ( = 1) und endend beim linken Kleinfinger ( = 10). O-Muster im 1. und 2. Finger werden durch den Zahlenwert 16, im 3. und 4. Finger durch den Zahlenwert 8, im 5. und 6. Finger durch den Zahlenwert 4, im 7. und 8. Finger durch den Zahlenwert 2, im 9. und 10. Finger durch den Zahlenwert 1 angezeigt. Die Summe der Zahlenwerte der geradzahligen Finger wird als Zähler, die der ungeradzahligen Finger als Nenner eingetragen, nachdem ihr jeweils 1 hinzugezählt wurde. Ist in keinem Finger ein O-Muster enthalten, lautet der Bruch also y, sind in allen Fingern O-Muster vorhanden, lautet der Bruch | | . Die Hauptklasse II weist die Grundmuster von den Zeige- und Mittelfingern aus. Sie werden mit ihrer Buchstabenbezeichnung als Zähler (rechte Hand) und Nenner (linke Hand) eingetragen. Die Hauptklasse III wird durch arithmetische Bewertung von Sonderheiten in den Daumen, Ring- oder Kleinfingern gebildet. Die Zahlenwerte der rechten Hand sind wieder im Zähler, die der linken im Nenner zu vermerken. Die Unterklassen 1

Krimmaltechnik und 2 ergeben sich bei den O-Mustern aus dem Verlauf der Papillarlinien zwischen den Delten, bei den Schleifenmustern aus der Zahl der Papillarlinien, die zwischen Delta und Herz des Musters liegen. Sie werden mit den Buchstaben a, b und c bezeichnet. Gewertet werden alle Finger, bis auf die Kleinfinger, deren Papillarlinienzahl in Ziffern als Unterklasse 3 eingetragen wird. Die Registrierung der Blätter nach den so erhaltenen Formeln geschieht nach festen Regeln, die eine übersichtliche Ordnung auch größerer Sammlungen erlauben (die Zehnfingerabdrucksammlung des BKA enthielt 1963 1,3 Mill. Blätter). Einzelheiten dieser Klassifizierungs- und Registrierungsmethode sind, wie auch die der anderen Verfahren, aus der angeführten Literatur zu entnehmen. Da bei umfangreichen Sammlungen unter einer Formel eine größere Zahl von Blättern einliegen kann, wird bei der Nachschau auf ein in das Auge springende Merkmal geachtet. So gelingt es doch in kurzer Zeit, ein bereits vorhandenes Blatt aus der Sammlung zu finden. Möglichkeiten, durch Einsatz von Datenverarbeitungsanlagen auch sehr umfangreiche Sammlungen schnell zu überprüfen, zeichnen sich ab. Die Identität der früher und neuerdings erkennungsdienstlich behandelten Person wird durch einen Vergleich der Abdrücke aller zehn Finger festgestellt, bei dem auch die anatomischen Merkmale (Minutien), welche die Papillarlinien in Form von beginnenden und endenden Linien, Gabelungen, Haken, Augen- und Inselbildungen, Punkt- und Strichfragmenten und anderen Besonderheiten aufweisen, hinsichtlich der Übereinstimmung nach Form und Lage überprüft werden. Besondere Schwierigkeiten ergeben sich bei dieser Vergleichsarbeit nicht, wenn die Abdrücke technisch einwandfrei aufgenommen sind. Versuche, die Papillarlinienbilder so weit zu zerstören, daß eine Identifizierung anhand der Fingerabdrücke unmöglich ist, führen nur selten zum Erfolg. Die dadurch entstehenden Narben tragen ebenso wie die durch einige Hautkrankheiten bewirkten Zerstörungen des Papillarlinienmusters als zusätzliche besondere Merkmale zur Erleichterung der Identifizierung bei. h) Die Aufnahme, Sammlung, Auswertung und Begutachtung von Fingerabdrücken liegt in der Bundesrepublik ausschließlich in den Händen der Polizei. Als S a c h v e r s t ä n d i g e f ü r D a k t y l o skopie sollen nur solche Beamte des kriminalpolizeilichen Vollzugsdienstes tätig werden, die nach einer fünfjährigen Tätigkeit als Daktyloskop an einem Lehrgang teilgenommen und die den Lehrgang abschließende Prüfung zum Sachverständigen für Daktyloskopie mit Erfolg abgelegt haben. Derartige Lehrgänge werden beim Bundeskriminalamt und auch bei einzelnen Landeskriminalämtern durchgeführt. Die Einheitlichkeit der Ausbildung ist durch die „Vorschriften

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für die Ausbildung und Prüfung von Sachverständigen für Daktyloskopie" gewährleistet, welche von der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landeskriminalämter mit dem Bundeskriminalamt 1954 angenommen wurden. i) Die g e s e t z l i c h e G r u n d l a g e der erkennungsdienstlichen Behandlung ist §81b StPO, nach dem Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden dürfen, soweit es für die Zwecke des Strafverfahrens oder für die des Erkennungsdienstes notwendig ist. Der Begriff „Beschuldigter" ist nach herrschender Meinung im weitesten Sinne zu verstehen. Ein schwebendes Strafverfahren oder ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren ist nicht Voraussetzung einer Anordnung nach §81b. Soweit es sich um Maßnahmen für die Zwecke des Erkennungsdienstes handelt, gehen sie über den Rahmen des Strafverfahrensrechts hinaus und stellen eine materiellrechtliche polizeiliche Tätigkeit dar. Sie können deshalb auch von solchen Polizeibeamten angeordnet werden, die nicht Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft sind. Diese Anordnung und die Ablehnung der Vernichtung erkennungsdienstlicher Unterlagen auf Antrag des Betroffenen sind ein anfechtbarer Verwaltungsakt (BVerwG. Urteil vom 25.10.1960 — BVerwG. I C 63/59 — [NJW 1961,571]). Die Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen für die Zwecke der Durchführung eines Strafverfahrens ist ein Verwaltungsakt auf dem Gebiet des Strafprozesses und damit der Anfechtung im Verwaltungsrechtsweg entzogen. Soweit sie vom Richter getroffen wurde, ist gegen sie Beschwerde nach § 304 StPO, soweit sie von der Staatsanwaltschaft oder der Polizei ausging, die Dienstaufsichtsbeschwerde zulässig. Wegen der Rechtslage bis zur Einführung des § 81 b durch das Gesetz vom 24.11.1933 (RGBl. S. 995) sei auf die Literatur verwiesen (Heindl, Michalke, Pamataitis, Schulz-Pagel). j) Die A n w e n d u n g der D a k t y l o s k o p i e f ü r a n d e r e Zwecke als die in §81b StPO vorgesehenen ist in Deutschland wiederholt vorgeschlagen und auch vorübergehend praktiziert worden. So enthielt die mit der Verordnung vom 22. 7.1938 (RGBl. IS. 913) eingeführte Kennkarte Fingerabdrücke. Bei dem auf Grund von Art. 75 Ziff. 5 GG am 19.12.1950 eingeführten Inlandsausweis ist aber, wie auch beim Reisepaß, auf den Fingerabdruck verzichtet. Die auf Anordnung der amerikanischen Besatzungsmacht am 1. 4.1946 ergangene Rechtsverordnung des Innenministeriums Württemberg-Baden über die allgemeine Registrierung von deutschen Staatsangehörigen usw. sah die Aufnahme von Zehnfingerabdrücken von allen Personen vor, die einen Inlandsausweis beantragten. Die daraufhin im September 1946 durchgeführte

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Kriminaltechnik

Volksdaktyloskopie erfaßte bis 1948 über 2,3 Millionen Personen; die Sammlung wurde aber bald darauf nicht mehr weitergeführt. Heindl nennt in seinem Werk „System und Praxis der Daktyloskopie" die Daktyloskopie aller Einwohner die letzte Konsequenz. Das Experiment in Nordwürttemberg-Nordbaden hat aber gezeigt, daß der Aufwand nicht im angemessenen Verhältnis zum Erfolg steht. k) Obwohl die Daktyloskopie alle Qualitäten besitzt, die man von einem Identifizierungsverfahren verlangen kann, wurden und werden immer wieder a n d e r e M e t h o d e n zur Personenidentifizierung vorgeschlagen und erörtert. Alle diese Verfahren — erwähnt seien nur die Augenhintergrund-Photographie, die Röntgen-Sudorographie und die Personenidentifizierung mit Hilfe des Schallkurvenschreibers — sind zu teuer und zu kompliziert, wenn auch das eine oder das andere Verfahren im Einzelfall für kriminalistische Zwecke zu nutzen ist. Monographien R. H e i n d l : System und Praxis der Daktyloskopie und der sonstigen technischen Methoden der Kriminalpolizei. 3. Aufl. 1927. H. S c h n e i c k e r t : Der Beweis durch Fingerabdrücke in juristischer und technischer Beziehung. Leitfaden der gerichtlichen Daktyloskopie. 2. Aufl. 1β43. F. G. H a r r e n : Über die Vererbung der Papillarmuster und ihre Bedeutung für die Feststellung der Vaterschaft. Düsseldorf, Med. Diss. 1943. Y. C h e n : Probleme der Strafe der Brandmarkung im Lichte von rechtsvergleichenden Quellen. 1948. P. G. P a m a t a i t i s : Die Regelung kriminaltechnischer Methoden in der Strafprozeßordnung und ihre Lücken. Heidelberg, Juristische Diss. 1948. G. S c h u l z - P a g e l : Die Auslegung des § 81 b StPO und die erkennungsdienstliche Behandlung des Beschuldigten. Unter besonderer Berücksichtigung der geschichtlichen Entwicklung der Daktyloskopie. Hamburg, Rechtswiss. Diss. 1955. Ε. S t e i n w e n d e r : Daktyloskopie, Bedeutung und Anwendung. 1955. C. K e p i s u. L. J u n g : Theoretische und praktische Daktyloskopie. Ein Handbuch für den Sicherheitsdienst. 1957. Zeltschriftenaufsätze F. B a r t m a n n : Die Augenhintergrund-Photographie, eine neue Methode der Verbrecheridentifizierung ? ArchKrim. 98 (1936) S. 223. R. H e i n d l : Eine Verbesserung der Daktyloskopie? Röntgen-Sudorographie. ArchKrim. 107 (1940) S. 39. W. F r ü h : Ein neuartiges Daktyloskopierpult. ArchKrim. 111 (1942) S. 92. K. Mehl: Die Volksdaktyloskopie in NordwürttembergNordbaden. Krim. 2 (1948) S. 41. C. J. P o i s o n : Finger Prints and Finger Printing. An Historical Study. JournCrim. XLI (1950) S. 495 (1951) S. 690. F. A n g e r m a y e r : Fälschung von Fingerabdrücken. Pol. 6 (1952) S. 97. W. D a h n k e : Zwillingsbrüder mit gleichen Narben. Krim. 6 (1952) S. 110. J . H a a s : Ein neue3 Verfahren zur Herstellung von Leichenfingerabdrücken. Krim. 6 (1952) S. 211. W. Gay: Die Bildtelegraphie als Hilfsmittel der modernen Verbrechensbekämpfung. Krim. 7 (1953) S. 271.

O. W e n z k y : Private Bildtelegramme schaffen Fahndungserfolge. Krim. 7 (1953) 8. 275. J . D a v i d : Ein vergeblicher, aber heldenhafter Ausweg. RIPC. 9 (1954) S. 181. A. H e u s s e r : Zerstörbarkeit der Papillarlinien. Krim. 8 (1954) S. 162. M. de A n d r e s : Chirurgie und Fingerabdrücke. RIPC. 10 (1955) S. 66. A. K l e m m e r : Zweifelsfreie Personenfeststellung durch Erkennungsdienst? Krim. 9 (1955) S. 390. M. W e n i g e r : Das Hautleistensystem der Hand. Umschau. 55 (1955) S. 268. A. K o b a b e : Fingerabdrucknahme bei unbekannten Wasserleichen mit fortgeschrittener Waschhautbildung. Krim. 10 (1956) S. 364. H. S c h w a b e : Zweifelsfreie Personenfeststellung durch Erkennungsdienst. Krim. 10 (1956) S. 103. W. T e t z n e r : Wiederholung der erkennungsdienstlichen Behandlung ? Krim. 10 (1956) S. 403. M. de A n d r e s : Ein Fall absichtlicher Verstümmelung der Papillarlinien. RIPC. 12 (1957) S. 120. E. A n g s t : Therapeutische Hautabschabungen und Daktyloskopie. Krim. 12 (1958) S. 184. E. A n g s t : Absichtlich und zufällig verursachte Vernarbungen von Papillarlinien. Krim. 12 (1958) S. 367. E. S t e i n w e n d e r : Der Fingerabdruck als Fahndungshilfsmittel. Deutsche Polizei. (1958) S. 62, 106 u. 132. E. S t e i n w e n d e r : Angriffe gegen die Beweiskraft der Daktyloskopie. Krim. 12 (1958) S. 111. W. U l r i c h : „Das Zeichen ist wohlgelungen . . . " Polizeiliche Identifizierungsmethoden in Vergangenheit und Gegenwart, öffentliche Sicherheit. März 1958, S. 8. R. K. C h a t t e r j e e : Eine neue Methode der Unterklassifizierung von Fingerabdrücken. RIPC. 14 (1959) S. 53. F. E n g e l : Identifizierung Schwachsinniger mittels Daktyloskopie. Krim. 13 (1959) S. 198. S. A. E r i k s o n u. T. R o m a n u s : Vergleichende Untersuchung von Fingerabdrücken. RIPC. 14 (1959) S. 295. Abd el Aziz H a m d y : Daktyloskopie und Kriminaltechnik in Ägypten. RIPC. 15 (I960) S. 210. K. E n d e r : Die Vernichtung erkennungsdienstlicher Unterlagen auf Antrag des Betroffenen. Krim. 14 (1960) S. 49. J. F a l t e r : Die kriminalpolizeiliche Leichenbehandlung im Katastrophenfall. Krim. 15 (1961) S. 373. G. B a c h : Erkennungsdienstliche Maßnahmen nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens. NJW 1962, S. 1000. S. B e r a n e k : Neue Fingerabdruck-Methode. Krim. 16 (1962) S. 323. S. K. C h a t t e r j e e : Edgeoskopy. Finger Print and Identification Magazine. 44 (September 1962) S. 3. H. S t ü l l e n b e r g : Vernichtung erkennungsdienstlicher Unterlagen auf Antrag des Betroffenen. Krim. 16 (1962) S. 415. Stimmbilder statt Fingerabdrücke. Krim. 16 (1962) S. 430. G. C h e v e t und P. F. C e c c a l d i : Der Identitätsnachweis beim Menschen durch Kombinieren von Photographie, Anthropometric und Personenbeschreibung. RIPC. 19 (1964) S. 266. K. E n d e r : Antrag auf Vernichtung erkennungsdienstlicher Unterlagen. Krim. 18 (1964) S. 591. P. G r o b u. P. F u r r e r : Bildfunk für kriminalpolizeiliche Zwecke. Krim. 18 (1964) S. 205. N. J. H a r r i c k : Anfertigen von Fingerabdrücken mit Hilfe von Totalreflektion. Krim. 18 (1964) S. 595. W. M a r c e l l i : Nochmals: Zwangsweise erkennungsdienstliche Behandlung. Krim. 18 (1964) S. 607. M. P o s t : Fingerabdrucknahme von Lebenden und Toten. Krim. 18 (1964) S. 427. D. K. S. P u r i : Ergänzende Betrachtungen über Fingerabdrücke. RIPC. 19 (1964) S. 130. W. R o h r m a n n u. R. H e i g l : Physiologische Grundlagen für diu Beweiskraft der Daktyloskopie. Taschenbuch für Kriminalisten. XIV (1964) S. 284. G. S c h ö n b r u n n : Zwangsweise erkennungsdienstliche Behandlung. Krim. 18 (1964) S. 425. J. B a u m : Zur Frage der zwangsweisen erkennangsdienstlichen Behandlung. Krim. 19 (1965) S. 238.

Kriminaltechnik W. C h r i s t e n : Identifizierung unbekannter Toter. Krim. 19 (1965) S. 19. G. H u s t : Erkennungsdienstllche Behandlung und Peraönlichkeitsschutz. Krim. 19 (1965) 3. 499. ΐ . K i m u r a : Die elektronische Abnahme von Fingerabdrücken. BIFC. 20 (1965) S. 168. G. S c h ö n b r u n n : Und nochmals: Ζ wangsweise erkennungsdienstliche Behandlung. Krim. 19 (1965) S. 198. A. Gietl: Maschinell geführte Zehnfingerabdrucksammlung. Krim. 20 (1966) S. 193. Γ. P s c h o r n : Weiterklassifizierung der Wirbel- (O-Muster) und Schleifenmuster zur Auswertung in der Zehnfingerabdrucksammlung. Krim. 20 (1966) S. 9, 70 u. 136. H. Schiro: Datenverarbeitungsanlagen helfen bei der Identifizierung von Personen durch Fingerabdrücke. IBM Nachrichten 16 (1966) S. 255.

D. Einzelne Gegenstände kriminaltechnischer Untersuchungen 1. Finger- und

Handflächenspuren

a) Die Abbildung der Papillarlinien, die zur objektiven Personenidentifizierung künstlich von den Fingerbeeren hergestellt werden, kann auch zufällig erfolgen, wenn Fingerbeeren, Handflächen oder Fußsohlen einen Gegenstand berühren. Es gibt folgende Möglichkeiten der E n t s t e h u n g dieser Spuren, die hier kurz als Fingerspuren bezeichnet werden sollen: durch Eindruck in plastischen Substanzen, durch Abdruck der zufällig eingefärbten Papillarlinien, durch Abhebung von Staub auf eingestaubten Flächen oder durch Übertragung des natürlichen Hautsekrets. Die drei zuerst genannten Arten von Fingerspuren sind ohne weiteres zu erkennen. Sie spielen zahlenmäßig eine geringe Rolle. Die Masse der Fingerspuren sind farblose Abdrücke. Aus den Öffnungen der Schweißdrüsengänge, die in den Papillarlinien liegen, tritt ständig, wenn auch in unterschiedlichen Mengen, Schweiß aus. Auf die Papillarleisten werden außerdem häufig geringe Mengen Fett von anderen Körperteilen und Gegenständen übertragen. Diese Substanzen genügen, auf geeigneten Unterlagen ein latentes Papillarlinienbild zu erzeugen, das zwar unauffällig ist, aber bei entsprechender Beleuchtung gesehen oder mit Hilfe verschiedener Mittel sichtbar gemacht werden kann. Der Schweiß besteht zum größten Teil (98,5 bis 99,5%) aus Wasser, das alsbald verdunstet. Die Rückstände, die sich vor allem aus Kochsalz, Kaliumchlorid, Harnstoff, Fett- und Milchsäuren zusammensetzen, stellen aber über längere Zeit haltbare Abdrücke dar. Der Engländer Faulds hat als erster darauf hingewiesen, daß Fingerspuren zur Überführung eines Täters genutzt werden können (->· C 3 b). Die Sichtbarmachung latenter Fingerspuren wurde schon 1891 von Forgeot beschrieben (Les empreintes latentes, 1891). In der Folgezeit sind für diesen Zweck zahlreiche Methoden empfohlen, die zum Teil auf sehr spezielle Situationen ausgerichtet sind.

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b) Es werden sowohl feste als auch flüssige und gasförmige Stoffe zur S i c h t b a r m a c h u n g von Fingerspuren verwendet. Sie bleiben entweder an den Spuren von Hautsekret und Fett besser haften als auf dem Spurenträger oder bewirken mit einem Bestandteil der Spurensubstanz eine Farbreaktion, welche die Spur sichtbar macht. Anfangs wurden die durch Einstauben mit feinen Farbpulvern sichtbar gewordenen Spuren photographiert. Für derartige Aufnahmen sind auch Spezialkameras konstruiert. Heute sichert man die mit Rußpulver, Argentorat, Caput mortum (Eisenoxyd) oder anderen Pulvern sichtbar gemachten Spuren vorwiegend in der Weise, daß sie mit einer klebefähigen, elastischen Folie vom Spurenträger abgehoben werden. Die ebenfalls schon frühzeitig angewandte Methode, Fingerspuren mit Joddämpfen sichtbar zu machen, wobei sich das sublimierte Jod stärker an die Fettsäuren als an den Spurenträger anlagert, ist sowohl im Hinblick auf die dazu verwendeten Geräte als auch in bezug auf das Fixieren der flüchtigen Jodbilder häufig modifiziert. Die Entwicklung von Fingerspuren auf chemischem Wege ist in der Hauptsache für solche auf Papier von Bedeutung. Sie zielt auf die Darstellung des im Sekret enthaltenen Kochsalzes oder der Aminosäuren ab. Kochsalz bildet mit Silbernitrat Silberchlorid, das durch Belichtung geschwärzt wird. Die Aminosäuren werden mit dem empfindlichen Nachweisreagenz Ninhydrin dargestellt. Das Jod-, das Ninhydrin- und das Silbernitratverfahren können zur Sichtbarmachung von Fingerspuren auf Papier in dieser Reihenfolge nacheinander angewendet werden. Obwohl die Spuren beim mechanischen Auftrag von Pulvern naturgemäß eher in Mitleidenschaft gezogen werden, als wenn man zu ihrer Entwicklung Dämpfe, Flüssigkeiten oder flüssige Stoffe in Form von Aerosolen benutzt, wird das Einstaubverfahren bevorzugt verwendet, da es einfach zu handhaben und schnell zu erlernen ist. Neuerdings entwickelte Geräte erlauben auch das Einstauben von Spuren und das Entfernen des Überschusses des Einstaubpulvers ohne Pinsel. c) Die Auswertung von Fingerspuren wird, soweit es die Kriminalpolizei in der BRD angeht, in der E i n z e l f i n g e r a b d r u c k s a m m l u n g vorgenommen. Ein Vergleich von Fingerspuren mit den Fingerabdruckblättern der Zehnfinger-Registraturen ist nur rationell, wenn bestimmte, in diesen Registraturen erfaßte Personen als Spurenleger verdächtigt werden oder wenn es sich um Griffspuren handelt, die eine, wenn auch nicht ganz vollständige, Zehnfinger-Formel zu bilden erlauben, es sei denn, die Zehnfingerabdruckblätter sind in einer Datenverarbeitungsanlage so erfaßt, daß auch Griffspuren von 2 oder 3 Fingern unter verhältnismäßig geringem Zeitaufwand überprüft werden können.

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Kriminalteclinik

Es wurden schon frühzeitig Überlegungen angestellt, wie ein Vergleich der Spuren mit einer Abdrucksammlung möglichst umfassend auch bei Einzeliingerspuren unbekannter Täter ermöglicht werden könnte. Roscher schlug 1905 vor, durch ein Nebenregister, welches die Einzelfinger erfaßte, auf die in Frage kommenden Zehnfingerabdruckblätter hinzuweisen. Das Verfahren wies zu viele Nachteile auf, um allgemein angewandt zu werden. Der Spanier Olöric veröffentlichte 1910 ein kompliziertes Registrierungssystem für Einzelfingerabdrücke, das auch keine Bedeutung erlangte. 1912 wurde im Berliner Erkennungsdienst eine monodaktyloskopische Registratur eingerichtet, wobei die Fingerabdrücke nach einem verhältnismäßig einfachen System geordnet wurden. Heute bestehen im Bundesgebiet 39 solcher Sammlungen (beim Bundeskriminalamt, bei den Landeskriminalämtern und größeren Kriminalpolizeidienststellen). Diesen Sammlungen gehen die Fingerabdrücke von folgenden Tätergruppen zu: Gewerbs- und gewohnheitsmäßige Einbrecher, Räuber, Erpresser und Drohbriefschreiber, Hotel-, Museums- und Autodiebe, Einmietediebe und -betrüger, Personen, die widerrechtlich Kraftfahrzeuge benutzen, solche, die verdächtig sind, zu den genannten Gruppen zu gehören, und Personen, die einer Straftat verdächtig sind, bei deren Untersuchung Finger- oder Handflächenspuren gesichert wurden. Die Einzelfingerabdrucksammlungen im Bundesgebiet klassifizieren fast alle nach dem „Berliner System", das allerdings häufig modifiziert wird. Das System kennt 28 Grundmuster. Diese Muster sind nach dem Papillarlinienverlauf in ihrem Kern weiter unterteilt und die Schleifenund O-Muster durch das Auszählen der Papillarlinien zwischen Herz ( = innerer Terminus) und Delta ( = äußerer Terminus) unterklassifiziert. Erweiterungen dieses Systems ziehen zur Formelbildung Form und Zahl der Papillarlinien im Herzen des Musters heran. Die Klassifizierung der Handflächenabdrücke ist insofern problematisch, als es sich bei den Spuren zumeist um Teilabdrücke handelt, die eine Klassifizierung nicht oder nur unvollkommen gestatten. ökonomische Gesichtspunkte werden häufig die Einrichtung einer klassifizierten Handflächensammlung verbieten, da der notwendige Arbeitsaufwand nicht im angemessenen Verhältnis zum Erfolg steht. Da auch die Einzelfingerregistrierung, gleich um welches System es sich handelt, nicht zu einigermaßen gleichmäßig stark besetzten Untergruppen führen kann, weil bestimmte Muster (Schleifenmuster mit 13 bis 15 Papillarlinien) sehr viel häufiger vorkommen als die anderen, sind die Einzelfingerabdrucksammlungen im Gegensatz zu den Zehnfingerabdrucksammlungen dezentralisiert. d) Die A u s w e r t u n g der gesicherten Fingerspuren beginnt mit der Überprüfung der Zahl vor-

handener anatomischer Merkmale (Minutien). Ist eine für die Identifizierung hinreichende Zahl vorhanden, wird die Spur mit den Abdrücken unverdächtiger Personen verglichen, welche sie hinterlassen haben können, insbesondere also mit denen des Geschädigten. Sofern die Herkunft der Spur bei diesem Vergleich nicht festgestellt wurde, wird versucht, den Finger zu bestimmen, das heißt, zu klären, ob die Spur ζ. B . vom rechten Zeigefinger, vom rechten Mittelfinger usw. herrührt. Bei einer Griffspur ist diese Bestimmung verhältnismäßig einfach. Aus dem Papillarlinienverlauf kann aber auch bei Einzelspuren geschlossen werden, ob sie wahrscheinlich von der rechten oder linken Hand herrühren. Ist das Papillarlinienbild für eine Klassifizierung ausreichend, wird die Formel gebildet und die Spur mit den in der Einzelfingerabdruck- und der Tatortspurensammlung Kegenden Abdrücken bzw. Spuren verglichen, um den Spurenleger oder Tatzusammenhänge festzustellen. Klassifizierbare Spuren, die vermutlich von reisenden Tätern stammen und in der zuständigen Sammlung nicht identifiziert werden konnten, werden in Kopien an andere Sammlungen gegeben („Spurenrundversand"), um einen Nachteil der Dezentralisation der Einzelfingerabdrucksammlungen wieder wettzumachen. Ist die für die Identifizierung des Spurenlegers geeignete Spur nicht klassifizierbar, wird sie nur in Ausnahmefällen (ζ. B. bei Kapitalverbrechen) mit der Sammlung verglichen, vorausgesetzt, daß sie einige Anhaltspunkte für die zu überprüfenden Gruppen gibt. Im übrigen wird ein Vergleich nur mit den Fingerabdrücken tatverdächtiger Personen vorgenommen. Da die Vergleichsarbeit außerordentlich mühsam und zeitraubend ist, wurden immer wieder Vorschläge gemacht, sie entweder durch besondere Registriermethoden, auch mit einem Lochkartenverfahren verbunden, oder durch Anwendung von Betrachtungsgeräten zu erleichtern. e) Die Frage, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um den I d e n t i t ä t s n a c h w e i s als erbracht ansehen zu können, ist viel erörtert. Verlangt wird generell die Übereinstimmung der Spur in bezug auf den Papillarlinienverlauf der Grundmuster und der in ihr erkennbaren anatomischen Merkmale (Minutien) nach Form und Lage mit dem Fingerabdruck. Die Mindestzahl der für den Nachweis der Identität erforderlichen Merkmale ist aber nicht international geregelt. In der Bundesrepublik werden nach einer Absprache der Landeskriminalämter mit dem Bundeskriminalamt „grundsätzlich zwölf" gefordert. Im Einzelfall kann eine geringere Zahl zur Identifizierung genügen,wobei es wesentlich auf die Qualität der Spur und der in ihr vorhandenen Minutien ankommt. Diese Regelung entspricht den langjährigen praktischen Erfahrungen und erlaubt dem Sachverständigen, diese Erfahrungen anzuwenden.

Kriminaltechnik Die Schwierigkeit bei der Auswertung einer Fingerspur liegt darin begründet, daß sie regelmäßig nur einen Ausschnitt des Papillarlinienmusters der Fingerbeere wiedergibt, daß die Abbildung nach allen Richtungen verzerrt sein kann, weil sich die Haut der Fingerbeere bei wechselndem Druck auch wechselnd verschiebt, daß die Einzelheiten der Papillarlinienformen zum Teil nicht oder nur undeutlich zur Abbildung gelangen und daß die Spur durch äußere Einflüsse verwischt oder auf andere Weise undeutlich wird. Die Forderung, daß Papillarlinienverlauf und Lage der Minutien übereinstimmen müssen, ist deshalb nicht so zu verstehen, daß eine Kongruenz von Spur und Vergleichsabdruck im mathematischen Sinne Voraussetzung für den Identitätsnachweis ist. Ihre relative Lage zueinander ist vielmehr maßgebend. Anatomische Merkmale im Sinne von Galton (Minutien), wie anfangende und endende Linien, Gabelungen, Augenbildungen und andere Besonderheiten im Papillarlinienverlauf treten erfahrungsgemäß auch in einer Spur bei Anwendung der für ihre Sichtbarmachung üblichen Methoden noch in Erscheinung. Die bei sachgemäß hergestellten Abdrücken gut erkennbaren Poren und der Verlauf der Hautleistenränder, auf deren Besonderheiten Chatterjee hingewiesen hat, sind bei der Spurenauswertung gewöhnlich nicht zu nutzen, weil sie in der gesicherten Spur nur selten hinreichend deutlich abgebildet sind. Die von Galton als „anatomische Merkmale" bezeichneten Details der Papillarlinien sind also nur eine Gruppe der insgesamt vorhandenen anatomischen Merkmale, welche sich dadurch auszeichnet, daß ihre Auswertung in der Regel möglich ist. Häufig genug sind aber selbst diese Merkmale nicht klar erkennbar. Durch Partikel des zur Sicherung benutzten Pulvers, die zwischen zwei Linien liegen, können Gabelungen, durch unvollständige Entwicklung der Linien endende und anfangende Linien und andere Gebilde vorgetäuscht werden. Mit Rücksicht auf diese Möglichkeiten ist die Zahl der für den Identitätsnachweis geforderten übereinstimmenden Minutien verhältnismäßig hoch angesetzt. Die richtige Entscheidung zu treffen, wenn es sich um Teilspuren mit einer geringen Zahl von Merkmalen handelt, kann im Einzelfall schwierig sein. Mit dem Identitätsnachweis ist vorab nur bewiesen, daß der Spurenleger den Spurenträger berührt hat (die Möglichkeit, daß es sich um eine gefälschte Spur handelt, wird unten erörtert). Ob die Spur anläßlich der aufzuklärenden Straftat entstand oder bei anderer Gelegenheit, ist nur unter Berücksichtigung der Verhältnisse am Tatort zu klären. Die Frage nach dem Alter einer Spur, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt, ist nicht zuverlässig zu beantworten, das Alter ist bestenfalls zu schätzen. Selbst das entwickelte Chlorid-

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bild von Fingerspuren auf Papier kann — in einer der Tintenaltersbestimmung analogen Auswertung ( D 7 e) — nur einen Anhaltspunkt geben. Zu berücksichtigen ist immer, daß Fingerspuren im Einzelfall noch nach langer Zeit sichtbar gemacht werden können. f) Zur Täuschung der Strafverfolgungsorgane können Gegenstände mit Fingerspuren von nicht an der Tat beteiligten Personen an den Tatort verbracht oder auf andere Weise als Beweismittel in das Verfahren eingeführt werden; es ist auch möglich, F i n g e r s p u r e n zu f ä l s c h e n . Folgende Fälle sind denkbar und zum Teil auch praktiziert: 1. Α setzt im Einvernehmen mit V Fingerspuren auf einen transportablen Gegenstand. V begeht die Straftat und läßt den Gegenstand am Tatort zurück. 2. V gelangt in den Besitz eines Gegenstandes, an dem sich zufällig entstandene Spuren des A befinden, und hinterläßt diesen Gegenstand ohne Wissen des A am Tatort. 3. V stellt mit Wissen des Α von dessen Fingerbeeren oder dessen Handflächen Abbildungen her, die eine Wiedergabe der Papillarlinien gestatten (in Form von Stempeln, plastischen Nachbildungen der Fingerbeeren, Fingerlingen oder Handschuhen). 4. V stellt ohne Wissen des Α derartige Nachbildungen her, um mit ihnen am Tatort Spuren zu erzeugen. Solange Α nicht in der Einzelfingerabdrucksammlung erfaßt ist und nicht zum Kreis der tatverdächtigen Personen gehört, ist das Täuschungsmanöver ohne Bedeutung. Unter den gesicherten Spuren befinden sich immer viele, die nicht zu identifizieren sind. Ist Α in der Sammlung erfaßt, so wird er nur Fingerspuren hergeben, wenn sein Alibi für die Tatzeit völlig hieb- und stichfest ist. Abformungen von Papillarlinienbildern, die zur Herstellung von Fingerspuren zu einem beliebigen Zeitpunkt dienen sollen, wird er wegen des damit verbundenen Risikos kaum gestatten. Unabsichtlich gesetzte Fingerspuren, die auf irgendeine Weise in ein Strafverfahren eingeführt werden, können eine in der Einzelfingerabdrucksammlung erfaßte oder in Verdacht geratende Person, die diese Spuren hinterlassen hat, allerdings in Schwierigkeiten bringen. Befindet sich die Spur an einem Gegenstand, der „tatortfremd" ist, wird man bei ihrer Auswertung ohnehin Vorsicht walten lassen. Eine Fälschung aber allein anhand der gesicherten Spur nachzuweisen, wird regelmäßig nicht möglich sein, da der Verdacht oder die Behauptung, daß es sich um eine Fälschung handele, erst dann auftaucht bzw. aufgestellt wird, wenn die Spur bereits mit Hilfe der üblichen Methoden gesichert ist. An einem Folienabzug können in den meisten Fällen die diffizilen chemischen und morphologischen Untersuchungen, welche, an der Originalspur vorgenommen, zur Klärung der Frage echt

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oder falsch? durchaus von Nutzen sind, nicht mehr durchgeführt werden. Es hieße aber, die praktische Bedeutung dieser Möglichkeiten, getäuscht zu werden, überschätzen, wenn man sie am Umfang ihrer Erörterung in Fachliteratur und Kriminalromanen messen wollte. g. F i n g e r s p u r e n können auch a u ß e r h a l b des Rahmens der T a t o r t d a k t y l o s k o p i e von Nutzen sein. Die Vermutung, daß ein unbekannter Toter mit einer als vermißt gemeldeten Person identisch ist, kann durch den Vergleich von Fingerabdrücken mit Fingerspuren, welche diese etwa in ihrer Wohnung zurückgelassen hat, zur Gewißheit werden. Auf die Möglichkeit, Fingerspuren des Künstlers auf Gemälden für die Expertise auszuwerten, hat Heindl hingewiesen. Plath machte auf die Möglichkeit aufmerksam, Fingerabdrücke auf Wachssiegeln zur Klärung von Zweifelsfragen bei der Untersuchung alter Urkunden zu nutzen. Monographien Ξ . M ü l l e r : Die Klassifizierung der Einzelfingerabdrücke nach dem Berliner System. 1936. W. R. S c o t t : Fingerprint Mechanics. 1960. s. a. den Literaturnachweis zu G. Zeitschriftenaufsfitze J . D a t o w : Neues Verfahren zur Fixierung jodierter Fingerabdrücke. ArchKrim. 110 (1942) S. 106. E. H o r s c h l e r : Wie lange sind Fingerspuren haltbar? ArchKrim. 113 (1943) S. 80. W. F r i t z : Die Sicherung von Fingerabdrückeo auf Papier. Krim. 3 (1949) S. 159 u. 181. F. A n g e r m a y e r : Sicherung von fettigen oder öligen Fingerabdruckspuren und Fingerabdruckspuren an Mauern. Krim. 5 (1951) S. 229. F. A n g e r m a y e r : Fälschung von Fingerabdrücken. Pol. 6 (1952) S. 97. Κ. B. M o l l e r : Le classement des empreintes palmaires au Danemark. RIPC. 7 (1952) S. 43. P. D r o p m a n n : Verfahren zum Sichtbarmachen von Fingerabdrücken aus Klebstoffen. Krim, β (1952) S. 3. H e r l a n : Vorsicht bei daktyloskopischen Gutachten. Juristische Rundschau. (1952) S. 469. E. S c h m i e d : Die Fälschung von Fingerabdrücken. Krim, β (1952) S. 99. E. S c h m i e d : Nachweis der Fälschung von Fingerabdrücken. Krim, β (1952) S. 130. F. A n g e r m a y e r : Ist der Beweiswert der TO.-Fingerabdrücke erschüttert ? Krim. 8 (1954), Sonderbeilage zu Heft 10. G. B o h n e : Sicherung des daktyloskopischen Beweisverfahrens. Krim. 8 (1954) S. 303. C. E b o l i : Berußen latenter Abdrücke auf Metall und Glas. Ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber hohen Temperaturen. RIPC. 9 (1954) S. 275. M. F r e i : Neue Aspekte der Tatortfingerabdrücke. Krim. 8 (1954) KW S. 20. O d i n u. v o n H o f s t e n : Detection of fingerprints by the ninhydrin reaction. Nature. 173 (1954) S. 449. A. C u e l e n a e r e : Über das Ninhydrinverfahren zur Sichtbarmachung von Fingerabdrücken auf Papier. ArchKrim. 11« (1955) S. 1. F. K i n d e r v a t e r : Ein neues Jodiergerät „Sublimator" Krim.9 (1955) S. 392. M. K o m i l a k i s : Die Sichtbarmachung latenter Fingerabdrücke auf Papier. Das Silbernitrat- und das Ninhydrinverfahren. ArchKrim. 115 (1955) S. 84. Neue Möglichkeiten zur Sicherung von latenten daktyloskopischen Spuren auf Papier ? Krim. 9 (1955) S. 257.

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2. Fußspuren Spuren von Füßen treten als Fährten, Fußbilder und Gangbilder in Erscheinung. Als Fährte wird die Folge von Veränderungen bezeichnet, die beim Gang oder Lauf von Mensch und Tier am Boden und seiner Bedeckung entsteht. Fußeinund -abdrücke sind Abbildungen des einzelnen bekleideten oder unbekleideten Fußes. Eine kontinuierliche Reihe solcher Spuren wird Gangbild genannt. a) F ä h r t e n erlauben nicht die Identifizierung des Fährtenlegers, und nur in seltenen Fällen führen sie ganz zu ihm hin. Das Verfolgen einer Fährte ist aber durchaus notwendig, da in ihrem Verlauf zur Identifizierung des Täters oder eines von ihm benutzten Fahrzeuges geeignete Spuren, Tatwerkzeuge, gestohlenes Gut und andere Beweismittel gefunden werden können. Die Fähigkeiten des zivilisierten Menschen, eine Fährte zu verfolgen, sind begrenzt. Er verliert sie aus dem Auge, sobald sie optisch nicht mehr von ihrer Umgebung zu differenzieren ist. Der Einsatz eines Fährtenhundes kann hier weiterhelfen, b) F u ß e i n d r ü c k e entstehen in weichem, modellierfähigem Material wie Staub, loser und feuchter Erde, Schnee. Methoden zur Sicherung dieser Spuren, insbesondere solche zur Abformung, wurden schon frühzeitig in der einschlägigen Literatur beschrieben. Fast alle Eindrücke lassen sich mit Hilfe von Gips sichern. Die Photographie reicht zur Sicherung der dreidimensionalen Spur nicht aus, da mit ihrer Hilfe die feinen Einzelheiten nur unvollkommen dargestellt werden können. Die zweidimensionalen Abdruckspuren sind photographisch gut abzubilden. Soweit es

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sich um Spuren handelt, die durch Übertragung von Staub oder von färbenden Stoffen von der Sohle auf feste, glatte Unterlagen entstanden, können sie auch mit Hilfe durchsichtiger Klebefolien gesichert werden. Während sich früher eine Fußspur in der Regel als Eindruck präsentierte, kommt heute der Fußabdruck verhältnismäßig häufig vor, da die Fußböden in Geschäftsräumen, Büros und Wohnungen günstige Voraussetzungen für ihr Entstehen bieten. Fußspuren sind in verschiedener Hinsicht auszuwerten. Abgesehen von ihrer Bedeutung als Bestandteil der Fährte, geben sie Hinweise auf die Zahl der Täter, erlauben Rückschlüsse auf ihre Entstehung und geben — wenn auch nur im begrenzten Umfange — Hinweise auf Geschlecht und Schuhgröße. Aus der Schuhgröße mit Hilfe der von verschiedenen Autoren berechneten Faktoren die Körpergröße zu ermitteln, ist nur unter Berücksichtigung erheblicher Fehlerbreiten angängig. Schuhsohlenprofilsammlungen, wie sie bei verschiedenen Dienststellen geführt werden, erlauben auch dann, wenn nur Teilspuren vorliegen, Abbildungen mit Hersteller- und Dessinbezeichnung für Fahndungszwecke zur Verfügung zu stellen. Die zentrale Sammlung von Fußspuren, die wahrscheinlich von überörtlichen Tätern herrühren, etwa auf der Ebene der Landeskriminalämter, ist von Vorteil, da sich aus ihr Hinweise auf Tatzusammenhänge ergeben können. Der Vergleich mit dem Schuhzeug tatverdächtiger Personen, der die Identifizierung des Spurenlegers zum Ziele hat, ist die ersprießlichste aller Auswertungsmöglichkeiten, welche diese Spuren bieten. Die Aussichten sind nicht gering. Spuren vom unbekleideten oder nur bestrumpften Fuß sind sehr selten. Soweit die Spur vom nackten Fuß kein Papillarlinienbild zeigt, das wie eine Fingerspur auszuwerten ist, bietet sie nur in wenigen Fällen genügend individuelle Merkmale, um sie als von einer bestimmten Person herrührend bezeichnen zu können. Von Strümpfen, die heute durchweg maschinell hergestellt werden, bleiben nur dann zu ihrer Identifizierung geeignete Spuren zurück, wenn die Sohlen Defekte oder Stopfstellen aufweisen. Die schnelle Vergänglichkeit derartiger Merkmale wird aber auch nur dann eine Auswertung erlauben, wenn die Strümpfe alsbald nach der Tat sichergestellt werden konnten. Auch die Schuhsohlen und -absätze, welche in fast allen Fällen die sogenannten Fußspuren hinterlassen, sind, wenn die Schuhe häufig getragen werden, einem Verschleiß unterworfen, der einer Identifizierung im Wege stehen kann. Die Auswertung einer Fußspur für den Identitätsnachweis geschieht, sofern es sich um einen Fußeindruck handelt, durch den Vergleich des Gipsabgusses mit dem in Betracht kommenden Schuh. Die Abmessungen spielen für eine orien-

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tierende Überprüfung insofern eine untergeordnete Rolle, als Fußeindrücke im weichen Erdreich erheblich kürzer ausfallen können, als der spurenerzeugende Schuh ist. Der Fuß berührt beim Gehen zuerst mit der Ferse den Boden und drückt diesen, wenn er nachgiebig ist, nach vorn unten. Alsdann wird der Fuß abgerollt, wobei in der letzten Phase die Fußspitze nach hinten unten gedrückt wird und auch den Eindruck entsprechend gestaltet. Auf diese Weise kann der Fußeindruck um etwa 3 cm kürzer werden als der Schuh. Abweichungen in der Breite von etwa 1 cm sprechen ebenfalls nicht gegen eine Identität. Die große Zahl der im Gebrauch befindlichen Sohlen- und Absatzprofile (es sind zur Zeit eher mehr denn weniger als viertausend verschiedene Dessins) erlaubt es, schnell zu entscheiden, ob ein Schuh als Spurenverursacher ausgeschlossen werden kann oder nicht. Stimmen die Profile überein (der Ausdruck „Profil" wird in der Gummiindustrie für die reliefartige Gestaltung der Sohlen- und Absatzoberfläche sowie für die der Reifen gebraucht), sind Spur und Schuh auf übereinstimmende individuelle Merkmale zu überprüfen. Ledersohlen bieten in dieser Beziehung nicht soviel Möglichkeiten wie die Profilsohlen. Abnutzungserscheinungen und Reparaturstellen können hier in erster Linie auswertbare Merkmale ergeben. Profilsohlen werden aus einer Platte oder aus einem Band mit über die ganze Fläche gleichartigem oder auch Sohle und Absatz markierendem Profil gestanzt oder in einer Form geheizt. Beim Stanzen aus einer Platte oder aus einem Band zeigen Sohlenpaare so gut wie nie völlig identische Ausschnitte aus dem laufenden Profil, das ständig wechselnd angelegt werden muß, um den Verschnitt möglichst gering zu halten. Sohlen, die in der Form geheizt werden, können gelegentlich individuelle Merkmale in Gestalt von Luftblasen aufweisen. Sonst sind keine merklichen Unterschiede vorhanden. Sie ergeben sich aber häufig, wenn die Sohlen unter den Schuh gebracht sind. Nur bei wenigen Herstellungsverfahren bleibt die ursprüngliche Form der Preßformsohlen erhalten. Die Sohlen bekommen in der Regel, wenn sie mit dem Oberleder verbunden sind, durch Fräsen der Sohlenkanten die gewünschte Umrißlinie. Da sie nicht immer gleichmäßig an das Oberleder angelegt werden, sind die Entfernungen gleicher Bezugspunkte vom Sohlenrand verschieden. Derartige Differenzen erhalten ein besonderes Gewicht, wenn Spuren vom rechten und vom linken Schuh gesichert wurden, zumal sie in beiden nur zufällig im gleichen Maße auftreten. Die Abdrücke von Gummiprofil- und Kreppgummisohlen bieten deshalb besondere Erfolgsaussichten, weil in ihnen häufig selbst feinste Merkmale zur Abbildung gelangen. Daher kann es auch anhand weniger Quadratzentimeter großer

Spuren gelingen, den erzeugenden Schuh festzustellen. c) Das G a n g b i l d wird, wenn ein genügend hoher Standpunkt vorhanden oder zu schaffen ist, photographisch gesichert und auf dem Lichtbild ausgewertet. Ist Photographieren nicht möglich, ist es auszumessen und aufzuzeichnen. Für das Messen sind verschiedene Systeme vorgeschlagen (siehe dazu Groß-Seelig, 8. u. 9. Aufl., Bd. II, S. 446). Festgestellt werden Schrittlänge, Schrittbreite und Schrittwinkel mit Durchschnittsmaßen und Variationsbreiten. Übereinstimmungen können nur unter besonders günstigen Bedingungen, wie sie zum Beispiel durch krankheitsbedingte und fixierte Gehstörungen gegeben sind, zum Nachweis der Identität genügen. Die wesentliche Bedeutung des Gangbildes liegt aber weniger in der Möglichkeit der Identifizierung des Spurenlegers als darin, daß es einmal den Ausschluß bestimmter Personen erlaubt, zum andern aber auch, wenn es auf einen außergewöhnlichen Gang hinweist, für die Fahndung auszuwerten ist. Monographien W. S p i e g e l : Untersuchungen über die Erkennung von Gehstörungen aus dem Spurenbild. Med. Diss. Heidelberg 1950. I. R. A b b o t t : Footwear Evidence. 1964. Zeitschriftenaufsätze X. B a u e r n f e i n d : Warum so wenig Fußspuren? Krim. 4 (1950) S. 147, 201 u. 223. K. J ü t t n e r : Fuß-, Tier- und Fahrzeugspuren kriminalistisch ausgewertet. Pol. 4 (1950) 8. 380. Th. P f i s t e r : Verbrecherfährten am Tatort. Die Neue Polizei. 5 (1951) S. 156. J. R a u s c h k e : Über das Gangbild bei Gehstörungen. DZGerMed. 43 (1954) S. 11. J. W. A l l e n : Gipsabformungen von Spuren im Schnee. B.IPC. 10 (1955) S. 171. A. H e u s s e r : Krepp-Absatzspur-Identifizierung. Krim. 9 (1955) S. 300. R e h b e r g : Der Hund als Spurenleger —· Pfotenspuren. Krim. 10 (1956) S. 170. A. N i c k e n i g : Fußspuren im Schnee, richtig gesichert. ArchKrim. 120 (1957) S. 37. W. S t e d r y : Einfluß der Bodenbeschaffenheit auf die Größe von Fußspuren. Krim. 11 (1957) S. 465. F. H o f e r : Schuhabdruckspuren und Schuhsohlenprofilsammlung. Krim. 12 (1958) S. 490. W. S t e d r y : Sicherung und Auswertung von Fußspuren. Taschenbuch für Kriminalisten. VIII (1958) S. 207. W. S t e d r y : Staubspuren von Profilschuhsohle und ihre Auswertung. Krim. 12 (1958) S. 324. J. W i l d e r : Täterschaftsnachweis durch Fußsohlenabdruck. Krim. 14 (1960) S. 459. D. K. S. P u r i : Die Fußabdrücke. B.ICP. 20 (1965) S. 106.

3. Radspuren a) Radspuren werden kriminalistisch zur Bes t i m m u n g der A r t des F a h r z e u g e s , welches die Spuren hinterlassen hat, s e i n e r F a h r w e i s e , seiner Fahrtrichtung und zu seiner Identifizierung genutzt. Die Art des Fahrzeuges ist auf Grund der Radzahl und der Radstellung, des Radstandes, der Spurweite, der Laufflächenbreite und — soweit

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Kiiminaltechnik es sich um luftbereifte Fahrzeuge handelt — des Profils und der Reifengröße zu bestimmen. Bei bespannten Fahrzeugen spielen die Spuren der Zugtiere eine erhebliche Rolle. Begleitspuren, wie sie ζ. B. beim Be- und Entladen entstehen, können weitere Hinweise geben. Radspuren von Fahrzeugen, die an Verkehrsunfällen beteiligt sind, erlauben Rückschlüsse auf die Fahrweise der Fahrzeuglenker. Hier geht es in der Regel darum, festzustellen, ob und wo ein Fahrzeug die rechte Straßenseite verlassen hatte oder wo ein Bremsvorgang begann. Die Bestimmung der Fahrtrichtung ist für die Ermittlung des Fluchtweges von Bedeutung. Verschiedene Erscheinungen können dafür ausgewertet werden. b) Zur I d e n t i f i z i e r u n g eines F a h r z e u g e s auf Grund der Radspuren werden einmal alle Daten herangezogen, die zur Bestimmung der Fahrzeugart dienen, zum anderen individuelle Merkmale, die in den Spuren, seien es nun Aboder Eindrücke, zur Abbildung gelangen. Luftreifen können solche Merkmale aufweisen, selbst wenn sie noch nicht abgenutzt sind. Der Luftreifen erhält sein Profil bei der Fabrikation in einer zweiteiligen Form. Die beiden Hälften der Form können beim Schließen gegeneinander versetzt werden, so daß die rechten und linken Laufflächen und Schulterprofile des fertigen Reifens gegeneinander verschoben sind. Das Verschieben der beiden Formhälften ist besonders oft und auch im erheblichen Ausmaß bei runderneuerten Reifen zu beobachten. Ein weiteres Merkmal erhalten diese Reifen häufig noch dadurch, daß ein Ring zwischen die beiden Formhälften gelegt werden mußte, um den durch das Auswalken der Karkasse zu voluminös gewordenen Reifen unterbringen zu können. Diese Ringe sind verschieden breit und werden mit verschiedenen Profilmustern kombiniert. Sie geben willkommene Bezugspunkte zu den versetzten Profilen der linken und rechten Reifenhälfte ab. Eine völlig sichere Identifizierungsgrundlage bieten rund- oder laufflächenerneuerte Reifen, deren Profil mit der Hand eingeschnitten wurde, oder solche Reifen, in deren Lauffläche mit der Hand nachträglich Längs- oder Querrillen eingefräst oder -geschnitten wurden. Ausbrüche, erhebliche Abnutzungserscheinungen und in das Profil eingefahrene Fremdkörper stellen weitere charakteristische Merkmale dar. Ein wichtiges Indiz kann auch die Kombination verschiedener Profile bei mehrfach bereiften Fahrzeugen sein. Zum Vergleich der Spuren mit den Reifen sind nach Möglichkeit diese selbst heranzuziehen. Abdrücke, die von der gesamten Lauffläche zu nehmen sind, können im Einzelfall ausreichen. Für Abweichungen in bezug auf die Breite und den Abstand zweier Bezugspunkte in der Länge der Spur sind verschiedene Faktoren verantwort11

HdK, 2. Aufl., Bd. II

lich: Luftfüllungsgrad, Belastung und Geschwindigkeit des Fahrzeugs, bei Eindrücken die Konsistenz des Bodens. Einige Zentimeter Längendifferenz bei Spuren von etwa 30 cm Gesamtlänge sprechen nicht gegen eine Identität. Reifenabdrücke auf Haut oder Kleidung einer beim Verkehrsunfall verletzten oder getöteten Person sind nur selten so deutlich und umfangreich, daß sie die Identifizierung eines bestimmten Reifens erlauben. Selbst das Profilmuster ist nicht immer mit Sicherheit zu rekonstruieren, zumal Vulkanisierbetriebe häufig solche Profilformen verwenden, die denen fabrikneuer Reifen weitgehend angeglichen sind. Immerhin sind solche Spuren schon zur Rekonstruktion des Unfallhergangs von großer Bedeutung; sie erlauben auch, Fahrzeuge mit im Profil abweichenden Bereifungen auszuschließen. Die Frage, ob Schmutzspuren an der Kleidung einer unfallgeschädigten Person von der Bereifung, von einem anderen Fahrzeugteil oder vom Untergrund herrühren, kann durch eine Lupenuntersuchung geklärt werden, wenn es sich nicht klar erkennbar um einen Profilabdruck handelt. c) Die systematische S a m m l u n g v o n R e i f e n p r o f i l e n in Form sogenannter Pneuatlanten, die auch die Spurweiten der mit den verschiedenen Reifenarten ausgerüsteten Fahrzeuge enthalten, wurde wiederholt angeregt und auch begonnen. Sie ist aber nicht ergiebig genug, um den verhältnismäßig großen Arbeitsaufwand für ihre Erstellung rechtfertigen zu können. Die regelmäßig herausgegebenen bebilderten Kataloge der Reifenindustrie und der Hersteller von Formen sind brauchbare Unterlagen für die Feststellung einer Reifenart auf Grund einer fragmentarischen Spur. Monographien A . O . P i n k : Verkehrsunfälle und ihre Untersuchung. 1956. M. J u l i e r : Die polizeiliche Untersuchung von Verkehrsunfällen. 1957. Zeitschriftenaufsätze O. E n g e l m a n n : Spuren auf der Fahrbahn und ihre Deutung. Pol. 2 (1948) S. 86. J. H o t z u. E. A n g s t : Luftreifenspuren in der Kriminalistik. Krim. 14 (1960) S. 198, 245 u. 316. E. W e i n i g u. Gg. S c h m i d t : Besondere Identifizierungsmerkmale bei Kraftfahrzeugen. ArchKrim. 127 (1961) S. 22. O. P r o k o p , W. D ü r w a l d u. W. R e i m a n n : Die Feststellung von Anfahren bzw. Überfahren durch Pkw und Lkw mittels Staubuntersuchung unter Zuhilfenahme der Stereolupe. ArchKrim. 130 (1962) S. 134.

4.

Werkzeugspuren

a) Allgemeines. Werkzeuge hinterlassen an dem mit ihnen bearbeiteten Material Spuren, welche — sofern sie genügend deutlich in Erscheinung treten — die Bestimmung der im Einzelfall benutzten Werkzeugart, die Beurteilung der Fertigkeit seines Benutzers und die Identifizierung des benutzten Werkzeuges erlauben. Kriminalistisch ist die Frage, ob der Benutzer

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Kriminaltechnik

eines Werkzeuges über mehr oder weniger große Fertigkeiten verfügte, nur selten von Interesse, um so belangreicher ist aber die Bestimmung der Werkzeugart und die Identifizierung des Tatwerkzeugs, die in den meisten Fällen das Endziel einer Werkzeugspurenuntersuchung ist. Die Spuren geben nicht immer sichere Auskunft über die Art des benutzten Werkzeuges. Häufig gestatten sie nur die Zuordnung zu einer mehr oder weniger eng umrissenen Gruppe von Werkzeugen. Gleichwohl können diese Spuren individuelle Merkmale aufweisen, die zur Identifizierung des benutzten Werkzeuges ausreichen. Andererseits gibt es Werkzeuge, die für ihre Art charakteristische Spuren hinterlassen, ζ. B. Schneidbrenner, deren Einzelexemplare aber nicht mit Hilfe dieser Spuren identifiziert werden können. Dafür bieten nur Eindruck- und Schartenspuren eine Grundlage. Unmöglich ist es aber auch, solche Werkzeuge anhand von Schartenspuren zu identifizieren, deren spurenerzeugende Teile sich bei Gebrauch fortlaufend ändern, wie es Schleif- und Schmirgelscheiben tun. Ebensowenig gelingt dieses, wenn das Werkzeug eine Vielzahl das Material in gleicher Ebene angreifende Teile hat, deren Spuren sich gegenseitig auslöschen oder überlagern (ζ. B. Sägen und Feilen). Eindruckspuren sind vor allem von hebelartig oder zum Schlag oder zur Prägung genutzten Werkzeugen zu erwarten, Schartenspuren von schneidenden (spanabhebenden) Werkzeugen. Häufig sind aber beide Spurenarten in einem Komplex zu beobachten. Schneidende Werkzeuge erhalten schon bei der Herstellung ihre individuellen Merkmale, selbst wenn sie in einer Serie gefertigt werden, weil beim Anschleifen der Schneiden sich nicht wiederholende Spurenkomplexe in Form von Scharen feiner und feinster Scharten entstehen. Hinzu kommen Veränderungen im Laufe des Gebrauchs. Auch die Oberflächen und Kanten von Werkzeugen, die sich als Eindruck abbilden, sind bei Exemplaren gleicher Fertigung nicht übereinstimmend, da sie nach der Ausformung in jedem Fall einer Nachbehandlung unterzogen werden, die unterschiedliche, zum Teil allerdings nur feinste Spuren hinterläßt. Insofern spielen hier die durch den Gebrauch des Werkzeugs eingetretenen Veränderungen eine größere Rolle. Ob derartige Merkmale im bearbeiteten Material zur Abbildung kommen, hängt weitgehend von dessen Beschaffenheit ab. Werkzeugspuren sind nach Möglichkeit mit dem Spurenträger zu sichern. Ist das wegen der Größe des Objektes oder aus anderen Gründen nicht möglich, werden Abformungen gemacht. Gröbere Spuren werden mit Plastillin, feinere Spuren mit geeigneten Dentalabdruckmassen, die volumenkonstant sein sollen, oder mit Blei abgeformt. Durch Lichtbild sind zwar grobe Schartenspuren und flache Eindrücke zu sichern, bei der Aus-

wertung des Bildes wird aber immer die Frage offen bleiben, ob in ihm auch alle wesentlichen Spuren dargestellt sind. Gesicherte Spurenträger müssen vom tatverdächtigen Werkzeug getrennt gehalten werden, da sich an diesem noch Berührungsspuren (charakteristische Materialübertragungen) befinden können. Deshalb ist es auch ein grober Kunstfehler, wenn das Werkzeug in eine Eindruckspur gepaßt wird oder mit ihm Vergleichsspuren gesetzt werden, bevor es auf solche Berührungsspuren untersucht ist. Der Vergleich von Spur und Werkzeug erfolgt in der Regel nicht direkt. Von Eindruckspuren werden Abformungen gefertigt und diese mit dem Werkzeug verglichen, oder es werden Vergleichsspuren mit dem Werkzeug gesetzt und ein Vergleich zwischen ihnen und der Tatspur angestellt. Diese Methode ist auch bei der Untersuchung von Schartenspuren üblich. Um das Werkzeug zu schonen, setzt man solche Vergleichs- oder Gebrauchsspuren in weiches Material wie Wachs, Plastillin und Blei. Diese Vergleichsspuren genügen für eine orientierende Untersuchung, sind aber häufig noch durch solche zu ergänzen, die in einem dem Spurenträger gleichen Material erzeugt werden, da Spurenbilder, die mit dem gleichen Werkzeug in unterschiedlichem Material gesetzt sind, besonders in ihren Feinheiten stark voneinander abweichen können. Die Eindruck- und Schartenspuren treten bei streifender Beleuchtung deutlich hervor. Sofern es sich um ein gröberes Spurenbild handelt, wie es Hiebwerkzeuge in Holz erzeugen, ist ein Vergleich mit dem unbewaffneten Auge möglich. Lichtbilder gleichen Maßstabes, die bei gleicher Beleuchtung von Tat- und Gebrauchsspur aufgenommen wurden, erleichtern den Vergleich und sind passend zusammengesetzt sehr demonstrativ. Feinere Tatund Gebrauchsspuren werden unter dem Vergleichsmikroskop, das die gleichzeitige Betrachtung zweier Objekte bei gleicher und regelbarer Beleuchtung erlaubt, gemeinsam betrachtet und, wenn sie koinzident sind, photographiert. Es ist nicht zu erwarten, daß die Koinzidenzaufnahme ein in allen Teilen von der Tat- auf die Vergleichsspur sich fortsetzendes Schartenbild zeigt. Einmal können in der Zeit zwischen der Entstehung der Tatspur und der Sicherstellung des Werkzeuges an dessen spurenerzeugenden Teilen Veränderungen eingetreten sein, insbesondere wenn es häufig gebraucht ist, zum andern tragen aber auch andere Faktoren, wie unterschiedliches Material, unterschiedliche Kraftaufwendung, zu gewissen Veränderungen des Spurenbildes bei. Der absolute Abstand der Schartenlinien in Hieb- und Schnittspuren ist abhängig vom Anstellwinkel der Schneide. Da die Abstände sich proportional dem Anstellwinkel verkleinern, bereitet es keine Schwierigkeiten, zwei unter verschiedenen Winkeln entstandene Spuren miteinander in Über-

Kriminaltechnik einstimmung zu bringen oder unter entsprechenden Versuchsbedingungen Vergleichsspuren zu produzieren, die auch in den absoluten Abständen den Tatspuren gleichen. Eine durch das Eintrocknen frischen Holzes entstandene Änderung des Spurenbildes verhindert seine Auswertung nicht. Der Vergleich von Werkzeugspuren untereinander mit dem Ziele, festzustellen, ob an verschiedenen Tatorten das gleiche Werkzeug benutzt wurde, kann nur dann zu einem sicheren Ergebnis führen, wenn die Spurenbilder zeigen, daß sie von zwei verschiedenen Werkzeugarten herrühren oder wenn die Spurenbilder ganz oder teilweise übereinstimmen. Nicht identische Spurenbilder von Werkzeugen gleicher Art können von ein und demselben, aber auch von verschiedenen Werkzeugen stammen, da nur in Ausnahmefällen die spurenerzeugenden Teile eines Werkzeuges auf einem Spurenträger vollständig zur Abbildung gelangen. Nur solche Spuren, die mit dem gleichen Werkzeug und mit den gleichen Partien dieses Werkzeuges gesetzt sind, sind bei einem Vergleich untereinander als vom gleichen Werkzeug stammend zu erkennen. Gleichwohl lohnt sich die Einrichtung einer W e r k z e u g s p u r e n s a m m l u n g , die aber zweckmäßig ein nicht zu großes Einzugsgebiet hat, weil eine Klassifizierung von Werkzeugspuren nach der Werkzeugart nur begrenzt möglich ist. Eine weitere Aufteilung nach der Art der Straftaten, bei denen die Spuren zurückgelassen wurden, hat sich bewährt. In der Bundesrepublik sind solche Sammlungen bei allen Landeskriminalämtern eingerichtet. Den Werkzeugspurensammlungen sind alle gesicherten Werkzeugspuren, Werkzeuge und Werkzeugbruchstücke zuzuleiten. Fallen Spuren von wahrscheinlich übergebietlich wirkenden Tätern an, empfiehlt sich ihr Austausch von Sammlung zu Sammlung. Dazu dienen auch Abformungen, die auf galvanoplastischem Wege maßgerecht angefertigt werden. Da Werkzeuge sich durch Abnutzung ändern, insbesondere Hieb- und Schneidwerkzeuge, sie auch nachgeschliffen, gerichtet oder anderweitig wieder brauchbar gemacht werden, ist nicht zu erwarten, daß sie in jedem Falle anhand von solchen Spuren zu identifizieren sind, die längere Zeit vor Sicherstellung des Werkzeuges entstanden. Daß Werkzeuge mit der Absicht verändert werden, ihre Identifizierung anhand der Spuren unmöglich zu machen, ist nur selten beobachtet. Das Alter einer Werkzeugspur zu bestimmen, ist im allgemeinen nicht möglich, es ist bei Spuren in Metall auf Grund von Oxydationserscheinungen nur zu schätzen. Dabei können aber Begleiterscheinungen wichtigere Hinweise geben als die Spur selbst. b. B e s o n d e r e s . Einige Gruppen von Werkzeugspuren, die hinsichtlich Entstehung und Aus11*

163

Wertung aus dem Rahmen fallen, bedürfen einer besonderen Erörterung. Spuren von Werkzeugen, die zum N a c h s c h l i e ß e n v o n S c h l ö s s e r n benutzt werden, sind im allgemeinen unauffällig und erst durch eingehende Überprüfung des Schlüssels und des Schloßinneren, insbesondere der Zuhaltungen und des Riegels, als solche zu erkennen. Während zangenartige Geräte, welche zum Drehen des auf der Innenseite des Schlosses steckenden Schlüssels von außen benutzt werden, zur Identifizierung geeignete Spuren zurücklassen, erzeugen andere Instrumente nur leichte Kratzer und Schleif spuren, die zwar Rückschlüsse auf die zum Öffnen des Schlosses angewandte Methode, aber nicht immer ihre Zuordnung zu einem bestimmten Werkzeug erlauben. Die Frage nach dem Alter solcher Spuren ist von besonderer Bedeutung, weil in viele Schlösser aus verschiedenen Gründen zu irgendeinem Zeitpunkt Nachschlüssel oder nicht zum Schloß gehörende Schlüssel eingeführt wurden, welche Spuren hinterließen, die sich von denen des Originalschlüssels unterscheiden. Werkzeugspuren, die bei handwerklicher oder maschineller Fertigung entstehen, sind geeignet, den N a c h w e i s dafür zu erbringen, daß mehrere Gegenstände gleicher Art auch g l e i c h e r H e r k u n f t sind. Die Identifizierung des Werkzeuges, welche häufig ohnehin nicht möglich ist, da sich sein Spurenbild insbesondere bei maschineller Fertigung schnell verändert, spielt hierbei eine untergeordnete Rolle. Diese Variabilität gestattet es aber, auf Grund von Spuren, die beim Ziehen von Drähten, Rohren, Bleimänteln und ähnlichen Erzeugnissen auf den Oberflächen in Form langgestreckter Riefen entstehen, den Nachweis zu führen, daß zwei oder mehr Stücke gleicher Art nicht nur auf der gleichen Maschine hergestellt, sondern auch Teile eines Stückes verhältnismäßig geringer Länge sind. Zur Kenntlichmachung von Werkstücken bestimmte P r ä g e - oder G u ß z e i c h e n sowie solche, die mit Elektroschreibern bei der Fertigung angebracht, aber später durch Abfeilen, Ausschlagen oder auch nur durch Oxydation unleserlich gemacht wurden, lassen sich durch verschiedene Verfahren wieder lesbar machen. Für Metalle und Legierungen sind eine Reihe von Ätzmitteln vorgeschlagen, die zum großen Teil aus der Metallographie übernommen, zum Teil aber auch speziell für kriminaltechnische Zwecke entwickelt wurden. In Hartgummi, Plexiglas und andere Kunststoffe eingeschlagene und mechanisch entfernte Prägezeichen lassen sich durch Behandlung der fraglichen Stellen mit organischen Lösungsmitteln wieder sichtbar machen. Zum sachgemäßen Zertrennen von G l a s wird künstlich mechanisch oder thermisch eine örtlich eng begrenzte Störung seines Spannungszustandes herbeigeführt. Am häufigsten gebraucht man dazu

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Kriminaltechnik

einen Glasschneider mit Diamanten oder Stahlrädchen, der nur wenig in das Glas eindringt, aber einen sehr feinen Spalt oder viele feine Sprünge bis in die Tiefe des Glases produziert. Die oberflächlichen muschelförmigen Absprengungen sind bei Stahlrädchen durchweg gröber als bei Diamanten. Eine Identifizierung des benutzten Glasschneiders anhand dieser Spuren ist nur ausnahmsweise möglich. Die Frage, von welcher Seite hier die zerstörte Scheibe angegriffen wurde, ist bei vorliegenden Glasschneiderspuren leicht zu beantworten. Aber auch durch Einwirkung stumpfer Gewalt zerbrochene Scheiben bieten insoweit Beurteilungsgrundlagen. Die Bruchkanten sind meist nicht glatt ausgebildet, sondern weisen Scharen von bogenförmigen Linien auf, die nach der Seite zusammenlaufen, welche beim Druck gestaucht wurde, nach der Seite, welche beim Druck gedehnt wurde, sich aber öffnen. Nach möglichst vollständiger Rekonstruktion der zerstörten Scheibe läßt sich auf Grund dieser Erscheinungen die Angriffsrichtung bestimmen. Gelegentlich zu beobachtende kreisrunde Glasbrüche können Folge eines sehr kräftigen Schlages oder des Auftreffens einer geworfenen Stahlkugel sein. Maßgebend für die Entstehung sind besondere Spannungsverhältnisse im Glas. Monographien K . H a b e : Verschlüsse und Schlösser. 2. Aufl. 1943. H. H r o n : Schloßkonstruktionen. 1952. F r . W. S c h l e g e l : Türschloß und Beschlag. 1952. J . E. D a v i s : An Introduction to Tool Marks, Firearms and the Striagraph. 1958. Z e i t s c h r i f t e n a u f Sätze W. E h r h a r d t : "Überführung eines Forstdiebes durch Werkzeugspuren trotz Fehlen eines Tatwerkzeuges. Krim. 2 (1948) S. 85. M. E b e r h a r t : Werkzeugspuren. Krim. 2 (1948) S. 29. A. S c h a i b l e : Die Sichtbarmachung ausgefeilter Nummern und Zeichen. Krim. 2 (1948) S. 114. W. F r i t z : Wird den Werkzeugspuren genügend Bedeutung beigemessen ? Pol. 3 (1949) S. 346. M e i n e r t : Glasspuren u n d ihre Deutung. Polizei-Rundschau. 3 (1949) S. 191. H.-H. H u e l k e : Die Identifizierung von Kraftfahrzeugen. Krim, 6 (1952) S. 106. H. K r a u s e : Die Werkzeugspur. Krim. 7 (1953) S. 176. W. A d a m s k i : Schloßuntersuchung f ü h r t zum Erfolg. Krim. 8 (1954) S. 160. Κ. H. J u n g : Der Kriminalist und die Schweißtechnik. Krim. 8 (1954) K W S. 105. K. M ö r s c h e l u. F. B o r c h a r d t : Das Schloß in der Kriminalistik. Krim. 8 (1954) S. 308. A. N i c k e n i g : Spuren am Schloß. Kriminal technische Untersuchungen am Schloßmechanismus. Krim. 8 (1954) S. 73. A. B e s s e m a n s : Die Identifizierung der Spuren von Schneide- und Hackwerkzeugen. ArchKrim. 116 (1955) S. 60. M. F r e i : Mit weicher Kamera wurde eine bestimmte Fotografie aufgenommen? Krim. 9 (1955) S. 299. K. F r i e d e n : Die Rekonstruktion entfernter Zeichen und Nummern in Metallen. Krim. 9 (1955) S. 139,177 u. 225. W. K a t t e u n d H. H a d e r s d o r f e r : Neue Anwendungsgebiete der Fixierung von Schartenspuren mit Hilfe versilberter Kollodiumhäutchen. ArchKrim. 116 (1955) S. 19.

A. N i c k e n i g u. S c h ö n t a g : Möglichkeiten kriminaltcchnischer Beweisführung. Krim. 9 (1955) S. 56. F. E n k l a a r : Ein neues Einbruchswerkzeug und Metallsplitter beim Täterschaftsnachweis. Kiim. 10 (1956 S. 452. H. H a d e r s d o r f e r : Wie kann man Schartenspuren an der Innenwand eines Rohres von kleinstem Durchmesser photographieren ? ArchKrim. 118 (1956) S. 155. E. K u c h i n k e : Das Wiedersichtbarmachen ausgefeilter Inschriften auf Kunststoff. ArchKrim. 117 (1956) S. 93. R. P e l z : Sägespuren. Krim. 10 (1956) S. 171. A. B e s s e m a n s : Einbruchsaufklärung: Die nicht ganz einfache Feststellung der Größe von Bohrlöchern in Holz. ArchKrim. 119 (1957) S. 61. G. B o h n e : Die Fixierung von Schartenspuren mittels Kollodiumhäutchen und das Photographieren der Innenwand eines Rohres kleinsten Kalibers. ArchKrim. 119 (1957) S. 139. H. G r a d m a n n : Schlösser und Panzerschränke. Taschenbuch für Kriminalisten. VII (1957) S. 168. A. N i c k e n i g u. M. H e r b s t : Das Wiedersichtbarmachen ausgefeilter Inschriften auf Kunststoff. ArchKrim. 119 (1957) S. 136. K. S c h u l z : Sicherung und Sammlung von Werkzeugspuren. Krim. 11 (1957) S. 323. W a g n e r : Suchen und Sichern von Werkzeugspuren. I n : Das kriminalpolizeiliche Ermittlungsverfahren. 1957. S. 97. A. B r u c k m e i e r : Schlösser und ihre sachgemäße Anwendung. Krim. 12 (1958) S. 514, 13 (1959) S. 69. H.-H. H u e l k e : Zentrale Werkzeugspurensammlung. I n : Grundfragen der Kriminaltechnik. 1958. S. 89. H.-H. H u e l k e u. J . B a u m : Galvanoplastische Vervielfältigung von Werkzeugspuren — ein Mittel zur Verwirklichung der zentralen Werkzeugspurensammlung. Krim. 12 (1958) S. 142. A. N i c k e n i g u. F r . K a t h e d e r : Kreisrunde Glasbrüche. ArchKrim. 121 (1958) S. 13. A. N i c k e n i g u. F . R o ß g o d e r e r : Werkzeuge, ihre Charakteristik und ihre Spuren am Tatort. Taschenbuch für Kriminalisten. V I I I (1958) S. 155. A. N i c k e n i g : Das Wiedersichtbarmachen ausgefeilter Inschriften auf Kunststoff, Hartgummi, Vulkanfiber u n d Plexiglas. ArchKrim. 123, 14 (1959). C. E h r l i c h : Die Praxis des Nachschließens. Krim. 13 (1959) S. 390. S. O e h l i n g e r : Diamant oder Glasschneide-Stahlrädchen? ArchKrim. 124 (1959) S. 14. C. P i c h l e r u. A. N i c k e n i g : Schrumpfung und Quellung von Holz und deren Bedeutung für die zeitliche Einordnung von Schartenspuren. ArchKrim. 123 (1959) S. 88. K. R o s c h e k : Aufklärung von Bleirohrdiebstählen durch mikroskopische Vergleichsuntersuchungen. Krim. 13 (1959) S. 241. A. B e s s e m a n s u. H . B a e r t : Ein Beitrag zur Geschichte der Vergleichsmikroskopie. ArchKrim. 125 (1960) S. 30. A. N i c k e n i g : Kreisrunde Glasbrüche. ArchKrim. 126 (1960) S. 99. M. F r e i u. J . M e i e r : Eine bisher unbekannte Methode zum geräuscharmen Durchbruch von Schaufensterscheiben. Krim. 15 (1961) S. 120. A. N i c k e n i g u. F. R o ß g o d e r e r : Sicherung und Auswertung von Spuren an der Innenwand von Hohlkörpern. ArchKrim. 128 (1961) S. 26. G. S u w a l d : Herstellung von Gleitspuren für die vergleichende W erkzeugspuren-Untersuchung. Krim. 15 (1961) S. 338. G. S u w a l d : Sicherung von Materialanhaftungen an Tatwerkzeugen. Krim. 15 (1961) S. 117. H. ß a n s a u u. K . R o s c h e k : Sicherung von Schartenspuren durch Bleiabdruck. ArchKrim. 129 (1962) S. 123. A. N i c k e n i g , P u t z , R o s s g o d e r e r u. H e r b s t : Untersuchungen zur Altersbestimmung von Werkzeugspuren. Krim. 16 (1962) S. 397. W. K e l l e r : Die Einbrecherbande Thrams. Krim. 16 (1962) S. 65.

Kriminaltechnik Κ. R o s c h e k : Schraubenköpfe als Spurenträger. Arch. Krim. 130 (1962) S. 17. J. B r a n d t : Glasbrüche. Taschenbuch für Kriminalisten. XV (1965) S. 185. G-. Kern: Spurensicherung an Werkzeug und Munition mit Kunststoffilm. Krim. 18 (1964) S. 241. A. P l o t z k e : Die Bedeutung der Glasbrüche bei der Aufklärung von Straftaten. Deutsche Polizei. 1965. S. 24. A. F o r k e r : Expertisen über Schlösser halfen Straftaten umfassend aufzuklären und vorzubeugen. Forum der Kriminalistik. 1966 Η. 1, S. 30. A. Forker u. H. Gläser: Informationen aus der Bleistiftspitze zur Identifizierung von Spitzmaschinen. Forum der Kriminalistik. 1966 H. 9, S. 33. A. F o r k e r u. W. N e y : Zum MnfluB der Struktur des Spurenträgers auf die Identilizierung des Werkzeugs. Forum der Kriminalistik. 1966 H. 4, S. 34. 5. Schußwaffen

und

Munition

a. Begriff. Schußwaffen sind nach § 1 Waffengesetz vom 8. 3.1938 solche Waffen, bei denen ein fester Körper durch Gas- oder Luftdruck durch einen Lauf getrieben werden kann. Wesentliche Teile von Schuß waffen (Lauf, Verschluß und Trommel) sind bei der rechtlichen Betrachtung den fertigen Schuß waffen gleichzustellen. Munition ist der verwendungsfertige Schießbedarf für Schußwaffen und dessen wesentliche vorgearbeitete Teile (Hülse, Geschoß, Zündhütchen und Treibladung). Die Herstellung, das Inverkehrbringen, der Besitz und das Führen von Schußwaffen unterliegt gewissen Beschränkungen. Das Waffengesetz vom 8. 3.1938 ist mit seinen Durchführungsverordnungen vom 19. 3.1938, 31. 3. 1939 und 4. 4.1940 noch geltendes Recht, zu beachten sind aber die Länderverordnungen, mit denen es nach Wiederherstellung der deutschen Souveränität ab 1952 wieder in Kraft gesetzt, abgeändert oder ergänzt wurde. Sie sind auch ihrem sachlichen Gehalt nach keineswegs einheitlich. Von den Schußwaffen beanspruchen die Handfeuerwaffen das besondere Interesse der Kriminalisten. Handfeuerwaffen können von einem Mann getragen und bedient werden. Kurze Handfeuerwaffen, auch Faustfeuerwaffen genannt, werden aus der Faust, lange Handfeuerwaffen aus der Schulter abgefeuert. Maschinenpistolen und -gewehre stellen insofern Sonderfälle dar, als auf sie die genannten Charakteristika nur bedingt zutreffen. Lange Handfeuerwaffen sind nach ihrem Verwendungszweck in Militär-, Jagd- und Sportwaffen zu unterteilen, Faustfeuerwaffen in Militär-, Selbstverteidigungs- und Sportwaffen. Militärgewehre und -pistolen sind Kriegsgeräte im Sinne des Art. 26 Abs. II Satz 1 Grundgesetz. Derartige Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in den Verkehr gebracht werden. Jagdgewehre sind Büchsen und Flinten. Zu den Sportgewehren zählen Scheibenbüchsen, Kleinkalibergewehre und Taubenflinten. Faustfeuerwaffen sind Pistolen und Revolver, auch als Gas-, Betäubungs- und Scheintodwaffen.

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b. Die G e s c h i c h t e der Handfeuerwaffen und der damit verbundene Erwerb von Kenntnissen über ältere Waffenkonstruktionen gewinnen neuerdings auch für den Kriminalisten eine erhöhte Bedeutung, da seit einigen Jahren alte Handfeuerwaffen zum sportlichen und jagdlichen Schießen nachgebaut werden. Soweit es sich um Vorderlader oder um Gewehrmodelle bis zum Konstruktionsjahr 1870 einschließlich handelt, sind sie gemäß § 20 bzw. § 22 der Durchführungsverordnung zum Waffengesetz waffenerwerbs- und waffenscheinfrei. Es bestehen abweichende landesrechtliche Bestimmungen. Unterschiede in der Konstruktion von Handfeuerwaffen und Geschützen sind erst in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit der Erfindung des Schlosses festzustellen. Das Schloß ist eine mechanische Einrichtung, welche die Zündung zu besorgen hat. Bis dahin bestanden sowohl das zuerst 1338 erwähnte Handrohr ( = Gewehr) als auch die Büchse, wie das Geschütz noch bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts genannt wurde, nur aus einem hinten geschlossenen Rohr mit einer hinten oben angebrachten Bohrung, dem Zündloch. Die Treibladung wurde mit Hilfe eines glühenden Drahtes oder einer Lunte entzündet. Handrohr und Büchse unterschieden sich nur durch die Größe. Die Lunte wurde beim Luntenschloß in den Hahn eingeklemmt und durch eine einfache Hebelvorrichtung auf die Pfanne gedrückt, die sich neben dem jetzt seitlichen Zündloch befand. Dieses alsbald durch eine auf den Hahn wirkende Feder verbesserte Schloß wurde bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts verwendet. Beim Anfang des 16. Jahrhunderts erfundenen Radschloß dreht sich bei Betätigung des Abzuges ein unter Federspannung stehendes gezahntes Stahlrad, auf das der Hahn ein Stück Schwefelkies (Pyrit) drückt. Da das Rad von unten in die Pfanne hineinragt, entzünden die entstehenden Funken das darin liegende Pulver (Zündkraut). Beim schon etwas früher (um 1500) bezeugten Schnappschloß trifft das in den Hahn eingeklemmte Stück Schwefelkies gegen eine Fläche aus Stahl und erzeugt dadurch den Zündfunken. Aus dem Schnappschloß wurde das Stein-, Flint- oder Batterieschloß entwickelt. Zum Funkenschlagen wird bei ihm statt des Schwefelkieses Flint- und Hornstein benutzt. Batterie wird die mit dem Pfannendeckel verbundene Schlagfläche genannt. Mit diesem Schloß waren noch die Handfeuerwaffen in den Freiheitskriegen ausgestattet. Visiereinrichtungen sind seit Mitte des 15. Jahrhunderts bekannt, im Laufe des 16. Jahrhunderts wurde die Abzugseinrichtung durch den sogenannten Stecher verfeinert, der eine Betätigung des Abzuges mit leichtem Fingerdruck ermöglicht. Als es 1818 Josef Egg gelang, Knallquecksilber (Quecksilberfulminat), das im trocknen Zustand durch Perkussion ( = Erschütterung, Stoß) zur

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Kriminaltechnik

Explosion gebracht werden kann, in Form des metallenen Zündhütchen zu laborieren, war die letzte Stufe des Vorderladers erreicht und eine wesentliche Voraussetzung für den Hinterlader geschaffen. Beim Perkussionssystem wird ein Zündhütchen auf den Piston (ein Stahlröhrchen, das Verbindung mit dem Zündloch hat) gesetzt und durch den darauf schlagenden Hahn entzündet. Perkussionsjagdgewehre wurden noch in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts hergestellt und geführt. Gezogene Läufe, zuerst mit Parallelzügen, später auch mit schraubenartig laufenden Zügen, kamen schon in der Mitte des 16. Jahrhunderts auf, wurden aber erst im 18. Jahrhundert in größerem Umfange auch für Militärgewehre eingeführt. Seit 1550 angestellte Versuche, Hinterlader zu konstruieren, schlugen bis zum 19. Jahrhundert fehl. 1836 wurde von Dreyse der erste brauchbare Hinterlader konstruiert, und zwar in Form des Zündnadelgewehrs, das er schon 1827 als Vorderlader mit einer neuartigen Patrone herausgebracht hatte. Aus diesem Hinterlader wurden in wenigen Jahrzehnten Militär- und Jagdgewehre mit kleinerem Kaliber, geringerem Gewicht und gesteigerter Schußleistung als Einzel- und Mehrlader entwickelt. Die Verwendung von Metallpatronen spielte dabei eine wesentliche Rolle. 1845 brachte Flobert kleine Patronen mit Rundkugeln heraus, in deren Bodenrand Knallquecksilber als Zünd- und Treibmittel eingepreßt wurde. Daraus ist die Randfeuerpatrone mit einer zusätzlichen Schwarzpulverladung als Treibmittel entwickelt. Von Lefaucheux waren schon 1832 für Jagdgewehre Patronen aus Pappe mit einem Metallboden hergestellt. Sie sind durch einen aus dem Boden seitlich herausragenden Stift gekennzeichnet, der beim Schuß auf die innen liegende Zündpille schlägt. Gleichartige Metallpatronen wurden später auch für Faustfeuerwaffen verwendet. Bei der nach 1850 überwiegend verwendeten Zentralfeuerpatrone ist das Zündhütchen in der Mitte des Hülsenbodens eingesetzt. c. Militärgewehre und -karabiner wurden ab 1860 als Repetiergewehre konstruiert. In der Zeit vor und während des letzten Weltkrieges ging die Entwicklung vom Repetiergewehr zur Maschinenwaffe. Das Kaliber der Militärgewehre ist regelmäßig weder auf der Waffe noch auf der Munition angegeben. Jagdgewehre werden in Büchsen und Flinten eingeteilt. Büchsen sind einläufige, für den Kugelschuß bestimmte Gewehre. Sie haben einen gezogenen Lauf, das Kaliber wird von Feld zu Feld gemessen und in Millimetern oder in Hundertstel bzw. Tausendstel englische Zoll angegeben. Sie können eine Mehrlade- und auch eine Selbstladeeinrichtung haben. Flinten sind Gewehre mit in der Regel glattem Lauf, die für den Schrotschuß bestimmt sind. Das Kaliber der

Flinten wird in Zahlen angegeben, welche die Menge der kalibergroßen Rundkugeln aus Blei ausweisen, die auf ein englisches Pfund ( = 453,6 g) gehen. Die Bezeichnung Kai. 16 bedeutet demnach, daß 16 kalibergroße Rundkugeln aus Blei ein englisches Pfund ausmachen. Die gebräuchlichsten Flintenkaliber sind 12 = 18,2—18,6 mm, 16 = 16,8—17,2 mm, 20 = 15,7—16,1 mm. Flinten werden meist als Doppelflinten mit nebeneinanderliegenden Läufen gebaut. Die Kombination von Doppelflinte und darunter liegendem Büchsenlauf heißt Drilling. Gewehre mit zwei übereinander angeordneten Läufen heißen Bockgewehre (Bockdoppelbüchse, Bockbüchsflinte usw.). Gängige Kombinationen sind der Drilling und die Bockbüchsflinte. Schonzeitgewehre sind kleinkalibrige Büchsen (5,6 mm). Kombinierte Waffen mit Kipplaufsystemen können auch mit Wechselläufen ausgestattet sein, d. h. für einen Schaft mit Schloß sind zwei oder drei Paar Läufe bestimmt. Flintenläufe haben entweder eine gleichmäßige Weite oder verengen sich etwa 5 cm vor der Mündung beginnend (Würge- oder Chokebohrung). Zielhilfen bei Flinten sind Laufschiene und Korn, bei Büchsen und kombinierten Gewehren Korn und verstellbares Visier, Zielfernrohr. Viele Jagdund Sportgewehre haben Stecherabzüge. Durch Hebelübertragung wird der Abzugswiderstand, der durch Stellschrauben zu regulieren ist, erheblich verringert (von etwa 1,5 kg bis auf wenige Gramm). Bei eingestochenem Abzug kann der Schuß schon durch leise Berührung oder Erschütterung gelöst werden. Das Munitionssortiment für Jagdgewehre ist den vielen verschiedenen Kalibern und Patronenlagern, dem recht unterschiedlichen jagdbaren Wild und den differenzierten Ansprüchen der Jägerschaft entsprechend groß (in Deutschland allein etwa 200 verschiedene Kugelpatronen). Aus dem Bodenstempel sind bei Patronen für Büchsen das Kaliber, welches durch Zusatzbuchstaben näher bestimmt sein kann, die Hülsenlänge und der Hersteller zu ersehen. Die Geschosse der neueren Jagdpatronen haben einen Teil- oder Vollmantel. Die am häufigsten vorkommenden Kaliber sind 6,5, 7 und 8 mm. Die größte Schußweite kann bei starken Ladungen bis 4000 m betragen, wenn der Abgangswinkel etwa 30° groß ist; bei horizontalem Anschlag fliegt das Geschoß bis 500 m weit. Tödliche Verletzungen sind auch durch in die Luft gefeuerte und dann mehr oder weniger lotrecht herunterfallende Geschosse möglich. Bei Schrotpatronen gibt der Bodenstempel Kaliberzahl und Hersteller an. Auf dem Deckel der Patrone ist die Schrotkorngröße, jetzt fast immer in mm, angegeben. Die gängigsten Schrotgrößen sind 2y 2 , 3, 3y 2 und 4 mm. Bei Korngrößen ab 6 mm spricht man von Posten. Die Hülsen von Schrotpatronen sind 65 oder 70 mm

Rriminalte chnik lang. Die Maße beziehen sich auf den ungebördelten Zustand. Fabrikgeladene Patronen sind um 5—7 mm kürzer. Eine Patrone 16/70 enthält 192 Schrote 3 mm. Die Reichweite der Schrotkörner ist nach einer Faustregel das Hundertfache der Schrotkorngröße in Metern, sie beträgt also für Schrot 3 % mm 350 m. Aus Flinten können auch Kugeln verschossen werden, sogenannte Flintenlaufgeschosse. Es sind zylindrische, mit Führungsrippen versehene Bleigeschosse; die Hülsen für diese Kugeln gleichen denen der Schrotpatronen. Als Sport- und Scheibengewehre werden heute in erster Linie Kleinkaliberbüchsen als Einzeloder Mehrlader mit Backenschaft oder Spezialschäftung verwendet. Zimmerstutzen sind Scheibengewehre Kai. 4 mm Randzünder für den Schuß auf kurze Entfernungen. Sie haben nur ein kurzes Läufchen, das von einem längeren, dünnwandigen Rohr umgeben ist. Läufchen Kai. 4 mm sind auch zum Einstecken in Pistolenläufe erhältlich. Flobertgewehre, auch Teschings genannt, spielen für das sportliche Schießen kaum eine Rolle. Diese Gewehre werden gern zum häuslichen Scheibenschießen und zum Schuß auf schädliche Kleintiere verwendet, zumal die Flobertpatronen, wenn auch zu Unrecht, von vielen Schützen als harmlos angesehen werden. Als Munition für Kleinkaliberbüchsen dienen überwiegend Randfeuerpatronen Kaliber .22 ( = 22 Hundertstel engl. Zoll = 5,6 mm) mit Bleigeschoß. Die gängigste Patrone ist die Kaliber .22 lang für Büchsen (long rifle) mit Tombakhülse oder vernickelter Hülse für Selbstlader als Hochgeschwindigkeitspatrone mit verkupfertem Bleigeschoß, daneben Patronen Kai. .22 kurz und Ζ .22 lang mit extraschwacher Ladung. Flobertmunition hat die Kaliber 6 und 9 mm, für Zimmerstutzen und Einsteckläufchen gibt es Kugelpatronen Kai. 4 mm als Randzünder und als Zentralfeuerhütchen. Die von vielen unterschätzte Reichweite der Kleinkaliberpatronen beträgt für die Patrone .22 lfB. etwa 1200 m, für .22 kurz 900 m, für Ζ .22 lg. 550 m, für Flobertpatronen je nach Kaliber bis 700 m. Tödliche Verletzungen bei Schüssen mit der Patrone .22 lfB. auf 400 m Entfernung sind beobachtet. d. W i l d e r e r w a f f e n sind solche Schußwaffen, die schnell zerlegt werden können (ζ. B. Verbindung von Schaft und Lauf durch Bajonettverschluß, Flügelschrauben zum Befestigen des Laufes, abklappbare Kolben), soweit die dazu geschaffenen Vorrichtungen den für Jagd- und Sportzwecke üblichen Umfang überschreiten, und solche, die in Stöcken, Schirmen, Röhren oder in ähnlicher Weise verborgen sind. Weiter sind Schußwaffen, die mit Schalldämpfer oder mit Gewehrscheinwerfer versehen sind, als Wilderer-

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waffen verboten, ebenso sind es diese Vorrichtungen selbst (§ 25 Waffengesetz). Schalldämpfer sind kurze Röhren aus Blech oder Kunststoff, die innen mit axial durchbohrten Schotts versehen sind, welche das Geschoß passieren kann. Sie können auch Löcher in der Wandung haben, welche für die Verwirbelung der ausgestoßenen Pulvergase sorgen und damit den Abschußknall vermindern sollen. Schalldämpfer sind nicht mit Rückstoßdämpfern zu verwechseln, die sich als eine Folge schräger Einschnitte im Lauf nahe der Mündung oder auch als aufschraubbares Rohr mit seitlich angebrachten Schlitzen darstellen. Rückstoßdämpfer (Compensatoren) findet man zwar vor allem bei Scheibenpistolen, es werden aber auch einläufige Flinten und Büchsen damit ausgestattet. Gewehrscheinwerfer können Taschenlampen mit geeigneter Haltevorrichtung oder auch solche Scheinwerfer sein, die aus einem Akkumulator (Autobatterie) mit Strom versorgt werden. Patronen Kaliber .22 mit Hohlspitzgeschoß (Lochoder Kerbgeschoß) sind als Wilderermunition verboten. Für die Ausfuhr können Herstellung, Handel und Besitz von Wildererwaffen, "Vorrichtungen und -munition gestattet werden (§ 25 Waffengesetz, weitere Ausnahmen s. § 35 DVO zum Waffengesetz). e) F a u s t f e u e r w a f f e n (kurze Handfeuerwaffen) sind für den einhändigen Gebrauch bestimmt. Nach ihrem Verwendungszweck unterscheidet man Militär-, Gebrauchs- und Sportwaffen. Ihrer Konstruktion nach werden sie in zwei große Gruppen eingeteilt: Pistolen und Revolver. Bei Pistolen bestehen Lauf und Patronenlager aus einem Stück, beim Revolver sind Lauf und Patronenlager voneinander getrennt. Pistolen wurden schon frühzeitig mit Einrichtungen versehen, die das Laden vereinfachen und die Abgabe mehrerer Schüsse ermöglichen sollten, da sie die Feuerwaffe des Reiters waren. Mehrläufige Pistolen, Pistolen mit zwei drehbaren Läufen („Wender"), Bündelwaffen, bei denen mehrere Läufe, die drehbar um eine Achse angeordnet sind, von einem Schloß abgefeuert werden können, waren die Vorgänger der Revolver und Selbstladepistolen. Die für den Revolver charakteristische Trennung der Patronenlager, die in einer drehbaren Trommel angeordnet sind, von dem feststehenden Lauf war bereits mehrfach versucht, als Colt in den USA 1830 die erste brauchbare Faustfeuerwaffe dieser Art konstruierte. Wesentliche Konstruktionsmerkmale sind die Drehung der Walze beim Spannen des Hahnes und die Verriegelung der Walze bei entspanntem und gespanntem Hahn. Revolver werden in solche mit festem Lauf und fester Trommel, mit Kipplauf oder mit seitlich ausschwenkbarer Trommel unterschieden. Muß der Hahn vor Betätigen des Abzuges gespannt werden, spricht man vom single-action-Revolver.

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Kriminaltechnik

Moderne Konstruktionen haben den Spannabzug (double action) beim Durchziehen des Abzuges wird der Hahn erst gespannt und dann ausgelöst. Amerikanische und englische Firmen, die sich um die Entwicklung hervorragender Konstruktionen verdient gemacht haben, sind bis heute führend in der Herstellung von Revolvern (Colt, Smith & Wesson, Harrington & Richardson, Iver Johnsen in den USA, Webley & Scott in England u. a.). Sie fanden zahlreiche Nachahmer, besonders in Spanien. Das Revolverkaliber wird meist in Hundertstel oder Tausendstel engl. Zoll angegeben. Scheibenrevolver haben häufig das Kaliber .22. Nach dem letzten Weltkrieg sind aber auch Taschenrevolver Kaliber .22 auf den Markt gekommen, darunter deutsche Fabrikate. Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden einige Repetierpistolen konstruiert. Sie fanden aber auf dem Markt keinen Anklang, da sie zum Repetieren beidhändig bedient werden mußten. Erst ab 1890 wurden brauchbare Selbstlader entwickelt, bei denen der Rückstoß zum Öffnen des Verschlusses, Auswerfen der Hülse, Spannen des Schlosses und auch zum Spannen der Vorholfeder ausgenutzt wird. Diese Feder bringt den Verschluß wieder nach vorn, der dabei auch eine neue Patrone in das Patronenlager führt. Schmeißer, Mauser, Borchardt, Luger und Browning haben insbesondere zur Entwicklung der „automatischen" Pistolen beigetragen. Als automatische Waffen werden im internationalen Sprachgebrauch alle Selbstlader bezeichnet, obwohl sie genau genommen nur halbautomatisch sind, da der Abzug jeweils zum Schuß betätigt werden muß. Selbstladepistolen sind ihrer Konstruktion nach in solche mit Federverschluß mit festem Lauf und solche mit verriegeltem Verschluß und beweglichem Lauf einzuteilen. Fast alle Gebrauchspistolen, insbesondere die kleineren Formats (Taschenpistolen), gehören der ersten Gruppe an, Militärpistolen vor allem der zweiten. Die erste brauchbare Selbstladepistole, welche die Bezeichnung „Taschenpistole" verdiente, war die von dem Amerikaner J . M. Browning konstruierte und von der Fabrique Nationale d'Armes de Guerre in Herstal (FN) hergestellte Pistole Kaliber 7,65 mm, Modell 1900. Seine „Westentaschenpistole" Kaliber 6,35 mm, Modell 1906, war der Beginn einer Reihe etwa gleich kleiner und kleinerer Pistolen. Browning hat die drei gebräuchlichsten Pistolenpatronen geschaffen: Kaliber 6,35 mm, 7,65 mm und 9 mm kurz. Die meisten nach 1900 auf den Markt gekommenen Selbstladepistolen haben diese Kaliber. Auch die Bauart der Pistolen hat Browning maßgebend beeinflußt, zumindest soweit es ihre äußere Form betrifft. Die 1929 von Walther herausgebrachte Polizeipistole war die erste mit außen liegendem Hahn, der — wie beim double-action-Revolver — durch Ziehen des Abzugs betätigt wird.

Scheiben- und Sportpistolen werden als Einzelund als Selbstlader gebaut, und zwar durchweg für die Patrone .22 lfB. Die einschüssigen Scheibenpistolen sind zum Teil mit Spezialschäftung, Mikrovisier und Stecher versehen (Matchpistolen). Einschüssige Sportpistolen gleichen in bezug auf Schäftung und Abzugseinrichtung mehr den Gebrauchspistolen. Viele Gebrauchspistolen sind durch Auswechseln einiger Teile in Übungspistolen Kaliber .22 zu verwandeln. Selbstladepistolen unterscheiden sich von ihnen besonders durch den längeren Lauf und ein handlicheres Griffstück. Schnellfeuer-(Olympia-)Pistolen haben oft eine Mündungsbremse und Ausgleichsgewichte vor dem Abzug. Vorderladerpistolen mit Perkussionszündung kommen noch als Treiber- oder Weinbergpistolen auf den Markt. Flobert-Pistölchen Kaliber 6 mm sind trotz ihres harmlosen Aussehens gefährlich (waffenscheinpflichtig I). Sie werden auch wie die Weinbergpistolen als Terzerole bezeichnet. Munition für Revolver und Pistolen sind, soweit es sich um Militär- und Gebrauchswaffen handelt, meist Zentralfeuerpatronen. Revolverpatronen haben einen Rand, Pistolenpatronen eine Ausfräsung über dem Hülsenboden für die Auszieherkralle. Aus einigen Revolvern läßt sich auch Pistolenmunition ohne besondere Vorkehrungen verfeuern. Revolverpatronen haben durchweg Bleigeschosse, Patronen für Selbstladepistolen Mantelgeschosse. Der Stempel auf dem Hülsenboden enthält Angaben über den Hersteller in Form von Kurzbezeichnungen oder Zeichen und über das Kaliber. Dieses wird in Millimetern, Hundertstel oder Tausendstel engl. Zoll angegeben. Die Kaliberangaben werden, soweit es sich um Patronen für besondere Waffentypen handelt, durch entsprechende Zusätze ergänzt (ζ. B. .32 S & W = Kaliber .32 Smith & Wesson). f) S c h r e c k s c h u ß - u n d G a s w a f f e n . Zu den Schreckschußwaffen gehören solche, meist in Form von Pistolen und Revolvern gebaute Waffen, aus denen Knallpatronen verfeuert werden können ( § 2 0 Ziff. 2 DVO zum Waffengesetz). Reine Schreckschußwaffen sind heute verhältnismäßig selten. Um so größer ist das Angebot von Gas-, Betäubungs- und Scheintodwaffen, die auch als Start- und Gaspistolen bezeichnet werden. Sie sollen nach § 20 Ziff. 3 DVO zum Waffengesetz ein Kaliber von 12 mm und darunter haben. Durch besondere Vorrichtungen muß gewährleistet sein, daß Kugel- oder Schrotmunition aus ihnen nicht verfeuert werden kann. Auch Waffen, die diesen Anforderungen genügen, sind nicht überall waffenerwerbs- und waffenscheinfrei. Das gängigste Kaliber ist 6 mm Randfeuer, daneben 6,35 mm, 7 mm, 8 mm, 9 mm, 9,1 mm und 12 mm Zentralfeuer. Außer Platzpatronen gibt es Gas-, Blitzlicht-, Leucht-, Rauch-, Raketen-, Farbstoff- und Parfümpatro-

Kriminaltechnik nen. Zum Teil handelt es sich dabei um Zusatzund Verstärkerhülsen, die mit Hilfe einer Gasoder Platzpatrone entzündet werden. Die wirksame Substanz in Gaspatronen ist Chloracetophenon, daneben auch Bromaceton (beides als Tränengas bekannt). Viele der in der Nachkriegszeit auf den Markt gekommenen Gas- und Startpistolen oder -revolver lassen sich durch Beseitigung der eingebauten Hindernisse verhältnismäßig leicht in Pistolen und Revolver für den Schuß mit Kugelpatronen umwandeln. Das trifft auch für die sogenannten Schießbleistifte oder -kugelschreiber zu, aus denen nach Beseitigung des Hindernisses FlobertpatronenKaliber 6 mm verfeuert werden können. Einige Schreckschuß- und Gaspistolenmodelle erlauben auch ohne Veränderung der Waffe das Verschießen einer zweckmäßig veränderten Kugelpatrone. g) L u f t g e w e h r e u n d - p i s t o l e n sind solche Schußwaffen, bei denen das Geschoß durch zusammengepreßte Luft aus dem Lauf getrieben wird. Das Komprimieren besorgt ein Kolben, der durch eine vor dem Schuß gespannte Feder in einem Zylinder nach vorn gestoßen wird. Die Feder kann durch Abkippen des Laufes, mittels eines außen liegenden Hebels, durch Zurückdrücken des Laufes oder Zurückziehen der Kolbenstange (bei einfachen Luftpistolen) gespannt werden. Das bei den alten Windbüchsen (um 1550 erfunden) angewandte Verfahren, Luft durch eine Folge von Pumpenstößen in einer Kammer zu komprimieren, wird heute wieder bei den Luftgewehren und -pistolen von Crosmann (USA) genutzt. Zum Übungsschießen werden neuerdings Schußwaffen verwendet, bei denen Kohlendioxyd aus Haushaltskapseln als Treibmittel genutzt wird. Das Kaliber der meisten Luftgewehre und -pistolen beträgt 4,5 mm, als Munition dienen Spitzkugeln, sanduhrförmige Diabolokugeln, Rundkugeln und Federbolzen. Aus einem in den USA gefertigten C02-GeweliT, das als „Schonzeitwaffe" zur Betäubung und Impfung wilder Tiere gedacht ist, werden Injektionsbolzen auf Entfernungen bis 60 m verschossen. Die Leistungen von Luft- und C0 2 -Schußwaffen sind recht unterschiedlich. Auf kurze Entfernungen sind sie immer gefährlich (tödlicher Kopfschuß mit einem Luftgewehr mittlerer Qualität aus 10 m Entfernung). h) V i e h b e t ä u b u n g s a p p a r a t e , Bolzenset ζ Werkzeuge, S e l b s t s c h u ß a p p a r a t e . Viehschußmasken, aus denen Patronen mit Bleigeschossen des Kalibers 7,5 bis 10 mm verschossen werden, sind seit etwa 1933 durch Bolzenschußapparate ersetzt. Diese Geräte enthalten einen federnd gelagerten Stahlbolzen, der durch eine Kartusche Kaliber9mm (Viehbetäubungspatronen mit 3 verschiedenen Ladungsstärken) in den Tierschädel getrieben und durch die Feder wieder zurückgeholt wird. Mit beiden Apparaten sind Morde und Selbstmorde begangen worden.

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Im Bauhandwerk benutzt man seit dem letzten Weltkrieg in großem Umfange Bolzensetzwerkzeuge, mit denen Stahlbolzen in Mauerwerk und Betonwände geschossen werden. Kartuschen Kaliber .22 unterschiedlicher Stärke dienen als Treibladung. Bei Verwendung unangemessen starker Ladungen können Wände durchschossen und so Unfälle verursacht werden. Sicherungen sollen verhindern, daß ein Schuß bricht, bevor das Gerät auf ein festes Widerlager gedrückt wird. Fallen Sicherungen aus, ist es möglich, daß der Schuß sich durch Erschütterung des Gerätes löst. Selbstschußapparate im technischen Sinne sind nur solche, bei denen ein ungeschäfteter Lauf auf einer Grundplatte befestigt ist. Die Abzugsvorrichtung ist verdeckt angebracht. Nicht dazu gehören die sogenannten Legeflinten und andere Selbstschußapparate, die unter Verwendung von Handfeuerwaffen gelegentlich gebastelt werden. Sie zählen aber zu den „Selbstgeschossen" im Sinne des § 367 Abs. I Nr. 8 StGB. i) K e n n z e i c h n u n g von S c h u ß w a f f e n . Für den Handel bestimmte Schußwaffen sind vom Hersteller mit Firma und laufender Nummer zu versehen (§ 10 Waffengesetz). Ausgenommen von dieser Kennzeichnungspflicht sind insbesondere Schreckschuß-, Gas- und Scheintodwaffen, Selbstschuß- und Viehbetäubungsapparate (§ 19 DVO Waffengesetz) und Druckluftwaffen (§ 4 DVO Waffengesetz). Feuerwaffen müssen amtlich geprüft werden, bevor sie in den Handel kommen (Gesetz über die Prüfung von Handfeuerwaffen und Patronen vom 7. 6.1939 (Beschußgesetz). Lauf und Verschluß der Trommel erhalten nach bestandener Prüfung das sogenannte Beschußzeichen. Es läßt erkennen, für welchen Beschüß die Waffe geprüft wurde und welche Stelle die Prüfung vornahm. Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und Spanien erkennen die Beschußzeichen gegenseitig an. Zwischen Großbritannien und der Bundesrepublik besteht ein Sonderabkommen. Monographien R a m s e y e r : Schieß- und Waffenkenntnis für Polizeibeamte. 1946. Ii,. M a h r h o l d t : Waffenlexikon für Jäger und Schützen. 3. Aufl. 1952. X . E i l e r s : Waffen- und schießtechnischer Wegweiser für Jäger und Sportschützen. 2. Aufl. 1954. B. H a g l u n d u. E . C a e s s o n : Die Jagdwaffe und der Schuß. 1957. H. M ü l l e r : Historische Waffen. 1957. W. L a m p e l : Jagdballistik. 1958. M. S t u m p f : Waffenalmanach. 1960. G. B o c k u. W. W e i g e l : Handbuch der Faustfeuerwaffen. 1962. Zeitschriftenaufsätze B. T a s c h e n u. E . K ü h n : Selbstmorde und Mord durch Bolzenschußapparate. Krim. 5 (1951) S. 95. H.-H. H u e l k e : Luftgewehre und Luftpistolen als Gegenstände kriminaltechnischer Untersuchungen. Krim. 6 (1952) S. 151 u. 181. E . K r u l l : Tödlicher Unfall durch Bolzensetzwerkzeug. Krim. 10 (1956) S. 101.

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Krimin altechnik

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6.

Schußspuren

Die Schußspurenuntersuchung zielt im allgemeinen auf die Identifizierung der zur Tat benutzten Waffe oder zumindest auf die Bestimmung der benutzten Waffenart ab. Gelegentlich wird nach der Schußentfernung, nach der Schußrichtung u n d nach dem Zeitpunkt des letzten Beschusses einer Waffe gefragt. Sich aus dem Einzelfall ergebende andere Fragestellungen lassen sich gewöhnlich auf diese Grundfragen zurückführen. Während der Verfeuerungsnachweis bei hinreichend ausgebildeten Spuren an Hülsen und Geschossen in den meisten Fällen zu führen ist, können die anderen Fragen nicht immer mit der gewünschten Sicherheit beantwortet werden. a) Unter den S p u r e n , die beim Schuß a n d e r W a f f e entstehen, interessieren vor allem Materialablagerungen, Formänderungen, welche die

Waffe beim Schuß erlitten h a t , und Partikel, die vom beschossenen Gegenstand oder vom menschlichen Körper an oder auch in die Waffe gelangt sind. Beim Schuß aus einer Feuerwaffe bleiben in Patronenlager u n d Lauf Spuren der Zünd- u n d der Treibladung, der Projektile oder des Materials, das an deren Stelle durch den Lauf getrieben wurde, wie ζ. B. Reizstoffe, zurück. Diese Rückstände können sich auch in den Waffenteilen finden, die mit Lauf u n d Patronenlager in unmittelbarer räumlicher Verbindung stehen. Nur selten werden diese Rückstände untersucht, um festzustellen, was für eine Art Munition aus der Waffe verschossen wurde. Häufiger ist die Frage zu beantworten, ob aus einer Waffe erst vor kurzer Zeit geschossen wurde und wieviel Zeit zwischen dem letzten Beschüß und der Untersuchung verstrich. Die bisher veröffentlichten Methoden zur Schußaltersbestimmung beruhen auf den Veränderungen, die mit den Schmauchrückständen und der Laufinnenwand an der L u f t vor sich gehen. Beobachtet werden diese Erscheinungen mit Hilfe eines Laufprüfgerätes (Introskop). Die Veränderungen des Laufinneren hängen vor allem von den Atmosphärilien ab, deren Einwirkung die Waffe während der Liegezeit ausgesetzt war. Auch der Zustand des Laufes vor dem letzten Schuß spielt eine Rolle. Welche wirksamen Stoffe in der Waffe und am Liegeort der Waffe vorhanden waren, ist nun aber in aller Regel nicht bekannt. Kennzeichen dafür, daß eine Waffe längere Zeit nicht benutzt wurde, können im Lauf oder an anderer signifikanter Stelle befindliche Leitelemente pflanzlicher oder tierischer Herkunft, wie ζ. B. Spinnenweben, Pollen u. a. sein. Eine objektive Bestimmung des Schußalters mit einer Genauigkeit, die in jedem Fall zu einer die Ermittlungen fördernden Aussage ausreicht, ist mit den bisher bekannten Methoden nicht zu erzielen. Die Untersuchung der im Lauf verbliebenen Rückstände ist darüber hinaus dann notwendig, wenn der Gebrauch von Geschossen aus ungewöhnlichem Material behauptet wird. Laufinneres und das Äußere der Waffe können Spuren aufweisen, die Feststellungen darüber gestatten, ob mit ihr ein Schuß aus nächster Nähe auf einen Menschen oder einen Gegenstand abgegeben wurde. H a t das Projektil den Lauf verlassen, strömt kalte L u f t von der Mündung her in das Laufinnere. Sie reißt bei aufgesetzter oder fast aufgesetzter Waffe durch den Schuß freigesetzte Partikel des beschossenen Körpers oder Gegenstandes in den Lauf. Blutspritzer u n d Gewebeteilchen sind nicht selten nach Nahschüssen, die auf unbekleidete Körperteile abgegeben wurden, zu beobachten. Die Überprüfung von Läufen, welche beim Schuß Beschädigungen erlitten, ist auch kriminal-

Kriminaltechnik technisch von Belang, zumal derartige Veränderungen bei der Identifizierung von Hülsen und Geschossen eine Rolle spielen. Finger- und Handflächenspuren an der Waffe können im Einzelfall erwünschte Auskunft darüber geben, wer zuletzt oder letzthin die Schußwaffe in der Hand gehabt hat. Faustfeuerwaffen, die in der Tasche getragen wurden, weisen mitunter vor allem im Lauf und — soweit es sich um Revolver handelt — auch in den Trommelbohrungen Leitelemente auf, die kriminalistisch verwertbare Aussagen gestatten. Äußere Beschädigungen der Waffe, seien sie zufällig entstanden oder gewollt, sind zu beachten. b) Die Frage, ob eine Person geschossen hat, ist in manchen Fällen durch die Auswertung von S p u r e n zu klären, die am Körper und an der Kleidung des S c h ü t z e n von der Waffe, der Munition oder vom beschossenen Objekt zurückbleiben. Da beim Schuß Pulverschmauch und unverbrannte Pulver- und Zündmittelteilchen aus der Waffe entweichen, können diese auch an der Hand des Schützen gefunden werden (-> Chemische Untersuchungsmethoden). Nach dem Gebrauch einer Schußwaffe sind gelegentlich auch Verletzungen an der Hand des Schützen zu beobachten. Der zurücklaufende Schlitten von Selbstladepistolen verursacht bei ungeschickter Handhabung der Waffe typische Schnittverletzungen, Abschürfungen oder Quetschungen besonders an der Schwimmhaut zwischen Daumen und Zeigefinger. Beim Schuß aus geringer Distanz können vom beschossenen Objekt abgesprengte Teilchen auf den Schützen gelangen. So werden bei Schuß durch Fensterglas Glassplitter und Glasstaub bis auf 150 cm Entfernung in Richtung auf den Schützen geschleudert. c) S p u r e n am beschossenen oder vermutlich beschossenen O b j e k t sollen regelmäßig zur Beantwortung folgender Fragen ausgewertet werden: Handelte es sich um einen Schuß oder wurden die sichtbaren Veränderungen des Objektes auf andere Weise bewirkt? Wo liegen Einund Ausschuß ? Aus welcher Richtung wurde geschossen? Aus welcher Entfernung wurde geschossen? Die Spuren, welche ein Schuß an einem Gegenstand oder am menschlichen Körper hinterläßt, sind in den meisten Fällen derart signifikant, daß sie für die Erörterung anderer Entstehungsursachen keinen Anlaß bieten. Schuß Verletzungen können aber zuweilen an verdeckten Stellen des menschlichen Körpers liegen und übersehen werden. Durchtrennungen von Textilien, die von einem Geschoß herrühren, sind als solche häufig unspezifisch und nur in Verbindung mit anderen Spuren als von einem Schuß verursacht zu erkennen. Ist das Projektil in oder durch trockenes Holz oder anderes, wenig elastisches Material gedrungen, hinterläßt es einen Schußkanal, dessen

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lichte Weite seinem Kaliber entspricht, sofern es sich nicht um einen Querschläger oder um ein bereits deformiertes Geschoß handelte. Steinwurf und Schuß auf eine Glasscheibe können weitgehend übereinstimmende Zerstörungen zur Folge haben, Schußlöcher im Glas sagen wenig über das Kaliber des Geschosses. Sie entstehen auch durch nur auf- und wieder zurückprallende Projektile, die eine kegel- oder kalottenförmige Aussprengung und selbst Sprünge in Glasscheiben verursachen. Solcherart entstandene Löcher haben meist einen geringeren Durchmesser als das Projektil. Ist ein Geschoß nicht zu finden, wie es bei Durch-, Streif- oder Prellschüssen der Fall sein kann, gibt der spektrographische oder chemische Nachweis von Blei-, Kupfer- oder Nickelspuren an den Berührungsstellen Anhaltspunkte dafür, ob es sich überhaupt um ein solches gehandelt hat. Ebenso beweisen alle Spuren, die zur Bestimmung des Einschusses und der Schußentfernung dienen (s. u.), daß es sich um einen Schuß handelt, oder sind zumindest ein weiteres Indiz dafür. Der Ausschuß ist in der Regel größer als der Einschuß. Ist Holz, Stoff oder anderes faseriges Material durchschossen, zeigen die Enden der durchtrennten Fasern oder Fäden in die Schußrichtung. Eine Ausnahme ist beim aufgesetzten oder fast aufgesetzten Schuß auf Textilien zu beobachten. Durch den Sog, der zum Laufinneren hin entsteht, sobald das Geschoß den Lauf verlassen hat, werden die Fäden- und Faserenden in Richtung Lauf gezogen. Das aus einem eingefetteten oder verschmutzten Lauf verfeuerte Geschoß nimmt Schmutz- und Fettpartikel mit sich, die es beim Eindringen in ein beschossenes Objekt abstreift. Dieser Schmutzsaum ist auf hellen Stoffen regelmäßig ohne weiteres zu erkennen. Auf dunklen Stoffen ist er schwieriger nachzuweisen. Gelegentlich wird ein Schmutzsaura durch die Eigenart der durchschossenen Textilien vorgetäuscht. Die Lage von Ein- und Ausschuß gibt bei geradem Verlauf des Schußkanals Hinweise auf die S c h u ß r i c h t u n g und damit auch auf den Standpunkt des Schützen, erlaubt aber nur dann hinreichend sichere Schlüsse, wenn die Lage des beschossenen Objekts nach dem Treffer unverändert blieb oder vom weiterfliegenden Geschoß andere verwertbare Spuren hinterlassen wurden. Ob ein Projektil das Ziel im freien Flug erreichte oder aber durch ein Hindernis in der Flugbahn aus seiner ursprünglichen Richtung abgelenkt wurde (Abpraller, Gellerschüsse), ist am besten durch die Untersuchung des Geschosses auf Verformungen und Anhaftungen zu klären. Ist der Standpunkt des Schützen bekannt und die Schußrichtung auf Grund von Aussagen annähernd zu rekonstruieren, sind als Hindernisse in der Geschoßflugbahn in Frage kommende Gegenstände, der Bodenbewuchs, gegebenenfalls

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der Boden selbst auf Spuren der Kugel oder auch der Schrote zu überprüfen. Akustische Phänomene, die bei jedem Schuß mehr oder weniger deutlich wahrzunehmen sind, können zur Rekonstruktion des Hergangs dienlich sein. Generell ist zu sagen, daß der Einfluß von Hindernissen auf die Geschoßflugbahn, mit denen beim jagdlichen Schießen gerechnet werden muß (Halme, Zweige, Blätter), nicht so groß ist, wie allgemein geglaubt wird. Erhebliche Abweichungen können die Hochgeschwindigkeitsgeschosse nur durch Berühren starker Äste, Steine und anderer fester Gegenstände erfahren. Auf Wasseroberflächen aufsetzende Geschosse werden allerdings manchmal erheblich seitlich abgelenkt. Schrote, die im Vergleich zur Kugel eine geringe Fluggeschwindigkeit und ein geringes Gewicht haben, werden leicht aus ihrer Richtung gebracht. Ist der Standpunkt des Schützen durch Aussagen oder Rekonstruktion der Schußrichtung in etwa ermittelt, können ausgeworfene Hülsen weitere Hinweise geben. Auswurfrichtung und -weite ist von der gebrauchten Waffenart abhängig und muß im Einzelfall durch Versuche ermittelt werden. Auf hartem oder gepflastertem Boden prallen die Hülsen ab, verändern ihre Richtung und sind in einem weitaus größeren Umkreis vom Standort des Schützen zu finden, als wenn sie auf bewachsenen oder weichen Boden fallen. Ist die Frage nach der S c h u ß e n t f e r n u n g bei Schüssen auf größere Distanz nur dadurch zu beantworten, daß der Standort des Schützen ermittelt wird, erlauben beim Nahschuß Spuren am beschossenen Objekt eine Rekonstruktion der Situation beim Schuß. Mit dem Geschoß, dem Geschoß vorauseilend und folgend, entweichen dem Lauf beim Schuß Pulvergase, die an der Mündung explodierend einen sichtbaren Feuerstrahl erzeugen, Schmauch und unverbrannte Pulverteilchen als Rückstand der Treibladung, Blei-, Antimon- oder Bariumdampf, der aus dem Zündsatz der Patrone stammt, Metallteilchen aus dem Laufinneren und der Hülse, die durch den Schuß freigesetzt wurden. Je größer das Eigengewicht der aus dem Lauf geschleuderten Partikel ist, desto weiter fliegen sie, alle sinken aber in verhältnismäßig kurzer Entfernung von der Laufmündung zu Boden. Die Größe dieser Entfernung ist von Waffe und Munition abhängig. Befindet sich der beschossene Gegenstand so nahe der Laufmündung, daß sich auf ihn die Treib- und Zündmittelrückstände niederschlagen, spricht man von einem Nahschuß. Sie bilden bei Schüssen aus Pistolen Kaliber 7,65 und 6,35, die aus Entfernungen bis etwa 40 cm abgegeben werden, einen auf hellem Untergrund gut sichtbaren Schmauchhof. Schmauchhöfe auf dunklen Stoffen sind — wenn auch nicht immer — mit Hilfe der Infrarotphotographie darzustellen. Stand die

auffangende Fläche senkrecht zur Seelenachse des Laufes, liegt der Schmauchhof konzentrisch zum Einschuß, zeigte der Lauf schräg auf die Fläche, bildet der Schmauchhof eine in Schußrichtung ausgezogene Ellipse. Sein Durchmesser ist abhängig von der Schußentfernung. Durch Vergleichsschüsse, zu denen nach Möglichkeit die Tatwaffe und immer die Munitionssorte verwendet werden soll, die bei der Tat verschossen ist, wird ermittelt, bei welcher Entfernung ein Schmauchhof entsprechender Ausdehnung entsteht. Lassen sich Beschmauchungen wegen geringer oder nicht vorhandener Kontraste zum beschossenen Stoff optisch nicht erkennen oder ist die Entfernung so groß gewesen, daß ein Schmauchhof nicht mehr entstehen konnte, kann die Anwesenheit der aus dem Lauf geschleuderten Partikel mit chemischen oder physikalischen Methoden nachgewiesen werden (-» Chemische Untersuchungsmethoden). Kommt die Mündung der Waffe dem beschossenen Objekt sehr nahe, werden die aufprallenden Gase von der getroffenen Fläche abgelenkt, und es treten Unregelmäßigkeiten in der Ablagerung des Schmauchs auf. Strahlenförmige hellere und dunklere Streifen entsprechen den Feldern und Zügen des Laufes, da der Schmauch massiert zwischen Geschoß und Zügen austritt. Fasern von Textilien werden bei Schüssen aus naher Entfernung abgesengt, freistehende Oberflächenfasern bei Schüssen aus Entfernungen bis zu 5 cm durch die aufprallenden Pulvergase strahlenförmig auseinandergetrieben. Stern- und kreuzförmige Einrisse in Textilien und Leder sind bei Schußentfernungen von 3 bzw. 2 cm beobachtet. Bei aufgesetzten oder fast aufgesetzten Schüssen ist der Schmauchhof auf der Oberfläche des beschossenen Objektes häufig nur gering ausgebildet. Zuweilen ist bei absoluten Nahschüssen die Stirnflächenform der benutzten Waffe als umschriebene Aufhellung zu erkennen. d) Patronen, die aus einer Waffe verfeuert oder auch in ihr nur geladen und repetiert werden, erfahren durch diese Vorgänge sichtbare Veränderungen. Hinzu treten solche S p u r e n , welche a n H ü l s e u n d G e s c h o ß nach Verlassen der Waffe entstehen. Unter den Fragen, welche durch Auswertung aller dieser Spuren zu beantworten sind, wird die, ob die Munition aus einer bestimmten Waffe verfeuert wurde, oder die nach dem System oder Modell der gebrauchten Waffe am häufigsten gestellt. Bis zum ersten Weltkrieg lief die Untersuchung einer verfeuerten Kugel in der Regel darauf hinaus, ob sie hinsichtlich ihres Gewichtes und ihrer Zusammensetzung Kugeln aus dem Besitz des Tatverdächtigen identisch war. Als erster hat wohl Kockel mikroskopische Spuren auf einer Kugel zur Identifizierung genutzt. Dabei handelte es sich um solche, die beim Laden eines Vorderladergewehres von der Pulverkammer erzeugt

Kriminaltechnik wurden. Der Krieg verzögerte zunächst eine weitere Entwicklung der Untersuchungsmethoden in der von Kockel aufgezeigten Richtung. Dadurch aber, daß in der Nachkriegszeit die Zahl der Schußwaffenverbrechen außerordentlich stark anstieg, gewann die Hülsen- und Geschoßuntersuchung erheblich an Bedeutung. Im Laufe weniger Jahre erschienen im In- und Auslande eine Reihe von Veröffentlichungen, in denen die Grundlagen derartiger Untersuchungen festgelegt und zweckmäßige Untersuchungsgeräte und -methoden dargestellt werden. Hülsen von Patronen, welche aus Selbstladepistolen verfeuert wurden, bleiben fast immer am Tatort zurück. Nur in wenigen Fällen ist es bekannt geworden, daß der Schütze die Pistole mit einem Hülsenfänger versehen hatte oder die Hülsen vorsorglich aufsammelte. Hülsen aus Revolvern sind nur selten am Tatort zu finden, da sie bis zum Nachladen in der Trommel verbleiben. Der Umfang des Spurenkomplexes an Patronenhülsen ist abhängig vom Bau der Waffe. Von Bedeutung ist auch das Material, aus dem Hülse und Zündhütchen gefertigt sind. Die in der Regel dazu verwendeten Kupferlegierungen werden von den erheblich härteren Teilen der Waffe leicht verformt oder abgetragen. An Hülsen, welche aus einer Selbstladepistole der üblichen Bauart verschossen wurden, können die nachstehend aufgeführten Spuren zu finden sein. Spuren vom Magazin, insbesondere von den Magazinlippen, entstehen beim Magazinieren und Zubringen der Patrone. Sie sind durchaus nicht immer zur Identifizierung des spurenverursachenden Magazins geeignet, das zudem auch ein leicht austauschbares Bestandteil einer Waffe ist. Gleichwohl sind sie bei der Untersuchung von Versagerpatronen oder solchen, die nur repetiert wurden, von Bedeutung. Der innere Rand der hinteren Laufstirnfläche erzeugt Spuren auf dem oberen Rand des Hülsenbodens, wenn die Patrone vom vorschnellenden Verschluß in das Patronenlager geführt wird. Vom Schlagbolzen, der die Patrone zur Entzündung bringt, wird die Spitze im weichen Metall des Zündhütchens mit charakteristischen Bearbeitungsspuren oder Beschädigungen abgeformt. Sie erzeugt aber auch bei einigen Waffensystemen etwa zungenförmige Schartenspurenkomplexe, die beim Abkippen der Hülse im Zuge des Repetiervorganges entstehen. Durch den Gasdruck wird der Hülsenboden mit großer Gewalt gegen die Stirnfläche des Verschlusses, den sogenannten Stoßboden, gedrückt. Bearbeitungsspuren, im System der Waffe begründete Aussparungen und zufällige Veränderungen bilden sich dann auf dem Hülsenboden, besonders deutlich aber im weichen Metall des Zündhütchens ab. Ausstülpungen des Zündhüt-

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chens, die auf anomal hohem Gasdruck beruhen, sind kein individuelles Merkmal. Unebenheiten des Patronenlagers werden nur selten auf dem Hülsenmantel abgebildet. Häufiger kann man markante Schmauchspuren auf ihm beobachten. Sie sind darauf zurückzuführen, daß die Hülse beim Schuß nicht überall der Patronenlagerwandung dicht anlag. Der Auszieher erzeugt Spuren, wenn die Patrone zugeführt wird und er dabei über den Rand des Patronenbodens gleitet, um in die Auszieherrille zu fassen, und beim Rücklauf des Verschlusses, wenn die Hülse abgekippt wird. Die Auswerferspur entsteht durch eine Art Prägevorgang. Die aus dem Patronenlager gezogene Hülse stößt mit dem Boden auf den Auswerfer, der einen Eindruck und an dessen Rand gelegentlich auch Schartenspuren hinterläßt. Ein Unterschied im Identifizierungswert der angeführten Spuren besteht nicht. Sie sind aber von unterschiedlicher Bedeutung für die Schußwaffenidentifizierung, weil einige von ihnen nicht von allen Handfeuerwaffen erzeugt werden. Beruhen sie auf einem Konstruktionselement, das einem bestimmten System eigentümlich ist, sind sie für die Systembestimmung wichtig. Die Bestimmungen der Liegezeiten von Hülsen sind in begrenztem Umfang möglich. Frisch verfeuerte Metallhülsen zeigen die beim Schuß entstandenen Scharten- und Schürfspuren hell glänzend. Bei längerer Liegezeit werden sie matt, Messinghülsen setzen Grünspan an. Aus diesen Zeichen und den Veränderungen der Zünd- und Treibladungsrückstände die Liegezeit von Metallhülsen mit hinreichender Genauigkeit zu ermitteln, ist nicht möglich. Dem stehen dieselben Gründe entgegen, die eine präzise Schußaltersbestimmung bei Waffen nicht erlauben. Zur Bestimmung der Liegezeit der Papphülsen von Schrotpatronen haben Schöntag und Roth zwei Methoden vorgeschlagen. Geschosse gelangen in weitaus geringerer Zahl zur Untersuchung als Hülsen. Wenn sie nicht im Körper des Opfers oder in Gegenständen am Tatort oder in seiner unmittelbaren Nähe gefunden werden, läßt nur ein Zufall sie in die Hände der Untersuchungsorgane gelangen. Die Geschosse weisen eine Summe von Spuren auf, welche bei verschiedenen Gelegenheiten entstehen. Für die Identifizierung der Waffe ist das vom Laufinneren auf dem Geschoß erzeugte Spurenbild von Bedeutung. Vorher oder später entstandene Spuren können es stören, aber auch belangreiche Aufschlüsse geben. Wird ein Geschoß verfeuert, entstehen auf ihm beim Übergang vom Patronenlager in den gezogenen Lauf feine Riefen, die parallel zur Geschoßachse verlaufen, da seine Drehung erst beim vollendeten Eintritt in den gezogenen Teil des Laufes beginnt (Primärspuren). Alsdann werden schräg zur Geschoßachse

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verlaufende Einschnitte von den Feldern, weiter Riefen und Schürfspuren von allen Stellen der Laufinnenfläche erzeugt, welche Bearbeitungsoder Abnutzungsspuren und auch zufällige oder gewollte Veränderungen aufweisen. Richtung und Winkel dieser Sekundärspuren geben Richtung und Winkel des Dralls der Waffe wieder. In welchem Maße das Laufinnere Spuren auf dem Geschoß erzeugt, ist von verschiedenen Faktoren abhängig, die von Schuß zu Schuß variabel sind. Sie können derart unterschiedliche Spurenbilder bewirken, daß solche Geschosse auf den ersten Blick als aus verschiedenen Waffen verfeuert angesehen werden. Verfeuerte Geschosse weisen nie ausschließlich die durch die Waffe erzeugten Spuren auf. Bei der Fertigung auf dem Geschoßmantel entstandene Spuren stören das Bild, sind aber als Fertigungsspuren zu erkennen. Weiter treten Spuren hinzu, die auf das Geschoß gelangten, nachdem es den Lauf verließ. Bei einer vergleichenden Untersuchung muß weiter berücksichtigt werden, daß auch die Waffe nach dem Verfeuern des zu untersuchenden Geschosses verändert sein kann, insbesondere dann, wenn sie vergraben oder in Wasser versenkt war. Es kommt auch vor, daß die Waffe nach der Tat von kundiger Hand im Hinblick auf die zu erwartende Untersuchung bearbeitet und verändert wird. Nur wenn diese Veränderungen tiefgreifend sind und alle für die Identifizierung wesentlichen Teile der Waffe erfassen, hat ein solches Beginnen den gewünschten Erfolg. Bei der vergleichenden Untersuchung von Geschossen und Hülsen bedient man sich zweckmäßig einer Binokularlupe und eines Vergleichsmikroskopes. Das Vergleichsmikroskop erlaubt die gleichzeitige Beobachtung zweier Gegenstände, die sich auf voneinander unabhängig zu bedienenden Objektträgern befinden, durch ein Okular. Vorschläge, die Geschoßoberfläche zur Erleichterung der Untersuchung abzuformen, die Abformungen zu strecken und dann nebeneinanderliegend zu vergleichen, sind verschiedentlich gemacht. Keines dieser Verfahren hat sich in der Praxis allgemein durchsetzen können, da gerade die deformierten Geschosse, welche bei der Untersuchung die größten Schwierigkeiten bereiten, überhaupt nicht oder nur unvollkommen abzuformen sind. Ebensowenig kann in solchen Fällen eine Geschoßkamera, wie sie von Brüning entwickelt wurde, weiterhelfen. Auch die graphische Darstellung des Profils, wobei verschiedene, in der Meß- und Werkzeugprüftechnik übliche Verfahren anwendbar und auch vorgeschlagen sind, führt nur in Idealfällen zu brauchbaren Ergebnissen. Vergleichsgeschosse und -hülsen zu gewinnen, bereitet keine erhebliche Mühe. Im allgemeinen reicht ein Beschußkasten, welcher mit Polsterwatte gefüllt ist, zum Auffangen der Geschosse

aus. Wegen anderer Möglichkeiten sei auf die Literatur verwiesen. Die Frage, ob Waffen einer gleichen Fertigungsserie unterschiedliche Spuren auf Hülsen und Geschossen erzeugen, auch wenn sie fabrikneu sind, wurde schon mehrfach erörtert und durch entsprechende Versuche beantwortet. Sie erlangte nach dem letzten Kriege erneut Bedeutung, weil die Fertigungsverfahren zum Teil grundlegend verändert, zum Teil automatisiert waren. Hier ist insbesondere von Interesse, ob gezogene Läufe gleicher Fertigung anhand der aus ihnen verfeuerten Geschosse mit Sicherheit zu identifizieren sind. Während früher die Züge mittels eines Ziehkolbens im spanabhebenden Verfahren in den Lauf eingeschnitten wurden, werden sie heute durchweg eingepreßt. Das geschieht entweder durch das Kugeln (auch Nüssen genannt) oder durch das Hämmern des Laufes. Anders als der Ziehkolben nutzen sich die bei den spanlosen Verfahren benutzten Werkzeuge nur langsam ab, und es ist zu erwarten, daß mit gleichem Werkzeug in nur geringem zeitlichen Abstand hergestellte Läufe gleiche Spuren auf den Geschossen erzeugen. Hadersdorfer hat bei Überprüfung Waffen gleicher Serie festgestellt, daß sie gleichwohl unterschiedliche Verfeuerungsspuren auf dem Geschoß hinterlassen. Da die Teile der Waffe, von denen die Spuren auf den Hülsen stammen, nach wie vor zum Teil mit der Hand nachgearbeitet oder mit spanabhebenden Werkzeugen hergestellt werden, besteht hinsichtlich der Identifizierung anhand von Hülsen auch theoretisch kein Grund, die aufgezeigten Möglichkeiten, welche die auf ihnen zu findenden Spuren bieten, in Frage zu stellen. Schrotkörner lassen keine Rückschlüsse auf das benutzte Gewehr zu. Andere Teile der Schrotpatrone, die beim Schuß aus dem Lauf getrieben werden, wie Schlußdeckel, Filzpfropfen und Bodenblättchen, ermöglichen die Bestimmung des Kalibers und der Schrotkorngröße. Eine Identifizierung der Waffe ist nur mit Hilfe der Hülse möglich. e) Im Zuge der intensiven Erörterung der Probleme, welche die Schußwaffenidentifizierung aufgab, wurde in den zwanziger Jahren schon bald der Gedanke verfolgt, anhand der Spuren an Hülse und Geschoß das S y s t e m ( = Bauart) der Waffe zu b e s t i m m e n , aus welcher die Munition verfeuert wurde. Man ging davon aus, daß Waffen gleicher Bauart auf Hülse und Geschoß nach Lage, Form und Abmessungen übereinstimmende Merkmale hinterlassen, die deshalb Rückschlüsse auf das System erlauben. Waizenegger berichtete 1926 als erster über positive Ergebnisse von Untersuchungen, welche in diese Richtung gingen. Mezger, Heess und Hasslacher veröffentlichten 1931 den sogenannten Pistolenatlas, der Grundlage der Schußwaffensystembestimmung in mehreren Ländern wurde und heute noch ist.

Kriminaltechnik Der Pistolenatlas behandelt nur Selbstladepistolen des Kalibers 6,35, 7,65 und 9 mm kurz. Bei der Systembestimmung anhand der Spuren auf der Hülse geht man vom Kaliber und der Form der Hülse aus. Dann wird festgestellt, ob eine Auszieherspur vorhanden ist. Von der Auszieherspur her orientiert man die übrigen Spuren an der Hülse. Die Spuren der hinteren Laufstirnfläche am Hülsenboden erlauben, die Lage des Ausziehers zur Visierlinie festzustellen, und bilden ein wesentliches Systemmerkmal, die Patronenlagergrundform. Bei den Auswerferspuren sind Form und die Lage zur Auszieherspur von Bedeutung. Von den Spuren, welche der Stoßboden des Verschlusses auf dem Hülsenboden hinterläßt, werden Aussparungs- und Bearbeitungsspuren ausgewertet, insbesondere der Durchmesser des Schlagbolzenloches. Besondere Merkmale, wie der Abdruck eines Signalstiftes oder anderer, nur bestimmten Waffensystemen eigenen Konstruktionsteile, können schon allein die sichere Bestimmung des Systems anhand einer Hülse ermöglichen. Bei Geschossen bildet das Kaliber den Ausgangspunkt. Felderzahl und Drallrichtung sind weitere Daten, die leicht zu gewinnen sind. Schwieriger ist das Messen des Drallwinkels und der Felderbreite. Dafür wurde ein besonderes Instrument, das Drallmeßmikroskop, entwickelt. Man kann sich dazu auch eines Mikroskopes mit einem Goniometer bzw. Meßokular bedienen. Gemessen werden alle Feldereindrücke, und das Mittel der Meßwerte wird zur Systembestimmung genutzt. Da die Hülsen differenziertere Systemmerkmale aufweisen als Geschosse, bietet ihre Auswertung größere Möglichkeiten, bei der Systembestimmung zu einem sicheren Ergebnis zu kommen, als wenn dafür nur ein Geschoß zur Verfügung steht. Es kommt hinzu, daß die Läufe von Waffen verschiedener Fabrikate gleiche Systemmerkmale aufweisen. Liegt nur ein Geschoß vor, das aus einer dieser Waffen verfeuert wurde, kann es bloß einer Gruppe von Waffen zugeordnet werden. Nach Erscheinen des Pistolenatlasses wurden die Systemmerkmale weiterer Pistolen und auch anderer Handfeuerwaffen erarbeitet, aber im deutschen Schrifttum kaum noch veröffentlicht. In den letzten Jahren sind verschiedentlich die Möglichkeiten der Systembestimmung bei kurzen und langen Kleinkaliberwaffen erörtert. f) Die Systembestimmung bietet einmal Hinweise für die Fahndung, zum andern ist sie für zentrale Dienststellen interessant, die einen S c h u ß W a f f e n e r k e n n u n g s d i e n s t unterhalten. Der Schußwaffenerkennungsdienst soll durch vergleichende Untersuchung von Tatortmunition Zusammenhänge zwischen Straftaten feststellen und Tatwaffen durch Vergleich der in der Tatortmunitionssammlung aufbewahrten Hülsen und

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Geschosse mit sichergestellten Waffen ermitteln. Voraussetzungen für eine solche Einrichtung sind eine Klassifizierung der Tatortmunition, die es erlaubt, auch größere Sammlungen übersichtlich zu halten (diese Möglichkeit ist durch die Systembestimmung gegeben), und organisatorische Maßnahmen, die sicherstellen, daß die in einem bestimmten Gebiet anfallende Tatortmunition und alle sichergestellten Waffen an die Zentrale gehen. In Deutschland wurde erst 1939 ein zentraler Schußwaffenerkennungsdienst beim Kriminaltechnischen Institut des Reichskriminalpolizeiamtes eingerichtet. Heute befindet er sich beim Bundeskriminalamt. Alle Polizeidienststellen sind gehalten, Tatortmunition und Schußwaffen zweckentsprechend zu sichern und dem Schußwaffenerkennungsdienst auf dem Dienstweg zu übersenden. Die Waffen werden in der Regel beim zuständigen Landeskriminalamt beschossen und die gewonnene Vergleichsmunition dem B K A übersandt. Die Waffen gehen dem Einsender mit dem Untersuchungsergebnis wieder zu, die Tatortund Vergleichsmunition verbleibt beim Schußwaffenerkennungsdienst. Monographien K . H ü t t n e r : Durch Schuß und stumpfe Gewalt zertrümmerte Glastafeln und Ihre differentialdiagnostischen Merkmale. Leipzig, Med. Diss. 1942. W . S c h m i d t : Die Nitritreaktion zur Untersuchung beschossener Stoffe. Innsbruck, Med. Diss. 1945. J . E . D a v i s : An Introduction to Tool Marks, Firearms and the Striagraph. 1958. J . S. H a t c h e r , F r . J u r y u. J . W e l l e r : Firearms Investigation, Identification and Evidence. 1962. J . H o w a r d M a t h e w s : Firearms Identification. 1962. Zeitschriftenaufsätze W . H e e s : Geschoßidentifizierung. ArchKrim. 98 (1936) S. 110. M. Z w i n g l i : Über Spuren an der Schießhand nach Schuß mit Faustfeuerwaffen. ArchKrim. 108 (1941) S. 1. 0 . T a k k o : Eine neue Methode zur Abbildung der Geschoßmäntel. ArchKrim. 110 (1942) S. 1. W. F . H e s s e l i n k : War es ein blinder oder scharfer Schuß ? ArchKrim. 112 (1943) S. 89. H.-H. H u e l k e : Die Schmauchspur an der Schußhand. Krim. 3 (1949) S. 211 u. 233. B . M u e l l e r . "Über eine Fehlerquelle bei der Diagnose des Einschusses. Krim. 3 (1949) S. 121. F . D o m e w i c i : Schußwaffenerkennung mittels Geschoßhülsenüberprüfung. Krim. 5 (1951) S. 168. H. K o s y r a : Aufklärung eines Mordversuchs durch ein Pistolenmagazin. Krim. 5 (1951) S. 147. G. B o h n e : Photographische Wiedergabe des Laufinneren einer Pistole. Photographie u. Wissenschaft. 1 (1952) S. 4. W. K a t t e u. H. H a d e r s d o r f e r : Versilberung von Kollodiumhäutchen. Ein Hilfsmittel zur Identifizierung abgeformter Geschoßoberflächen. Krim. 7 (1953) S. 125. B a u e r n f e i n d : Wer hat geschossen? Krim. 8 (1954) S. 41. G. B o h n e : Nah- oder Fernschuß. Krim. 8 (1954) S. 126. M. F r e i : Einfache mikrochemische Untersuchungen an zertrümmerten Glasscheiben. Krim. 8 (1954) S. 129. W. K ä m p f : Der Nachweis eines absoluten Nahschusses am skelettierten Schädel. Krim. 8 (1954) K W S. 125. A. B r ü n i n g : Form der Schußwunde veranlaßt Zweifel an Selbstmord. ArchKrim. 116 (1955) S. 147.

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Kriminalte chnik

I. A. C h u r c h m a n : Gewinnung von Vergleichsgeschossen. RIPC. 10 (1955) S. 109. H. Lorenz u. W. P a w l o w s k i : Unterscheidung von absoluten und relativen Nahschüssen auf Leder. ArchKrim. 115 (1955) S. 29. F. X. Mayer u. N. W ö l k a r t : Neue Methode zur Untersuchung von Nahschußspuren. ArchKrim. 116 (1955) S. 73. R. Pelz: Bestimmung der Pistole 08 an Hand von Patronenhülsen. Krim. 9 (1955) S. 428. A. B r ü n i n g : Der irreführende Paraffin-Test. ArchKrim. 118 (1956) S. 107. H.-H. H u e l k e : Aufklärung von Unfällen durch Schrotschüsse. Krim. 10 (1956) S. 308. A. S c h ö n t a g u. R. H e i n d l : Entwicklung der Methoden zur Bestimmung der Schußentfernung. ArchKrim. 118 (1956) S. 19. M. F r e i : Mikroskopische Untersuchungen an Projektilen. Krim. 11 (1957) S. 287. H. H a d e r s d o r f er: Fremdspuren an Geschossen. ArchKrim. 120 (1957) S. 118. H. H a d e r s d o r f e r : Ist die Identifizierung von Geschossen und Hülsen gefährdet ? ArchKrim. 120 (1957) S. 109. H a d e r s d o r f e r : Zur Klärung von Schußdelikten: Welcher Schlagbolzeneinschlag an einer Hülse mit mehreren Einschlägen löste die Zündung aus? ArchKrim. 120 (1957) S. 105. H.-H. H u e l k e : Der Schußwaffenerkennungsdienst. Taschenbuch für Kriminalisten. VII (1957) S. 123. A. S c h ö n t a g : Bestimmung der Schußentfernung durch spektrographische Spulenanalyse der „Schmauchelemente" Antimon, Blei oder Barium. ArchKrim. 120 (1957) S. 4. A. S c h ö n t a g : Vorschlag einer neuen Methode: Bestimmung der Schußentfernung mittels des „Schmauchringes". ArchKrim. 120 (1957) S. 62. H a d e r s d o r f e r : Ist die Identifizierung von Geschossen und Hülsen gefährdet? ArchKrim. 122 (1958) S. 101. K. L a m p r e c h t . Schuß durch Fensterglas. ArchKrim. 123 (1958) S. 128. A. S c h ö n t a g : Einschuß oder Steinschlag? Eine oft behandelte Frage und ihre Beantwortung in einem speziellen Fall. ArchKrim. 122 (1958) S. 69. A. S c h ö n t a g u. J. R o t h : Zwei neue Verfahren: Bestimmung des Schußalters bei Schrotpatronen. ArchKrim. 121 (1958) S. 8 u. 123. St. Berg: Veränderungen der Textiloberfläche bei Nahschüssen. ArchKrim. 124 (1959) S. 5. Ch. Leszynski: Die Bestimmung der Schußentfernung. Krim. 13 (1959). S. 377. I'. F. Ceccaldi, R. Dolegeal u. H. Mary: Vereinheitlichte Erfassung von Geschossen durch Abrollen auf Bleifolie. RIPC. 15 (1960) S. 248. Ii. Dolegeal u. P. F. Ceccaldi: Kombinierte Zusatzeinrichtung für Untersuchungen von Geschossen und Hülsen mit dem Vergleichsmikroskop. RIPC. 15 (1960) S. 22. II. von W i ß m a n n : Ablenkung von Geschossen durch Treffen von Hindernissen in der Geschoßflugbahn. Wild u. Hund. 65 (1960) S. 540. H. H a d e r s d o r f e r : Das „Pfeifen" des Geschosses als Hilfsmittel der Beweisführung. ArchKrim. 127 (1961) S. 40. K. L a m p r e c h t : Zwei bemerkenswerte Fälle einer versuchten Unkenntlichmachung von Verbrecherschußwaffen. Arch Krim. 127 (1961) S. 77. R. Mally: Die Spuren von Schieß- und Sprengstoffen, Schußwaffen und Munition. Taschenbuch für Kriminalisten. XI (1961) S. 190. E. R ö s s m a n n : Über die Wirkung von Randfeuerpatronen. Krim. 15 (1961) S. 21. O. Galäs: Hinderniseinfluß auf die Geschoßflugbahn. Wild u. Hund. 64 (1962) S. 901. D. K l e e m a n n . Bestimmung des Flintenkalibers an Hand von verfeuerten Schroten. Taschenbuch für Kriminalisten. XII (1962) S. 158. R. L a m p e : Abprallende Geschosse. Wild und Hund. 64 (1962) S. 868.

K. L a m p r e c h t : Ein Beitrag zur Identifizierung von Tatwaffen, in deren Lauf sich bei oder nach dem Tatgeschehen eine Aufbauchung bildete. ArchKrim. 129 (1962) S. 136. M. L e c h n e r : Einschuß oder Steinschlag. Krim. 16 (1962) S. 216. A. F. v o n Q u a s t : Zu: Hinderniseinfluß auf die Geschoßflugbahn. Wild u. Hund. 65 (1962) S. 11. E. B u r g e r : Untersuchungen zum Nachweis von Pulverrückständen an der Schußhand. DZGerMed. 63 (1963) S. 108.

A. S c h ö n t a g u. F. B a u m g ä r t n e r : Erweiterung des Meßbereiches auf 3 m bei der Bestimmung der Schußentfernung durch Anwendung der Aktivierungsanalyse. ArchKrim. 131 (1963) S. 1. K. L a m p r e c h t : Schießtechnische Untersuchung schafft Klarheit über den Geschehensablauf einer unbefugten Jagdausübung. ArchKrim. 132 (1963) S. 128. H.-J. W a g n e r : Experimentelle Untersuchungen über Art und Ausmaß der Rückschleuderung von Blut und Gewebeteilen beim absoluten und relativen Nahschuß. DZGerMed. 54 (1963) S. 258. W. J a n s e n u W. S t i e g e r : Verletzungen durch Bolzenschuß-Apparate unter besonderer Berücksichtigung der Spurenmerkmale. ArchKrim. 134 (1964) S. 26 u. 96. H. H u n g e r , B. Z e r n d t u. D. L e o p o l d : Zur forensischen Beurteilung von Nahschüssen und Feststellung ihrer Priorität. ArchKrim. 134 (1964) S. 69. A. S c h ö n t a g : Die Entwicklung der Methode zur Bestimmung der Schußentfernung und ihre historischen Hintergründe. ArchKrim. 134 (1964) S. 137. R. D i t t m e r : Spuren an der Schießhand. Taschenbuch für Kriminalisten. XV (1965) S. 171. M. Ziegler u. B. F e h s e : Schußentfernungsbestimmung mit dem Tastpolarographen. ArchKrim. 137 (1966) S. 71. 7.

Urkundenuntersuchung

a) G e g e n s t a n d d e r Urkundenuntersuc h u n g sind nicht nur Urkunden im rechtlichen Sinne, sondern auch Schriftstücke, Druckerzeugnisse, Papier und papierähnliche Beschreibstoffe, Briefumschläge und ähnliche Umhüllungen postalischer Sendungen sowie Gegenstände und Stoffe, die zu deren Beschriftung, Kennzeichnung, Verbindung und Verschluß dienen. Natur- und Geisteswissenschaften sind gleichermaßen an diesen Untersuchungen beteiligt. Die Ausdruckswissenschaft ist die Grundlage für die Schrifturheberschaftsuntersuchung ( - > „Handschrift"), Literatur- und Geschichtswissenschaft bieten die Ausgangspunkte für die Untersuchung zweifelhafter Autographen und können allein schon zur sicheren Feststellung v o n Fälschungen auf diesem Gebiet führen, ohne daß naturwissenschaftliche Methoden angewendet werden müssen. Chemie, Physik und Biologie sind die Sparten, welche zu den regelmäßig anzuwendenden Untersuchungsgängen, die der Überprüfung zweifelhafter Urkunden dienen, ihre Beiträge geliefert haben. Diese Untersuchungsgänge sind hier zu erörtern. b) Die V o r u n t e r s u c h u n g . Anlaß für die Untersuchung v o n Urkunden bietet häufig ein Parteienstreit, in dem eine Seite die Echtheit einer Urkunde, durch welche sie verpflichtet wird, in Frage stellt. In anderen Fällen aber, in denen ein unmittelbares persönliches Interesse nicht gegeben

Kriminaltechnik ist und aus der Sachlage ein Fälschungsverdacht sich nicht aufdrängt, können falsche oder gefälschte Schriftstücke unbeanstandet in den Verkehr kommen und längere Zeit unentdeckt bleiben, ja sie gelangen auch in die Akten der Behörden und Gerichte, ohne daß Zweifel an ihrer Echtheit geltend gemacht werden. Eine sachkundige Überprüfung, die auch ohne besondere technische Einrichtungen durchgeführt werden kann, sollte von jedem, der im Beruf mit Urkunden und anderen als Beweismittel dienenden Schriftstücken zu tun hat, vorgenommen werden können. Urkunden mit frei gewähltem Schriftträger und frei gestaltetem Text bieten für eine Überprüfung weniger Ansatzpunkte als Urkunden in Form ausgefüllter Vordrucke. Abweichungen von der Größe der gängigen Papierformate, im streifenden Licht sichtbare, hochstehende Papierfasern als Spuren einer mechanischen Rasur, erhöhte Transparenz an kritischen Stellen, begrenzte Veränderungen des Oberflächenglanzes, die Zeichen einer chemischen Rasur sein können, Schriftreste, Überschmierungen, Fehlstellen im Schriftträger mit Textverlust, Kleckse, Klebstreifen, die anscheinend abgerissene Stücke miteinander verbinden, Überschreibungen und nachgezogene Schriftzüge, verschiedenartige oder verschiedenfarbige Schreibmittel, Änderungen im Zeilenabstand sollten, wenn eine Erklärung dieser Erscheinungen nicht auf der Hand liegt, den Anstoß für eine sachverständige Untersuchung des betreffenden Schriftstückes geben. Pässe, Ausweise, Führerscheine, Schecks und ähnliche Urkunden sind in gleicher Weise zu überprüfen, wobei auch auf Registernummern, Daten und die Schreibweise des Vordrucktextes und der Eintragungen zu achten ist. Da für diese Urkunden gewöhnlich besonders gesicherte Papiere oder andere Schriftträger verwendet werden, sind mechanische und zum Teil auch chemische Rasuren verhältnismäßig leicht zu erkennen. Unterdrucke werden bei derartigen Operationen in Mitleidenschaft gezogen, etwa vorgenommene Ausbesserungen fallen auf. Dem Schriftträger zugefügte Indikatoren zeigen die Behandlung mit chemischen Mitteln an. Bei mehrseitigen Dokumenten sind Blattzahl und Heftung zu überprüfen, bei Ausweisen mit Lichtbildern deren Befestigung und der Übergang des Stempelabdrucks vom Ausweisblatt auf das Lichtbild. Nachzeichnungen von Stempelabdrücken oder zeichnerische Ergänzungen sind mit der Lupe bei wechselnd einfallender Beleuchtung an der vom Abdruck verschiedenen Reflexion zu erkennen. Eindrücke oder Rostablagerungen von Heftösen oder -klammern, die zum Befestigen der Lichtbilder dienen, können ebenfalls Hinweise auf vorgenommene Veränderungen geben. Bei Urkunden, von denen üblicherweise im Durchschreibeverfahren Zweit- oder auch 12

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Drittschriften hergestellt werden (Kauf- und Mietverträge, Kreditanträge, Quittungen u. a.), gibt ein Vergleich mit den im gleichen Arbeitsgang beschrifteten Exemplaren häufig schon Aufschluß über Art und Umfang der Verfälschung. c) Als S c h r i f t t r ä g e r dient in der Regel Papier, zuweilen Pappe; für Ausweise werden auch mit Füllstoffen versehene und beschichtete Gewebe verwendet. Papier, mit dem es der Untersucher hauptsächlich zu tun hat, ist ein blattartiges Gebilde, das in einem Verfilzungsprozeß aus wäßrigem Faserbrei hergestellt wird. Rohstoff ist heute fast ausschließlich Holz und Altpapier. Hadern- oder Lumpenpapiere (aus Baumwolle, Leinen, Hanf, Flachs, Ramie) machen nur einen geringen Teil der Produktion aus, sind hier aber deshalb besonders interessant, weil sie u. a. für Banknoten und als Urkundenpapiere verwendet werden. Holzfreie Papiere sind aus Zellstoff, der aus Holz, Stroh, Esparto und anderen Rohstoffen gewonnen wird, holzhaltige Papiere aus Zellstoff werden mit einem mehr oder weniger großen Zusatz (bis zu 9 0 % ) von Holzschliff oder sonstigen verholzten Fasern hergestellt. Papier enthält weiter Füllstoffe, wie Kaolin, Talkum, Asbestine, Gipse, welche die Poren füllen und dem Papier eine glatte Oberfläche verleihen sollen. Weiter werden Leimstoffe, insbesondere Kolophonium, Kunstharze, Stärke, Wasserglas dem Faserbrei zugefügt, um das fertige Produkt für besondere Zwecke brauchbar zu machen. Farbige Schreibund Dokumentenpapiere sind in der Masse gefärbt, wobei verschiedenartige Farbstoffe gebraucht werden. Höchste Weiße wird durch Zusatz optisch wirkender Aufheller (organische Leuchtstoffe) erzielt, die sich durch die Tönung des ausgestrahlten Lichtes unterscheiden. Bei Wert- und Sicherheitspapieren werden lokalisierte Fasern, Blei-, Eisen-, Zink- oder Mangansalze in Verbindung mit bestimmten Farbstoffen eingearbeitet, die sich bei der Behandlung mit Säuren, Alkalien oder Chlor verfärben und so chemische Radierversuche anzeigen. Die Oberflächen des Papiers werden durch Nachbehandlung unterschiedlich zugerichtet. Im Satinierkalender wird die Oberfläche verdichtet und bekommt Glanz, die Oberflächenleimung macht das Papier tintenfest. Besondere Oberflächenstrukturen werden mit gravierten Stahlwalzen in das Papier geprägt, können dem Papier aber bereits bei der Herstellung der Papierbahn gegeben sein. Wasserzeichen können ebenfalls entweder schon in der Papiermaschine erzeugt (echte Wasserzeichen) oder nachträglich eingeprägt werden. Die Vielfalt der bei der Papierherstellung verwendeten Rohmaterialien und die vielen Möglichkeiten, dem Rohprodukt auch bei gleichen Ausgangsstoffen verschiedenartiges Aussehen zu geben, machen es deutlich, daß eine vergleichende

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Kriminaltechnik

Papieruntersuchung eine Aussage darüber erbringen kann, ob die verglichenen Proben gleicher Fertigung sind. Besondere Merkmale, insbesondere die Wasserzeichen, erlauben aber auch nicht selten die Angabe des Herstellers. Die Methoden der gewerblichen Papierprüfung, die auf die Beurteilung des Prüflings im Hinblick auf die weitere Verwendung abzielen, sind bei der Urkundenuntersuchung nur zum Teil anwendbar, da es an der für manche dieser Untersuchungsgänge notwendigen Materialmenge fehlt. Die Bestimmung des Quadratmetergewichtes, der Dicke, der Oberflächenbeschaffenheit, des Aschegehalts, der Leimung, des Holzschliffgehalts mittels geeigneter Tüpfelreaktionen, die Untersuchung der Fasern nach Herkunft (mikroskopisch und unter Verwendung von Farbreagenzien), Mahlung und Menge sind von der gewerblichen Papierprüfung in die kriminaltechnische übernommen. Auch einige dort entwickelte Geräte, wie die Papierwaage, der Glätte- und Porositätsprüfer und der Dickenmesser, lassen sich hier mit Vorteil verwenden, da sie eine zerstörungsfreie Untersuchung des Papiers erlauben. Weitere zerstörungsfreie physikalische Prüfmethoden sind der Vergleich der Fluoreszenz im UV-Licht und der elektrischen Leitfähigkeit. Bei der Bewertung der Fluoreszenzerscheinungen ist zu beachten, daß sie durch Alterung, Tageslichteinwirkung und andere Einflüsse verändert werden können (insbesondere auch durch die Einwirkung des UV-Lichtes selbst). Inwieweit das von Frisch vorgeschlagene Isotopenverfahren für die Untersuchung der Papierstruktur von Vorteil ist, bleibt abzuwarten. Die im Papier enthaltenen anorganischen Stoffe, welche in der Hauptsache mit den Füllstoffen in die Papiermasse gelangen, werden spektrographisch, Alkali- und Erdalkalimetalle papierchromatographisch nachgewiesen. Da Papiere gleicher Fertigung Individualtypen darstellen, kann ihre Herkunft mit Hilfe von Vergleichsproben ermittelt werden. Soweit es sich um Papiere mit Wasserzeichen handelt, sind Sammlungen von Wasserzeichen, die es erlauben, auch Bruchstücke zu identifizieren, von Nutzen. d) Für Handschriften dienen als S c h r e i b s t o f f e Tinten, Tuschen, Pasten, Schreibminen und Kreide, als Schreibwerkzeuge Federn, Röhrchen, Kugelschreiber und Stoffe, in denen die Mine fest oder beweglich eingebettet ist. Mit welchem dieser Werkzeuge eine Schrift zu Papier gebracht wurde, läßt sich in der Regel durch makroskopische oder auch mikroskopische Untersuchung bei geeigneter Vergrößerung feststellen. Gewöhnliche Tinten sind Lösungen von Gallussäure, einem Eisensalz und einem wasserlöslichen Farbstoff oder Lösungen von Teerfarbstoffen mit Zusätzen, welche die Schreibfähigkeit erhöhen. Kopiertinten sind Farbstofftinten höherer Konzentration mit einem Zusatz aus klebenden und

hygroskopischen Stoffen, wie Sirup und Glycerin. Hektographentinten haben einen hohen Gehalt an leicht löslichen Farbstoffen und Glycerin. Tintenpulver besteht in der Hauptsache aus Blauholzextrakten oder Teerfarbstoffen. Ausziehtuschen enthalten Schellackseife. Nach dem Abbinden sind sie nicht mehr wasserlöslich. Kugelschreiberpasten werden heute auf Kunstharzbasis unter Verwendung lichtechter Pigmente, von Weichmachern und Füllstoffen hergestellt. Diese Pasten sind, im Gegensatz zu den anfangs verwendeten ölpasten, nach kurzer Zeit nicht mehr übertragbar. Die Minen der Bleistifte bestehen aus Graphit und hochplastischem Ton. Die ausgeformten Minen werden gebrannt. Kopier- und Tintenstifte enthalten wasserlösliche Teerfarbstoffe, Farbstifte wasser-unlösliche Teeroder Mineralfarbstoffe. Kopierstifte können als Farbmittel einen Zuschlag von Graphit enthalten. Ionenaktive Chloridverbindungen, welche diesen Kopierstiften oder auch Kugelschreiberpasten zugefügt sein können, geben diesen Schreibmitteln eine größere Fälschungssicherheit. Schreibkreide besteht heute aus meist fein gekörntem Gips, dem Farbstoffe zugesetzt sein können. Die vergleichende Untersuchung von Schreibstoffen beginnt mit der Lupenbetrachtung, die häufig schon eine Differenzierung erlaubt, wenn unterschiedliche Schreibwerkzeuge oder Schreibstoffarten benutzt werden. Die Verwendung monochromatischen Lichtes ist dabei vorteilhaft. Bei Bleistiftschriften bietet die Lupen- und mikroskopische Untersuchung die einzige Möglichkeit, Unterschiede festzustellen. Die Überprüfung im IR- und UV-Licht läßt zuweilen im Tageslicht nicht sichtbare Unterschiede erkennen. Optisch nicht zu differenzierende Schreibstoffe können qualitativ mit Hilfe von Tüpfelreaktionen untersucht werden, die unter größtmöglicher Schonung des zu untersuchenden Schriftstückes anzuwenden sind. Diese klassische Methode wurde seit etwa 1952 weitgehend von der Papierchromatographie verdrängt (-> Chemische Untersuchungsmethoden). Stempel-, Schreibband-, Druckfarbe und andere Schrifteinfärbungsmittel können ebenfalls mit den aufgeführten Methoden, welche nach der Art des jeweils vorliegenden Schreibstoffes zu modifizieren sind, untersucht werden. e) Die A l t e r s b e s t i m m u n g von Urkunden soll einmal die Frage nach der Entstehungszeit, die präzise durch ein Datum angegeben oder einem begrenzten Zeitraum zuzuordnen ist. klären (absolute Altersbestimmung). Zum anderen kann gefragt werden, ob eine von mehreren Urkunden, die zeitgleich oder in einer bestimmten Reihenfolge entstanden sein sollen, zu einem anderen Zeitpunkt bzw. außer der Reihe entstanden ist oder ob ein Teil einer Urkunde dem unbe-

Kriminaltechnik strittenen Teil später hinzugefügt wurde (relative Altersbestimmung). Der Schriftträger, Veränderungen, die er vor, bei oder nach der Errichtung der Urkunde erfahren hat, die Schrift, spezifische Spuren des Schreibwerkzeuges, Schreibmittel und der Textinhalt können zur Altersbestimmung ausgewertet werden. Zufällig auf die Urkunde gelangte Fremdstoffe, deren Herkunft zu bestimmen ist oder die signifikante Veränderungen an der Urkunde hervorriefen, sind im Einzelfall aufschlußreich. Papier, das zumeist als Schriftträger verwendet wird, ist nach den Regeln der Papieruntersuchung darauf zu überprüfen, ob es zur fraglichen Zeit in der vorliegenden Ausführung schon hergestellt wurde. Handelt es sich um Vordrucke, geben Firmenzeichen, Liefernummer, Auflagenkennzeichen, Änderungen des Vordrucktextes und des Satzes, Typenbeschädigungen und die verwendeten Druckfarben Anhaltspunkte für die Entstehungszeit. Rißkanten, zum Beispiel an Quittungsformularen, welche einem Block entnommen wurden, erlauben es, wenn der Block noch vorhanden ist, den Schriftträger seinem ursprünglichen Ort zuzuweisen und damit auch zeitlich einzuordnen. Wieder sichtbar zu machende entfernte Schriften, die durch einen neuen Text ersetzt sind, und bei der Ausfertigung anderer Schriftstücke auf dem fraglichen Schriftträger entstandene Druckfurchen und Pausen können entsprechend ausgewertet werden. Hand- und Maschinenschriften sind darauf zu überprüfen, ob sie in der Zeit, zu der die Urkunde entstand, in der vorliegenden Form bereits geübt wurden, beziehungsweise von den auf dem Markt befindlichen Maschinen produziert sein konnten (Einzelheiten dazu s. u.). Der Inhalt des Textes wird bei der Echtheitsprüfung von Autographen besonders eingehend ausgewertet, er kann aber auch bei Urkunden im Rechts- und Geschäftsverkehr entscheidende Kriterien für eine Datierung liefern. Die Einführung eines neuen Schreibgerätes, dessen Schriftspur sich von dem älterer Geräte unterscheidet, und die Verwendung neuer Stoffe bei der Herstellung von Schreibmitteln sind für die Altersfeststellung von erheblicher Bedeutung. Abgesehen von diesen nur zu einem Alternativergebnis führenden Untersuchungen sind chemische Schriftaltersbestimmungen allein bei bestimmten Tinten sowie bei Kopierstiften und Kugelschreiberpasten bestimmter Fabrikate möglich. Die Tintenaltersbestimmung nach der von Mezger, Rail und Heess angegebenen Methode beruht auf der Darstellung der im Laufe der Zeit aus dem Tintenstrich auswandernden Chlor- und Sulfationen, die vorher schon von Hanikirsch beschrieben war. Der Urkunde wird zur Unter12*

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suchung ein kleiner Ausschnitt mit wenigen Strichen entnommen, in dem dann nach Zerstörung der farbigen Bestandteile der Tinte die Chlorid- und Sulfatbilder mit Hilfe von Silberbzw. Bleisalzen dargestellt werden. Diese Bilder unterscheiden sich, wenn die Schriften in einem Abstand von Wochen oder Monaten entstanden sind. Nach 2 bis 3 Jahren tritt keine mittels dieser Methode feststellbare Änderung des Alterungsbildes mehr ein, auch verringert sich die Möglichkeit, in verhältnismäßig geringem Zeitabstand produzierte Schriften zu differenzieren, mit dem Fortschreiten der Zeit. Bei einigen Tinten fehlen Chloride und Sulfationen. Papiere (andere Schriftträger gestatten die Anwendung dieser Methode nicht) können Chloride und Sulfate enthalten und damit die Darstellung der Alterungsbilder unmöglich machen. Feuchtigkeit beschleunigt die Auswanderung der Ionen erheblich. Feucht gelagerte Papiere lassen eine Beurteilung des Alterungsbildes nicht mehr zu. Der Methode sind also vom Material her in vielen Fällen Grenzen gesetzt. Auf Kugelschreiber- und Kopierstiftschriften ist sie nur soweit anwendbar, als der Paste oder der Mine ionenaktive Chloridverbindungen zugesetzt sind. Dieses gilt auch nur mit Einschränkung, da die Kugelschreiber und Stifte den Schriftträger nicht gleichmäßig einfärben. Eine frische, höchstens zwei Tage alte Kugelschreiberschrift läßt sich mit Hilfe einer von Klauer angegebenen Methode, die auf der Klebkraft der frischen Paste beruht, von einer älteren Schrift unterscheiden. Für die relative Altersbestimmung bieten die Schriftzüge weitere Ausgangspunkte an. Die Verwendung unterschiedlicher Schreibmittel im Text und räumlich eingeengte Einschiebsel sind verdachterregende Hinweise, aber keine Beweise. Kreuzungen von Teilen des strittigen Textes mit denen des unbestrittenen oder mit Bruchfalten im Papier können die sichere Feststellung erlauben, in welcher Reihenfolge sie niedergeschrieben wurden, ob das Papier vor oder nach oder sowohl vor als auch nach dem Falten beschriebenist. Die Beurteilung von Strichkreuzungen erfordert viel Sachkenntnis und führt keineswegs immer zu eindeutigen Ergebnissen. Da sich bestimmte Eigenschaften der Schreibunterlage dem Schriftträger mitteilen oder in der Strichstruktur ihren Ausdruck finden können, sind Textteile, die auf Schreibunterlagen verschiedener Art unter sonst gleichen Bedingungen niedergeschrieben sind, zu unterscheiden. Im Einzelfall können weitere signifikante Erscheinungen, die nur zufällig auftreten, zur absoluten oder relativen Altersbestimmung genutzt werden. f) Für die L e s b a r m a c h u n g e n t f e r n t e r u n d ü b e r s c h m i e r t e r S c h r i f t e n und solchen auf verkohltem Papier sind verschiedene Ver-

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Rriminaltechnik

fahren entwickelt. In vielen Fällen hilft die Kontrast-, Filter- oder Infrarotphotographie (η- Β 2f), die schwachen Spuren der entfernten Schrift soweit abzubilden, daß eine Rekonstruktion möglich ist. Sind Stift- oder Kugelschreiberschriften entfernt, sind die verbliebenen Schreibfurchen bei streifendem Licht photographisch darzustellen. Entfernte Tintenschriften werden unter günstigen Bedingungen im UV-Licht wieder sichtbar. Die Anwendung chemischer Mittel führt insbesondere dann zum Erfolg, wenn Eisengallustinten entfernt wurden. Reste von Kopierstiftschrift sind durch Anlösen zu intensivieren. Mit weichem Stift gefertigte Schriften und Schriftzüge von reinen Farbstofftinten können durch mechanische oder chemische Rasur soweit entfernt sein, daß ihre Darstellung selbst dann unmöglich ist, wenn die Papieroberfläche an den entsprechenden Stellen gar nicht oder nur geringfügig bearbeitet erscheint. Intensive mechanische Rasuren oder der Gebrauch geeigneter Radierwasser können die Wiederlesbarmachung überhaupt verhindern. Überschmierte Schriften und Stempel sind häufig im monochromatischen Licht, photographisch unter Anwendung geeigneter Filter, durch Infrarotphotographie, -kopie oder im Infrarotbildwandler sichtbar zu machen, wenn zum Überschmieren nicht grapliit- oder rußhaltige Schreibmittel, wie Tuschen, verwendet wurden. Solche Überschmierungen müssen mit Hilfe von Folien, Radiermessern oder anderen Hilfsmitteln vorsichtig so weit abgetragen werden, daß die überschmierte Schrift zu entziffern ist. Zur Entfernung von Tuschen ist die Anwendung von Ultraschall die Methode der Wahl. Die Anwendung chemischer Mittel setzt voraus, daß die überschmierte Schrift gegenüber dem Mittel, welches die Überschmierung angreift, resistent ist oder resistent gemacht werden kann. Mit Kugelschreiber überschmierte Tintenschriften sind durch die Überschmierung hindurch feucht zu kopieren. Schriften auf angesengtem, stark gebräuntem oder verkohltem Papier reflektieren glänzend bei geeignetem Lichteinfallswinkel und werden im Lichtbild dargestellt. Die Anwendung von UVLicht kann von Vorteil sein. g) Die M a s c h i n e n s c h r i f t bedarf einer besonderen Betrachtung, da sie in mancherlei Hinsicht andere Ansatzpunkte für die Urkundenuntersuchung bietet als die Handschrift. Die Kenntnis der Maschine oder zumindest die Feststellung ihrer Marke bildet in vielen Fällen die unabdingbare Voraussetzung für die Untersuchung von Maschinenschriften. Hierzu bietet die Systembestimmung eine wesentliche Hilfe. Sie soll zur Feststellung der Marke und des Modells der Schreibmaschine führen, nach Möglichkeit diese Angaben durch weitere Daten, wie Baujahr und Serienbereich, präzisieren.

Grundlage der Systembestimmung ist das Schriftbild. Obwohl zwangsläufig von der Konstruktion der Schreibmaschine her und auch durch Normung gewisse technische Daten, die sich auch im Schriftbild ausdrücken, wie zum Beispiel der Wagenschritt, bei Maschinen verschiedenster Fabrikate gleichartig sind, ergeben sich doch noch so viel Unterschiede, daß eine sinnvolle, das heißt genügend untergliederte, Systembestimmung möglich ist. Die verschiedenen Schriftarten, Schriftgrößen und Formen der Schriftzeichen ergeben mit den Merkmalen, die dem Mechanismus der Maschinen eigen sind, zahlreiche Varianten. Weiter sind auch eine ganze Reihe von Maschinen konstruiert, deren Funktion von der der gebräuchlichen Maschine abweicht. Das findet auch im Schriftbild seinen Ausdruck. Die Schrifteinfärbungsarten stellen für die Systembestimmung keine wesentlichen Hinweise dar, weil die auf dem Markt befindlichen Maschinen seit geraumer Zeit insoweit kaum Unterschiede aufweisen. Schriftart und -große und die Schriftzeichenform geben die meisten Systemmerkmale ab. Gleiche Schriftarten unterscheiden sich aber noch hinsichtlich der Größe und insbesondere in bezug auf die Form der einzelnen Typen. Wagenschritt und Zeilenabstand sind weitere für die Systembestimmung wichtige Merkmale, die regelmäßig festzustellen sind. Einige andere Merkmale, die nur gelegentlich oder nur von bestimmten Maschinen produziert werden, können gewichtige Hinweise für die Systembestimmung geben. Die Vielzahl der Merkmale, insbesondere die zahlreichen Varianten der Typenformen, verlangen eine für die rationelle Auswertung geeignete Ordnung des Materials und ein Verfahren für die Ausmittelung der Maschinensysteme, das keinen großen Zeitaufwand erfordert. Ein solches Verfahren wurde zuerst von Mally entwickelt (1942). Es folgten Schneeberger, Hilton und Haas. Das von Mally entwickelte und von ihm laufend verbesserte und technisierte Verfahren, welches beim Bundeskriminalamt angewandt wird, erfaßt über 800 Maschinenfabrikate und -modelle. Haas, der in der Differenzierung der Typenformen weiter geht als Mally und in seiner Systembestimmung alle zur Auswertung geeigneten Systemmerkmale auf Lochkarten erfaßt, gelangt zu differenzierten Angaben auch hinsichtlich der Seriennummer bestimmter Modelle. Die vergleichende Untersuchung von Maschinenschriftbildern soll zur Ermittlung der Maschine führen, auf welcher das inkriminierte Schreiben gefertigt ist, oder die Frage klären, ob mehrere Maschinenschriften auf derselben vorerst unbekannten Maschine geschrieben sind. Abweichungen von der Norm, welche dem Maschinenschriftbild einen Individualitätscharakter verleihen, bieten dafür die Möglichkeit.

Kriminaltechnik Differenzen in der Typenhöhe und in der Justierung weisen die Maschinen schon auf, bevor sie in Gebrauch genommen werden. Diese Abweichungen stören das Schriftbild nicht und sind nur bei geeigneter Vergrößerung erkenn- und meßbar. Sie können aber, wenn eine sichere Grundlage vorhanden ist, wie sie Messungen an einer Reihe von Abdrücken der gleichen Type darstellen, zur Identifizierung herangezogen werden. Für die Identifizierung weitaus bedeutender sind Defekte und Abweichungen von der Norm, welche durch Reparaturen bedingt sind. Die Defekte werden in Typen- und in Mechanismusdefekte unterschieden. Bei den Typendefekten kann es sich um Verletzungen der Typenform, um Typendrehungen und -Verschiebungen handeln. Typenbeschädigungen haben Verformungen oder Substanzverluste zur Folge. Systemfremde Typen, die anläßlich einer Reparatur eingebaut sind, stellen ein außerordentlich signifikantes Merkmal dar. Von den Mechanismusdefekten seien der Umschalt- und der Hebelwerkdefekt erwähnt. Der Umschaltdefekt hat die Höher- oder Tieferstellung aller Typen, welche nach Umschaltung zum Abdruck kommen, zur Folge. Er ist nicht mit der durch mangelhafte Bedienung des Umschalters verursachten gelegentlichen Hoch- oder Tiefstellung der Typen zu verwechseln. Ist das Hebelwerk nach langem Gebrauch ausgeleiert, haben die Typen beim Aufschlag keine konstante Stellung mehr, sie wechselt in verschiedenen Richtungen. Als Ergänzung der auf die Feststellung von Defekten abzielenden Untersuchung dient die auf Typenverschmutzungen, welche einen zugeschmierten Abdruck der Type bewirken, sowie die Überprüfung von Farbbandstruktur und Einfärbungsmittel. Typenverschmutzungen sind vor allem dann für die Identifizierung von Bedeutung, wenn mit der Tatschrift zeitgleich entstandene Vergleichsschriften zur Verfügung stehen. Daß die Typen einer ständig im Gebrauch befindlichen und regelmäßig gepflegten Maschine einen verhältnismäßig schnell wechselnden Verschmutzungsgrad aufweisen, ist selbstverständlich. Der Untersuchung der Farbbandstrukturspuren und des Einfärbungsmittels ist nur eine begrenzte Bedeutung beizumessen, da einmal Farbbänder leicht auszutauschen sind, sie zum andern auch nicht viel Unterscheidungsmerkmale bieten. Zur Herstellung von Durchschlägen werden Kohlepapiere benutzt, deren Farbmasse aus Harzen, Ölen, Wachs und Kautschuk besteht, welchen Ruß oder Mineralfarbstoffe beigemengt oder in denen Teerfarbstoffe gelöst sind. Die Herstellung von Durchschlägen ohne Verwendung von Kohlepapier erlaubt in den USA entwickeltes „NCR-Papier" ( = No Carbon Required). Die Rückseite des Originalblattes und die Vorderseite des Kopieblattes sind mit farblosen Überzügen

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versehen, welche fein verteilt Chemikalien enthalten, die eine farbige Schrift erzeugen, wenn sie durch den Druck der Maschinentypen zusammengebracht werden. Durchschläge, insbesondere solche, die an dritter oder an einer folgenden Stelle entstanden, zeigen häufig ein Schriftbild, das eine Identifizierung der Tatmaschine nicht mehr erlaubt, wenn sie auch anhand des Originals möglich gewesen wäre. Da alle zur Identifizierung einer Schreibmaschine dienenden Merkmale sich mehr oder weniger schnell ändern, sollen zu einem Vergleich nach Möglichkeit auch Schriftstücke herangezogen werden, welche im nahen zeitlichen Abstand zur Tatschrift auf ihr entstanden sind. In einzelnen Fällen kann auf die Untersuchung der fraglichen Maschine durch den Sachverständigen nicht verzichtet werden. Umfang und Art des Vergleichsmaterials spielen insbesondere dann eine große Rolle, wenn nicht nur die Maschine, sondern auch der Schreiber anhand der Tatschrift ermittelt werden soll. Daß die Maschinenschrift in dieser Beziehung nicht die Möglichkeiten der Handschrift bietet, ergibt sich aus dem Schreibvorgang selbst, der eine freie Gestaltung des Schriftbildes in nur eng gezogenen Grenzen zuläßt. J e enger sich der Schreiber an die im Unterricht gelehrten Regeln des Maschinenschreibens lehnt, um so weniger Anhaltspunkte ergeben sich für seine Identifizierung. Da aber zahlreiche Personen eine Schreibmaschine benutzen, ohne jemals im Maschinenschreiben regelrecht ausgebildet zu sein, kommen doch vernältnismäßig häufig charakteristische Abweichungen von der Norm vor. Da eine Maschinenschrift einmal von der Maschine, zum andern vom Schreiber her individuelle Merkmale aufweist und zudem durch die Systembestimmung eine Klassifizierungsgrundlage gegeben ist, bietet sich ihre erkennungsdienstliche Auswertung an. Der S c h r e i b m a s c h i n e n - E r k e n n u n g s d i e n s t dient zur Feststellung von Tatzusammenhängen und Ermittlung unbekannter Täter anhand einer Sammlung, die bei bestimmten Straftaten entstandene Maschinenschriften bekannter und unbekannter Schreiber umfaßt. Die von Mally für den SchreibmaschinenE D des Bundeskriminalamtes entwickelte Klassifizierungsmethode geht nicht vom System, sondern vom Einzelmerkmal (Typen- und Mechanismusdefekte) aus. Zur Klassifizierung werden Merkmalskomplexe nicht verwendet, weil sich diese laufend ändern, während bestimmte Einzelmerkmale auch über längere Zeit unverändert erhalten bleiben können. Maschinenschriften, deren A l t e r bestimmt werden soll, können auf einer unbekannten oder einer bekannten Maschine geschrieben sein. Da durch die Systembestimmung festzustellen ist, wann das Maschinenfabrikat oder -modell frühestens

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auf den Markt kam, besteht in jedem Fall — auch bei unbekannten Maschinen —• die Möglichkeit, eine Aussage darüber zu machen, ob die untersuchte Urkunde zum ausgewiesenen oder angegebenen Zeitpunkt geschrieben sein kann. Daß gelegentlich auch der Farbbandabklatsch für eine solche absolute Altersbestimmung benutzt werden kann, hat Franzheim berichtet. Ist die fragliche Maschine bekannt, bietet die Seriennummer die Möglichkeit, genaue Feststellungen hinsichtlich der Fertigung, Auslieferung und ihres weiteren Schicksals zu treffen und so die Frage zu klären, ob der Schreiber zur fraglichen Zeit gerade diese Maschine benutzen konnte. Steht das fest, sind mit zeitgleichen sowie mit vor und nach dem Datum der strittigen Urkunde auf der gleichen Maschine geschriebenen Schriftstücken Vergleiche in Hinsicht auf Typenbeschädigungen, Typenverschmutzungen und die Art des benutzten Farbbandes anzustellen. Weist die Tatschrift genügend Merkmale auf und steht genügend Vergleichsmaterial zur Verfügung, ist es möglich, sie zeitlich einzuordnen. Verfälschungen maschinenschriftlicher Urkunden in Form von Zusätzen sind augenfällig, sobald für die Niederschrift des Zusatzes eine andere Maschine benutzt wurde, deren Schrift vom Original abweichende Merkmale aufweist. Sind Zusatz und Originaltext mit der gleichen Maschine geschrieben, sind Abweichungen in bezug auf horizontale und vertikale Justierung zu finden. Ist die gleiche Maschine in erheblichem zeitlichem Abstand von der Niederschrift des Originals zur Fertigung des Zusatzes benutzt, können Farbband, Typenverschmutzungen und fortgeschrittene Typen- und Mechanismusdefekte aufschlußreiche Merkmale liefern. Die Rekonstruktion ausradierter Maschinenschriften ist dadurch begünstigt, daß die Form der Buchstaben und ihr Abstand voneinander bekannt sind. Sie sind deshalb auch bei verhältnismäßig dürftigen Fragmenten, die zum Erkennen eines handschriftlichen Textes nicht ausreichen, noch zu rekonstruieren. Besonderheiten bei der Beurteilung der Kreuzungen von Maschinenschrift und Strichzügen, die von anderen Schreibgeräten herrühren, ergeben sich daraus, daß die Type auf dem Papier nicht nur einen Abdruck herstellt, sondern auch mehr oder weniger stark zum Bindruck kommt. Von den Verfahren, die zur Vervielfältigung von Maschinenschriften dienen, seien nur solche erwähnt, die im Bürobetrieb häufig angewendet werden und keinen besonderen Aufwand verlangen. Das Durchschreibverfahren ist oben bereits erwähnt. Zur Herstellung kleinerer Auflagen eignet sich das Hektographieren. Eine mit Kopierfarbband geschriebene Vorlage wird auf eine feucht gehaltene Leimschicht übertragen und von dieser wieder auf ein saugfähiges Papier gedruckt. Beim Omnigverfahren wird ein gut ge-

leimtes Papier, dessen Rückseite ein Farbpapier anliegt, beschrieben. Das auf der Rückseite spiegelbildlich in Erscheinung tretende Schriftbild kann auf mit einem Lösungsmittel befeuchteten Papier abgedruckt werden. Dieses Verfahren wird auch bei Handadressiergeräten benutzt. Das Schablonenverfahren findet häufig zur Vervielfältigung längerer Texte und für größere Auflagen Verwendung. Auf der Maschine wird, nachdem das Farbband ausgeschaltet ist, ein mit Wachs beschichtetes Papier beschrieben. Der Typenschlag nimmt das Wachs von dem Papier fort, das dadurch an diesen Stellen farbdurchlässig wird. Das über eine Platte oder eine Trommel gespannte Papier läßt von der Rückseite her Farbe passieren, die auf das angelegte Papier übertragen wird. Die Identifizierung der zur Vervielfältigung benutzten Geräte anhand der darauf gefertigten Schriften gelingt nur in Ausnahmefällen. Allen vervielfältigten Maschinenschriften ist gemeinsam, daß sie die Originalschrift nur verändert wiedergeben. Die Schreibmaschine zu identifizieren, auf welcher die Schablone oder was sonst als „Druckstock" diente, geschrieben wurde, ist deshalb nur dann möglich, wenn die Maschine solche Merkmale aufweist, welche durch das Vervielfältigungsverfahren nicht kaschiert werden. h) D r u c k s c h r i f t e n werden weniger verfälscht als gefälscht. Verfälschungen sind verhältnismäßig leicht zu erkennen. Auch Totalfälschungen von Banknoten und Wertpapieren entgehen dem kundigen Auge nicht und sind auch mit Sicherheit als solche festzustellen. Weitaus schwieriger kann es sein, Fälschungen einfacher Drucksachen nachzuweisen. Hier ist eine minutiöse Untersuchung unter Einbeziehung eines möglichst umfangreichen Vergleichsmaterials erforderlich. Zur Fahndung nach dem Hersteller müssen das angewandte Druckverfahren, die Satztechnik und die benutzten Schriftarten bestimmt werden. Über den Hersteller und Lieferanten der Schriften kann man zur Druckerei gelangen. Lieferanten und Bezieher von Zierschriften sind leichter zu ermitteln als die von häufig verwendeten Brotschriften. Handelt es sich um Schriften, die für einen Druckmaschinenhersteller urheberrechtlich geschützt sind, ist ein brauchbarer Fahndungshinweis gegeben. Bei Durchsuchungen verdächtiger Druckereien ist nach den festgestellten Schriftarten, nach kompletten Sätzen und beliebigen Druckerzeugnissen zu suchen, für die gleiche Schriftarten verwendet wurden. Sie bieten bei der vergleichenden Untersuchung, die insbesondere auf Typenfehler abgestellt ist, ein gutes Material. Im Satz verwendete Klischees können zur Überführung des Druckes einen wichtigen Beitrag liefern, da sie in der Regel mehr besondere Merkmale aufweisen als der Schriftsatz. Die vergleichende Untersuchung des Papiers und

Kriminaltechnik der Druckfarben erfolgt nach den oben beschriebenen Methoden. Eine besondere Art der Druckfälschungen stellen die Banknotenfälschungen ( G e l d f ä l s c h u n g ) und die Fälschungen bzw. Verfälschungen von Briefmarken und anderen Wertmarken dar. Briefmarken werden nur selten gefälscht, um die Post zu schädigen. In der Regel kommen die Fälschungen als Sammlungsobjekte in den Verkehr. Totalfälschungen wertvoller Marken sind weniger häufig als das Verfälschen echter Marken. Die Untersuchung dubioser Briefmarken liegt zwar gewöhnlich in den Händen von Sachkennern aus Händler- und Sammlerkreisen, sie kann aber letzten Endes, insbesondere bei gut gelungenen Fälschungen, der Anwendung kriminaltechnischer Methoden nicht entraten. i) Die Untersuchung von B r i e f u m s c h l ä g e n zum Beweise der Öffnung und des erneuten Verschlusses erstreckt sich einmal auf die Spuren des zur Öffnung benutzten Mittels, zum anderen auf den zum zweiten Verschluß benutzten Klebstoff. Der Umschlag wird gewöhnlich durch Lösen der Verklebung der Mundklappe geöffnet, und zwar entweder mechanisch oder durch Lösen des Klebstoffes. Die Mundklappengummierung der üblichen Briefumschläge ist wasserlöslich. Bei selbstklebenden Umschlägen besteht die Klebeleiste der Ober- und Unterklappe aus Latex (Gummimilch). Latex ist nicht in Wasser, aber in organischen Lösungsmitteln löslich. Durch Einwirkung von Wärme wird seine Klebefähigkeit herabgesetzt und schließlich völlig zerstört. Umschläge werden auch säuberlich im Falz der Unterklappe oder einer Seitenklappe aufgetrennt. Zum erneuten Verschluß dienen entweder die Reste des Originalklebstoffauftrags oder ein zusätzlich aufgebrachter Klebstoff. Soweit sich der Angriff auf die Verklebung der Mundklappe richtete, können Öffnung und erneuter Verschluß nur durch Spuren, welche bei der Öffnung entstehen, schlüssig bewiesen werden. Ein zweiter Klebstoff wird nicht selten schon beim Verschluß durch den Absender aufgetragen. Die Untersuchung auf Spuren der Öffnung umfaßt eine sorgfältige Überprüfung der Außenseite des Umschlags auch im UV-Licht, bei der schon Veränderungen des Papiers, welche durch die Anwendung eines Lösungsmittels verursacht wurden, Einrisse, Klebstoffverschmierungen und -austritte am Rande der Mundklappe, Fingerspuren in den Verschmierungen, Verklebungen der Mundklappe bis zum Falz, die mit der bei der Fertigung aufgetragenen Gummierung in der Regel nicht möglich sind, und andere Anzeichen beobachtet werden können. Nach Lösen der Verklebungen mit geeigneten Mitteln, welche in Zweifelsfällen durch eine Tüpfelanalyse festzustellen sind, ist im Bereich der Klebeleisten nach Papierabspaltungen und zusätzlichem Klebstoff-

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auftrag zu suchen. Zum mechanischen Öffnen („Aufrollen") benutzte Blei-, Färb- oder Kopierstifte hinterlassen häufig charakteristische Graphit- oder Farbspuren auf der Innenseite des Umschlags. Die Untersuchung des zusätzlichen Klebstoffauftrages und der gelegentlich darin enthaltenen Einschlüsse (Borstenbruchstücke vom Pinsel u. a.), die Überprüfung auf der Rückseite angebrachter Stempelabdrücke des Zustellpostamtes, welche über den Rand der Mundklappe hinweggehen, in bezug auf die Lage der durch den Klappenrand getrennten Teile zueinander und in bezug auf die der etwa vorhandenen Klebstoffaustritte tragen zur Einengung des Täterkreises bei. j) Zu den Aufgabengebieten der Urkundenuntersuchung zählt auch die v o r b e u g e n d e Ü b e r p r ü f u n g v o n V o r d r u c k e n für Pässe und sonstige Urkunden auf die Wirksamkeit der gegen Fälschungen getroffenen Sicherheitsvorkehrungen und die Prüfung von Schreibmitteln auf Urkundenechtheit. Auch die Losbriefe für Sachwertlotterien mit sofortigem Gewinnentscheid sollten nach den in der Nachkriegszeit gemachten Erfahrungen erst dann für den Vertrieb zugelassen werden, nachdem sie kriminaltechnisch überprüft sind. Monographien J. K u r l b a u m : Altersbestimmung von Eisengallustinten. Leipzig, Med. Diss. 1943. S e h n e e b e r g e r : Die Schriftexpertise in der Gerichts- und Anwaltspraxis. 1944. R. B e h r e n s : Papiere unter der Lupe. Papierprüfungen. 2. Aufl. 1952. K. F r a n k : Taschenbuch der Papierprüfung. 1952. It. K o r n u. F. B u r g s t a l l e r : Handbuch der Werkstoffprüfung. Bd. IV. Papier- und Zellstoffprüfung. 2. Aufl. 1953. H. F i e b i g e r : Papier-, Zellstoff- und Holzschliffprüfung. 1954. W. R. H a r r i s o n : Suspect Documents. Their scientific examination. 1958. O. S c h l i s s k e : Die verräterische Tinte. Kriminalisten auf den Spuren Luthers. 1958. W. W o l f : 600 falsche Stempel. Hrsg. Arbeitsgemeinschaft „Neues Handbuch der Briefmarkenkunde". 1961. Zeitschriftenaufsätze M e z g e r , R a i l u. H e e s s : Ein neues Verfahren, Identität und Alter von Tintenschriften festzustellen. ArcliKrim. 92 (1933) S. 107. W. H e e s s : Ein neues Verfahren, Identität und Alter von Tintenschriften festzustellen. 2. Mitteilung. Sulfatbilder als Mittel zur Bestimmung des relativen Schriftalters. ArchKrlm. 96 (1935) S. 13. H. L a n g e n b r u c h : Die unsichtbare Fluoreszenz bei der Urkundenprüfung. ArchKrim. 108 (1941) S. 105. H. L a n g e n b r u c h : Ein neues Verfahren zur Wiederlesbarmachung verbrannter Tintenschriften. ArchKrim. 114 (1944) S. 1 u. 99. H. L a n g e n b r u c h : Die Bedeutung der Strukturenuntersuchung von Schreibflächen bei der Urkundenprüfung. ArchKrim. 114 (1944) S. 111. R. M a l l y : Die Altersbestimmung von Maschinenschriften. Krim. II (1948) S. 34. G. B o h n e : Sichtbarmachung überlagerter Stempel und Schriften. Krim. 3 (1949) S. 10.

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Kriminaltechnik

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8.

Geheimschriften

a) Das Bedürfnis, schriftliche Mitteilungen und Aufzeichnungen in einer Form zu machen, die es nur dem Eingeweihten erlaubt, vom Inhalt Kenntnis zu erlangen, oder es nur ihm gestattet, sie überhaupt wahrzunehmen, besteht auf verschiedenen Lebensgebieten. Die Verbrecher und ihr Anhang, also die Personengruppe, die hier besonders interessiert, können Geheimschriften bei offen sichtbar angebrachten Hinweisen für bestimmte Personen oder für einen mehr oder weniger fest umrissenen Personenkreis, bei persönlichen Aufzeichnungen und für geheimzuhaltende schriftliche Mitteilungen, vor allem im internen Verkehr unter Gefangenen und im Verkehr zwischen Gefangenen und der Außenwelt, benutzen. b) Die offen angebrachten Hinweise und Warnzeichen, die graphischen Z i n k e n , waren früher unter den Mitgliedern der Gaunerbanden, unter Bettlern und Zigeunern sehr gebräuchlich.

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Sie bestanden einmal aus zeichnerisch leicht zu gestaltenden Erkennungsmarken bestimmter Personen, Richtungsweisern und anderen Kennzeichnungen einfachster Art, zum andern aber auch aus Bilderschriften, die mehr oder weniger stilisiert wurden. Sie waren nur zu Mitteilungen konkreten Inhalts eingeschränkt geeignet. Derartige Zinken spielen heute kaum noch eine Rolle, gelegentliche Hinweise auf das Vorhandensein von Bettlerzinken müssen mit aller Vorsicht aufgenommen werden. c) Bei den Geheimschriften, mit denen Texte beliebigen Gedankeninhalts aufgezeichnet werden können, ist nach der angewandten Technik zwischen zwei Verfahren zu unterscheiden, und zwar zwischen dem C h i f f r i e r e n und dem Verschleiern oder Tarnen von Schriften. Beim Chiffrieren wird der Klartext mit Hilfe eines Schlüssels in den Geheimtext umgesetzt, beim Verschleiern wird der Text auf dem Nachrichtenträger in einer Weise niedergelegt, daß dem unbefangenen oder unaufmerksamen Betrachter die Geheimschrift nicht auffällt. Beide Methoden können miteinander kombiniert werden. Die Chiffriermethoden sind in drei große Gruppen einzuteilen: Ersetzungsverfahren, Codeoder Wortverfahren und Versetzungsverfahren. Beim Ersetzungsverfahren werden die Buchstaben, Ziffern und Zeichen des Klartextes durch andere Buchstaben, Ziffern oder Zeichen ersetzt. Beim Wortverfahren bestehen die Klarelemente überwiegend aus Silben, Worten und ganzen Sätzen. Sie sind mit den entsprechenden Geheimelementen in Form von Codes zusammengestellt. Da dieses Verfahren besonders im telegraphischen Verkehr neben der gewünschten Verheimlichung des übermittelten Textes auch wirtschaftliche Vorteile bietet, ist es die gebräuchlichste Art der kaufmännischen Geheimschrift. Wortcodes werden aber auch in Verbindung mit Klartext häufig im militärischen und polizeilichen Funksprechund Fernschreibverkehr benutzt. Wird die Reihenfolge der Klarelemente verändert, sind diese also gegeneinander versetzt, spricht man vom Versetzungsverfahren. Zum Verschlüsseln werden hierbei Hilfsmittel, wie Schablonen und Raster, benötigt. Alle Verfahren können mehr oder weniger hoch entwickelte Varianten aufweisen. Die Chiffriermethoden werden häufig kombiniert. Für das Verschlüsseln von Nachrichten im diplomatischen oder militärischen Dienst sind auch Chiffriermaschinen eingesetzt, die neben erhöhtem Widerstand gegen unbefugte Dechiffrierung auch den Vorteil bieten, daß Ver- und Entschlüsseln nur einen Bruchteil der Zeit in Anspruch nehmen, die sonst für diese Tätigkeit benötigt wird. Für den Kriminellen kommen naturgemäß nur solche Chiffrierverfahren in Betracht, deren Regeln leicht einzuprägen sind oder zu deren

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Kriminal technik

Gebrauch nur unauffällig mitzuführende Aufzeichnungen oder sonstige Hilfsmittel benötigt werden. Hierzu zählen vor allem einfache Ersetzungsverfahren, die in der heute in Verbrecherkreisen geübten Form durchweg schon bei den nichtdiplomatischen Geheimschriften im Mittelalter angewendet wurden. Es sind auch die, mit welchen Kinder und Jugendliche, einem Hang zur Geheimnistuerei nachgebend, ihre Aufzeichnungen und harmlosen Korrespondenzen verschlüsseln. Beim gebräuchlichsten Ersetzungsverfahren werden die Buchstaben des Klartextes gegen andere Buchstaben ausgetauscht. Es wird als „Cäsar" bezeichnet, geht aber nicht auf Cäsar zurück. Das Verfahren wurde schon vorher von Phöniziern, Juden und anderen Völkern des Orients benutzt. Die einfachste Form stellt eine Verschiebung des Geheimalphabets gegenüber dem Klaralphabet um eine bestimmte Zahl von Stellen dar, ζ. B. f für a, g für b, h für c usw. Sie wird „systematischer Cäsar" genannt. Ist es bei einem auf diese Weise verschlüsselten Text gelungen, einige Buchstaben des Klartextes auszumachen, kann er ohne besondere Mühe gelesen werden. Eine größere Sicherheit bietet der „unsystematische Cäsar", bei dem die Buchstaben scheinbar regellos ersetzt sind. Im Grunde aber folgt man einer nicht oder nur schwer erkennbaren Regel, ζ. B. einer arithmetischen Reihe oder einem Schlüsselwort, das mnemotechnisch vorteilhaft ist. Die Buchstaben des Klartextes werden auch durch die fremder Alphabete oder durch Zahlen ersetzt, wobei der Austausch nicht im Sinne der Buchstaben- oder Ziffernfolge vor sich zu gehen braucht. Hier können Klarelemente und Geheimelemente auch durch Anwendung des systematischen oder unsystematischen Cäsars zueinander in Beziehung gebracht werden. Weiter ist das Klaralphabet durch ein willkürliches Zeichenalphabet zu ersetzen. Dieses kann aus einem normalen Alphabet entwickelt, frei gestaltet oder nach einem bestimmten Schema entwickelt sein. Zu der letztgenannten Methode gehören unter anderem das Morsealphabet und das Kreuzalphabet, bei dem die Buchstaben des Alphabets in ein Doppelkreuz und ein Andreaskreuz eingetragen werden. Bei allen genannten Ersetzungsverfahren können häufiger vorkommende Buchstaben durch zwei oder mehr Geheimelemente wiedergegeben werden, der Klartext kann auch phonetisch oder unter Auslassung aller oder der meisten Vokale geschrieben und dann verschlüsselt sein. Das Wort- oder Codeverfahren spielt bei Mitteilungen zwischen Gefängnisinsassen oder zwischen ihnen und der Außenwelt eine gewisse Rolle. Bestimmte Ausdrücke des Familien-, Berufsoder Verbrecher] argons werden in einer Weise verwendet, die nur dem Eingeweihten die wahre

Bedeutung der Mitteilung erkennen läßt. Das Versetzungsverfahren hat für den Gebrauch unter Kriminellen geringe Bedeutung, da es nur in seinen einfachsten Formen ohne Hilfsmittel angewendet werden kann. In Geheimschrift gehaltene Texte, die der Kriminaltechniker zu entziffern hat, sind häufig nur geringen Umfangs. Kurze Notizen in Taschenkalendern, unter der Briefmarke einer harmlosen Postkarte verborgene Aufzeichnungen, möglichst unauffällig in einen unverfänglichen Klartext eingefügte chiffrierte Worte, knappe, nur aus ein, zwei Sätzen bestehende Mitteilungen stellen das Material dar. Hier verfängt das Verfahren, das man sonst zur Dechiffrierung eines im Ersetzungsverfahren verschlüsselten Textes anwendet, nämlich über die prozentuale Verteilung der Elemente des Geheimtextes deren Bedeutung auszumachen, nicht. Wenn nicht ein systematischer Cäsar oder das Kreuzalphabet in seiner einfachsten Form verwendet wurde, kann nur eine genaue Kenntnis der bis dahin vorliegenden Ermittlungsergebnisse weiterhelfen. An ihnen können sich die Entzifferungsversuche orientieren, an ihnen kann sich die Phantasie des Dechiffreurs entzünden, sie können den entscheidenden Hinweis für die Lösung des Kryptogramms geben. Bei kurzen Texten besteht immer — insbesondere dann, wenn Zusammenhänge zu irgendwelchen Aktionen oder Ereignissen nicht hervortreten — die Gefahr, daß sie falsch gedeutet werden. d) Die h e i m l i c h e s c h r i f t l i c h e M i t t e i l u n g unter, gegenüber oder von Gefangenen, der Kassiber, wird auf die verschiedenste Art und Weise vom Absender zum Empfänger befördert. Daß jede abgefangene Mitteilung genauestens überprüft und der chiffrierte Text Gegenstand intensiver Entzifferungsversuche sein wird, weiß jeder an solcher Korrespondenz Beteiligte. Er wird deshalb viel mehr Gewicht darauf legen, den Kassiber unauffällig zu befördern, als eine komplizierte Chiffrierung anzuwenden. Der gängigste Weg, eine Entdeckung des Schriftwechsels zu vermeiden und der Gefahr, die das Abfangen eines Kassibers mit sich bringt, zu begegnen, ist die Anwendung eines Verschleierungsverfahrens. Dieses Verfahren zielt darauf ab, die zu übermittelnde schriftliche Nachricht dritten Personen gegenüber nicht als solche in Erscheinung treten zu lassen. Dabei kann die Form der Tarnschrift oder die der latenten Geheimschrift gewählt werden. Bei der Tarnschrift werden Buchstaben und Zahlen eines offenen geschriebenen oder gedruckten Textes besonders gekennzeichnet, ζ. B. durch Punkte oder feine Nadelstiche. Sie ergeben dann, in der richtigen Reihenfolge gelesen, die geheime Nachricht. Auf die gleiche Weise ist es auch möglich, einen vorher chiffrierten Text zu übermitteln. Das Morsealphabet ist besonders gut für eine getarnte Aufzeichnung geeignet.

Kriminaltechnik — Kriminologie (Grundlagen) Unter den zahlreichen Möglichkeiten, latente Geheimschriften mit Hilfe sogenannter sympathetischer Tinten, photographischer Verfahren oder anderen Hilfsmitteln zu produzieren, sind hier nur die zu erörtern, welche für den Verkehr unter Verbrechern besonders geeignet sind. Als Schreibmittel für Nachrichten an den Häftling kommen also nur solche Flüssigkeiten in Frage, deren Spuren mit einfachen Mitteln, ζ. B. durch Einstauben, Erwärmen oder Befeuchten mit Wasser, sichtbar gemacht werden können. Dem Häftling stehen als sympathetische Tinte meist nur Urin, Speichel, Milch, Zuckerwasser und vielleicht wäßrige Lösungen von Arzneimitteln zur Verfügung. Diese wäßrigen sympathetischen Tinten verraten sich häufig dadurch, daß sie den Oberflächenglanz des Papiers verändern. Bei Verdacht auf Verwendung sympathetischer Tinten sollte deshalb zumindest eine optische Prüfung bei wechselnd einfallendem Licht vorgenommen werden. Eine weitere allgemein bekannte Prüfmethode ist das Bestrahlen mit UV-Licht, das eine Reihe von sympathetischen Tinten, insbesondere solche, die aus Körperflüssigkeiten oder Säften bestehen, zur Fluoreszenz anregt. Franzheim schlägt für eine einfach zu handhabende Strichprüfung die Mosersche Lösung vor. Unter den Verfahren, mit denen eine latente Geheimschrift auf photographischem Wege oder auf einem Lichtbild hergestellt werden kann, ist das Schreiben mit einer l%igen Lösung von 40%igem Formaldehyd auf der Gelatineschicht einer Photographie das einfachste. Die Schrift erscheint vertieft, wenn man die Photographie in Wasser taucht. Photochemische Verfahren, bei denen ein latentes Bild der zu übermittelnden Schrift erzeugt wird, das nur mit Hilfe eines besonderen Entwicklungsprozesses sichtbar gemacht werden kann, die extreme photographische Verkleinerung eines Textes, das Mikrat, spielen wie die Benutzung besonderer sympathetischer Tinten oder zweckentsprechend präparierter Papiere für die Herstellung latenter Schriften, vor allem im Bereich der Nachrichtendienste, kaum aber bei der Bekämpfung und Aufklärung gemeiner Verbrechen, eine Rolle. A. S. A. B.

Monographien F i g l : Systeme des Chiffrierens. 1926. T ü r k e i : Kryptographische Parerga. 1929. L. P h i l i p p . Die Geheimschrift. Neue Ausgabe. 1950. B i s c h o f f : Übersicht über die nichtdiplomatischen Geheimschriften des Mittelalters. 1954.

Zeitschriftenaufsätze A n o n y m : Unsichtbare Geheimschriften. Polizei-Rundschau. 2 (1948) S. 48. E n i g m a t i c u s : Einführung in die Geheimschriftkunde. Krim. 4 (1950) 8. 279. S. B e r a n e k : Die Geheimschrift des Heiratsschwindlers. Polizei-Praxis. 8 (1954) S. 251.

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A. C u e l e n a e r e : Zur geheimen Nachrichtenübermittlung durch photographische Verfahren. RIPC. 11 (1956) S. 284. L. F r a n z h e i m : Tarn- und Geheimschriften. ArchKrim. 120 (1957) S. 40. D e r s . : Tarn- und Geheimschriften. Taschenbuch für Kriminalisten. X (1960) S. 226. HANS-HEINRICH H U E L K E

KRIMINOLOGIE (GRUNDLAGEN) I. TERMINOLOGIE UND BEGRIFFSBESTIMMUNG A. Die verwendete Terminologie Das Wort Kriminologie (zusammengesetzt aus: lateinisch .crimen' und griechisch .logos') ist nach Bonger zuerst von dem französischen Anthropologen P. Topinard (1879) gebraucht worden. Andere nennen Garofalo als den Urheber; sein 1885 in Italien publiziertes Werk trägt den Titel „Criminologica". Seitdem ist das Wort in verschiedenen Bedeutungen verwendet worden, die sich hauptsächlich durch die Anzahl der Gegenstände, die zu dem Begriff gerechnet werden, voneinander unterscheiden. Es scheint aber doch Einigkeit darüber zu herrschen, daß die Kriminologie die Kriminalätiologie, d. h. die Lehre von den Ursachen oder die Lehre von den Kriminalitätsfaktoren, und deren notwendige Voraussetzung, die Phänomenlehre oder Kriminographie, umfaßt. Selbst diesen relativ engen Begriff der Kriminologie darf man jedoch in einer etwas weiteren Bedeutung als oben angedeutet auslegen: Zur Kriminologie muß man auch die empirische Erforschung der Wirkung verschiedener Sanktions- und Behandlungsformen hinzurechnen, soweit sie direkt oder indirekt die Kriminalitätsfaktoren beleuchten. Das wird meistens der Fall sein. Dasselbe gilt für die Prognoseforschung, die soziologischen oder sozialpsychologischen Untersuchungen der Gefangenengemeinschaft, die -> Viktimolögie und andere Gebiete. Einige Autoren wollen innerhalb dieses Umfanges die Kriminologie auf einen oder mehrere der unten (Abschnitt II. C. D.) genannten Gesichtspunkte beschränken, meistens auf den soziologischen oder biologisch-psychologischen. Auf der anderen Seite scheint es klar zu sein, daß man bei dem gegebenen Ausgangspunkt normative Disziplinen, wie ζ. B. einen Teil der -> Kriminalpolitik, aus dem Gebiet der Kriminologie ausschließen muß. Nicht so selten wird jedoch der Begriff Kriminologie in einer wesentlich weiteren Bedeutung angewendet, so daß sie außer der Lehre von den Kriminalitätsfaktoren auch die normative Kriminalpolitik u m f a ß t : die Lehre von der Vorbeugung gegen die Kriminalität und von der Behandlung der Gesetzesübertreter auch dort noch, wo diese Disziplinen sich — u. a., weil unser Wissen begrenzt ist —

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über die Erfahrungen hinaus zu Spekulationen erheben. Dies trifft ζ. B. für die meisten amerikanischen Handbücher, die den Titel „Criminology" führen, zu: Ein großer Teil, manchmal der Hauptteil ihres Inhalts, betrifft die Kriminalitätsbekämpfung (Kriminalitätsprophylaxe und Pönologie). Für einige Verfasser scheint die Kriminologie schlechthin n u r als angewandte Wissenschaft zu existieren. Wird der Begriff in einer anderen Richtung erweitert, können auch Wissenschaften wie Rechtspsychiatrie und Kriminalistik zur Kriminologie gerechnet werden. Damit hat man zur Kriminologie eine Reihe von Spezialgebieten hinzugenommen, die besondere Bedeutung für die Arbeit der -> Kriminalpolizei und für die Strafrechtspflege haben: die Nachforschungslehre oder Polizeiwissenschaft (police science) mit der Kriminaltaktik und einer heutzutage hoch entwickelten Technik als Hauptgebiet, ferner mit der Psychologie des Strafverfahrens, der Aussage- und Vernehmungspsychologie, der Gerichtsmedizin u. a. m. Zählt man außerdem das Kriminalrecht zur Kriminologie, hat man unter demselben Oberbegriff eine höchst heterogene Gruppe von Wissenschaften, wissenschaftlichen Disziplinen, praktischen Spezialgebieten und mehr oder weniger spekulativ begründeten normativen Systemen zusammengefaßt, die kaum durch mehr als ein gemeinsames Merkmal, den Gegenstand im weitesten Sinne, definiert werden können und die auf jeden Fall in bezug auf Problemstellung und Methode sehr verschieden voneinander sind. Es gibt heute wohl kaum jemand, der das Gebiet der Kriminologie in diesem Sinne abgrenzen möchte. Als Sammelbezeichnung für die verschieden gearteten Arbeitsfelder kann man treffend den Ausdruck Kriminalwissenschaft gebrauchen im Sinne von Franz von Liszts „gesamter Strafrechtswissenschaft", die heute wohl noch treffender als ,die g e s a m t e K r i m i n a l w i s s e n s c h a f t ' bezeichnet werden könnte. Einzelne Forscher wollen die Rechtssoziologie zu einem selbständigen Gebiet innerhalb der Kriminologie machen, andere betrachten die Gesichtspunkte der Rechtssoziologie als ein notwendiges theoretisches Fundament für das Verständnis des Kriminalitätsbegriffes. Auf jeden Fall zählt die Rechtssoziologie unter die nächsten Grenzgebiete der Kriminologie, und rechtssoziologische Problemstellungen haben befruchtend auf die Behandlung einiger zentraler Probleme der Kriminologie gewirkt. Wir werden im zweiten Teil dieses Abschnittes (I. B.) versuchen, eine vorläufige Bestimmung des Begriffes Kriminologie zu geben, eine Bestimmung, die weder so eng ist, daß sie Gebiete ausschließt, die traditionell im Hauptteil der kriminologischen Lehr- und Handbücher behandelt werden, noch so weit, daß sich der Inhalt des Begriffes voll-

ständig verflüchtigt. Im folgenden Hauptabschnitt (II.) wird eine kurze Übersicht über die Geschichte der Kriminologie gegeben. Danach wird die Frage eines kriminologisch relevanten Kriminalitätsbegriffes diskutiert (III.) und das Verhältnis zu einigen der angrenzenden Wissenschaften behandelt (IV.—V.). Abschließend werden auch einige der wichtigsten Methodenprobleme der Kriminologie erörtert (VI.). B. Was ist Kriminologie 1 Kriminologie ist eine Sammelbezeichnung für die empirischen Wissenschaften, die zum Ziel haben, die Kriminalität zu beschreiben und die Kriminalitätsfaktoren zu erforschen. Auch wenn im folgenden der Ausdruck ,die Kriminologie' gebraucht wird, wird im Auge behalten, daß es sich um eine M e h r z a h l von Wissenschaften handelt. An diese vorläufige Bestimmung des Begriffes Kriminologie, der nicht als völlig eindeutige Definition aufgefaßt werden darf, sollen einige — gleichfalls vorläufige ·— Kommentare angeschlossen werden: 1. Der Begriff Kriminologie ist eine Sammelbezeichnung für mehrere verschiedene empirische Wissenschaften, die wohl die Empirie als Ausgangspunkt und allgemeine empirische Gesichtspunkte der Methodik als ihre gemeinsame Grundlage haben, sich aber in bezug auf Problemstellung und Forschungstechnik voneinander unterscheiden. Sellin hat deshalb mit einem gewissen Recht gesagt, daß Kriminologie als Wissenschaft nicht existiert; Kriminologen sind Könige ohne Königreich. Es muß hinzugefügt werden, daß die Kriminologie hierin einer Reihe anderer Wissenschaften gleicht. (Über das Verhältnis der Kriminologie zu verwandten empirischen Wissenschaften siehe Abschnitt IV.) 2. Im Laufe der Zeit sind mehrere Versuche unternommen worden, einen autonomen Kriminalitätsbegriff für die Kriminologie (Garofalo, Lombroso u. a.) aufzustellen, um auf diesem Weg zu erreichen, die Kriminologie von den anderen Kriminalwissenschaften abzugrenzen. Keiner dieser Versuche hat zu dem gewünschten Ergebnis geführt. Die Kriminologie muß notwendigerweise mit den Handlungen verbunden werden, die nach dem gültigen Recht als kriminell gelten, selbst wenn deren theoretischer Ausgangspunkt nach einem weiter abgegrenzten Normenbegriff (Sellin u. a.) festgestellt wird (Näheres hierüber siehe Abschnitt III.). 3. Die Fragen bezüglich der Bekämpfung der Kriminalität werden im allgemeinen nicht als kriminologische Probleme betrachtet. In diesem Artikel wird dem europäischen Sprachgebrauch (Exner, Radzinowicz, Hurwitz u. a.) gefolgt, und die Lehre von der Vorbeugung gegen die Kriminalität und von der Behandlung von Gesetzes-

Kriminologie (Grundlagen) Übertretern wird als (theoretische) - > Kriminalpohtik und deren Anwendung als kriminalpolitische Praxis bezeichnet. Die Verbindungslinien zwischen Kriminologie und Kriminalpolitik sind jedoch vielseitig und wichtig. Einige von ihnen sollen genannt werden. Da der Kriminalitätsbegriff, wie gesagt, nur nach den in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit als kriminell geltenden Handlungen definiert werden kann, wird die Kriminalität bereits bei der Bestimmung des Umfanges seines Gegenstandes vom Strafgesetz abhängig und mit dem Kriminalrecht verbunden (Abschnitt III. B. und V. D. 1). Auf der anderen Seite können die Ergebnisse der Kriminologie zur Formulierung bestimmter strafrechtlicher Regeln und zur Ausformung einer zweckmäßigen Kriminalpolitik beitragen (siehe Abschnitt V.). In das Gebiet der Kriminologie fällt dagegen der Teil der Kriminalwissenschaft, der auf empirischem Wege die Wirkungsweise und Effektivität der verschiedenen kriminalpolitischen Veranstaltungen zu erforschen versucht. Prognoseforschung an verschiedenen Gruppen von Gesetzesübertretern, definiert durch eine bestimmte Sanktionsform oder durch eine Therapie, Studien über die Gefangenengemeinschaft und die selten vorkommenden Behandlungsexperimente sind Gebiete, die — abgesehen von ihrem kriminalpolitischen Wert — von größtem Interesse für die Kriminologen sind, weil sie dazu beitragen können, die Faktoren aufzuklären, die für die Entwicklung der kriminellen Laufbahn Bedeutung haben. 4. Die Kriminologie ist e i n e unter den Kriminalwissenschaften. Von diesen unterscheidet sie sich durch den Standpunkt, den sie der Kriminalität gegenüber einnimmt; die Kriminologie wird durch ihre typischen Problemstellungen als Wissenschaft charakterisiert. Während ein Teil der Kriminalpolitik leicht erkennbare normative Elemente enthält und das Kriminalrecht als Wissenschaft von dem strafrechtlichen Normensystem aufgefaßt werden kann, beschäftigt sich die Kriminologie, ausgehend von beschreibenden und theoretischen Gesichtspunkten, mit der tatsächlich vorkommenden Kriminalität. Die kriminalrechtlichen Regeln und die kriminalpolitische Praxis sind unlöslich an die ethischen Vorstellungen davon gebunden, was sein soll (oder nicht sein soll). Hier wird beurteilt, dort verurteilt. Der Kriminologe will beobachten, analysieren, erklären und verstehen. Selbst wenn er auch — genau wie der Ankläger, der Verteidiger und der Richter — den Stoff, an dem er arbeitet, emotional auf sich einwirken lassen kann, so muß seine Haltung doch durch die Nüchternheit und Sachlichkeit geprägt sein, mit der Spinoza die menschlichen Leidenschaften und Gefühle beobachten würde. (Über das Verhältnis der Kriminologie zu Kriminalrecht und -politik siehe Abschnitt V.)

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5. Die Aufgabe der Kriminologie ist es, die Kriminalität zu beschreiben und ihre Faktoren zu erforschen. Einige der wichtigsten Gebiete aus dem Bereich der Kriminologie sind demnach: a) die Kriminographie, die auf Grund von Beobachtungen kriminelle Handlungen und kriminelle Personen beschreibt, analysiert und klassifiziert ; b) die —> Kriminalsoziologie, die sich mit Kriminalitätsfaktoren beschäftigt, die auf das Milieu zurückgeführt werden können, in dem Kriminalit ä t vorkommt; c) die -> Kriminalbiologie und Kriminalpsychologie, die Kriminalitätsfaktoren untersuchen, die auf den Organismus oder die Persönlichkeit des Gesetzesübertreters zurückgeführt werden können; d) die kriminologische Vererbungsforschung, in der die Frage nach der Bedeutung der Erbfaktoren das zentrale Problem ist und in der es oft dahin kommt, daß die Diskussion über die Frage „Erbe o d e r Milieu" einen zu hervorragenden Platz einnimmt; e) die Prognoseforschung, die versucht, Methoden zu finden, die eine Voraussage über Kriminalität oder — häufiger — über Rückfälligkeit ermöglichen; f) die - > Viktimologie, durch die man über Studien an den Opfern der Kriminalität eine Möglichkeit findet, indirekt bestimmte Kriminalitätsfaktoren zu erhellen, die bei einigen Verbrechen eine große Rolle spielen; g) soziologische und sozialpsychologische Untersuchungen der Gefangenengemeinschaft und des Reaktionssystems im weiteren Sinne, von denen das letztere zur Rechtssoziologie hinüberführt. 6. Die Kriminologie ist eine e m p i r i s c h e W i s s e n s c h a f t . Ein Teil der Probleme, die mit diesem Erkenntnisprozeß verknüpft sind, sind für alle empirischen Wissenschaften die gleichen; ein anderer Teil von ihnen erhält aber außerdem eine spezifisch kriminologische Bedeutung, ζ. B. einige der Probleme, welche die Beobachtung und Beschreibung krimineller Handlungen betreffen. Die generellen und spezifischen empirischen Methoden, die beim Studium einer kriminellen Handlung angewandt werden, sind übrigens von anderer Art als die Methoden eines Studiums, bei dem eine kriminelle Person das Objekt ist. Unter K r i m i n a l i t ä t s f a k t o r e n werden Faktoren verstanden, die in gesetzmäßigem Zusammenhang mit der Kriminalität als Ganzheit, mit bestimmten Formen oder mit bestimmten Seiten der Kriminalität auftreten. Das Wort ,Kriminalität' weist sowohl auf die kriminelle Handlung wie auf die kriminelle Person hin. Die Problemstellung und ihre theoretischen Implikationen verhalten sich gleichsam wie verschiedenartige Me-

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thoden, wenn sie Handlungen oder wenn sie Personen betreffen, die Gegenstand der Untersuchung sind. Der Ausdruck Kriminalitätsfaktoren wird dem Ausdruck Kriminalitätsursachen vorgezogen, teils aus erkenntnistheoretischen Gründen, teils, weil unser Wissen oft so begrenzt ist, daß es schwer sein kann, zwischen den verschiedenen möglichen „Ursachen" u n d deren verschiedenen möglichen „Wirkungen" zu unterscheiden. Das ist manchmal so schwierig, daß geradezu die Möglichkeit besteht, „Ursache" und „ W i r k u n g " zu verwechseln. Beispielsweise kann erst eine nähere Analyse erweisen, wie der gesetzmäßige Zusammenhang zwischen Personenstand und Kriminalität erklärt werden muß. Mit dem Begriff Kriminalitätsfaktoren vermeidet man, zu einem heiklen erkenntnistheoretischen Problem Stellung zu nehmen, indem man über eine bestimmte Art des Zusammenhanges nur aussagt, sie trete mit solcher Regelmäßigkeit auf, daß sie mit Wahrscheinlichkeit als gesetzmäßig bezeichnet werden kann (Näheres siehe Abschnitt VI). Π. GESCHICHTE DER KRIMINOLOGIE Als Einleitung zu dieser kurzen Übersicht über die Geschichte der Kriminologie muß unterstrichen werden, daß hier nicht die Geschichte der Straftheorien, der Strafsysteme oder überhaupt der theoretischen oder praktischen Kriminalpolitik, ebensowenig wie die historische Entwicklung der Kriminalität aufgezeigt werden soll. Die Aufgabe ist auf die Geschichte der K r i m i n o l o g i e beschränkt, und das bedeutet in erster Linie auf die Geschichte der kriminologischen Forschung. A. Die Präkriminologen Bonger charakterisiert eine Gruppe von Forschern (Philosophen, Theologen, Gesellschaftstheoretikern, Juristen, Ärzten u. a.) als Präkriminologen, weil m a n in ihren Schriften echte kriminologische Gesichtspunkte — wenn auch verstreut und manchmal anscheinend zufällig — klar ausgedrückt findet. Unter diesen ist der englische Humanist Thomas More (1478—1535) ein markantes Beispiel. Sein berühmtes Werk „Utopia" (1516) schildert einen Idealstaat auf dem Hintergrund der Verhältnisse im England jener Tage und enthält eine ganz detaillierte Behandlung kriminologischer und kriminalpolitischer Themen. Im ersten Teil des Buches betrachtet More die Kriminalität unter einem soziologischen Gesichtsp u n k t : Ihre Ursachen lägen in der Gesellschaft selbst. Er berichtet über die zahlreichen Verbrechen und über die Strenge der Strafgesetze zu jener Zeit. Trotz der harten Rechtspraxis nahm doch die Kriminalität ständig zu. Die eigentliche Ursache für das Anwachsen der Kriminalität lag in den ökonomischen und berufsmäßigen Verhältnissen. Die reichen Landherren hatten die Schaf-

zucht völlig an sich gerissen, weil die Wolle mit großem Verdienst nach Flandern exportiert werden konnte. Damit wurden zwei Berufsgruppen betroffen: die kleinen Landleute, die ihr Land an die reichen Aufkäufer verkauften, und die wenig bemittelten Tuchmacher, die sich keine Wolle mehr kaufen konnten. So entstand ein Mißverhältnis zwischen dem himmelschreienden Elend der großen Massen und dem demoralisierenden Luxus der Reichen. Ausgehend von diesen Erfahrungen und Annahmen, macht Thomas More Vorschläge für eine vorbeugende Kriminalpolitik. Er legt nicht im einzelnen Rechenschaft über die Gründe ab, auf die er seine Auffassung stützt. Vermutlich sind es gewöhnliche, alltägliche, unkontrollierbare — aber höchstwahrscheinlich solide — Erfahrungen mit der englischen Gesellschaft. Dasselbe gilt sicher auch für eine Reihe von weniger allgemeinen Betrachtungen über die sozialen Ursachen der Kriminalität bei Bernard de Mandeville (1670—1733). Einen ersten Ansatz zur Kriminalbiologie finden wir bei dem italienischen Arzt und Physiognomen Gambattista della Porta (1536—1615). Sellin geht so weit, daß er — wenn auch mit einer Andeutung von Zweifel — della Porta als „den ersten Kriminologen der Welt" bezeichnet. In „De Humane Physiognomica" (1586) berichtet della Porta über den Zusammenhang zwischen bestimmten körperlichen Merkmalen und entsprechenden seelischen Eigenschaften. Die empirische Grundlage für seine Forschung fand er in Neapels Gefängnissen, wo er lebende und hingerichtete Verbrecher studierte. Auch der französische Arzt J . 0 . de la Mettrie (1709—50) meinte, daß die psychischen Funktionen im Gehirn lokalisiert werden könnten; er wies auf den Einfluß toxischer Stoffe auf den Zustand des Gehirns und damit auf das Bewußtsein hin. Der Österreicher Franz Joseph Gall (1758 bis 1828) ist zusammen mit seinem engen Mitarbeiter Johann Christoph Spurzheim (1776—1832) als der Urheber der Phrenologie bekannt. Er war ein tüchtiger Gehirnanatom, der von der Hypothese ausging, daß es im Gehirn abgegrenzte „Organe" für die verschiedenen seelischen Funktionen gebe. Durch eine Untersuchung des Gehirns könne man feststellen, welche geistigen Fähigkeiten besonders entwickelt seien. Auf einer Gehirnkarte verzeichnete er 27 „Organe", die bestimmten seelischen Eigenschaften entsprächen; diesen fügten seine Schüler noch ein gutes Dutzend hinzu. Einige dieser „Organe" können mit einer Neigung für bestimmte Formen der Kriminalität in Zusammenhang gebracht werden und haben deshalb ein gewisses historisches Interesse: Mordtrieb, Sammel- oder Diebstahlstrieb, Gerissenheit, Geschlechtstrieb, Hochmut u. a.

Kriminologie (Grundlagen) Während Mores Gesichtspunkte diesen zum Vorläufer der eigentlichen Kriminalsoziologie werden ließen, machten die Hypothesen der Physiognomen und Phrenologen diese zu Vorläufern der Rechtspsychiatrie, Kriminalbiologie, Kriminalpsychologie- und -psychiatrie. Das letzte gilt noch ausgeprägter für einige der Ärzte, die am Beginn des vorigen Jahrhunderts wesentlich zur Entwicklung der Psychiatrie beitrugen, in erster Linie die Franzosen Philippe Pinel (1745— 1826) und Jean Esquirol (1772—1840) und der Engländer James C. Prichard (1786—1848). Bei Esquirol und bei dem in Europa zu jener Zeit wahrscheinlich unbekannten amerikanischen Arzt Benjamin Rush (1745—1813) finden wir zum erstenmal eine Krankheit, die Prichard unter dem Namen ,moral insanity' bekanntgemacht hat. Am Beginn und in der Mitte des 19. Jahrhunderts finden wir mehrere Ärzte, deren Beiträge zur Rechts- und Kriminalpsychiatrie entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der Kriminologie hatten. Dies gilt für die französischen Psychiater Benoit Augustin Morel (1809—73), Prosper Despine (1812—92) und für Poul Broca (1824—80), der 1859 die „Soci6t6 d'anthropologie de Paris" gründete. Am weitesten unter diesen Ärzten spannte der Engländer Henry Maudsley (1835—1918) den Bogen zur Kriminologie; obwohl in erster Linie Psychiater, gelang es ihm, eine Reihe zentraler kriminologischer Fragen zu behandeln oder zu ihnen Stellung zu nehmen. B. Soziologisch orientierte Kriminalstatistik Die Ansätze zu einer soziologischen Betrachtungsweise der Kriminalität, wie sie die Zeit bis 1800 prägten, kamen durch den belgischen Astronomen und Statistiker Adolphe Quetelet (1796—1874) zur vollen Entfaltung. Er wird mit Recht oft als Soziologe und auch als der Begründer der Kriminologie bezeichnet. 1828 legte er der Königl. Akademie in Brüssel einige seiner Resultate vor. Sie fanden in einem Buch, das er 1835 herausgab, ihren Niederschlag. Eine neue, erheblich erweiterte Ausgabe erschien 1869 unter dem Titel „Physique sociale ou Essai sur le diveloppement des facultas de l'homme". Quetelet hebt bereits in seiner ersten Arbeit auf Grund einer Statistik über Totschlagsdelikte in Frankreich in der Zeit von 1826—31 hervor: „In all dem, was Verbrechen betrifft, wiederholen sich die Zahlen mit einer solchen Regelmäßigkeit, daß es unmöglich ist, diese zu verkennen . . . Diese Regelmäßigkeit, mit der sich jährlich dieselben Verbrechen in derselben Reihenfolge wiederholen und dieselben Strafen in denselben Ausmaßen nach sich ziehen, ist eine der merkwürdigsten Tatsachen, die uns die Statistiken der Gerichte lehren; ich habe mich besonders darum bemüht, diese Regelmäßigkeit in meinen verschiedenen Schriften sichtbar zu machen; ich bin nicht müde geworden,

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jedes Jahr zu wiederholen: Es gibt einen Haushaltsposten, der mit erschreckender Gleichmäßigkeit gezahlt wird, das ist der für die Gefängnisse, für die Zuchthäuser und für die Hinrichtungen; und es müßte versucht werden, diesen vor allen Dingen zu vermindern.. . Traurige Lage der menschlichen Hoffnung I Wir können vorausberechnen, wieviele Individuen ihre Hände mit dem Blut ihrer Mitmenschen besudeln, wieviele zum Fälscher, wieviele zum Giftmischer werden; ungefähr so, wie man die Geburten und die Todesfälle vorausberechnen kann, die einander folgen müssen."... „Die Gesellschaft enthält in sich die Keime aller Verbrechen, die in Zukunft begangen werden. In gewisser Weise ist es die Gesellschaft, welche die Verbrechen vorbereitet, und der Schuldige ist nur das Instrument, das sie ausführt. Jeder soziale Staat setzt deshalb eine gewisse Zahl und eine gewisse Zusammensetzung von Verbrechen voraus, die sich als notwendige Folge aus seiner Organisation ergeben . . . " (Quetelet, 1869, Bd. I, S. 95 - 9 7 , vgl. auch Bd. II, S. 316—317). Quetelet sah voraus, daß eine Theorie, welche die Gesellschaft als „Ursache" für die Kriminalität betrachtet, zum Anlaß für Mißverständnisse werden könne. Er ist tatsächlich auch zum Fatalisten gestempelt worden, obwohl er selbst unterstrich, daß die Konsequenz seiner Auffassung die Möglichkeit wäre, die Menschen zu bessern, indem ihre Institutionen und Gewohnheiten, ihre Ausbildung und all das geändert würden, was außerdem auf ihre Lebensweise einwirke. Quetelets allgemeine Theorie über die Umstände, die zur Ursache der Kriminalität werden, war einer der ersten Versuche, Licht in den Zusammenhang zu bringen, der zwischen Individuum und Milieu besteht und zur Entstehung von Kriminalität führt. Er definierte den individuellen „Hang zur Kriminalität" (le penchant au crime) als die größere oder kleinere statistische Wahrscheinlichkeit, daß Menschen, die unter den gleichen äußeren Bedingungen stehen, Verbrechen begehen würden (Quetelet a. a. O., Bd. II, S. 249). Daß die äußeren Umstände die gleichen sein müßten, habe zwei Gründe: Sie sollten in gleich hohem Grade die Kriminalität begünstigen 1. durch das Vorhandensein von Objekten, die zur Kriminalität verleiten könnten, und 2. durch die Leichtigkeit, mit welcher der Gesetzesübertreter unter diesen Verhältnissen eine Gesetzesübertretung begehen könne. Quetelet beschrieb das Ansteigen der Eigentumsdelikte im Winter und den Höhepunkt der Verbrechen gegen Personen im Sommer. Er war auf die Tatsache aufmerksam geworden, daß die Kriminalität der Frauen nur den Bruchteil jener der Männer ausmachte und daß der höchste Stand der Kriminalität in die jüngeren Lebensjahre fiel. Er berichtete über die Unterschiede, die am Verlauf der Kriminalität der Männer und der Frauen

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und der verschiedenen Gesetzesübertretungen beobachtet werden konnten. Quetelet war jedoch dadurch behindert, daß seine Untersuchungen sich im allgemeinen über eine relativ kurze Zeit erstreckten. Er hatte keinen richtigen Blick für die dynamische Entwicklung der Kriminalität und hielt sich infolgedessen um so einseitiger an die Regelmäßigkeit, mit der sich die Zahlen wiederholten. Das Problem über das Verhältnis der offiziellen statistischen Daten zu der totalen (bekannten und unbekannten) Kriminalität veranlaßten Quetelet zu Überlegungen, die damit endeten, daß er feststellte, 1. wir könnten nichts Sicheres über den Umfang der totalen Kriminalität wissen, 2. es bestehe aber doch ein nahezu konstantes Verhältnis zwischen den angezeigten und abgeurteilten Gesetzesübertretungen einerseits und der unbekannten Anzahl sämtlicher begangener Gesetzesübertretungen andererseits. „Dieses Verhältnis ist notwendig, und, ich wiederhole es, wenn es dieses nicht tatsächlich gäbe, wäre alles, was bis heute auf Grund der statistischen Unterlagen über Verbrechen ausgesagt wurde, falsch und absurd" (Quetelet a. a. 0., Bd. II, S. 251, vgl. auch S. 329—330). Und dies schien ihm völlig undenkbar. Die in ihren Konsequenzen soziologisch orientierte Kriminalstatistik fand im vorigen Jahrhundert mehrere Verfechter. Zu den bekannteren gehören Quetelets Zeitgenossen, der Franzose AndrS-Michel Guerry (1802—66), für den die Kriminalstatistik in erster Linie ein Maß für die Höhe der Moral des Volkes wurde, und der Belgier Edouard DucpStiaux (1804—68), der in seinem Buch „Le paupirisme dans les Flandres" nachwies, daß die gewaltige Krise in Flandern der Jahre 1845—48 ein starkes Ansteigen der Kriminalität mit sich brachte (im Laufe von 3 Jahren 78°/0). Hierher gehören auch die sogenannte Moralstatistik mit Alexander von Oettingen (1827 bis 1905) und Georg von Mayr (1841—1925) als Vertreter; die Untersuchungen des letzteren über den Zusammenhang zwischen der Höhe des Kornpreises und der Anzahl der Diebstähle sind klassisch geworden. C. Biologische, psychiatrische und psychologische Forschung Der italienische Psychiater Cesare Lombroso (1836—1909) war eine zentrale Figur der Kriminalwissenschaft der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Er ist der Urheber der Lehre von einer besonderen, anatomisch definierten Verbrechertype, dem h o m o d e l i n q u e n s , und er, seine Schüler und Anhänger gründeten die Positive Schule. Seine allgemeine wissenschaftliche Grund anschauung war durch Geistesrichtungen bestimmt, die — nach Wolfgang — kurz mit fol-

genden Etiketten versehen werden kann: Darwins Entwicklungslehre, Comtes Positivismus und deutscher Materialismus und Determinismus (Wolfgang, 1960, S. 182). Lombrosos Interesse für Kriminalitätsprobleme begann nach seinem eigenen Bericht, als er als Militärarzt entdeckte, daß der „ehrenwerte" Soldat sich von seinem „lasterhaften" Kameraden dadurch unterscheide, daß ersterer in geringerem Grade mit obszönen Tätowierungen geschmückt sei. Eine größere Rolle spielte wohl, daß er 1870 bei der Obduktion eines berühmten Räubers und Mörders, der für seinen Zynismus und seine Brutalität berüchtigt war, eine anatomische Eigentümlichkeit am Schädel fand, die er als typisch für niedrigstehende Affen ansah. Über diesen und ähnliche Funde sagte er später selbst: „Das war nicht nur ein Gedanke, sondern eine Offenbarung. Beim Anblick dieser Hirnschale schien ich ganz plötzlich, erleuchtet wie eine unermeßliche Ebene unter einem flammenden Himmel, das Problem von der Natur des Verbrechers zu erkennen — ein atavistisches Wesen, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschheit und der niederen Tiere wieder hervorbringt. So wurden anatomisch verständlich: die enormen Kiefer, die hohen Backenknochen, die hervorstehenden Augenwülste, die einzelstehenden Handlinien, die extreme Größe der Augenhöhlen, die handförmigen oder anliegenden Ohren, die bei Verbrechern, Wilden und Affen gefunden werden, die Gefühllosigkeit gegen Schmerzen, die extrem hohe Sehschärfe, die Tätowierungen, die übermäßige Trägheit, die Vorliebe für Orgien und die unwiderstehliche Begierde nach dem Bösen um seiner selbst willen, das Verlangen, nicht nur das Leben in dem Opfer auszulöschen, sondern den Körper zu verstümmeln, sein Fleisch zu zerreißen und sein Blut zu trinken" (Cesare Lombroso, „Introduction" to Gina LombrosoFerrero, 1911, S. XIV—XVI). Lombrosos erste Theorien über den kriminellen Menschen wurden in den siebziger Jahren hervorgebracht. 1876 erschien sein Hauptwerk, das 252 Seiten starke Buch „L'uomo delinquente". In einer Fortsetzungsreihe neuer Ausgaben entwickelte er seine Ideen weiter. Die 5. Ausgabe (1897) ist ein dreibändiges Werk und hat 1903 Seiten. Psychologisch beschrieb Lombroso den Verbrecher als moralisch schwachsinnig, ohne Reue, Gewissen oder Mitleid, zynisch, verräterisch, eitel, impulsiv, begehrlich, grausam, faul usw. Wesentlich sei, daß den Verbrechern das Gefühl für die Leiden anderer fehle, „obwohl sie nicht ganz gefühllos sind". Lombroso nahm an, daß diese Gefühlskälte eine Folge der herabgesetzten Empfindlichkeit gegenüber Schmerzeinwirkungen sei. Dieser physiologischen Begründung folgte eines seiner zahlreichen anekdotischen Beispiele. Ein Mörder sagte: „Der Anblick eines Sterbenden . . . berührt mich kaum. Ich töte einen Menschen, wie ich ein Glas Wein

Kriminologie (Grundlagen) trinken würde." Auf dieser schwachen Grundlage kommt Lombroso ungefähr zu folgendem Schluß: Die vollkommene Gleichgültigkeit dem Opfer gegenüber sei ein konstanter Zug an dem geborenen Verbrecher, und dieses allein reiche schon aus, um den Verbrecher von dem normalen Menschen zu unterscheiden (Lombroso, 1895, Bd. I, S. 356). Lombroso war nicht nur Kliniker. Er war auch Theoretiker mit einer gewissen Neigung, sich in Spekulationen zu verlieren, die ihn ab und an weit von dem reichhaltigen Material entfernten, aus dem er schöpfte. In seinen ersten Werken nahm er an, daß die meisten Kriminellen zum Typ des homo delinquens, des Verbrechermenschen, gehörten, und er faßte diesen Verbrechermenschen als einen Rückschlag in der phylogenetischen Entwicklung, als Atavismus auf. Später änderte sich seine Theorie wesentlich, und er glaubte, in der Epilepsie eine ausschlaggebende Kriminalitätsursache zu erkennen. Zuletzt nahm er an, daß der Atavismus eine besondere Form der Degeneration sei, die er als einen pathologisch bedingten Zustand, verbunden mit einem Entwicklungsstillstand, betrachtete. Hand in Hand mit diesen Änderungen der ursprünglichen Theorie erfolgte eine ständig differenziertere Auffassung über die Gesetzesübertreter. Neben dem geborenen Kriminellen beschrieb Lombroso nach und nach (vgl. Lombroso, 1895, Bd. II) den geisteskranken, den epileptischen, den moralisch schwachsinnigen Gesetzesübertreter, wobei die Grundlage für alle Typen eine „epileptoide" Konstitution bilde, sowie den Gelegenheitsverbrecher mit folgenden Untergruppen: PseudoKriminelle, Kriminaloide, Gewohnheitsverbrecher und — nochmals — Epileptoide; vermutlich gehört auch der Affektverbrecher hierher. Während Lombroso ursprünglich praktisch alle Verbrecher als geborene Verbrecher betrachtete, wurde ihr Anteil in ,,Le crime, causes et remedes" (Paris 1899) auf rund 30°/ o herabgesetzt. Die Kritik seiner Schüler und besonders der Einfluß von Ferri spielten eine wesentliche Rolle bei der Änderung seiner Theorien. Ferris Einfluß war auch entscheidend für Lombrosos steigendes Interesse für soziale Faktoren. Aber selbst in gewissen Betrachtungen über die Bedeutung der sozialen Verhältnisse für die Kriminalität streckte doch der Atavismus seinen Pferdefuß hervor. Lombrosos Theorien weckten von Anfang an Kritik; aber er setzte eine biologische, psychiatrische und psychologische Erforschung der Kriminalitätsfaktoren in Gang, zu der Hunderte von Forschern und Tausende von mehr oder weniger tiefschürfenden Untersuchungen über die Person des Gesetzesübertreters zählen. Am größten war er als Inspirator und als Kriminalpolitiker. Seine Tochter Gina schrieb über ihn: „Obwohl er Wissenschaftler war, blieb Lombroso Dichter". Aschaffenburg fügte hinzu: „Ihm war es nicht 13 H(1K, 2. Aufl., Bd. I I

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gegeben, als exakter Logiker und Systematiker zu arbeiten, er war ein Schauender, ein Empiriker von weitem Blicke, ein Begeisterter, der über den großen Gesichtspunkten — darin der Typ des Südländers — die Sorgsamkeit den Einzelheiten gegenüber vernachlässigte. Seine Werke werden uns nicht mehr die Fundgrube des Wissens sein, seine Ideen aber haben auch seine Widersacher weit mehr befruchtet, als sie sich selbst zugeben werden" (Aschaffenburg, 1933, S. 192). Von Enrico Ferri (1856—1929) soll in diesem Abschnitt gesprochen werden, weil er mehr als irgendein anderer dazu beitrug, daß Lombrosos Gesichtspunkte einen Einfluß auf die kriminalpolitische Debatte ausübten. Der Hauptteil seiner eigenen Forschung muß jedoch als soziologisch charakterisiert werden. Ferri war der Ausbildung nach Jurist, überzeugter Determinist, Schüler und Freund von Lombroso, lange Zeit Professor für Strafrecht, aber mehr als alles andere Politiker. Die 3. Auflage seines kriminologischen Hauptwerkes, das 1881 in erster Auflage erschienen war, erhielt den Titel „Sociologia criminale" (1892). Ferri unterstrich, daß die Kriminalität — wie andere menschliche Handlungen — aus vielen unlösbar miteinander verknüpften Ursachen entspringe. Er teilte diese in drei Gruppen: anthropologische oder individuelle, physische und soziale Ursachen (Ferri, 1898, S. 52—53). Das Zusammenspiel zwischen den sozialen und biologischen Faktoren schilderte er ungefähr so: Die soziale Umgebung bestimme die Art der Kriminalität, aber die tieferliegenden Ursachen müßten in biologischen (organischen oder psychischen) antisozialen Tendenzen gesucht werden. Ferris Verbrechertypologie umfaßte fünf (später sechs) Gruppen: geborene Verbrecher, geisteskranke Verbrecher, Affektverbrecher (Kriminelle auf Grund einer lang andauernden Leidenschaft oder eines mehr explosiven Affektes), Gelegenheitsverbrecher (die Hauptgruppe), Gewohnheitsverbrecher, schließlich die „Pseudo-Kriminellen", die er auch „unfreiwillige Verbrecher" nannte. Die Bahnbrecher der französischen Soziologischen Schule (näheres siehe Abschnitt D) übten eine scharfe Kritik an Lombrosos Resultaten. Der deutsche Gefängnisarzt Adolf Baer (1834—1908) wies 1893 darauf hin, daß die Anzeichen von Degeneration, die man bei Verbrechern finde, denen entsprächen, die häufig in den niederen sozialen Schichten vorkämen, aus denen die Kriminellen stammten. Im allgemeinen wird jedoch angenommen, daß es Charles Buckman Goring (1870 bis 1919) war, welcher der Theorie vom geborenen Verbrecher den Todesstoß gab. Durch vergleichende Untersuchungen von Kriminellen und NichtKriminellen wies er nach, daß eine anatomische Verbrechertype nicht existierte. Trotzdem war er nicht im Zweifel über den dominierenden Einfluß der biologischen Faktoren, und er lehnte den Ge-

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danken ab, daß Kriminalität soziale Ursachen haben könnte. Sein Hauptwerk, „The English Convict" (1913), ist eine detaillierte Untersuchung von 3000 englischen Schwerverbrechern, die auf Messungen und Beschreibungen von 96 verschiedenen körperlichen und psychischen Merkmalen beruht. Goring lehnte Lombrosos Theorie vom geborenen Verbrecher als einseitig ab und versuchte, eine breitere Grundlage für die kriminologische Forschung mit Hilfe des Begriffes ,die kriminelle Diathese' (Krankheitsbereitschaft) zu schaffen. Diese definierte er als „einen hypothetischen Wesenszug einer gewissen Art, eine konstitutionelle Anklage, entweder geistig, moralisch oder physisch, in einem bestimmten Maße in jedem Individuum vorhanden, aber in einigen so mächtig, daß sie, gegebenenfalls, das Verhängnis einer Gefangenschaft verursacht" (Goring, 1913, S. 26). Gorings gründliche statistische Analysen ergaben, daß Gesetzesübertreter physisch nur ein wenig schlechter ausgerüstet seien als Nicht-Kriminelle; aber besonders in bezug auf die Intelligenz seien sie unterlegen. Er gab eine detaillierte Beschreibung über die Bedeutung des Alters für die Entwicklung der kriminellen Laufbahnen, und er beschäftigte sich auch mit der Bedeutung der Erbfaktoren. Von Lombrosos Anhängern und Nachfolgern sollen H. Kurrella (1858—1916), der Lombrosos Hauptwerk ins Deutsche übersetzte, und der Engländer Havelock Ellis (1859—1939) genannt werden. D. Soziologische Forschung Die Reaktion auf Lombrosos Positivismus und biologisch orientierte Theorien über die Ursachen der Kriminalität war besonders stark in Frankreich. A. Lacassagne (1834—1924) und L. Manouvrier (1850—1927), die beide Mediziner waren, erwiesen ein klares Verständnis für die sozialen Ursachen der Kriminalität, stellten aber keine tiefergehenden soziologischen Untersuchungen an. Lacassagne formulierte das Postulat: „Eine Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient". Die Französische Schule, die oft auch MilieuSchule oder Lyoner Schule genannt wird, kam jedoch erst mit Tarde zu ihrer vollen Entfaltung. Ihren Höhepunkt erreichte die französische Kriminal- und Rechtssoziologie mit Dürkheim. Gabriel Tarde (1843—1904) war Jurist und Soziologe. Sein Hauptwerk „Les lois de l'imitation" kam 1890 heraus. Im selben Jahr erschien auch seine „La Philosophie pönale", in der er wiederholt: „Alle wichtigen Handlungen des sozialen Lebens werden unter der Herrschaft des Beispiels ausgeführt" (Tarde, 18912, S. 323). Nachahmimg erfolge in Übereinstimmung mit drei Gesetzen: 1. Sie hänge vom Grad des Kontaktes ab. In Städten wechsele der Inhalt der Nachahmung sehr

oft (Mode); in beständigen Gruppen wechsele der Inhalt seltener (Gewohnheit). 2. Die Nachahmung bewege sich im allgemeinen von dem (sozial) Höherstehenden zu dem Tieferstehenden und von der Stadt zum Land. 3. Wenn zwei Moden, die sich gegenseitig ausschließen, gleichzeitig entstünden, könne die eine durch die andere ersetzt werden (Einpassung). Tardes Erklärung für die Kriminalität beruhte auf diesen Gesetzen (Tarde a. a. O., S. 332ff.). Die Kriminalität beginne, wie alle anderen sozialen Erscheinungen, als Mode und werde zur Gewohnheit. Ihre Intensität ändere sich direkt im Verhältnis zu den Kontakten, die die Menschen in der betreffenden Gruppe miteinander hätten, und sie breite sich von der Oberklasse zur Unterklasse und von der Stadt zum Land aus. Tarde gab auch eine gute Beschreibung davon, auf welche Weise Gruppenkriminalität und berufsmäßige Kriminalität erlernt werden. Seine Theorie, die mit Sutherlands Theorie von der .differential association' verwandt ist, wurde durch lebensvolle Beispiele illustriert. fimile Dürkheim (1858—1917) beschäftigte sich in mehreren seiner Bücher mit kriminologischen Themen, mit der Frage nach der Funktion der Strafe und mit der Kriminalität als sozialer Erscheinung. Er war Comtes Schüler, Tardes Gegenpol und Gegner und der originellste und universalste Geist der französischen Soziologie nach Comte. In dem Buch über die soziale Arbeitsteilung (De la division du travail social, 1893) stellte Dürkheim fest, daß die soziale Funktion der Arbeitsteilung darin bestünde, die Solidarität der Gesellschaftsglieder zu stärken. Die Solidarität komme am klarsten zum Ausdruck in den juristischen Regeln, die er in zwei Kategorien aufteilte: die strafrechtlichen und die wiederherstellenden (zivilrechtlichen). Als Kriminalität definiert er jede Handlung, die dafür bestimmend sei, daß man den Urheber zur Verantwortung ziehe und ihn strafe. Er versuchte jedoch, die formale Definition durch eine anschauliche Beschreibung zu ergänzen. Die Verbrechen bestünden — mit wenigen Ausnahmen — aus Handlungen, die bei den Mitgliedern der Gesellschaft allgemein Abscheu erregten. „Mit anderen Worten, es muß nicht gesagt sein, daß eine Handlung das Gewissen der Gemeinschaft kränkt, weil sie kriminell ist, sondern sie ist kriminell, weil sie das Gewissen der Gemeinschaft kränkt. Wir verwerfen sie nicht, weil sie ein Verbrechen ist, sondern sie ist ein Verbrechen, weil wir sie verwerfen" (Dürkheim, 1922, S. 48). Er fügte hinzu, daß das Verbrechen nicht nur eine Kränkung von ernsten Interessen sei, sondern auch ein Vergehen gegen eine Autorität. Die Funktion der Strafe bestehe darin, eine Möglichkeit für die Entladung der Emotionen zu schaffen, die durch das Verbrechen hervorgerufen würden. Man strafe nicht

Kriminologie (Grundlagen) im Hinblick auf Gerechtigkeit oder Nutzen, und es sei nicht notwendig, daß der Schuldige bestraft werde; das Wesentliche sei, d a ß gestraft w e r del Sehr eingehende Überlegungen hätten erwiesen, daß die gerechte (und sühnende) Strafe am besten die (nützliche und notwendige) Funktion des Strafsystemes erfülle (Dürkheim a. a. 0., S. 77). „Die Strafe ist also für uns gebheben, was sie für unsere Väter war. Sie ist immer noch ein Akt der Rache, da ja diese eine Sühne ist" (Dürkheim a. a. 0., S. 56). Im Buch von der Arbeitsteilung betonte Dürkheim, daß der Verbrecher ein Fremdkörper, ein Schmarotzer der Gesellschaft, ein kränkliches Phänomen sei. Schon im folgenden Jahre stellte er indessen in „Les regies de la m^thode sociologique" fest, daß der Verbrecher nicht ein Übel, sondern ,,un agent rigulier de la vie sociale" sei (op. cit. p. 89). Die Kriminalität sei eine (moralische) Notwendigkeit; denn sie sei es, die — durch die Strafe — dem kollektiven Bewußtsein seine Stärke gebe, die wiederum für die normale Entwicklung der Moral und des Rechtes notwendig sei. In der neueren amerikanischen Soziologie hat man großes Gewicht auf Dürkheims wenig präzisen Begriff der „Anomie" gelegt, der oft als Normlosigkeit definiert wird, aber nach Dürkheim eine mangelhafte Anpassung auf Grund eines mangelhaften Kontaktes zwischen den verschiedenen Organen der Gesellschaft bezeichnet. Hierin sah Dürkheim die Ursache für einen Teil der Kriminalität und für bestimmte Selbstmordfälle. Sein Schüler Paul Fauconnet (1874—1938) schuf die empirische Grundlage für Dürkheims Theorien über Verbrechen und Strafe. Dürkheims Bücher waren meistens auf einer relativ schwachen empirischen Grundlage aufgebaut; sie wimmeln von Spekulationen, bei denen er mit verblüffender Klarheit immer wieder das Richtige erfaßt hat. Doch kann man Fauconnets Buch „La responsabiliti" (1920) in einer Weise als das vorzüglichste Werk der Schule bezeichnen. Seine Beschreibung von der Funktion der Strafe wich nicht wesentlich von der Dürkheims ab. Das Buch brachte aber eine eingehendere Beschreibung von „der Gesellschaft als Ursache der Kriminalität". Nicht der Verbrecher sei die Ursache für das Verbrechen; denn der Verbrecher erzeuge nicht das moralisch Böse. Das Individuum sei nur die zufällige Ursache, die Gesellschaft selbst die eigentliche Ursache der Kriminalität. Die Verantwortung werde nicht in dem oder durch den Täter erzeugt; sie komme von außen über ihn (Fauconnet, 1920, S. 276). Das Entscheidende ist aber, daß Fauconnet die Theorien durch eine Reihe von Beobachtungen unterbaute, u. a. über die kollektive, die indirekte und die passive Verantwortlichkeit. Nähere Aufschlüsse gab Fauconnet über die wichtigen Verhältnisse der Verantwortlichkeit des primitiven 13«

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Volkes, von der Hypothese ausgehend, daß die Strafe (eigentlich) gegen das Verbrechen gerichtet sei. Hierin führte er die Analyse weiter als Dürkheim. Schließlich klärte er, von seinen Theorien ausgehend, wichtige Züge der Entwicklung des Strafsystems, von der kollektiven zur individuellen und von der objektiven zur subjektiven Verantwortlichkeit. Zur soziologischen Schule rechnet man auch Napoleone Colajanni (1847—1920), welcher der erste war, der ein Werk mit dem Titel Kriminalsoziologie (Sociologia criminale, 1887) herausgab. Ein Teil der ersten Anhänger der französischen Schule waren Marxisten oder zumindest stark von Karl Marx beeinflußt, der Lacassagnes Wort abgeändert hatte zu: „Jedes Produktionssystem hat die Verbrecher, die es verdient". Zu der Gruppe der soziologischen Schule gehören auch der Italiener F. Turati (1857—1932) und der Holländer Willem Adriaan Bonger (1876—1940). E. Die spätere Entwicklung Ein wesentlicher Teil der späteren kriminologischen Forschung hat sich auf den Hauptlinien entwickelt, die oben skizziert wurden. Ein Versuch, die soziologischen und die biologischen und psychologischen Gesichtspunkte zu vereinen, fehlt jedoch nicht. Bonger spricht geradezu von einer Bio-Soziologischen Schule, zu der er drei der bedeutendsten Kriminalpolitiker aus der Zeit um die Jahrhundertwende rechnet, den Holländer G. A. van Hamel (1842—1917), den Belgier Adolphe Prins (1845—1919) und den Deutschen Franz von Liszt (1851—1919). Sie waren alle Juristen und gründeten im Jahre 1889 die „Internationale Kriminalistische Vereinigung". Von einer „Schule" im eigentlichen Sinne kann man allerdings nicht mehr sprechen. Doch kann man gewiß ohne unzulässige Verallgemeinerungen den H a u p t t e i l der kriminologischen Forschung der USA als soziologisch und sozialpsychologisch orientiert charakterisieren. In Europa nahm die kriminalbiologische Forschung in den Jahren zwischen den Kriegen einen hervorragenden Platz ein; aber auch die Kriminalsoziologie fand ihre Vertreter. In der Forschung der Nachkriegsjahre scheint die Kriminalsoziologie (und Rechtssoziologie) eine ständig größere Rolle zu spielen, doch prägen auch psychiatrische und psychologische Gesichtspunkte das Bild.

ΙΠ. DER GEGENSTAND DER KRIMINOLOGIE Eine Erörterung des Verhältnisses zwischen der Kriminologie und den anderen Kriminalwissenschaften setzt eine Untersuchung über den Gegenstand der Kriminologie voraus. Eine solche Untersuchung hat im übrigen auch eigenständiges Interesse.

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Α. Handlungen und Personen Die Gegenstände der Kriminologie sind kriminelle Handlungen und kriminelle Personen. So selbstverständlich dieses klingt, so ist es doch innerhalb der kriminologischen Theorien eines der Gebiete, wo abweichende Auffassungen auf Grund ihrer Tragweite, auch für die Forschung, die Diskussionen am stärksten geprägt haben. Es ist besonders die Frage danach, wie man einen für die Kriminologie relevanten Kriminalitätsbegriff und die dementsprechende Gruppe von Kriminellen definieren soll, welche Anlaß zu einer zeitweise leidenschaftlichen Diskussion gegeben hat. Der Grundgesichtspunkt ist hier der, daß die beiden Objekte, mit denen sich die Kriminologie beschäftigt, sich wie folgt zueinander verhalten: Kriminelle Personen sind Personen, die kriminelle Handlungen begangen h a b e n , gleichgültig ob die Handlungen oder die betreffenden Personen als kriminell erfaßt worden sind oder nicht. Die Unterscheidung zwischen den kriminellen Handlungen und den kriminellen Personen ist bedeutungsvoll, teils weil man in der Forschung bald das Hauptgewicht auf die Handlung, bald auf die Person gelegt hat, teils weil Problemstellung und Methode sehr unterschiedlich sind (Näheres siehe VI, B), teils schließlich weil eine Verwechslung Anlaß zu einer Fehlbeurteilung der erlangten Ergebnisse sein kann (vgl. u. a. Jefferey, 1960, S. 370f. und 378f.). B. Der legale Kriminalitätsbegriff Ausgangspunkt der Kriminologie ist das Studium der Handlungen, die l e g a l als kriminell definiert worden sind, d. h., es sind Handlungen, deren Inhalt durch die Verbots- und Gebotsnormen der Gesetzgebung beschrieben oder definiert worden sind, und deren Übertretung die im Gesetz festgelegten Sanktionen nach sich ziehen. Mit anderen Worten, es ist der kriminalrechtliche S a n k t i o n s b e g r i f f , der den kriminologisch relevanten Kriminalitätsbegriff bestimmt. Diese Definition ist elastisch. Es wäre nicht wünschenswert, von der kriminologischen Forschung Studien auszuschließen, die ζ. B. über gröbere Verkehrsdelikte, strafbare Trunkenheit und grobe Steuerhinterziehung oder über außerhalb des Strafgesetzes verhängte Sanktionsformen, wie Geldbuße und Freiheitsstrafe, gemacht werden (vgl. Clinard, 1957, Kap. 6, speziell S. 161—162). Entscheidend ist, daß klar definiert wird, welches das Objekt der Untersuchung ist. Der Begriff Strafe ist in dieser Definition nicht angewandt worden. Der Ausdruck kriminalrechtliche Sanktion umfaßt eine Reihe von Reaktionen und Maßnahmen, die als Rechtsfolgen der kriminellen Handlung sowohl im traditionellen Sinne liegen, als auch sie ersetzen. Inhaltsmäßig hat ein Teil der Reaktionen den Charakter von sichernden und bessernden Maßnahmen (Fürsorge, Erziehung oder

Behandlung, Unschädlichmachung des Gesetzesübertreters, Sicherung der Gesellschaft u. a. m.). Mit anderen Worten, es wird nicht nur an die rückwärts gerichteten, repressiven, sondern auch an die vorwärtsgerichteten, motivierenden Reaktionen gedacht. Entscheidend ist jedoch, daß die Sanktion nur dann zur Anwendung kommen darf, wenn die Frage nach der Schuld des Gesetzesübertreters bejahend beantwortet worden ist. Daß die Sanktion in einzelnen Fällen von dem Verurteilten als eine Wohltat (Therapie, Ausbildungsmöglichkeit, Berufswechsel und eine Reihe anderer fürsorgerischer Maßnahmen) erlebt wird, ändert nichts an der allgemeinen Wertung. Die Gefängnisstrafe wird jedoch nicht als eine Wohltat betrachtet, weil einzelne Gesetzesübertreter es vorziehen, in der kältesten Zeit des Winters einzusitzen, oder weil andere aus mehr pathologischen Ursachen „in die Strafe flüchten". In Gesellschaften ohne ein Strafgesetz, das niedergeschrieben ist und eine genau festgelegte Reihe von Sanktionen enthält, kann man vielleicht (ungefähr in Übereinstimmung mit Sellin) Sanktionen als Eingriffe definieren, die — als Rechtsfolgen einer Handlung — dem Gesetzesübertreter ein Gut rauben, das in der betreffenden Gesellschaft im allgemeinen hoch bewertet wird (Leben, Freiheit, Eigentum, Vermögen, freies Erwerbsrecht, soziale Stellung u. ä.). In einem gewissen Maß muß man sich in der Kriminologie mit strafbaren Handlungen beschäftigen, die nicht zu einer gerichtlichen Entscheidung geführt haben. In solchen Fällen muß man sich mit wenigen sicheren judiziellen Kriterien begnügen, ζ. B. mit der Entscheidung der Anklagebehörde, Polizeiberichten, Anzeigen u. ä. Bei der Definition der für die Kriminologie relevanten Personengruppen wird keine Rücksicht darauf genommen, ob bestimmte subjektive Strafbarkeitsbedingungen erfüllt sind. Die Kriminologie muß auch die Möglichkeit haben, sich mit Gesetzesübertretern zu beschäftigen, die objektiv kriminelle Handlungen begangen haben, aber auf Grund von Geisteskrankheit, Schwachsinn u. a. m. auf einer der Stufen der Strafverfolgung von den Folgen befreit werden, welche die Handlung im allgemeinen nach sich zieht. Jugendliche, die vor einem Jugendgericht wegen Übertretungen des Strafgesetzes oder wegen gleichwertiger Übertretungen verurteilt oder durch eine ihrem Alter angepaßte Fürsorge (Kinderfürsorge, Jugendfürsorge, Bewährung usw.) von einer Anklage befreit werden, gehören mit in diesen Bereich. Hier entstehen besondere Probleme, weil die Jugendgerichte und der Kinderschutz ihre Entscheidungen nach anderen Verfahren und Kriterien als die ordentlichen Gerichte fällen. Diese Fragen sind besonders in der amerikanischen Literatur behandelt worden (siehe ζ. B. Tappan, 1949, Kap. I und Teil III, besonders Kap. IX). Die Verankerung der Kriminologie in einem for-

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Kriminologie (Grundlagen) malen, kriminalrechtlich definierten Sanktionsbegriff ist die einzige Möglichkeit, um einer Willkür bei der Bestimmung des Gegenstandes der Kriminologie zu entgehen. Gegen diesen Standpunkt sind verschiedene Einwendungen gemacht worden. Von den bisher vorgebrachten Einsprüchen scheint aber doch keiner so schwerwiegend zu sein, daß es angemessen wäre, deshalb jenes feste Fundament für kriminologische Forschung und Lehre zu verlassen; aber es kann fruchtbar sein, einige der wichtigsten abweichenden Gesichtspunkte zu erörtern. C. Die Versuche, einen nichtlegalen Kriminalitätsbegriif zu definieren Von der Kritik an dem legalen Kriminalitätsbegriff wird im besonderen folgendes hervorgehoben: Der Kriminalitätsbegriff sei relativ. Er wechsele von Gesellschaft zu Gesellschaft und von einer Zeit zur anderen. Selbst in Gesellschaften, die einander kulturell nahestünden, könne man überraschende Unterschiede finden. Zeitmäßig seien die Unterschiede nicht weniger deutlich. In der Sondergesetzgebung seien solche Änderungen nach Zeit und Ort noch häufiger und auffälliger. Die ungestüme Entwicklung der Technik, der Industrie u n d des Handels in diesem Jahrhundert habe dazu geführt, daß ständig neue Bereiche in die Gesetzgebung einbezogen und mit Sanktionen belegt worden seien. Daraus — so wird von einigen behauptet — sei die Konsequenz zu ziehen, daß eine wissenschaftliche Kriminologie unmöglich sei. Es sei die Aufgabe der Wissenschaft, universale Theorien aufzustellen oder zumindest allgemeingültige Gesetze zu formulieren, d. h. Gesetze, die unabhängig von Zeit und Ort gälten. Wie könne man das, wenn das Objekt der Kriminologie sich derartig verändere? „Wie soll man Gültiges erkennen u n d aussagen, wie Typen und Gesetzmäßigkeiten auffinden können bei Erscheinungen, die hier anders als dort, jetzt anders als ehedem aussehen ?" (Exner, 1949 3 , S. 1). Sutherland und Cressey stellen die Frage auf die entsprechende Weise (1960, S. 19). Dies h a t einige veranlaßt, zu behaupten, die Kriminologie könne niemals eine Wissenschaft werden (ζ. B. Taft), während es andere ein wenig optimistischer so ausdrücken: „Kriminologie ist gegenwärtig keine Wissenschaft, aber sie h a t Hoffnung, eine Wissenschaft zu werden" (Sutherland und Cressey). Die Folgerung hieraus, so wird angenommen, habe zu sein, daß die Kriminologie, wenn sie eine Wissenschaft werden solle, ihren eigenen, autonomen Kriminalitätsbegriff haben müsse. Dieser müsse, der Natur der Sache nach, ein materiell definierter Begriff sein. Was dabei an Klarheit verlorengehe, würde durch reicheren Inhalt zurückgewonnen. Man komme der „Wirklichkeit" näher, und das sei für eine empirische Wissenschaft von entscheidender Bedeutung.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist man hauptsächlich zwei Wege gegangen: 1. Man h a t den Kriminalitätsbegriff erweitert ohne Rücksicht darauf, ob das Verhalten strafbar ist. 2. Man h a t den Begriff auf mehr oder weniger wohl definierte Untergruppen von Handlungen oder Personen beschränkt. Diese beiden Verfahren sind übrigens nicht unvereinbar. Man kann den Begriff — wie wir sehen werden — in bestimmter Hinsicht erweitern, in anderer einschränken. 1. Die Versuche, den Kriminalitätsbegriff zu

erweitern

Die Versuche, den Kriminalitätsbegriff zu erweitern, gehen in mehrere Richtungen. Allen gemeinsam ist die Feststellung, daß kriminelles Verhalten und kriminelle Personen mit einer Reihe anderer Verhaltensformen u n d Personengruppen verwandt seien. Nur Zufälligkeiten h ä t t e n bewirkt, daß bestimmte davon als kriminell gälten, daß wir ζ. B. bestimmte Formen des Rausches bestraften, aber nicht Alkoholismus. Und es gebe keine scharfe Grenze zwischen dem bestraften Schwindler und dem nicht bestraften K a u f m a n n , der sich moralisch verwerflicher, sozial schädlicher Geschäftsmethoden bediene. Die kriminellen Handlungen könnten nicht erklärt werden, ohne sie im Zusammenhang mit den — zufällig nicht als kriminell geltenden — Verhaltensformen zu sehen, zu denen sie gehörten. Damit hört die Einigkeit jedoch auf. Einige Theoretiker u n d Forscher betrachten alle oder die meisten Gesetzesübertreter als abartig in persönlichkeitsmäßiger Hinsicht. Die Auffassung von Kinberg, die später referiert wird, ist ein gutes Beispiel hierfür. Von dieser und von verwandten Einstellungen ausgehend, würden Verhaltensstörungen von Kindern und Jugendlichen — mögen sie als kriminell gelten oder nicht — für die Kriminologie nicht nur zu einem interessanten Grenzgebiet, sondern schlechthin zu einem Teil der Kriminologie. Oft wird jedoch diese Betrachtungsweise wesentlich weiter geführt. So sagt Kinberg, das Kriminalitätsproblem erfasse vom biologischen Standpunkt aus nicht nur diejenigen, welche bereits ihre kriminellen Tendenzen durch kriminelle Handlungen offenbart hätten, sondern auch die große Gruppe der potentiell Kriminellen, d. h. der „kriminellen Charaktere", die noch nicht irgendein Verbrechen begangen hätten, die aber unter bestimmten Umständen dahinkommen könnten, eins zu begehen (Kinberg, 1935, S. 16). Die völlig entgegengesetzte Auffassung findet man auch. Sie stellt fest, daß sich die Kriminalität nicht von anderem Verhalten unterscheide. Sie sei normal, nicht nur wie etwas, das in jeder Gesellschaft vorkomme (vgl. Dürkheim), sondern auch in dem Sinne, daß die kriminellen Hand-

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Kriminologie (Grundlagen)

langen — trotz ihres asozialen oder antisozialen Charakters — normale soziale Handlungen seien. Die Kriminalität werde durch Nachahmung, durch ,differential association' oder auf anderm Wege gelernt, ganz so wie ein Beruf und jedes andere soziale Verhalten gelernt werde. Die „Normalität" der Kriminalität gehe am besten aus ihrer Verbreitung in dem großen, unbestraften Teil der Bevölkerung hervor (die erhebliche verborgene Kriminalität, die Häufigkeit des ,white-collar crime', die Verkehrsvergehen, die Übertretungen der Steuergesetze und vieler anderer „Sondergesetze" außerhalb des Bereichs der Strafgesetze). Eine kriminologische Theorie, die nur für den dramatischsten und gröbsten, statistisch gesehen bedeutungslosen Teil der Kriminalität gelte, sei wertlos, weil sie nicht den Hauptteil der begangenen Gesetzesübertretungen erklären könne. Allgemeingültige Erklärungen müßten „in Begriffen des normalen Lernprozesses normaler Menschen" festgelegt werden (Void, 1958, S. 201). Die Wichtigkeit dieses Gesichtspunktes kann nicht bestritten und seine Bedeutung für die Kriminologie darf nicht unterbewertet werden. Als Folgerung ergäbe sich jedoch auch hier, daß sich die Kriminologie mit einigen als nichtkriminell geltenden Verhaltensformen beschäftigen müßte, die man nicht mit angemessener Sicherheit festlegen kann. Dieser Gesichtspunkt ist eine interessante Parallele zu den Theorien der Psychologen und Psychiater über die latent kriminellen Personen. In der Fortsetzung dieser Erweiterung des Kriminalitätsbegriffes liegt aber auch eine Tendenz zur Einengung, wenn die Kriminalität als antisoziales Verhalten definiert und danach verallgemeinert wird: Kriminelle Handlungen seien antisoziale Handlungen, und mit diesen letzteren müsse sich die Kriminologie beschäftigen, gleichgültig ob sie als kriminell gälten oder nicht, weil Kriminalität und anderes antisoziales Verhalten, soziologisch gesehen, von derselben Natur seien. Von diesem Gesichtspunkt aus würden Landstreicherei, Prostitution, Alkoholismus, ebenso wie ,white-collar crime' und andere sozial schädliche Handlungen relevante Objekte der kriminologischen Forschung und nicht nur Grenzgebiete der Kriminologie sein. Sutherlands und Cresseys allgemeine Definition der Kriminalität sind vermutlich das beste Beispiel für eine solche Erweiterung des Kriminalitätsbegriffes. Die Kriminalität enthalte „drei Elemente: einen Wert, der von einer Gruppe oder dem Teil einer Gruppe, der politisch einflußreich ist, hoch eingeschätzt wird; Isolation oder kultureller Widerspruch eines anderen Teiles dieser Gruppe, so daß ihre Mitglieder den Wert nicht schätzen oder ihn weniger hoch schätzen und infolgedessen danach streben, ihn zu gefährden; und eine kämpferische Zuflucht zum Zwang, unaufdringlich angewendet von

denen, die den Wert schätzen, gegen diejenigen, die den Wert mißachten. Wenn ein Verbrechen begangen worden ist, werden diese Beziehungen mit hineingezogen. Verbrechen i s t diese Reihe von Beziehungen, wenn es mehr vom Standpunkt der Gruppe als vom Individuum aus gesehen wird" (Sutherland und Cressey, 1960, S. 15). Der Kriminologe „sollte vollständig frei sein, die Schranken der legalen Definitionen zu durchbrechen, wenn immer er nichtkriminelles Verhalten sieht, das kriminellem Verhalten g l e i c h t " (Sutherland und Cressey, a. a. 0., S. 20, Hervorhebung durch Verfasser dieses Artikels). Hermann Mannheim unterstreicht den antisozialen Charakter der kriminellen Handlung (1946, S. 5; 1955, S. 260ff., wo er der Ansicht zu sein scheint, daß die Kriminologie unerwünschtes soziales Verhalten studieren solle). Der legale Kriminalitätsbegriff hat seinen historischen Ursprung in Religion und Moral. Sowohl für den Gesetzesübertreter wie für die Behörden und die gesetzestreuen Bürger ist wohl die Kriminalität heutzutage ein Erleben, das am stärksten als unmoralische oder sündige Handlungen in Erscheinung tritt. Bianchi definiert die Kriminalität so: „Das Verbrechen ist eine sündige, ethisch tadelnswerte, trotzige und irrige, gegebenenfalls durch Strafgesetz verbotene Handlung, die auf jeden Fall verdient, daß ihr eine bewußte Gegenwirkung seitens der Gesellschaft nachfolgt, und die, ihrem Verhalten nach, Zeugnis für das Versagen der wechselseitigen sozio-psychischen Anpassung von Gesellschaft und Individuum und eine „mangelhafte" Form des Ausdrucks ist, mit welcher der Mensch gegen sein eigenes Selbst anläuft" (Bianchi, 1956. S. 110—111). Auch diese Auffassung — wie es sich aus der oben zitierten Definition ergibt — hat zu Verallgemeinerungen Anlaß gegeben: Da die kriminellen Handlungen nur eine besonders grobe Type unmoralischer Handlungen seien, die öffentlich durch die Strafe mißbilligt würden, müßten sie auch innerhalb des Ganzen, zu dem sie gehörten, behandelt werden. Demnach würden — mit Unterschieden in den einzelnen Gesellschaften — Verhaltensformen, wie ζ. B. Verschwendung, Gotteslästerung, nichteheliche Geschlechtsbeziehungen, Schlemmerei, Scheidung, Mangel an Ehrerbietung gegenüber nationalen Symbolen des Landes, Objekte für die kriminologische Forschung werden. Ein Standpunkt, der sowohl antisoziale wie moralisch verwerfliche Merkmale enthält, ist indessen in einer soziologischen Theorie ausgeformt, die ihren Ausgangspunkt im Normenbegriff hat und dadurch wesentlich dazu beiträgt, die legal definierten kriminellen Handlungen als eine spezifische Type des Normenbruches zu kennzeichnen. Thorsten Sellin bezeichnet Verhaltensnormen (conduct norms) als die Auswirkungen der sozialen Einstellung (social attitude) einer

Kriminologie (Grundlagen) Gruppe gegenüber den verschiedenen Arten, wie eine Person unter gegebenen Umständen handeln könne. Die Verletzung der Norm führe eine Reaktion seitens der Gruppe mit sich. Das Studium solcher Normen könne man Ethologie (Lehre von den Sitten) nennen. „Die ethologischen Studien der Verhaltensnormen und ihrer Verletzungen müssen unendlich viel breiter als das Studium der Verbrechensnormen sein und müssen darauf angelegt werden, wissenschaftliche Grundeinheiten und Kategorien zu entwickeln. „Ethologie" ist ein brauchbarer Begriff, der sich in diesem Zweig der Soziologie anwenden läßt, wenn eine besondere Bezeichnung notwendig sein sollte. Die Kriminologen werden wahrscheinlich fortfahren, ihre Anstrengungen auf das Studium der Verbrechen zu konzentrieren; wenn sie aber ihre Arbeit in Begriffen der ,ethologischen' Kriterien ausdrückten, würden ihre Vorhaben und ihre Behandlung der Daten bedeutend erleichtert, und sie würden in der Tat „Ethologen" mit einem spezialisierten Interesse werden" (Sellin, 1938, S. 39). In einem Punkt möchte Sellin jedoch weitergehen. Das Interessenfeld der Kriminologen „darf wohl erweitert werden, um die legalen Verhaltensnormen einzuschließen, die im Zivilrecht enthalten sind. Die Trennlinie zwischen Verbrechen und Unrecht ist in vieler Hinsicht haarscharf" (Sellin, a. a. 0.). 2. Die Versuche, den KriminalUätsiegriff einzuengen Namentlich in der älteren Literatur haben Bedenken über die Relativität des Kriminalitätsbegrifles zu Vorschlägen geführt, sein Gebiet einzuschränken. Am bekanntesten ist Garofalos Begriff der „natürlichen Verbrechen" (criminalitä, naturale). Der Hintergrund seines Gedankenganges ist, daß es bestimmte Güter gebe, die überall als lebensnotwendig anerkannt und deshalb durch eine Strafandrohung geschützt werden müßten. Dementsprechend gebe es auch Personen, gegen die sich jede Gesellschaft wehren müsse. Lombrosos Theorie über den geborenen Verbrecher, dem es in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit vorausbestimmt ist, kriminell zu werden, könnte die gleiche Funktion zugelegt werden. In neuerer Zeit hat Exner versucht, das Problem zu lösen. Er räumt ein, daß Garofalos Gedankengang einen richtigen Kern enthalte, und unterstreicht: „Es gibt eben einen gewissen .Grundbestand' von Verbrechern und Verbrechen, der einer einheitlichen Erforschung wohl fähig und bedürftig ist" (Exner, 1949, S. 2). Die Kenntnisse und Gesetzmäßigkeiten, die wir auf diese Weise feststellten, müßten nicht für alle Zeitalter und für die ganze Welt Gültigkeit besitzen, denn: „Die Kriminologie ist eine angewandte Wissenschaft und Gegenwartsbedürfnissen dienend . . . Wir sind vorläufig vollauf zufrieden, wenn es uns gelingt, Dinge zutage zu fördern, die für die

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Verhältnisse der gegenwärtigen europäischen Kultur Wahrheitsgehalt und Verwendbarkeit besitzen" (Exner a. a. 0.). Der Grundbestand der Kriminalität, der sich auf eine solche Verallgemeinerung der Ergebnisse hin bearbeiten lasse, umfasse gerade den in kriminalpolitischer Hinsicht wichtigsten Teil der Kriminalität. Exner folgert so: „Gegenstand der Kriminologie sind die nach geltendem Recht strafbaren Handlungen. Diese Handlungen sind jedoch untereinander in hohem Grade ungleichwertig; die hauptsächlichsten Aufgaben der Kriminologie und ihre wichtigsten Erkenntnisse beziehen sich nicht auf alle irgendwie strafbaren Verhaltensweisen, sondern lediglich auf die aus gemeinwidriger Gesinnung entspringenden gemeinwidrigen Taten" (Exner a. a. 0., S. 4). 3. Zusammenfassung und Kritik Zu den hier wiedergegebenen Auffassungen von dem legalen Kriminalitätsbegriff als Grundlage für die Kriminologie und zu den wiedergegebenen Vorschlägen für eine Erweiterung oder Einengung des Gegenstandbereiches der Kriminalität kann folgendes angeführt werden: Die Kriminologie i s t eine Wissenschaft oder eine Zusammenfassung von Wissenschaften mit einem gemeinsamen Objekt. Sie beschäftigt sich mit einer wohl definierten Type menschlichen Verhaltens. Sie wendet die in anderen empirischen Wissenschaften üblichen und anerkannten Methoden an. Sie kann auf eine Reihe von Ergebnissen verweisen, die sowohl die Formulierung gut belegter gesetzmäßiger Zusammenhänge als auch Beschreibungen und Analysen von bestimmten Typen der Kriminalität, krimineller Gruppen (Banden u. a.) und einzelner Gesetzesübertreter umfaßt. Die grundlegenden Beobachtungen können nachgeprüft und die Gesetzmäßigkeiten durch neue Untersuchungen getestet werden. Daß es bisher nicht geglückt ist — so wie in einigen Naturwissenschaften —, die Gesetzmäßigkeiten in einer allgemeinen Theorie zusammenzufassen, rührt nicht an ihrem Status als Wissenschaft. Die Physik ist ganz gewiß schon vor Albert Einstein und Niels Bohr eine Wissenschaft gewesen. Viele Versuche, dem Kriminalitätsbegriff einen kriminologisch relevanten, materiellen Inhalt zu geben, spiegeln tiefgehende Meinungsverschiedenheiten über die Aufgabe der Kriminologie und über die Art der Kriminalitätsfaktoren, die „anerkannt" werden sollen, wider. Alle diese Versuche sind durch unhaltbare Verallgemeinerungen geprägt. Es wird mit voneinander abweichenden Vorstellungen darüber operiert, was normal und pathologisch, sozial und antisozial, moralisch annehmbar und moralisch verwerflich sei. Die Normalität wird von einigen als ein genau definierter statistischer Begriff (Burt), von anderen als das häufig Vorkommende (Void) und von wieder anderen als ein Ideal-

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zustand aufgefaßt, der entweder gar nicht beschrieben oder nur ganz unbestimmt abgegrenzt wird (Kinberg). Das Pathologische kann man nach Belieben auf ein enges Feld von Abweichungen begrenzen, die von allen als abnorme Prozesse oder Zustände anerkannt werden. Man kann es aber auch so erweitern, daß es jede Abweichung von dem Durchschnittlichen umfaßt, wodurch es für Theorie und Forschung nutzlos wird. Antisozialität kann sich mit allem decken, von gefährlichen Angriffen auf die Staatsmacht und die Bürger bis zu leichten Symptomen einer fehlenden Konformität mit der Gruppe. Etwa das gleiche gilt für Begriffe wie Unmoral und Normenbruch. Es gibt keine Möglichkeit, einen Hinweis darauf zu geben, was in irgendeiner Beziehung normal oder anomal, sozial schädlich oder das Gegenteil, moralisch oder unmoralisch ist; denn in dieser Hinsicht sind die Unterschiede von Bevölkerungsgruppe zu Bevölkerungsgruppe, von Gesellschaft zu Gesellschaft und von einer Zeit zur anderen noch größer als die Unterschiede des Kriminalitätsbegriffes. Nils Christie hebt mit Recht hervor, daß es gewisse Vorteile bietet, die Definition des Rechtspersonellen mit den Abänderungen in dem Bereich des Kriminellen, die daraus folgen, zu akzeptieren. Wird der Schwerpunkt auf „den Gesetzesübertreter, gesehen im Zusammenhang mit dem Rechtssystem", gelegt, dann werden 1. die Methodenprobleme in Verbindung mit der Repräsentativität wesentlich weniger hinderlich, 2. die Unterschiede in der Bestimmung der Kriminalität zur fruchtbaren Vergleichsmöglichkeit und 3. die Ergebnisse der Kriminologie leichter in einem sinnvollen Zusammenhang mit den vorhandenen Kenntnissen anderer Verhaltenswissen« Schäften gesehen (Christie, 1958, S. 124ff.). An diese allgemeinen Bemerkungen über die mißglückten Versuche, dem Kriminalitätsbegriff einen materiellen Inhalt zu geben, sollen weiterhin einige Betrachtungen angefügt werden, die sich auf spezielle Standpunkte beziehen, die vorher bereits erwähnt wurden. Es ist unsinnig, die Kriminalität als abnormes Verhalten zu bezeichnen, wenn man nicht nachweisen kann, daß alle — oder die allermeisten — kriminellen Handlungen von psychisch abnormen Personen begangen werden u n d pathologischen Motiven entspringen. Dieser Nachweis ist nicht erbracht worden. Es ist ebenso falsch, daß alle kriminellen Handlungen antisozial sind, wenn man nicht auch hier unsinnigerweise das Mit-StrafeBelegen als ein Element ansieht, das eine Handlung durch Definition antisozial macht. Es gibt unzweifelhaft kriminelles Verhalten, das nur durch eine spitzfindige Auslegung als sozial schädlich angesehen werden kann. Exners Definition des kriminologisch relevanten Kriminalitätsbegriffes, welche die Betonung darauf legt, daß die Hand-

lung einer antisozialen Gesinnung entspringe, bietet entsprechende Bestimmungsschwierigkeiten. Ähnliche Überlegungen können gegenüber den Auffassungen geltend gemacht werden, welche die moralische Verwerflichkeit der Handlung zum Mittelpunkt machen wollen. Nicht alle kriminellen Handlungen sind moralisch verwerflich. Will man die kriminellen Handlungen als Verletzungen der Normen betrachten, dann wird es, wie Sellin anführt und Tappan betont, notwendig, verschiedene Formen von Normbrüchen zu beschreiben und zu klassifizieren, so daß ihr Verhältnis zu den als kriminell geltenden Verletzungen der Normen klargelegt wird. Das muß nicht zu einer Erweiterung des Bereiches der Kriminologie führen. „Soziale Kontrolle jedoch ist ein verschiedenartiges und größeres Feld der Forschung als die Kriminologie, kein Ersatz für diese, und es würde ein Unglück sein, den philosophischen Mystizismus und die normative Unbestimmtheit der ersteren mit der relativ gut entwickelten Theorie und der Tatsachenkenntnis, die auf den kriminologischen Analysen von Generationen beruhen, zu vermischen" (Tappan, 1960, S. 5). Die einzige Schlußfolgerung aus dieser Übersicht über die mißglückten Versuche, den Kriminalitätsbegriff materiell zu definieren, muß die sein, daß die Kriminologie auf den legalen Begriff gegründet sein muß. Sellin hat vor einem zu weiten Gebrauch des Wortes Kriminalität gewarnt und will es auf die Bezeichnung der Strafgesetz-Kriminalität beschränken (Sellin, 1938, S. 32); er will aber doch gleichzeitig andere Verletzungen legaler Normen, ζ. B . der zivilrechtlichen, auch einschließen. Tappan zieht die Grenzen enger: „Kurz, es ist vorgeschlagen worden, daß sich die Forschungen über Verbrechen, im Unterschied zu anderen Typen von abweichendem Verhalten, nur mit Handlungen befassen sollten, die durch das Kriminalgesetz verboten sind und unter das Strafrecht fallen" (Tappan, 1960, S. 20, vgl. auch Tappan, 1953, S. 47f. Ähnliche Gesichtspunkte werden von Jefferey und vielen europäischen Kriminologen geltend gemacht, ζ. B . von Dürkheim, Bonger, Radzinowicz, Middendorff, Christie u. a.). Zu irgendeiner eindeutigen Definition des legalen Kriminalitätsbegriffes sind wir also nicht gelangt. Dagegen wird die Notwendigkeit nach ganz klaren, aber nicht notwendigerweise gleichartigen Abgrenzungen unterstrichen. Die Folgerungen aus möglichen Unterschieden müssen zur Beratung kommen, wenn die Forschungsergebnisse oder die Theorien vorgelegt werden. D. Der materielle Inhalt des legalen Kriminalitätsbegriffes Der legale Kriminalitätsbegriff kann nicht materiell definiert werden. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß der Begriff keinen materiellen

Kriminologie (Grundlagen) Inhalt hat. Aus den vorausgegangenen Abschnitten geht bereits hervor, daß sich viele Elemente in dem Begriff vereinigen. Als Abschluß soll hier nur folgendes hervorgehoben werden: Kriminelle Handlungen sind Verletzungen der Verhaltensnormen, aber nicht alle Normenbrüche sind kriminell. Dies trifft nicht einmal für „die schwersten" Verletzungen der Normen, noch für solche mit einem bestimmten — materiell definierten — Inhalt zu. Die als kriminell geltenden Normenbrüche können grob von zwei Gesichtspunkten aus beschrieben werden, die mehrmals im vorstehenden genannt wurden. a) Der Hauptteil, aber nicht alle kriminellen Handlungen werden in der betreffenden Gesellschaft als sozial schädlich betrachtet, aber nicht alle sozial schädlichen Handlungen sind kriminell. Das trifft auch für die in hohem Grade schädlichen Handlungen zu. b) Der Hauptteil, aber nicht alle kriminellen Handlungen werden in der betreffenden Gesellschaft als moralisch verwerflich betrachtet, aber nicht alle moralisch verwerflichen Handlungen sind kriminell. Das trifft auch für die am meisten verdammenswerten unter den unmoralischen Handlungen zu. Auf diesem Wege kann man die als kriminell geltenden Verhaltensformen nicht eindeutig definieren. Betrachtungen über die soziale Schädlichkeit und, mehr oder weniger verschleiert, auch über die moralische Verwerflichkeit der Handlungen tauchen jedoch häufig auf, wenn Kommissionen und gesetzgebende Versammlungen Änderungen der geltenden Strafgesetze erörtern. Hierzu kommen polizei-technische, beweismäßige und rein juristische Gründe, die oft wesentliche Verschiebungen in der Bestimmung des kriminellen Tatbestandes mit sich bringen können. Am stärksten wirkt jedoch die Tradition ein. Die Strafgesetze sind konservativ —• und müssen es vermutlich mit Rücksicht auf die Rechtssicherheit sein. Hierin liegt ein wesentlicher Teil der Erklärung für die Schwierigkeiten, den Kriminalitätsbegriff materiell zu definieren. E. Untersuchungen über spezielle Typen von Gesetzesübertretungen Selbst bei einer Begrenzung des kriminalrechtlichen Bereiches wird der Kriminalitätsbegriff immer noch eine Vielfalt verschiedener Verhaltensformen umfassen. Untereinteilungen werden oft erforderlich sein. Dies kann nach der Schwere der Kriminalität geschehen; so in einigen Ländern, in denen zwischen Verbrechen und Vergehen unterschieden wird: in Norwegen zwischen ,forbrytelser' (Verbrechen) und bloßen ,forseelser' (Vergehen); im angelsächsischen Recht zwischen ,felonies' (Kapitalverbrechen) und misdemeanours' (Vergehen) und zwischen ,indictable' (anklagbaren) und ,non-indictable offences' (nicht-

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anklagbaren Vergehen); in Frankreich zwischen ,crimes' (Verbrechen), ,delits' (Vergehen) und Kontravention' (Verletzung); in Deutschland zwischen Verbrechen, Vergehen und Übertretungen; und in Dänemark — ein prozessualer Unterschied — zwischen ,politisager' (Polizeisachen) und ,Statsadvokatsager' (Staatsanwaltsachen). Diese juristischen Einteilungen sind der Ausdruck für eine von den Gesetzgebern von vornherein aufgestellte Wertung der Verwerflichkeit oder der Gesellschafts-Schädlichkeit der Verbrechen, und sie können in einem gewissen Umfang wegweisend sein. Eine bessere — zumindest feinere — Abstufung erhält man, wenn die tatsächlich verhängten Sanktionen (Verwarnung, Buße, Gefängnis, Sicherheitsmaßnahmen usw.) und die Höhe der Strafe (die Größe der Buße, die Länge der Freiheitsstrafe) in Betracht gezogen werden. Sellin und Wolfgang (1964) haben versucht, das Problem in einer ganz anderen Weise zu lösen. Auf Grund von Beurteilungen der Handlungen ausgewählter Bevölkerungsgruppen stufen sie die Verbrechen nach ihrer Schwere ein. Eine Untereinteilung kann auch nach der Art der begangenen Gesetzesübertretungen, legal oder auf andere Weise definiert, erfolgen (hierüber siehe VI. B. 5.). In vielen Ländern verwendet man eine Drei- oder Vierteilung: Eigentumsverbrechen, Verbrechen gegen Personen (oft aufgeteilt in Gewalt- und Sexualverbrechen) sowie „andere Verbrechen", hierunter Staatsverbrechen. Die juristische Einteilung wird am weitesten aufgegliedert, wenn man den Definitionen des Gesetzes über die einzelnen strafbaren Tatbestände ganz genau folgt; es gibt aber Grenzen, die man nicht mit Vorteil überschreiten kann (vgl. VI. B. 5.). Im übrigen hat die kriminologische Forschung heutzutage die Tendenz, das Studium auf besondere Typen der Kriminalität zu konzentrieren. Aufschlußreicher als eine Untersuchung über die Kriminalität als Ganzheit kann es sein, etwas über Menschen zu erfahren, die Mord, Notzucht, Exhibitionismus, hetero- oder homosexuelle Verbrechen an Kindern, Lagerdiebstähle, Ladendiebstähle, Unterschlagungen, Betrügereien, Urkundenfälschung, allgemeingefährliche Verbrechen wie Brandstiftung, politische Verbrechen usw. begangen haben. Hand in Hand mit der Tendenz, die Untersuchungen auf einzelne Kategorien von Verbrechen zu konzentrieren, geht eine Tendenz, die legalen Klassifikationen zu verlassen. In den USA haben Lindesmith, Lemert und Cressey in drei Arbeiten über Opiummißbrauch, Scheckfälschung und Unterschlagung eine Methode, „limited case studies" genannt, angewandt, die später noch näher besprochen wird (siehe VI. D. 3.). Es ist wahrscheinlich, daß man durch das Studium einzelner Typen von Gesetzesübertretern schließlich zu einer besseren Beschreibung des

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materiellen Inhaltes des Kriminalitätsbegriffes kommen kann als durch Untersuchungen größerer und uneinheitlicher Gruppen. Durch den Nachweis früher unbeachteter, spezifischer Kriminalitätsfaktoren hat diese Methode große Vorteile. Trotzdem spricht viel dafür, auch in Zukunft einen Teil der Mittel für die Forschung in Untersuchungen über gemischte Gruppen von Gesetzesübertretern anzulegen. Es ist eine Tatsache, daß fast alle rückfälligen Kriminellen, die Freiheitsstrafen erhalten haben, wegen mehrerer verschiedener Typen von Gesetzesübertretungen verurteilt wurden, so daß es schwierig sein kann, unter den Kriminellen mit fortdauernder Kriminalität Vertreter für bestimmte, engdefinierte Typen von Gesetzesübertretungen zu finden (vgl. Wend, 1936). Von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet, haben solche Gruppen übrigens einen gemeinsamen Zug, auf den man Gewicht legen muß: Sie alle haben Normen verletzt, die in der betreffenden Gesellschaft so hoch gewertet werden, daß eine ernste Sanktion die Folge davon gewesen ist, und die meisten von ihnen haben dies mehr als einmal und auf mehr als eine Weise getan. Sie gleichen einander sozusagen durch ihr buntes Kriminalitätsmuster. Wird an der Forderung nach der „Reinheit" der Type festgehalten, würden die meisten Sittlichkeitsverbrecher, Zuhälter, Einbruchsdiebe usw. der Forschung entgehen, da sie auch Vertreter einer Reihe anderer Formen der Verletzung strafrechtlicher Normen sind. Untersuchungen über die gemischten Gruppen und über die „reinen" Verbrechens- und Verbrechertypen dienen jede auf ihre Weise einem Ziel. Sie können auf fruchtbare Weise einander ergänzen. IV. DIE KRIMINOLOGIE UND IHR VERHÄLTNIS ZU ANDEREN EMPIRISCHEN WISSENSCHAFTEN A. Ist eine Definition notwendig? Es gibt nur wenige Wissenschaften, bei denen die Definition dieser Wissenschaft und ihre Abgrenzung gegenüber anderen Wissenschaften eine entscheidende Rolle spielen. In den Naturwissenschaften haben in neuerer Zeit nur die Perioden Anlaß zu einer Neuorientierung der Grundbegriffe und des Umfanges gegeben, in denen sich neue Perspektiven eröffnet haben. Was die Kriminologie betrifft, so verhält es sich hier ganz anders, und Leon Radzinowicz sagt mit einigem Recht: „Zu viel Zeit ist schon vergeudet worden, besonders auf dem europäischen Kontinent, bei dem Versuch, eine durchgearbeitete und erschöpfende Definition für den Begriff Kriminologie zu konstruieren . . . " (Radzinowicz, 1961, S. 167). Die Übersicht über die Geschichte der Kriminologie zeige, daß solche Bestrebungen immer wieder zu einem falschen Schluß geführt hätten. Für die kriminologische Theorie könnten sie vielleicht

einigen Nutzen haben; für den Großteil der Forschung seien sie überflüssig. „Nicht eine Definition ist notwendig, sondern eine fachlich gute Beschreibung der Funktionen" (Radzinowicz, a. a. 0., S. 168). Eine ganz andere Beurteilung findet sich bei Hermanus Bianchi (1956, S. 2ff.). Ein Teil der üblichen Überlegungen über den Gegenstand und den Umfang der Kriminologie gehört aber doch in einen Handbuch-Artikel über Kriminologie. Darüber hinaus hegt die Aufgabe eher darin, zu beschreiben als zu definieren. Es erscheint uns wichtiger, das zu betrachten, womit man sich wirklich beschäftigt, als das, was man von einem abstrakten, vielleicht normativen Gesichtspunkt aus innerhalb des großen Gebietes, das Kriminologie genannt wird, behandeln müßte. Eine vorläufige Begrenzung des Stoffes ist notwendig gewesen: Obwohl sich einzelne europäische und viele amerikanische Darstellungen der Kriminologie im wesentlichen mit kriminalpolitischen Fragen von normativem Charakter beschäftigen, wird von diesen hier abgesehen. Unter Kriminologie wird eine nichtnormative Behandlung der Kriminalitätsprobleme verstanden(vgl.obenS.200). B. Allgemeine Beschreibung des Arbeitsfeldes der Kriminologie Anstatt die Kriminologie durch eine Definition abzugrenzen, die in formaler Hinsicht unangreifbar ist, aber den Tatsachen Gewalt antut oder spitzfindige, nicht immer gerade einleuchtende „Auslegungen" erfordert, kann man mehr oder weniger summarisch die Probleme und Bereiche aufzählen, welche die Kriminologie behandelt. J. Michael und M. J. Adler haben in ihrer kritischen Darstellung der Möglichkeiten der Kriminologie, in „Crime, Law, and Social Science" von 1933, davon abgesehen zu definieren und statt dessen eine kurze Übersicht über das Wissen gegeben, das man in der kriminologischen Literatur findet. Es sei das Wissen über 1. kriminelle Tätigkeit und kriminelle Organisationen, gegründet auf mehr oder weniger breit beschreibende Darstellungen; 2. die persönlichen Eigentümlichkeiten des einzelnen Gesetzesübertreters aus Fallberichten (case stories) oder aus quantitativen Beschreibungen darüber, wie oft bestimmte Eigenschaften bei Gruppen von Gesetzesübertretern vorkämen; 3. das Milieu, aus dem Gesetzesübertreter kämen; 4. die Behandlung von Gesetzesübertretern, die Verfahren, durch welche sie ergriffen, festgehalten, angeklagt und nach dem Urteilsspruch behandelt würden; auch dieses sei Wissen über das Milieu des Gesetzesübertreters. — Diese Erkenntnis bezeichnen die Verfasser einfachheitshalber als Kriminologie (Michael und Adler, 1933, S. 44—46).

Kriminologie (Grundlagen) Walter C. Reckless gibt eine Abgrenzung an, indem er etwas eingehender zehn Hauptgebiete beschreibt, die sich mit der Kriminologie decken sollen (Reckless, 1955, S. 6—7). Die ersten sechs umfassen die Kriminologie in der Bedeutung der Kriminalitätsbeschreibung, der Ursachenforschung und teilweise der Rechtssoziologie. „Die Kriminologie sollte studieren, wie die Entwicklung und Veränderung der Kriminalgesetze mit den sozialen, ökonomischen und politischen Systemen und den Schemata der sozialen Wertungen in verschiedenen Gesellschaften in Verbindung stehen . . .". Das siebente Gebiet weitet die Aufgabe der Kriminologie dahin aus, daß es auch das Studium bestimmter Formen von Asozialität umfaßt. Die drei letzten decken sich mit den Bereichen „soziale Kontrolle, Pönologie, Gefängnisverwaltung (correctional administration)" sowie Vorbeugung gegen Kriminalität. Während Michael und Adler eng, beschreibend und theoretisch abgrenzen, deckt sich Reckless' Beschreibung also auch mit einem wesentlichen Teil der normativen Kriminalpolitik. C. Das Verhältnis der Kriminologie zur Soziologie Es gibt — wie erwähnt (siehe S.198) — Kriminologen, welche die Kriminologie einfach als ein Spezialgebiet der Soziologie betrachten und diese Beschreibung als erschöpfend ansehen. Sutherland und Cressey sind die bekanntesten Vertreter dieser Auffassung: „Kriminologie ist die Gesamtheit aller Kenntnisse über das Verbrechen als soziale Erscheinung" (Sutherland und Cressey, 1960, S. 3). Im übrigen aber betrachten fast alle Kriminologen unserer Tage die -> Kriminalsoziologie als ein sowohl theoretisch wie forschungsmäßig wichtiges Gebiet. Als Begründung hierfür können zwei gute Gründe angeführt werden: 1. Die Typen des Verhaltens, zu der die Kriminalität gehört, kann man auf Grund ihrer Kompliziertheit nicht „erklären", ohne sie in ihrer Beziehung zur Gesellschaft zu sehen, in der sie vorkommt. Die Frage nach den zeitmäßigen und geographischen Veränderungen der Kriminalität, nach ihrer Abhängigkeit von kulturellen Faktoren, Gesellschaftsstrukturen, ökonomischen und berufsmäßigen Verhältnissen, von Rasse und Nationalität sind zentrale Bereiche, die von ebenso großem Iuteresse für die Soziologie wie für die Kriminologie sind. Dasselbe gilt für die individuellen Milieuverhältnisse, das Heranwachsen, die Ausbildung, die ehelichen Verhältnisse, die Nachbarschaft, die Kameradschaftsgruppe, die Bande usw. Jede „rein" biologische, psychologische oder psychiatrische Theorie wird folglich zu falschen Schlüssen kommen. Selbst unter den Kriminologen, die der Soziologie eine ganz untergeordnete Bedeutung beilegen, ist kaum einer, der sich bei seinen Erklärungsversuchen nicht genötigt sieht, die Milieuverhältnisse mit in Betracht zu ziehen.

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Ihre Gesichtspunkte sind sozial-medizinisch, sozial-psychologisch, sozial-psychiatrisch usw, 2. Hierzu kommt die Eigenheit der Kriminologie, daß nämlich das kriminelle Verhalten nur als kriminell definiert werden kann kraft seiner Beziehung zur Gesellschaft und deren Mitglieder: die Gesetzgeber, die das Recht ausübenden Behörden, die Opfer der Kriminalität, etwaige Zeugen, die Presse, die über die Gesetzesübertretung berichtet und oft auch eine bestimmte Wertung des Verbrechers und seiner Tat durch ihre Haltung widerspiegelt, die Zeitungsleser und übrigens auch „die durch das Verbrechen aufgeschreckten rechtschaffenen Menschen". Der Kriminalitätsbegriff ist also ein sozio-legaler Begriff, und die Kriminalität kann demnach als eine besondere Form des Normenbruches aufgefaßt werden. Das bedeutet, daß die Kriminologie letzten Endes ein Zweig der Moralwissenschaft (la science des moeurs oder Ethologie) ist, die sich mit den Normenbrüchen beschäftigt, die kriminalrechtlich sanktioniert sind (Näheres siehe Abschnitt III. C. 1.). Die Kriminalitätsbekämpfung ist eines der Mittel, welche die Gesellschaft anwendet, um das Verhalten ihrer Mitglieder zu kontrollieren. Deshalb werden die Definition des Kriminalitätsbegriffes, die polizeiliche Kontrolle, die u. a. für den Umfang der verborgenen Kriminalität von Bedeutung ist, die Pönologie und im ganzen genommen die kriminalpolitische Praxis im weiteren Sinne Gegenstände sein, die für die Kontrollsoziologie und die Rechtssoziologie großes Interesse haben (Abschnitt V). D. Das Verhältnis der Kriminologie zur Biologie 1. Die

Somatologie

Die Geschichte der Kriminologie zeigt völlig eindeutig, daß sich ein wesentlicher Teil der Forschung des vorigen Jahrhunderts auf die Kriminalsomatologie (Kriminal-Anthropologie) gerichtet hatte. Damals wurde die Kriminologie von vielen als ein Sondergebiet der Anthropologie angesehen. In unseren Tagen spielt diese Forschung eine viel weniger hervortretende Rolle, wenn man auch in vielen Untersuchungen von Gesetzesübertretern Befunde über das Vorkommen von Krankheiten und manchmal auch über Körperbau und -entwicklung registriert. Die Endokrinologie (Lehre von der Funktion der Drüsen mit innerer Sekretion), die in den Jahren zwischen den Weltkriegen einige Aufmerksamkeit auf sich zog, hat — abgesehen von bestimmten Formen der Sexualkriminalität ·— vorläufig keine Ergebnisse von bleibendem Wert erbracht; es ist aber ein Gebiet, auf dem man noch Überraschungen erleben kann. Die Rechtsmedizin ist ein wertvolles Hilfsmittel bei der Nachforschung über Verbrechen, und in der - > Viktimologie wird sie vermutlich in der Zukunft eine bedeutende Rolle spielen. Die kriminal-somatologische Forschung kann natürlich als

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ein medizinisches Sondergebiet angesehen werden, das teilweise zur Kriminologie und teilweise zu deren Hilfswissenschaften gehört. 2. Kriminalpsychologie und -psychiatrie Psychologie und Psychiatrie müssen im Zusammenhang gesehen werden. Teils ist die Grenzziehung zwischen gesund und krank, normal und pathologisch außerordentlich schwierig, teils ist die Arbeitsteilung zwischen Psychologen und Psychiatern in unseren Tagen fließend. Würde man daran festhalten, daß sich die Psychologie mit dem normalen und die Psychiatrie mit dem anomalen Bewußtseinsleben beschäftigen sollte, würde man beispielsweise in die paradoxe Situation geraten, daß die Frage nach der kriminogenen Bedeutung der Intelligenzdefekte und vielleicht auch der höheren Intelligenzstufen zur Psychiatrie gehört, der Zusammenhang zwischen der normalen Begabung und der Kriminalität andererseits aber ein psychologisches Anliegen sein würde. Die Geschichte der Kriminologie zeigt denn auch, daß die kriminalpsychologische und -psychiatrische Forschung in einem engen Wechselverhältnis, oft Hand in Hand gearbeitet haben. Vielfach sind es dieselben Probleme, die Psychologen und Psychiater zu lösen versuchen (die Frage nach der Bedeutung der individuellen — in der Persönlichkeit verankerten — Kriminalitätsfaktoren), wie auch die Methoden in einem gewissen Umfang dieselben sind (Teste und klinische Beobachtung). Der Psychiater hat mit seiner breiten medizinischen Grundausbildung die Möglichkeit, sich in den Grenzgebieten zwischen Psychologie und Medizin (Psycho-Somatik, die organisch bedingten Hirnleiden usw.) zu bewegen, wo der Psychologe zurückhaltend sein muß. Entsprechend muß es auch der Psychiater sein, der die Therapieformen anwendet, die spezifisch medizinisches Wissen erfordern (Anwendung von Organtherapie, Psychopharmaka usw.). Auf der anderen Seite sind Hauptgebiete der Psychologen Tests und der größte Teil der Therapie, der keine besondere medizinische Ausbildung erfordert (ζ. B. nichtdirektive Beratung [non-directive counselling] und sozial-psychologische Stütztherapie mit der dazugehörigen Feldarbeit). Die Psychoanalyse, die ·— als Theorie betrachtet — zur Psychologie gerechnet werden kann, hat verschiedene Forscher vorzuweisen, die Beiträge von wesentlich kriminologischem Interesse geleistet haben (August Aichhorn, Wilhelm Reich, Theodor Reik, David M. Levy, Paul Reiwald, Melitta Schmideberg, Alexander und Staub, Robert Lindner, Edward Glover, Käte Friedländer, Karl Menninger, Ivy Bennett u. a.). Ihre Beiträge zur Kriminaltherapie scheinen — vor allem wohl aus praktischen Gründen ·— immer noch quantitativ bescheiden zu sein. In der kriminologischen Forschung unterstützen die beiden Wissenschaften

einander, wenn es sich um die Erforschung der Kriminalitätsfaktoren handelt, die auf die Persönlichkeit des Gesetzesübertreters zurückgeführt werden müssen (Charakter, Intelligenz, Vorkommen von Psychosen, Neurosen und anderen seelischen Leiden, Alkoholismus usw.); ferner wenn es darum geht, die sozial-psychologische Frage nach der Bedeutung des Heranwachsens und der späteren Milieuverhältnisse für die Entwicklung der Persönlichkeit und den Hintergrund für die psychologischen Antriebe und Bedürfnisse zu der kriminellen Tat zu erforschen. Es fehlt nicht an Beispielen, daß Psychologen und Psychiater ihrem eigenen Arbeitsgebiet eine so entscheidende Bedeutung beimaßen, daß sie die Kriminologie für ein Sondergebiet der Psychologie und der Psychiatrie ansahen. Kinberg legt das Hauptgewicht auf biologische Faktoren, und das führt schließlich — indirekt — dazu, daß er die Kriminologie in der Psychopathologie verankert. Ganz gewiß sei die Kriminalität ein soziallegaler Begriff, aber sie sei doch in erster Linie „eine soziale Anomalie", die mit der individuellen Erscheinung, die Krankheit genannt werde, vergleichbar sei. Die Kriminalität sei „ i h r e m W e s e n n a c h " (hervorgehoben vom Verfasser) „eine menschliche, biologische und soziale Erscheinung" und „nur sekundär eine juristische Erscheinung" (Kinberg, 1926, S. 70). Gesetzesübertreter, deren Handlungen soziale Anomalien seien, wichen im allgemeinen auch in psychischer Hinsicht ab (Kinberg, a. a. 0., S. 18). Solche Auffassungen sind ebenso einseitig wie die entsprechenden soziologischen. Rechtspsychologie (Psychologie des Strafverfahrens, Zeugen-Psychologie usw.) und Rechtspsychiatrie (mit Problemen der Zurechnungsfähigkeit und der Strafeignung als Mittelpunkt) sind Sondergebiete der Psychologie und Psychiatrie und haben ihrer Zielsetzung nach teilweise normativen Charakter; aber ihre Bedeutung für die kriminologische Forschung darf nicht unterbewertet werden. E. Multidisziplinäre Aulfassungen Während man früher einseitigere Theorien aufstellte, um zu beleuchten, was Kriminalität ist, wie sie ausgeforscht und erklärt werden muß, sind heutzutage abgeschattetere Auffassungen erwachsen. Obwohl man immer noch Beispiele von den Monofaktortheorien (Einzelfaktortheorien) findet, sieht man doch oft eine wesentliche Änderung in ihrer Formulierung. Ein Soziologe muß dem Prinzip folgen, daß soziale Phänomene durch soziale Ursachen erklärt werden müssen, so wie ein Kliniker biologische, psychiatrische, psychologische oder genetische Ausgangspunkte für seine Erklärungen wählt. Es hat keinen Zweck, zu diskutieren, welcher der Gesichtspunkte „richtig" ist, es dreht sich um verschiedene „frames of reference" oder Begriffssysteme, mit deren Hilfe

Kriminologie (Grundlagen) wir versuchen, dasselbe Stück Wirklichkeit zu verstehen. Das Ideal würde das Zusammenarbeiten der beiden Begriffssysteme sein; mit unserem heutigen Wissen ist es aber kaum möglich (vgl. Segerstedt, in Agge u. a., 1955, S. 163—164). Während die Monofaktorentheorien, und speziell die soziologischen, einen wichtigen Platz in der amerikanischen Kriminologie eingenommen haben, sind die meisten europäischen und einige amerikanische Forscher in den Zwischen- und Nachkriegsjahren Fürsprecher für Multifaktorentheorien mit variierendem Inhalt gewesen. Gemeinsam für sie ist, daß sie annehmen, daß die Kriminalität — oder die verschiedenen Kriminalitätsaiten — ein Produkt von einer größeren oder kleineren Auswahl von verschiedenartigen Faktoren ist. Bei einigen der Forscher findet man nicht viel anderes als ein ziemlich unfruchtbares Aufzählen von isolierten Faktoren, die nur das gemeinsam haben, daß sie mehr oder weniger stark mit Kriminalität verbunden sind. In der Regel sind sie von vielen verschiedenen Gebieten eingesammelt, und man sieht nur kleine Ansätze dazu, sie unter einem oder mehreren Grundgesichtspunkten zusammenzufassen. Für andere wird die Frage von dem Zusammenhang und Zusammenspiel dieser Faktoren eines der zentralen Probleme der Kriminologie. Zu dieser Gruppe von Kriminologen gehören unter u. a. Exner, Radzinowicz, Hurwitz, Agge, Middendorff und die Amerikaner Sellin, Reckless und Tappan. Sheldon und Eleanor Glueck nehmen einen abweichenden Standpunkt ein. In ihren früheren Büchern näherte sich ihre Methode einer rauhen Empirie. In der Serie von Veröffentlichungen, die mit „Unraveling Juvenile Delinquency" beginnt (siehe I S . 154/155), ist die Frage nach dem Zusammenspiel der Faktoren angeschnitten, aber in einer sehr formellen Weise. (Siehe übrigens Glueck, 1956, über „eclectic criminology".) Amerikanische Kriminologie ist sehr stark mit der Soziologie verknüpft gewesen, während die europäische Kriminologie in der Biologie, speziell der Psychiatrie verankert gewesen ist, und sie hat — auch heute — eine nähere Verbindung mit dem Strafrecht. Dieses Schisma hat die Monofaktorentheorien begünstigt. Denn die Anhänger der sozialwissenschaftlichen Methoden haben die Notwendigkeit einer empirischen Nachprüfung von Hypothesen unterstrichen, während die Anhänger der klinischen Methode die Bedeutung der Einfühlung und Intuition betont haben. Hiermit sind die Psychiater eine leichte Beute der Kritik der Soziologen geworden (vgl. Wheeler, 1962, S. 145, und Christie, Kriminalsosiologi, 1965, S. 24). Die Tendenz geht doch klar in die Richtung, daß die abweichenden Linien sich nähern. Ob sie sich verbinden lassen oder „nur" dazu gebracht werden, parallel zu verlaufen, ist eine fundamentale Frage der Kriminologie unserer Zeit. Oder in einer anderen Weise gesagt: Die Frage ist, ob es möglich

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ist, diese zwei fundamentalen Gesichtspunkte unter dieselbe „frame of reference" einzuordnen (vgl. Wheeler, 1962, S. 146. Siehe auch Ferracuti und Wolfgang, 1964, S. 407). F. Zusammenfassung Das Verhältnis der Kriminologie zu Wissenschaften wie Soziologie, Psychologie, Psychiatrie sowie Medizin wird schließlich durch die Tatsache bestimmt, daß die Kriminologie eine empirische Wissenschaft ist, deren Hauptaufgabe die Kriminalitätsbeschreibung und die Erforschung der Kriminalitätsfaktoren ist. Sie können als die Grundwissenschaften der Kriminologie aufgefaßt werden. Bereiche wie Rechtssoziologie, Rechtspsychologie und Rechtspsychiatrie sowie Rechtsmedizin gehören zu den Grenzgebieten der Kriminologie. Sie sind Hilfswissenschaften der Kriminologie, deren beschreibender Teil eine große Bedeutung für die Forschung hat. Im Kriminalprozeß und in der kriminalpolitischen Praxis spielen sie übrigens durch ihre normativ betonten Gutachten oft eine entscheidende Rolle. Man kann sie nach Gutdünken als soziologische, psychologische, psychiatrische, medizinische Sondergebiete oder als Zweige der Kriminalwissenschaften auffassen (vgl. auch H. J . Schneider 1966). V. DAS VERHÄLTNIS DER KRIMINOLOGIE ZU DEN ANDEREN KRIMINALWISSENSCHAFTEN A. Die historische Entwicklung Während des Entwicklungsprozesses der Kriminologie sind kriminalpolitische und kriminologische Betrachtungen stets eng miteinander verknüpft gewesen. Die Voraussetzung, daß die Kriminologie eine Wissenschaft werden konnte, war eine veränderte Auffassung von dem Fragenbereich .Verbrechen und Strafe'. Solange der Vergeltungsgedanke nicht nur in der Theorie, sondern auch in der praktischen Kriminalpolitik vorherrschte, blieb nicht viel Raum für kriminologische Untersuchungen über das Milieu und die Person des Gesetzesübertreters, und nicht einmal die Kriminalität als solche bot der Forschung besonderen Anreiz. Selbst bei einigen der Pioniere, deren Bedeutung für die Kriminologie unbestreitbar ist, sind eigentliche kriminologische Fragestellungen eine seltene Erscheinung (vgl. eine Reihe von Beispielen in Hermann Mannheim [Hrsg.]: Pioneers in Criminology). Als die klassischen Strafrechtstheorien den Gesichtspunkten der Positiven Schule nach und nach weichen mußten, zog die kriminelle Person immer größere Aufmerksamkeit auf sich, während die kriminelle Handlung entsprechend in den Hintergrund trat. Auf der anderen Seite begannen die Ergebnisse und Hypothesen der Kriminologie zunehmend eine Rolle für die Kriminalpolitik und das Strafrecht zu spielen. Und heute beruft man sich oft

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auf kriminologische Gesichtspunkte bei durchgreifenden Änderungen der Kriminalgesetze und der kriminalpolitischen Praxis. B. Das allgemeine Verhältnis der Kriminologie zum Kriminalrecht und zur Kriminalpolitik Das Verhältnis zwischen der Kriminologie und Disziplinen wie Kriminalrecht und Kriminalpolitik wird immer wieder in Definitionen und Darstellungen über die Kriminologie und ihren Bereich angeschnitten. W. A. Bonger teilte die Kriminologie in zwei Hauptgebiete: „Mit Kriminologie meinen wir die Wissenschaft, deren Ziel es ist, die Erscheinung, die Kriminalität genannt wird, in ihrem ganzen Umfang zu studieren (dies ist theoretische oder ,reine' Kriminologie), während wir Seite an Seite mit dieser theoretischen Wissenschaft und gegründet auf ihre Schlußfolgerungen etwas haben, das praktische oder angewandte Kriminologie genannt wird" (Bonger, 1936, S. 1). Zur Kriminologie gehört demnach infolge Bonger auch die Pönologie. Im Gegensatz hierzu war für Adolf Lenz die Kriminologie „die allgemeine Erscheinungslehre des Verbrechens" (Lenz, 1927, S. 20). Das Verhältnis zwischen der Kriminologie und dem Strafrecht sei „das einer Wissenschaft von den empirischen Erscheinungen selbst zu der Wissenschaft von der rechtlichen Normierung dieser Erscheinungen; es ist der Gegensatz des Wissens vom Sein zum Wissen vom Sollen" (Lenz, a. a. 0., S. 21). Robert G. Caldwell — um einen Vertreter der am weitesten verbreiteten Auffassung in den USA zu nennen — hebt hervor: „Kriminologie in ihrem weitesten Sinne ist die ungeteilte Gesamtheit aller Kenntnisse über Verbrechen und Verbrecher und die Anstrengungen der Gesellschaft, diese zu unterdrücken und ihnen vorzubeugen. Sie ist also aus Kenntnissen zusammengesetzt, die aus solchen Bereichen wie Rechtswissenschaft, Medizin, Religion, Naturwissenschaft, Erziehung, Sozialarbeit, Sozialethik und öffentliche Verwaltung herausgezogen sind; und sie schließt in ihren Bereich die Wirksamkeiten der gesetzgebenden Körperschaften, der Behörden der vollziehenden Gewalt, der Gerichte, der Erziehungsanstalten und der privaten und öffentlichen Sozialfürsorge ein" (Caldwell, 1956, S. 1). Seine Auffassung von der Kriminologie im engeren Sinne kommt dem näher, was dieser Artikel behandelt (Caldwell a. a. 0., S. 3). Sutherland und Cressey geben in „Principles of Criminology" einer ganz entsprechenden Auffassung Ausdruck (Sutherland und Cressey, 1960, S. 3). Vertreter einer wesentlich engeren Auffassung über die Kriminologie als die übliche amerikanische finden sich hauptsächlich in Europa. Franz Exner definiert die Kriminologie als „die Lehre vom Verbrechen als Erscheinung im Leben des Volkes und im Leben des einzelnen" (Exner, 1949, S. 1). Pönologische und kriminalpolitische Fragen

werden in dem Buch nicht behandelt. Das Strafgesetz und die kriminalpolitische Praxis interessieren nur so weit, wie sie als Kriminalitätsfaktoren, die auf „die Straffälligkeit der Staatsbürger" Einfluß haben, auftreten (Exner, a. a. 0., S. 103 ff.). Entsprechende Auffassungen findet man bei Radzinowicz, Hurwitz und Agge. Aber auch die weite Abgrenzung findet in Europa ihre Anhänger. Laignel-Lavastine und Stanciu definieren sehr breit und ein wenig vage die Kriminologie als „das vollständige und umfassende Studium des Menschen mit dem feststehenden Ziel, die Gründe und Quellen seiner antisozialen Tätigkeit besser kennenzulernen. Es ist die vollständige Wissenschaft vom Menschen" (LaignelLavastine und Stanciu, 1950, S. 14). Weniger unbestimmte, aber ähnlich weite Auffassungen findet man bei Kinberg, Seelig und Andenaes. Die Frage nach dem Verhältnis der Kriminologie zu Kriminalrecht und -> Kriminalpolitik wird hinsichtlich des Gegenstandes und der Problemstellungen unten näher behandelt. C. Der Gegenstand der kriminalwissenschaftlichen Disziplinen Das Kriminalrecht ist die Wissenschaft von den kriminalrechtlichen Normen, in erster Linie von den Gebots- und Verbotsnormen. Es definiert kriminelles Verhalten, Verantwortlichkeitsregeln sowie Normen, welche die Sanktionen und deren Anwendung betreffen. Die Gegenstände der Kriminologie sind — wie weiter oben bereits ausgeführt — kriminelle Handlungen und kriminelle Personen. Die Kriminologie und das Kriminalrecht unterscheiden sich also klar voneinander durch ihre Objekte. Dagegen unterscheidet sich der Gegenstand der Kriminalpolitik weniger klar von den zwei eben genannten Wissenschaften. Am besten kann sie wohl als die Wissenschaft von der Bekämpfung der Kriminalität definiert werden. Dieser Bereich erstreckt sich wesentlich weiter als bis zu den kriminalrechtlichen Normen, die als ein Instrument der Kriminalpolitik aufgefaßt werden können (Radzinowicz, The Meaning and Scope of Criminal Science, 1948, S. 25); und er erstreckt sich auch weiter als bis zu einer nur beschreibenden und erklärenden Kriminologie, da Behandlung und Vorbeugung die zentralen Themen sind. Der Teil der Rechtssoziologie, der sich mit den kriminalrechtlichen Regeln, mit den Behörden, welche diese handhaben, und mit der Einstellung der Bevölkerung zu „Verbrechen und Strafe" beschäftigt, hat, genauso wie Kriminalrecht und (teilweise) Kriminalpolitik, ein Normensystem zum Gegenstand. Schwieriger ist es, eine Trennung von Kriminologie und Rechtspsychologie sowie Rechtspsychiatrie auf Grund ihrer Gegenstandsbereiche vorzunehmen. Die Rechtspsychologie und die Rechtspsychiatrie beschäftigen sich mit kriminellen Personen, und die Ver-

Kriminologie (Grundlagen) bindung mit der Kriminalpsychologie und -psychiatrie ist eng. Ähnliches gilt für die Kriminalistik; sie hat in erster Linie die kriminellen Handlungen und in zweiter Linie die kriminellen Personen zum Gegenstand. Von der Kriminologie unterscheiden sich diese Wissenschaften besonders durch ihre praktischen Ziele. D. Kriminalwissengchaftliche Problemstellungen 1. Kriminologie und Kriminalrecht Die Problemstellung der Kriminologie wird als beschreibend-theoretisch gekennzeichnet. Ihre Aufgabe ist es, zu beschreiben und zu erklären. Dasselbe kann mit einem gewissen Recht von dem Kriminalrecht gesagt werden. Ein wesentlicher Unterschied liegt in den Gegenständen dieser beiden kriminalwissenschaftlichen Disziplinen (siehe oben unter C). Dies führt jedoch auch zu einem Unterschied in der Problemstellung und der Methode. Die Methode der Kriminologie ist empirisch, die des Kriminalrechts deduktiv und pragmatisch und — so werden einige hinzufügen — teilweise normativ. Über den normativen Charakter des Strafgesetzes sind sich alle einig. Alle seine Paragraphen sind Direktiven für den Richter, und der Hauptteil seiner Sätze kann so umschrieben werden, daß ihr vorschreibender oder anweisender Inhalt für den Bürger klar zum Vorschein kommt. Sie haben Bewirkungsabsicht und können weder richtig noch falsch sein. Von den Thesen der Rechtswissenschaft wird dagegen angenommen, daß sie Beschreibungen von Sachverhalten sind, Behauptungen, die sich bewahrheiten oder als falsch erweisen können. Sie handeln vom gültigen Recht. Es sind Thesen, mit deren Hilfe man das gültige Recht mit Hinblick auf die Anwendung in konkreten Rechtsfällen beschreibt, ableitet, vergleicht und erklärt. Es sind Konsequenz-Behauptungen (wenn dies gültiges Recht ist, dann folgt d a r a u s . . . ) , die von den Rechtsnormen hergeleitet werden können. Um begründet zu werden, benötigen sie nicht, wie die normativen Sätze (die Kriminalität muß mit Rücksicht auf die Gemeinschaft bekämpft werden), eines alogischen Hinweises auf ein Wertsystem (vgl. Alf Ross: Om ret og retfserdighed, 1953, S. 14ff.). Ausgehend von dieser Auffassung ist das Kriminalrecht eine logisch-deduktive Wissenschaft, die von dem Normensystem des Kriminalgesetzes handelt. Die Kriminologie ist eine empirische Wissenschaft, die von einem weitspannenden Erfahrungsbereich über kriminelle Handlungen und kriminelle Personen aus und mit Hilfe der üblichen empirischen, wissenschaftlichen Methoden (hierunter auch logisch deduktives und induktives Denken) versucht, die Kriminalität zu beschreiben und zu erklären. Es bleibt doch eine Frage, ob diese an und für sich klare Beschreibung des Kriminalrechts erschöpfend ist. Die Ausbildung in Krimi-

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nalrecht besteht vermutlich aus mehr als einem Training in deduktivem Denken. Die Einübung des juristischen Gutachtens, die Anwendung von Analogien, die Einordnung konkreter Handlungen unter die Verhaltensnormen des Strafgesetzes, deren Tatinhalte nicht immer eindeutig definiert sind, bezieht unzweifelhaft in bedeutendem Umfang Erfahrungsmaterial über Gemeinschaftsverhältnisse, Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung mit ein, sowie ab und zu auch normative Momente, die in den angestellten Überlegungen nicht immer klar herauskommen. Die Unterschiede in der Auffassung der Theoretiker (und Praktiker) von dem gleichen Sachverhalt, ζ. B. über Bestimmungen eines Tatinhaltes, Strafbarkeitsbedingungen, Anwendung von Sanktionen oder Straffestsetzung, scheint nicht immer auf einen mangelhaften Gedankengang bei einem oder mehreren der Sachkundigen zurückgeführt werden zu können. Manchmal scheinen die Abweichungen auf Urteilen von normativem Charakter zu beruhen, die nur durch eine Beschreibung der Erlebnisse „begründet" werden können, welche die betreffenden Theoretiker von einem mehr oder oft weniger universalen Wertsystem haben. Wenn diese Beschreibung richtig ist, kann man den Unterschied zwischen Kriminologie und Kriminalrecht auch dadurch charakterisieren, daß man die erstere als eine (nichtnormative) Wissenschaft bezeichnet, während das letztere nichtwissenschaftliche Momente von normativem Charakter enthält. 2. Kriminologie und Kriminalpolitik Die theoretische -> Kriminalpolitik kann — wie im Abschnitt I erwähnt — als die Lehre von der Vorbeugung gegen die Kriminalität und von der Behandlung der Gesetzesübertreter und ihre Anwendung als kriminalpolitische Praxis definiert werden. In diese Definition darf man jedoch nicht hineinlegen, daß praktische kriminalpolitische Bestrebungen immer auf einem zusammenhängenden System kriminalpolitischer Thesen gegründet seien, auf einer allgemeinen Theorie, die, genauso wie die wissenschaftlichen Theorien, richtig oder falsch sein könne. Deshalb sollte der Ausdruck ,kriminalpolitische Theorie1 auch nicht angewandt werden. Unter theoretischer — oder vielleicht besser: theoretisierender — Kriminalpolitik wird „eine klar formulierte und begründete Lehre von etwas verstanden, das man für wünschenswert ansieht, danach zu streben" (Waaben, 1961), d. h., es wird darunter ein kriminalpolitisches Programm verstanden. Sie hat eher den Charakter einer politischen D e b a t t e als einer wissenschaftlichen Diskussion. Von einer wissenschaftlichen kriminalpolitischen Theorie würde man mit einigem Recht sprechen können, wenn man auf logisch ableitendem Wege, ausgehend von einer einzigen oder einigen wenigen allgemeinen krimi-

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nalpolitischen Normen, imstande wäre, ein umfassendes und zusammenhängendes System aufzubauen, das, mit Hilfe der Ergebnisse beispielsweise der Kriminologie und der Rechtssoziologie, auf alle Fragen der praktischen Kriminalpolitik Antwort geben könnte. Abgesehen davon, daß dies eine Utopie ist, wird noch dazu bemerkt, daß die Axiome einer solchen Wissenschaft notwendigerweise aus Werturteilen bestehen müßten. Der nichtwissenschaftliche, wertende Charakter der Kriminalpolitik liegt also klar zutage. Hierdurch unterscheidet sie sich grundsätzlich von der Kriminologie, die als Wissenschaft niemals zur Aufstellung kriminalpolitischer Regeln, noch weniger zu einer kriminalpolitischen Theorie führen kann. Zwischen „Sein" und „Sollen" ist eine unüberwindliche Kluft. Aber natürlich gibt es nichts, das den wissenschaftlich arbeitenden Kriminologen hindert, sich auch für kriminalpolitische Probleme zu interessieren, sich eine eigene Auffassung darüber zu bilden, wie sie am besten zu lösen sind, und überhaupt an der kriminalpolitischen Debatte teilzunehmen. Tut er dies, dann muß er sich jedoch, sobald er aus dem engen Feld der Konsequenz-Behauptungen heraustritt, um seiner selbst und um der Kriminologie willen klarmachen, daß er nicht mehr als Kriminologe spricht. Ähnliche Möglichkeiten einer Vermischung von Wissenschaft und Politik prägen übrigens den ganzen sozialwissenschaftlichen Bereich (vgl. Barbara Wootton, 1959, S. 317). Die historische Verbindung zwischen Kriminologie und Kriminalpolitik beweist, daß ein solches Zusammenspiel fruchtbar sein kann; sie führt aber auch das Risiko vor Augen, das darin liegt, daß in der Debatte die Ergebnisse und Hypothesen der Kriminologie mit politischen Bestrebungen vermischt werden. Kriminalpolitik ist also nicht einfach „richtig angewandte Kriminologie". Auf der anderen Seite kann die Kriminologie aber auch nicht schlecht und recht als eine von den Hilfswissenschaften der Kriminalpolitik aufgefaßt werden. Die Kriminologie ist nicht nur eine angewandte Wissenschaft. Sie hat ihre ganz selbständige Bedeutung unabhängig davon, ob die Ergebnisse vielleicht anzuwenden sein werden. Die Geschichte der Wissenschaften beweist vollauf, daß es zu kurzsichtig! st, sie nach ihren praktischen Ergebnissen zu bewerten. Die Erforschung der Kriminalität hat ihren eigenen Erkenntniswert, weil sie die wissenschaftliche Neugier einiger Menschen befriedigt. Eine andere „Entschuldigung" benötigt man nicht, wenn man sich mit der Kriminologie beschäftigt. 3. Kriminologie

und

Rechtssoziologie

Der Teil der Rechtssoziologie, der sich mit dem Kriminalgesetz und der praktischen Kriminalpolitik beschäftigt, gehört zweifellos zu den Kriminalwissenschaften. Ihre Aufgabe ist es, das

strafrechtliche Normensystem, das Verhalten der Behörden und die Haltung der Bevölkerung zu „Verbrechein und Strafe" auf dem Hintergrunde des allgemeinen soziologischen Wissens zu beschreiben und zu erklären. Während man in der Kriminologie eine legale Definition des Kriminalitätsbegriffes anerkennen und als Ausgangspunkt benutzen muß, ist es die Aufgabe der Rechtssoziologie, zu untersuchen, wie die Bestimmung des Bereiches des Kriminellen von den Verhältnissen der Gesellschaft abhängt. Beispiele für den Wert einer solchen Fragestellung sind Fauconnets oben genanntes Buch über die Verantwortlichkeit, Jerome Halls: Theft, Law and Society, und Jeffereys: The Development of Crime in Early English Society. Der Grundstandpunkt ist der, daß Gesetzesübertreter nicht auf Grund ihres antisozialen Verhaltens vom Gericht verurteilt werden, sondern weil ihre Handlungen eine von den Normen des Strafgesetzes verletzten. „Der Begriff ,Verbrechen' bezieht sich mehr auf den Akt, der das Verhalten beurteilt und abstempelt, als auf das Verhalten selbst" (Jefferey, 1960, S. 340; vgl. auch Sutherlands und Cresseys oben angeführte Definition des Kriminalitätsbegriffes, III. C. 1. c). Das Studium der Rechtsregeln muß jedoch durch ein Studium über das tatsächliche Verhalten des Rechtspersonals und über seine verschiedenen Rollen, über die Auffassung und Handhabung der Regeln durch die Rolleninhaber und über die Auffassung der Bevölkerung von den Regeln und von dem Rechtspersonal ergänzt werden (vgl. Christie, 1958, S. 126ff. und das Buch desselben Verfassers: Tvangsarbeid og alkoholbruk, 1960, das die Fruchtbarkeit seines Grundstandpunktes darlegt). Solche Untersuchungen geben übrigens gewisse Möglichkeiten, um zu bewerten, wie schief die Auswahl ist, welche durch die registrierten Gesetzesübertreter dargestellt wird. Schließlich kann das Rechtssystem im weitesten Sinne als ein Komplex von Faktoren aufgefaßt werden, die kriminelles Verhalten bedingen oder mitbedingen. Dies nicht nur formal, weil das Rechtssystem die Grundlage für die Bestimmung des Begriffes Kriminalität bildet, sondern auch real, da die allgemeine Reaktion der Gesellschaft gegenüber der Kriminalität und besonders gegenüber der Behandlung von Gesetzesübertretern Faktoren sind, die teils den Umfang der Kriminalität, teils die Möglichkeit beeinflussen, die aufgegriffenen Gesetzesübertreter zu resozialisieren. Wenn man von kriminal-rechtssoziologischen Gesichtspunkten aus den Gesetzesbrecher in seiner Beziehung zu dem Rechtssystem sieht, dann wird die soziologische Untersuchung des letzteren zu einem Forschungsbereich, welcher das größte Interesse für die Kriminologie hat. In der Rechtssoziologie wird die Kriminalität vom Standpunkt der Kontrolleure aus, in der Kriminologie wird sie als ein Problem vom Gesetzesbruch und namentlich von

Kriminologie (Grundlagen) den Gesetzesbrechern gesehen. Einige Kriminologen (Sutherland und Cressey, Reckless, Caldwell, Jefferey u. a.) fassen die Rechtssoziologie als einen Teil der Kriminologie auf, aber die meisten — wie auch der Verfasser dieses Artikels — betrachten sie als eines der wichtigsten Grenzgebiete der Kriminologie. Sehr entscheidend ist diese Einordnungsfrage jedoch nicht. 4. Andere

Kriminalwissenschaften

Kriminalistik (-> Kriminaltaktik und -technik), Rechtspsychnlogie, Rechtspsychiatrie und im großen und ganzen Rechtsmedizin haben wohldefinierte kriminalpolitische Aufgaben zu lösen. Sie sind eng mit empirisch arbeitenden Wissenschaften verbunden, und ihre Methoden sind in bedeutendem Umfang dieselben. Normativ betonte Gutachten spielen besonders in der Rechtspsychiatrie eine Rolle, können sich aber, mehr oder weniger verschleiert, auf allen Stufen des Kriminalprozesses, vom Beginn der Nachforschung an bis zum Abschluß der Strafverbüßung, Geltung verschaffen. Die Bedeutung dieser Disziplinen für die Kriminologie ist weiter oben besprochen worden (Abschnitt IV). VI. QUELLEN UND METHODEN A. Allgemeine Beurteilung 1. Die Kriminologie als empirische Wissenschaft Die Kriminologie ist eine empirische Wissenschaft und bedient sich der Methoden, die auch in den Grundwissenschaften, auf denen sich die kriminologische Forschung aufbaut, angewandt werden. Die wichtigsten Glieder des empirischen Forschungsablaufs sind die folgenden: Beobachtung; Beschreibung und Analyse; Klassifikation; Nachweis gesetzmäßiger Zusammenhänge zwischen kriminellen und nichtkriminellen Daten (Kriminalitätsfaktoren); Formulierung und Nachprüfung allgemeiner Theorien, welche die nachgewiesenen Gesetzmäßigkeiten zusammenfassen. Diese Gliederung ist nicht der Ausdruck für eine unumstößliche Reihenfolge; und die Glieder sind voneinander abhängig. Mit dem heute zugänglichen Wissen aus der Psychologie und der Soziologie und über die Kriminalitätsfaktoren wird der Forschungsablauf oft anders gegliedert sein. Eine allgemeine oder eine spezielle Hypothese (über den Zusammenhang zwischen der Kriminalität und vielen oder wenigen, mehr oder minder komplizierten Kriminalitätsfaktoren) wird aufgestellt. Aus einer solchen Theorie oder Hypothese werden Folgerungen abgeleitet, die Erscheinungen betreffen, welche durch eine bestimmte (oft in der Hypothese bereits eingeschlossene) Beobachtungstechnik erfaßt werden können. Auf Grund von solchen Beobachtungen erweist sich die Hypothese als richtig (siehe gleich anschließend) oder falsch. 14 H d K , 2. Aufl., Bd. I I

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Eine grobe Empirie, die ausschließlich auf unsystematischen, wenn auch vielleicht sehr umfassenden Beobachtungen beruht, kommt sozusagen niemals vor. Bereits die Auswahl der Daten, die beobachtet und aufgezeichnet werden sollen, schließt in sich eine Hypothese ein. In der wissenschaftlichen Arbeit kann man nicht — wie Sellin treffend sagt — wie ein Bibliophiler ans Werk gehen, der eine ganze Bibliothek in der Hoffnung kauft, daß er unter den Büchern die Originalausgabe eines sehr seltenen Buches finden wird. „Das Chaos der möglichen Forschungsdaten fügt sich nicht von selbst zu systematischem Wissen durch bloße Beobachtung. Hypothesen sind notwendig. Wir müssen Fragen stellen, bevor wir Antworten von den Sachverhalten erwarten können, und die Fragen müssen ,signifikant' sein" (Gunnar Myrdal, 1944, S. 1041). Es kann keinerlei Anweisung gegeben werden, wie Hypothesen aufgestellt werden können. Die ausschlaggebenden Gedanken können allgemeinen Erfahrungen entspringen oder auf Analogien aus anderen Bereichen aufgebaut sein. Sie beruhen auf der Fähigkeit, eine Erscheinung oder ein Problem in einem neueD Zusammenhang, unter einem neuen Gesichtswinkel zu sehen. Sie können manchmal den Charakter eines „genialen Einfalles" haben: Denn bei der Gestaltung der Hypothese spielt die Intuition als Erkenntnismittel oft eine entscheidende Rolle. Die Ideen können aber auch ausbleiben. „Aber oft, besonders wenn es um ein neues Unternehmen geht, verfehlen wir es, gerade die richtige Frage zu stellen, und im Lichte der späteren Erfahrung sagen wir: ,Wenn ich nur daran gedacht hätte, nach diesem oder jenem zu fragen!' " (Maclver, 1942, S. 123). Noch ein anderer Umstand beeinflußt das, was beobachtet wird. In der Geschichte der Kriminologie gibt es viele Beispiele für den aus der Perzeptions-Psychologie bekannten Sachverhalt: daß man das beobachtet, was man auf Grund seiner unformulierten oder formulierten Hypothesen beobachten zu können erwartet, in besonderem Grade das, was die Hypothese bestätigt. Die unformulierten Hypothesen und Meinungen sind viel gefährlicher als die formulierten, weil die Formulierung größere Möglichkeiten enthält, sie zu kontrollieren. Es kann günstiger sein, zu fragen, anstatt versuchsweise als wahr vorauszusetzen. Die Frage, die in ihrer Formulierung die vorhandenen Beantwortungsmöglichkeiten berücksichtigen muß, unterscheidet sich von der Hypothese nur dadurch, daß mehrere Antworten möglich sind. Eine Hypothese kann nur bejaht oder verneint werden. Die Frage dagegen kann so beantwortet werden: Möglichkeiten a, b, c oder d mit nein, aber Möglichkeit e mit ja oder vielleicht sogar Möglichkeit χ mit ja, an die vorher niemand gedacht hatte. Der Frage gegenüber verhält man sich offener, die Hypothese verpflichtet. Hypothesen (und Fragen)

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werden immer versuchsweise aufgestellt, und Gesetzmäßigkeiten, die sich daraus ergeben, können niemals endgültig bewiesen, sondern nur indirekt durch eine ständig wachsende Anzahl von Beobachtungen, die zutreffen, wahrscheinlich gemacht werden. Ein einziges negatives Ergebnis muß immer Anlaß sein, die Hypothese zu verwerfen — oder abzuändern. Bei einem großen Teil der kriminologischen Forschung handelt es sich jedoch nicht darum, Hypothesen zu prüfen, und ein großer Teil der Ergebnisse hat keinen tieferen theoretischen Gehalt. Die kriminographische Katalogarbeit und die soliden Beschreibungen des Milieus und der Persönlichkeit der Gesetzesübertreter sind die notwendigen Voraussetzungen für jede theoretische Arbeit. Bis auf weiteres ist es für große Bereiche der Kriminologie wichtiger (und schwieriger), herauszufinden, was erklärt werden soll, als daß scharfsinnige und komplizierte Hypothesen über Erscheinungen aufgestellt werden, die noch nicht mit ausreichender Sicherheit erkannt worden sind. Man hat von den beschreibenden Arbeiten behauptet, daß sie „nicht Wissenschaft sind". Im Streit um Wörter darf festgestellt werden, daß sorgfältige Beobachtungen sowie ihre Aufzeichnung, Analyse und Einordnung, selbständige kriminographische Bedeutung als systematisch bearbeitetes Wissen über die Kriminalität haben. 2. Fragestellung, Quellenmaterial und Methode Der ideale Forschungsablauf besteht darin, daß man 1. seine Probleme als Fragen oder Hypothesen klar formuliert, 2. untersucht, welches Material sich am besten zur Klärung der Probleme eignet, und 3. die Forschungsmethoden wählt, die unter Berücksichtigung von Fragestellung und Quellenmaterial die größte Aussicht haben, zu einem Ergebnis zu führen. Das heißt, daß die Fragestellung über Material und Methode entscheidet. Oft kann man jedoch gezwungen sein, das Quellenmaterial nach den Methoden zu wählen, die von einem Forscher oder einem Team tatsächlich beherrscht werden. Es kommt auch vor, daß nur ein bestimmtes Material zur Verfügung steht, so daß man sich klar werden muß, ob man daraus Probleme formulieren kann, die der Mühe wert sind, gelöst zu werden und, im bejahenden Falle, geeignete Methoden dazu zu finden. 3. Über die Begriffe , Ursache' und gesetzmäßiger Zusammenhang1, In der Einleitung (I. B.) ist gesagt worden, daß eine der Hauptaufgaben der Kriminologie darin besteht, über die Kriminalitätsfaktoren Rechenschaft abzulegen. Der Ausdruck Faktor oder Variable wird dem Ausdruck Ursache vorgezogen,

teils aus erkenntnistheoretischen Gründen, teils aus Rücksicht auf den heutigen Stand der kriminologischen Forschung und auf die Zahl und Art ihrer Ergebnisse. a) Das erkenntnistheoretische Problem. In den Naturwissenschaften ist die Frage nach dem Inhalt des Ursachenbegriffes und nach der allgemeinen Gültigkeit der Ursachenthese nach den Fortschritten in der Atomphysik und der Entwicklung der Relativitätstheorie aufs neue zur Debatte gekommen. Die Probleme können nicht als gelöst angesehen werden, aber eine große Gruppe von Forschern und Theoretikern hält es heute für unmöglich, eine kausale Erklärung für gewisse Vorgänge zu geben, die im Inneren der Atome ablaufen. Statt dessen arbeitet man mit sogenannten „stokastischen Modellen", wobei der Kausalbegriff durch den Wahrscheinlichkeitsbegriff ersetzt wird. In der Kriminologie muß der grundsätzliche und unbezweifelbare Ausgangspunkt der sein, daß kriminelle Handlungen — wie alle anderen menschlichen Handlungen — erklärt werden können, d. h., in einen solchen Zusammenhang mit unserem übrigen Wissen von den Menschen (und der Natur) gebracht werden können, daß die Frage W a r u m mit einem sinnvollen, mythologische und metaphysische Erklärungen ausschließenden W e i l beantwortet werden kann. Ob die nachgewiesenen Zusammenhänge am Ende kausaler oder stokastischer Natur sind, ob von einer „absoluten Sicherheit" oder von einem näher bezeichneten Grad der Wahrscheinlichkeit gesprochen wird, das ist, jedenfalls auf der gegenwärtigen Stufe der Forschung, ohne größere Bedeutung (vgl. unten Abschnitt b). Die Frage hat jedoch in erster Linie terminologischen Charakter. Wenn der Begriff ,Ursache' in der Bedeutung notwendige und ausreichende Bedingung' verstanden wird, dann ist er zu eng, als daß er von größerem Wert für die Verhaltenswissenschaften sein könnte. Der Begriff .Ursache' kann aber auch in einer etwas weiteren Bedeutung verstanden werden, und zwar als ein Tatbestand, der sich in einer von mehreren möglichen Reihen von ausreichenden Bedingungen als notwendiges Glied erweist. Mit anderen Worten: Das Vorkommen eines Phänomens wird von dem Vorhandensein von (mindestens) einem dieser bedingten Komplexe, deren einzelne Glieder notwendig sind, abhängen. Für bestimmte dieser Glieder benutzen wir oft das Wort ,Ursache', während gewisse andere Glieder, ζ. B. die, welche in sämtlichen Reihen von ausreichenden Bedingungen auftreten, weniger interessieren und oft übersehen werden, so daß sie nicht als Ursachen aufgefaßt werden. Eine steigende Arbeitslosigkeit kann ein notwendiges Glied innerhalb einer Reihe von Bedingungen (hierunter die allgemeinen ökonomischen und sozialen Verhältnisse) für eine

Kriminologie (Grundlagen) zunehmende Diebstahls-Kriminalität sein. Eine Neurose kann bei einer bestimmten Person notwendige Bedingung sein, damit sie (in ihrem Milieu) zum Sittlichkeitsverbrecher werden kann. In diesen beiden Fällen sind die Gesetzgebung und die Wirksamkeit der das Recht handhabenden Behörden — oft übersehene — genauso notwendige Glieder in den betreffenden bedingten Komplexen. Ein wesentlicher Teil der Probleme, mit denen sich die Kriminologie beschäftigt, ist besser geeignet, in stokastischen Modellen als im Rahmen einer strengen mechanistischen Kausalität beschrieben zu werden. Dies gilt sowohl dann, wenn man sich mit der Kriminalität als Massenerscheinung beschäftigt, als auch dann, wenn es um die Frage geht, warum ein bestimmter Mensch in einer gegebenen Situation eine kriminelle Handlung begeht. b) Die gegenwärtigen, tatsächlichen Grenzen der Kriminologie. Wird die Kriminalität als eine individuelle Erscheinung betrachtet, gibt es kaum eine Möglichkeit, für einen Bereich auszusagen, daß unter den und den Umständen das Ergebnis eine begangene kriminelle Handlung von der und der Art sein wird (über eine mögliche, jedoch zweifelhafte Ausnahme siehe Abschnitt VI. D. 3.). Dagegen kann man für einige Bereiche etwas über die Wahrscheinlichkeit aussagen: ζ. B. über die Wahrscheinlichkeit, daß die Kriminalitätshäufigkeit in einer näher bestimmten Gruppe von Personen innerhalb einer bestimmten Zeit gleich p t sein wird, oder daß die Wahrscheinlichkeit, daß ein näher beschriebener Gesetzesübertreter, der aus einer bestimmten Institution entlassen wird, innerhalb einer bestimmten Zeit rückfällig werden wird, gleich p2 ist. Ganz korrekt wäre es, wenn im letzten Falle gesagt würde: Der Betreffende gehört zu der (so und so definierten) Gruppe, welche die Rückfallwahrscheinlichkeit p2 hat. Kausalitätsbeschreibungen scheinen also bis auf weiteres ein fernes Ziel für die kriminologische Forschung zu sein; vielleicht auch ein Ziel, das niemals erreicht werden wird; vielleicht sogar ein Ziel, das sich als sinnlos erweisen wird, wenn ein vergrößertes Wissen schließlich eine Revision der kriminologischen Fragestellungen mit sich bringen wird. Betrachten wir die Erscheinungen und Verhältnisse, mit denen man bei der Erklärung der Kriminalität unter den Namen Ursachen, Bedingungen, Umstände, Mißverhältnisse, Motive, Bedürfnisse usw. arbeitet, wird es sich häufig erweisen, daß es Faktoren sind, die in einem mehr oder weniger gut bewiesenen Zusammenhang mit der Kriminalität auftreten. Nur wenige von ihnen — wenn überhaupt einige — werden jedoch mit Recht Ursachen in der Bedeutung von „notwendige und ausreichende Bedingung" genannt werden können. Sätze von der Art: „Jedesmal, wenn die Faktoren (in einer bestimmten Zusammensetzung) vorliegen, wird 14*

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sich daraus Kriminalität (einer bestimmten Type) ergeben, und die Kriminalität (in dieser Type) wird nur vorkommen, wenn die Faktoren (in der genannten Zusammensetzung) vorliegen" — kommen nicht oft vor, und ihre Richtigkeit ist „nur" durch einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit bewiesen. Diese Annahme gilt auch, wenn ein Faktor ein notwendiges Glied in einer Folge ausreichender Bedingungen ist. Unter .Faktor' wird jede Variable verstanden, die sich so äußert, daß sie unmittelbar oder mittelbar beobachtet und qualitativ oder quantitativ beschrieben werden kann. Kriminelle Vergangenheit kann sich als nicht registrierte oder als früher bereits registrierte Kriminalität (im letzten Falle mit mehreren möglichen Unterteilungen) äußern. Das Alter ist ein Faktor, der sich in einer Reihe von Jahren äußert. Der Familienstand äußert sich als: unverheiratet, verheiratet oder verheiratet gewesen (getrennt lebend, geschieden, verwitwet). Die Intelligenz äußert sich als Fähigkeit, gestellte Aufgaben zu lösen, und wird gegebenenfalls in Zahlen oder in (teilweise qualitativ beschriebenen) Kategorien wie geistesschwach, zurückgeblieben, normal begabt, hoch begabt usw. ausgedrückt. Ein Faktor (eine Variable) ist also infolge seiner Definition etwas anderes als seine Ausdrucksformen. .Gestörte Familie' ist kein Faktor, sondern eine Ausdrucksform des Faktors .ElternVerhältnis'. Hält man sich dies nicht vor Augen, dann wird das Risiko erhöht, daß man sich überwiegend für die „negativen" Ausdrucksformen, die sogenannten „Minusfaktoren", interessiert; manchmal kann man dadurch jedoch die Bedeutung der „positiven" Verhältnisse indirekt beleuchten. Der Glaube, daß das Böse immer wieder Böses hervorbringt, ist wohl etwas übertrieben. Unter Faktoren hat man in der Literatur meistens nur vergleichsweise einfache Verhältnisse oder Umstände (eventuell Ausdrucksformen von Faktoren) verstanden. Hier wird der Ausdruck auch für kompliziertere Verhältnisse angewandt, wie für den ökologischen Faktor (gegebenenfalls in der Ausdrucksform City, Slums, Vorstadt, Randgebiet, Weltstadt usw.), Kultur (gegebenenfalls in der Ausdrucksform des Kulturkonfliktes, der kriminellen Teilkultur u. a.), Gruppenwiderstand (gegebenenfalls als vollständige, begrenzt nicht existierende) .differential association' und ,differential organization' (mit einer Mannigfaltigkeit von Ausdrucksformen). Einer der Gründe, warum das Wort Faktor an einigen Stellen in Mißkredit gekommen ist, liegt in der skeptischen Haltung gegenüber den „Einzelfaktor-Theorien", die aus der Geschichte der Kriminologie gut bekannt sind, und den „Mehrfaktoren-Theorien", die von vielen Kriminologen als veraltet betrachtet werden. Gegenüber der hier angewandten Bedeutung des Wortes Faktor (Variable) scheint diese Kritik jedoch belanglos zu sein (vgl. oben IV. E.).

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Kriminologie (Grundlagen)

Übrigens sprechen auch die folgenden Betrachtungen dafür, den Begriff „Kriminalitätsfaktor" vor dem Begriff „Ursache" vorzuziehen. 1. Häufig wird ein Kriminalitätsfaktor (in der hier angewandten Bedeutung des Wortes) mit der Kriminalität durch einen anderen Faktor verbunden sein, der nicht beobachtet worden ist. Erst eine nähere Analyse wird aufdecken, daß der nachgewiesene Zusammenhang auf einer häufigen, aber nicht notwendigerweise immer vorkommenden Verkopplung zwischen den beiden Faktoren beruht. Das Alter ist ζ. B. ein selektiver Faktor, der die Kriminalitäts- und Rückfallshäufigkeit beeinflußt. Jedoch rechnet heute niemand damit, daß es schlechthin das chronologische oder das biologische oder das mentale Alter ist, durch das die Kriminalität „hervorgebracht" wird. Man muß vielmehr annehmen, daß die durch das Alter bestimmten Erwartungen und Forderungen der Gesellschaft an die Jugendlichen und deren Erlebnis ein mit der Kriminalität näher verbundener Faktor ist. Eine nähere Erforschung könnte vielleicht ergeben, daß eine Aussage über die soziale Rolle und die Kriminalität mit einem wesentlich höheren Grad von Sicherheit formuliert werden könnte als eine Aussage über das Alter und die Kriminalität. Die Frage, warum das Alter als ein Kriminalitätsfaktor auftritt, müßte also in diesem Falle mit dem Hinweis auf das Rollenerlebnis beantwortet werden. Das schließt nicht aus, daß das Alter einer von mehreren unabhängigen Faktoren in Beziehung zum „Rollenerlebnis" (als abhängigem Faktor) sein kann; aber in der hier gegebenen Problemstellung wird das Rollenerlebnis als unabhängiger Faktor im Verhältnis zu dem abhängigen Faktor, der Kriminalität heißt, betrachtet. 2. Manchmal werden die Kriminalität und der festgestellte Kriminalitätsfaktor mit einem dritten — noch — nicht wahrgenommenen Faktor verbunden sein. Man beobachtet nicht so selten, daß eine kriminelle Laufbahn abgebrochen wird, wenn der Gesetzesübertreter heiratet. Es ist berechtigt, anzunehmen, daß der Familienstand ein Kriminalitätsfaktor ist; das kann übrigens auch auf verschiedene andere Weisen wahrscheinlich gemacht werden. In Einzelfällen kann man sich jedoch vorstellen, daß das Aufhören der Kriminalität und das Eingehen der Ehe mit psychischer Reifung oder mit Änderungen der durch das Alter bedingten Rollenerwartungen gekoppelt ist. Die Frage, warum der Familienstand als Kriminalitätsfaktor auftritt, muß also in solchen Fällen damit beantwortet werden, daß Familienstand und Kriminalität abhängige Faktoren sind, während der unabhängige Faktor psychische oder soziale Reifung heißt. 3. In einigen Fällen wird die Kriminalität das Primäre und der festgestellte Kriminalitätsfaktor das Sekundäre sein. Im Verhältnis des Familien-

standes zur Kriminalität tritt die Kriminalität manchmal als der unabhängige Faktor auf, während der Familienstand der abhängige Faktor ist (ein Gesetzesübertreter kann ζ. B. wegen seiner Kriminalität geschieden werden). Analysen dieser Art können grundsätzlich niemals zu einem Abschluß gebracht werden. „Eine letzte Ursache gibt es nicht." Bei dem gegenwärtigen Stand der Kriminologie würde es unfruchtbar sein, bei einem willkürlichen Faktor aufzuhören und ihn als die Ursache zu bezeichnen. B. Beobachtungs- und Klassifikationsprobleme Eine der Schwierigkeiten der kriminologischen Forschung beruht darauf, daß nur ein begrenzter Ausschnitt der begangenen Verbrechen zum Gegenstand der Beobachtung wird. Dies gilt in einem gewissen Grade auch für andere soziale und psychologische Abweichungen, macht sich aber am stärksten da bemerkbar, wo der Abweichung die schwersten Sanktionen folgen. Wie groß der Teil der totalen Kriminalität ist, der zur Kenntnis der Behörden gelangt und als Kriminalität registriert wird, weiß man nicht mit Sicherheit. Viele verschiedene Verhältnisse haben hierauf Einfluß: Dieser Teil ist verschieden groß für die verschiedenen Arten von Gesetzesübertretungen, verändert sich von Gesellschaft zu Gesellschaft, von dem einen geographischen Milieu zum anderen, von Bevölkerungsgruppe zu Bevölkerungsgruppe und von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt. Die durch die umfangreiche verborgene Kriminalität bedingte Begrenzung des Umfangs des Materials, das der Forschung zur Verfügung steht, und die Verzerrungen, welche dieses Material prägen, schließen die Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Kriminologie nicht aus. Die medizinische Forschung ist zu Ergebnissen gekommen, obwohl nur ein Bruchteil aller Krankheiten diagnostiziert wird, und davon ist es wieder nur ein Bruchteil, der zur Einweisung in ein Krankenhaus kommt, wo der Hauptteil der medizinischen Forschung konzentriert ist. Eine Schwierigkeit ist auch die, daß kriminelle Handlungen nicht von Kriminologen beobachtet werden. Nur wenige andere Wissenschaften sind in einer entsprechenden Lage. 1. Die verborgene

Kriminalität

Damit begangene kriminelle Handlungen zur Kenntnis der Behörden gelangen und registriert werden können, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein: a) Irgend jemand muß davon wissen, daß eine Gesetzesübertretung begangen ist. Diese Forderung ist nicht immer erfüllt. Vor allem im Bereich der Sondergesetzgebung, wo die Kenntnis von Gesetzen und Regeln, von verwaltungsmäßigen Bestimmungen, Rundschreiben usw. begrenzt ist, werden viele Gesetzesbrüche von allen Beteiligten

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Kriminologie (Grundlagen) wie auch von nicht rechtskundigen Außenstehenden als rechtmäßige Handlungen betrachtet werden. Das gilt auch für einen Teil der Kriminalität nach den Strafgesetzen. Eine betrügerische Transaktion wird wohl ab und zu als eine sowohl von dem Betrüger als vom Betrogenen durchaus gesetzliche, geschäftsmäßige Handlungsweise angesehen, vielleicht sogar als Zeichen besonderer kaufmännischer Tüchtigkeit oder als eine „smartness", die ein wenig zu groß, doch immer noch gesetzlich ist. Rechtsirrtümer ähnlicher Art sowie tatsächliche Irrtümer können auch auf anderen Gebieten vorkommen, ζ. B. bei Sexualverhältnissen zu minderjährigen, aber gut entwickelten Mädchen und bei fahrlässiger Tötung, begangen von medizinischem Personal, weil niemand — nicht einmal der Schuldige — entdeckt, daß hier ein grob fahrlässiger Fehlgriff vorliegt. b) Die Privatperson oder Privatpersonen, die Kenntnis von einer Gesetzesübertretung haben, müssen diese der Polizei oder einer anderen Behörde melden. „Das vollkommene Verbrechen", das nur dem Täter bekannt ist, wird meistens nicht den Behörden zur Kenntnis kommen, selbst wenn es vorkommt, daß die Täter — manchmal nach Jahren — nicht gemeldete kriminelle Handlungen gestehen. Hierfür findet man f ü r die meisten Arten von Gesetzesbrüchen Beispiele: von relativ unschuldigen Übertretungen von Sondergesetzen bis zu schweren Verbrechen wie Diebstahl, Betrug und Fälschung, Sexualverbrechen an Kindern und vorsätzlichem oder nicht vorsätzlichem Totschlag. In anderen Fällen haben die Personen, die von einem Verbrechen Kenntnis haben (das Opfer, die Zeugen, andere), kein ausreichendes Motiv, um es anzuzeigen. Das kann darauf zurückzuführen sein, daß es Mühen oder Unannehmlichkeiten für die anzeigende Person mit sich bringt. Es kann auf die Bedeutungslosigkeit der Gesetzesübertretung, auf das Verhältnis zwischen dem Gesetzesübertreter u n d dem Opfer, auf eine (vielleicht berechtigte) Befürchtung eines persönlichen Risikos infolge der Meldung zurückzuführen sein oder darauf, daß das Opfer oder die Zeugen selbst an Verbrechen beteiligt sind. Als Beispiele können genannt werden: Erpressung, Sexualverbrechen an Kindern (wenn die Eltern befürchten, daß die Kinder durch die polizeilichen Verhöre Schaden leiden werden), Diebstahl und Schwindel, begangen an Verwandten, Gewalttätigkeit gegen den Ehegatten sowie Betrügereien und Unterschlagungen, die gewöhnlich erst gemeldet werden, wenn alle Möglichkeiten einer privaten Regelung mit dem Täter fehlschlagen. c) Die Polizei oder eine andere Behörde müssen die Handlung registrieren und die notwendigen Untersuchungen vornehmen, um die Bestätigung zu erhalten, daß wirklich eine Gesetzesübertretung vorliegt. Ob die Anzeige angenommen und registriert wird, muß natürlich auf der Auffassung

beruhen, welche die betreffende Behörde u. a. von der Zuverlässigkeit des Anzeigenden und der Schwere der Tat hat. Es k o m m t vor, daß Polizeibeamte wegen der Geringfügigkeit der Handlung, wegen der Ungefährlichkeit oder wegen der geringen Aufklärungsmöglichkeiten abraten, eine Anzeige zu machen. Es gibt auch Beispiele, daß Polizeibeamte empfohlen haben, zu versuchen, einen kriminellen Sachverhalt privat zu regeln. Über die registrierten kriminellen Handlungen findet m a n in den Kriminalstatistiken einiger Länder mehr oder weniger detaillierte Angaben. Von den gemeldeten Verbrechen wird ein gewisser Teil aufgeklärt; für die Kriminalität nach den Strafgesetzen liegt dieser Anteil in den meisten Ländern zwischen 20 und 60°/ c . E r verändert sich stark von der Stadt zum L a n d u n d im Lauf der Zeit. 2. Die unerkannten Verbrecher Aus dem großen Umfang der verborgenen Kriminalität ist zu folgern, daß es eine n a m h a f t e Zahl von Gesetzesübertretern gibt, die nicht registriert sind. Die Frage ist, ob die registrierten Gesetzesübertreter als ein repräsentativer (zufälliger) Querschnitt von allen den Personen angesehen werden können, die kriminelle Handlungen begangen haben. Alles deutet jedoch darauf hin, daß diese Annahme unhaltbar ist. Es ist kein Zufall, daß einige Kinder, die kriminelle Handlungen begehen, unter Jugendfürsorge oder vor ein Jugendgericht kommen, während andere nicht dorthin kommen (vgl. ζ. B. Tappans weiter oben erwähnte Arbeit über Jugendkriminalität). Die Gefangenen in unseren Gefängnissen sind dort nicht als das Ergebnis der Auswahl einer zufälligen Anzahl zusammengekommen. Die bekannte Kriminalität und die registrierten Gesetzesübertreter ergeben eine nicht repräsentative Auswahl, und man kann nicht mit Sicherheit sagen, worin die Verzerrung liegt oder wie groß sie ist. Einige der Umstände, die auf die Auswahl der registrierten Gesetzesübertreter Einfluß haben können, sollen genannt werden: a) Die Anzahl der begangenen kriminellen Handlungen: Bis zu einem gewissen P u n k t vergrößert sich das Risiko, ergriffen zu werden, wenn die Anzahl der Gesetzesübertretungen wächst. Eine zunehmende Menge Erfahrungen spielt eine Rolle für die berufsmäßigen Verbrecher, aber für die Masse der Gesetzesübertreter ist das ein Umstand von geringem Gewicht, der bei fortgesetzter krimineller Aktivität kaum das Risiko aufwiegen kann. Bei gewissen, mehr emotional bedingten Gesetzesübertretungen spielen vorausgegangene Erfahrungen überhaupt keine Rolle. b) Die Schwere und Gefährlichkeit der begangenen Verbrechen: Die Prozentzahlen für aufgeklärte Verbrechen liegen bei den schwersten Verbrechen sehr hoch (oft in der Nähe von 100).

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Kriminologie (Grundlagen)

Dies ist ein Feld, auf dem große Polizeikräfte und ein hervorragender technischer Apparat in Bewegung gesetzt werden können; außerdem kann man sich eine wirksame Zusammenarbeit zwischen Polizei und Publikum sichern. c) Die kriminelle Vergangenheit des Gesetzesübertreters: Derjenige, der viele Male bestraft worden ist, kommt am leichtesten in das „Suchlicht" der Polizei. Bei gewissen Gesetzesübertretungen wird sich die Nachforschungsarbeit —• nach den notwendigen Untersuchungen am Tatort — auf eine größere oder kleinere Gruppe von Personen richten, die sich früher bereits auf dem betreffenden Feld bemerkbar gemacht haben. Aber auch für den Vorbestraften, der kein Spezialist ist, bedeutet es eine Benachteiligung, daß sich seine Personalien von vornherein in den Registern der Polizei befinden. d) Der geographische Bereich: Die registrierte Kriminalität ist in der Regel in der Stadt um ein vielfaches größer als auf dem Lande. Die meisten registrierten Gesetzesübertreter finden wir in den mehr oder weniger slum-artigen Vierteln, was natürlich Einfluß darauf haben muß, wie die Polizeikräfte verteilt werden und wo die größte Nachforschungsarbeit einsetzen wird. Dieser Unterschied muß die Häufigkeit der Registrierungen beeinflussen. e) Die soziale Stellung des Gesetzesübertreters: Bereits die Aussicht, verhaftet zu werden, hängt davon ab, wie man gekleidet ist. Die Gefahr, als kriminell registriert zu werden, ist am größten für den, der in den schlechtesten ökonomischen Verhältnissen und dem schlechtesten Wohnviertel lebt und die niedrigste soziale Stellung innehat. f) Das Alter: Wenn der Täter bekannt ist, dann ist das Alter ein Faktor, der die Aussicht seiner Erfassung beeinflußt. Ganz allgemein können die Verhältnisse so geschildert werden: Für Kinder und für die ganz Jungen ist die Gefahr, daß die begangenen kriminellen Handlungen gemeldet werden, relativ klein. Ein großer Teil dieser Vorkommnisse wird „privat" bereinigt. Die Aussicht, angezeigt zu werden, nimmt jedoch in den allerersten Jugendjahren stark zu und hat verhältnismäßig früh ihren Höhepunkt. Das stets vorhandene „Generationsproblem" macht sich geltend. Für die Heranwachsenden im Alter von 16 bis 20 Jahren scheint die Gefahr, daß eine Meldung erfolgt, erhöht zu sein. Hierzu kommt noch, daß die Gesetzübertretungen in diesen Altersklassen durchschnittlich weniger gut geplant sind und häufiger aus Motiven entspringen, welche die Aussicht erhöhen, aufgeklärt zu werden (Spannung, Abenteuerlust und andere emotionale Hintergründe). Auf einer etwas späteren Altersstufe, vermutlich im Laufe des zweiten Lebensjahrzehntes, werden sich Tüchtigkeit, Reife und Erfahrungen auswirken; die Gesetzesübertretungen werden besser zurechtgelegt und geschickter

durchgeführt, woraus sich eine geringere Aussicht für die Aufklärung ergibt. g) Das Geschlecht: Wahrscheinlich werden kriminelle Frauen teils auf Grund von Gesetzesübertretungen, die sie begehen, teils auf Grund der Haltung der Behörden seltener registriert als Männer, obwohl dieser Umstand nur teilweise den großen Unterschied zwischen den Kriminalitätsziffern unter Männern und Frauen erklärt. h) Die Intelligenz: Der schwach Begabte, der Gesetzesübertretungen begeht, läuft größere Gefahr, ergriffen zu werden, und hat es schwerer, an seinem Leugnen festzuhalten, so daß für ihn die Erfassungsgefahr größer ist als für seinen normal oder gut begabten Kameraden. Die hier genannten und andere Faktoren, welche die Registrierungshäufigkeit beeinflussen, verursachen, daß die Auswahl an Gesetzesübertretern, welche die kriminologische Forschung zu untersuchen die Möglichkeit hat, verzerrt sein muß. Die Verzerrung zeigt sich namentlich auf zwei Arten: 1. Unter den registrierten Gesetzesübertretern sind überwiegend die Vorbestraften vertreten, die besonders viele und/oder besonders schwere kriminelle Handlungen begangen haben. Dieser Umstand gibt kaum zu schweren Bedenken Anlaß. Wahrscheinlich zeigen sich an dieser Kategorie der Kriminellen bestimmte Kriminal] tätsfaktoren am deutlichsten. An der Kriminalstatistik muß man jedoch beachten, daß die Anzahl der Vorbestraften im Verhältnis zu den Anfängerzahlen in der Regel zu groß sein wird. 2. Die registrierten Gesetzesübertreter sind in sozialer und psychologischer Beziehung eine negative Auswahl sämtlicher Krimineller. Man findet unter ihnen verhältnismäßig zu viele aus den ärmsten Vierteln mit der niedrigsten sozialen Stellung und den schlechtesten wirtschaftlichen Verhältnissen sowie psychisch Abweichende, intelligenzdefekte und emotional unstabile Personen usw. Um unhaltbare Schlußfolgerungen zu vermeiden, muß man seine Ergebnisse so formulieren, daß aus ihnen klar hervorgeht, daß sie registrierte Kriminelle betreffen. Das, was man beleuchten kann, ist gewöhnlicherweise nur die Frage, was die registrierten Kriminellen von den Menschen unterscheidet, die nicht als kriminell registriert werden (über den Umfang der verborgenen Kriminalität siehe u. a. Meyer [1941]; Porterfield [1946]; Wehner [1957]; Andenaes, Sveri, Hauge [I960]; Nyquist, Strahl [I960]; Christie, Andenaes, Skirbekk [1965]; Elmhorn [1965]). 3. Quellenmaterial krimineller

für das Studium Handlungen

Für den Kriminologen ist es eine schwere Benachteiligung, daß er nicht selbst die Möglichkeit hat, die Grundphänomene zu beobachten, mit denen sich die Kriminologie beschäftgt. In vielen

Kriminologie (Grundlagen) anderen Wissenschaften hat die Verfeinerung und zunehmende Genauigkeit der Beobachtung als Folge einer ständig verbesserten Beobachtungstechnik, der größeren Übung der Beobachter und der Erfindung sinnreicher Beobachtungsinstrumente eine große Rolle für die Fortschritte gespielt. Davon findet man fast keine Spur in der Geschichte der Kriminologie. Der Kriminologe muß einem Quellenmaterial vertrauen, das von nicht-wissenschaftlich geschulten Beobachtern mit einem anderen Ziel vor Augen gesammelt und danach in Polizeirapporten und in Rechtsurkunden von einem Rechtspersonal festgelegt wurde, für das die Schuldfrage die Hauptsache sein m u ß , während eine Reihe — kriminologisch gesehen bedeutungsvoller — Momente ausgelassen oder im Hintergrund belassen werden. Die Quellen, auf denen man bei der allgemeinen Beschreibung und nachfolgenden Klassifikation krimineller Handlungen aufbauen kann, sind folgende: a) Der Gesetzesübertreter: Abgesehen von den verhältnismäßig wenigen Fällen, bei denen der Angeklagte seine Schuld leugnet, hat man in erster Linie sein eigenes Geständnis, um darauf aufzubauen. Leugnet er, dann ist man auf die unten genannten Quellen angewiesen. Liegt ein Geständnis vor, muß man jedoch immer mit fehlerhaften Auskünften rechnen, die teils auf dem verständlichen Interesse beruhen, möglichst die mildeste Strafe zu bekommen, und teils darin ihren Grund finden, daß der Kriminelle wie alle anderen Menschen daran interessiert ist, daß er selbst und andere seine Handlung in einem Licht sehen, das so günstig wie möglich ist. Andere Motive, allgemeinmenschliche oder pathologische, spielen auch eine Rolle. b) Das Opfer: Bei bestimmten Gesetzesübertretungen ist das Opfer anwesend. Aber auch des Opfers Beobachtung und Beschreibung sind mit Fehlern behaftet. Es ist in der Strafsache Partei, und nur die allerwenigsten Menschen können Objekt eines Verbrechens sein, ohne daß sie in Affekte kommen; deswegen werden die Beobachtungen oft fehlerhaft sein. Es wird übrigens häufig zu einer Prestigefrage, an einer Anzeige festhalten zu können. Eine Erklärung, die vorgelesen, genehmigt und unterschrieben ist, ändert man nur ungern. c) Die Zeugen: Manchmal sind Zeugen anwesend. Die Schwierigkeiten, die in der Bewertung der Zeugenaussage liegen, werden an anderer Stelle besprochen (-> Forensische Psychologie). Hier soll nur darauf verwiesen werden, daß selbst vorurteilsfreie Zeugen selten objektive und nüchterne Beobachter sind. Sie werden sich oft, wenn es um das menschliche Verhalten eines anderen geht, mit der einen oder anderen der beteiligten Parteien identifizieren, was auf die Beobachtung und die Erinnerung einwirkt.

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d) Die Spur des Verbrechens: Gewisse Verbrechen hinterlassen greifbare Spuren. Ihre Erklärung — die in vielem der Erklärung archäologischer Spuren vergleichbar ist — kann ab und zu den Zweifel über den Verlauf einer Begebenheit beseitigen. e) Konklusion: Auf den hier genannten Quellen muß die kriminographische Beschreibung der verbrecherischen Handlung in allem Wesentlichen aufbauen. In nur wenig tiefgehenden Untersuchungen werden fehlerhafte Quellen im allgemeinen kaum gefährlich sein. In tiefergehenden, klinischen Untersuchungen, bei denen der Psychologe und der Psychiater die eigene Beschreibung des Gesetzesübertreters als Hauptmaterial benutzen müssen, wächst deren Anzahl zur Legion. Einige Forscher legen bei dieser Art Untersuchungen den Standpunkt zugrunde, daß nicht der tatsächliche Handlungsverlauf, sondern das Erlebnis des Täters davon entscheidend ist. Es ist indessen schwierig — wenn es überhaupt möglich ist —, zwischen dem Erlebnis des Handlungsablaufs, das der Gesetzesübertreter zum Untersuchungszeitpunkt und das er zum Tatzeitpunkt hatte, zu unterscheiden. Sowohl unbewußte wie bewußte Verzeichnungen können dem Gesetzesübertreter unterlaufen und von dem Forscher unbeachtet bleiben. Die ersten Polizeiberichte sind immer eines genauen Studiums wert. Untersuchungen über verborgene Kriminalität haben ihr eigenes Quellenmaterial und ihre eigenen Probleme, die hier nicht behandelt werden sollen. 4. Die Beobachtung

von

Gesetzesübertretern

Die Beobachtung der registrierten Gesetzesübertreter bietet keine entsprechenden Probleme. Der Forscher beobachtet selbst und hat die Möglichkeit, die aus den anderen Humanwissenschaften bekannten Methoden anzuwenden. Die wichtigsten sind Befragung, Enquete-Untersuchungen, Fragebogentechnik, Test, klinische Beobachtung (die sich vermutlich von den anderen Methoden mehr durch ihren dynamischen und therapeutischen Grundgesichtspunkt in der Erklärung der Ergebnisse als durch ihre Beobachtungstechnik unterscheidet) sowie „participant observation" (außerhalb oder in Gefängnissen und anderen Institutionen). Eine einzige Schwierigkeit von grundsätzlicher Bedeutung soll genannt werden: Der Beobachter und der Gesetzesübertreter werden meistens gegenseitig Kenntnis davon haben, daß es Kriminalität ist, welche die Untersuchung bedingt. Das kann sich bei der Befragung sowie beim Test und bei anderen Formen der Beobachtung belastend auswirken. Christie ist auf diese Fehlerquelle aufmerksam geworden und hat in einer Doktorarbeit (1960) über eine Gruppe Krimineller und eine Kontrollgruppe ausschließlich Ermittlungen verarbeitet, die von anderen gesammelt wurden. Hierunter waren Daten, die von den militärischen

216

Kriminologie (Grundlagen)

Musterungsbehörden und den dabei beteiligten Psychologen stammten. 5.

KlassifikationsproHeme

Die Beschreibung von Gesetzesübertretungen und Gesetzesübertretern auf Grund der strafrechtlichen Definition der Tatinhalte f ü h r t auf geradem Wege zu einer auf die kriminalrechtliche Systematik gegründeten Klassifikation. Viele Kriminologen sehen eine solche Aufteilung als kriminologisch relevant an. Die gewöhnliche juristische Systematik, wie sie in den großen Verbrechergruppen der Kriminalstatistik ihren Ausdruck findet, „entspricht ganz gut soziologisch geprägten Einteilungen". Deshalb kann es nicht „eine naheliegende Aufgabe für die Kriminologie sein, zu versuchen, eine gänzlich neue Klassifizierung der Verbrechen durchzuführen" (Hurwitz, 1951, S. 389). Gegen diesen Standpunkt stellen sich einzelne Juristen und mehrere Soziologen, Psychologen und Psychiater, welche die strafrechtliche Klassifikation der kriminellen Handlungen als weniger relevant für die Forschung betrachten. Das gilt beispielsweise schon für Aschaffenburg (1933, S. 11—12) u n d für viele jüngere, ζ. B. Max Grünhut (1960, S. 2), Sutherland und Cressey (1960, S. 18), Jefferey (1960, S. 377). Radzinowicz unterstreicht seinen Standpunkt so: „Die beste dogmatische Systematik der Verbrechen muß immer irgendwie künstlich u n d schematisch bleiben, weil sie nicht genügend die besonderen sozialen, psychologischen und moralischen Aspekte der einzelnen Vergehen in Betracht zieht, Aspekte, die vom Standpunkt der Kriminalpolitik und der Kriminologie äußerst wichtig sind". E r fügt hinzu: „Eine Klassifikation auf der Grundlage von rein legalen Kriterien ist offensichtlich sehr bruchstückhaft und künstlich" (Radzinowicz, 1948, S. 183—185). Auf irgendein universales Klassifikationssystem oder auf allgemein anwendbare Klassifikationskriterien, welche die in der Kriminologie gewöhnlich angewandte strafrechtliche Klassifikation ersetzen könnten, kann jedoch nicht hingewiesen werden. E i n Fortschritt auf diesem Feld wird vermutlich später den Weg über ein Studium von speziellen, eng definierten Verbrechens- und Verbrechertypen nehmen (vgl. im folgenden VI. D. 3.). C. Spezielles über Kriminalstatistik Die in vielen Ländern veröffentlichten Kriminalstatistiken enthalten in der Regel wertvolles Quellenmaterial für die Forschung. Sellin bezeichnet sie als eine der wichtigsten Quellen der Soziologie und unterstreicht gleichzeitig die Bedeutung, die ein zuverlässiger Kriminalitätsindex für die Kriminologie und für die kriminalpolitische Praxis hat. Die -^Kriminalstatistik ist in dieser Darstellung nicht als ein Zweig der Kriminologie

— wie bei einigen anderen Verfassern — aufgef ü h r t worden; denn ihre Auskünfte können von den meisten Zweigen der Kriminologie verwertet werden, ζ. B. in der Kriminographie, der Kriminalsoziologie, der - > Kriminalpsychologie und -psychiatrie, der Vererbungsforschung usw. Die Bezeichnung Kriminalstatistik steht bei verschiedenen Verfassern für recht verschiedenartige Bereiche. Sellin definiert Kriminalstatistik als ,,a) einheitliche Daten über Vergehen und Täter, ausgedrückt in Zahlbegriffen, b) aufgestellt von Behörden (Polizei, Vertretern der Anklage, Gerichten, Bewährungshelfern, Institutionen usw.) aus ihren Berichten, c) klassifiziert, tabelliert. . . und analysiert, um die Beziehungen innerhalb und zwischen den Klassen der bearbeiteten Daten aufzudecken, und d) regelmäßig veröffentlicht, entsprechend einem einheitlichen Plan" (Sellin, 1951, S. 490). Sie kann auch nach ihrer Quelle in Polizei-, Rechts- u n d Gefängnisstatistik eingeteilt werden. (Über andere Klassifikationsarten siehe Ernst Roesner, H d K [1936], Bd. II, S. 27, Sellin, a. a. 0., und Radzinowicz, 1948, S. 186ff.) Im allgemeinen wird angenommen, daß die Polizeistatistik und insbesondere die Statistik über gemeldete Verbrechen zuverlässigere Spiegel der Kriminalitätsentwicklung als die Gerichtsstatistik sind, weil ihre Zahl der Größe der totalen Kriminalität am nächsten kommt (siehe u. a. Sellin, 1931—32, S. 346). Das hängt jedoch ganz davon ab, wie sorgfältig die Polizei gemeldete Verbrechen registriert; in vielen Ländern scheint die Gerichtsstatistik die zuverlässigste zu sein. Die Kriminalstatistik gibt Auskunft über Formen und Ausbreitung der Kriminalität, über ihre Veränderungen im Laufe der Zeit, von Ort zu Ort und von Bevölkerungsgruppe zu Bevölkerungsgruppe. Insofern sind ihre Daten, wie es auch aus der Geschichte der Kriminologie (siehe besonders II, B) hervorgeht, ein wichtiges Quellenmaterial für die Kriminalsoziologie. Jedoch gehört bereits zur Kriminalitätsbeschreibung eine Übersicht über den Umfang und die Entwicklung der Kriminalit ä t . Hierfür tragen die Auskünfte über die jährliche Anzahl von gemeldeten und aufgeklärten Verbrechen, von Verhafteten, Verurteilten, Gefängnisinsassen usw. wesentlich bei, besonders wenn die Zahlen in Beziehung zu den entsprechenden Bevölkerungsgruppen gesehen werden. Das gilt auch für die Berechnungen: 1. der Kriminalitätshäufigkeit, gemessen an der Anzahl der zu einem gegebenen Zeitpunkt lebenden bestraften im Verhältnis zu den strafmündigen Personen (zuerst bei Finkelnburg, 1912); 2. des Kriminalitätsrisikos, gemessen als die Wahrscheinlichkeit, daß eine Person, die eine gewisse Risikoperiode durchlebt, bestraft werden wird (Dahlberg, 1948—49, S. 327ff.) und

Kriminologie (Grundlagen) 3. der Rückfallwahrscheinlichkeit, ausgedrückt durch das Verhältnis zwischen den in einer gegebenen Zeit rückfälligen Gesetzesübertretern und der Anzahl derjenigen, deren Rückfall möglich ist (vgl. Köbner, 1893). Die Kriminalstatistik gibt weniger detaillierte Beschreibungen von dem Objekt der Kriminologie, behandelt diese Daten anders und stellt sie in einer anderen Weise dar, als es der Fall bei weniger umfassenden Untersuchungen der Kriminalität ist. Als Quelle für die Forschung unterscheidet sich die Kriminalstatistik jedoch nicht grundsätzlich von anderem Quellenmaterial. Die statistischen Auskünfte beruhen letzten Endes auf Beobachtungen von einzelnen Gesetzesübertretungen und einzelnen Gesetzesübertretern, die auch die Grundlage für die Fallstudien (case studies) bilden. D. Die Bearbeitung der gesammelten Daten Die Bearbeitung der Daten, auf denen eine Wissenschaft aufbaut, beginnt bereits mit der Beobachtung, der Beschreibung und der Klassifikation, da die formulierten oder nichtformulierten Hypothesen sowie Inhalt und Form der Fragestellungen das Perzeptionsfeld und dessen Strukturierung beeinflussen. Hier wird jedoch nur an die technischen Ablaufsweisen gedacht, die zur Anwendung kommen können, wenn registrierte Daten vorliegen, ζ. B. in Form einer kriminographischen Beschreibung eines Lebenslaufes, als Fallstudien, ausgefüllte Fragebogen, Befragungsberichte, Testergebnisse, Tabellenmaterial usw. Gewöhnlich werden in den kriminologischen Lehrund Handbüchern zwei Methoden besprochen: 1. die statistische Analyse und 2. die individualistischen Methoden. Hier soll auch eine Methode, Reihenuntersuchungen genannt, besprochen werden, die in gewissen Beziehungen zwischen den beiden erstgenannten steht. Manchmal wird angenommen, daß sich statistische Methoden besonders für die Behandlung von kriminalsoziologischen Problemen und die individualistische Methode für die Behandlung von kriminalpsychologischen und -psychiatrischen Problemen eignen würden. Die Methoden können indessen einander auf allen Gebieten der Kriminologie ergänzen. 1. Die statistische

Analyse

Statistische Analyse ist die Bezeichnung für die mathematischen Methoden, die zur Anwendung kommen können, wenn Zahlenmaterial beschrieben, analysiert und verglichen werden soll. Viele der quantitativen Daten über die Kriminalität wiederholen sich wohl mit einer gewissen Regelmäßigkeit (Quetelet). Ebenso charakteristisch ist es aber, daß sie sich innerhalb gewisser Grenzen verändern. Mit Hilfe der statistischen Methode

217

untersucht man, wie sich die Beobachtungen verteilen. Gewisse Verteilungen sind von einer solchen Art, daß man sich über die Wahrscheinlichkeit äußern kann, daß spätere Beobachtungen sich auf eine ähnliche Weise verteilen werden, d. h., daß die gesammelten Zahlen innerhalb (oder außerhalb) gewisser Grenzen liegen müssen. Dementsprechend wird man sich manchmal über die Wahrscheinlichkeit äußern können, daß eine bestimmte Begebenheit eintreffen wird oder nicht. Bei einigen Untersuchungen muß man Wert darauf legen, daß das aus einer größeren Population ausgewählte Beobachtungsmaterial repräsentativ ist, so daß es wichtige Eigenschaften der Gesamtpopulation ohne größere Abweichungen widerspiegelt als die, welche auf sogenannte zufällige oder stokastische Variationen zurückgeführt werden können. Eine Sicherheit dafür, daß eine Auswahl die Population in jeder Beziehung richtig vertritt, erhält man jedoch nie. Bei der Zusammenstellung von Material kann man eine der folgenden Methoden anwenden: 1. Man wählt die Teilnehmer der Untersuchungsgruppe durch das Los aus, ζ. B. mit Hilfe von Listen oder ähnlichem, oder 2. man konstruiert eine Miniaturpopulation, die in Beziehung auf eine Reihe bekannter und f ü r das Problem relevanter Eigenschaften der Gesamtpopulation entspricht. Im übrigen wird die Forderung, daß ein kriminologisches Material „repräsentativ" sein soll, oft übertrieben. Nicht alle Probleme erfordern eine Untersuchung repräsentativer Gruppen, um sie lösen zu können. Bei einem der Probleme, denen man sich in der Kriminologie am häufigsten gegenübergestellt sieht, handelt es sich um den Vergleich von relativen Häufigkeiten in zwei ausgewählten Materialien, ζ. B. in zwei Gruppen von Gesetzesübertretern oder in einer Gruppe von Kriminellen und einer Kontrollgruppe von Nicht-Kriminellen. Bevor solche Vergleiche vorgenommen werden, muß man sich vergewissern, daß die Gruppen vergleichbar sind. Handelt es sich ζ. B. um die Kriminalitätshäufigkeit in zwei Bevölkerungsgruppen, kann ein Unterschied bezüglich der verborgenen Kriminalität vielleicht entscheidend für das Ergebnis werden. Die Verteilung hinsichtlich der obengenannten Faktoren, welche die Häufigkeit der registrierten Kriminalität beeinflussen (VI. B. 2.), muß deshalb kontrolliert werden. Im übrigen muß die Vergleichbarkeit immer durch eine Untersuchung über das Vorkommen der für die Fragestellung relevanten Faktoren in den beiden Materialien getestet werden. Alter, Geschlecht und geographisches Milieu gehören zu den wichtigsten Faktoren bei kriminologischen Untersuchungen, aber es können noch viele andere in Frage kommen. Eine wertvolle Möglichkeit, um ungleichartig zusammengesetztes Material vergleichbar zu machen, besteht in der Schätzung der

Kriminologie (Grundlagen)

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zu erwartenden Kriminalität oder der zu erwartenden Rückfälligkeit in den zwei Gruppen, die dann als eine Art Norm benutzt wird, von der aus Abweichungen gemessen werden können (siehe ζ. B. Mannheim und Wilkins, 1955, S. 108ff.). Die Methode kann mit Erfolg bei vergleichenden Untersuchungen über Rückfälligkeit und über die Wirksamkeit der verschiedenen Behandlungsformen angewandt werden. Erst wenn man so weit ist, kann die eigentliche mathematischstatistische Behandlung des Materials beginnen. Dazu stehen verschiedene Methoden, die hier nicht näher besprochen werden sollen, zur Verfügung. Im Grundsatz handelt es sich oft darum, zu untersuchen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß ein beobachteter Unterschied „zufällig" ist. In der Prognoseforschung ist die Frage, welches Gewicht man den ausgewählten Faktoren beilegen soll, von besonderer Bedeutung gewesen. Hier hat man nach und nach Methoden herausgefunden, die es möglich machen, das Gewicht zu berechnen, das man jedem einzelnen der Prognosefaktoren beilegen muß, um möglichst das beste Voraussageergebnis zu erzielen (hierüber siehe Mannheims und Wilkins' eben genannte Arbeit). 2. Individualistische

Methoden

Die individualistischen Methoden nehmen ebenso wie die statistischen Methoden ihren Ausgang von Einzelfällen. Sie unterscheiden sich aber vor allem darin, daß sich in den individualistischen Methoden die Untersuchung mit mehreren Einzelheiten beschäftigt und diese in Analyse und Beschreibung oft in einem „organischen" Zusammenhang darzustellen versucht. Der Begriff individualistische Untersuchungen (case studies) ist elastisch. Sie reichen von Untersuchungen auf den Geisteszustand, die zum Ziel haben, die Zurechnungsfähigkeit des Gesetzesübertreters festzustellen, bis zu mehr eingehenden Untersuchungen wie C. R. Shaws „The Natural History of a Delinquent Career" (1931) und „Brothers in Crime" (1938), Ben Carpmans „Case Studies in the Psychopathology of Crime" (1944), Georg Κ. Stürup, (1951), in denen die betreffenden Gesetzesübertreter mit einem oft überwältigenden Reichtum an Einzelheiten geschildert sind. Eine wesentliche Voraussetzung für das Verstehen von Einzelhandlungen und -personen besteht darin, daß man in der Lage ist, sich in das Seelenleben des Gesetzesübertreters (und eventuell des Opfers) in der Zeit vor und besonders bis zum Begehen des Verbrechens hineinzuleben. Es ist darüber diskutiert worden, ob Erklärungen dieser Art, die nichts Spezielles der Kriminologie sind, den Erklärungen entsprechen, die in anderen Bereichen der Kriminologie angewandt werden. Einige stehen auf dem Standpunkt, daß dies nicht der Fall ist, und weisen darauf hin, daß das verstehende Sich-Einleben in den Gemütszustand

eines anderen Menschen grundsätzlich etwas anderes ist als eine naturwissenschaftliche Ursachenerklärung. Exner sagt so: „Ich verstehe ein Verbrechen, wenn ich den Sinn erfasse, den die Tat im Zuge des Denkens, Fühlens und Wollens des Täters erfüllt, wenn ich die seelischen Zustände und Beweggründe, aus denen sie entsprungen ist, einfühlend erkenne" (Exner, 1949, S. 6). Er betrachtet das „geisteswissenschaftliche Verstehen" als wesensverschieden von „naturwissenschaftlicher Ursachenerklärung" (Exner, a. a. 0., S. 8). Die Frage kann nicht als gelöst angesehen werden. Das einfühlende Verstehen hat, soweit das erkannt werden kann, zwei Funktionen. Es kann ein Hilfsmittel sein, um a) andere zu verstehen oder b) Hypothesen aufzustellen. Lombrosos oben auf S. 192 zitierter Ausspruch ist ein Beispiel für den Übergang von a) zu b). Wahrscheinlich entspricht diesem Funktionsunterschied auch eine Verschiebung des Begriffsinhaltes, was sprachlich vielleicht durch die Wörter,Einfühlungsvermögen' (engl. ,empathy') und .Intuition' gekennzeichnet werden könnte. Die Grenze zwischen Beschreibung und Theorie ist auf diesem Feld auch keineswegs scharf. Es soll aber doch darauf hingewiesen werden, daß .Erklärung' in der Bedeutung von ,Nachweis eines gesetzmäßigen Zusammenhanges', unter Umständen nach einem stokastischen Modell, ein weiterer Begriff ist als der Kausalbegriff. Fallstudien (case studies) enthalten besondere Möglichkeiten, psychologische Faktoren zu beleuchten: den Motivationsprozeß, Haltung und Einstellung des Gesetzesübertreters, psychologische Eigentümlichkeiten und Abweichungen. Häufig wird Wert darauf gelegt, die dynamische Entwicklung zu schildern und ein Gesamtbild des Gesetzesübertreters zu geben. Einige Fall'studien sind jedoch nur eine — vielleicht sehr umfassende — Aufzählung von den Ausdrucksformen mehr oder weniger komplizierter Faktoren. 3.

Reihenuntersuchungen

Der Übergang von Massenbeobachtungen zu Einzeluntersuchungen ist im übrigen fließend. Exner nennt noch eine Zwischentype, Reihenuntersuchungen, die als „eine Anzahl von Einzelfällen, die in gewissen kriminologisch bedeutsamen Punkten gleichgelagert sind", definiert werden (Exner, a. a. 0., S. 11). Als Quellenmaterial unterscheiden sich diese Untersuchungen nicht von dem Material, das durch Massenbeobachtung und Fallstudien gesammelt wird. Bei der Bearbeitung hat man übrigens die Möglichkeit, sowohl die statistische Analyse wie das für Fallstudien charakteristische „Einleben in die Situation" anzuwenden. „Limited Case Studies" bilden in mehreren Beziehungen eine Zwischenform zwischen den statistischen und den individualistischen Methoden, Diese Methode ist u. a. von Lindesmith (1947)· Cressey (1953) und Lemert (1953) bei Unter-

Kriminologie (Grundlagen) suchungen über Narkotika-Mißbrauch und über gewisse Typen von Unterschlagungen und Scheckfälschungen angewandt worden. Die Methode wird so geschildert: Eine grobe Definition der Gesetzesübertretung, die untersucht werden soll, wird formuliert. Eine hypothetische Erklärung wird aufgestellt. Ein einzelner Fall wird mit dem Ziel untersucht, die Hypothese zu testen. Wenn die Hypothese nicht bestätigt wird, muß man entweder diese neu formulieren, oder man muß das Objekt neu definieren, so daß der betreffende Fall ausgeschlossen wird. Die neue Definition soll genauer als die erste sein. Auf diese Weise wird rasch die praktische Sicherheit erreicht, daß die Hypothese anwendbar ist, aber jeder Fall mit negativem Ergebnis erfordert eine neue Formulierung. Der Vorgang der Neuformulierung und Neudefinierung wird fortgesetzt, bis ein allgemeiner Zusammenhang nachgewiesen ist. Fälle mit negativen Ergebnissen werden mit dem Ziel untersucht, sicherzustellen, daß die Hypothese n i c h t für sie zutrifft (Sutherland und Cressey, 1960, S. 68—69). Auf diese Weise versucht man, zu Gesetzmäßigkeiten zu kommen, die sich einer Ursachenerklärung nähern: Wenn Personen mit bestimmten Charakteristika ein bestimmtes Problem haben und in eine bestimmte Situation geraten, werden sie Gesetzesübertretungen einer bestimmten Type begehen, u n d diese Art von Gesetzesübertretungen wird nur unter gerade diesen Umständen begangen. Sutherland und Cressey heben hervor, daß diese Methode die statistische und individualistische Methode kombiniert, und fügen hinzu, daß sie sich von der ersteren dadurch unterscheidet, daß sie versucht, über die statistische Analyse hinaus zu einer theoretischen Erklärung zu kommen, und daß sie sich von der letzteren dadurch unterscheidet, daß sie nur die für die Hypothese relevanten Einzelheiten einbezieht (Sutherland und Cressey, a. a. 0., S. 69). 4.

Zusammenfassung

Aus dem oben Gesagten geht hervor, daß die statistischen und individualistischen Methoden keine Gegensätze sind. Sie können bei demselben Quellenmaterial angewandt werden und sich gegenseitig unterstützen. Oft wird gesagt, daß man mit Hilfe der statistischen Methode keinen „Ursachenzusammenhang beweisen" könne. Das aber hängt davon ab, was man unter „Beweis" und was man unter „Ursache" versteht. Jedenfalls gibt es keinen Zweifel, daß man mit Hilfe der Statistik das Vorkommen gesetzmäßiger Zusammenhänge von der Type feststellen kann, die in stokastischen Modellen eingeschlossen ist. Auf diese Weise beweist man, daß das Modell eine fruchtbare Beschreibung der Wirklichkeit sein kann. Einzeluntersuchungen können auf der anderen Seite niemals die Sicherheit geben, daß eine beobachtete

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Verbindung zwischen Kriminalität und Kriminalitätsfaktoren gesetzmäßig ist. Dazu sind Beobachtungen mehrerer Fälle und eine statistische Behandlung der Ergebnisse erforderlich. Statistische und individualistische Methoden ergänzen einander so: Bei der Aufstellung der Hypothese kann die sorgfältige Untersuchung eines einzelnen Falles anregend wirken. Die Hypothese kann mit Hilfe eines größeren Materials geprüft werden. Oft wird es notwendig sein, die Hypothese abzuändern, und hierzu kann man wieder durch das Studium von Einzelfällen Anregungen erhalten. Es kann versucht werden, die neue (abgeänderte) Hypothese durch statistische Untersuchungen an neuem Material zu bestätigen. Dieser Prozeß kann grundsätzlich niemals abgeschlossen werden. Die Richtigkeit einer Hypothese kann im günstigsten Falle mit einem hohen Grad wahrscheinlich gemacht werden. In den empirischen Wissenschaften ist ein Beweis immer absolut. Letzten Endes muß sich jeder Beweis auf unbeweisbare Voraussetzungen stützen. Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, diese Voraussetzungen so klar wie möglich zu formulieren. Monographien A. Q u e t e l e t : Physique sociale ou Essai sur le d£veloppement des facultas de l'homme. Bd. I—II. 18GO. G. T a r d e : La criminalitS comparic. 2. Aufl. 1890. D e r e . : La philosophie pönale. 2. Aufl. 1891. A. B a e r : Der Verbrecher in anthropologischer Beziehung. 1893. H. K u r e l l a : Naturgeschichte des Verbrechers. Qrundzüge der criminellen Anthropologie und Criminalpsychologie. 1893. 0. L o m b r o s o : L'homme criminel. Bd. I—II. 2. Aufl. 1895. E. D ü r k h e i m : Le suicide, tätude de sociologie. 1897. B. F e r r i : Criminal Sociology. 1898. C. L o m b r o s o : Le crime, causes et remMes. Paris 1899. D e r s . : Die Ursachen und Bekämpfung des Verbrechens. 1902. F. v. L i s z t : Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. 1905. C. L o m b r o s o : Introduction to Gina Lombroso-Ferrero: Criminal Man According to the Classification of Cesare Lombroso. 1911. G. L o m b r o s o - F e r r e r o : Criminal Man According to the Classification of Cesare Lombroso. 1911. K . F i n k e l n b u r g : Die Bestraften in Deutschland. 1912. J. L o t t i n : Quetelet. Statisticien et Sociologue. 1912. Ch. Goring: The English Convict. A Statistical Study. 1913. P. F a u c o n n e t : La responsabilit£. 1920. Έ. D ü r k h e i m : De la division du travail social. 4. Aufl. 1922. Α. A i c h h o r n : Verwahrloste Jugend. 1925. Th. Reiki Strafbedürfnis und Geständniszwang. 1925. Ε. D ü r k h e i m : Les regies de la möthode sociologique. 8. Aufl. 1927. A. L e n z : GrundriB der Kriminalbiologie. Werden und Wesen der Persönlichkeit des Täters nach Untersuchungen an Sträflingen. 1927. F. A l e x a n d e r u. H. S t a u b : Der Verbrecher und seine Richter. 1929. Cl. R. Shaw: The Natural History of a Delinquent Career. 1931. G. A s c h a f f e n b u r g : Das Verbrechen und seine Bekämpfung. 3. Aufl. 1933. A. E l s t e r u. H. L i n g e m a n n : Handwörterbuch der Kriminologie und der anderen strafrechtlichen Hilfswissenschaften. Bd. I—II. 1933/1936.

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Kunstwerkfälschung

KUNSTWERKFÄLSCHUNG 1. Geschichte der Kunstwertfälschung Die Taten im Bereich der Kunstwerkfälschung sind keine „ewigen" Verbrechen, wie Mord oder Diebstahl, sondern sie tauchen nur unter Einfluß bestimmter sozial- und geistesgeschichtlicher Situationen auf. I m christlichen Mittelalter, da die Kunst sakral gebunden und der Künstler als Handwerker fast ganz in die Gemeinschaft eingeordnet war, gab es keine Kunstfälschertaten im heutigen Sinn. Die Umwelt verehrte im Altarbild den religiösen Gehalt, weniger die Person des meist anonym bleibenden Künstlers. Der Anreiz zur Nachahmung eines fremden, großen Vorbildes in der Kunst fehlte. Erst in der Epoche der R e n a i s s a n c e , als es zur Entdeckung der Welt und des Menschen kam, wandelte sich im Geiste des Individualismus die Auffassung vom Wesen der Künstlerpersönlichkeit. In Italien, in den Niederlanden u n d in Deutschland t r a t der Künstler aus der ständischen Gebundenheit des mittelalterlichen Handwerkertums heraus. Die neue Zeit schenkte ihm Anerkennung seines Individualwertes, Aufstieg im sozialen Dasein und wirtschaftlichen Machtgewinn. Die Umwelt des Künstlers stand bewundernd vor den großen Leistungen, die die menschliche Begabung oder das Genie auf dem Felde des Kunstschaffens zu erreichen vermochten. Wert und Rang des Kunstwerks wurden immer mehr vom Gewicht der Persönlichkeit des Schöpfers abhängig. Die Sonderstellung des Künstlers wurde unter Berufung auf die göttliche Abkunft seines Ingeniums begründet. Im Zuge einer „Heroisierung" der Künstlerpersönlichkeit t r a t die Idee der O r i g i n a l i t ä t in den Vordergrund. Im Sinne der Originalität entsteht das Kunstwerk als etwas Ursprüngliches; der Künstler schafft es aus der Tiefe seines, ihm allein eigenen Selbst. Das Werk entspricht dem geistigen Organismus seines Autors, es ist gleichsam ein Teil seiner Persönlichkeit. Mag sich auch der Schaffensakt unter schwerem Ringen vollziehen, so bleibt der original gestaltende Künstler in einem vollendeten Gleichgewicht zwischen Aufgabe und Können. Die Originalität wurde oft geradezu mit Genialität gleichgesetzt. Der Engländer Young erklärte im 18. J a h r h u n d e r t das Genie als das höchste, weil es das Originale am reinsten verkörpere. Die Originalität war gleichsam göttlichen Ranges und somit sakrosankt. Der Angriff auf sie, unter welchem Vorwand er auch geschah, galt als moralisch verwerflich. Diese, seit der Renaissance aufkommende Idealvorstellung vom „originalen" Kunstwerk ist für Entstehung und Ausbreitung der Kunstwerkfälschung ein wichtiges historisch-soziologisches F a k t u m . Die einst im Mittelalter so häufig geübte Nachahmung fremder Stilformen wurde von nun an als anstößig empfunden. Die früher so bedeutsame Kunstgattung

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der Kopie wurde in Acht und Bann getan. Allmählich verband sich die ästhetisch-sittliche Bewertung der Originalität mit dem „kommerziellen Denken" des Kapitalistischen Zeitalters. Der Kunstwert der Originalität wurde zur „ökonomischen Kategorie" erhoben. Das von den maßgebenden Gesellschaftsschichten anerkannte originale Werk wurde seit der Renaissance zum Hauptziel des Sammeleifers. Auf den europäischen Kunstmärkten erzielte es die höchsten Preise. Es wurde zur allseits begehrten Handelsware. Weniger die ästhetische Wirkung oder der Bildinhalt als vielmehr die Einzigartigkeit des großen Namens, symbolisch repräsentiert durch die Signatur, bestimmten von nun an den Preis eines Bildes. Richteten sich Aufmerksamkeit u n d Besitzstreben weiter Kreise auf die originalen Werke großer Meister, so fanden bloße Kopisten oder weniger bekannte Künstler oft kaum mehr ihr Auskommen. Bei vielen Künstlern reifte der E n t schluß, durch Betrug im Kunsthandel oder durch Nachahmung und Fälschung von Originalwerken einen ähnlich hohen wirtschaftlichen Gewinn wie die glücklicheren Konkurrenten zu erzielen. Überall, wo auf dem sich immer mehr ausbreitenden K u n s t m a r k t Menschen als Sammler, Händler oder Kenner Kunstwerke erwarben oder veräußerten, traten jetzt auch Betrüger und Fälscher auf. Seitdem ergießt sich ein unablässig fließender, gewaltig anwachsender Strom falscher oder verfälschter Kunstwerke über die Welt. Alljährlich werden zahlreiche Menschen beim Erwerb unechter Werke betrogen und um Millionen an ihrem Vermögen geschädigt. Im Kulturleben unserer Zeit sind es die ökonomische Gesamtentwicklung, die soziale Situation des Künstlertums u n d die Auffassung vom Wesen der Kunst, die die Begehung von Betrug und Fälschung im Hinblick auf Kunstwerke fördern. Der wachsende Reicht u m alter und vor allem neuer Schichten — in der Bundesrepublik spürbar seit dem „Wirtschaftsw u n d e r " — f ü h r t dazu, daß viele Menschen aus verschiedensten Motiven oft wahllos u n d ohne Verständnis für die Kunst zahlreiche Werke aller Art erwerben, sammeln und wieder veräußern. Der Kreis der an der Kunst interessierten Menschen erweitert sich ständig. In öffentlichen oder privaten Museen werden heute die aus Kirchen, Schlössern u n d Bürgerhäusern geholten oder auf dem K u n s t m a r k t erworbenen Werke in großer Zahl angehäuft. Angesichts der immer mehr wachsenden Nachfrage nach echten Kunstwerken entwickelt sich der lebhafte Kunsthandel, vor allem in den Großstädten der alten und neuen Welt, zu einem höchst ertragreichen Gewerbe. Da auf dem K u n s t m a r k t das Angebot an echten u n d künstlerisch bedeutenden Werken heute gering ist, verstärkt sich der Anreiz, mit Hilfe von Betrug und Fälschung minderwertiges Kunstgut in Absicht der Gewinnerzielung auf den Markt zu

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Kunstwerkfälschung

bringen. Im weiten Bereich des Kunsthandels erfreut sich nicht nur der Fälscher einer anonymen Verborgenheit seines Treibens, sondern es finden auch betrügerische Händler, Vermittler, Zutreiber, Auktionatoren, Experten usw. bei ihren fälscherischen oder betrügerischen Machenschaften einen weiten Kundenkreis. Die ungeheure Fungibilität des Kunstwerks erleichtert dieses kriminelle Geschehen. Ist das Kunstwerk, indem es zur Handelsware am Kunstmarkt geworden ist, aus seinen früheren kulturellen und sozialen Zusammenhängen herausgerissen, so läßt die gierige Jagd unserer Zeit nach Geld und Gewinn es häufig zum Objekt rein geschäftlicher Spekulation herabsinken. Die im Vergleich zu früheren Zeiten ungeheuer hohen Preise, die für Kunstwerke anerkannter alter und neuer Meister bezahlt werden, sind für diese Entwicklung symptomatisch. Starke Triebkräfte für den Erwerb von kostspieligen Kunstwerken sind heute vor allem die Sucht nach Repräsentation und das Streben nach Kapitalanlage. Nicht zuletzt wird auch die Persönlichkeit des Künstlers erfaßt von jenem „Tanz um das goldene Kalb", der das überkommene Künstlerethos allmählich zerstört, das Talent der Schaffenden depraviert, ja in Einzelfällen aus dem Genie sogar einen Verbrecher macht. 2. Ausmaß und Erscheinungsformen der Kunstwerkfälschung Die Entwicklung der Kunstfälschertaten folgt dem Trend der allgemeinen Kriminalitätsbewegung, innerhalb deren heute dem Betrug hohe Bedeutung zukommt. Neben dem Diebstahl ist der Betrug in seinen zahlreichen Erscheinungsformen das am häufigsten begangene Delikt. Wie für Betrug und Fälschung im Ganzen, läßt sich für die Kunstfälschertaten im Besonderen nur schwer ein zuverlässiges Bild über das wirkliche Ausmaß der Kriminalität gewinnen. Die Kriminalstatistik läßt die wahre Bedeutung des Betruges im Rahmen der modernen Kriminalitätsbewegung nur ungenau erkennen. Der Anteil des Betruges mit Kunstwerken sowie der Fälschung von solchen wird in der Kriminalstatistik nicht gesondert berücksichtigt. Bei kaum einem anderen Delikt ist das sog. Dunkelfeld so sehr ausgedehnt wie beim Betrug in allen seinen Formen. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Opfer des Betruges und der Fälschung, aus Scheu, neben dem Schaden auch noch Spott zu erleiden, sich oft hüten, Strafanzeige zu erstatten. Es ist kein Wunder, daß angesichts dessen Kunstfälscherprozesse im Bereich der Strafrechtspflege seltene Ereignisse sind. Darüber dürfen einzelne, oft sensationelle Fälle, wie die Strafverfahren gegen den Van Gogh-Fälscher Otto Wacker, gegen den Vermeer-Nachahmer Han van Meegeren oder gegen die Restauratoren der Lübecker Marienkirche, Malskat und Fey, nicht hinwegtäuschen.

Die kriminellen Begehungsweisen von Betrug und Fälschung im Bereich der Kunst werden immer differenzierter und vielfältiger in den Formen. Zwar beschreitet das Kunstfälschertum auch in der Gegenwart noch jene überkommenen, gleichsam „eingefahrenen" Bahnen des Betruges und der Fälschung von Kunstwerken, wie sie sich schon seit der Zeit Michelangelos, den die Legende als einen der ersten Kunstfälscher von Namen bezeichnet, stereotyp wiederholen. Noch immer wendet man die alten Tricks der Fälscher und Betrüger an, daß man ζ. B. gefälschte Werke in den Boden vergräbt oder in Schlössern und in Kapellen versteckt, um sie dort von Liebhabern und Sammlern „entdecken" zu lassen. Noch immer werden in betrügerischer Weise wertvolle Originale gegen minderbewertete Kopien heimlich vertauscht oder unsignierte Bilder unbekannter Maler mit dem Künstlerzeichen eines Berühmteren versehen und als dessen Meisterwerke an Gutgläubige teuer veräußert. Wenn wir andererseits gegenwärtig auch neue Charakterzüge des kriminellen Geschehens finden, so beweist dies, daß Kunstwerkfälscher und -betrüger mit der allgemeinen Entwicklung der Betrugs- und Fälschungskriminalität gut Schritt halten. Auffallend häufen sich die Fälle, in denen die Kunstfälschertat in engem Zusammenhang mit anderen Deliktsarten steht, sei es, daß sie diese anderen Taten verdeckt, sei es, daß sie jene erleichtert oder gar erst ermöglicht. So hat ζ. B. eine Diebesbande in Bayern hochwertige alte Kunstgegenstände aus Kirchen gestohlen und durch mitgebrachte Nachahmungen ersetzt, vielleicht in der Überzeugung, für die Andacht der Gläubigen möge es gleichgültig sein, ob das verehrte Heiligenbild ein Original oder eine Fälschung sei. Bedenklicher ist es, wenn in den letzten Jahrzehnten die Verwendung von gefälschten Bildern eines der Mittel wird, um großangelegte Betrugsmanöver ins Werk zu setzen. Der Kunstwerkbetrug wird hier mit bestimmten Formen eines komplizierten Kredit- oder Bankschwindels gekoppelt, oder er verbindet sich mit Begehung von Steuer- und Devisenvergehen. Vor wenigen Jahren waren ζ. B. in der Bundesrepublik, vor allem in Baden-Württemberg, gefälschte Kunstwerke das Objekt von sog. „Einsponbetrügereien" großen Ausmaßes, in die ζ. T. namhafte deutsche Industrielle verwickelt waren. Diesen boten gewandt auftretende Komplizen einer internationalen Betrügerbande von Kunsthändlern aus Paris, Monte Carlo, Rio de Janeiro, Amsterdam usw. meist unechte Gemälde von geringem Wert zu hohen Preisen an. Gleichzeitig wurde vorgespiegelt, für diese Bilder seien bereits ausländische Käufer vorhanden, die bei einem Weiterverkauf der Bilder weit höhere Preise bezahlen könnten, jedoch nur aus Privathand kaufen wollten. In manchen Fällen gewann der Betrüger den Interessenten erst, als er als Vertreter einer auslän-

Kunstwerkfälschung dischen Regierung auftrat oder angebliche ausländische Industrieaufträge, ζ. T. bis zu 250000 Dollars, versprach. Auf solch' raffinierte Weise „eingesponnen", kauften die deutschen Industriellen die meist unechten Gemälde von den als Verkäufer auftretenden Komplizen in der stillen Hoffnung, später hohen Gewinn durch den vereinbarten Weiterverkauf der Bilder ins Ausland zu erzielen. Aber weder der das Geschäft vermittelnde Gauner noch die angeblichen ausländischen Käufer ließen sich jemals wieder blicken, und die Geprellten blieben auf ihren teuer erworbenen, meist fast wertlosen Bildern sitzen. Der durch diese Betrügereien angerichtete Gesamtschaden überschritt nach der Schätzung der Kriminalpolizei den Betrag von 8 Millionen DM. An solchen Fällen erkennen wir, daß die Fälscher und Betrüger an den Landesgrenzen heute keineswegs mehr Halt machen. Die von ihnen begangenen Verbrechen spielen sich weitgehend im Bereich des Internationalen ab. Zwar kam es schon früher vor, daß ζ. B. ein Werk der Kleinkunst in Italien fälschlich hergestellt, in Frankreich mit einer täuschenden Patina versehen und schließlich in den Vereinigten Staaten an den Mann gebracht wurde. Heute ist die Internationalität des verbrecherischen Kunstfälschertums zu einem so hervorstechenden Merkmal dieses Delikts geworden, daß auch die staatliche Verbrechensverfolgung nur noch Erfolg verspricht, wenn sie, vor allem mit Hilfe der Interpol in Paris, auf dem Wege enger internationaler Zusammenarbeit der Polizei aller Länder gegen die Täter vorgeht. 3. Die strafrechtliche Bekämpfung der Kunstwerkfälschung

Der Tatbestand des B e t r u g s (§ 263 StGB) hat heute die größte Bedeutung im Kampf gegen das Kunstfälschertum. Ein Kunsthändler spiegelt ζ. B. einem Sammler bewußt vor, das Bild, das jener kaufen will, sei ein unzweifelhaft „echter Rembrandt", während es sich in Wirklichkeit um ein minderwertiges Gemälde handelt. Zahlt der Käufer den für einen echten Rembrandt üblichen hohen Preis, so liegt eine Vermögensschädigung und, wenn die Bereicherungsabsicht hinzutritt, ein strafbarer Betrug gegenüber dem Käufer vor. Vielfach wirft die zum Betrugstatbestand gehörende Täuschungshandlung schwierige rechtsdogmatische Probleme auf. Verhältnismäßig einfach liegen die Dinge, wenn der Täter mit beredten Worten oder durch schlüssige Handlungen die in Wirklichkeit fehlende Echtheit des Kunstwerks bewußt vorspiegelt. Wenn er jedoch über die Echtheitsfrage schweigt, taucht die Frage auf, ob nicht eine Rechtspflicht des Verkäufers besteht, dem Erwerber den wahren Sachverhalt mitzuteilen. Muß der Verkäufer die von dritter Seite bereits festgestellte und auch ihm bekannte Unechtheit oder gar schon seine eigenen Zweifel an

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der Echtheit dem Erwerber offenbaren? Diese Frage ist mit der schwierigen Problematik der unechten Unterlassungsdelikte belastet, bei denen die zureichende Begründung der Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung viel Kopfzerbrechen macht. Vielfach wird die Auffassung vertreten, die Rechtspflicht zur Offenbarung ergebe sich aus dem ungeschriebenen sozialethischen Grundsatz von „Treu und Glauben im Verkehr". Es geht in erster Linie darum, daß beim Handel mit Kunstwerken von den Geschäftspartnern ein „Mindestmaß loyalen Verhaltens" (v. Cleric) verlangt werden muß. Ein zu strenges Wahrheitsgebot hinsichtlich der Aufdeckung von Mängeln der Kaufsache würde jedoch Spekulationsinteresse und Gewinnstreben, die im Kunsthandel auf keinen Fall ganz entbehrlich sind, allzustark beeinträchtigen. Die Aufklärungspflicht des Verkäufers eines unechten Kunstwerkes ist jedoch zu bejahen, wenn bei Kaufabschluß bereits auf Grund objektiver Kriterien für den Verkäufer feststeht, daß eine Fälschung vorliegt. Anders wird zu entscheiden sein, wenn der Verkäufer auf Grund seiner eigenen Kenntnisse nur Zweifel an der Echtheit hegt. Viel erörtert wird die Frage, ob auch der Käufer eines Kunstwerks gegenüber dem Verkäufer einen Betrug begehen könne. Obwohl nach deutschem Strafrecht die bloße Ausnutzung einer schon vorhandenen Unkenntnis des Partners nicht strafbar ist, können in solchen Fällen auch der Gesichtspunkt von Treu und Glauben im Verkehr und das Maß einer etwaigen Arglist des Täters die Strafwürdigkeit begründen. Sichere, alle möglichen Fälle umfassende Grundsätze lassen sich hier jedoch noch weniger aufstellen als beim Betrug des Verkäufers. Ein wichtiges Tatbestandselement des Betruges ist der Eintritt des Vermögensschadens. Dies bedeutet für die Bekämpfung des Kunstfälschertums, daß die bloße Irreführung als solche, das „Düpieren' 'des anderen, nach deutschem Strafrecht nicht schon zur Bestrafung wegen Betruges ausreicht. Zur Beantwortung der Frage, ob dem Erwerber einer Fälschung ein Vermögensschaden entstanden ist, ist der „wirtschaftliche Wert" eines Kunstwerks genauer zu bestimmen. Entscheidend ist der nach objektiven Kriterien festzustellende Marktwert, der sich nach dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage am Kunstmarkt bildet. Beim Kunstwerk muß jedoch in bestimmten Grenzen bisweilen auch der Affektions- und Liebhaberwert anerkannt werden. Schließlich ist zu beachten, daß das Kunstwerk als Träger vornehmlich ästhetischer Werte eine fiktive Größe darstellt, die sich allzuoft dem Bereich des rein Meßbaren entzieht. Bietet schon die strafrechtliche Beurteilung der Kunstfälschertaten unter dem Gesichtspunkt des Betruges erhebliche Schwierigkeiten, so sind diese nicht geringer bei der Erbringung des Beweises in Kunstbetrugsprozessen. So ist ζ. B. der Beweiswert des G u t a c h t e n s von Sachverständigen an-

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Kunstwerkfälschung

gesichts der schwer zu beantwortenden Echtheitsfrage oft recht umstritten. Besondere Hindernisse pflegen auch aufzutauchen, wenn dem Kunsthändler der T a t v o r s a t z , vor allem die T ä u s c h u n g s a b s i c h t , nachgewiesen werden soll. Meist wird sich der Yeräußerer eines gefälschten Kunstwerks auf seine Gutgläubigkeit hinsichtlich der Echtheit berufen. Wer als Richter oder Staatsanwalt die Aussage des Beschuldigten, er habe nach Sachlage an die Echtheit geglaubt, ohne weiteres hinnimmt, wird kaum einen Betrug sicher nachweisen können. Es ist daher eine Hauptaufgabe der Strafverfolgungsbehörden, die Herkunft des Falschwerks, seine „Provenienz", jeweils genau zurückzuverfolgen. Will man die Kunstwerkfälschung schon an der Wurzel fassen, so muß nicht nur der Betrug mit gefälschten Werken, sondern schon die Herstellung des Falschwerks als solche bestraft werden. Diese Aufgabe erfüllen die Fälschungstatbestände des S t G B . Hier kommt vor allem der Tatbestand der U r k u n d e n f ä l s c h u n g (§ 267 StGB) in Betracht. Als „Urkunde" ist ein Kunstwerk, ζ. B . ein Gemälde, nur anzusehen, wenn sich auf ihm das Zeichen oder der Name des Künstlers befindet. Dadurch hat der Künstler nach außen zum Ausdruck gebracht, es handle sich um ein fertiges, verkehrsreifes Werk, für das er im Rechtsverkehr die Gewähr für die Urheberschaft übernehme. Hat der Fälscher etwa auf dem Bild eines unbekannten Malers das Signum eines berühmten Malers gesetzt, so liegt die fälschliche Herstellung einer Urkunde vor, wenn den Täter von vornherein eine rechtswidrige Täuschungsabsicht geleitet hat. Ändert der Täter ein schon vorhandenes Künstlerzeichen etwa in das berühmte Signum A. Dürers ab, so haben wir eine U r k u n d e n v e r f ä l s c h u n g (§ 267 S t G B ) vor uns. Beseitigt er das Zeichen völlig, ohne ein neues an die Stelle zu setzen, so kann er u. U. wegen U r k u n d e n u n t e r d r ü c k u n g (§ 274 Ζ. 1 S t G B ) bestraft werden. Ein wichtiges strafrechtliches Problem stellt die Möglichkeit der E i n z i e h u n g von F a l s c h w e r k e n dar. Was nützt es, wenn Betrüger und Fälscher zwar bestraft werden, ihre Falschwerke aber durch Weiterveräußerung an gutgläubige Dritte immer wieder neuen Schaden anrichten. Hemmend wirkt sich die Vorschrift des § 40 S t G B aus, wonach das zu oder bei der Tat benutzte Kunstwerk nur eingezogen werden darf, wenn es im Eigentum des Täters oder des Teilnehmers steht. Gerade bei betrügerischen Veräußerungen von Kunstwerken ist dies selten der Fall. An diese ungerechtfertigte Einengung ist ζ. B . der Schweizer Richter nicht gebunden, da er bei der meist vorliegenden Gefährdung der „öffentlichen Ordnung" das Falschwerk ohne weiteres einziehen kann. Andererseits lassen u. U. privatrechtliche Interessen des Erwerbers eines Falschwerkes eine Einziehung nicht immer als gerechtfertigt erscheinen.

4. Kriminologie der Kunstwerkfälschung Man kann in kriminalphänomenologischer Betrachtung drei Grundformen des Kunstfälschertums (Kunstwerkfälschung i. w. S.) unterscheiden: Bei der „Kunstwerkfälschung i. e. S . " wird durch Herstellung eines unechten Werkes ein ästhetisches Vorbild, sei es ein einzelnes Werk, sei es der Stil eines Meisters oder einer Zeitepoche, zu Täuschungszwecken nachgeahmt. Vollzieht sich die Nachahmung in besonders enger Anlehnung an das Vorbild, so handelt es sich um eine „ K o p i e " . Bei der „Kunstwerkfälschung" werden im Aufbau des Werks einzelne Zustände und Beschaffenheiten aufgehoben, verändert oder durch andere ersetzt. Die Hauptform stellt die Nachahmung oder Veränderung eines fremden Künstlerzeichens dar. Ferner gehören hierher auch die Restaurierung und Embellierung von Kunstwerken. Der „Kunstwerkbetrug" zeichnet sich dadurch aus, daß beim Akt der Täuschung eines anderen unter Wahrung der körperlichen Substanz bestimmte Beziehungen des Kunstwerkes zur Personen- und Sachwelt entweder durch andere ersetzt oder neu hinzugefügt werden. Die häufigste Form besteht darin, daß in Täuschungsabsicht einem gefälschten oder verfälschten Kunstwerk der Wahrheit zuwider die Urheberschaft eines großen Namens angedichtet wird und mit Hilfe dieser Täuschung ein anderer in seinem Vermögen Schaden erleidet. Bei den Taten der Kunstwerkfälschung ruht das Schwergewicht des kriminellen Gehalts auf der Eigenart der v e r b r e c h e r i s c h e n M o t i v a t i o n und Absicht des Täters. Bei „Kunstwerkfälschern" wird die Herstellung des Falschwerks durch psychische Affekte wie die Nachahmung eines fremden Vorbildes bestimmt. Die Fähigkeit zur Nachahmung erwächst aus der individuellen Anlage des Täters. Die Nachahmung im Bereich des Kunstschaffens hält sich vom Kriminellen fern, wenn sie allein den inneren Gesetzen künstlerischen Schaffens gehorcht. So haben früher junge Künstler, ζ. B . aus Freude an der Nachbildung fremder Kunstwerke, durch Anfertigung von Kopien ihre berufliche Schulung gefördert. Der Bereich des Kriminellen wird jedoch berührt, wenn der Nachahmungsakt sich stärker auf die äußere Umwelt des Künstlers einrichtet und sich mit ethisch nicht zu billigenden Motiven, wie vor allem der Gewinnsucht, verbindet. Hier nähert sich die psychische Haltung des „Kunstwerkfälschers" jener des „Kunstwerkbetrügers" an. Der Betrüger führt mit Hilfe der Lüge eine bewußte Täuschung und Irreführung des Opfers der Tat herbei. Auf Grund der Irrtumserregung trifft das Opfer der Tat eine Vermögensverfügung, die für es oder einen anderen einen Vermögensschaden nach sich zieht. Wichtig für das Gelingen des Betruges ist die Einfühlung des Täters in die Psyche des Opfers der Tat. Die jeweilige geistige Einstellung der Erwerber und Sammler von Kunstwerken in

Kunstwerkfälschung ihrer Variationsbreite von der Freude an der Kunst über das Streben nach Konjunkturgewinn bis zur Absicht der Steuerhinterziehung ist in vielem mitverantwortlich für den gelungenen Kunstbetrug. Geht man von der kriminellen Motivation des Täters der Kunstwerkfälschung aus, so lassen sich der „reine Irreführungstypus" vom „gewinnsüchtigen Fälscher — bzw. Betrügertypus" unterscheiden. Beim ersten Typus verdankt die Täuschungsabsicht ihr Entstehen der Freude an Überlegenheit über die Umwelt, der Ruhmsucht und dem Geltungsdrang, dem Wetteifer und dem Neid und der Mißgunst. Beim zweiten Typus steht im Mittelpunkt des kriminellen Geschehens das Motiv, mit Hilfe der Herstellung oder des Vertriebs unechter Kunstwerke einen ungerechtfertigten wirtschaftlichen Gewinn zu erzielen. Nicht selten kommt bei Kunstwerkfälschern oder -betrügern eine Mischung beider Typen vor (ζ. B. bei H. van Meegeren). Geht man von der jeweiligen inneren Bereitschaft des Täters zum Verbrechen aus, so finden sich bei Kunstwerkfälschern und -betrügern neben Gelegenheitsverbrechern in häufigen Fällen auch Gewohnheits- und Berufsverbrecher. Daher überrascht es nicht, daß innerhalb des zweiten Täterkreises pathologische Persönlichkeiten, nicht zuletzt hochstaplerische Naturen, verhältnismäßig häufig anzutreffen sind. Was Geschlecht und Alter anlangt, so sind die Taten der Kunstwerkfälschung vorwiegend Männerdelikte. Die Taten werden, wie die Betrugs- und Fälschungsdelikte überhaupt, vorwiegend von Erwachsenen, und nicht von Jugendlichen, begangen. Schauplatz der Kunstwerkfälschung ist vornehmlich die Stadt, besonders die großen Handelszentren des Kunstmarktes. Aber auch kleinere Städte und das Land sind vom kriminellen Treiben der Kunstwerkfälschung nicht ganz verschont. Fast alle erfolgreichen Fälscher sind heute Spezialisten auf ihrem Gebiet. Manche Täter, wie ζ. B. van Meegeren, arbeiten bei der Herstellung der Falschwerke allein, wieder andere vereinigen sich zu gemeinsamer Tatbegehung. Nicht selten entstehen sog. „Fälscherfabriken". Im Bereich des Betrugs gibt es auch Banden, die unter Verteilung der Rollen in gegenseitigem Zusammenspiel zahlreiche unechte Werke an den Mann zu bringen trachten. Bedeutsam ist der Beruf der Täter aus dem Bereich der Kunstwerkfälschung. Als „Fälscherberufe" kommen in Betracht: Maler, Bildhauer, Steinmetze, Medailleure, Münzarbeiter, Kunstschmiede, Kunstschreiner, Restauratoren usw. Als „Betrügerberufe" gelten Kunsthändler, Antiquare, Sammler, Agenten, Vermittler, Experten, Versteigerer bei Auktionen usw. Manchmal finden wir einen Wechsel oder eine Verbindung der genannten beruflichen Rollen unter den Betrügern. So kommt es vor, daß ζ. B. der „Händler" bei der Tatbegehung in der Maske des „Sammlers" oder des „Experten" auftritt. ] 5 HdK, 2. Aufl., Bd. IX

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5. Kunstwerkfälschung und Kriminalistik Die Prüfung der Echtheit von Kunstwerken bedient sich heute zahlreicher Methoden. Im Vordergrund steht die S t i l k r i t i k durch den Kunstsachverständigen. Dieser stellt die Frage, ob etwa auf einem angeblichen Gemälde des Rubens die Formen der Darstellung, wie ζ. B. die Anatomie der Figuren oder die Perspektive der Architektur, mit der in Anspruch genommenen Entstehungszeit übereinstimmen. Ist die Frage zu verneinen, so besteht der dringende Verdacht, daß es sich um eine Fälschung handelt. Oft konnte eine Fälschung schon dadurch entlarvt werden, daß dem Fälscher einzelne Fehler im Aufbau des Werkes unterlaufen sind. Eine künstlerisch recht gelungene Madonnenfigur im Stile des Quattrocento wurde als Falschwerk des begabten Fälschers Dossena erkannt, weil der Fälscher übersehen hatte, daß im Mittelalter die einzelnen Holzblöcke einer Plastik niemals zusammengeleimt, sondern stets nur mit Dübeln miteinander verbunden wurden. Kunstkennerschaft läßt sich nur dadurch erwerben, daß ständig Vergleiche zwischen Originalen und Nachahmungen angestellt sowie Stil und Eigenart großer Künstler eingehend studiert werden. Neben der Stilkritik und der Prüfung des handwerklichen Aufbaues des Kunstwerkes werden heute auch zahlreiche n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e M e t h o d e n angewandt, um Fälschungen zu entlarven. Zu den ältesten naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden gehören die Nadelund die Alkoholprobe. Mit der Nadelprobe wird die Farbschicht eines Gemäldes auf ihr Alter untersucht. Ist das Bild neuen Ursprungs, dringt die Nadel leicht in die Farbschicht ein. Handelt es sich dagegen um ein altes Bild, so springt die Farbschicht um den Einstich herum. Bei der Alkoholprobe gilt es als Beweis für die weit zurückliegende Entstehungszeit eines Bildes, wenn die Farbschicht nicht in Alkohol löslich ist. Beide Untersuchungsmethoden sind nicht immer zuverlässig. Große Bedeutung hat die optische Untersuchung der Oberfläche von Kunstwerken erlangt. Bewährt hat sich bei der Aufdeckung von Fälschungen die Mikrophotographie, oft verbunden mit der Verwendung des Mikroskops. Man kann ζ. B. durch das Mikroskop erkennen, wenn der Fälscher auf einem Bilde durch künstliche Machenschaften feine Sprünge auf der Farboberfläche, die sog. Kraquelur, die als Zeichen für das Alter eines Gemäldes gilt, vorzutäuschen sucht. Auch läßt sich unter dem Mikroskop die Art der Pinselführung auf echten und gefälschten Bildern vergleichen. Ferner werden Untersuchungen mit UV-Licht und die Photographie mit Infrarot zum Nachweis von Fälschungen verwendet. Da infrarote und UV-Strahlen auch solche Materien durchdringen, die das mit dem Auge sichtbare Licht nicht durchlassen, werden mit diesen Verfahren auf Gemälden u. a. Übermalungen sichtbar ge-

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Kunstwerkfälschung

macht. A n der Spitze der physikalischen Untersuchungsmethoden steht die Verwendung v o n Röntgenstrahlen. Fällt ein Bündel unsichtbarer Röntgenstrahlen auf die photographische Platte, so entstehen in der lichtempfindlichen Schicht Schattenbilder. Die R ö n t g e n a u f n a h m e läßt die S u m m e der Schattenbilder des Blei u n d anderer Metalle der Farben erkennen. H a n d e l t es sich bei d e m durchleuchteten Körper u m ein Ölgemälde, so erblickt m a n i m Röntgenschattenbild die das Kunstwerk aufbauenden Färb schichten. I m Röntgenschattenbild eines Gemäldes lassen sich die Untermalung, die Pinselführung oder die Verw e n d u n g bestimmter Farben, vor allem i m Vergleich mit dem Original, deutlich unterscheiden. W e n n viele Gemälde mit ihren R ö n t g e n a u f n a h m e n verglichen werden, lernt man, wie die Röntgenbilder v o n Gemälden verschiedener Mal- u n d Stilepochen u n d Künstlerpersönlichkeiten aussehen. Auf diese Weise gelang es 1932 den Kunstsachverständigen im Prozeß gegen den v a n GoghFälscher Wacker, manche Bilder einwandfrei als Fälschungen nachzuweisen. Entscheidender R a n g bei Aufdeckung v o n Fälschungen k o m m t oft mikrochemischen Untersuchungen zu. Chemische Mikroanalysen v o n Farbbestandteilen zeigen an, daß der Fälscher Farben v e r w e n d e t hat, die zur angeblichen Entstehungszeit des Bildes noch nicht erfunden oder üblich waren. Mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse v o n Farben gelang es, die Fälschungen Malskats in der Lübecker Marienkirche aufzudecken. W o die Untersuchung der Farben versagt, führt o f t die Analyse der v o m Fälscher verwendeten Bindemittel weiter. In manchen Fällen, wie e t w a jenem des holländischen Fälschers v a n Meegeren, führt nur die enge Verbindung naturwissenschaftlicher Methoden mit kunstwissenschaftlicher Stilkritik zum vollen Nachweis der Fälschung.

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Lebensmittelverfälschung

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L LEBENSMITTELVERFÄLSCHUNG 1.

Begriff

Verfälschung von Lebensmitteln ist die Herbeiführung einer Veränderung an der normalen stofflichen Zusammensetzung, wodurch das Lebensmittel einen seinem Wesen nicht entsprechenden Schein erhält. Dabei wird es durch Zusatz oder Nichtentziehung minderwertiger Stoffe oder durch Entziehung oder Weglassung wertvoller Stoffe verschlechtert, oder es wird ihm der Anschein einer besseren als seiner wirklichen Beschaffenheit gegeben. Die kriminologische Betrachtungsweise wird — anders als die rechtliche — die Begriffe des „Nachahmens" und der „irreführenden Bezeichnung" von Lebensmitteln in den umfassenderen Begriff der „Verfälschung" einzubeziehen haben, zumal sie weitgehend auf e i n e Tätergrundhaltung zurückzuführen sind, die derjenigen des Betrügers ( - > Betrug) verwandt ist. Als „Lebensmittel" sind alle Stoffe anzusehen, die dazu bestimmt sind, von Menschen gegessen, gekaut oder getrunken zu werden, soweit sie nicht überwiegend als Behandlungsmittel bei Erkrankungen zu gelten haben. 2.

Geschichte

Lebensmittelverfälschungen sind praktisch nur im Zusammenhang mit einem Lebensmittelverkehr denkbar, der immer dann beginnt, wenn der Mensch dazu übergeht, mit anderen in Ansiedlungen zusammenzuwohnen.Bis dahin gehören die Herstellung von Lebensmitteln und ihre Zubereitung zu den hauswirtschaftlichen Verrichtungen, die ausschließlich den Familienbedarf decken. Niemand verfälscht Lebensmittel, die er selbst verzehrt. Mit der Entwicklung der Ansiedlungen, insbesondere des Städtewesens, kommt der Handelsverkehr mit Lebensmitteln in Gang, der mit den ersten Verfälschungen einhergeht. In einem der ältesten Stadtrechte, wie dem von Soest (1120), wird ζ. B. die Todesstrafe für denjenigen angekündigt, „der faulen Wein mit gutem Wein mischt". In Nürnberg sind in den Jahren 1444 und 1456 mehrere Männer und Frauen mit ihren verfälschten Gewürzen lebendig begraben oder verbrannt worden. Schon im 12. Jahrhundert findet man in Ratsordnungen, wie denen von München, Augsburg, Frankfurt, Ulm, Eßlingen, Basel und Nürnberg, Vorschriften über die Beaufsichtigung der Metzger, Müller, Mehlhändler und Bäcker, der Brauer und Wirte. Die sog. Viktualienpolizei führte im Rahmen der Marktpolizei Aufsicht über alle, die mit der Herstellung, Bereitung oder dem Vertrieb von Lebensmitteln zu tun hatten. 16·

Unter den Lebensmitteln ist von je her keins so sehr der Fälschung unterworfen gewesen wie der Wein. Weinfälscher wurden vielfach öffentlich ausgepeitscht und in der Regel für immer der Stadt verwiesen. In Biebrich a. Rhein wurde im Jahre 1482 ein Weinfälscher mit der drastischen Strafe belegt, sechs Maß seines gefälschten Weines zu trinken, woran er dem Berichte nach eines schrecklichen Todes gestorben ist. Die Strafe des Selbstverzehrens verfälschter Lebensmittel durch den Fälscher im Kerker oder auf öffentlichen Plätzen war zur damaligen Zeit auch sonst verbreitet. Im Mittelalter hatten die Zünfte einen günstigen Einfluß auf das mit Lebensrnitteln befaßte Handwerk. Das Bestreben, die Ehrbarkeit des Handwerks zu wahren, führte schon bei verhältnismäßig geringen Verstößen zum Ausschluß aus der Zunft, was bei dem damals bestehenden Zunftzwang einem Berufsverbot gleichkam. Mit besonderer Sorgfalt widmeten sich die Städte und Landesregierungen der Fleischverarbeitung. In der Kurpfalz wurde ζ. B. 1582 verordnet, daß kein Metzger ein Kalb unter einem Alter von 3y 2 Wochen schlachten durfte. Württemberg setzte 1588 ein Mindestalter von 3 Wochen fest. Eine in Hannover erlassene Verordnung aus dem Jahre 1712 drohte an, daß „mit FestungsbauArbeit und Karrenschieben in Lüneburg und Hameln gestrafet werde", wer weiterhin in das Fleisch geschlachteten Viehes Löcher stechen und Luft einblasen würde, „damit es ein Ansehen habe". Zahlreiche Einzelverordnungen zur Verhinderung von Verfälschungen von Lebensmitteln richteten sich gegen die Gewerbe der Müller, Mehlhändler, Bäcker und Brauer. Schwere, über ganz Süddeutschland verbreitete Epidemien infolge der mit Silberglätte erfolgten Weinverfälschung führten im 17. Jahrhundert zu zahlreichen Verordnungen mit besonders harten Strafandrohungen. Im alten Reich kam es jedoch nicht zu einem zusammenfassenden Ausbau des Lebensmittelrechts. Es blieb Bestandteil der allgemeinen Landesgesetze in Polizeistrafgesetzbüchern und -Verordnungen. Aber auch in dem nach der Errichtung des Deutschen Reiches erlassenen Strafgesetzbuch finden sich nur gelegentlich Bestimmungen über Lebensmittel (ζ. B. der inzwischen weggefallene § 367 Ziff. 7 sowie der § 324 betr. die gemeingefährliche Vergiftung). Die in den darauffolgenden Jahrzehnten zunehmenden Mißstände führten erst nach mancherlei Zwischenlösungen über Maßregeln der Medizinal- und Veterinärpolizei und nach Offenbarwerden der Unzulänglichkeit des am 14. 5. 1879 erlassenen

Lebensmittelverfälschung

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Gesetzes betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen im Jahre 1927 zu einer ersten umfassenden Lebensmittelgesetzgebung. 3. Geltendes Recht Grundlage für das inzwischen weitverzweigte Lebensmittelrecht — es gibt z. Zt. 24 Gesetze und 50 Verordnungen — ist das L e b e n s m i t t e l g e s e t z („Gesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen vom 5. 7.1927, in der Fassung der Bekanntmachung vom 1 7 . 1 . 1936, der ÄndVO vom 14. 7.1943 und des Änderungsgesetzes vom 2 1 . 1 2 . 1 9 5 8 " ) , im weiteren als LMG bezeichnet. Bei der Neufassung durch das letztgenannte Änderungsgesetz hat der Gesetzgeber hinsichtlich der Untcrmischung mit Fremdstoffen dem Verbotsprinzip gegenüber dem Mißbrauchsprinzip den Vorzug gegeben. Lebensmitteln, die dazu bestimmt sind, gewerbsmäßig in den Verkehr gebracht zu werden, dürfen bei der Gewinnung, Herstellung oder Zubereitung fremde Stoffe unvermischt oder nach Vermischung mit anderen Lebensmitteln nur zugesetzt werden, wenn sie hierfür ausdrücklich zugelassen sind. Der Begriff „fremde Stoffe", der für die Bestimmung von Verfälschungen und Nachahmungen von besonderer Bedeutung ist, wurde wie folgt umrissen: Fremde Stoffe im Sinne dieses Gesetzes sind Stoffe, die zu Lebensmitteln werden und die keinen Gehalt an verdaulichen Kohlehydraten, verdaulichen Fetten, verdaulichem Eiweiß oder keinen natürlichen Gehalt an Vitaminen, Provitaminen, Geruchs- und Geschmacksstoffen haben oder bei denen ein solcher Gehalt nicht dafür maßgebend ist, daß sie als Lebensmittel verwendet werden (§ 4 a Abs. 1 u. 2). Die erlaubterweise verwendeten Fremdstoffe sind gemäß §5a Abs. 2 grundsätzlich kenntlich zu machen. Entsprechend ist die Pflicht zur Kenntlichmachung von mit Strahlen behandelten Lebensmitteln geregelt (§ 4 c Abs. 2). Die Untersuchungen beim Verdacht von Verfälschungen, Nachahmungen und irreführenden Bezeichnungen haben durch diese neuen Bestimmungen festere Grundlagen erhalten. Der Bundesinnenminister ist ermächtigt worden, im Einvernehmen mit den beteiligten Resortministern die Verwendung einzelner, bezeichneter Fremdstoffe zuzulassen und dabei gegebenenfalls Höchstmengen festzusetzen. Mit Wirkung vom 1 9 . 1 2 . 1 9 5 9 sind gleichzeitig die Allgemeine Fremdstoffverordnung, die KonservierungsstoffVerordnung, die Diät-Fremdstoff-Verordnung und die Farbstoff-Verordnung erlassen worden. Ebenfalls unter dem 1 9 . 1 2 . 1 9 5 9 ist eine „Verordnung über die Behandlung von Lebensmitteln mit Elektronen-, Gamma- und Röntgenstrahlen oder ultravioletten Strahlen" ergangen.

Der Bundesinnenminister ist nach dem LMG — wie vordem der Reichsminister des Innern — ermächtigt, Vorschriften zu erlassen, die die Herstellung und den Verkehr mit einzelnen Lebensmitteln besonders regeln. Diese Ermächtigung hat dazu geführt, daß es neben mehreren Spezialgesetzen auf den Teilgebieten des Lebensmittelwesens eine Vielzahl von Rechtsverordnungen gibt. Es handelt sich beispielsweise um folgende Gebiete und Bestimmungen: a) Schlachtvieh und Fleisch (u. a. das Fleischbeschaugesetz v. 2 9 . 1 0 . 1 9 4 0 , das Nitritgesetz v. 24. 7. 1936, die Verordng. ü. Hackfleisch, Schabefleisch u. a. Erzeugnisse aus rohem Fleisch (Hackfleisch-VO.) v. 16. 7. 1965) b) Eier und Eiprodukte (u. a. das Gesetz zur Förderung der deutschen Eierwirtschaft v. 31. 3. 1956) c) Milch und Fett (u. a. das Milchgesetz v. 31. 7. 1930 und die Butterverordnung v. 2. 6. 1951) d) Zucker, Honig, Obst (u. a. das Süßstoffgesetz v. 1. 2. 1939 und die Speiseeis-Verordnung v. 15. 7.1933) e) Getreide, Brot (u. a. die Verordnung über Teigwaren vom 12.11.1934) f) Getränke (u. a. das Weingesetz v. 25. 7.1930 und die Trinkwasser - Aufbereitungs - Verordnung vom 19.12.1959) g) Sonstige lebensmittelrechtliche Bestimmungen (u. a. das Farbengesetz v. 5. 7.1887; das Bleiund Zinkgesetz v. 25. 6 . 1 8 8 7 ; das Gesetz betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten v. 30. 6 . 1 9 0 0 und die Kaugummi-Verordnung vom 1 9 . 1 2 . 1 9 5 9 ) Die für Zuwiderhandlungen gegen das LMG und die Rechtsverordnungen vorgesehenen Strafen richten sich nach § 11 LMG. Verboten ist es insbesondere, zum Zwecke der Täuschung im Handel und Verkehr Lebensmittel nachzuahmen oder zu verfälschen; verdorbene, nachgemachte oder verfälschte Lebensmittel ohne ausreichende Kennzeichnung anzubieten, feilzuhalten, zu verkaufen oder sonst in den Verkehr zu bringen; Lebensmittel unter irreführender Bezeichnung anzubieten oder sonst in den Verkehr zu bringen (§ 4 LMG). Die Einfuhr solcher Lebensmittel, die nicht den im Geltungsbereich des LMG bestehenden Bestimmungen entsprechen, ist ebenfalls verboten (§ 21 LMG). Als Strafen sind bei vorsätzlichen Zuwiderhandlungen Gefängnis- und Geldstrafen festgesetzt. Hat der Täter „wissentlich und gewissenlos aus grobem Eigennutz gehandelt oder hegt sonst ein besonders schwerer Fall vor, so ist die Strafe Zuchthaus bis zu 10 Jahren" (§ 11 Abs. 3 LMG). Auch das Nitritgesetz sieht Strafen bis zu

Lebensmittelverfälschung 10 Jahren Zuchthaus vor, falls eine schwere Körperverletzung oder der Tod eines Menschen sich als die Folge einer Lebensmittelverfälschung ergeben haben. Der Versuch ist bei den Vergehen durchweg strafbar. Fahrlässigkeitsdelikte werden zumeist als Übertretungen bestraft. Als Nebenstrafen sind Einziehung der Lebensmittel, Zulässigkeit der Polizeiaufsicht, öffentliche Urteilsbekanntmachung und die Untersagung des Rechts auf Betriebsführung vorgesehen. Verstöße gegen die aus der Ermächtigung des LMG ergangenen Rechtsverordnungen werden ebenfalls nach den Strafbestimmungen des LMG bestraft. Die Strafbestimmungen der besonderen Gesetze (ζ. B. Milchgesetz, Brantweinmonopol-Gesetz) sind denen des LMG subsidiär. Die Befugnisse der mit der Überwachung des Lebensmittelverkehrs beauftragten Behörden — das sind die Ordnungsämter der Städte und Kreise — und der Sachverständigen sind durch die Neufassung des Gesetzes näher geregelt worden. Die beauftragten Verwaltungsbehörden und Sachverständigen, bei Gefahr im Verzuge auch alle Beamten der Polizei, sind befugt, in Räume einzutreten, in denen Lebensmittel u. a. hergestellt, zubereitet, verpackt und feilgehalten werden (§ 6 LMG). Sie dürfen Proben nach ihrer Wahl zu Untersuchungszwecken entnehmen und geschäftliche Aufzeichnungen, Frachtbriefe und Bücher einsehen. Neben den behördlichen Sachverständigen der Chemischen Untersuchungsämter und der Medizinal- und der Veterinär-Untersuchungsämter können als Sachverständige auch die von den Berufsverbänden der Landwirtschaft, der Industrie, des Handwerks und des Handels zur Überwachung der Betriebe bestellten technischen Berater berufen werden (§ 6 Abs. 4 LMG). Für die Weinkontrolle sind gemäß Weingesetz zur Unterstützung der allgemein mit der Lebensmittelpolizei beauftragten Behörden und Sachverständigen besondere „Sachverständige im Hauptberufe" (Weinkontrolleure) für alle Teile des Bundesgebietes bestellt worden. Den im Rahmen der Bemühungen um den Ausbau des gemeinsamen Marktes der EWG entstandenen Bestrebungen nach einem europäischen Lebensmittelrecht werden in Fachkreisen Aussicht auf baldige praktische Ergebnisse zugesprochen. 4. Tat Die Vielzahl der Gegenstände strafrechtlicher Regelungen auf dem Gebiete des Lebensmittelrechts vermittelt bereits den Eindruck eines kaum übersehbaren Feldes verbotenen Geschehens. Der Umfang des statistischen Dunkelfeldes ist kaum abzuschätzen. Daß es groß ist, wird nicht bezweifelt. Es gibt kaum ein Gebiet des Nahrungsmittelwesens, auf dem nicht Verfälschungen möglich und vorgekommen sind. Einige gewerbliche

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Branchen, wie Fleischerei- und Molkereibetriebe, sind neben der Weingewinnung besonders hervorgetreten. Die Verfälschung von Fleisch- und Wurstwaren ist vielfach auf das Bestreben, die Ware durch chemische Zusätze zu „schönen", zurückzuführen. Hierzu sind salpetrigsaure Salze (Nitrit) sowie Natrium-Sulfit wegen ihrer speziellen Eignung verwendet worden. Das Nitrit ist ein Blutgift. Beide Zusätze sind mit erheblicher Gefahr für die Gesundheit verbunden. Aus Konkurrenzgründen breitet sich bei der Verwendung solcher Mittel der „Lebensmittelkosmetik" leicht eine allgemeine Branchenüblichkeit aus. Die Vertriebsinteressenten großer Firmen des Gewürzhandels, die durch ihre Reisevertreter Nitrit unter mancherlei Phantasienamen und Natrium-Sulfit unter der Bezeichnung „Reinigungssalz" an Fleischereibetriebe verkaufen, spielen in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Das Risiko des verbotenen Handels mit Nitrit und NatriumSulfit nehmen sie jedoch nicht etwa wegen des dafür erzielten ziemlich unbedeutenden Gewinnes in Kauf. Vielmehr erstreben sie durch derartige Geschäfte, den Kunden für alle Gewürzgeschäfte fest an sich zu binden. Da es eine gesetzliche Regelung für die Herstellung und Verwendung von sogenannten Pökelsalzen gibt, die einen geringen und festgesetzten Gehalt von Nitrit haben dürfen, versuchen die Täter sich meistens darauf herauszureden, daß das in Untersuchungsproben entdeckte Nitrit auf Pökelsalz zurückzuführen sei. Das Natrium-Sulfit wird vorwiegend zur Verhinderung des Grauwerdens von Hackfleisch benutzt, so daß das Fleisch auch dann noch seine frische Farbe beibehält, wenn es bereits verdorben ist. Die Bezeichnung „Reinigungssalz" für Natrium-Sulfit ist irreführend. Die angebliche Benutzung zur Reinigung von Fleischereimaschinen soll dem Täter bei Beanstandungen die Ausredemöglichkeit geben, daß der Sulfitgehalt auf Rückstände im Fleischwolf zurückzuführen sei. In Wirklichkeit ist Natrium-Sulfit als Rostverursacher für den angeblichen Reinigungszweck untauglich. Bei der Herstellung von Wurst sind auch Beimengungen von Hunde- und Pferdefleisch unter der Verwendung italienischer Fleischbezeichnungen festgestellt worden. Es handelt sich dabei um Verfälschungen, weil in solchen Fällen die eindeutige Verbrauchererwartung des deutschen Konsumenten getäuscht wird. Bei Milch- und Fettprodukten, insbesondere bei Butter, werden Verfälschungen durch Beimengen von Wasser begangen. Vollfette Milch wird mit entrahmter Milch vermischt und als Vollmilch deklariert. Butterfälschungen sind in größerem Umfange in der Weise vorgenommen worden, daß in Molkereien größere Mengen verdorbener Butter, die vielfach aus Importen stammten, durch Bearbeitung mit Magermilch wieder auf scheinbare

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Lebensmittelverfälschung

Frischbutter verarbeitet wurden. Durch Wasserbeimischung gestreckte Butter wurde, noch dazu unter Verwendung von Verpackungsbezeichnungen, durch das sie als besonders hochwertig herausgestellt werden sollte, mit hohen Gewinnen in Industriegebiete verfrachtet und verkauft. Auch in diesen Fällen erwies sich, daß Verfälschungsmethoden, die mit einem verlockenden Gewinn verbunden sind und deren Entdeckung sich verzögert, sich oftmals schnell zur Brancheüblichkeit ausbreiten. Bei einer schlagartigen Überprüfung von Molkereien im nordwestdeutschen Raum wurde dieser Ausbreitungszusammenhang deutlich erkennbar. Bei Obsterzeugnissen, wie Obstkraut und gemischtem Kraut, sind Farbstoffe hinzugefügt worden. Gemüse, wie etwa „besonders feine" Prinzeßbohnen, wurden zuweilen „gekupfert", indem ihnen beim Eindosen Kupfersalze beigegeben wurden, die dem Gemüse eine dauerhafte, schöne grüne Farbe geben. Es handelt sich dabei um einen Giftstoff (Kupfersulfat oder Grünspan) von großer Gesundheitsschädiichkeit. Bei Fischen ist das künstliche Rotfärben der Kiemen beliebt, um der Ware den Anschein besonderer Frische zu verleihen. Die Weingewinnung geht auch in unserer Zeit mit einem schwer eingrenzbaren und wegen der rechtlichen Lage ebenso schwer erfaßbaren Verfälschungsgeschehen einher. Die Möglichkeiten, zu großen Gewinnen zu gelangen, bilden hierbei Verlockung und Antrieb zugleich. Da die Gewinnung und der Vertrieb des Weines im Bundesgebiet einer verhältnismäßig großzügigen und vieldeutigen Gesetzesregelung unterliegen, sind die Grenzfälle zwischen klaren und zweifelhaften Verfälschungsfällen besonders zahlreich. Für die Unredlichen unter den Winzern ergeben sich viele Ansätze für gewinnbringende Manipulationen. Bei einigen großen Weinfälschungsfällen der letzten Jahre bedurfte es besonders verfeinerter Untersuchungsmethoden, um die von den Fälschern mit großem Raffinement unternommenen Versuche, die Verfälschung zu verschleiern, entlarven zu können. Bei der Erzeugung von „weinähnlichen Getränken", insbesondere von Frucht- und Obstschaumweinen in großen Herstellungsbetrieben, hat es in den letzten Jahren Fälschungen großen Umfangs gegeben. Hierbei geht es dem fälschenden Betrieb vor allem um eine künstliche und billige Herbeiführung des erforderlichen Säurestandes, der wegen der Wasserverpanschung auf natürlichem Wege sonst nicht erreichbar wäre. Zu diesem Zwecke wird vornehmlich in verbotener Weise Zitronensäure zugesetzt. Dabei werden die noch in der Fertigung befindlichen Getränke im Firmen-Labor analysiert, um die jeweils erforderliche Menge an Zitronensäure feststellen zu können. Außerdem werden bei derartigen weinähnlichen Erzeugnissen zunächst unbekannte Konservie-

rungsmittel verwendet, die sich bei den üblichen Untersuchungsmethoden der Erkennung entziehen, so daß es derartigen Unternehmungen für die Dauer von Jahren möglich war, verfälschte Erzeugnisse in größten Mengen in den Konsum zu bringen. 5. Täter Als Tätertyp ähnelt der vorsätzlich handelnde Lebensmittelverfälscher dem Betrüger. Beide erstreben einen rechtswidrigen Vermögensvorteil durch Täuschung, wobei sie aus Gewinnsucht handeln. Wie bei den Betrügern gibt es auch unter den Lebensmittelverfälschern starke Gradunterschiede hinsichtlich ihrer verbrecherischen Intensität. Ihre Taten bewegen sich zwischen solchen verhältnismäßig harmloser Spielart bis zu ausgesprochen schweren Fällen aus grober und rücksichtsloser Gesinnung. Vielfach sind die Täter im Rahmen der -»· Wirtschaftskriminalität zu werten. Verglichen zu anderen Delikten ist das statistische Material über Vergehen gegen das Lebensmittelrecht wenig differenziert. Dies dürfte auf Darstellungsschwierigkeiten wegen zu weitgehender Verzweigung der einzelnen Rechtsbestimmungen zurückzuführen sein. In der Zeit von 1950 bis 1959 hat sich die Zahl der abgeurteilten Vergehen gegen die Lebensmittelgesetze etwa verdreifacht. Auffällig ist dabei das Anschnellen der Zahlen von 1957 zu 1958 und 1959. Hier dürfte das große Ausmaß der 1958 aufgenommenen Ermittlungen bei den Nitrit- und Sulfitverstößen durch das Fleischereigewerbe im ganzen Bundesgebiet zum Ausdruck gekommen sein. Die männlichen der abgeurteilten Personen machten in den Erfassungsjahren 1928 bis 1940 durchweg 6 8 % aus. Jugendliche sowie Ausländer liegen mit ihren Anteilsziffern jeweils erheblich unter der Einprozentgrenze. 6. Bekämpfung Das Schwergewicht der Bekämpfung aller Straftaten der Lebensmittelverfälschung liegt sowohl in vorbeugender wie in repressiver Hinsicht bei den Beamten der Lebensmittelüberwachung, die den Ordnungsämtern der Städte und Landkreise übertragen ist. Ihnen stehen die Chemischen sowie die Medizinal- und Veterinär-Untersuchungsämter mit ihren Sachverständigen zur Seite. Bei der verhältnismäßig schwachen Personalstärke der Überwachungsbehörden — die Stadt Hannover verfügt ζ. B. über etwa 18, ein Landkreis (in Niedersachsen) über 2 bis 3 Beamte — ist eine Systematik ihrer Kontrollmaßnahmen von besonderer Bedeutung. Die Vorschriften über die Häufigkeit der Probeentnahmen sehen vor, daß auf je 1000 Einwohner 6 Lebensmittel- und eine Milchprobe jährlich entfallen sollen. Das entspricht ζ. B. auf dem Gebiete der Fleischüberwachung, daß von je 800 Zentnern Fleisch- und Wurstwaren

Lebensmittelverfälschung des laufenden Konsums eine Probe an die Untersuchungsämter gelangt. Hinsichtlich der Befugnis zur Entnahme von Proben ist durch ein neuerliches Urteil des OLG Hamm die Zulässigkeit auch „unauffälliger Ankäufe" anerkannt worden, die neben den nach dem LMG geregelten Entnahmeverfahren (Hinterlassung von Gegenproben gegen Bezahlung) durchgeführt werden können. Die Untersuchungsämter haben sich vielfach den neuen Möglichkeiten, die dem Lebensmittelfälscher durch die Verwendung von modernen Zerkleinerungsund Mischmaschinen zur Verfügung stehen, durch entsprechende technische Verbesserungen ihrer Untersuchungsmethoden (-»• Chemische Untersuchungsmethoden) angepaßt. Die Untersuchungsämter haben neuerdings durchweg die Möglichkeit, mit tausendfacher Vergrößerung gegenüber einer bisherigen dreihundertfachen zu arbeiten. Zwischen den Lebensmittel-Überwachungsbehörden und der Kriminalpolizei hat sich infolge gemeinsamen Tätigwerdens bei schwerwiegenden und umfassenden Deliktskomplexen in den letzten Jahren eine engere Zusammenarbeit herausgebildet. Es zeigt sich, daß mit wirtschaftskriminalistischen Arbeitsmethoden vorgegangen werden muß, wenn es um die Bekämpfung regional weitverbreiteter Verfälschungsdelikte von größerem Gewicht geht. Hierbei bedarf es des Einsatzes schneller und über alle Bundesländer reichender Nachrichtenmittel und Meldemethoden, die der Kriminalpolizei zur Verfügung stehen und geläufig sind. Die wirtschaftskriminalistischen Dienststellen der Kriminalpolizeien der Bundesländer haben allgemeingefährlichen Verfälschungsserien mit akuten Gefahrenlagen durch direkten und persönlichen Material- und Erfahrungsaustausch erfolgreich entgegenwirken können. Jedoch entzieht sich das Delikt der Lebensmittelverfälschung weitgehend den systematischen Erkenntnis- und Erfassungsmethoden der Kriminalpolizei, wie sie bei der Bekämpfung der klassischen Delikte angewandt werden. Wenngleich auch bei der Lebensmittelverfälschung Unterlagen über ermittelte Täter von der Kriminalpolizei erfaßt werden können, bietet die Natur des Deliktes keine Möglichkeiten zum Vergleich der Begehungsweisen bei unaufgeklärten Straftaten. Die Erkenntnisquellen für die Auslösung einer kriminalpolizeilichen Tätigkeit bleiben daher weitgehend auf Hinweise und Feststellungsergebnisse der Überwachungsbehörden beschränkt. Im Vergleich dazu waren Anzeigen aus dem Publikum bislang selten. In neuerer Zeit hat sich die publizistische Erörterung aufsehenerregender Verfälschungen als wirksam erwiesen, wodurch eine stärkere Aufklärung und Wachsamkeit der Bevölkerung hervorgerufen wurden. Auch die verstärkte Öffentlichkeitsarbeit von Verbraucher- und Hausfrauenverbänden hat sich gut bewährt. Die Aufdeckung des „Nitritskandals"

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ist durch die Anzeige einer aufmerksamen Hausfrau ermöglicht worden, der es aufgefallen war, daß ein Hackfleischrest, der längere Zeit stehengeblieben und verdorben war, dennoch seine frische rote Farbe beibehalten hatte. Als die Untersuchungsbehörden dem beschuldigten Metzger die Verwendung von Natrium-Sulfit auf den Kopf zusagten, verwies dieser darauf, daß andere Fleischereibetriebe „noch ganz andere Sachen" machen würden, womit er auf die verbreitete Verwendung des noch weit gefährlicheren Nitrits hingewiesen hatte. Bei den kriminalpolizeilichen Ermittlungen hat sich besonders die Methode bewährt, zunächst die Produktionsquelle der Verfälschungsmittel aufzuspüren und nach Einsichtnahme in die Geschäftsunterlagen solcher Betriebe die Produktionsmengen festzustellen und deren Handelswegen bis zum Endverbraucher nachzugehen. Anstelle von Zufallsermittlungen wurde damit eine systematische, schnelle und durchgreifende Erfassung aller schuldhaft beteiligten Personen und inkriminierten Sachverhalte erreicht. Die Ermittlungen bei Lebensmittelverfälschungen insbesondere der Nahrungsmittelindustrie leiden zur Zeit noch an erheblichen Schwerfälligkeiten. Beim Auftauchen verfälschter Lebensmittel wird zumeist zunächst der Lebensmittelhändler vernommen. Das gibt diesem Veranlassung, bei der Herstellerfirma zu reklamieren. Dadurch wird diese gewarnt. Sie gewinnt Zeit, ihre Produktionsweise so zu ändern, daß die Polizei bei einem späteren Zugriff erfolglos bleiben muß. Noch bestehende Bestände verfälschter Ware werden beseitigt. Ordnungsbehörden, Staatsanwaltschaften und Kriminalpolizei bemühen sich deshalb, die vorwiegend auf Zuständigkeitsfragen beruhenden Schwierigkeiten zu überwinden und zu erreichen, daß die Vernehmung der Lebensmittelhändler und die Überprüfung der Produktionsfirmen möglichst gleichzeitig geschieht. Monographien/Kommentare L. W a s s e r m a n n : Der Kampf gegen die Lebensmittelfälschung vom Ausgang des Mittelalters bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Eine culturhlstorische Studie. 1879. F. S c h ö n b e r g : Die Untersuchung von Tieren stammender Lebensmittel. 1950. K. R a u s c h e r : Untersuchung von Lebensmitteln. 1954. H . H i e r o n l m i : Weingesetz, 2. Aufl. 1958. A. S c h r o e t e r — M. H e l l i c h : Fleischbeschaugesetz, 4 Bde. I960—1964. H . H o l t h ö f e r — A. J u c k e n a c k — Κ . H . N ü e e : Deutschee Lebenemlttelrecht, 4. Aufl., 4 Bde. 1981— 1906. W. Z i p f e l : Lebensmittelrecht 1962. K. Collier: Leitfaden der Überwachung von Lebensmitteln tierischer Herkunft. 1992. E . G ö h l e r — H . B u d d e n d i e k — K . L e n z e n : Lexikon des Nebenstrafrechts, 2. Aufl. 1967. Zeltschriftenauf sätze Κ. H. Brüse: Zur strafrechtlichen Verantwortung der Hersteller von Lebensmitteln. Deutsche LebensmittelRundschau 57 (1961) S. 145.

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Lebensmittelverfälschung — Massenmedien

Ders.: Zur Beform des Lebensmittelrechts. Juristische Rundschau 5 (1960) S. 161. E. O t t o : Rationalisierung der Lebensmittelüberwachung. Deutsche Lebensrnittel-Rundschau 57 (1961) S. 92. A. K l o e s e l : „Unauffällige Ankäufe" oder „Geheimproben". Deutsche Lebens mittel-Rundschau 57 (1961) S. 92. C . W . H e n g s t : Das Lebensmittelvergehen — Ein Stiefkind der Strafverfolgung. Deutsche Polizei 1964 S. 55. Arbeitsmaterial Lebensmittelverfälschungen. Arbeitstagungen zur Bekämpfung von Lebensmittelverfälschungen vom 5. bis

8. Oktober 1959 und vom 20.—23. Februar 1962 im Landeskriminalpolizeiamt Niedersachsen in Hannover. 1960. Kriminalstatistik für 1932—1936 (Statistik des Deutschen Reiches Bd. 448, 478, 507, 577) und für 1950—1959 (Statistik der Bundesrepublik Deutschland Bd. 110,129, 158, 172, 210, 229). Lebensmittelrecht. Bundesgesetze und -Verordnungen über Lebensmittel und Bedarfsgegenstände, 5. Aufl. München 1966. OTTO EIGENBRODT

Μ

MASSENMEDIEN 1. Angebot

und Nachfrage bedeutsamen

an kriminologisch Inhalten

Wenn wir das allgemeine publizistische Angebot daraufhin durchgehen, inwieweit die Kriminalität eine Rolle spielt, so kann man generell sagen, es könnte kaum reichhaltiger sein. Beim Film wechselt zwar die Beliebtheit einzelner Gattungen stark ab, aber trotzdem hat der Kriminalfilm immer eine gute Position gehabt. So hielt er ζ. B. im Verleihangebot 1959/60, einschließlich Spionage, mit einem Angebot von 80 die Spitze unter insgesamt 642 Filmen. Dieses Achtel war 65/66 wieder gegeben (54:402). Auch im Fernsehen ist das Angebot an „Krimis" entsprechend der starken Nachfrage außerordentlich groß. Es sei hier nur erinnert an die sechsteiligen Kriminalserien des Deutschen Fernsehens, die viele Enthusiasten veranlaßten, die Arbeit und ihre Freizeitinteressen zu vernachlässigen. Eine wenig erfreuliche Einrichtung ist es, die Werbespots an 23-Minuten-Kurzkrimis „aufzuhängen". In dieser kurzen Zeit kann es nicht gelingen, zu einer sinnvollen Darstellung der Aufklärung von Verbrechen zu kommen, weil von den Autoren in unerträglicher Weise schabionisiert wird. Hier muß jedoch betont werden, daß gerade das Fernsehen sich bemüht, nicht nur mit dramatisierter Kriminalität auszukommen. Es wirkt bei der Fahndung mit, wie bei der Rechtsbelehrung: Besonders erfolgreich blieb hierbei die Sendereihe „Das Fernsehgericht tagt", dem die Kritiker allerdings „Gefühlsjustiz" bescheinigten. In der Illustrierten-Presse finden selbstverständlich diejenigen Verbrechen eine Bevorzugung, welche die Auflage zu steigern vermögen, d. h. Mörder werden Betrügern vorgezogen, Heiratsschwindler den Autoräubern, und die Dirne rangiert vor der Diebin. Die Zeitschriftenberatungsdienste der Kirchen kommen zum Teil gerade deshalb zu einem ablehnenden oder abratenden Urteil solcher Sensationsillustrierten,weil sich diese

nicht scheuen, attraktive Verbrechen in einer unangebrachten Weise fortgesetzt auszubeuten. Bisher war vor allem von in sich geschlossenen Wiedergaben verbrecherischer Handlungen auf dem Weg über dramatisierte Gestaltungen die Rede. Aber auch solche Stoffe, die sich nur am Rande mit dem Ausdruck des Bösen befassen, sind zumindest für die Einstellung des Jugendlichen zur Aggression bedeutsam. Es sei ζ. B. daran erinnert, daß die Grausamkeit oft gemäß der nationaltypischen Eigenart Modifikationen erfährt. In zahlreichen konventionellen amerikanischen Filmproduktionen wird so auf flagellantistische Szenen anscheinend ein besonderer Wert gelegt. Manche Christenverfolgung wird gezeigt, um einen Vorwand für Auspeitschungsszenen zu haben. Eigentümliche Verschwisterungen von Liebe und tödlichem Verbrechen finden wir oft auf der metaphorischen Ebene, ζ. B. im Gruselfilm. Vampire tauchen hier als blutsaugende Urbilder des Mörders und Schmarotzers auf. Aber schon die Darstellung einer heblosen Welt, wie sie sich vor allem im französischen nihilistischen Film manifestiert, hebt ein harmonisierendes Denken bei der Weltinterpretation nicht nur auf, sondern verlagert es in Richtung auf eine Verdüsterung der Welt. Es ist dann nur zu natürlich, daß in einer fast manichäistischen Weise die Teufel in der Welt zunehmen und es den Kräften des Guten nur sehr schwer gelingt, sie zu stellen. „Die unteren Zehntausend" bieten soviel Stoff, daß er immer wieder breit angelegt werden kann, wenngleich bestimmte Konstellationen durchgehend bevorzugte Behandlung finden. Die Bösen sehen beispielsweise immer entsprechend abstoßend aus. Somit wird also in einseitiger Weise verallgemeinert. Der Mädchenhandel floriert als ein bevorzugter Erwerbszweig. Bekannt ist auch die Formel: Grausamkeit + Korruption = echter Orient. „Sex-Bomben" bewähren sich als Privatdetektivinnen. Innerhalb der Gruppe der Mörder ist immer derjenige am interessantesten, welcher in

Massenmedien eine interessante Komplementär-Situation hineingestellt werden kann. So hat „M" vor allem deshalb viele Nachahmer gefunden, weil das Gegenüber von Verbrecher und unschuldigem Kind eine starke Spannung gewährleistet. Umgekehrt werden in „Emil und die Detektive" Kinder zu Verfolgern (-> Kriminalroman). Politische Verbrecher und ein „in gewöhnlicher Weise" abartiger Mörder werden in „Nachts, wenn der Teufel kam" einander konfrontiert. Der Frauenmörder gibt dem Produzenten Gelegenheit, auch die sexuelle Sphäre einbeziehen zu können. „Die Unbefriedigten" der neuen Welle des Jahres 1961 kommen auch nicht ohne den triebhaft mordenden „Tiger" aus. Die verschiedenen Epigonen von Al Capone bedingen geradezu ein gerüttelt Maß an Brutalität im Stile Mickey Spillanes. Cayatte schließlich wirft uns vor, daß wir selbst alle Mörder seien, und hebt in der Gestaltung den Film wieder auf künstlerisches Niveau. Die Form hilft schließlich mit, abzustufen zwischen pseudotragischer und zum Lachen reizender Groschenheftkonstellation über den zynischen Grundton bis zum Spitzenfilm, wie „Der dritte Mann", welcher die Spannung der „Jagd" erleben läßt, oder „Anatomie eines Mordes", der dem Zuschauer den prickelnden Reiz einer subtilen Analyse gewährt. Aber selbst dieser Film ist beherrscht von den dramaturgischen Gesetzen der Reißer-Produktion. Die „Zeugin der Anklage" trägt ebenfalls zu einer differenzierteren Betrachtung der Kriminalität im menschlichen Leben nicht viel bei. Die Funktion des Kriminalistischen im Stoffangebot der Medien ist auf Unterhaltung abgestellt. „Der Jugendrichter", ein deutscher monatsbester Film, bezwingt Strolche mit seinem Charme, wie dies ansonsten im Film meist Priester mit ihrer Güte zu tun vermögen. Demgegenüber verfallen Staatsanwälte minderjährigen Töchtern und werden Richter zu korrupten Schurken. Oft wird kolportageartig Selbstjustiz betrieben und auf diesem illegalen Umweg auch die Richtigkeit des Satzes bewiesen: „Crime does not pay!" Auch die besten Filme fallen meist bald der Vergessenheit anheim und werden durch neue Streifen abgelöst. Einmal schieben sich innerhalb der Unterarten mehr die Parodien in den Vordergrund, ein andermal wieder Nervensägen mit Zuchthausrevolten oder historische Darstellungen von Verbrechen und ihrer Sühne, indem auf klassische Autoren, wie Edgar Allan Poe oder Dostojewski, zurückgegriffen wird. Ein Wille scheint zu bleiben: aktuelle Stoffe des Sujets um jeden Preis zu einem Geschäft zu machen. Hier haben jedoch einerseits die Bemühungen der öffentlichen Hand und von Jugendschutz-Verbänden, andererseits der manchmal heftige Streit der Publikationsmittel untereinander Projekten das Wasser abgegraben. Es sei

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hier nur erinnert an die Absichten, die Untaten der Pantherbande zu verfilmen. Der Fall Maria Rohrbach wurde zwar ausführlich in den Illustrierten und im Fernsehen dargestellt, bisher aber noch nicht zur Unterlage eines Spielfilms gemacht. Den größten Erfolg hatte bis zu seiner Hinrichtung mit seiner Selbstglorifizierung Caryl Chessman. Über ihn wurde inzwischen auch ein Dokumentarfilm gedreht. Sein Fall stellt wohl die umfangreichen Würdigungen anderer Verbrecher weit in den Schatten. Er lieferte der Weltpresse jahrelang Stoff. Die Bonner Bundesprüfstelle zur Bekämpfung von Schmutz und Schund sah sich gerade im Zusammenhang mit seinem Namen vor Indizierungsverfahren gestellt. Am Angebot haben wir die Werbewirksamkeit des im Medium publizierten Kriminellen gesehen; in dem speziellen Fall der TV-Serie über den Halstuchmörder erwies sie sich ganz konkret. An den Abenden, an denen die Serie gesendet wurde, litten Kinos und Gaststätten an Besucherschwund. Sonst zieht die Jugend den Film als Mittler vor. Das Hauptkontingent der Kinobesucher stellen junge Menschen. (Unter ihnen wiederum nehmen Straftäter einen der vorderen Plätze ein.) Im Jahre 1961 besuchte etwa die Hälfte der Jugendlichen zwischen 16 und 24 Jahren mindestens einmal in der Woche ein Kino. Dreiviertel gehen ein- bis dreimal im Monat ins Kino, und nur ein kleiner Prozentsatz — etwa 7 von 100 aller Befragten — sehen sich nie einen Film an. Eine Gesellschaft für Marktforschung stellte fest, daß von diesen Jugendlichen 54°/0 die Kriminalfilme vor allen anderen bevorzugten. In der Freizeitbeschäftigung unserer Jugend spielt der Filmbesuch also eine große Rolle. Es ist von Soziologen jedoch demgegenüber der Schluß gezogen worden: Die Wirkung sei bedeutungslos, wenn man bedenke, daß es sich nur um wenige Stunden in der Woche handele. Selbst wenn von 170 straffälligen Jugendlichen im Durchschnittsalter von 19 Jahren 25°/0 einmal, 30°/o zweimal, 27°/0 dreimal, 18°/0 vier- bis zehnmal in der Woche ein Filmtheater besuchten, so sei das rein quantitativ, gemessen an der übrigen Freizeit, immer noch wenig. Demgegenüber verdient festgehalten zu werden, daß es nicht nur auf den Umfang, sondern vielmehr auf die qualitative Seite des Konsums ankommt, denn bekanntlich kann in zwei Stunden oft mehr erlebt werden als sonst in Wochen. Für den Jugendlichen wird die Bewertung des Kriminellen im Film deshalb so erschwert, weil die Flucht vor echter Auseinandersetzung mit Problemen gerade angesichts kriminalistischer Stoffe möglich ist. Ihre Bedeutung für den Escapismus wird sogar unterschätzt, während beim Heimatfilm fast jedermann unterstellt, daß es sich um sentimentalen Kitsch handelt. Die allgemeine Überbewertung der ästhetischen Ausformung läßt zudem häufig den Inhalt als bedeutungslos erscheinen; wo aber

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eine aufgesetzte Tendenz zu spüren ist, da wird sie als zu deutlich abgetan. Die Entlastungen und Belastungen der Publikationsmittel sind oft sehr extrem. Eine der umfangreichsten Entlastungspublikationen für den Film stellte z. B. Hans W. Lavies zusammen. Fritz Bauer ermittelte nachher (1960) durch Erhebungen über sieben Jahre hinweg an den Jugendgerichten der Bundesrepublik, daß unter den jährlich abgeurteilten 20000 Jugendlichen lediglich 6 Fälle nachgewiesen seien, in denen ein bestimmter Film als auslösender Faktor mitgewirkt habe. Bei weiteren 15 Fällen habe wahrscheinlich ein Filmeinfluß vorgelegen. Mit am stärksten wurde demgegenüber, neben dem Film, das Comic Book verdächtigt. Pädagogen haben hier — besonders um 1954/55 — oft von „Giftköchen" gesprochen, die am Werk seien. Indirekt wird zum Ausdruck gebracht, daß das Kind vollkommen machtlos den publizistischen Produktionen gegenübersteht. Oder aber diese Produktionen wurden und werden als mehr oder minder geheime Verführer hingestellt, wobei immerhin noch eine gewisse Entscheidungsmächtigkeit bei den Verführten anerkannt wird. Der Verführer wurde jedoch häufig zum Suggestor gestempelt, der den „Zwang" zum Bösen ausübe. Die pauschalen Verdammungsurteile sollten schon deshalb mit größter Vorsicht betrachtet werden, weil sie sich gerade auch die Ostpropaganda zu eigen macht. In sowjetzonalen pädagogischen Zeitschriften wird nicht selten behauptet, daß der amerikanische Film militaristische Bestien erziehe. Dort findet sich auch die häufig wiederholte Zusammenstellung der Zahl von Verbrechen in Filmen, ζ. B.: 406 Verbrechen in 115 Filmen. Solche Zahlen besagen natürlich nicht viel, denn es wäre dann genauso billig, die Zahl der Verbrechen in der Bibel oder etwa in den Werken Shakespeares zu zählen. Untersuchungen von Ray Whalen im Auftrage der Canadian Broadcasting Corporation im Juni 1959 über die Frage „Verbrechen und Gewalt in den Fernsehprogrammen" haben erst ganz deutlich die völlige Divergenz der Meinungen zutage treten lassen. „Opinions" und „facts" werden fast synonym gebraucht. Der Generalstaatsanwalt im Lande Hessen, Fritz Bauer, ging auch auf bisherige Untersuchungen seit der Zeit vor dem ersten Weltkrieg ein, wobei auch er eine der ersten Arbeiten — die des häufig zitierten A. Hellwig — nennt. Die herrschende Auffassung der Kriminologie sieht seiner Meinung nach in Schmutz und Schund und schlechtem Film nur eine beiläufige Verbrechensursache. Bauer akzeptiert einen sublimierenden Ersatz für gesellschaftszerstörende Intentionen. Die asozialen Handlungen werden stellvertretend in der Phantasie begangen, was einen Kompromiß zwischen Verbot und Verbotsübertretung darstellt und eine

Befriedung aggressiver Tendenzen bedeuten würde. Man darf sich mit Wilfried Hennig der Auffassung anschließen, daß bei der Beurteilung von Aggression spezifiziert werden muß. 2. Die Beziehung des Erlebens publizistischer Produktionen, insbesondere des Films, zur Jugendkriminalität unier Einschluß kasuistischer Beispiele

Nach der Jahrhundertwende richtete sich der Jugendschutz vor allem gegen Detektivroman und Kinematographie. 1913 wurde ζ. B. in Düsseldorf festgestellt, daß 59°/0 der Schuljugend ins Lichtspielhaus ging. 57 Jugendliche von 30868 besuchten damals sogar täglich das Kino. Die Folgen seien Überspannung der Phantasie, Störungen des Nervensystems, Trübung des Wirklichkeitssinnes, Oberflächlichkeit und Nachlässigkeit. Aus „Kinobegierde" würde Eintrittsgeld erbettelt oder gestohlen. Das sind nur einige der Gefahren, die beschworen wurden. Sogar an Stumpfsinn und Blasiertheit wurde gedacht. Ein schlüssiger Beweis konnte nicht erbracht werdeD. In der Zeit nach 1949 verlief die Entwicklung der Einschätzungen publizistischer Wirkungen zunächst ähnlich. Anhand von Pressemeldungen wurde ein kausaler Zusammenhang zwischen publizistischem Produkt und Jugendkriminalität angenommen. Das Münchner Landesjugendamt, in Verbindung mit dem in dieser Zeit ins Leben gerufenen „Arbeitskreis Jugend und Film", löste ζ. B. eine Campagne aus, der vor allem das Deutsche Institut für Filmkunde in WiesbadenBiebrich Einhalt zu gebieten suchte (siehe Quellenverzeichnis). Die Überwindung der polemischen Phase gelang durch Versuche, Beweis zu führen. Ein genaues Wissen um die inneren Zusammenhänge wird sich jedoch auch in Zukunft schwer ergeben können. Besonders aufrüttelnde Fälle sind eben viel zu sporadisch, als daß sie verallgemeinert werden dürften. Häufig geben jugendliche Delinquenten selbst ein Vorbild für ihr fehlerhaftes Verhalten aus den Publikationsmitteln an. Dabei wird sich nie eindeutig eliminieren lassen, ob sie dazu die Hoffnung auf Strafminderung, der Drang nach einer perversen Publizität oder tatsächliche Erlebnisse im Kino und bei der Lektüre veranlassen. Man kann gegenüber solchen jungen Menschen bei allem entgegenkommenden Wohlwollen nicht kritisch genug sein. Eine Unterscheidung zwischen dem Routinier, der um solche Ausrede nicht verlegen ist, und dem Verführten — im engen Sinne dieses Wortes —, der mit dieser Auskunft tatsächlich den Motiven seines Handelns nahekommt, erfordert neben pädagogischem Geschick eine tiefe Menschenkenntnis. Beweiskräftig sind Erhebungen, die sich nur auf solche Aussagen stützen, nicht. Einige Beispiele für einen angeblich kriminogenen Einfluß von Filmen: Der vierfache Frauen-

Massenmedien mörder Pommerenke sah besonders gerne Liebesfilme, aber auch Kriminalfilme. Dabei habe er manches Mal gehofft, seine Verbrechen geschickter durchführen zu können, als sie im Film gezeigt worden seien. Ein 17jähriger versuchte nach dem Besuch des Films „Brücke am Kwai", in der Nähe von Bayreuth eine Autobahnbrücke in die Luft zu sprengen. Mindestens acht Einbrüche sollen in weitgehender Analogie zu dem bekannten Kriminalfilm „Rififi" ausgeführt worden sein, wie überhaupt häufig vom „Geldschrankknacken" nach Filmbeispielen die Rede ist. Jugendliche Banden tragen nicht selten eine einheitliche Kleidung, die sie genauso Gangsterfilmen entnehmen wie ζ. B. ihre Spitznamen. Sie brechen häufiger in Waffengeschäfte ein als bei Juwelenhändlern. Die entwicklungspsychologisch bedingte Neigung, Embleme anzumalen, scheint durch den Film Auftrieb zu bekommen. Bekannt dürften auch noch die Debatten um den Film „Saat der Gewalt" sein, der 1956 häufig Halbwüchsige zur Ruhestörung, zum Widerstand gegen die Staatsgewalt und zu grobem Unfug veranlaßt haben soll. Ähnliche Streifen, in denen Jugendliche aus wohlhabenden Familien gewissermaßen grundlos Straftaten begehen und für viele zehntausend Mark Schaden anrichten, finden Parallelen im wirklichen Leben. So ist es nicht verwunderlich, daß sehr schnell eine eindeutig kausale Ursachenkette gesehen wird. Aber Tarzanfilme regten in Mülheim an der Ruhr 12- bis 16 jährige Schüler und Lehrlinge auch einmal zu einem „Hilfswerk" der guten Taten an. Zensurstellen der verschiedensten Art enthalten Passagen, durch die verhindert werden soll, daß Verbrechen nachgeahmt werden. Neben Diebstählen und Betrügereien, die sich auf publizistische Einflüsse zurückführen lassen, stellt tatsächlich auch die Freude an der Nachahmung eine Beziehung zwischen Jugendkriminalität und Publizistik dar. Die Deutsche Kriminologische Gesellschaft beschloß daher im Januar 1962, die Nachahmungskriminalität durch die Maßnahme einzuschränken, daß erfahrene Kriminologen in den zuständigen Gremien von Presse, Rundfunk, Fernsehen und Film die Darstellung krimineller Handlungen überwachen und die Gefahr der Nachahmung prüfen. Anlaß zu dieser Forderung war die Tatsache, daß sich nach der Fernsehkriminalreihe „Das Halstuch" zwei „Halstuchmorde" in Köln und Bremen ereigneten. Außerdem wurde eine versuchte Erdrosselung registriert, und einige weitere Delikte sollen „ausgelöst" worden sein. Entnahme von Schecks mit Hilfe von Stricknadeln ohne Verletzung geschlossener Briefe ist einer von vielen Tricks, die gelegentlich vorgemacht werden. Es werden nicht nur Film und Fernsehen als Vermittler der Leitbilder angesehen, sondern auch Groschenhefte und die illustrierte Presse. Im Jahre 1961 machte vor allem der Fall des Kindesmörders

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Schweiger von sich reden. Schweiger war zwar geistig weit zurückgeblieben, hatte aber doch so viel Phantasie, sich mehr als ein Jahr lang eine Illustrierte aufzuheben, in der ausführlich die Entführung des Peugeot-Enkels geschildert war. Entsprechend dieser Vorlage entführte er dann einen siebenjährigen Jungen, den er erwürgte, um mit dem erwarteten Lösegeld ein „flotteres" Leben führen zu können. Ansporn hierzu könnte er sich angesichts des Musters gegeben haben. Ein zweites Beispiel: Ein löjähriger hängte nach der Lektüre eines Wildwestheftes einen jüngeren Spielkameraden auf. Das sind einige Tatsachen. Der Rest ist nach wie vor dem Streit der Meinungen ausgeliefert. Dem Anschein nach und gemäß der Ansicht von Richtern ist das Gros der Jugendlichen nicht in Mitleidenschaft gezogen. Es wird der labile und vernachlässigte Jugendliche, der durch andere Umstände potentielle Täter, zu den entsprechenden Assoziationen verleitet, gemäß dem Satz, daß letztlich jedermann ein relativiertes Erlebnis hat, wie auch ζ. B . in der Presse die Informationsnahrung gesucht wird, die der Praxis des Alltagslebens und dem eigenen Lebensvollzug dient. Ein entscheidendes Kriterium in diesen Prozessen ist das Ausmaß der projektiven Bindung. Wo sie stark sein kann, werden nach der Lehre der klassischen Tiefenpsychologie psychische Energien in Bewegung gesetzt. Ihr Mit- und Gegeneinander erzeugt schließlich die gewünschte Spannung, die aber nicht nur „funktionell" bedeutsam ist, sondern auch auf den Gehalt verweist, an den Konfliktsituationen und -lösungen gebunden sind. Wo intensives Erleben publizistischer Produktionen in Beziehung zur Jugendkriminalität gesehen wird, ist immer wieder die Rede von Affekterregung bzw. -abreaktion. „Crime and sex" sind anscheinend die gefährlichsten Themenstellungen hinsichtlich der Stimulierung von Aggressionen und anderen Gefühlslagen. Neben der Steigerung der Aggressivität durch Übertragung wird häufig auch von einem Abbau der Aggression gesprochen. Die sogenannte Affektabreaktionstheorie spielt bei der Beurteilung der kriminologischen Bedeutung der Publikationsmittel keine geringe Rolle. Diese Theorie besagt, daß aufgestaute asoziale Komplexe auf den Gangster der Leinwand projiziert werden können. Im irrealen Raum der Einbildung erfahren die Affekte eine Belebung und Beruhigung bzw. werden sie angestachelt, wo ihnen kein Ventil gelassen wird. Elfriede Höhn, W. Bellingroth, Karl Heinrich weisen u. a. gleichermaßen auf diese soziale Ausgleichsfunktion des Films hin. Der gegenwärtige Stand der Theorie vom Erleben publizistischer dramatisierter Publikationen hebt die Handlungseinheit hervor. Das erlebende Subjekt geht im Introjektionsprozeß risikolos ein

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auf die Darstellung einer zweiten, nachgeschaffenen Welt. Im Zuge der bildhaft kinetischen Einverwandlung identifiziert sich schließlich gemäß der eigenen Situation der Erlebende. Es kommt zu einer stark gefühlsmäßigen Partizipation. Im Fortschritt der Werdeform einer Handlung, welche magisch-technische Täuschungsverfahren nachvollziehbar gestaltet, verkörpert auch der Jugendliche schon so gut er kann auf der „inneren Bühne" agierende Figuren. Der Jugendliche ist bereit, wenn er vor einem Fernsehspiel sitzt, oder wenn er einen Spielfilm sieht, nicht allein das Fühlen zu fühlen, sondern auch die Gehalte in ihrer Personifikation anzunehmen, in der Bereitschaft, alle Metamorphosen zu durchlaufen. In folgender Weise ist also die publizistische Produktion für das Seelenleben des Jugendlichen relevant: im Rahmen der imaginativen Partizipation, der einbildenden Teilhabe; in einer ganzheitlichen Affektübertragung, über das bloße „Fühlen des Fühlens" hinaus; in der Nachahmung von Leitbildern; in der Weltflucht, als Mittel zum Zweck der Enthebung von der unmittelbaren Verantwortung. In anderen Punkten ist eine starke Affinität kriminologisch bedeutsamer Mediengehalte zum Jugendalter festzustellen. Von der Vorpubertät an kommen ζ. B. Darstellungen der Roheit kämpferischen Ambitionen entgegen. Karl Heinrich ist der Ansicht, daß Filme sich im allgemeinen dann auf die Aggressivität steigernd auswirken, wenn die Themenstellung sich mit Aggressionen befaßt und die Form dynamisch und realistisch ist. Hinzukommen muß noch die Identifikation mit Personen, „die sich auf dem Höhepunkt des Konfliktes f ü r die Aggression entscheiden. Filme dagegen, die eine Identifikation mit friedfertigen, harmonischen Gestalten und zugleich eine kontrastierende Gegenidentifikation gestatten, durch die eine Abreaktion ermöglicht wird, bewirken im allgemeinen bei allen Alters- und Geschlechtsgruppen eine Abnahme der Aggressivität". Gleichermaßen entsprechen die überspitzten Ehrbegriffe des Wildwestfilms dem Ehrgefühl der 13 jährigen. Der Hang, auf abenteuerliche Welterfahrung zu gehen, wird in vielfältiger Hinsicht durch die archetypischen Gestalten mittelbar angesprochen. Die Pubertät wird im allgemeinen als krisenreiche Zeit angesehen, weil es selbst den 15 jährigen noch nicht gelungen ist, einer triebhaft betonten Phantasiewelt zu entfliehen. Die traumhaft hintergründige Symbolik, die speziell dem Film liegt, wird von seinem Hauptkonsumenten, dem Jugendlichen, heiß begehrt. Die Emanzipation der Jugend geht nicht so weit, daß sie nicht trotzdem auch am Wohlstand der Erwachsenen Gefallen findet. Für überhöhte Erwartungen wird ebenfalls gerne die Schuld den Publikationsmitteln zugeschoben, weil sie die materiell

gesicherte Weltflucht genauso protegierten wie eine Sexualisierung des alltäglichen Lebens. Demgegenüber sind jedoch immer wieder Psychologen und Pädagogen der Auffassung, daß die Sittlichkeitsdelikte gegenüber früheren Jahrzenhten keine durch die Publikationsmittel verursachte Steigerung erfahren hätten. In den den Film betreffenden Spezialuntersuchungen von Fritz Stückrath an Strafgefangenen auf Hahnöfersand ist zunächst einmal interessant, daß Dreiviertel der Straffälligen aus gestörten Familien stammen, daß 9 0 % aller Vergehen Eigentums- oder Vermögensdelikte waren. Das Konsumverhältnis zwischen straffreien und straffälligen Jugendlichen war 8:18. Bemerkenswert ist auch, daß jeder zweite der gesehenen Filme seinen Schwerpunkt in Kriminalität und Vitalität hat. Während der Haft zählten zu den gewünschten Filmen jedoch in erster Linie die Liebesfilme. St. zieht daraus den Schluß, „daß der Filmbedarf in hohem Maße von psychischem Mangel regiert wird". Wichtig ist weiter der Hinweis, daß bei den untersuchten Straffälligen der RessentimentTäter vorherrscht, der mehr Geltungsmöglichkeiten in der gewählten Rolle sucht, als handlungsstarke Figuren schätzt. Im Hinblick auf die Affektabreaktionstheorie kommt Stückrath zu dem Ergebnis, daß immer eher eine Aufreizung die Folge des Films war als eine Beruhigung. Die geistige Beschäftigung mit den gesehenen Filmen könne eine latente Vorbereitung auf kriminelle Aktionen begünstigen. Der pädagogische Schluß Stückraths baut auf der Tatsache auf, daß der straffällige Jugendliche einen überdurchschnittlich ausgeprägten Sinn für die Realität hat; das Kino als sein vormaliger Fluchtort hat ihn vielfach enttäuscht. Eine medienkundliche Belehrung kann unter solchen Umständen den notwendigen Abstand zum verwirrenden publizistischen Produkt vergrößern. Wenn die Strafhaft unter dem Grundsatz der Umerziehung durchgeführt wird, sollte auch der Film als Mittel einbezogen werden. Mit diesem Hinweis bekennt sich Stückrath zu einer positiven Bewältigung des publizistischen Angebots, selbst im Jugendgefängnis. Von Walter Becker wird die Auffassung vertreten, daß der Film eine Ursache der verstärkten Jugendkriminalität sei. Er bringt als Beleg einige Fälle vor und unterscheidet im übrigen jedoch sorgfältig zwischen Meinungsforschung und Tatsachenforschung und zwischen Verwahrlosungs-, Anlage- und Entwicklungstätern, die jeweils verschieden gefährdet seien. 80°/ 0 aller mit jugendrichterlichen Maßnahmen belegten Jugendlichen sind demnach Verwahrlosungstäter. Einer von hundert Jugendlichen sei überhaupt nur kriminell gefährdet. Wichtig und bedeutender als der direkte kausale Zusammenhang ist ζ. B. die ethisch relativierende Art publizistischer Produktionen. Hans

Massenmedien Luxenbuiger ist ähnlicher Auffassung und legt ein besonderes Gewicht auf die Einstimmungsphänomene. Hierzu gehört seines Erachtens die Übererregbarkeit des Vorstellungslebens und die Labilisierung der ästhetischen Gefühle, die sich auch im ethischen Bereich bemerkbar mache. L. Decurtins faßte in ihrer juristischen Dissertation die Zusammenhänge zwischen Film und Jugendkriminalität in folgendes Ergebnis: Für den gesunden und normalen Jugendlichen, der in geordneten Verhältnissen aufwächst, kommt dem Film nur eine ganz geringe Bedeutung in kriminogener Hinsicht zu. Die schädliche Wirkung des Films wird also stark überschätzt. Die geltenden Jugendschutzbestimmungen reichen, wenn sie wirklich durchgesetzt werden, im ganzen betrachtet aus. Erwähnt werden muß ferner die mittelbare Erlebnisbedeutung publizistischer Produktionen. In ihren Untersuchungen haben ζ. B. Hamburger Soziologen darauf hingewiesen, daß die Verhaltensunsicherheit der Heranwachsenden dadurch begünstigt werde, daß sie gleichzeitig als Kind, Jugendlicher und Erwachsener angesehen werden, je nachdem, ob sie am Arbeitsplatz stehen oder in der Freizeit unerlaubten Vergnügungen nachgehen wollen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß am Arbeitsplatz oft Erlebnisse aus Filmen und Fernsehsendungen erzählt werden und die Phantasie so zu beflügeln vermögen, als hätten sie die Jugendlichen selbst gesehen. 3. EinzelproUeme, ζ. B. Medien und Berichterstattung izw. Aufklärung sowie Belehrung über Kriminalität; Medien und Fahndung; Medien und Strafvollzug Die Medien haben auch die Pflicht zur Information, d. h. daß sie nicht nur erbauen, unterhalten und belehren. Neben Unterrichtsfilmen oder kritischen Betrachtungen über den gegenwärtigen Strafvollzug, neben spannenden „Krimis" wird seit langem informativ aus dem Gerichtssaal berichtet, zuletzt mit Hilfe des Fernsehens. Die Scheinwerfer regten jedoch die Angeklagten zu „shows" an und erschwerten deshalb die Beweisaufnahme. Schwere Vorwürfe wurden von den Gerichten denjenigen Journalisten gemacht, die ihre Freiheiten zu Präjudizierungen mißbrauchten, als hätten sie die Urteile zu fällen. Die Ermittlungsverfahren auf eigene Faust stellten nahezu Eingriffe in schwebende Verfahren dar. Im Falle des Krebsarztes Dr. Issels wurden auf diese Weise Zeugen beeinflußt. Aufgrund verschiedener Vorkommnisse beschloß daher der Deutsche Presserat: „Die Presse soll vor Beginn oder während der Dauer eines Gerichtsverfahrens jede einseitige, tendenziöse oder präjudizierende Stellungnahme vermeiden und nichts veröffentlichen, was die Unbefangenheit der am Verfahren beteiligten Personen oder die freie Entscheidung

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des Gerichts zu beeinträchtigen geeignet ist". Diese Auffassung läßt sich auch auf die anderen Medien sinngemäß und sinnvoll übertragen. Im übrigen wäre es ohne die Mithilfe der Medien schlecht um das Rechtsdenken und das juristische Grundwissen im Volke bestellt. Die „Reporter des Satans" sind letztlich verhältnismäßig selten. Publikationsmittel erleichtern und beschleunigen in beträchtlichem Maße die Fahndung. Ein gutes Exempel für die Zusammenarbeit zwischen den Medien und der Kriminalpolizei statuiert das Deutsche Fernsehen. Trotz seiner kurzen Aufrufe zur Mithilfe war der „echte Kriminalkommissar" Valentin so bekannt wie der „gespielte" Perry Mason. Die erfolgreiche Warnung vor Betrügern und Wundertätern hat viele vor Schaden bewahrt. Im Strafvollzug hat der Einsatz publizistischer Mittler zugenommen. Die Gefangenen sehen es als eine große Vergünstigung an, wenn sie sich auf der Zelle einen Radioapparat „zulegen" dürfen, oder gar, wie in Amerika, einen Fernsehapparat. Auch Filmvorführungen erfreuen sich besonderer Beliebtheit. Die Aufhebung der Einsamkeitsgefühle ist das Ziel der Partizipation an fremden Gefühlsstoffen. Der jugendliche Straftäter wird sich immer einsam fühlen, weil er, bedingt durch die Pubertät, gerne unterstellt, von den Erwachsenen nicht verstanden zu werden. 4. Pädagogische

Konsequenzen

Seit der zunehmenden Verbreitung der technischen Publikationsmittel besteht das aufgeworfene Problem ζ. T. auch als pädagogische Aufgabe. Besonders durch die Verbreitung des Films tauchte in der Jugendschutzbewegung die berechtigte Befürchtung auf, daß die Jugendkriminalität zunehmen würde. Unter dem Einfluß der pädagogischen Ideen Jean-Jacques Rousseaus neigten Pädagogen dazu, das Kind vorwiegend Umwelteinflüssen ausgesetzt zu sehen, vor denen es zu bewahren sei. Wo das Vertrauen in die Selbständigkeit des jungen Menschen noch nicht berechtigt ist, herrscht aber bald die Neigung zur Manipulation. Eine solche Einstellung bringt es mit sich, daß der Mensch verdinglicht gesehen wird. Man unterstellt, in einer meßbaren Weise seien Ursache und Wirkung, analog dem naturwissenschaftlichen Experiment, auch bei ihm vorauszusehen. Es bedurfte der Erkenntnisse einer Psychologie, die die Bedeutung des Individuums in der rechten Weise sah, um die jeweilige E i g e n a r t des Erlebens publizistischer Produkte hervorzuheben. Heute wird im allgemeinen der Satz anerkannt, daß jedes Kind entsprechend seiner Mentalität und Altersstufe in spezifischer Weise auswählt und erlebt. Die soziologische Komponente psychologischer Forschung sieht wiederum die Verbindung zu sozialen Strukturen. Der „Schundkampf", seit der Zeit vor dem 1. Weltkrieg, richtete sich so lange gegen solche

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Massenmedien

Produktionen, bei denen eine Beeinträchtigung vermutet werden konnte, bis schließlich stärker die pädagogische Intention hinzutrat, um in einem Versuch positiver Bewältigung der Phänomene die Unterscheidungsfähigkeit rechtzeitig zu üben. Inzwischen sind die Psychologen und Pädagogen von einem starren „Wenn — Dann"-Denken abgerückt. Die Behauptung läßt sich nicht mehr länger aufrechterhalten, daß für diese oder jene Kinder dann zwingend bestimmte voraussehbare Folgen eintreten, wenn sie diesen oder jenen Film sehen. Die existentiell zentralen Begriffe sind für Kinder noch weitgehend abstrakt; Jugendliche aber, in der Zeit der geistigen Geburt, in der Pubertät stehend, ersehnen gerade über die Grenzsituationen im menschlichen Leben eine verbindliche Antwort. Um den kriminalistischen Darstellungen in publizistischen Produktionen pädagogisch gerecht werden zu können, empfiehlt es sich, sie etwa im Rahmen sozialkundlicher und sozialerzieherischer Erörterungen einer anthropologischen Gesamteinordnung zu unterwerfen. Darüber hinaus ist auch durch die Verquickung der Kriminalität mit Schuld und Sühne eine theologische Relevanz gegeben. Die zunehmende Verbreitung des Kriminalromans und die beträchtliche Zunahme der Kriminalfilme in den letzten fünf Jahren sind nur zu erklären, weil die ausgewählte Themenstellung in reißerischer Gestaltung S p a n n u n g zu erzeugen vermag. Die Rolle des Konfliktes ist entsprechend groß, dient er doch dazu, eine Entscheidungsfrage aufzuwerfen, bis sich eine Lösung ergibt. Im Hinblick auf die Jugendlichen bedeutet dies, daß die friedfertige Interpretation der Welt in den Publikationsmitteln — soweit sie der Unterhaltung und Erbauung dienen — eine bedeutungslose Rolle spielt. Es wird der Anschein erweckt, als werde die Welt hauptsächlich von Verbrechern und Gangstern beherrscht. Denn der Aufweis der Schattenseiten des Lebens ist immer erregender als die Vorstellung der geordneten Alltagswelt. Die dramaturgische Determination erweckt nicht selten den Anschein, es könnten die aufgezeigten Konflikte nicht anders ablaufen, als die Autoren an Hand ihrer Aufbaugesetze konzipieren. Es wird nicht nur thematisch das ausgesucht, was gerade bei der Jugend besonders ankommt, etwa Roheitsdelikte, sondern es wird auch in der Gestaltung entweder unerträglich „verhärtet" oder aber „neutralisiert und verbiedert". Uninteressante Delikte, etwa die „Kavaliersdelikte" im Straßenverkehr, werden als langweilig und unbequem auf die Seite geschoben, während vorwiegend sie einer Dramatisierung bedürften. In der verschiedensten Weise ist natürlich auch eine Korrumpierung der Kollektivschuld (ζ. B. im Kriegsfilm) möglich. Auch die spezielle Schuldverantwortung von Kindern und Jugendlichen

läßt sich in einer unangenehmen Weise verbiegen, indem die Schuld in erster Linie auf die Situation der Gegenwart bzw. auf die Eltern geschoben wird. Auf diese Weise wird kaum an die Selbstgestaltungsfähigkeit des Jugendlichen appelliert. Demgegenüber sind auch Gestaltungen unschuldiger Menschen viel zu wenig spannend, als daß sie einen Anreiz geben könnten. Das Gute kommt nur in Abhebung gegen das brutale Böse zur Geltung. Der Gesamtzusammenhang ist also zu wahren, auf ihn sind Einzelbeispiele zu beziehen. 12- bis 13 jährige wollen von Beispiel zu Beispiel die offene Stellungnahme ihrer Erzieher auch zu Tod und Töten. Über den Schreibtischmörder Eichmann, der im Dienste der Diktatur seine Verbrechen staatlich organisiert, im Unterricht zu sprechen, heißt nicht nur einen Beitrag geben zur politischen Bildung, sondern auch zu einer umfassenden Wesensdeutung des Kriminologischen. Über Kriminalfilme sprechen, kann auch bedeuten, der verdrängten Kriminalität im Straßenverkehr einen Kommentar zu widmen. Vor allem aber sind die Vorurteile gegenüber den Straftätern rechtzeitig abzubauen. Ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft wird nicht erleichtert, wenn weder vom Rechtsbruch noch vom Strafvollzug Einzelheiten bekannt sind (vgl. hierzu die Aufsätze von H. J . Schneider). Die berechtigten Warnungen in der Schule vor dem bösen „Onkel" bleiben ohne Differenzierung zu nebulos. Außer den pädagogischen Möglichkeiten bieten sich auch juristische an. So sind Einschränkungen beeinträchtigender Einflüsse auf dem Weg über legitime und illegitime Maßnahmen möglich. Die folgenden Beispiele sollen das erweisen: Ende des Jahres 1961 wurde ζ. B. zum erstenmal nach 1945 von einem deutschen Gericht einem 17jährigen für drei Monate der Besuch von Filmveranstaltungen verboten. Der Junge hatte eine solche Leidenschaft für Wildwesthelden entwickelt, daß er, um ins Kino gehen zu können, in einen Lagerraum eingebrochen war. In englischen Kinos richteten Rowdies schwere Sachschäden an. Die Kinobesitzer mußten sich entschließen, deshalb professionelle Rausschmeißer zu engagieren. Der Inhaber eines Filmtheaters in Stevenage erließ von sich aus selbst für jugendfreie Filme ein Jugendverbot gegenüber Jugendlichen, die in Cowboy-Kleidung das Kino besuchen wollten. Ein anderer Kinobesitzer verbot sieben rabiaten Rädelsführerinnen von Banden das Betreten seines Lichtspielhauses auf Lebenszeit. Diese fragwürdigen Methoden einer Selbstjustiz waren in Deutschland bisher noch nicht notwendig, obwohl auch hier der Vollzug des Jugendschutzgesetzes durch den Mangel an Personal zu wünschen übrig läßt. Vom Standpunkt einer spezifizierteren Einstufung des Filmangebots haben sich seit der

Massenmedien Novellierung des Jugendschutzgesetzes wesentliche Verbesserungen ζ. B. beim Filmbesuch durch Kinder und Jugendliche ergeben. In der Zeit v o n 1957 bis 1961 ist zwar die Zahl der „ab 6" und „ab 12 Jahren" freigegebenen Filme gefallen, „ab 16 Jahren" etwa gleichgeblieben, aber „ab 18 Jahren" v o n 9 auf 23°/ 0 gestiegen. Dieses Ergebnis hegt auf der Linie einer allgemeinen Verschärfung der Beurteilungsmaßstäbe, besonders im Hinblick auf die Möglichkeit der Verrohung, der „Entsittlichung" und der sexuellen bzw. kriminellen Stimulation v o n Jugendlichen. Vor allem die Kriminalfilmparodien, die ein großes Abstraktionsvermögen voraussetzen, werden jetzt mit strengeren Maßstäben gemessen. I m übrigen darf im Hinblick auf den Zusammenhang v o n Filmzensur und Jugendschutz auf eine Untersuchung v o n Leo Lunders verwiesen werden. Die Selbstkontrollinstitutionen und Jugendschutzgremien werden die Introjektionsmöglichkeiten wie bisher analysieren müssen und die eigenen Voraussetzungen zu überschauen haben. Insonderheit ist der Begriff der „Wirkung" in Zukunft mit präziseren Vorstellungen zu bedenken, um mehr Antworten zu evozieren und weniger als bisher mit nahezu physikalischen „Reaktionen" zu rechnen. Der pädagogische Weg ist besser, weil er auf die Selbstverantwortung des Jugendlichen abzielt. Die Krisenzeit der Pubert ä t darf nicht nur im negativen Aspekt gesehen werden.

5. Bibliographie Die Bibliographie erweist, daß die Erörterungen im Flusse sind. Die aufgeworfene Problemstellung wird weiterhin Vorsorge erfordern und darüber hinaus Hilfe zur speziellen Eigenverantwortung notwendig machen. Der Pädagoge wird vorläufig zur Behutsamkeit in der Beurteilung des Fragenkomplexes raten. Monographien C. Collard: La cinematographie et la criminality infantile. Brüssel 1919. C. B u r t : Young delinquent. 1927. Η. B l u m e r — P. H a u s e r : Movies, delinquency and crime. Motion pictures and youth. New York 1633. P. R e i w a l d : Die Gesellschaft und ihre Verbrecher. 1948. P. W. T a p p a n : Juvenile Delinquency. New York. 1949. G. C l o s t e r m a n n : Abhandlungen zur Jugendpsychologie. 1952. G. S b r a n a : Explosione deiinquenziale in un raggazzo per un motto d'animo indotto de cinema. 1952. Η. Naef: Ursachen der Jugendkriminalität. 1953. H. W. Lavies: Film und Jugendkriminalität. 1954. D. de Casso y R o m e r o : Influence du cinema dans la delinquance juvenile. Paris. 1955. M o l l e n t h i n — Boehme: Die Verzerrung und Verfälschung des Lebens in der Sensationspresse. 1955. H. Schelsky (Hrsg.): Arbeiterjugend gestern und heute. 1955. A.-J. Cauliez: Le Film Criminel et Le Film Policier. 1956. W. M i d d e n d o r f f : Jugendkriminologie. 1956. E. Wasem: Jugend und Filmerleben. 1957.

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Massenmedien — Natürliche Umwelt

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M. K e i l h a c k e r : Gefährdung der Jugend. Antwort auf den offenen Brief von H. W. Lavies. Der neue Film. 6 (1952) Nr. 14. Jugendliche Straffälligkeit und dramatische Unterhaltung. Mitteilungen des Deutschen Instituts für Filmkunde. 1953. Nr. 17. R. T h o m s e n : Schmutz und Schund aus kriminalpolizeilicher Sicht. 1961. Deutsches Jugendinstitut München: Dokumentationen zur Jugendforschung und Jugendarbeit. Jährlich 4 Hefte. ERICH WASEM

MASSENMEDIEN -> Psychologie des Verbrechens METHODEN DER KRIMINOLOGIE -> Kriminalbiologie, Kriminologie (Grundlagen), Psychologie des Verbrechens, Theoretische Kriminologie, Vergleichende Kriminologie MORD Tötungsverbrechen MÜNZDELIKTE Geldfälschung

Ν NATÜRLICHE UMWELT 1.

Allgemeines

Der Begriff „natürliche Umwelt" wird in der kriminologischen Literatur nicht einheitlich gebraucht. Exner z ä h l t zur natürlichen Umwelt die Landschaft und die Atmosphäre mit allen ihren lebenden u n d toten Bestandstücken und stellt der natürlichen Umwelt das große Gebiet der sozialen Umwelt gegenüber (S. 24). Exner behandelt in Anlehnung an Hellpach unter dem Stichwort natürliche Umwelt die Einflüsse des Wetters, des Klimas, des Bodens und der Landschaft auf die Straffälligkeit (S. 55). Mezger bezeichnet als natürliche Umwelt „die Gesamtheit der örtlichen und zeitlichen Verhältnisse, die für die Entstehung u n d die Gestaltung der Verbrechen von Bedeutung sind", und zählt hierbei Klima, Wetter u n d Temperatur, Boden, Landschaft u n d Tatort auf und behandelt ferner die Einwirkung der Jahreszeiten, der Wochentage und der Tageszeiten auf die Straffälligkeit (S. 204). Mit einigen Einschränkungen werden im folgenden die bei Mezger genannten Faktoren abgehandelt unter Ausschluß der Faktoren Boden und Landschaft, da diese Begriffe zu vage sind; schon Exner h a t mit Recht festgestellt, daß unmittelbare Einflüsse von Boden und Landschaft auf das Verbrechen „kaum erweislich sein" werden (S. 55). Auf der anderen Seite sollte man über Erfahrungen nicht einfach hinweggehen, die uns schon aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. überliefert sind. Hippokrates sagte in einer Abhandlung über den Einfluß der Luft, des Wassers und der Gebietslage, daß „Menschen eingeteilt werden können

in Arten, die in waldreichen und wohlbewässerten Gebirgsgegenden leben, in solche, die auf dünnschichtigem, wasserlosem Gebiet, in andere, die in ·sumpfigem Wiesenland, in noch andere, die in gut !gelichtetem und gut entwässertem Land in der Niederung leben. Die Bewohner gebirgigen, felsreichen und gut bewässerten Hochlandes, wo der Unterschied der Jahreszeiten sehr groß ist, wachsen gewöhnlich ;zu großen Gestalten heran; ihre Körper sind gut 'dazu geeignet, viel auszuhalten. Die Bewohner der Niederungen mit wasserreichen Weiden, wo meist keine kalten Winde wehen und wo die Menschen meist laues Wasser trinken, werden im Gegensatz 1zur Gebirgsbevölkerung keine großgewachsenen und knochigen Gestalten aufweisen, sondern dick, füllig und schwarzhaarig, eher von dunkler als von heller 'Gesichtsfarbe, nicht langsam, eher übersprudelnden Wesens sein. Mut und Ausdauer wird man bei ihnen weniger begegnen, wenn diese Gaben auch erworben werden können. Die Bewohner einer hügeligen, dem Wind ausgesetzten und gut bewässerten Gegend im Hochland werden groß gewachsen sein, einander sehr ähneln, zur Feigheit und Zahmheit neigen. In den meisten Fällen finden wir, daß der menschliche Körper und das Wesen des Menschen mit der Verschiedenartigkeit der Landschaft wechseln" (Toynbee S. 71). Die Faktoren Jahreszeiten, Wochentage und Tageszeiten gehören an sich nicht ganz zur natürlichen Umwelt, da ihr Verlauf ζ. T. künstlich von Menschen festgelegt ist, aber auf einer natürlichen Basis, nämlich der des Mondumlaufs, beruht, der — wie ζ. B. der Monatsrhythmus — etwa dem Verlauf eines Kalendermonats entspricht. Der Rhythmus der Tageszeiten beruht

Natürliche Umwelt wiederum auf dem Verlauf der Sonnenbahn, die die 24 Stunden in die zwei großen Hälften Tag und Nacht teilt. Die Einteilung der Wochentage in solche der Arbeit und der Ruhe ist zwar künstlich gesetzt, beruht aber auf der schon aus der Bibel bekannten, uralten Einteilung der Woche in sechs Arbeitstage und einen Ruhetag. Diese Grundeinteilung in Arbeits- und Ruhetage ist im Laufe der Jahrhunderte „natürlich" geworden, so daß es sich rechtfertigt, die Beziehungen zwischen dem Rhythmus der Wochentage und der Straffälligkeit im Rahmen der natürlichen Umwelt zu behandeln. Im folgenden werden also die Faktoren Klima und Wetter, Jahreszeiten (Monatsrhythmus), Wochentage, Tageszeiten und Tatort in ihrer Beziehung zum Verbrechen untersucht werden. Allgemein ist zunächst zu sagen, daß eine Kausalität im strengen naturwissenschaftlichen Sinne zwischen diesen Faktoren und dem Verbrechen sehr zweifelhaft und vor allem sehr schwer nachweisbar ist. Die frühere kriminologische Literatur war in dieser Beziehung teilweise schon zurückhaltend; so sprach Sauer bei der Behandlung der Faktoren der natürlichen Umwelt nicht etwa von „Ursachen", sondern von „Begleitgründen" (S. 210). Die moderne kriminologische Literatur ist gegenüber dem Begriff der Ursache überhaupt mißtrauisch geworden und spricht sehr viel bescheidener als früher nur von einer „functional relationship", d. h. von einer funktionalen Beziehung zwischen zwei Tatsachen, ohne behaupten zu wollen, daß deren Aufeinanderfolge oder Gleichzeitigkeit eine Kausalität im naturwissenschaftlichen Sinne darstelle. Wo die Kriminologie heute noch von Ursachen des Verbrechens spricht, ist man sich jedoch darüber im klaren, daß niemals eine einzige Ursache zum Verbrechen führt, sondern daß immer mehrere Faktoren — ζ. B. soziologische, psychologische und biologische — zusammenwirken (Vereinigungstheorie), um den Erfolg des Verbrechens zu erzielen. Mag in der Theorie das Problem der Kausalität noch so sehr umstritten sein — es wird sogar behauptet, wir seien überhaupt nicht in der Lage, Ursachen des Verbrechens festzustellen —, für die Praxis der Verbrechensbekämpfung ist auch die Erforschung von „Gleichzeitigkeiten" wichtig; so kann sich beispielsweise der stärkere Einsatz von Polizeistreifen nach dem Ansteigen der Zahl der Fälle von Trunkenheit am Steuer zu bestimmten Nachtstunden richten, gleichgültig, ob es sich bei diesem Zusammentreffen von Dunkelheit und Delikt um eine Kausalität oder eine Gleichzeitigkeit handelt. Zwischen den Faktoren der natürlichen Umwelt und dem Verbrechen lassen sich unmittelbare und mittelbare Beziehungen herstellen. Überschneidungen lassen sich bei der Behandlung der einzelnen Faktoren nicht vermeiden, so über16 HdK, 2. Aufl., Bd. II

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schneiden sich beispielsweise Wetter und Klima, die beide zu Temperaturveränderungen führen können. Die Temperatur wechselt auch im Laufe der verschiedenen Jahreszeiten und ist weiter abhängig von der Höhe des jeweiligen Sonnenstandes, der seinerseits auch die tägliche Verteilung von Licht und Dunkelheit bestimmt, also auch auf den Faktor Tageszeit wirkt. Wenn die ältere Kriminologie — zu Recht oder zu Unrecht — glaubte, ganz bestimmte Einflüsse der natürlichen Umwelt auf das Verbrechen feststellen zu können, so ist jedenfalls diesen Feststellungen gegenüber heute schon insoweit Vorsicht geboten, als in unserer Zeit das Gesetz des allgemeinen physischen und sozialen Ausgleichs, der Nivellierung der modernen Gesellschaft, auch auf die Einflüsse der natürlichen Umwelt hemmend und mindernd wirken muß. So werden ζ. B. heute Wirkungen des Klimas in den Häusern durch Klimaanlagen und im Freien durch Spezialkleidung ausgeglichen. Den Einwirkungen des Wetters, ζ. B. des Föhns, versucht man, durch die Einnahme von Tabletten entgegenzuwirken. Dem Einfluß der Jahreszeiten entzieht man sich durch Ortsveränderungen; so wandern in den USA Tausende von Familien mit ihren Wohnwagen im Winter in die warmen Staaten des Südwestens oder Südens, insbesondere nach Florida, das allmählich das „Altersheim" der USA wird. Auch in Europa entzieht sich derjenige, der es sich leisten kann, der Kälte des Winters und dem Regen des Frühjahrs durch Reisen in Länder des Südens. Der wöchentliche Wechsel zwischen Arbeit und Ruhe ist heute aufgelockert, die frühere scharfe Scheidung ist verschwunden. Viele, die am Sonnabend in ihrem Beruf „feiern", arbeiten dafür zu Hause oder „schwarz"; der Sonntag ist für überlastete Akademiker vielfach der Tag der geistigen Arbeit geworden. Auch der einzelne Tag hat oft seinen früheren einfachen Rhythmus zwischen der Arbeit am Tage und zwischen der Ruhe am Abend und in der Nacht verloren. In vielen Fabriken wird 24 Stunden gearbeitet, und zwar in drei Schichten von je acht Stunden, und die Arbeiter wechseln periodisch die Zeit ihrer Schichten. Schließlich sind auch die Erscheinungsformen des Verbrechens unter diesem Gesetz des allgemeinen Ausgleichs zu sehen; ζ. B. steigt die White-Collar- oder Berufskriminalität an, deren Kurve unabhängig von der Jahreszeit, dem Klima, dem Wochentag oder der Tageszeit abläuft. Die Tatorte wechseln heute häufiger als früher, sie sind auch vielfach, wie v. Hentig es genannt hat, „gestreckt", d. h. vorbereitende, ausführende und abschließende Handlungen erstrecken sich über mehrere Teil-Tatorte (I S. 346). Viele strafbare Handlungen ziehen sich auch über einen längeren Zeitraum hin, so daß sie nur schwer in Verbindung mit Faktoren der natürlichen Umwelt zu bringen sind.

Natürliche Umwelt

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Wo zwischen Faktoren der natürlichen Umwelt und dem Verbrechen Beziehungen vorhanden sind, sind sie statistisch nur sehr schwer faßbar. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn die meisten amerikanischen Soziologen und Kriminologen die Möglichkeit von Einflüssen der natürlichen Umwelt auf das Verbrechen radikal verneinen (Kaplan S. 161). "It has not been demonstrated that changes in physical conditions change the attitudes and values which are conducive to criminal behavior" (Sutherland/Cressey S. 98). "JIt has been the feeling in this country that such research has little to offer in explaining behavior" (Barnes/ Teeters S. 143). Es mag hierbei eine Rolle spielen, daß gerade in den USA die Einflüsse der natürlichen Umwelt am stärksten und am häufigsten durch die künstlichen Mittel der modernen Zivilisation ausgeschaltet sind. Es ist indessen eine legitime Aufgabe der kriminologischen Forschung, auch allgemeine Erfahrungssätze wiederzugeben, ohne daß hierfür genaue statistische Nachweise vorhanden sind, — „Es bedarf keiner statistischen Belege, daß bei mildem Reizklima mehr gearbeitet und geleistet wird als bei trockener Hitze und vor allem, bei feuchter Schwüle; das gilt auch für die Kriminalität." (Sauer S. 211), — und Zusammenhänge und Gleichzeitigkeiten darzustellen, die sowohl für einzelne polizeiliche Aktionen als auch für größere kriminalpolitische Maßnahmen von Wert sein können. 2. Klima und Wetter Als Klima definiert Sauer den durchschnittlichen generellen Zustand der Atmosphäre einer Landschaft und den für dieses Gebiet charakteristischen Verlauf der meteorologischen Tatsachen (S. 211). Klima und Wetter müssen im Zusammenhang mit der jeweiligen Landschaft, der Höhenlage und der Bodenbeschaffenheit gesehen werden. v. Liszt glaubte nicht an einen Einfluß des Klimas auf das Verbrechen, an eine, wie er es nannte, „bestimmte Fauna oder Flora Criminalis"; „wir glauben nicht, daß durch die Zahl der Breitengrade die Zahl und die Art der Verbrechen unmittelbar bestimmt werden" (S. 4). Hellpach scheint anderer Auffassung zu sein; dies ergibt sich indirekt aus seinen Ausführungen über den Lebensraum von Völkern und Rassen. Danach sind die Völker „raumbedingt und raumgebunden" und können nur dort bestehen, wo sie entstanden sind, also nicht „z. B. die nordischen in extremen Hitzelandschaften der Erde" (S. 44). Man wird dem insoweit beistimmen können, als zumindest extreme Klimawerte menschliches Verhalten allgemein und damit im besonderen auch die Kriminalität beeinflussen können. Feuchte Wärme erschlafft und macht passiv, auf der anderen Seite kann der Tropen-

koller unmittelbar zu Gewalttaten führen (Mezger S. 205). Die Polarnacht, die immerwährende Dunkelheit, drückt auf das Gemüt, verleitet zu Alkoholgenuß und kennt aggressive Explosionen, wie den „Hüttenknall", den v. Hentig in seinem „Desperado" schildert (II S. 14). In den kurzen Monaten des Polarsommers macht dann die kaum untergehende Mitternachtssonne die Menschen doppelt unruhig. Damit sind wir schon bei dem fundamentalen klimatischen Unterschied zwischen Kälte und Wärme, der sich in vielen Ländern als der Unterschied zwischen Nord und Süd darstellt und der in bezug auf die Kriminalität schon oft in der Vergangenheit von Kriminologen untersucht worden ist. Tarde leugnete einen Einfluß nördlichen oder südlichen Klimas auf das Verbrechen, das er lieber soziologisch erklärt sehen wollte (S. 151ff.). Exner erkannte zwar die erheblichen Abweichungen in der Kriminalität in Gegenden verschiedener Breitengrade, zweifelte aber, ob diese Unterschiede auf die Verschiedenheiten des Klimas zurückzuführen seien und nicht eher auf Charakterverschiedenheiten der in der betreffenden Klimaform lebenden Menschen beruhten, wobei allerdings diese Charakterabweichungen sich gerade unter dem Einfluß des jeweiligen Klimas langsam entwickelt haben können (S. 56). Hellpach hat die Frage aufgeworfen, ob Völker ihren Wohnsitz wechseln und doch fortbestehen können; man mag dabei an die großen Züge der germanischen Stämme in der Völkerwanderungszeit von Nord nach Süd denken, wobei die Ostgoten, Westgoten und Vandalen dann im Süden untergingen. Hellpach entwickelte den Begriff des Grenzreizes, des Grenzerlebnisses, das ebenso zum Erliegen und zum Tod wie zur besonderen blühenden Entfaltung und Stärke führen kann (S. 46—47), wenn im Sinne von Toynbees Geschichtsphilosophie die entsprechende „Antwort" auf die „Herausforderung" gefunden wird. Im ganzen warnt jedoch Hellpach vor den Folgen eines Klima- und Standortwechsels, kein Volk verlasse ungestraft die „angestammte Umwelt" (S. 47). In unserer Zeit wird die Zukunft erweisen, wie sich die westlich bestimmte Führungsschicht des jungen Staates Israel in der neuen, klimatisch und geographisch zu Vorderasien gehörenden Umwelt halten und verhalten wird. Fast alle früheren Westeuropäer klagen heute in Israel über klimatische Beschwerden, einen ungeheuren „stress", der ein Arbeiten im gewohnten europäischen Sinne erheblich einschränkt und deshalb andererseits vielleicht auch kriminelle Aktivität verhindert. Israel hat jedenfalls eine, verglichen mit anderen westlichen Ländern, sehr geringe Erwachsenen- und Jugendkriminalität, insbesondere fehlen die Gewaltdelikte früherer Europäer fast vollständig. Natürlich spielen hierbei auch noch andere Umstände eine Rolle, insbesondere der Kulturkonflikt zwi-

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Natürliche Umwelt sehen den so außerordentlich verschieden gearteten Einwandererströmen aus allen Teilen der Welt (Siehe Middendorff I, S. 223 ff.)· Für Italien und Frankreich hat man schon früher ein eindeutiges Überwiegen der Verbrechen gegen die Person im Süden und gegen das Vermögen im Norden festgestellt (Sauer S. 212, Seelig S. 173). Neuere Untersuchungen über die italienische Jugendkriminalität ergaben, daß diese in Sizilien zwölfmal so stark war wie in der Lombardei. Süditalien und die Inseln haben eine fast doppelt so starke Jugendkriminalität wie die anderen Landesteile. Entgegen früheren kriminologischen Erfahrungen ist diese starke Jugendkriminalität gerade nicht in den Industriebezirken des Nordens, sondern in den landwirtschaftlichen Gebieten des Südens konzentriert, die sehr unterentwickelt sind und in denen eine „katastrophale" Not herrscht (Luther S. 27). In Oberitalien allein zeigen sich schon die Unterschiede, die früher nur im Verhältnis von Süd und Nord gesehen wurden. In den unterentwickelten Gebieten Oberitaliens tritt die Kriminalität mehr in gewalttätiger Form als in der Form der Verübung von Vermögensdelikten auf (Donati). Im Süden finden wir dagegen sehr viele Vermögensdelikte, insbesondere auch viele Fälle von Korruption (Siehe Middendorff I S. 324ff.). Es dürften hier eher soziologische als klimatische Einflüsse vorherrschend sein. Für Deutschland hat man früher auch markante Unterschiede zwischen der Kriminalität des Nordens und der des Südens behauptet. Hellpach hat die allgemeinen Gegensätze zwischen Nord und Süd herausgearbeitet; danach ist der Unterschied gekennzeichnet durch ein Überwiegen der Verstandes- und Willensseite im Norden und der Phantasie- und Gemütsseite im Süden. „Die Südteile der Völker leben ein stärker und unbewußter kreatürliches Dasein, die Nordteile ein bewußt planendes; jene sind mehr instinktiv und leidenschaftlich, diese mehr nüchtern und vorbereehnend. Offenbar handelt es sich dabei um das Ergebnis einer Lebensauseinandersetzung mit dem relativen Klimacharakter" (S. 47). Eine etwas überraschende Bestätigung dieser Ausführungen Hellpachs findet sich in der neuen Arbeit von Hellmer über Gewohnheitsverbrecher und Sicherungsverwahrung in den Jahren 1934 bis 1945. Hellmer hat die Straftaten von je 70 Verwahrten aus Gegenden nördlich und südlich des Mains nebeneinander gestellt. Beim Vergleich der einzelnen Delikte fällt auf, daß im Norden der Diebstahl, im Süden der Betrug vorherrschend ist. Die Unterschiede sind so erheblich, daß Zufälle ausgeschlossen sind. Hellmer sieht den Unterschied zwischen Nord und Süd in der anderen Zielstrebigkeit des Täters. „Der südliche Täter ist vor allem Wanderer, Vagabund, der seine Kriminalität gewissermaßen im ambulanten Gewerbe ausübt. Der nördliche Täter dagegen strebt verbissen dem Ziele nach, sich Verie*

mögenswerte — aus Not oder Gefallen — anzueignen· Seine Taten sind deutlicher, gefährlicher, nüchterner. Er weicht kaum von dem einmal eingeschlagenen Weg ab, seine Haltung ist fixiert, die des südlichen dagegen beweglich, flexibel, unbekümmert, wurstig." Hellmer nennt als möglichen Grund dieser Unterschiede die reichere Phantasie des südlichen Menschen, der im Norden Nüchternheit und Einfallsarmut gegenüberstehen (S. 206). Wesentliche Untersuchungen über die Kriminalität im Norden und Süden der Bundesrepublik sind bisher nicht bekannt geworden. Sie dürften auch kaum zu stichhaltigen Ergebnissen kommen, da nach 1945 ungeheure Bevölkerungsbewegungen stattgefunden haben. Die klimatischen Einflüsse von Nord und Süd können sich — wenn überhaupt — dann erst in Jahrzehnten auswirken. Die USA bieten auch heute noch das traditionelle Bild der Verteilung der Kriminalität im Sinne der schon früher genannten Nord-Süd-Verschiedenheiten. Aufgrund der Unterlagen des FBI wurden für die Jahre 1946 bis 1952 für alle Staaten der USA die Kriminalitätsziffern für Stadtbezirke ermittelt. Aus dieser Statistik sind im folgenden jeweils die drei Staaten mit der geringsten und die drei mit der höchsten KZ angegeben. Staat Mord u n d Totschlag 0,35 North Dakota 0,78 New Hampshire 0,88 Vermont 17,10 Tennessee 20,14 Alabama 21,35 Georgia Staat New Hampshire Vermont South Dakota Alabama Virginia North Carolina

Schwere K ö r p e r verletzung 3,8 3,8 6,5 198,7 227.0 474,5

Staat Vermont New Hampshire Wisconsin Illinois California Nevada

Raub 4.4 4.5 10,0 109,9 128,5 134,7

Staat Wisconsin New Hampshire Vermont Arizona Florida Nevada

Schwerer D i e b s t a h l 156.7 172.1 185,9 756,9 802.8 903,8

244 Staat Pennsylvania New Hampshire New Jersey California Nevada Arizona Staat New Hampshire Vermont South Dakota Washington Nevada Arizona

Natürliche Umwelt Einfacher Diebstahl 367,1 496,1 533,3 1888,1 2315,2 2504,4 Autodiebstahl 53,2 91,9 95,0 347,6 357,1 458,3 (Shannon)

Es zeigt sich also in dieser Statistik, daß der Schwerpunkt der Delikte gegen die Person im Süden, der der Vermögensdelikte im Westen liegt. Die Neuengland-Staaten im Norden haben die geringste Kriminalität. Wie in Italien dürfte jedoch die zivilisatorische und wirtschaftliche Unterentwicklung des Südens einen großen Einfluß auf Art und Ausmaß der Kriminalität ausüben. Wetter ist, einer Definition von Sauer folgend, der konkrete, in einem kürzeren Zeitabschnitt vorherrschende meteorologische Zustand einer Landschaft (S. 211). Wetter und Temperatur, insbesondere deren schnelle Änderungen, wirken auf das Nervensystem des Menschen und beeinflussen sein Denken, Fühlen und Wollen und damit auch sein kriminelles Verhalten. Nach den letzten Ergebnissen der Biometeorologie sollen etwa 40% aller Menschen unter Wetterempfindlichkeit leiden (Bauer S. 92). Schon Le Bon behauptete einmal, niemals in der Geschichte habe sich ein ernstlicher Volksaufstand bei strömendem Regen abgespielt (Exner S. 67). Die Halbstarkenkrawalle der Jahre 1955 bis 1957 fanden in der BRD in der Regel bei trockenem und warmem Wetter s t a t t ; in Düsseldorf genügte ein Regenschauer, um eine krawalllustige Menge aufzulösen. In der Sylvesternacht 1962/63 verhinderte die scharfe Kälte in vielen großen Städten die sonst auf Straßen und Plätzen üblichen Zusammenrottungen, die so häufig zu Zusammenstößen mit der Polizei führen. Lediglich in West-Berlin gab es bei Schlägereien 105 Verletzte. In London versammelten sich trotz der bitteren Kälte 5000 Menschen auf dem Trafalgar Square. 162 wurden festgenommen. Kaplan berichtet von einer Untersuchung von Dexter aus den USA. 40000 Fälle von Körperverletzung in New York und 184 Fälle von Totschlag in Denver wurden überprüft. Aufgrund der New Yorker Ergebnisse zog Dexter den Schluß, daß Gewaltverbrechen besonders häufig

bei geringer Feuchtigkeit, niedrigem Luftdruck, geringer Windstärke und an klaren Tagen verübt wurden (S. 163). Der Nebel hat erheblichen Einfluß auf das Verhalten der Menschen. In den Nebelmonaten steigt in England die Zahl der Eigentumsdelikte, Raubüberfälle werden ebenfalls gerne bei Nebel ausgeführt (v. Hentig I S. 164). Die Zahl der Verkehrsunfälle, insbesondere die Zahl der Auffahrunfälle auf den Autobahnen, nimmt bei Nebel rapide zu. Allgemein beeinflussen Wetterbedingungen den Fluß des Straßenverkehrs und die Zahl der Verkehrsunfälle in hohem Maße. Die Anforderungen an den einzelnen Verkehrsteilnehmer, insbesondere den Kraftfahrer, steigen bei schlechtem Wetter, seine Belastungsfähigkeit wird einer stärkeren Prüfung ausgesetzt. Meyer und Jacobi fanden bei einer Untersuchung von 145000 Unfallakten, daß es sich bei dem Unfallfaktor Wetter „zweifellos um einen sehr wesentlichen Einflußbereich" handelt. 36,9% der Unfälle infolge unangemssener Geschwindigkeit waren auf Witterungsverhältnisse — Nebel und Rauch, Regen und Schneetreiben und Glatteis — zurückzuführen (S. 33 bis 34). Laves u. a. stellten einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Verschlechterung der Witterungsverhältnisse und der Erhöhung der Verkehrsunfallzahlen fest. Auch die Alkoholunfälle waren vom Wetter beeinflußt. „An Tagen, an denen ein auf den menschliehen Organismus ungünstig wirkender Wettervorgang auftritt, seheint die Verträglichkeit von Alkohol herabgesetzt oder das Bedürfnis nach Getränken gesteigert zu sein. Vermutlich wirken beide Tendenzen zusammen. Die aus unserem Material erschließbare Situation maximal gesteigerter Unfallbereitschaft ist demnach Wochenendverkehr plus biotroper Wetterlage (insbesondere Wetterumschlag und Föhn) plus Alkohol" (Laves u. a. S. 98). Auch in bezug auf die allgemeine Kriminalität hat man den Einfluß des Föhns untersucht. Der Föhn macht die Menschen nervös und reizbar. Hellpach fand einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Föhn u n d der Begehung von Sexualdelikten (Bauer S. 92). Nach Seelig bewirkte der Föhn in Innsbruck jährlich eine Steigerung der Selbstmordkurve (S. 177). In manchen Ländern kennt man die Wirkung föhnähnlicher Winde, so in Argentinien die Wirkung des Pampero, in Israel die des Khamsin, ν. Hentig sprach von einer „Wetter-Hysterie", die sich auf das Verhalten des Menschen überträgt (II S. 16). 3. Die Jahreszeiten

(Monatsrhythmus)

Ausführungen über die Zusammenhänge zwischen dem Rhythmus der Jahreszeiten und der Kriminalität überschneiden sich teilweise mit den Ausführungen über die Einflüsse des Klimas, nämlich der Wirkungen von Wärme und Kälte, die

Natürliche Umwelt ja auch vom Wechsel der Jahreszeiten abhängen. Schon Exner stellte eine starke Belastung der Sommermonate mit Verbrechen gegen die Person fest, während im Winter Vermögensdelikte vorherrschen. Seelig zog etwas genauer das R6sum6e aus einer Reihe von Untersuchungen in verschiedenen Ländern, daß nämlich Körperverletzungen u n d Beleidigungen von J u l i bis September kulminieren, Sittlichkeitsdelikte dagegen von Mai bis Juli (S. 175). Nach dem f ü r die J a h r e 1883 bis 1892 gesammelten Material der deutschen Kriminalstatistik stiegen die Sittlichkeitsdelikte im März an, hatten ihren Höhepunkt im Juli und fielen dann schnell ab. Sie waren im Juli u m mehr als das Doppelte so hoch wie in den Wintermonaten (Bauer S. 93). Exner versucht, für den Verlauf dieser Kriminalitätskurven eine Erklärung zu finden; er glaubt weniger an eine unmittelbare Wirkung der jahreszeitlichen Licht- u n d Wärmeverhältnisse als vielmehr an die Einflüsse der sozialen Umwelt, der sozialen Veränderungen, die ihrerseits wiederum durch den Wechsel der Jahreszeiten bedingt sind, so ζ. B. der sommerliche Aufenthalt im Freien mit entsprechendem Alkoholgenuß, der dann leicht zu Körperverletzungen führt. Das größere Gewicht legt Exner indes auf „eine der menschlichen Natur innewohnende Periodizität" (S. 61), die sich insbesondere im F r ü h j a h r als erhöhtes geschlechtliches Bedürfnis zeigt, das die Kurve der Sittlichkeitsdelikte ansteigen läßt. Mezger meint, die menschliche Natur habe sich auch in ihrem Innern so an den Rhythmus der Jahreszeiten gewöhnt, daß dieser mit einer „gewissen Unabhängigkeit von der augenblicklichen Einwirkung von außen selbständig abläuft. Freilich kommt hinzu, daß dieser, gewissermaßen festgelegte innere Rhythmus immer wieder gleichläufig von aussen her unterstützt und erneut angeregt und gefestigt wird. Die Wirkungsweise ist also eine doppelseitige, auch hier demnach komplexer, als man im allgemeinen annimmt. Zu beachten ist endlich, daß es vielfach nicht so sehr das „stabile" Endergebnis, sondern der „dynamische" Anstieg, die Veränderung als solche ist, auf die es entscheidend ankommt, so daß ζ. B. ein Höhepunkt krimineller Wirkung im „Frühsommer" eintritt, d. h. das Maximum vor der großen Hitze stattfindet, die vielleicht ihrerseits wieder „erschlaffend" wirkt" (S. 205). Neuerdings h a t v. Hentig besonders stark die Bedeutung des Wechsels der Jahreszeiten betont. „Aus der Ruhelage der zu kalten Jahreszeit erhebt sieh in unserem Klima das Leben zu neuem Wachstum. Die Kräfte der Fortpflanzung nehmen einen Anlauf bei Pflanze, Tier und Mensch. Körperliche und seelische Umwälzungen sind dazu bestimmt, die der Erhaltung der Gattung dienenden Prosesse bis zur Erfüllung fortzuleiten. Hinter diesen Entwicklungen stehen so gewaltige Triebkräfte, daß sie häufig die der Selbsterhaltung zuge-

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ordneten psychischen Mechanismen überlaufen und mattsetzen" (I S. 145.). Sauer, der von der Einwirkung der Jahreszeiten auf die Kriminalität als einer „Saisonschwankung" sprach, machte gleichzeitig darauf aufmerksam, daß der primitive Mensch von dem Wechsel der Jahreszeiten sehr viel abhängiger ist als der sogenannte Gebildete; außerdem meinte Sauer, die Jahreszeit wirke mit umgekehrtem Erfolg auf primitivere Taten u n d Täter auf der einen und kulturell gehobene Taten u n d Täter auf der anderen Seite; Beweise lassen sich f ü r diese These schon finden. Im allgemeinen ist es richtig, daß sich die sogenannte gehobene u n d ausgereifte Kriminalität auf alle Jahreszeiten verteilt (Sauer S. 214). Auf einige Delikte soll die Jahreszeit keinen ersichtlichen Einfluß ausüben, so auf Unterschlagung, Betrug, Urkundenfälschung, Erpressung und Glücksspiel (Sauer S. 215). Jenseits des Äquators folgt auf Ceylon der Rhythmus der Kriminalität dem R h y t h m u s der Monsune, der wiederum die Zeiten der Reisernten bestimmt (Bloch/Gleis S. 167). Amerikanische Untersuchungsergebnisse, die 1952 veröffentlicht wurden — m a n h a t t e über zehn J a h r e die Zusammenhänge zwischen den Jahreszeiten und dem Verbrechen in acht Städten überprüft —, bestätigten nicht in allen Punkten die These, daß die Delikte gegen die Person im Sommer und die gegen das Vermögen im Winter ihre höchsten Zahlen erreichten. Vielmehr waren die Zahlen für die Tötungsdelikte im Dezember höher als im J u n i und August, u n d die Vermögensdelikte, insbesondere der einfache Diebstahl, erreichten die höchsten Zahlen nicht immer im Winter (Kaplan S. 172). Diese Ergebnisse aus den USA sind nicht überraschend, denn sie bekräftigen, daß gegenüber allen früheren Untersuchungen, die den steilen Anstieg der Verbrechen gegen die Person im Sommer und den der Vermögensdelikte im Winter betonten, heute die Einschränkungen des schon genannten Gesetzes des allgemeinen Ausgleichs zu machen sind. Insbesondere fallen die früher in der kriminologischen Literatur so häufig genannten sozialen Anreize zum Verbrechen im Winter heute vielfach fort. Die so oft berufene Brennholznot wird heute ζ. B. durch einen Anweisungsschein des Wohlfahrtsamtes behoben. Sexualpartner sind zu allen Jahreszeiten in ausreichendem Maße vorhanden, so daß die „Notwendigkeit" f ü r Sittlichkeitsdelikte in den warmen Monaten weitgehend entfällt. Die von Sauer erwähnte Kriminalität der primitiveren Täter, die f ü r den Wechsel der Jahreszeiten besonders empfänglich sind, ist ganz allgemein im Zurückgehen; u n d das v o n Seelig (S. 176) erwähnte Heer der Arbeitslosen, das sich im Winter vermehre, existiert im Zeitalter der Vollbeschäftigung nicht mehr. Richtig ist dagegen, wenn Seelig schreibt, daß die berufsmäßigen Land-

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Natürliche Umwelt

Streicher im Winter Quartiere in der Stadt anstreben und Geld brauchen. Dies gilt auch für ambulante Berufe, wie ζ. B. den des Schaustellers, der im Winter wenig Verdienstmöglichkeiten hat. In vielen Fällen wird der Winter dann dazu benutzt, schon früher verhängte Freiheitsstrafen abzusitzen. Ich selbst habe erlebt, daß sich ein Landstreicher auf der Polizei meldete und angab, er stehe im Fahndungsbuch auf Seite X und bäte nun darum, seine Freiheitsstrafe abzusitzen, er melde sich deshalb so rechtzeitig im Oktober, damit er in diesem Gefängnis wiederum —• wie im letzten Jahr — die Heizung versorgen könne. Die Bewegungen der Kriminalität in der BRD ergeben sich aus der polizeilichen Kriminalstatistik des BKA. Im Jahre 1961 wurden 2120419 neu bekanntgewordene Verbrechen und Vergehen registriert, die sich wie folgt auf die einzelnen Monate verteilen: 1960 162446 (149595) Januar (149124) Februar 169095 177712 (176367) März (165009) April 175611 180112 (175218) Mai 181998 (170826) Juni (181052) 186386 Juli 182936 (177146) August 179401 (172502) September Oktober 186489 (1757331 183026 (175071) November Dezember 165207 (167596) Danach erfolgte im Jahre 1961 die höchste Zahl der Anzeigen im Oktober, der Tiefpunkt lag im Februar. An zweithöchster Stelle liegt der Juli. 1960 erfolgten im Juli die meisten Anzeigen, Tiefpunkt war wiederum der Februar. In beiden Jahren war der Januar der zweitschwächste Monat (S. 32). Auch die Kurve der Selbstmorde erreichte 1961 im Juli mit 1005 die höchste Zahl. Die wenigsten Selbstmorde wurden im Dezember mit 760 begangen. In der Wahl der Mittel des Selbstmordes lassen sich keine Einflüsse der Jahreszeit erkennen; die am häufigsten angewandten Mittel sind Erhängen und Erdrosseln und Vergiften, insbesondere durch Leuchtgas (BKA S. 108—109). v. Hentig hat die jahreszeitlichen Schwankungen des Selbstmordes für die USA für die Jahre 1910 bis 1923 auf je 100000 der Bevölkerung festgestellt. Der Höhepunkt lag im Gesamtgebiet im Mai mit 113, in sieben Städten des Mississippitales ebenfalls im Mai mit 114. In Massachusetts verschob sich der Höhepunkt mit 115 für Männer und 126 für Frauen in den Juni (I S. 148). Diese Verschiebung in den „wärmeren Monat" mag vielleicht mit den klimatischen Unterschieden zwischen den einzelnen Untersuchungsgebieten zusammenhängen, es sei daran erinnert, daß Boston

auf der Höhe von Mittelitalien und New Orleans schon auf der Höhe von Kairo liegt. Für Mord und Totschlag ergibt sich aus der Statistik des BKA für 1961 ein ganz knapper Höhepunkt im April, bei versuchtem Mord und Totschlag ein knapper Höhepunkt im Januar. Ein Tiefpunkt ist im Dezember (S. 54—-55). Blühm untersuchte die Kriminalität der vorsätzlichen Tötungen im Bereich des Landgerichtsbezirks Duisburg für die Jahre 1922—1951 und zeigte auch die Verteilung der -> Tötungsdelikte auf die einzelnen Monate, wobei er zwischen Mord, Totschlag und Kindestötung trennte. Er kam zu dem Ergebnis, daß die meisten Totschläge in den Monaten September bis November begangen wurden, während die Monate August und Dezember die niedrigsten Zahlen aufweisen. Das Maximum der Mordziffern lag im Mai; im ganzen sind jedoch die Zahlen so gering, daß bei der Ausdeutung große Vorsicht geboten ist (S. 40). Brückner unterschied bei der jahreszeitlichen Verteilung der Morde je nach dem Motiv zwischen Gewinn-, Konflikts-, Deckungs- und Sexualmord. Die Gewinnmorde hatten ihr Maximum im Winter während bei den Konfliktsmorden der Höhepunkt ganz eindeutig im Sommer lag (S. 25). Dieses Ergebnis entspricht früheren Erfahrungen, wonach der Totschlag einen „Sommerberg" hatte, während der Raubmord mit Bereicherungsabsicht im Winter zunahm (Blühm S. 40). v. Hentig widmete dem Mord eine besondere Monographie. Die Monatskurve der Morde wies Höhepunkte im Dezember und Juni auf, und v. Hentig brachte diese Höhepunkte in Verbindung mit dem Sommeranstieg der Verbrechen gegen die Person und dem Winteranstieg von schwerem Diebstahl und Raub und unterteilte demzufolge die Morde nach dem Motiv, v. Hentig meint, es würden mehr primitive Gewinnmorde zur Anzeige kommen als Konflikts- und Sexualmorde; das Maximum der Jahresmitte wäre demzufolge noch anzuheben. Einen Beweis für diese These gibt es indessen nicht (III S. 83—84). In den USA ist der sommerliche Höhepunkt der Tötungskriminalität ebenfalls ausgeprägt. Die vom FBI für 1961 veröffentlichte Statistik wies die höchsten Zahlen im Juli auf, der Monat mit der niedrigsten Ziffer war der April. Es wird hierbei allerdings weder zwischen Mord und Totschlag noch nach dem Motiv unterschieden (S. 87). Früher stellte v. Hentig fest, daß die meisten Lynchmorde im Juli geschahen (IVS. 377). Der Soziologe Marvin Wolfgang untersuchte 588 Fälle von Mord und Totschlag in Philadelphia. Bei der Ermittlung der Monatskurve unterschied er die Opfer nach Rasse und Geschlecht. Bei der weißen Bevölkerung gab es hohe Opferzahlen im März, Mai und Oktober beim Mann und im Mai, August und September bei der Frau. Für den männlichen Neger stiegen die Zahlen der Opfer

Natürliche Umwelt im Juni und September an, für die schwarzen Frauen war der Höhepunkt im August. Irgendwelche besonderen Schlüsse können aus diesen Zahlen nicht gezogen werden, worauf auch v. Hentig mit Recht hinweist: „In buntem Wirbel gehen offensichtlich soziale und physikalische Kräfte durcheinander" (I S. 153.). Wolfgang führt in seiner Arbeit eine Reihe von früheren amerikanischen Untersuchungen an. Eine Arbeit von Hoffman, die sich 1924 auf 77 große Städte erstreckte, zeigte die größte Zahl von Totschlagsverbrechen im Dezember, an zweiter Stelle folgte der Juli. Im ganzen wurden in den drei Sommermonaten 736 Tötungsverbrechen verübt, in den Wintermonaten waren es 647. Ein ähnliches Ergebnis brachte eine Untersuchung von 1606 Verbrechen des Totschlags in New York für die Jahre 1921 bis 1930. In beiden Untersuchungen wird nicht nach dem Motiv unterschieden. Andere Untersuchungen in den USA bestätigten das Überwiegen der Zahlen der Tötungsdelikte im Sommer nicht; so kam eine Untersuchung in Seattle, Washington, zum Ergebnis, daß der Dezember der Monat der größten Zahl der Tötungsdelikte war, eine Untersuchung in Illinois erbrachte dasselbe Resultat (Wolfgang S. 102—104). Bensing und Schröder legten eine neue Untersuchung über Mord und Totschlag in Cleveland vor, die sich auf die Jahre 1947 bis 1953 erstreckte. Die höchste Zahl der Verbrechen geschah im August, die niedrigste Zahl im März. Im ganzen führten die Monate Juli, August und September, während die niedrigste Zahl in den Monaten Februar, März und April zu verzeichnen ist (S. 7—8). Die neueste amerikanische Untersuchung über die Tötungskriminalität stammt von Macdonald; er kommt zu dem Ergebnis, daß, wenn es überhaupt einen Einfluß der Jahreszeiten auf die Tötungskriminalität geben sollte, daß dann dieser Einfluß sich nur indirekt auf das Sozialverhalten der Menschen auswirkt (S. 11). Hurwitz berichtete über eine frühere Untersuchung von Verkko in Finnland, wonach die Kurve der Tötungsdelikte keine sehr markanten Merkmale im Verlauf des Jahres aufwies. Sie zeigte jedoch für die mit Vermögenserwerb verbundenen Tötungsverbrechen einen Höhepunkt im Winter und für die „gewöhnlichen Tötungsverbrechen" einen solchen im Sommer (S. 247). Bei der gefährlichen und schweren Körperverletzung ermittelte das BKA 1961 für die BRD einen Höhepunkt der Anzeigen mit 2554 im Januax, gefolgt von 2548 im Oktober (S. 60). Die leichte vorsätzliche Körperverletzung weist die höchsten Zahlen mit 4445 im August auf, gefolgt von 4318 im Oktober (BKA S. 94). Scholz untersuchte Motive und Ursachen bei Körperverletzungen im Landgerichtsbezirk Bonn für die Jahre 1945 bis 1950 und fand die höchste

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Zahl der Körperverletzungen mit 79 im September, gefolgt von 78 im Juli. Die niedrigste Zahl hatte der Dezember mit 28 (S. 80). In den USA zeigte die FBI-Statistik 1961 für die vorsätzliche Körperverletzung die höchste Zahl im Juli. Der Monat mit der niedrigsten Zahl war der Januar. Früher fand Sauer einen Höhepunkt der leichten und gefährlichen Körperverletzung in Deutschland im August. Eine Einzeluntersuchung in Münster kam zu dem Ergebnis, daß der Höhepunkt der vorsätzlichen Körperverletzung im Dezember lag, „offenbar wegen Überwiegens der Wirtshausstreitigkeiten" (Sauer S. 216—217). Die Sittlichkeitsdelikte sind mit den körperlichen Vorgängen und der schon genannten „Periodizität" des Menschen am engsten verbunden. Bei der Untersuchung des Monatsrhythmus' der einzelnen Formen der Sittlichkeitsdelikte ist aber wiederum zu beachten, ob sie mit Gewalt verbunden sind, wie ζ. B. die Notzucht, oder ob Vermögensinteressen vorherrschend sind, wie ζ. B. bei der Homosexualität der Strichjungen. Mit der jahreszeitlichen Verteilung der Notzuchtsdelikte hat sich Schulz eingehend befaßt, wobei er auch die Ergebnisse früherer Untersuchungen anführt: So stellte Hacker in Finnland Höhepunkte der Notzuchtskriminalität im Mai und Oktober fest, wobei er den höheren Prozentsatz im Oktober mit dem gesteigerten Alkoholgenuß zur Zeit der Weinlese in Verbindung brachte. Es mag zweifelhaft sein, ob sich dieser Faktor gerade in einem Land wie Finnland auswirkt. Gleispach verneinte früher einen Zusammenhang zwischen Sexualverbrechen und Jahreszeit, während Weingartner in einer Dissertation über die Notzucht eine deutliche Mehrbelastung der warmen Jahreszeit fand. Die Hauptursache soll aber nicht direkt die Wärme sein, entscheidend sollen die sozialen Begleiterscheinungen des Sommers, wie verstärkter Aufenthalt im Freien, Baden, Campingleben und ähnliches sein. Auch der wohl stärkere Alkoholgenuß im Sommer ist an dieser Stelle zu erwähnen. Schulz meint zu diesem Punkt, der Alkoholgenuß könne nicht die Rolle spielen, die ihm manche Kriminologen beimessen, da die Menschen im Sommer „doch wohl mehr ins Freie gehen, als in Wirtschaften zu sitzen pflegen" (Schulz S. 60—61). Der Alkoholgenuß ist heute indessen nicht mehr so stark wie früher an den Wirtshausbesuch gebunden; im übrigen bieten viele Wirtschaften auch die Möglichkeit, im Freien zu sitzen. Schulz' eigene Untersuchung erstreckt sich auf die Notzuchtsdelikte der Jahre 1945 bis 1954 im Landgerichtsbezirk Koblenz. Die Monate Juni und September weisen die höchsten Zahlen auf, ein weiterer Maximalwert wurde für den Monat Februar errechnet, Schulz bringt diesen Höhepunkt in Zusammenhang mit der Karnevalszeit.

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Natürliche Umwelt

Bei den Notzuchtsverfahren, die mit Freisprüchen enden, ist dieser Monat Februar besonders bemerkenswert. Schulz nennt ihn mit dem Hinweis auf die Karnevalszeit den „Monat der Zustimmung". In den 160 Fällen, in denen die Ermittlungsverfahren eingestellt wurden, sind Juni, Juli und August am stärksten belastet. Betrachtet man nur die Anzeigen wegen Notzucht, so ragt der August vor dem Juni weit hervor (15,0% und 12,4%), der Dezember hat nur 5,0% (Schulz S. 60—64). In der BRD wurden 1961 im Oktober 672 Fälle von Notzucht angezeigt, im August waren es 649 und im Juni und Juli je 625. Der niedrigste Monat war der April mit 418 (BKA S. 62). Eine holländische Statistik aus den Jahren 1911 bis 1980 ergab für die Notzuchtsdelikte einen Höhepunkt im Mai, gefolgt von Oktober (v. Hentig I S. 150). In den USA wurden 1961 im Juli die meisten Fälle von Notzucht angezeigt, der Monat mit der niedrigsten Zahl war der Februar (FBI S. 87). Für unzüchtige Handlungen mit Kindern ermittelte das BKA für 1961 die höchste Zahl von Anzeigen im Oktober mit 1785, gefolgt vom Juni mit 1772. Der Dezember war der niedrigste Monat mit 1172 (S. 63). Wegner untersuchte die Sittlichkeitsdelikte an Kindern und Jugendlichen im Landgerichtsbezirk Bonn in den Jahren 1946 bis 1950 und fand, daß im August mit 10,9% die meisten Taten begangen wurden (S. 20). Eine frühere Untersuchung von Wessel über das Delikt der Kinderschändung im Landgerichtsbezirk Bonn ergab, daß die meisten Taten mit 14,3% ebenfalls im August begangen wurden, dem Ferienmonat und dem Monat, in dem der Sommer seinen Höhepunkt bereits überschreitet (v. Hentig I S. 149). Zum gleichen Ergebnis — den höchsten Zahlen im August — kommt die schon genannte holländische Untersuchung für die Jahre 1911 bis 1930 bezüglich der „Unzucht mit Minderjährigen" (v. Hentig I S. 150). Die Wintermonate sind nach der Bonner und der holländischen Statistik nur sehr schwach belastet, v. Hentig weist indessen einschränkend darauf hin, daß das Delikt der Kinderschändung vielfach in abgeschlossenen Räumen verübt wird (nach Wessel zu 71%), also von der sommerlichen Lockerung der Kleidungssitten und dem engeren Zusammenleben unberührt bleibt. „Die Kräfte, die hier wirken, machen nicht vor Tür und Wänden halt" (I S. 150). In der BRD wurden 1961 im März 736 Fälle von Unzucht zwischen Männern angezeigt, der zweite Höhepunkt lag im Oktober mit 732 Fällen. Der Monat mit der niedrigsten Zahl ist der November mit 495 (BKA S. 64). Eine Dissertation über die Kriminalität der homosexuellen Unzucht im Landgerichtsbezirk Hagen in den Jahren 1914 bis 1947 kam zu dem Ergebnis, daß der Höhepunkt der Delikte im Juli mit 12,3% lag, gefolgt

vom Juni mit 10,3% und dem August mit 10,0%. Der Monat mit der niedrigsten Zahl war der Februar mit 6,0% (v. Hentig I S. 149). Eine Untersuchung von Kuhn über das „Phänomen der Strichjungen in Hamburg" fand kein steiles Ansteigen der Festnahmen in den Frühlingsmonaten, sondern ein periodenmäßiges Anund Abschwellen der Jahreskurve, die im Juli und August ihre Gipfelpunkte hatte. In der kalten Jahreszeit war kein großer Rückgang zu verzeichnen, der November stand an dritter und der Februar an vierter Stelle in der Zahl der Festnahmen (S. 90—91). In diesem Verlauf der Kurve Kuhns ist schon der Übergang zum Rhythmus der Vermögenskriminalität und zu der Bewegung der von dem Einfluß der Jahreszeiten weniger abhängigen Kriminalität sichtbar. Für den schweren und einfachen Diebstahl gab es 1961 in der BRD im Oktober einen Höhepunkt mit 80538 Anzeigen, gefolgt vom November mit 80256 Anzeigen. Die Monate März, August und September bleiben nicht wesentlich unter diesen Zahlen. Der niedrigste Monat ist der Januar mit 68108 Anzeigen (BKA S. 70). Dagegen ergab eine Untersuchung über die Diebstahlskriminalität im Bezirk des Amtsgerichts Remscheid für die Jahre 1938 bis 1948 den Höhepunkt der Kurve für den einfachen und schweren Diebstahl nicht für die Herbst-, sondern für die Wintermonate (Dezember bis Februar) mit 22,3% bzw. 26,0% (v. Hentig I S. 156). Sauer verweist auf eine Dissertation von Uphoö aus dem Jahre 1942 über die Kriminalität des einfachen Diebstahls im Amtsgerichtsbezirk Soest: Hier lag der Schwerpunkt der Taten in den Monaten Juni bis September (S. 216). In den USA wurden 1961 im Februar die meisten Einbruchsdiebstähle angezeigt, gefolgt vom Januar. Der Monat mit der niedrigsten Zahl ist der Juni. Für den einfachen Diebstahl liegt der Höhepunkt im August, der Tiefpunkt im Januar (FBI S. 87). Verkko ermittelte aus der finnischen Kriminalstatistik für die Jahre 1934 bis 1938, daß die meisten einfachen Diebstähle nicht im Winter, sondern in den Sommer- und Herbstmonaten begangen wurden (Hurwitz S. 248). Verschiedene neuere Untersuchungen befassen sich mit dem Kfz-Diebstahl, wobei auch der Gebrauchsdiebstahl eingeschlossen ist. 1961 wurden in der BRD im März 10759 Fälle gemeldet, gefolgt vom Oktober mit 10705. Im Dezember waren es dagegen nur 8333 (BKA S. 71). Jansen untersuchte die Kriminalität des Autodiebstahls im Amtsgerichtsbezirk Duisburg für die Jahre 1954 bis 1956 und fand einen „markanten Anstieg der Autodiebstahlskriminalität in Höhe von 38% in der Jahreszeit des Spätherbstes und des Winters gegenüber der übrigen Jahreszeit. Insoweit ist hier eine große Ähnlichkeit mit der Kriminalitätskurve bei

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Natürliche Umwelt der Gruppe der Vermögensdelikte festzustellen" (S. 32). Dieser Feststellung stellt das andere Ergebnis Jansens gegenüber, daß die meisten Autodiebstähle aus dem Motiv der „Autonarrheit", der Freude an der Geschwindigkeit und der Abenteuerlust begangen würden, also nicht aus den primären Motiven der Vermögensdelikte (S. 86). Ein Einfluß der Jahreszeit auf Diebstähle aus Narrheit und Abenteuerlust wäre höchstens im Frühjahr denkbar, der Jahreszeit des Kraftüberschusses. Ein derartiger Höhepunkt der Delikte im Frühling ist indessen in der Arbeit Jansens nicht ersichtlich. Mayerhofer berichtete über den Kfz-Diebstahl im Jahre 1958 in Wien und glaubte, keine wesentliche Schwankung zwischen Sommer- und Winterhalbjahr feststellen zu können. „Eine kleine Überhöhung der Zahl der Diebstähle vom Mai bis Oktober gegenüber November bis April bleibt innerhalb des Zufallsbereiches" (S. 13). In den USA wurden 1961 im Oktober und November die meisten Autodiebstähle angezeigt (FBI S. 87). Was den Betrug angeht, so wurden in der BRD 1961 im März 17870 Fälle angezeigt und im November 17261. Im September waren es 15008 (BKA S. 83). Lenz fand in seiner Untersuchung über den Betrogenen einen Höhepunkt der Betrugsanzeigen im Juli mit 13,9%, gefolgt vom Mai mit 13,7%. Der Monat mit der niedrigsten Zahl war der November mit 2,5% (S. 111). Exner fand früher einen Anstieg der Betrugsdelikte im Winter (S. 59); nach Sauer ist, wie schon einmal erwähnt, der Einfluß der Jahreszeiten auf den Betrug unerheblich (S. 215). Lenz tritt dieser Ansicht bei und verweist auf den soziologischen Nivellierungsprozeß, der das Delikt des Betruges von jahreszeitlichen Krisen unabhängig macht (S. 111). Bezüglich der fahrlässigen Tötung ergibt sich aus der Statistik des BKA, daß 1961 in der BRD im Oktober 779 und im September 751 Fälle angezeigt wurden. Die monatliche Schwankung ist auch gegenüber den anderen Monaten nicht sehr erheblich (S. 58). Die meisten dieser fahrlässigen Tötungen geschahen im Straßenverkehr, in dem im Herbst die naturbedingten Schwierigkeiten für den Kraftfahrer wesentlich größere sind als im Sommer. Allgemein fanden Laves u. a. für alle Verkehrsdelikte eine wesentliche Ursache der Unfälle in der Verschlechterung der Straßen- und Sichtverhältnisse im Herbst und Winter (S. 92). In den USA wurden 1961 die meisten Fälle von fahrlässiger Tötung im November und Dezember angezeigt, eine besondere Erklärung hierfür läßt sich nicht geben (FBI S. 87). Aus den vom „National Safety Council" für das Jahr 1961 veröffentlichten „Accident Facts" ergibt sich, daß der Höhepunkt der fahrlässigen Tötungen im Straßenverkehr im Dezember war, 1960 lag der

Höhepunkt im Oktober. Man führt den Höhepunkt im Dezember auf die längere Dunkelheit und den verstärkten Fußgängerverkehr während der Feiertage zurück. Die niedrigsten Zahlen der Verkehrstoten wurden 1960 und 1961 im Februar gemeldet (S. 55). 4. Der Rhythmus der Woche Die Zusammenhänge zwischen dem Ablauf der Woche und der Kriminalität gehören eigentlich nicht zum Thema der natürlichen Umwelt. „Seitdem die Woche sich von dem 28-Tage-Monat abgelöst hat, nicht mehr am ersten jedes Monats beginnt und viermal ihren Weg von Neumond bis zu Neumond wandert, hat sie die physischen Zusammenhänge eingebüßt. Was übrig blieb, war nur soziale Rhythmik, von Menschenhand gebildet, stets einem neuen Eingriff ausgesetzt, wie wir ihn mit der neuen, langen Form des Wochenendes jetzt erleben" (v. Hentig I S. 178). Es ist hinzuzufügen, daß es auch innerhalb der Woche viele künstlich geschaffene, teils religiöse, teils soziale Feiertage gibt, die das Bild vom regelmäßigen Wechsel zwischen Arbeit und Ruhe verschieben. Außerdem werden in unserer Zeit Sonntagsheiligung und Sonntagsruhe oft nicht mehr streng durchgehalten. In einigen Berufen wird gerade am Sonntag sehr viel und sehr streng gearbeitet, so hat das Gaststättengewerbe zum Wochenende Hochbetrieb. Indessen bleiben doch trotz aller Einschränkungen und der Neigung zum Verwischen der scharfen Konturen zwei große Abschnitte bestehen, der der Arbeitstage und der des Wochenendes, Tagen der Entspannung, des Vergnügens, aber auch der starken Aktivität, und voll „freudiger Belebung", die selbst die Polizei ergreift und sie aktiver werden läßt (v. Hentig I S. 183). In den Feiertagen findet eine Hinwendung zum Gemeinschaftsleben statt, insbesondere zum Familienleben. Sexualtrieb und Alkoholkonsum spielen am Wochenende eine große Rolle und verbinden sich zuweilen zum Gewaltdelikt, insbesondere zur Notzucht. So fand Schulz, daß die Zahl der Notzuchtsdelikte am Wochenende eine höhere war als an den übrigen Tagen. Am Sonntag wurden 28,9% der von Schulz untersuchten Notzuchtsdelikte begangen. An zweiter Stelle steht mit 19,7% unerklärlicherweise der Donnerstag. Ihm folgt mit 18,4% der Montag. In der Mehrzahl dieser letzten Fälle wurden die Notzuchtsverbrechen allerdings kurz nach Mitternacht begangen und sind also noch eine Folgeerscheinung des Sonntags (S. 55). Auch die Kinderschändung kulminiert mit 20,6% am Sonntag, gefolgt von 16,4% am Montag (v. Hentig I S . 190). Die von Wegner untersuchten Sittlichkeitsdelikte an Kindern und Jugendlichen wurden am Sonntag mit 34, gefolgt vom Samstag mit 21 und Donnerstag mit 15 Verbrechen be-

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gangen (S. 21). Eine dänische Untersuchung ergab, daß von 1742 Sittlichkeitsverbrechen 35,2% am Wochenende begangen wurden, Notzucht wurde in 27% der Fälle am Samstag verübt (BauerS. 95). Es war früher eine der anscheinend am stärksten gesicherten Aussagen der Kriminologie, daß Körperverletzungen am Sonntag kulminieren. So schrieb Mezger, die „Samstag-Sonntag-MontagKurve der Körperverletzungen" habe eine gewisse Berühmtheit erlangt (S. 206). Es wurde in diesem Zusammenhang stets auf die Wirkung des Alkoholkonsums und auf den Wirtshausbesuch verwiesen; v. Hentig bringt die Ergebnisse dreier früherer Arbeiten über die Verteilung von Körperverletzungen unter Alkoholeinfluß auf die Wochentage. Im Landbezirk Heidelberg wurden von 1175 Fällen 45,0% am Sonntag begangen, am Montag waren es 16,3%, an Festtagen 11,2%, am Samstag (noch Arbeitstag I) 8,4%. Der Tag mit der niedrigsten Zahl (5,5%) war der Donnerstag. In den anderen beiden Arbeiten stand ebenfalls der Sonntag mit 35,1% und 27,7% an der Spitze der Tage der Woche. 1900 bis 1904 wurden 66,5% aller Rohheitsdelikte im Wirtshaus begangen (v. Hentig I S. 185). Die neuere Untersuchung von Scholz ergab dagegen, daß in der Stadt die Zahl der Körperverletzungen am Sonntag sogar ein wenig abnahm. Auf dem Land ist hingegen die Kurve der Körperverletzungen mit ihrem Höhepunkt zum Wochenende die gleiche wie früher geblieben. Scholz weist sehr richtig auf die größere Unbeeinflußbarkeit der Städter durch Faktoren der natürlichen Umwelt hin (S. 84). Das Gesetz des Ausgleichs wirkt stärker und früher in der Stadt als auf dem Lande. Teilweise fährt man zum Wochenende auch aus der Stadt auf das Land, so daß für das Land eine unechte zahlenmäßige Belastung entstehen kann. Die moderne Welle des Fernsehens hat zudem zu einer starken Erhöhung des Alkoholkonsums im Hause geführt und dem Wirtshausbesuch Abbruch getan. Wie sehr auch äußere Umstände und äußere Regelungen die Kriminalitätskurve beeinflussen können, zeigt das norwegische Beispiel; früher war in den norwegischen Städten der Alkoholausschank von Samstag nachmittag bis Montag früh verboten, und dadurch wies der Sonntag die geringste Kriminalitätsziffer der ganzen Woche auf. In den norwegischen Landgemeinden erreichte dagegen die Zahl der unter dem Einfluß von Alkohol begangenen Körperverletzungen zum Wochenende ihren Höhepunkt (Seelig S. 177). Im übrigen wirkt der Wochenrhythmus nur auf die primitivere Kriminalität und auf Täter, die dazu neigen, allen Reizen nachzugeben, und ζ. B. den empfangenen Wochenlohn sofort in Alkohol umsetzen. Die schwerere Kriminalität, insbesondere die der Intelligenzdelikte, wird von diesem Rhythmus nicht oder kaum berührt (Sauer S. 219).

Während die Kriminalität der Körperverletzungen in Verbindung mit Alkoholgenuß allmählich zurückgeht, hat sich an ihre Stelle die Alkoholkriminalität im Bereich der ->- Verkehrsdelikte gesetzt. Ich selbst habe 600 Fälle von Trunkenheit am Steuer (mit und ohne Unfall) untersucht und fand, daß die 600 Täter zu 21,0% ihre Delikte am Samstag begingen, gefolgt von 15,6% am Sonntag und 15,2% am Freitag. Der Dienstag war mit 10,6% der Tag mit der niedrigsten Deliktsquote. Betrachtet man die Zeit des Wochenendes, d. h. von Freitag 17 Uhr bis Montag 8 Uhr zusammen, so begingen in dieser Zeit 278 Täter (46,3%) ihre Delikte (II S. 32). Händel kam in einer Arbeit über „Jugend im Straßenverkehr" zu einem ähnlichen Ergebnis: Von 367 Kraftfahrern unter Alkoholeinfluß wurden 61 zwischen Samstag 21 Uhr und Sonntag 6 Uhr angetroffen, es folgt die Nacht von Sonntag auf Montag mit 53. Die Nacht mit der niedrigsten Zahl ist die von Dienstag auf Mittwoch mit 8 (S. 46). Müller untersuchte tödliche Verkehrsunfälle im Saargebiet in den Jahren 1955 bis 1957 und fand, daß 49% am Samstag und Sonntag geschahen (S. 103). (Siehe auch Laves u. a. S. 96.) In den USA passierten 1961 am Samstag 21% aller tödlichen Verkehrsunfälle, am Sonntag waren es 18%, am Dienstag und Mittwoch nur je 11%. An den gesetzlichen Feiertagen „Memorial Day", 4. Juli, „Labor Day" und Weihnachten und Neujahr geschahen 450 tödliche Verkehrsunfälle, ein großer Teil dieser Unfälle wird sicher mit Alkoholgenuß in Verbindung gestanden haben (Accident Facts S. 55—56). Für die Jugendkriminalität in London bringt v. Hentig einige Zahlen; die meisten Delikte wurden am Sonntag mit 23,8% begangen, gefolgt von 21,3% am Samstag. Am Montag waren es nur 8,3% (I S. 184). Für die Mord- und Totschlagskriminalität gelten die Erhöhung der Zahlen zum Wochenende und die Verbindung mit dem Alkohol ebenfalls (Blühm 5. 42). Auch Brückner berichtete, daß fast zwei Drittel der Konfliktsmorde in der Zeit von Samstag bis Montag verübt wurden. Bei den Gewinnund Deckungsmorden war es etwa die Hälfte. Es mag sein, daß dieser Unterschied darauf beruht, daß viele Konfliktsmorde Folge einer „Aussprache" waren, zu der man häufig das Wochenende wählte (S. 26). v. Hentig führt eine frühere Untersuchung aus Sachsen an: Von 207 Verbrechen, die im Verlauf von 6 Jahren vor dem Schwurgericht verhandelt wurden und denen Menschenleben zum Opfer fielen, wurden 131, d. h. 63%, an Sonn- und Feiertagen verübt, 175, d. h. 84% in Wirtshäusern, in deren nächster Umgebung und auf dem Heimwege. Eine englische Untersuchung, die ebenfalls bei v. Hentig angeführt wird, ergab einen Höhepunkt der Mordkriminalität am Samstag mit

Natürliche Umwelt 39 Fällen, gefolgt vom Donnerstag mit 33 Fällen. Am Sonntag waren es dagegen nur 25 (I S. 186). Auch in seiner Monographie vom Mord verweist v. Hentig auf die zahlenmäßige Belastung des Samstags und meint, es bestehe eine Neigung, in der Statistik im Zweifelsfall den Festtag zu entlasten, nämlich dann, wenn ein Mord kurz vor oder kurz nach Mitternacht verübt worden sein kann (III S. 8B). Die Opfer, die Wolfgang untersuchte, wurden — sowohl Weiße wie auch Neger —· in den meisten Fällen am Samstag getötet, die Weißen zu 21,7%, die Neger sogar zu 35,6%. Der Tag mit der niedrigsten Quote ist für Weiße der Dienstag mit 9,3%, für Neger der Donnerstag mit 5,9% (v. Hentig I S. 187). Von den von Bensing und Schroeder untersuchten 652 Tötungsdelikten geschah ebenfalls der größte Teil, nämlich 176 oder 27%, am Samstag. Am Sonntag wurden 128 und am Freitag 102 Delikte verübt (S. 8); zu demselben Ergebnis, nämlich der starken Belastung des Samstags und überhaupt des Wochenendes, kamen frühere amerikanische Untersuchungen, die von Macdonald angeführt werden (S. 9). Von Finnland berichtete Verkko, daß sich die Mordtaten mehr oder weniger gleichmäßig über die Woche verteilten und daß die Totschlagstaten am Sonntag ihren Höhepunkt erreichten, gefolgt von Samstag und Montag (Hur wit ζ S. 251). ν. Hentig hat für die USA die Zahlen der Selbstmorde für die Jahre 1897 bis 1901, verteilt auf die Wochentage, zusammengestellt, und fand bei den Männern den Höhepunkt am Montag und bei den Frauen am Sonntag, dem allerdings der Montag ganz knapp folgte (I S. 188). In der Statistik des FBI findet sich für das Jahr 1961 eine Zusammenstellung der Wochentage, an denen in den USA im Monat Oktober Einbruchsdiebstähle begangen wurden. Der Sonntag ist mit 16,5% am stärksten belastet, gefolgt vom Montag mit 14,8% (S. 89). Dagegen wurden nach einer Untersuchung von Recken über das Delikt des Betruges in Krefeld 1945 bis 1951 am Samstag mit 17,9% die meisten Betrügereien begangen, gefolgt vom Freitag mit 17,7%. Der Tag mit der niedrigsten Ziffer war der Sonntag mit 8,4%. v. Hentig meint, der zum Wochenende ruhende Geschäftsverkehr erkläre nicht ganz die niedrige Zahl für den Sonntag, denn das Opfer sei gerade am Wochenende leichter als sonst zu täuschen und sei müde (I S. 190). Jansen fand einen Anstieg der Autodiebstahlskriminalität zum Wochenende mit dem Höhepunkt in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Einen Zusammenhang mit Alkoholkonsum hat er indessen nicht feststellen können (S. 35—36). Für Wien stellte Mayerhofer eine gleichbleibende Häufigkeit der Kraftfahrzeugdiebstähle von Montag bis Donnerstag und den Höhepunkt für Freitag

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fest, der „für viele der Tag der Auszahlung und eines damit verbundenen Alkoholgenusses" ist. Samstag und Sonntag sanken die Zahlen allmählich ab (S. 12). Allgemein ist somit die Schlußfolgerung erlaubt, daß das arbeitsfreie Wochenende die stärksten Anreize zur Begehung von Straftaten bietet, der Zusammenhang mit dem Genuß von Alkohol ist bei den meisten Delikten offensichtlich gegeben. 5. Die

Tagesseiten

Alle Menschen unterliegen einem Rhythmus, der ihren Tag in viele Teile zerlegt, deren größte sich mit Wachen und Schlafen bezeichnen lassen. Diese natürlichste aller Einteilungen in Tag und Nacht ist jedoch oft künstlich verändert, ζ. B. durch die schon erwähnte Schichtarbeit. Im letzten Kriege wurde durch den Bombenkrieg die Nacht vielfach zum Tage und verlangte die Anspannung aller Kräfte. Am frühen Abend mußte schon verdunkelt werden, und die Nacht wurde so künstlich vorverlegt. Aus England wurde hierzu berichtet, Hunderte von Deserteuren, die auf ehrliche Weise wegen der Rationierung weder Nahrung noch Kleidung erhalten konnten, seien wie Wölfe über die Stadt hergefallen und zum Angriff auf jedes nur denkbare Objekt übergegangen. Im Londoner Westend machte sich eine Seuche von nächtlichen Handtaschenräubereien breit. In verdunkelten Straßen wurden Fensterscheiben eingeschlagen und die Auslagen von Geschäften geraubt (v. Hentig I S. 165). Eine Reihe von Delikten wird häufig nachts begangen, teils weil vom Täter der Schutz der Dunkelheit gesucht wird — wie bei Überfällen, Diebstählen, Räubereien und Einbrüchen — teils weil die Delikte, wie ζ. B. Überfälle auf Nachtportiers, wie auch ein Teil der Diebstähle, des Raubes und der Erpressung, im Zusammenhang mit dem Sexualleben stehen, das sich hauptsächlich nachts abspielt (v. Hentig I S. 166). Tagsüber werden vorwiegend Betrug, Unterschlagung und Urkundenfälschung, sowie ein großer Teil der Verkehrsdelikte begangen (Sauer S. 221). Die Tageszeit ist oft in Verbindung mit dem Wochenende bedeutsam. An vielen Orten sind am Mittwoch nachmittag die Geschäfte geschlossen, auf der anderen Seite sind diese an einigen Samstagen geöffnet. Im Zusammenhang mit der Geschäftszeit verschiebt sich auch die Stunde der größten Verkehrsdichte und damit auch die Stunde der meisten Unfälle. In Finnland wurden Gewaltdelikte vorwiegend am späten Abend begangen, Totschlagsdelikte in den Stunden von 18 bis 9 Uhr, Morde am Morgen und während der Tageszeit (Hurwitz S. 252). Die Verteilung einiger Delikte auf die Tagesstunden hängt mit den Gewohnheiten des Alkohol-

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genusses eng zusammen. In Denver erfolgte in den Jahren 1937 bis 1940 die größte Zahl der Festnahmen wegen Trunkenheit in den Stunden zwischen 22 u n d 24 Uhr, gefolgt von den Stunden 20 bis 22 Uhr. Dementsprechend lag auch der Höhepunkt der Festnahmen wegen Körperverletzungen in den zwei Stunden vor Mitternacht (v. Hentig I S. 169). Deutsche Untersuchungsergebnisse entsprechen den amerikanischen Erfahrungen. Scholz fand, daB die Kurve der vorsätzlichen Körperverletzungen ebenfalls am Abend anstieg. Besonders charakteristisch ist der Verlauf seiner Kurve der Körperverletzungen unter Alkoholeinfluß. Diese Kurve steigt nach 18 Uhr steil an bis zum Höhepunkt zwischen 0 u n d 2 Uhr. „Interessant hierbei ist, daß die Körperverletzungen unter Alkohol in der Stadt vor Mitternacht gleichmäßig zunehmen und nach Mitternacht ebenso gleichmäßig wieder abnehmen, während die Zahl der Körperverletzungen unter Alkohol auf dem Lande vor Mitternacht noch unter der Zahl für die Stadt bleibt, dann aber in der Zeit von 0.00 bis 2.00 plötzlich auf das Dreifache ansteigt und die Ziffer der Stadt weit überflügelt. Auch hier scheint die Landbevölkerung die größere Ausdauer zu haben. — Es zeigt sich also, daß der Alkohol seinen schädlichen Einfluß vor allem in der Zeit nach 22.00 ausübt. Würden die Gasthäuser um 24.00 geschlossen werden, so würden sehr viele Körperverletzungen nicht verübt" (S. 90). Blühm ermittelte den Höhepunkt der Totschlagskriminalität in der Zeit von 0 bis 2 Uhr und brachte diesen Höhepunkt ebenfalls in Verbindung mit dem Genuß von Alkohol, Dunkelheit und Konfliktsmöglichkeiten. Für die Mordtaten ermittelte Blühm den Höhepunkt der Kurve f ü r die Stunden 22 bis 24 Uhr (S. 43—44). v. Hentig gab für Morde in Deutschland im Jahre 1931 als die Zeit der häufigsten Begehung die Stunden zwischen 18 und 20 Uhr an, insbesondere gilt dies f ü r die Fälle, in denen Frauen die Opfer waren. Es folgen die Stunden von 22 bis 24 Uhr ( I I I S. 84). An anderer Stelle bringt v. Hentig die Zahlen der Morde f ü r Großbritannien für 1901 bis 1905 und von einem Distrikt der USA, Alleghany County, Pennsylvania, für 1905 bis 1940. In beiden Berichtsbezirken stehen die zwei Stunden vor Mitternacht an der Spitze der Kurve (I S. 176). Nach Wolfgangs Untersuchung über die Tageszeit, in der in Philadelphia die -»• Tötungsverbrechen verübt wurden, wurden 42,4% der weißen Männer u n d 53,5% der Neger in der Zeit zwischen 20 Uhr u n d 1.59 Uhr getötet. Für die weißen Frauen ist der Prozentsatz in derselben Zeit 30,2%, für die Negerfrauen 54,2% (S. 108). Nach Macdonald sind die 12 Stunden zwischen Samstag 18 Uhr und Sonntag 6 Uhr die gefährlichsten der ganzen Woche (S. 9). In Cleveland, Ohio, ge-

schahen 23,3% der Tötungsdelikte zwischen 21 u n d 24 Uhr (Bensing/Schroeder S. 11). Bei der Ermittlung der Tageszeit, in der die meisten Notzuchtsdelikte begangen wurden, t r e n n t Schulz zwischen Taten in den Sommer- u n d solchen in den Wintermonaten. I m Sommer wie im Winter sind die Stunden zwischen 22 und 24 Uhr a m stärksten belastet, in den Sommermonaten folgt dann die Zeit von 20 bis 22 Uhr, in den Wintermonaten dagegen die Zeit von 0 bis 2 Uhr (S. 57 bis 58). Die Sittlichkeitsdelikte an Kindern und Jugendlichen werden nach Wegner zu 38,6% in der Zeit zwischen 16 u n d 19 Uhr begangen. „Die Heimkehr von der Arbeit und der Feierabend bieten besonders günstige Gelegenheiten für die Ausführung der Tat" (S. 21). Der Höhepunkt der Einbruchskriminalität lag nach den von v. Hentig aus Denver übermittelten Zahlen zwischen 2 und 4 Uhr nachts. Die Einbrüche richteten sich hauptsächlich gegen Banken, Lagerhäuser und Geschäfte. Ein zweiter Höhep u n k t lag zwischen 16 u n d 18 Uhr, einer Zeit, in der viele Wohnhäuser leer und unbewacht sind, da die erwachsenen Familienmitglieder sich a m Arbeitsplatz in der Stadt befinden und die schulpflichtigen Kinder noch nicht nach Hause zurückgekehrt sind (v. Hentig I, S. 170). Der Höhepunkt der Raubkriminalität liegt v o r Mitternacht, zu einer Zeit also, in der viele Menschen auf dem Heimweg sind, die zudem vielleicht getrunken haben und deshalb wehrloser sind (v. Hentig I S . 170, siehe auch Kaplan S. 165). Die Kurve des einfachen Diebstahls erreicht ihren Höhepunkt früher, nämlich, wie v. Hentig f ü r Denver ermittelte, zwischen 16 und 18 Uhr, wenn die Menschen nach der Arbeit müde u n d erschöpft nach Hause gehen (I S. 169). Kaplan gibt als Höhepunkt der Diebstahlskurve die Zeit von 20 bis 22 Uhr an (S. 165). Nach Jansens Ergebnissen wurden 98% aller Autodiebstähle unter dem Schutz der Dunkelheit begangen (S. 33), in Wien lag der Höhepunkt der Diebstähle von Kraftfahrzeugen zwischen 21 und 22 Uhr, eine weitere Spitze wurde gegen Mitternacht erreicht (Mayerhofer S. 11). Für die Verkehrsübertretung des zu schnellen Fahrens gibt v. Hentig für Denver den Höhep u n k t in der Zeit zwischen 16 und 18 Uhr an, was wiederum mit dem Nachhauseweg von der Arbeit zusammenhängt (I S. 169). Von meinen 600 Alkoholtätern begingen 9,5% ihre Tat zwischen 20 und 21 Uhr, an zweiter Stelle folgen die Zeiten 19 bis 20 Uhr mit 8,5% u n d 1 bis 2 Uhr mit ebenfalls 8,5%. Als Erklärung hierfür kann dienen, daß zwischen 20 u n d 21 Uhr die „Feierabendtrinker" nach Hause fahren, während der Höhepunkt nach Mitternacht mit der Polizeistunde, also der Schließung der Gaststätten, zusammenhängt. Zu dieser Zeit fahren die „Aus-

Natürliche Umwelt gehtrinker" nach Hause (II S. 32). Händel ermittelte für seine 367 Kraftfahrer den Höhepunkt der Trunkenheit am Steuer (58%) zwischen 21 und 6 Uhr (S. 46). Müller gibt in seiner Untersuchung über die tödlichen Unfälle unter dem Einfluß von Alkohol die Spitzen mit je 8,2% für die Stunden 19 bis 22 Uhr und 2 bis 3 Uhr an (S. 106). Der Höhepunkt der Jugenddelinquenz lag in London nach einer Angabe von v. Hentig mit 23,1% zwischen 16 und 17 Uhr. 40% dieser Vergehen waren kleine Diebstähle aus offenen Auslagen (I S. 172). 6. Natur als Tatort Es ist eines der vielen Verdienste v. Hentigs, auf die Bedeutung der „Natur als Tatort" eindringlich hingewiesen zu haben. Der Tatort ist „Kontaktpunkt menschlicher Verflochtenheiten" (I, S. 426). v. Hentig behandelt in dem Kapitel über den Tatort Wasser, Berge und Wald (I S. 409ff.). Das Wasser ist zugleich Instrument, Tatort und Versteck des Mordes wie des Selbstmordes und diente früher auch zum Vollzug der Todesstrafe. Der Absturz vom Berg kann ebenfalls Mord, Selbstmord oder Vollzug der Todesstrafe bedeuten. Der Absturz kann von der Steilküste wie auch im Gebirge erfolgen. Die Abgrenzung zwischen Mord und Selbstmord kann u. U. sehr schwierig sein, bei allen „Bergunfällen" ist Vorsicht geboten. Versicherungsgesellschaften schenken derartigen „Unfällen" ihre besondere Aufmerksamkeit. Ebenso ist es die Aufgabe der Polizei und der Justiz, den Versich erungsverhältnissen der Opfer derartiger „Unfälle" nachzugehen. Der Wald ist „das ausgesprochenste Abbild der freien Natur, in der andere Menschen nicht mithören oder mitsehen, die den Schutz der menschlichen Gemeinschaft aufhebt und seine Geheimnisse wohl bewahrt" (v. Hentig I I I S. 94). An anderer Stelle nennt v. Hentig den Wald „den geborenen Tatort, zumal wenn er gebirgig, weit ausgedehnt und mit Gestrüpp oder Schonungen durchsetzt ist" (III S. 98). Der Wald ist vielfach Tatort der Notzucht, der Kinderschändung, exhibitionistischer Akte und homosexueller Exzesse. „Sehr bedeutend muß die Anzahl der Fälle sein, die nicht zur Anzeige kommen" (v. Hentig I S. 422.). Eine neue Bedeutung hat der Wald durch das Auto und die Verbindung mit der Autobahn erhalten, die durch den Wald führt. „Die Waldbestände an der Autobahn geben neue Rätsel auf" (v. Hentig I S. 428). Dem Wald ähnlich ist der dichte Park, der, wie der Central Park in New York, zum undurchdringlichen Dschungel werden kann, in dem jugendliche Banden ihr Unwesen treiben. Blühm fand, daß zwei Drittel der Morde im Freien begangen wurden, während beim Totschlag die Mehrzahl der Täter ihre Taten in geschlossenen

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Räumen beging (S. 37). Von den von Brückner untersuchten Morden wurden dagegen nur 42,9% im Freien und 57,1% in bedeckten oder umschlossenen Räumen verübt (S. 27). v. Hentig hat noch ein anderes Phänomen menschlicher Entwicklung untersucht, das sich unter dem Einfluß des Tatortes und der Landschaft vollzog, nämlich den Prozeß der Rebarbarisierung, der Dezivilisation des Menschen im 19. Jahrhundert in der Wildnis des amerikanischen Westens, in Steppen, Wüsten und Gebirgen, v. Hentig schildert das Problem der „rückläufigen Anpassung" des Desperados, ausgehend von den Erfahrungen mit der Reversion der Tiere, die in die Wildnis entlaufen. So schildert schon Jack London, wie zahme Hunde im eisigen Norden im unerbittlichen Kampf ums Dasein zu wilden Tieren werden, und v. Hentig überträgt diese Erfahrungen auch auf den Menschen. „Könnte es sein, daß der Desperado in einer anderen Art der , Wildnis' ähnliche Rückbildung erleidet ? Sind auch im Menschen Mechanismen verrohender Umsteuerung verborgen angelegt, die in Not und Lebensgefahr von den Toten heraufgerufen werden können?" (II S. 214). v. Hentig schildert im einzelnen die Züge, die die Primitivierung des Menschen kennzeichnen, wie die erhöhte Lebenskraft, die sich sehr viel später auch bei den amerikanischen Gangstern in den großen Städten zeigte, die Unempfindlichkeit für Schmerz, die Angewohnheit, langes Haar zu tragen, und die Neigung zur Polygamie (II S. 217ff.). In ganz abgelegenen Gegenden des amerikanischen Westens hat sich die Polygamie bis heute erhalten; wie weit heute aber neben den vorherrschenden religiösen Beweggründen die wüsten- und wildnisartige Landschaft noch einen Einfluß auf das Verhalten der Menschen auszuüben vermag, kann nur sehr schwer entschieden werden (Siehe Middendorff V). Auf der Grenze zwischen natürlicher und künstlicher Umwelt liegt der Tatort der „Grenze". Manche Grenzen sind willkürlich gezogen, sind nur von kurzer Dauer und kriminologisch nur zeitweise, beispielsweise bei großem Preisgefälle zwischen zwei Staaten, von Interesse, wenn dieses Preisgefälle zu lebhaftem Schmuggel führt. Andere Grenzen sind in dem Sinne „natürlich", daß sie Völker, Rassen, Kulturen und Traditionen trennen, wie dies an der Grenze zwischen den USA und Mexiko der Fall ist. An der Nahtstelle dieser so gegensätzlich gearteten Länder ist eine kriminologisch wichtige und interessante Situation entstanden. Zu den hier häufig begangenen Delikten gehören Abtreibung, illegaler Grenzübertritt, Warenschmuggel und Rauschgifthandel. 1954 wurden nach einer Zusammenstellung des Zollamtes von El Paso, Texas, neben anderen Rauschgiften allein 1173 Pfund Marihuana beschlagnahmt, eine Menge, die für eine Million Zigaretten ausreicht. Man schätzt aber, daß nur 2 bis 6 Pro-

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Natürliche Umwelt — Ordnungswidrigkeiten K. H ä n d e l : Jugend im Straßenverkehr. I960. W. J a n s e n : Der Autodiebstahl. Untersuchungen im Amtsgerichtsbezirk Duisburg in den Jahren 1954 bis 1956. I960. Ε. H. S u t h e r l a n d , D. R. C r e s s e y : Principles of Criminology. 5. Aufl. Chicago I960. G. B r ü c k n e r : Zur Kriminologie des Mordes. 1961. J . H e l l m e r : Der Gewohnheitsverbrecher und die Sicherungsverwahrung 1934—1946. 1961. H. v. H e n t i g : Das Verbrechen. I. Der kriminelle Mensch im Kräfteepiel von Zeit und Raum. 1961. (I) E . L e n z : Der Betrogene. Eine kriminologische Untersuchung. 1961. J . M a c d o n a l d u . a . : The Murderer and his Victim. Springfield, Iii. 1961. C. M e y e r h o f e r : Der Kraftfahrzeugdiebstahl und verwandte Delikte. Wien 1961. Έ. M e y e r , E. J a c o b i : Typische Unfallursachen im deutschen Straßenverkehr. Ihre Bekämpfung als Aufgabe für Gesetzgebung, Polizei und Justiz. Hrsg. v. Kuratorium „Wir und die Straße". Bd. I I I . 1961. W. M i d d e n d o r f f : 600 Alkoholtäter. Ein Beitrag zur Kriminologie der Verkehrsdelikte. 1961 (II). E. M ü l l e r : Der tödliche Verkehrsunfall. 1961. N a t i o n a l S a f e t y C o u n c i l (Hrsg.): Accident Facts. Ausg. 1962. Chicago, Hl. Η. A. B l o c h , G. G e i s : Man, Crime and Society. The Forms of Criminal Behavior. New York 1962. B u n d e s k r i m i n a l a m t W i e s b a d e n : Polizeiliche Kriminalstatistik. 1962. F e d e r a l B u r e a u of I n v e s t i g a t i o n ( H r s g . ) : FBICrime in the United States. 1962.

zent der tatsächlich geschmuggelten Mengen beschlagnahmt werden. (Hierzu Middendorff III S. 219—220 und Graue.) Monographien G. T a r d e : La Criminality Comparie. 8. Aull. Paris 1924. W. H e l l p a c h : Geopsyche. 6. Aufl. Leipzig 1939. Ξ . y. H e n t i g : The Criminal and his Victim. Studies in the Sociobiology of Crime. New Haven 1948. (IV) Γ. E i n e r : Kriminologie. 2. Aufl. 1949. A. J . T o y n b e e : Studie zur Weltgeschichte. Wachstum und Zerfall der Zivilisation. 1949. W. S a u e r : Kriminologie als reine und angewandte Wissenschaft. 1950. E. U e z g e r : Kriminologie. Ein Studienbuch. 1951. E. S e e l i g : Lehrbuch der Kriminologie. 2. Aufl. 1951. St, H u r w i t z : Criminology. London, Kopenhagen 1952. A. W e g n e r : Die Sittlichkeitsdelikte an Kindern und Jugendlichen in der Nachkriegszeit. Dargestellt an der Kriminalität im Landgerlchtsbezirk Bonn. 1953. W. H e l l p a c h : Einführung in die Völkerpsychologie. 3. Aufl. 1954. H. v. H e n t i g : Der Desperado. Ein Beitrag zur Psychologie des regressiven Menschen. 1956. (II) Ders.: Zur Psychologie der Einzeldelikte. II. Der Mord. 1956 ( I I I ) . W. L a v e s u . a . : Der Straßenverkehrsunfall. U r s a c h e n Aufklärung — Beurteilung. 1956. F. B a u e r : Das Verbrechen und die Gesellschaft. 1957. G. K u h n : Das Phänomen der Strichjungen in Hamburg. Schriftenreihe des Bundeskriminalamtes Wiesbaden. 1957/2. H. B l ü h m : Die Kriminalität der vorsätzlichen Tötungen. 1958. G. L u t h e r : Das italienische Jugendstrafrecht und Jugendfflrsorgerecht in rechtsvergleichender Sicht. 1958. P. S c h o l z : Motive nnd Ursachen bei Körperverletzungen. 1958. G. S c h u l z : Die Notzucht. Täter-Opfer-Situationen.1958. Μ. E. W o l f g a n g : Patterns in Criminal Homicide. Philadelphia 1958. Η . Ε. B a r n e s , Ν. Κ. T e e t e r s : New Horizons In Criminology. 3. Aufl. Englewood Cliffs, N. J . 1969. W. M i d d e n d o r f f : Soziologie des Verbrechens. Erscheinungen und Wandlungen des asozialen Verhaltens. 1959 (I). R. C. B e n s i n g , 0 . S c h r o e d e r : Homicide in an Urban Community. Springfield, Iii. I960.

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Ο ORDNUNGSWIDRIGKEITEN 1. Begriff

und

Abgrenzung

Das Bundesgesetz über Ordnungswidrigkeiten vom 25. März 1952 (OWiG) bestimmt den Begriff der Ordnungswidrigkeiten in formaler Weise: Ordnungswidrig ist eine durch ein besonderes Bundesgesetz mit einer Geldbuße bedrohte — unrechtmäßige, vorwerfbar begangene — Handlung. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Handlung a u s s c h l i e ß l i c h mit Geldbuße bedroht ist („reine" Ordnungswidrigkeit) oder ob das Gesetz Geldbuße „wahlweise" neben Kriminalstrafe an-

droht und die zuständige Behörde an Hand einer gesetzlichen allgemeinen Richtlinie (sog. Mischformel) im Einzelfall entscheidet, ob die Tat eine Ordnungswidrigkeit ist (Mischtatbestand). Bei dieser Technik des Gesetzes ist zugleich der Unterschied zwischen der Geldbuße und der Kriminalstrafe (Geldstrafe) formal festgelegt. Nur wo das Gesetz den Begriff „Geldbuße" verwendet, beschreibt der gesetzliche Tatbestand eine Ordnungswidrigkeit. Die formale Begriffsbestimmung gilt entsprechend für das Landesrecht. Die Landesgesetze verweisen auf das OWiG und übernehmen es für die jeweilige Ordnungswidrigkeit als Landesrecht; in den Ländern Hamburg und Bremen

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Ordnungswidrigkeiten gelten eigne Gesetze über Ordnungswidrigkeiten; sie sind im Prinzip dem OWiG nachgebildet. Gibt das positive Recht bei Bund u n d Ländern keine ausdrückliche Vorschrift, die Ordnungswidrigkeit und S t r a f t a t in materieller Hinsicht unterscheidet und abgrenzt, so lassen doch viele Gesichtspunkte eine nicht nur formale Unterscheidung erkennen. Sachlichrechtlich u n d verfahrensrechtlich ist die Ordnungswidrigkeit gegenüber der S t r a f t a t vielfach privilegiert. Erst auf dem Boden einer materiellen Unterscheidung zeigt sich die kriminalpolitische Zielsetzung, die bei der Einführung der Ordnungswidrigkeiten und ihrer Ausscheidung aus dem Strafrecht maßgebend war. Die Geldbuße ist zwar — wie die Strafe — die staatliche Reaktion auf begangenes Unrecht; sie ist kein bloßes Beugemittel, das wie die Zwangsmittel des Verwaltungsrechts, die ausschließlich auf die Durchsetzung eines Gesetzes oder Verwaltungsbefehls gerichtet sind, nur künftigen Gehorsam erzielen will. Zwischen der Kriminalstrafe und der Geldbuße besteht jedoch ein sachlicher Unterschied. Über die Merkmale der Unterscheidung im einzelnen gehen die Meinungen auseinander, insbesondere darüber, ob sie zu einem wesensmäßigen (qualitativen) Unterschied führen oder zu einem gradmäßigen (quantitativen). Die herrschende Meinung sieht in der Ordnungswidrigkeit u n d Geldbuße ein „aliud" gegenüber der S t r a f t a t und der Kriminalstrafe. Beide Auffassungen aber messen den Unterschied, das wesensmäßig Andere und das gradmäßig Mindere, an gleichen Merkmalen: teils an dem Rechtsgut, das geschützt werden soll, teils an der sozialethischen Bedeutung der Tat, wobei allerdings das Rechtsgut und der Grad seiner Gefährdung wiederum Bedeutung haben. Die Verletzung wesentlicher Gemeinschaftsgüter des Einzelnen oder der Gesamtheit ist strafb a r ; die Ordnungswidrigkeit h a t n u r Raum, wo ein „Verwaltungsgut" berührt ist, namentlich bei Verstößen gegen Vorschriften und Verwaltungsbefehle, die allein dem reibungslosen Ablauf der Verwaltung oder dem äußeren Zusammenleben in der Gemeinschaft dienen. Von dort aus zeigt sich die Strafe als Reaktion auf sittlichverwerfliches Tun, während die Geldbuße der Ahndung sittlich indifferenten Verwaltungsungehorsams dient. Strafe ist Sühne, Geldbuße ist „Pflichtenmahnung". S t r a f t a t ist sozialschädliches Verhalten, Ordnungswidrigkeit nur „lässiges T u n " . H a t das positive Recht die Unterscheidung formalisiert und damit den Theorienstreit überholt, so behält er doch Bedeutung für die Gestaltung der Materie durch den Gesetzgeber, für die Weiterentwicklung des OWiG, insbesondere des Verfahrensrechts. Die von der Wissenschaft erarbeiteten Abgrenzungsgesichtspunkte dienen dem Gesetzgeber als Leitlinie bei der Einordnung der Tat und der Wahl der Sanktion für die jeweilige Materie. Hierbei h a t der Gesetzgeber kein freies

Ermessen. Das Materielle der Unterscheidung, d i e kriminalpolitische Zielsetzung des OWiG ist ihm vorgegeben: Die „Strafe soll nur den unrechtmäßigen Handlungen gelten, die das „ethische P a t h o s " dieser Sanktion verdienen. Dadurch wird das Gewicht der Strafe verdeutlicht, ihre kriminalpolitische Wirkung in den strafwürdigen Fällen erhöht. Wird der Anwendungsbereich der „ S t r a f e " in dieser Weise beschränkt, wird dem Übel der kurzfristigen Freiheitsstrafe entgegengewirkt; die Abschaffung der Haftstrafe in ihrer bisherigen Bedeutung erleichtert. Trotz der ständig steigenden Zahl der strafrechtlichen Nebengesetze wird die unangemessene Ausdehnung des Strafrechts vermieden. Die Gerichte werden von der Flut von Verfahren wegen unbedeutender Zuwiderhandlungen entlastet, für deren Verfolgung das formstrenge gerichtliche Verfahren u n d die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft zu aufwendig sind. Die Praxis lehrt, daß die Gerichte, sind sie für solche „Bagatellfälle" zuständig, zur Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit neigen, wodurch wiederum der Schutz des „Verwaltungsgutes" leidet. Die Zuweisung der Ordnungswidrigkeiten in ein besonderes vereinfachtes Verfahren vor den Verwaltungsbehörden erhöht außerdem die spezialpräventive Wirkung der Geldbuße. Andererseits nützt die Entlastung des Gerichts der Zügigkeit und Gründlichkeit der Verfahren, die echte Straftaten zum Gegenstand haben. „Ohne die Abscheidung der Ordnungswidrigkeiten aus dem kriminellen Strafrecht ist eine vernünftige Kriminalpolitik nicht möglich" (Eberhard Schmidt). 2. Geschichte Die Kenntnis über die Unterscheidung von Kriminalunrecht u n d Ordnungsunrecht ist ebenso alt wie das Bemühen, diese Unterscheidung gesetzlich durchzuführen. Der Gesetzgeber von 1871 h a t — wie die Verhandlungen im Reichstag zeigen — das Problem in seiner ganzen Schärfe gesehen, dennoch bei der Schwierigkeit, die Unterscheidung praktisch zu verwirklichen, die Dreiteilung der Straftaten eingeführt. So werden die „Polizeidelikte" als Übertretungen in das Strafgesetzbuch aufgenommen u n d ebenfalls mit „Straf e " bedroht. Die Entwürfe 1909 u n d 1930 ringen mit dem Problem, bringen aber nur halbe Lösungen. Seit 1922 — Entwurf Radbruch — werden die „Übertretungen" in ein besonderes „ B u c h " des StGB gestellt u n d erhalten einen eigenen „Allgemeinen Teil". Die grundlegenden dogmatischen Untersuchungen von Goldschmidt, die den wesensmäßigen Unterschied von Kriminalstraftat u n d Ordnungswidrigkeit zu begründen versuchen, und von Erik Wolf, die diesen Unterschied von der Schuldseite her ausarbeiten, tragen erst später ihre Früchte. Die gesetzgeberische Entwicklung setzt zunächst auf einigen Nebengebieten an, im

Ordnungswidrigkeiten

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Steuerstrafrecht und in der Sozialversicherung. Die Umstellung der Übertretungsstrafe für Verstöße gegen Polizeiverordnungen in Zwangsgeld durch das pr. PVG 1931 ist ein bedeutender Schritt, obwohl das Wesen dieses Zwangsgeldes als Beugemittel oder Ordnungsstrafe umstritten bleibt. Nach 1933 beginnt auf dem Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts eine Entwicklung, die über mancherlei Fehllösungen schließlich zu dem Wirtschaftsstrafgesetz 1949 und dem OWiG führt. Die Bewirtschaftungsgesetze nach 1933 eröffnen die Möglichkeit, Zuwiderhandlungen mit Ordnungsstrafe zu ahnden, ohne daß jedoch die Straftat von dem Ordnungsunrecht tatbestandlich abgegrenzt wird. Die Verwaltungsbehörden haben die Befugnis, Ordnungsstrafen zu verhängen, wenn an der Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung „kein öffentliches Interesse" besteht. Die rechtsstaatlichen Bedenken gegen eine so unbestimmte Grenzziehung beseitigt das Wirtschaftsstrafgesetzbuch 1949. Es bringt eine formale Abgrenzung und unterscheidet zwischen den „reinen Straftaten" und den „reinen Ordnungswidrigkeiten"; daneben steht die Gruppe der Mischtatbestände, bei denen Kriminalstrafe und Geldbuße alternativ angedroht sind und die Wertung im Einzelfall an Hand einer allgemeinen materiellen Abgrenzungsrichtlinie vorgenommen wird. Diese Richtlinie ist verständlich auf Grund der von Goldschmidt erarbeiteten theoretischen Erkenntnisse; sie beruht auf der Mitwirkung von Eberhard Schmidt an dem Gesetz (sog. Schmidtsche Formel). Die Verfolgung und Ahndung der Ordnungswidrigkeiten liegt ausschließlich in den Händen der Verwaltungsbehörden, die nach einer eigenständigen Verfahrensordnung arbeiten. Die praktische Bedeutung des neuen Wirtschaftsstrafgesetzes blieb bei der fortschreitenden Aufhebung des materiellen Bewirtschaftungsrechts gering. Jedoch ist auf seiner Grundlage das OWiG geschaffen worden. Dieses Gesetz übernimmt die Unterscheidung zwischen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, die materiellen und verfahrensrechtlichen Vorschriften und verallgemeinert sie — als eine Art Rahmengesetz — für den Gesamtbereich des Ordnungsunrechts. 3. Das geltende

Recht

Das OWiG ist ein Rahmengesetz. Es enthält keine Bußgeldtatbestände, auch keine Mischfoimel; vielmehr nur den „Allgemeinen Teil" und die Verfahrensvorschriften. Die Bußgeldvorschriften selbst (Tatbestand und Bußgeldandrohung) finden sich in zahlreichen Gesetzen des Bundes und der Länder, die auf der Grundlage der — vom OWiG vorausgesetzten — Unterscheidung des Kriminalunrechts und Ordnungsunrechts erlassen sind. In seinem Allgemeinen Teil geht das OWiG davon aus, daß die Ordnungswidrigkeit grundsätz-

lich nur bei vorsätzlichem Handeln geahndet werden kann; bei fahrlässigem Handeln muß das besondere Gesetz dies ausdrücklich bestimmen. Das ist in den meisten Fällen geschehen. Auch die Ahndung des Versuches einer Ordnungswidrigkeit soll die Ausnahme bleiben. Den Höchstbetrag der Geldbuße setzt das OWiG auf 1000 DM fest. Die besonderen Gesetze können darüber hinaus gehen. Auch das ist weitgehend geschehen. Für den Verbotsirrtum gilt eine besondere Regelung. Geldbuße kann auch gegen Personen festgesetzt werden, die da« 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Heranwachsende i. S. des Jugendgerichtsgesetzes werden wie Erwachsene behandelt. Für die Einziehung gilt ebenfalls eine besondere Regelung. Zeigt sich — insbesondere bei der Zulassung von Geldbuße gegen Jugendliche —, daß der Gesetzgeber beim Allgemeinen Teil von einem „wesentlichen" Unterschied zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit auszugehen scheint, so bestätigt sich dieser Ausgangspunkt bei der Konstruktion des Verfahrens. Bußgeldverfahren und Strafverfahren sind streng voneinander abgegrenzt. Für die Verfolgung und Ahndung der Ordnungswidrigkeit ist ausschließlich die Verwaltungsbehörde zuständig. Es gilt der Opportunitätsgrundsatz. In Fällen von geringer Bedeutung kann statt eines Bußgeldbescheides eine schriftliche gebührenpflichtige Verwarnung erlassen werden. Auf Antrag überprüft das Amtsgericht den Bußgeldbescheid wie einen Verwaltungsakt; es wird als „Verwaltungsgericht" tätig. Das Bußgeldverfahren vor der Verwaltungsbehörde ist ein selbständiges Verfahren, nicht nur ein „Vorschaltverfahren", wie bei der inzwischen abgeschafften polizeilichen Strafverfügung. Die Staatsanwaltschaft ist nur beteiligt, um nach Erlaß des Bußgeldbescheids die Tat unter strafrechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Diese strenge „Zweispurigkeit" des Verfahrens führt in Zweifelsfällen (Ordnungswidrigkeit oder Straftat) zu Kompetenzkonflikten. Im übrigen können Strafverfahren und Bußgeldverfahren nebeneinander und nacheinander laufen. Nach rechtskräftigem Abschluß des Strafverfahrens kann die Verwaltungsbehörde die Tat als Ordnungswidrigkeit verfolgen, sofern das Gericht nicht auf Strafe erkannt hat; für die strafrechtliche Seite hat der Bußgeldbescheid nur beschränkte Rechtskraft. Die besonderen Bußgeldvorschriften des Bundes- und Landesrechts sind zahlreich; sie nehmen ständig zu. Allein im Bundesrecht gibt es mehr als 100 Gesetze mit Ordnungswidrigkeiten; sie treffen alle Verwaltungsbereiche: das Wirtschaftsrecht (Außenwirtschaftsgesetz, Wirtschaftsstrafgesetz 1954, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, Kreditwesengesetz), das Arbeits- und Sozialrecht (AVAVG, Mutterschutzgesetz, Jugendarbeitsschutzgesetz), das Gesundheitswesen (Arzneimittelgesetz, Bundesseuchengesetz, Heilmittelgewer-

Ordnungswidrigkeiten begesetz), das Verkehrsrecht (Güterkraftverkehrsgesetz, Luftverkehrsgesetz), das Landwirtschaftsrecht (Marktordnungsgesetze, Jagdgesetz), die innere Verwaltung (Paßgesetz, Ausländergesetz, Jugendschutzgesetz), den Bereich der Verteidigung (Wehrpflichtgesetz). Im Bereich des Landesrechts reichen die Ordnungswidrigkeiten vom Polizeirecht, Baurecht, Meldewesen, Schulrecht, Wasserrecht bis zu dem Abgabenrecht. Seit Inkrafttreten des OWiG hat der Bundesgesetzgeber —• von zwei Ausnahmefällen abgesehen — keine neuen Übertretungstatbestände mehr geschaffen und bei der Novellierung bestehender Gesetze die Übertretungen in Ordnungswidrigkeiten umgewandelt. Bei dieser Entwicklung übernehmen im Nebenstrafrecht die Ordnungswidrigkeiten fortschreitend den Bereich der Übertretungen, aber auch den der geringfügigen Vergehen, die nur mit Geldstrafe oder wahlweise auch mit einer kurzfristigen Freiheitsstrafe bedroht sind. Bei der Abgrenzung von Straftat und Ordnungswidrigkeit hat der Gesetzgeber in Bund und Ländern auf die Methode einer Mischformel nach dem Vorbild des Wirtschaftsstrafgesetzes verzichtet. Stellt sich das Abgrenzungsproblem bei vielen Gesetzen, so wird es „tatbestandlich", durch die Verwendung vielfacher, unterschiedlicher Abgrenzungsmerkmale gelöst (sog. unechter Mischtatbestand). Diese Merkmale sind objektiv oder subjektiv. Objektiv ist vielfach die Unterscheidung nach abstrakter oder konkreter Gefährdung des Rechtsgutes. Subjektive Merkmale sind u. a. die „beharrliche" oder „hartnäckige Wiederholung" der Tat, die Gewinnsucht, in einigen Fällen auch Vorsatz und Fahrlässigkeit oder deren Steigerungsformen. Das Gedankengut der „Schmidtschen Formel" lebt als Leitlinie für den Gesetzgeber weiter. 4. Erfahrungen

und

Entwicklung

Sind die Bußgeldvorschriften des geltenden Rechts zahlreich, so fehlen indes gesicherte Erkenntnisse über ihre praktische Bedeutung und Anwendung. Die mit der Verfolgung und Ahndung befaßten Behörden sind nahezu so zahlreich wie die Vorschriften; sie sind auf alle Zweige der Verwaltung bei Bund und Ländern verteilt. Gemeinsame, für einen längeren Zeitraum erstellte Übersichten fehlen. Aus Einzelberichten und ihrem Vergleich lassen sich jedoch einige kriminalpolitisch bedeutsame Erfahrungen herleiten: Die durchschnittliche Höhe der verhängten Geldbuße ist sehr gering; sie überschreitet in der Regel nicht den zehnten Teil des im Gesetz angedrohten Höchstbetrages. Dies gilt auch für die Gesetze, die — zumeist im Bereich des Wirtschaftsrechts — wegen der aus der Zuwiderhandlung zu erwartenden Gewinne sehr hohe Geldbußen androhen (10000 DM, 50000 DM, 100000 DM und mehr). Die Zahl der Verfahren in den einzelnen Bereichen 17 HdK, 2. Aufl., Bd. II

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ist unterschiedlich, insgesamt aber außerordentlich hoch. Im Geschäftsbereich einer Bundesverwaltung ζ. B. sind in den Jahren 1968 bis 1961 mehr als 68000 Verfahren eingeleitet worden, von denen in 20% der Fälle die Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft wegen Verdachts einer Straftat abgegeben worden sind. Auf vielen Gebieten ist die Erledigung durch Unterwerfungsverfahren die Regel. Die Handhabung des Opportunitätsprinzips erfolgt recht unterschiedlich. Bei einigen Verwaltungen ist in den Fällen einmaliger Verstöße die schriftliche gebührenpflichtige Verwarnung oder das Absehen von Geldbuße nach einer fonnlosen Abmahnung die Regel. In den meisten Fällen findet sich der Betroffene mit dem Bußgeldbescheid ab. Anträge auf gerichtliche Entscheidung sind die Ausnahme. Noch seltener sind Anträge der Staatsanwaltschaft auf gerichtliche Überprüfung des Bußgeldbescheids wegen des Verdachts einer Straftat. Auch die Vorschrift über die Erzwingungshalt wird offensichtlich sehr wenig angewendet. Die Erfahrungen bestätigen den Gedanken des Ordnungsunrechts; auch die große Strafrechtsreform, die im Entwurf 1962 die „Übertretungen" abschaffen will. Der „Hypertrophie staatlichen Strafens" ist Einhalt geboten. Eine Fülle von Verfahren wegen Zuwiderhandlungen gegen strafrechtliche Nebengesetze ist von den Gerichten und der Staatsanwaltschaft abgewendet. Die Abgrenzung von Straftat und Ordnungswidrigkeit im einzelnen Falle, wie sie der Verwaltungsbehörde bei den unechten Mischtatbeständen obliegt, bereitet offensichtlich keine Schwierigkeiten; die Behörden beherrschen die strafrechtlichen Kategorien, die auch für das Ordnungsrecht zur Anwendung kommen, hinreichend. Die Zurückhaltung, mit der die Verwaltungsbehörden selbst die Geldbuße handhaben, zeigt, wie sehr die „Strafe" für den Bereich des Ordnungsrechts verfehlt ist. Freiheitsstrafe ist offensichtlich entbehrlich. Die Entwicklung des Rechts der Ordnungswidrigkeiten ist jedoch keineswegs abgeschlossen. Die Umstellung zahlreicher Vorschriften, die bisher noch als Straftatbestände gelten, ist im Fluß; das Verfahrensrecht ist in einer grundlegenden Reform begriffen. Eine große Zahl von Rechtsgebieten ist noch immer mit „Übertretungen" belastet, die nach ihrem materiellen Gehalt der Umstellung auf Ordnungswidrigkeiten bedürfen. Bei mehr als 50 strafrechtlichen Nebengesetzen steht diese formale Umstellung noch aus. Das gleiche gilt für die Übertretungen des Strafgesetzbuches. Gelten diese Übertretungsvorschriften für vielerlei Landesmaterien, so sind auch die Länder an einer umfassenden Einführung von Ordnungswidrigkeiten gehindert. Dies zeigt ζ. B. das Bayerische Landesstraf- und Verordnungsgesetz vom 17. November 1956 mit seinem Gemisch von Übertretungen und

258

Ordnungswidrigkeiten

Ordnungswidrigkeiten. Die ausstehende Umwandlungsaktion wird aber auch in den Bereich der Strafvorschriften, die bisher „Vergehen" sind, übergreifen. Die Praxis der Gesetzgebung in den letzten Jahren zeigt, daß die Bußgeldvorschriften keineswegs nur auf den Schutz von „Verwaltungsgut", auf die Sicherung eines reibungslosen Ablaufs der Verwaltung beschränkt sind. Sie gelten weitgehend auch für Fälle, in denen Rechtsgüter der Gemeinschaft bedroht sind, sei es, daß diese Güter gering bewertet werden, sei es, daß die Verbotsvorschriften, die es zu schützen gilt, nur die Verhütung abstrakter Gefahren zum Ziele haben. In den einzelnen Gesetzen ist im übrigen die Unterscheidung zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit nicht immer theoretisch sauber; oft ist sie durch Gründe der Zweckmäßigkeit, durch die politische Situation des Gesetzgebungsverfahrens beeinflußt. Jedenfalls ist die theoretische Begriffsbestimmung der Ordnungswidrigkeit als „Verwaltungsungehorsam" durch die Entwicklung der Gesetzgebung überholt. Damit eröffnen sich für das Recht der Ordnungswidrigkeiten weitere Gebiete, ζ. B. die Bagatellfälle des Lebensmittelrechts und des Steuerrechts, in erster Linie aber des Verkehrsrechts. Die Umwandlung der Verkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten ist justizpolitisch von großer Bedeutung. Die Kriminalstatistik macht dies deutlich. Indes setzt diese Umstellung eine Reform des Verfahrensrechts im OWiG voraus. Die strenge Zweispurigkeit des Verfahrens (vgl. ο. 3), die in erster Linie aus dogmatischen Gesichtspunkten gefunden war, kann aus praktischen Gründen nicht aufrechterhalten bleiben. Sie führt zu positiven und negativen Kompetenzkonflikten, zu einem verwirrenden Hin und Her zwischen Staatsanwaltschaft, Gericht und Verwaltungsbehörden. Die Kritik an der Praktikabilität des geltenden Verfahrens verstärkt sich bei Materien, die Straftatbestände und Bußgeldvorschriften nebeneinander mit fließenden Übergängen vorsehen, vor allem bei den „unechten Mischtatbeständen". Im Bereich zahlreicher Rechtsgebiete hindert der geltende Rechtszustand die Umstellung. Der Entwurf eines Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten — BT-Drucks. V/1269 — mit Einführungsgesetz beseitigt deshalb die Zweispurigkeit des Verfahrens und das Entscheidungsmonopol der Verwaltungsbehörden. Die Staatsanwaltschaft ist bis zum Erlaß des Bußgeldbescheides nicht am Verfahren beteiligt; sie kann jedoch unter bestimmten Voraussetzungen die Verfolgung der Ordnungswidrigkeit übernehmen. Alsdann entscheidet der Amtsrichter über den Bußgeldbescheid. Damit ist auch die Eigenständigkeit des

Bußgeldverfahrens preisgegeben; es ist zurückgeführt auf ein „Vorschaltverfahren" der Verwaltungsbehörde, das bei Selbstunterwerfung endet, bei Anrufung des Gerichts durch den Betroffenen aber zu einem ordentlichen gerichtlichen Verfahren — grundsätzlich mit Beteiligung der Staatsanwaltschaft — überleitet. Diese Lösung macht sich von dem Theorienstreit über den Wesensunterschied des Bußgeldes gegenüber der Strafe frei; sie trägt kriminalpolitischer Vernunft Rechnung und ist vornehmlich auf die künftigen „Massenordnungswidrigkeiten" im Bereich des Straßenverkehrs abgestellt. Die Annäherung des Bußgeldverfahrens an das Strafverfahren, genauer an die Regelung, wie sie früher für die — inzwischen als verfassungswidrig aufgehobene — polizeiliche Strafverfügung galt, ist offensichtlich. Bei dieser Rückentwicklung bleibt gleichwohl — allein vom Verfahren her — der Unterschied zwischen der Geldstrafe und der Geldbuße gewahrt. Der Weg für die Einführung von Ordnungswidrigkeiten in allen Bereichen ist freigemacht. Der Entwurdes Einführungsgesetzes zum OWiG — BTf Drucks. V/1319 — bringt jedoch diese Gesamtumstellung nicht; dort ist lediglich die Umstellung der Verkehrsübertretungen vorgenommen. Monographien/Kommentare J . G o l d s c h m i d t : Das Verwaltungarecht. 1902. E . S c h m i d t : Das neue Westdeutsche Wirtschaftsatrafrecht. 1950. K a ä b - R ö s c h : Das Bayer. Landesstraf- und Verordnungsgesetz. 1968, Einf. S. 68. W. P a t z i g : Gesetz über Ordnungswidrigkeiten. 1963, S. 3. H. G. M i c h e l s : Strafbare Handlung und Zuwiderhandlung. Neue Kölner Rechtswissenschaftllche Abhandl. Heft 24 (1963). E . B o t b e r g : Gesetz über Ordnungswidrigkelten. 1961. Z e i t s c h r i f t e n - und S a m m e l w e r k a u f s ä t z e E . W o l f : Die Stellung der Verwaltungedelikte im Strafrechtssystem. Festschrift für Frank Bd. I I (1930) S. 616. R. L a n g e : Ordnungswidrigkeiten als Vergehen. GA 1963, S. 3. A. W i m m e r : Kriminelles Unrecht und Ordnungswidrigkeiten Im künftigen Verkehrsrecht. Deutsches Autorecht 1967, S. 169. Ders.: Die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten und der Schuldvorwurf. N J W 1957, S. 1169. M i t t e l b a c h : Das Ordnungswidrigkeitsverfahren in Gegen· wart und Zukunft. MDB 1959, S. 617. Η. H. J e s c h e c k : Deutsches Wirtschaftsstrafrecht. J Z 1959, S. 457. W. F a t z i g : Das Ordnungswidrigkeitenrecht. Verwaltungsarchiv 1959, S. 339. E. K e r n : Das künftige Schicksal der Übertretungen. Der Deutsche Rechtepfleger I960, S. 266. S c h ä f e r in: Dalcke-Fuhrmann-Schäfer: Strafrecht und Strafverfahren. 37. Aufl. (1961) S. 453. Gesetzesmaterialien Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission Bd. 1 (1956) S. 67, 68, 71, 84, 112, 333. E B E R H A R D GOSSRAU

Organisationen und Institute

ORGANISATIONEN UND INSTITUTE I. EINLEITUNG

Seit Jahrhunderten wandte sich der Erkenntnisdrang der Erforschung des Verbrechens als eines bedeutsamen Phänomens des individuellen und sozialen Lebens der Menschen zu. Sieht man von ersten Anfängen ab, so entstand eine selbständige Wissenschaft vom Verbrechen und von der rechtsbrechenden Persönlichkeit erst unter Einfluß des soziologischen und naturwissenschaftlichen Positivismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Je nach Ausgangspunkt und Zielsetzung bildeten sich verschiedene wissenschaftliche Grundrichtungen und Lehrmeinungen, unter denen zunächst die Rriminalanthropologie (ζ. B. Lombroso) und die Kriminalsoziologie (z. B. v. Liszt, Fern) besondere Bedeutung erlangten. Der neuen Wissenschaft vom Verbrechen gab 1885 der Italiener Garofalo den Namen -»-Kriminologie (criminologia, criminologie). Später trat als weitere Strömung innerhalb der Wissenschaft, vor allem unter Einfluß des medizinisch-naturwissenschaftlichen Denkens, die -»-Kriminalbiologie (ζ. B. v. Liszt, Lenz) hinzu. Gleichzeitig mit der Entwicklung der Psychologie zu einer umfassenden Wissenschaft vom Seelenleben des Menschen entstand schon früh die -> Kriminalpsychologie (ζ. B. Feuerbach, Gross). Die Entwicklung der verschiedenartigen Richtungen einer kriminologischen Wissenschaft in den einzelnen Ländern gewährt ein buntes Bild. Nachdem in Italien Lombroso, Garofalo und Ferri die neue kriminologische Wissenschaft begründet hatten, stand ihre Entfaltung lange Zeit unter dem Einfluß des Schulenstreits zwischen „Positivisten" und „Klassikern". Anknüpfend an die Tradition von Lombroso entstand die sog. „klinische" Kriminologie, die vorwiegend von Ärzten und Therapeuten gepflegt wird. In Frankreich betonten die soziologisch orientierten Lehren von Lacassagne, Tarde, Dürkheim u. a. das Gegengewicht gegenüber den Intentionen der Kriminalanthropologischen Schule. Joly, Saleilles und neuerdings Pinatel gaben der kriminologischen Forschung in Frankreich starke Impulse. In Belgien förderten vor dem ersten Weltkrieg Prins und Verwaeck, später auch de Greeff, Corail, Constant, in den Niederlanden einst van Hamel und Bonger, jetzt van Bemmelen, Nagel, Pompe und Kempe die kriminologische Forschung und Lehre. In Deutschland betonte v. Liszt unter Einfluß der von ihm mitbegründeten „soziologischen Strafrechtsschule" vor allem die kriminalsoziologische Forschungslichtung, ohne jedoch die kriminalbiologischen und -psychologischen Aspekte zu vernachlässigen. Die Entwicklung der deutschen Kriminologie stand längere Zeit unter überwiegendem Einfluß der Psychiatrie (Aschaffenburg, Birnbaum, Gruhle u. a.), aber auch der Biologie (Kretschmer, Stumpfl u. a.). Mezger, 17·

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Exner, Sauer, H. Mayer u. a. trugen auch den soziologischen und kulturwissenschaftlichen Sehweisen besonders Rechnung. In Österreich begründete H. Gross die moderne Kriminalistik. Gross sowie Lenz, Seelig und Grassberger vertreten eine umfassende Konzeption der Kriminologie, innerhalb derer die Kriminalbiologie einen besonderen Rang besitzt. Kinberg und Strahl in Schweden, Aubert und Andenaes in Norwegen, Hurwicz, Christiansen und Waaben in Dänemark repräsentieren die skandinavische Wissenschaft, die sich in engem Zusammenhang mit der fortschrittlichen Kriminalpolitik jener Länder entfaltet. Aus Finnland sind Verkko und Anttila zu nennen. Die Kriminologie in England besitzt in Maudsley, Havelock Ellis eine ältere Tradition; neben einer mehr psychiatrisch und psychoanalytisch orientierten Richtung (Gibbens, Glover) kamen durch Mannheim, Grünhut und Radzinowicz die soziologischen Aspekte stärker zur Geltung. Besonderes Interesse gilt in England der Erforschung der Behandlung von Rechtsbrechern. In den Vereinigten Staaten steht die Kriminologie von jeher unter starkem Einfluß der Sozialforschung, besonders der Soziologie, mögen auch Einflüsse von selten der Biologie und Psychiatrie (Healy, Gillin) nicht fehlen. Die an der Soziologie orientierte amerikanische Kriminologie wendet sich auf breiter Basis vor allem der empirischen Forschung auf vielen Feldern der Kriminologie und Pönologie zu. Es fehlen aber keineswegs Repräsentanten einer umfassenden kriminologischen Theorie wie Th. Sellin (Kulturkonflikt), Sutherland (differential association), Glueck (multifaktorielle Methode), Reckless (Halttheorie), Merton und Ohlin (Anomie), Glaser (differential identification). Auch die Erforschung der Behandlungsarten (correction) spielt in USA eine stets wachsende Rolle. In Canada entwickelte sich seit dem zweiten Weltkrieg auf der Basis teils der Psychologie und Psychiatrie (Mailloux), teils der Soziologie (Szabo) die kriminologische Forschung. In Spanien und in einzelnen südamerikanischen Staaten zeichnen sich seit mehreren Jahren Ansätze einer kriminologischen Wissenschaft ab. In der Sowjetunion entfaltet sich, nach frühen Anfängen in den 20 er Jahren, etwa seit einem Jahrzehnt eine eigenständige kriminologische Forschung und Lehre. Impulse zum Ausbau der kriminologischen Wissenschaft finden sich in Ungarn, Polen, in der Tschechoslowakei und in der Deutschen Demokratischen Republik. Besondere Beachtung verdient die kriminologische Forschung in Jugoslawien (Dimitrijewic, Slataric u. a.). In Japan wird im Anschluß an die europäische und amerikanische Wissenschaft wichtige kriminologische Forschungsarbeit geleistet (ζ. B. Yoshimasu, Hirano). Auch in anderen Ländern Asiens und Afrikas finden sich mehr oder weniger starke Ansätze einer kriminologischen Lehre und Forschung.

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Organisationen und Institute

Es gehört zum Wesen der neuen kriminologischen Wissenschaft, daß sie unter dem wachsenden Einfluß jener Natur- und Geistes Wissenschaften steht, die Wesen und Verhalten des Menschen erforschen. Angesichts der starken Abhängigkeit der Kriminologie von einer Fülle anderer Wissenschaften vom Menschen überrascht es nicht, daß die Bestimmung ihres Gegenstandes und die Art ihrer Methoden bis auf den heutigen Tag umstritten bleiben. Bald betrachtete man nur das Verbrechen im Sinne einer strafbaren Handlung, bald auch das normabweichende soziale Verhalten schlechthin als eigentlichen Gegenstand der Kriminologie. Bald beschränkte sich die Zielsetzung der kriminologischen Wissenschaft auf die Erforschung der Ursachen und Erscheinungsformen des Verbrechens (Kriminalaetiologie, -Phänomenologie) und auf die Beurteilung und Typisierung des Rechtsbrechers. Bald dehnte man die Kriminologie auch auf die Fragen sinnvoller Behandlung des Rechtsbrechers innerund außerhalb des Strafvollzugs (Pönologie usw.) oder gar auf die Verbrechensbekämpfung, -Vorbeugung und -aufklärung (Kriminalistik usw.) aus. Von jeher bereitete es Schwierigkeiten, die Kriminologie als vornehmlich empirisch arbeitende Seins- und Tatsachenwissenschaft von der -»• Kriminalpolitik als der Lehre von der rationalen Gestaltung der Strafrechtspflege abzugrenzen. Strittig ist ferner bis heute das Verhältnis der Kriminologie zur Strafrechtswissenschaft und deren einzelnen Gebieten. Trotz der Tendenz, die Kriminologie in Gegenstand und Methoden von der Strafrechtsdogmatik als einer in erster Linie von der Norm bestimmten „Sollenswissenschaft" möglichst scharf abzulösen, bleiben doch wichtige Berührungsflächen zwischen beiden Wissenschaftsarten. Die vom Gesetz für strafbar erklärten menschlichen Handlungen sind für den Kriminologen der Ausgangspunkt der Erforschung krimineller Phänomene. Die selbständig gewordene Kriminologie vermochte sich bisher, angesichts der offenkundigen Unsicherheit in der Bestimmung ihres Gegenstandes, ihrer Grundlagen und ihrer Methoden, nicht reibungslos in das traditionelle System der Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften einzuordnen. Die großen Auseinandersetzungen innerhalb dieser Wissenschaftssysteme wirken sich auch auf die Entfaltung der Kriminologie aus. Kraft ihrer weitgespannten Gegenstände und ihrer mannigfaltigen Fragestellungen ist diese Wissenschaft mit den Gesamtproblemen des rechtlichen und sozialen Lebens sowie mit dessen anthropologischen Grundlagen eng verbunden. Daher ragt sie in viele andere Felder der menschlichen Erkenntnis herein. Dies gibt der Kriminologie zwar eine starke Auftriebskraft, hindert andererseits auch ihre innere Konsolidierung und erschwert ihre institutionelle Verankerung. Gleich anderen So-

zial- und Menschenwissenschaften ist die Kriminologie auf das stärkste an Fragen und Bedürfnissen der Gegenwart orientiert, mag auch die Geschichte des Verbrechens (Historische Kriminologie) nicht ganz außerhalb des Interesses liegen. Ihr wichtigstes Erkenntnisziel ist auf die Analyse der sozialen und humanen Wirklichkeit des Verbrechens und auf die Beurteilung der Persönlichkeit des Rechtsbrechers gerichtet. Die Kriminologie erschöpft sich jedoch keineswegs in einer an der Empirie orientierten Erforschung der kriminellen Phänomene; vielmehr will sie auch Begriffe und Sinnzusammenhänge im Bereich einer kriminologischen Theorie erarbeiten. Schon früh war die Kriminologie darauf ausgerichtet, dem Orientierungsbedürfnis der praktischen Strafrechtspflege, aber auch des Wohlfahrtswesens und der Sozialpolitik zu dienen. In diesem Sinne gewinnt sie vielfach den Charakter einer angewandten Wissenschaft. Werden ihre Forschungsergebnisse mit der rechtlichen und kulturellen Ideenwelt konfrontiert, so erfüllt sie mitunter auch die Funktion einer Zeit- und Ideologiekritik. Je mehr in der Gegenwart die Kriminologie unter dem Einfluß des säkularen Rationalisierungsprozesses des Denkens zu einem höheren Selbstverständnis und damit zu größerer wissenschaftlicher Eigenständigkeit gelangt, desto mehr Chancen besitzt ihre fachliche Konsolidierung, die mit einer Institutionalisierung der Forschung und Lehre Hand in Hand geht. Der an Bedeutung gewinnende Prozeß einer Institutionalisierung der wissenschaftlichen Kriminologie findet seinen wichtigsten Ausdruck in der Bildung von nationalen und internationalen Organisationen und Vereinigungen wie in der Errichtung von Instituten, (Laboratorien, Kliniken, Museen, Büchereien usw.) auf dem Felde der Forschung und Lehre. Dieser Entwicklungsprozeß vollzieht sich in mehreren zeitlichen Phasen und auf verschiedenen Ebenen. Wie kaum in einer anderen Wissenschaft stand in der Kriminologie von jeher das Bemühen um eine eigenständige Wissenschaftsentfaltung im Zeichen des Internationalen. Wenn die neue Wissenschaft zunächst in Ländern wie Italien, Frankreich, Belgien und Deutschland entstand und weitergebildet wurde, so suchten jene Persönlichkeiten, die dieser neuen Wissenschaft entscheidende Impulse gaben, auf zahlreichen wissenschaftlichen Kongressen sowohl den Meinungsaustausch als auch die geistige Auseinandersetzung über Grundfragen der Kriminologie, Pönologie und Kriminalpolitik. Da seit den Tagen John Howards die Reform des Gefängniswesens Gegenstand internationaler kriminalpolitischer Diskussionen ist, machten die Internationalen Gefängniskongresse den Anfang in der Entwicklung des kriminologischen Tagungswesens (vgl. unten II, 7). Bald nachdem Lombroso in Italien die erste Entwicklungsphase der kriminologischen Wissenschaft

Organisationen und Institute eingeleitet hatte, gaben die Kongresse für Kriminalanthropologie in Rom (1885), Paris (1889), Brüssel (1892), Genf (1896), Amsterdam (1901), Turin (1906) und Köln (1911) den führenden Kriminologen und Kriminalpolitikern in den Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg besonderen Anlaß, grundlegende Probleme des Studiums krimineller Phänomene zu erörtern. Diese internationalen Kongresse waren zunächst noch nicht von besonderen kriminologischen Organisationen oder Vereinigungen getragen. Kurz nach dem ersten Kongreß wurde 1886 mit den „Archives de l'anthropologie criminelle et des sciences pönales" die erste größere kriminologische Fachzeitschrift ins Leben gerufen. Noch in den 80 er Jahren des 19. Jahrhunderts bildeten sich in mehreren Ländern, meist auf internationaler Grundlage, besondere Vereinigungen und Organisationen, die sich sowohl die Vertiefung und Verbreitung der Lehren der Kriminologie als auch die Diskussion der auf jenen basierenden Konzeptionen der Kriminalpolitik zum Ziele setzen. Im internationalen Bereich kam vor allem der 1889 von v. Liszt, Hamel und Prins gegründeten „Internationalen Kriminalistischen Vereinigung" (IKV) sowie der auf dem Gebiete des Strafvollzugs 1872 gebildeten „Commission Internationale Pönale et Pinitentiaire" besondere Bedeutung zu. Der erste Weltkrieg brachte eine Zäsur in der Entfaltung der internationalen Organisationen auf dem Felde der Kriminologie und Kriminalpolitik. Seit 1923 wurden mehrere neue internationale Organisationen und Vereinigungen gegründet, wie die „Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission", die „Association Internationale de Droit pinal", die „Kriminalbiologische Gesellschaft" sowie die „Soci£t6 Internationale de Criminologie". Auch der zweite Weltkrieg führte zu einem Stagnieren der internationalen Arbeit auf dem Felde der Kriminologie. 1950 nahmen die ,,8οαέίέ Internationale de Criminologie" und 1951 die „Kriminalbiologische Gesellschaft" ihre Arbeit wieder auf. Noch ins 19. Jahrhundert zurückreichende Strömungen der modernen Kriminalpolitik führten nach dem zweiten Weltkrieg zur Gründung der „Soci£t6 Internationale de Difense Sociale". Außerdem wurde 1950 die „Fondation Internationale P6nale et P&iitentiaire" geschaffen. Auch die großen internationalen Gemeinschaften der Welt, wie früher der Völkerbund sowie seit dem zweiten Weltkrieg die Vereinten Nationen und der Europarat, wandten der Strafrechtspflege und Kriminalpolitik wie auch der Kriminologie einschließlich der Pönologie ihr besonderes Interesse zu. Auf diesem internationalen Boden kam es in den letzten Jahren zu einer Konzentration der Kräfte und zu einer engeren internationalen Zusammenarbeit. Auch die Organisationen und Institute einzelner Länder finden sich meist innerhalb eines umfassenderen Sprachbereichs zu

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enger wissenschaftlicher Zusammenarbeit oder zur Veranstaltung von Kongressen zusammen. Als Beispiele seien der „Scandinavian research council for criminology" und das „Institut latino-amiricain de criminologie" genannt. Kriminologische Institute (Lehrkanzeln, Laboratorien, Kliniken usw.), die der Forschung oder Lehre oder beiden dienen, wurden später als die erwähnten Organisationen errichtet. Allerdings gründete schon F. von Liszt 1882 in Marburg das Kriminalistische Seminar, das später an die Universität Berlin verlegt wurde. In diesem Seminar wurden vorwiegend Probleme des Strafrechts behandelt, unter den strafrechtlichen Hilfswissenschaften jedoch auch Aspekte der Kriminologie berücksichtigt. 1909 wurde von Reiss ein Institut für Polizeiwissenschaft in Lausanne errichtet. 1912 eröffnete H. Gross das Kriminalistische Institut der Universität Graz, dem ein Kriminalmuseum und eine kriminalbiologische Untersuchungsstation angegliedert wurden. Es dürfte sich um die erste Gründung eines spezifisch „kriminologischen" Instituts handeln. Im selben Jahre rief Ferri die „Scuola d'applicazione giuridico criminale" in Rom ins Leben. Seit 1919, in verstärktem Maße seit dem zweiten Weltkrieg, entstanden im Gefolge der Verbreitung und Intensivierung der Wissenschaft vom Verbrechen weitere Kriminologische Institute in vielen Ländern der Welt (s. unten III.). Auch der Plan eines „Internationalen Institutes für Kriminologie" wird seit mehreren Jahren verfolgt. Charakter und Aufgabenkreis der kriminologischen Institute sind seit jeher verschieden. Institute, Laboratorien, Kliniken usw. wurden meist an Universitäten und anderen Hochschulen errichtet und bald der Juristischen, bald der Medizinischen Fakultät, bald sozialwissenschaftlichen Departments usw. eingegliedert. Aber auch im Bereich staatlicher Behörden wie Ministerien, Strafanstalten, Polizeistellen usw. oder auch privater Organisationen finden sich kriminologische Institute mit verschiedenen Aufgabenbereichen. Soweit es sich um an den Hochschulen errichtete Institute handelt, verbindet sich bei solchen die Forschung meist mit der Lehre. Vor allem in USA gewinnen einzelne größere Forschungsinstitute mehr und mehr eine gewisse Selbständigkeit gegenüber den Universitäten. Manche Institute und Schulen dienen ausschließlich der Ausbildung von Persönlichkeiten, die als Psychologen, Soziologen, Sozialpädagogen oder Kriminologen im weiten Bereich der Strafrechtspflege wie des Wohlfahrtswesens tätig sind. Eine spezielle Ausbildung zum Beruf eines Kriminologen mit einer besonderen Abschlußprüfung (Diplom, Doktorat) ist erst in einzelnen Ansätzen vorhanden. Im Rahmen des Universitätsunterrichts und der akademischen Berufsausbildung der Juristen, Psychologen, Soziologen, Sozial-

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Pädagogen usw. ist die Kriminologie in der Regel nur ein mehr oder weniger wichtiges Einzelfach neben vielen anderen. Im Zuge der raschen Entwicklung der heutigen Kriminologie und angesichts ihrer wachsenden Bedeutung für die Praxis verbreitert sich seit dem zweiten Weltkrieg die institutionelle Basis der kriminologischen Institute immer stärker. Dies gilt vor allem für die überall zu beobachtende intensive Förderung empirischer Forschungsaufgaben, die im Hinblick auf Teamwork und interdisziplinäre Zusammenarbeit einen größeren Kreis von Forschern und erheblich mehr Sachmittel erforderlich macht, als es bei den Instituten alten Stils der Fall war. Diese Entwicklung zu einer mehr und mehr institutionalisierten empirischen Forschung hat zuerst, und zwar schon seit dem ersten Weltkrieg, in den USA eingesetzt; seit kurzem macht sie sich auch in Europa stärker bemerkbar. Eine Reihe von Instituten, Kliniken, Laboratorien usw. dient in erster Linie den praktischen Aufgaben der Verbrechensaufklärung und -bekämpfung oder der Beurteilung und Behandlung der Rechtsbrecher, ohne eigene wissenschaftliche Forschungsarbeit auszuschließen. Zu erwähnen ist ζ. B. für die Bundesrepublik die wissenschaftliche Arbeit des Bundeskriminalamtes. Manche kriminologischen Institute beschränken den Aktionsradius ihrer wissenschaftlichen Arbeit nur auf einzelne Teilgebiete der Kriminologie, wie ζ. B. Jugendkriminalität, Behandlungsforschung, Kriminalistik, Pönologie usw. Schließlich gibt es in vielen Ländern psychologische, soziologische, medizinische Institute und andere Forschungsstätten der verschiedensten Prägung, die primär Fragenkreise aus anderen Wissenschaften, bisweilen aber auch kriminologische Probleme behandeln. In der Gegenwart gewähren die kriminologischen Organisationen und Institute ein buntes Bild, das in den folgenden Abschnitten nur in großen Zügen nachgezeichnet werden kann. Kriterium der Auswahl der Organisationen und Institute war der Gesichtspunkt, daß die Wissenschaft der Kriminologie oder ihrer Teilgebiete jeweils im Mittelpunkt der Forschung oder Lehre steht. Schwierigkeiten bei Erhebung einzelner Daten (aufgrund von Fragebogen, Anfragen im In- und Ausland usw.) bedingen, daß Genauigkeit und Vollständigkeit der Angaben nicht immer erreicht werden konnten. II. INTERNATIONALE ORGANISATIONEN UND GESELLSCHAFTEN 1.

Internationale

Kriminalistische (IEV)

Vereinigung

Die IKV wurde 1888 von Franz v. Liszt, Adolphe Prins (Belgien) und G. A. van Hamel (Holland) als erste internationale Organisation auf dem Felde der Strafrechtspflege gegründet. In die

Zeit ihrer Gründung fallen sowohl die Ansätze der von Lombroso beeinflußten Kriminalanthropologischen Schule als auch die Anfänge der kriminalsoziologischen Forschung. Beide Richtungen befaßten sich mit der systematischen Erforschung des Verbrechens und seiner Ursachen und bedienten sich dabei vor allem naturwissenschaftlicher und soziologischer Methoden. Entsprechend diesen Grundgedanken setzte sich die IKV die Aufgabe, nicht nur die Ursachen und Typen des Verbrechens, sondern auch die Mittel seiner Bekämpfung wissenschaftlich zu behandeln und neue Ziele der staatlichen Kriminalpolitik zu verfolgen. Von Anfang an wurden in der IKV die kriminologischen Forschungsansätze und kriminalpolitischen Konzeptionen mit den Zielen und Wegen der dogmatischen Strafrechtswissenschaft verbunden. So wurde in den Satzungen der IKV an erster Stelle „der Überzeugung Ausdruck verliehen, daß Verbrechen und Strafe ebenso vom soziologischen wie vom juristischen Standpunkt aus ins Auge gefaßt werden müssen und daß sich die IKV daher die Aufgabe stellt, diese Ansicht und die sich aus ihr ergebenden Folgerungen in Wissenschaft und Gesetzgebung zur Anerkennung zu bringen". Gewisse kriminalpolitische Grundanschauungen, auf die sich die Mitglieder verpflichteten, wurden festgelegt, so ζ. B. die Auffassung über einen bestimmten Strafzweck. Aufgabe der Strafe sollte nicht mehr wie einst vornehmlich die rechtliche Vergeltung der Tat sein. Vielmehr sollte die Strafe in erster Linie das „Verbrechen als soziale Erscheinung" bekämpfen. In der Strafe wurde ferner zwar ein sozial wirksames, aber keineswegs das einzige Mittel der Bekämpfung des Verbrechens gesehen. So erblickte man ζ. B. in der Sozialpolitik einen wichtigen Weg der Verbrechensvorbeugung. Innerhalb der modernen Kriminalpolitik wurde der Gedanke des Internationalen mit nationalen Forderungen verbunden. „Jede Strafgesetzgebung muß nationalen Charakter tragen, sie muß der Eigenart des Staates sich anpassen, für dessen Volk sie bestimmt ist. Aber jede Strafgesetzgebung ruht auf wissenschaftlichen Grundlagen; und die Wissenschaft, welche diese Grundlagen zu gewinnen sucht, ist, wie jede Wissenschaft, an nationale Schranken nicht gebunden. So soll auch unsere Vereinigung eine internationale sein, um die in gemeinsamen Wettbewerb errungenen Erkenntnisse den Gesetzgebungen der einzelnen Länder zur Verfügung zu stellen." Bald wurden die Bindungen der Kriminalpolitik an die Gesichtspunkte des Strafrechts als störend empfunden, und man gab dem Art. 1 durch die 1897 in Lissabon gefaßten Beschlüsse eine neutralere Fassung: „Die IKV vertritt die Ansicht, daß sowohl das Verbrechen als auch die Mittel zu seiner Bekämpfung nicht nur vom juristischen, sondern auch vom anthropologischen und soziologischen Standpunkt aus betrachtet

Organisationen und Institute werden müssen." Damit hatte sich die vermittelnde Einstellung v. Liszts durchgesetzt. Die IKV war von jetzt an für Vertreter aller kriminalpolitischen Richtungen offen. Die IKV entwickelte sich rasch und die Zahl der Mitglieder wuchs ständig. Bs bildeten sich zahlreiche Landesgruppen: Ungarn (1889), Schweden, Schweiz (1890), Belgien (1892), Griechenland, Kroatien (1893), Deutsches Reich, Frankreich (1896), Rumänien, Rußland (1897), Dänemark (1899), Norwegen, Österreich (1906), Vereinigte Staaten von Nordamerika (1910). Große wissenschaftliche Sammelwerke, die in Zusammenarbeit von Juristen, Medizinern, Psychologen usw. entstanden sind, legen von der bedeutenden Arbeit dieser Jahre Zeugnis ab: „Die Strafgesetzgebung der Gegenwart in rechtsvergleichender Darstellung" (1894—1899) und darauf aufbauend: „Die vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts" sowie zahlreiche, für die Reform der Strafgesetzgebung ausgearbeitete Entwürfe und Gegenvorschläge. Die Schwierigkeiten in der internationalen Zusammenarbeit während des ersten Weltkrieges, der Tod ihres geistigen Führers Franz von Liszt (1919) und insbesondere der heftige Schulenstreit innerhalb ihrer Reihen ließen die IKV trotz aufopfernder Vermittlung schweizerischer Wissenschaftler als internationale Organisation ihr Ende finden. Jedoch setzten die weiterbestehenden Landesgruppen in Deutschland, Österreich, Dänemark und der Schweiz ihre Arbeit fort, die auch im Ausland nicht unbeachtet blieb. 2. Association Internationale de Droit ΡέηαΙ (AI DP) Die 1924 in Paris auf französisches Bestreben hin gegründete „Association Internationale de Droit Pinal" (vgl. den Gründungsbericht in RIDP 1924, 3 f.) bemühte sich von Anfang an, als die internationale Nachfolgeorganisation der IKV zu erscheinen. Der neuen Vereinigung traten Frankreich, Belgien, Italien, Spanien, Rumänien, Polen und die USA bei. Die ersten Kongresse fanden 1926 in Brüssel, 1929 in Bukarest und 1933 in Palermo statt. Die AIDP verfolgt die Ziele der strafrechtsdogmatischen und kriminologischen Forschung, ohne dabei aber ausdrücklich für eine der bestehenden Strafrechtstheorien Partei zu ergreifen. Schon bald nahm die AIDP Kontakte zum Völkerbund auf, um die internationale kriminalpolitische Arbeit zu erweitern. Als ein Seitenzweig der AIDP wurde das „Bureau International pour l'Unification du Droit P6nal" gegründet. Man wollte damit zu einer internationalen Angleichung der wichtigsten Grundsätze des Strafrechts kommen. Im Jahre 1932 wurde dieses Internationale Büro zu einer Dachorganisation umgebildet, in der die wichtigsten internationalen Vereinigungen auf

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dem Gebiet der Strafrechtspflege zusammengefaßt wurden. Auch die noch bestehende deutsche Landesgruppe der IKV war bereit, innerhalb dieser Dachorganisation mitzuarbeiten. Nach dem Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund im Jahre 1933 und durch den zweiten Weltkrieg wurde die internationale Zusammenarbeit jedoch weitgehend unterbrochen. Nach 1945 begann die AIDP ihre Arbeit wieder unter den Präsidenten Comte C. de Wiart, V. Pella und P. Cornil mit Kongressen in Genf (1947), Rom (1953) und Athen (1957). Der 8. Internationale Strafrechtskongreß fand 1961 in Lissabon statt. Er befaßte sich u. a. mit der zunehmenden Bedeutung der Fahrlässigkeitstaten, mit der Problematik der Publizität von Kriminalfällen und Strafprozessen sowie mit der Anwendung ausländischen Strafrechts durch den nationalen Richter. Im Jahre 1964 folgte der 9. Internationale Strafrechtskongreß im Haag. Behandelt wurden u. a. die internationalen Wirkungen des Strafurteils, die Straftaten gegen Familie und Sittlichkeit. Derzeitiger Präsident der Gesellschaft ist J. Graven (Genf), Generalsekretär ist P. Bouzat (Rennes). Das Publikationsorgan der Gesellschaft ist die „Revue internationale de Droit p£nal" (RIDP). 3. Die SodHe Internationale de Criminologie(SIC) Die 1938 in Paris gegründete Internationale Kriminologische Gesellschaft (SIC) betrachtet sich in erster Linie als „Dachorganisation" der kriminologischen Organisationen und Institutionen vieler Länder. Sie hat sich in Zusammenarbeit mit bereits bestehenden Einrichtungen, zum Ziel gesetzt, die Entwicklung und Anwendung der kriminologischen Wissenschaft maßgebend zu fördern. Diesem Ziel dienten vor allem zahlreiche internationale und nationale Kongresse der SIC. Der 1. Kongreß (Rom 1938) beschäftigte sich mit der Ätiologie und Diagnostik der Kriminalität Minderjähriger. Im Mittelpunkt stand die Persönlichkeit des Verbrechers, die mit allen zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Forschungsmethoden untersucht werden soll. Weitere Themen waren die Rolle des Richters im Kampf gegen die Kriminalität und seine kriminologische Ausbildung. Die auf dem 2. Kongreß (Paris 1950) behandelten Themen zeigten sowohl den weiten Aktionsradius der SIC als auch die methodischen Schwierigkeiten einer wissenschaftlichen Kriminologie. Man befaßte sich mit der Persönlichkeitserforschung unter Einbeziehung der biologischen, soziologischen und psychologischen Aspekte sowie mit einer „Vergleichenden Kriminologie" und mit Problemen der Kriminalstatistik. Ein zentrales Thema war das Problem der Gefährlichkeit (itat dangireux) des Verbrechers. Es wurde beschlossen, ein „Institut International de Criminologie" zu gründen, das die Ergebnisse der einschlägigen

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Organisationen und Institute

Arbeiten in allen Ländern der Erde aufnehmen, wissenschaftliche Untersuchungen veranstalten, statistisches Material sammeln und eine die Vergleichung fördernde kriminologische Terminologie erarbeiten soll. Der 3. Kongreß (London 1955) stand im Zeichen der sog. „differentiellen Kriminologie", die die Besonderheiten der Rechtsbrecher untereinander und im Gegensatz zu den Nichtverbrechern näher untersucht. Man beschäftigte sich mit dem Problem des Rückfalls und mit den psychopathologischen Aspekten der kriminellen Handlung. Der 4. Kongreß (Den Haag 1960) behandelte psychologische und psychiatrische Aspekte des kriminellen Verhaltens. Im Grundsätzlichen wurde festgestellt, daß der Begriff der „geistigen Anomalität" des Rechtsbrechers zu weit ist, um als Grundlage einer Prognose, einer richterlichen Entscheidung und einer Behandlungsmethode zu dienen. Außerdem wurden die Beziehungen zwischen Epilepsie und Kriminalität, die Phänomene der Sexualdelikte, der Warenhausdiebstahl und die Beziehungen zwischen Alter und geistiger Anomalität untersucht. Es wurde außerdem die Errichtung einer „Ecole internationale de criminologie" in Rom vorgeschlagen, an der sich Mediziner, Juristen, Soziologen, Psychologen u. a. in allen Bereichen der Kriminologie weiterbilden können. Der 5. Kongreß (Montreal 1966) stand unter dem Gesamtthema der zweckmäßigen Behandlung des Rechtsbrechers, bei der mannigfache Aspekte und Methoden berücksichtigt werden sollten. Es wurde versucht, die einzelnen medizinischen, psychologischen und sozialen Behandlungsmethoden auf einen Nenner zu bringen. Zugleich übte man Kritik an der bisher noch unzureichenden empirischen Forschung, die die Voraussetzung für alle Behandlungsmethoden bildet. Auch Fragen der Gefängnis-Subkultur und des Vollzugspersonals wurden erörtert. Abschließend wurden Vorschläge für eine Reform des Strafvollzugs gemacht. Seit 1952 hält die SIC jeweils in einem anderen Land „Internationale Kurse für Kriminologie" ab, u. a. 1960 den 10. Lehrgang in Freiburg i. Br., (Thema: „Kriminologie und Vollzug der Freiheitsstrafe"). Danach wurden Kurse 1961 in Madrid, 1962 in Jerusalem, 1963 in Cairo, 1964 in Lyon, 1965 in Rom, 1966 in Abidjan und 1967 in Montreal veranstaltet. Die SIC ist außerdem seit 1950 beratendes Mitglied der UNESCO. Gegenwärtiger Präsident ist nach Th. Sellin seit 1967 T. C. N. Gibbens (London). J . Pinatel hatte von 1950—1965 das Amt eines Generalsekretärs inne. Sein Nachfolger wurde G. Fully. Sitz der Gesellschaft ist Paris. Das ständige Sekretariat der SIC befindet sich in Paris (12 e ), 2 Place Mazas. Die meisten nationalen kriminologischen Gesellschaften und Institute sind der SIC als korporatives Mitglied beigetreten. Anstelle des früheren „Bulletin de la Soci^tö Internationale de Crimino-

logie" erscheinen seit 1962 jährlich zweimal die „Annales internationales de Criminologie" mit Berichten und Aufsätzen aus dem Gesamtbereich der Kriminologie. Alle 6 Jahre verleiht die SIC den Preis „Denis Caroll" für hervorragende Leistungen auf dem Gebiete der Kriminologie. Die SIC zählt zur Zeit rund 1000 Mitglieder (Einzelpersonen, Behörden, Gesellschaften, Institute usw.). 4. Societe Internationale de Defense Sociale Die „Soci£t6 Internationale de D6fense Sociale" wurde 1947 in Italien auf italienische sowie auf belgische Initiative hin gegründet. Sie kann in ihrer kriminalpolitischen Zielsetzung bis zu einem gewissen Grade als eine Nachfolgeorganisation der IKV betrachtet werden. Die neue Bewegung der sog. „Sozialen Verteidigung" hat in erster Linie kriminalpolitische Ziele im Auge. Sie wendet sich vor allem gegen das System der Repression des Verbrechens im „klassischen" Sinn, indem sie von der Gesellschaft im Kampf gegen das Verbrechen neben sanktionierenden auch vorbeugende Maßnahmen fordert. Das Ziel der „Soci6t6 Internationale de Defense Sociale", der Krimmalpolitik durch die Vereinigung der verschiedenen Kriminalwissenschaften eine bestimmte Richtung zu geben, wird deutlich aus den Resolutionen, die auf den bisherigen Kongressen der Gesellschaft beschlossen wurden. Auf dem 1. Kongreß (San Remo 1947) wurde es als Pflicht des Staates bezeichnet, durch umfassende Maßnahmen der sozialen Ordnung die Gesellschaft gegen den Rechtsbrecher zu verteidigen. Deshalb ist das bisherige System der Strafen und Maßnahmen umzugestalten. Im Mittelpunkt stehen der Tätergedanke und das Prinzip der Individualisierung aller staatlichen Reaktionsmittel auf die Tat. Erzieherische und resozialisierende Maßnahmen sollen im Vordergrund stehen. Ebenso wurde die besondere Bedeutung einer wirksamen Verbrechensvorbeugung hervorgehoben. Auf dem 2. Kongreß (Lüttich 1949) wurde die Bedeutung der Persönlichkeit des Rechtsbrechers noch stärker betont. Hauptziel aller Einwirkungen auf den Verbrecher soll dessen soziale Wiedereingliederung sein. Der 3. Kongreß (Antwerpen 1952) behandelte erneut die Fragen der Individualisierung der Strafen und Maßregeln. Schon bei Jugendlichen und Heranwachsenden soll mit der Ermittlung, Beobachtung und erzieherischen Beeinflussung begonnen werden. Der 4. Kongreß (Mailand 1956) beschäftigte sich neben Fragen der Verbrechensvorbeugung mit den Angriffen, die aus den Reihen der Strafrechtsdogmatik gegen die Ziele der Defense Sociale eingesetzt hatten. Als Antwort hierauf wurden in einem Mindestprogramm folgende Ziele festgelegt: Die im Kampfe gegen die Kriminalität ergriffenen Maßnahmen sollen nicht allein den Schutz der Gesellschaft gegen das Verbrechen bezwecken, sondern auch die Mitglieder

Organisationen und Institute der Gesellschaft davor bewahren, selbst straffällig zu werden. Bei aller Gestaltung des sozialen Lebens und aller Einwirkung auf den Täter sollen die Menschenrechte anerkannt und die leitenden Grundsätze der abendländischen Tradition festgehalten werden. Vor allem die Prinzipien der Freiheit und Legalität müssen als unverletzlich gelten. Bei jeder Maßnahme gegen den Täter soll stets diejenige gewählt werden, die das Hauptziel des Strafrechts, die Besserung und Resozialisierung des Rechtsbrechers, am besten verwirklicht. Strafverfahren und Strafvollzug sind dabei als ein zusammenhängendes Ganzes anzusehen. Der 5. Kongreß (Stockholm 1958) forderte für die verschiedenen Altersstufen der Täter differenzierte Lösungen, wie etwa eine Umgestaltung des Erwachsenenstrafrechts nach den Grundsätzen des Jugendstrafrechts. Der 6. Kongreß (Belgrad 1961) untersuchte die Frage, in welchem Maße Unterschiede in der strafrechtlichen Rechtsstellung und Behandlung von Jugendlichen, Heranwachsenden und Erwachsenen gerechtfertigt sind. Im Vordergrund stand die Behandlung Heranwachsender, deren Altersgrenze auf 25 Jahre heraufgesetzt werden soll. Der 7. Kongreß (Lecce, Italien 1966) behandelte das Verbot der Berufsausübung als sichernde Maßnahme gegenüber einem Rechtsbrecher. Als Publikationsorgan der Soci6t6 Internationale de Defense Sociale erschienen die „Revista di Difesa sociale" und die „Revue internationale de defense sociale"; später wurden sie durch das „Bulletin d'Informations" ersetzt. 5. Socieie Internationale de Prophylaxie Criminelle Die 1956 ursprünglich als „Soci0t6 Internationale de Prophylaxie Sociale" in Paris gegründete Gesellschaft hat sich zum Ziel gesetzt, die individuellen und sozialen Ursachen kriminellen Verhaltens aufzudecken und zu bekämpfen. Sie will insbesondere die Öffentlichkeit über diese Probleme aufklären und dadurch gesetzgeberische Reformen vorbereiten helfen. Im Jahre 1959 fand in Brüssel ein internationaler Kongreß statt, auf dem das Thema .Technische Zivilisation und Kriminalität' behandelt wurde. Ein 2. Kongreß im Jahre 1967 behandelte die Prophylaxe des Völkermords. Sitz der Gesellschaft ist Paris (5e), 42 Rue Cardinal Lemoine. Die Gesellschaft gibt seit 1956 als Zeitschrift die „Etudes Internationales de PsychoSociologie criminelle" heraus. 6. Die Kriminalbiologisehe Gesellschaft Die Kriminalbiologische Gesellschaft wurde 1927 in Wien auf Initiative des Professors A. Lenz (Graz), eines Schülers und Mitarbeiters von Hans Gross, gegründet. Diese Vereinigung baute auf der von Lombroso geschaffenen kriminalanthropologischen Grundlage auf und bildete zugleich die soziologischen und psychologischen Aspekte des Verbrechens weiter. Ihre Ziele kamen in den

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auf der Gründungsversammlung gefaßten Resolutionen zum Ausdruck: Es geht der Vereinigung in erster Linie darum, die verbrecherische Persönlichkeit in ihrem Wesen und Werden zu erfassen. Es soll hinter die „Aktualität" der Tat zurückgegangen werden, um die „Potentialität" des Verbrechers, vor allem seine vorgegebenen Dispositionen zum Verbrechen zu erfassen. Gedanken aller Wissenschaftszweige, in deren Arbeitsgebiet es um Erfassung der menschlichen Individualität geht, sollen beachtet werden, um eine allseitig fundierte Lehre von der Persönlichkeit des Täters und ihres Verhaltens bei der Tat auszubauen. Es geht letztlich um die Entfaltung einer umfassenden „Kriminalbiologie". Der Begriff der „Biologie" wird in einem weiten Sinn als Lehre vom „Leben" schlechthin aufgefaßt. Philosophische, juristische, psychiatrische und medizinische Methoden sollen sich bei der Persönlichkeitsanalyse vereinigen. In den ersten Jahrzehnten lag der Schwerpunkt des Interesses vornehmlich auf der Psychiatrie und der Konstitutionsbiologie (Kretschmers Konstitutionslehre). Eine derartig aufgefaßte Kriminalbiologie soll ihren Niederschlag in Gesetzgebung, Strafrechtspflege und Strafvollzug finden. Die Einführung eines Kriminalbiologischen Dienstes geht weitgehend auf die Initiative der Gesellschaft und ihrer Repräsentanten zurück. Die ersten Arbeitstagungen (Wien 1927, Dresden 1928, Graz 1931, 1933, München 1937) standen im Zeichen dieser umfassenden Ziele der Gesellschaft. Seit der 4. Tagung zeigte sich das Bestreben, auch soziologische und statistische Aspekte stärker zu beachten. So wurde ζ. B. das Verhältnis zwischen Anlage, Persönlichkeit und Umwelt sowie die Frage der sozialen Prognose angeschnitten. Auf den Tagungen nach dem 2. Weltkrieg kam wiederum der Aspekt, der das Verbrechen als eine komplexe Erscheinung menschlichen „Seins" betrachtet, stark zum Ausdruck. Auch wurde in neuester Zeit die Verbindung zur Soziologie und Sozialpsychologie stärker gepflegt und den Problemen der Behandlung der Rechtsbrecher in- und außerhalb des Strafvollzuges besondere Beachtung geschenkt. Die erste Nachkriegstagung fand 1951 in München statt. Es wurden die Situation der kriminologischen Wissenschaft und Fragen der Jugendkriminalität erörtert. Die zweite Tagung wurde 1953 ebenfalls in München veranstaltet. Es wurden Probleme der Sexualdelinquenten, der Zurechnungsfähigkeit und der Fahrlässigkeit behandelt. Auf der 1954 in Graz abgehaltenen Tagung standen das Problem der Tätertypen und die Kombination von Verbrechensursachen im Vordergrund. Auf der nächsten Tagung 1957 in Freiburg erörterte man die Frühkriminalität und die Persönlichkeitsbilder jugendlicher Rechtsbrecher. Die 1959 in Tübingen durchgeführte Tagung beschäftigte sich mit der Kriminologie der Verkehrsdelikte. Die Tagung in Wien 1961 stand

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Organisationen und Institute

unter dem Thema: „Die Zusammenarbeit zwischen Richter und Sachverständigen bei Persönlichkeitsuntersuchungen". Die 1963 in Heidelberg abgehaltene Tagung beschäftigte sich mit der kriminologischen Bedeutung des Alkohols. Die Tagung in Gießen 1965 behandelte Fragen der Kriminologie als interdisziplinärer Wissenschaft, der Jugendkriminalität sowie der Beeinflußbarkeit und Resozialisierung des Rechtsbrechers. Die Tagung in Köln 1967 war den Problemen des Verbrechensrückfalls gewidmet. Die Referate der Tagungen erscheinen seit 1952 in den „Kriminalbiologischen Gegenwartsfragen". Die Mitglieder der Kriminalbiologischen Gesellschaft verteilen sich auf folgende Länder: Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Polen, Jugoslawien, Ägypten, Schweiz, Luxemburg, Spanien, Venezuela, Italien usw. Seit 1958 besteht in Spanien eine selbständige Sektion. Präsident der Gesellschaft ist seit 1967 Prof. W i t t e r (Homburg), Publikationsorgan ist die „Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform". 7. Commission Internationale Pinale et Ρέηϋβηtiaire (CIPP) Die „Commission Internationale Pinale et Pinitentiaire" (Internationale Strafrechts- und Gefängniskommission) war eine 1872 in London gegründete Organisation der internationalen behördlichen Zusammenarbeit, die sich vor allem drei Aufgaben widmete: Einmal sammelte sie alles Material über die Bekämpfung des Verbrechens und den Strafvollzug und machte es den einzelnen Regierungen zugänglich. Dieses Material über internationales und ausländisches Straf recht wurde in der von der Commission herausgegebenen Zeitschrift „Recueil de Documents en Mature Pönale et Pönitentiaire" (Bern) veröffentlicht. Außerdem führte die Commission verschiedene rechtsvergleichende Untersuchungen durch und arbeitete für die Regierungen Empfehlungen aus, um eine internationale Annäherung der Methoden auf dem Gebiete des Strairechts und des Strafvollzugs zu erreichen (ζ. B. die Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen). Schließlich hielt die Commission etwa alle 5 Jahre ihre internationalen Strafrechts- und Gefängniskongresse ab, um den internationalen Gedankenaustausch zu fördern. Der 1. Kongreß fand 1872 in London statt. Er unterschied sich von allen folgenden darin, daß er bei den Regierungen Auskünfte über die Gefängnisgeschichte und das Gefängnissystem sammelte und Fragen der Gefängnisorganisation und des Strafvollzugs erörterte, ohne jedoch Beschlüsse zu fassen. Die nachfolgenden Kongresse in Stockholm (1878), Rom (1885), St. Petersburg (1890), Paris (1895), Brüssel (1900), Budapest (1905), Washington (1910), London (1925), Prag (1930), Berlin (1935) verhandelten hingegen über speziellere Fragen des Strafrechts und des Strafvollzugs. Sie

waren in Sektionen unterteilt, die sich mit der Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts, mit der Verwaltung der Strafanstalten und der Vorbeugung des Verbrechens befaßten; später kam eine Sektion für Fragen der Jugendkriminalität hinzu. Zunächst standen die Grundprobleme des Gefängniswesens stärker im Vordergrund. Später wurden auch Fragen über die Behandlung des Verbrechers miteinbezogen, wobei auch Gedanken der Kriminalsoziologie und -biologie Eingang fanden. Als Themen wurden das System der Strafen einerseits und die Sicherungs- und Erziehungsmaßnahmen andererseits behandelt; auch Fragen der Individualisierung von Strafen und Strafvollzugsmaßnahmen sowie Problemen der unbestimmten Verurteilung, der Einheitsstrafe, des Progressiv-Systems und der bedingten Entlassung wandte man sich zu. Die Verhandlungen der einzelnen Kongresse wurden in französischer Sprache als „Actes des Congres Pinitentiaires Internationaux" veröffentlicht. (Vgl. Ν. K. Teeters, Deliberations of the International Penal and Penitentiary Congresses 1877 to 1935, Philadelphia 1949). Der 12. und letzte Kongreß der CIPP fand 1950 im Haag statt. Da ihre Aufgaben von der UNO übernommen wurden (vgl. unten 10. u. 8.), löste sie sich 1951 auf. 8. Fondation Internationale Penale et Penitentiaire (F1PP) In die Reihe der internationalen Organisationen, die sich, wenn auch nicht in erster Linie, mit kriminologischer Forschung beschäftigen, gehört auch die 1951 gegründete „Fondation Internationale Pinale et Pinitentiaire" (Internationale Strafrechts- und Strafvollzugsstiftung). Die F I P P übernahm es, das Vermögen der 1872 in London gegründeten „Commission Internationale Pinale et Pinitentiaire" (CIPP) zu verwalten, nachdem sich diese im Jahre 1951 aufgelöst hatte (s. oben Nr. 7). Die F I P P setzt sich heute aus Repräsentanten von über 22 Ländern zusammen. In erster Linie werden Arbeiten auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung und der Täterbehandlung, besonders empirische Untersuchungen, Publikationen und die wissenschaftliche Ausbildung auf diesen Gebieten gefördert. Außerdem wird versucht, die Zusammenarbeit mit den anderen internationalen Organisationen mehr und mehr zu koordinieren. 1959 wurde in Straßburg ein „Cycle d'Etudes" abgehalten (vgl. „Trois aspects de Taction pinitentiaire", 2 Bde., Bern 1961). 1962 fand in Brüssel ein internationales Kolloquium statt, auf dem die neuen psychologischen Behandlungsmethoden gegenüber Gefangenen erörtert wurden. 1963 wurde ein weiteres internationales Kolloquium über „Les dilinquants anormaux mentaux" in Bellagio veranstaltet, an dem neben den Vertretern der Fondation auch die der AIDP, der SIC und der „Sociiti Internationale de

Organisationen und Institute Defense Sociale" teilnahmen. Die „Actes" dieser Kolloquien wurden von der FIPP jeweils ein Jahr später veröffentlicht. Das nächste internationale Kolloquium wurde 1967 in Ulm organisiert. Auf dieser Tagung, an der Vertreter aus 20 Nationen teilnahmen, wurden „The new methods of restriction of liberty in the penitentiary system" behandelt. Sitz der Stiftung ist Bern, das Leitungskomitee und der Gründungsrat können sich an jedem beliebigen Ort versammeln. Nach P. Cornil und Ch. Germain ist der derzeitige Präsident der Stiftung Thorsten Sellin (USA). Generalsekretär ist J. Dupreel (Belgien). 9. Internationale Kriminalpolizeiliche (IKPK)

Kommission

Bei der 1923 in Wien gegründeten IKPK handelt es sich um eine Vereinigung der Vertreter von Polizeibehörden, die als solche von den Regierungen ihrer Länder in die Kommission entsandt werden. Die Aufgaben der IKPK umfassen vor allem die Sammlung des einschlägigen Materials zu kriminalpolitischen Fragen und die Schaffung der für einen internationalen Kriminalpolizeidienst unentbehrlichen Einrichtungen, besonders im Hinblick auf die Bekämpfung des internationalen Verbrechertums. Die Vereinigung führte zahlreiche Tagungen durch; sie arbeitete zunächst in Wien und später in Berlin bis 1945. Nach dem Kriege wurde 1946 in Brüssel die Vereinigung als „Commission Internationale de Police Criminelle" neugegründet. 1956 wurde sie im Zuge einer Neuorganisation in „Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation" (IKPO) umbenannt. Dies ist heute der offizielle Name der INTERPOL. Das Generalsekretariat der IKPO befindet sich in Paris. Die IKPO zählt heute über 60 Mitglieder. Publikationsorgan ist die „Revue Internationale de Police Criminelle" (RIPC, deutsche Ausgabe: Internationale Kriminalpolizeiliche Revue, Wiesbaden). Außerdem gibt die Vereinigung eine Beilage zu der RIPC heraus unter dem Titel „Liste trimestrielle d'articles s61ection£s". Es handelt sich um ein vierteljährlich erscheinendes Verzeichnis über das wichtigste kriminalistische Schrifttum aller Kultursprachen. Die wesentlichen Aufgaben der IKPO umfassen in der Gegenwart vor allem die gegenseitige Unterstützung der Kriminalpolizeibehörden der einzelnen Länder im Kampf gegen das Verbrechen, unabhängig von den verschiedenen Weltanschauungen und Kulturkreisen. DerSchwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der internationalen Fahndung und Festnahme von Verbrechern. Die IKPO verfügt über ein eigenes Funknetz. Das nationale Zentralbüro der IKPO für die Bundesrepublik ist das Bundeskriminalamt in Wiesbaden (vgl. unten III, Deutschland, A 2m.).

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10. Die Organisationen der Vereinten Nationen (UNO) Nach dem 2. Weltkrieg übernahmen die Vereinten Nationen die Leitung der internationalen strafrechtlichen und kriminologischen Zusammenarbeit. Insbesondere wurden die Aufgaben der CIPP (vgl. oben 7.) von besonderen Abteilungen der UNO fortgeführt. Im einzelnen sind folgende Organisationen zu nennen: a) Department of Social Ä f f airs of the United Nations

Das Department of Social Affairs bearbeitet in einer besonderen Unterabteilung (Section of Social Defence) vor allem kriminalpolitische Fragen, wobei die Probleme der Verbrechensverhütung und der Behandlung der Straffälligen im Mittelpunkt stehen. Seit 1962 gibt es die Halbjahreszeitschrift „International Review of Criminal Policy" heraus, die sich mit dem „Recueil de documents" der ehemaligen CIPP vergleichen läßt. Das Department veranstaltet alle 5 Jahre einen Kongreß der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und Behandlung von Rechtsbrechern. Der erste dieser Weltkongresse fand 1955 in Oenf statt. Beratungsgegenstände waren: Mindesterfordernisse für die Behandlung der Gefangenen, offene Strafanstalten, Auswahl und Schulung des Strafvollzugspersonals, Gefängnisarbeit, Vorbeugung der Jugendkriminalität. Auf jenem Kongreß wurden Mindestregeln (Minima) für die Behandlung von Strafgefangenen ausgearbeitet und in der Entschließung vom 30. 9.1955 angenommen. Der zweite Weltkongreß der Vereinten Nationen wurde 1960 in London abgehalten. Die dort behandelten Themen betrafen u. a. neue Formen der Jugendkriminalität sowie deren Ursachen, Vorbeugung und Behandlung. Der 3. Kongreß fand 1965 in Stockholm statt. Behandelt wurden die Rolle von Öffentlichkeit, Familie und Arbeit bei der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung sowie Maßnahmen zur Verhinderung des Rückfalls von Delinquenten. Für das Jahr 1970 hat die japanische Regierung Tokyo als Tagungsort vorgeschlagen. b) United Nations Asia and Far East (UNAFEI)

Institute

Dieses Institut der UNO wurde 1960 in Zusammenarbeit mit dem oben erwähnten Department of Social Affairs auf Grund eines Vertrages zwischen der UNO und der japanischen Regierung geschaffen. Sein Sitz ist in Tokyo. Seine Aufgaben liegen vor allem in der Verbrechensvorbeugung und der Behandlung von Delinquenten in Asien und den fernöstlichen Ländern. Es befaßt sich vor allem mit Forschungen auf dem Gebiet der Verbrechensvorbeugung und der Behandlung von Rechtsbrechern sowie mit der

Organisationen und Institute

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Sammlung von Daten, Statistiken und Ausbildungsmateiial. Den einzelnen Regierungen soll bei der Aufstellung und Ausarbeitung von kriminalpolitischen Programmen geholfen werden. In regelmäßigen Abständen gibt das Institut ein Bulletin zur Information heraus. 11. Comiti Europien Criminels (GEPC)

pour lea ProbUmes beim Europarai

Im Rahmen der Arbeit des Europarats wurde ein „Comit6 Europeen pour les ProbUmes Criminels" (CEPC) gegründet. Die erste Sitzung dieser Organisation fand 1958 unter dem Vorsitz von L. Fox in Straßburg statt. Seine Aufgabe ist es, einen europäischen Aktionsplan des Europarates auf dem Gebiet der Verbrechensvorbeugung und der Behandlung der Rechtsbrecher vorzubereiten. Zugleich sollen Möglichkeiten zur Lösung des Dualismus zwischen der Arbeit der Vereinten Nationen und des Europarates gefunden werden. Präsident des CEPC ist seit 1962 P. Cornil (Belgien). Das Comiti ist nach Sachgebieten in verschiedene Untercomitis aufgeteilt: Todesstrafe, Grundrechte der Gefangenen, kurzfristige Behandlung des jugendlichen Rechtsbrechers, Vorbereitung einer Konvention zur Überwachung verurteilter oder bedingt entlassener Personen, Vorbereitung einer europäischen Konvention zur Verringerung der Verkehrsdelikte, internationale Anerkennung von Strafurteilen, Ursachen und Behandlung der Jugendkriminalität im Nachkriegseuropa, Beziehungen zwischen Massenkommunikationsmitteln und Jugendkriminalität, Ergänzung, Ausbildung und Status des Strafanstaltspersonals, Strafaufschub zur Bewährung und Behandlung von Psychopathen. Im Jahre 1962 wurde der „Conseil Scientifique Criminologique" geschaffen. Die erste Sitzung fand 1963 statt. Aufgabe dieses Rates ist es, das wissenschaftliche Arbeitsprogramm des Europarates auf kriminologischem Gebiet in Gang zu setzen. Gegenwärtig besteht dieses Programm vor allem in Aufgaben der Information und Koordinierung. 1963 fand zum ersten Mal eine europäische Konferenz der Direktoren kriminologischer Institute in Straßburg statt, auf der Fragen der kriminologischen Methodik und Organisation diskutiert wurden. Es soll zwischen den Mitgliedsländern ein dauernder Austausch von Personen stattfinden, die sich mit der Behandlung von Rechtsbrechern beschäftigen. Die 2. Konferenz (1964) stand unter dem Thema der Forschungsstrategie. Es ging dabei vor allem um Methoden und Ergebnisse kriminologischer Forschung. Auf der 3. Konferenz (1965) wurden Fragen der Soziologie der Strafanstalt und die Auswirkungen der Gefängniskultur auf den Gefangenen behandelt. Die 4. Konferenz (1966) befaßte sich mit Problemen der Verkehrskrimi-

nalität sowie mit den Möglichkeiten über die Voraussage künftiger Kriminalität. Auf der 5. Konferenz 1967 wurden die Kriminalität ausländischer Gastarbeiter und die Beziehungen zwischen Tätertypen und Behandlungsarten diskutiert. Die Referate der Konferenzen werden seit 1967 vom Europarat veröffentlicht. ΠΙ. ORGANISATIONEN, GESELLSCHAFTEN UND INSTITUTE IN EINZELNEN LÄNDERN Abkürzungen:

g: Jahr der Gründung und Name des Gründers HFG: Hauptforschungsgebiet P: Periodisch herausgegebene Publikationen Ägypten Institut:

The National Center of Social & Criminological Research, Awkaf City, Gezira P. 0., Cairo, g : 1955 HFG: Gesamtes Gebiet der Kriminologie und der Kriminalpolitik, „Criminological Clinic", Kriminallaboratorium Ρ: „The National Review of Criminal Science" (seit 1958 in arabischer und europäischen Sprachen). Argentinien 1.

Organisation:

Soci6t£ argentine de criminologie, BuenosAires. 2.

Institute:

a) Institute de Derecho penal y de Criminologia de la Facultad de Derecho y Ciencias Sociales de la Universidad de Buenos-Aires, g: von Prof. A. J . Molinario, 1947 HFG: Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Kriminologie P : „Estudios de Derecho penal y Criminologia", (seit 1961). b) Centro de Estudios Penales y Criminolögicos, Facultad de Derecho y Ciencias Politicas, Universidad Catölica Argentina, Buenos-Aires, Juncal 1247, g: 1965 HFG: Forschungsarbeiten auf dem Gebiete der Kriminologie. c) Instituto de altos estudios y Criminologia en la Facultad de Ciencias Juridicas y Sociales de la Universidad de La Plata, g: von Prof. J . Peco, 1933 HFG: Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Kriminologie. d) Instituto de Investigaciones y Docencia Criminologicas de la Provincia de Buenos-Aires, HFG: Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Kriminologie P: „Revista del Instituto de Investigaciones y Docencia Criminologica", (seit 1957).

Organisationen und Institute Australien Institute: a) Department of Criminology, University of Melbourne (Victoria), g: 1951 HFG: Forschung auf dem Gebiet des alkoholbedingten Verbrechens. b) Department of Criminology, Faculty of Law, University of Sidney, g: von G. Hawkins, 1961 HFG: Gesamtgebiet der Kriminologie und Kriminalpolitik. Belgien Institute: a) Ecole de criminologie, Universite de Gand, 14, Universiteitstraat, g: durch den belgischen Staat 1938 HFG: Vorlesungen auf dem Gebiet der Kriminologie, der Gerichtsmedizin, der Kriminalistik usw., Studien auf Spezialgebieten der Kriminologie. b) Centre d'ätude de la dilinquance juvenile, Bruxelles, 49, Rue du Chatelain, g: als Universitätsinstitut unter der Schirmherrschaft des Justizministeriums 1957 HFG: Jugendkriminalität. c) Ecole de sciences criminologiques Leon Cornil, 50, Avenue F. D. Roosevelt, Bruxelles 5, g: durch die Freie Universität Brüssel auf Initiative von L. Cornil, 1936 HFG: Vorlesungen über Kriminologie im Rahmen des Universitätsstudiums der Rechtswissenschaft. d) Centre d'etudes Ren6 Marcq, Section de droit pynal et sciences criminologiques, 50, Avenue F. D. Roosevelt, Bruxelles, g: durch die Freie Universität Brüssel, 1939 HFG: Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Kriminologie (mit Diplom). e) Studiecentrum voor Kriminologie, Kriminalistiek en Gerechtelijke Geneeskunde, Parklaan 2, Sint Nikiaas Waas, HFG: Kriminologisch-kriminalistischer Informations- und Dokumentationsdienst. f) Ecole de criminologie, annexie ä la Faculty de Droit, University de Liöge, 2, Rue Charles Magnette, App. 4 c, Liege, g: 1946 HFG: Kriminologie, Strafvollzugsknnde, Kriminalistik. g) Ecole de criminologie de I' University catholique de Louvain, g: von L. Braffort, 1929 HFG: Lehre auf dem Gebiet der Kriminologie (mit Diplom), P: „Cahiers de Criminologie —· Criminologische Tijdschriften".

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h) Centre National de Criminologie, 1, rue Abb6 Cuypers, Bruxelles 4, g: 1965. Brasilien 1. Organisation: Society br&ilienne de criminologie. 2. Institut: Institute latino americano de Criminologia (der Vereinten Nationen), Rua Rego Freitas 454, Sao Paulo. Canada 1. Organisationen: a) Society Canadienne de Criminologie, (Canadian Corrections Association) 55, Parkdale Avenue, Ottawa 3, g: 1956 HFG: Fragen des Strafvollzugs und der Kriminologie P: „Revue Canadienne de Criminologie" (Canadian Journal of Corrections). b) Society de Criminologie du Quebec (Quebec Corrections Society), c/o D. Szabo, 1320 Est, Rue Craig, Montreal, P. Q. g: 1960 HFG: Förderung der Strafrechtsreform und der kriminologischen Forschung. P: „Bulletin de la Society de Criminologie de Quebec" („Bulletin of the Quebec Corrections Society"). c) British Columbia Corrections Association, P. 0 . Box 85, Vancouver Β. C., g: 1940 HFG: Strafvollzug und Gefangenenfürsorge. 2. Institute: a) Centre de recherches en relations humaines, 2765, chemin de la Cöte, St. Catherine, Montreal, g: von Prof. Mailloux, 1950 HFG: Kriminologie, soziale und klinische Psychologie, P: Contributions λ l'ytude des sciences de l'homme. b) Institut de Psychologie, University de Montreal, Casier Postale 6128, Montreal (P. Q.). g: von Prof. Mailloux, 1942. HFG: Kriminologie, vornehmlich auf psychologischer Grundlage. c) Departement de la Criminologie de la Faculte des Sciences Sociales de l'University de Montreal, Case Postale 6128 g: von Prof. D. Szabo, 1960 HFG: Kriminologische Forschung und Lehre (Master of Arts in Criminology). d) Centre of Criminology, University of Toronto, Toronto 5 (Ontario), g: von Prof. Edwards u. a., 1963 HFG: Kriminologie und Kriminalpolitik.

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Organisationen und Institute

Chile Institut: Institute de Ciencias Penales, Santiago, Chile. China (Nationalchina) Institut: China Institute of Criminology, P. Ο. Box 430, Taipeh, (Taiwan-Formosa). Congo (Ripublique d^mocratique du Congo) Service de Criminologie et de Pathologie Sociale, Faculty de Droit, Universiti Lovanium, Kinshasa, g: 1965/66 HFG: Kriminologische Forschung und Lehre. Cuba Organisation : Soci6t£ cubaine de Criminologie. Institut: Instituto Nacional de Criminologia, 665 Ave. Gral. Macco, La Habana. Dahome Organisation: SociitÄ dahomienne de criminologie, Β. P. 774, Cotonou (R£p. de Dahome). Dänemark Institute: a) Institute of Criminal Science, Universität Kopenhagen, Rosenborggade 17 (zugleich Sekretariat des Scandinavian research council for criminology), g: von Prof. K. Waaben und Κ. Ο. Christiansen, 1957 HFG: Kriminologie und Kriminalpolitik b) Kriminalistiske Institut ved Arhus Universitet, Arhus. Deutschland Α. Bundesrepublik Deutschland 1. Organisationen und Gesellschaften: a) Kriminalbiologische Gesellschaft. Diese (oben II, 6) als internationale Gesellschaft aufgeführte Vereinigung hat den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit in Deutschland und Österreich. b) Deutsche Kriminologische Gesellschaft Frankfurt/M., g: 1960 HFG: Empirische, naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Erforschung der Kriminalität und ihrer Verhütung und Bekämpfung, P: „Kriminologische Schriftenreihe". c) Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V., 2 Hamburg-13, g: 1927, neu konstituiert 1952 HFG: Erforschung und Behandlung der Kriminalität minderjähriger Rechtsbrecher. Alle drei Jahre wird ein Jugendgerichtstag veranstaltet.

2. Institute: a) Kriminologisches Seminar, Universität Bonn, Koblenzer Str. 22—44, g: von Prof. H. von Weber, 1943 HFG: Kriminologische Einzeluntersuchungen, P: „Kriminologische Untersuchungen". b) Institut für Kriminologie der Universität Frankfurt/Main, Gräfstr. 69, g: von Prof. F. Geerds, 1964 HFG: Kriminologie, Kriminalpädagogik, Kriminalistik, Kriminalpolitik, P: „Kriminalwissenschaftliche Abhandlungen". c) Institut für Kriminologie und Strafvollzugskunde der Universität Freiburg i. Br., Günterstalstr. 70, g: von Prof. E. Wolf, 1930 HFG: Methoden der Kriminologie, kriminologische Einzeluntersuchungen, Behandlung des Rechtsbrechers und Strafvollzug, P: „Freiburger Beiträge zur Strafvollzugskunde" (1933—36) seit 1958 verbunden mit den „Kriminologischen Untersuchungen" (vgl. oben a); „Kriminologie. Abhandlungen über abwegiges Sozialverhalten" (seit 1964) und „Beiträge zur Strafvollzugswissenschaft" (seit 1967). d) Seminar für Strafrecht und Kriminalpolitik der Universität Hamburg, Schlüterstr. 28, g: von Prof. M. Liepmann, 1920 HFG: Kriminologie und Kriminalpädagogik. e) Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg, Friedrich-Ebert-Anlage 6—10, g: von Prof. H. Leferenz, 1962 HFG: Forschungen auf allen Gebieten der Kriminologie und des Strafvollzugs. f) Kriminologisches Seminar der Universität Kiel, Olshausenstraße g: von Prof. H. Mayer, 1957 HFG: Verbrechensentstehung und -bekämpfung, Probleme des Maßnahmenrechts und des Strafvollzugs, Kriminalistik. P: „Kriminologische Forschungen". g) Rriminalwissenschaftliches Institut der Universität Köln, Köln-Lindenthal, AlbertusMagnus-Platz 1, g: von Prof. G. Bohne, 1923 HFG: Strafrecht, Strafprozeßrecht, Kriminologie und Strafvollzugskunde. h) Institut für Kriminologie und Jugendrecht der Universität München, Prof. Huberplatz 2, g: von Prof. P. Bockelmann, 1963 i) Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster, Universitätsstr. 14—16, g: von Prof. K. Peters 1955 als Institut für Strafrecht und Strafprozeßrecht HFG: Strafrecht, Strafverfahrensrecht, Strafvollzugskunde, Kriminologie.

Organisationen und Institute k) Kriminologisches Institut der Universität des Saarlandes, Saarbriicken-15, St. Johanner Stadtwald, g: von Prof. E. Seelig, 1953 HFG: Jugendkriminalität und Jugendstrafvollzug (besonders unbestimmte Verurteilung). 1) Institut für Kriminologie der Universität Tübingen, Corrensstr. 34 g: von Prof. H. Göppinger, 1963 HFG: Kriminologische Forschung und Lehre, vor allem auf empirisch-interdisziplinärer Basis. m) Bundeskriminalamt, Wiesbaden, Tränkweg 7, g: 1951 durch das Bundesgesetz vom 8.3.1951 HFG: Koordination der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung zwischen Bund und Ländern sowie Dienstverkehr mit ausländischen Polizei- und Justizbehörden bei der Fahndung nach internationalen Tätern, Veranstaltung wissenschaftlicher Arbeitstagungen P: Berichte über die wissenschaftlichen Arbeitstagungen sowie „Schriftenreihe des Bundeskriminalamtes Wiesbaden". B. Deutsche Demokratieehe Bepublik 1. Organisation: Forschungsgemeinschaft Jugendkriminologie beim Wissenschaftlichen Beirat für Jugendforschung des Amtes für Jugendfragen beim Ministerrat der DDR, Berlin, Klosterstr. 47, g: 1964 P: „Studien zur Jugendkriminalität". 2. Institute: a) Institut für Strafrecht der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität, Berlin, Unter den Linden 6, g: 1951 HFG: Forschungen auf dem Gebiete des Strafrechts, Strafprozeßrechts, der Soziologie der Straf- und Erziehungsmaßnahmen und der Jugendkriminalität. b) Institut für Strafrecht der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Universitätsplatz 10 a, g: 1951 HFG: Forschungen auf dem Gebiete des Strafrechts, des Strafprozeßrechts sowie der medizinisch-juristischen Grenzfragen in kriminologischer Sicht. c) Institut für Strafrecht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität, Jena, g: 1951 HFG: Forschungen auf dem Gebiete des Strafrechts, Strafprozeßrechts und der Gruppenkriminalität Jugendlicher. d) Institut für Strafrecht der Juristen-Fakultät der Karl-Marx-Universität, Leipzig, MartinLuther-Ring 13, g: 1951

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HFG: Forschungen auf dem Gebiete des Strafrechts, Strafprozeßrechts und Untersuchungen über die Gewaltverbrechen junger Straftäter über 18 Jahre. e) Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht", Institut für Staats- und rechtswissenschaftliche Forschung, Forschungsbereich Sozialistische Strafrechtspflege, Forschungsgruppe Kriminologie, Potsdam-Babelsberg, August-Bebel-Str. 89, g: 1963 HFG: Forschungen auf dem Gebiete der gesamten sozialistischen Strafrechtspflege und der Kriminologie. Ecuador Institut: Instituto de Criminologia, Quito. Finnland Institut: Institute of Criminology, Pitkänsillanranta 3 Β, Helsinki, g: 1962/63 HFG: Untersuchungen der Ursachen der Kriminalität und der angewandten Methoden zur Prävention. Frankreich 1. Organisationen: a) Sociiti fran^aise de Criminologie, Paris. b) Soci6t0 ginirale des prisons et de legislation criminelle. c) Association lyonnaise de Criminologie et d'Anthropologie sociale. 2. Institute: a) Institut de Sciences pönales et de Criminologie de Γ University Aix-Marseille, 30, Cours Mirabeau, Aix-en-Provence (B. d. Rh.). b) Institut de sciences criminelles de la faculty de droit, University de Bordeaux, Plan PeyBerland, Bordeaux, g: von R. Poplawski, 1942, HFG: Studien zur Kriminalwissenschaft. c) Institut de criminologie et de sciences criminelles de la faculty de droit et des sciences iconomiques de Γ University de Lille, 42, rue Paul Duez, Lille, g: 1954 HFG: Vorbereitung auf das „Diplome d'Etudes criminologiques". d) Institut universitäre de mödecine 16gale et de criminologie clinique de Lyon, 12, aven. Rockefeller, Lyon, HFG: Forschung und Lehre auf allen Gebieten der Kriminologie. e) Institut de sciences criminelles, University Montpellier, g: von A. Legal, 1960

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Organisationen und Institute

HFG: Kriminologie, Strafvollzugswesen und Polizeiwesen. f) Institut de criminologie de l'Universitö de Nancy, 13, Place Carnot, Nancy, g: von Prof. A. Vitu, 1948 HFG: Kriminologie, gerichtliche Medizin und Psychiatrie, Strafvollzugskunde und Polizeikunde. g) Institut de criminologie de la faculty de droit et de sciences iconomiques, 12, Place du Pantheon, Paris, g: von Prof. E. Garcon, 1922 HFG: Forschung und Lehre auf den Gebieten der Strafrechtswissenschaft und Kriminologie. h) Institut de sciences criminelles, faculty de droit de 1'University Poitiers, 43, Place Notre-Damela-Grande, Poitiers (Vienne), g: von Prof. M. Vouin, 1951 HFG: Strafrecht, Kriminologie, Strafverfahrensrecht, Gerichtsmedizin, Strafvollzugs- und Polizeikunde. i) Institut de sciences criminelles et p6nitentiaires, Palais Universitaire, Strasbourg, g: von Prof. J. Leauti, 1954 HFG: Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Kriminologie und der Kriminalstatistik, k) Institut de criminologie et de sciences pönales, Toulouse, g: von Prof. Magnol, 1924 HFG: Forschungen auf dem Gebiet der Kriminologie und des Strafvollzugswesens. 1) Institut de sciences criminelles, University de Tours. m) Centre de Formation et de Recherche de l'Education Surveill6e, 54, rue de Garches, Vaucresson (S. et 0.), g: 1951 HFG: Jugendkriminalität und ihre Behandlung P: „Annales de Vaucresson". n) Centre National d'Etudes et de Recherches Pinitentiaires, Faculty de Droit de Γ University de Strasbourg, Esplanade, Strasbourg, HFG: Kriminologie und Strafvollzug. Griechenland Institute: a) Institut des Sciences criminelles de la Faculty de Droit et des sciences iconomiques, Thessaloniki, HFG: Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Kriminologie. b) Centre d'Etude des Problemes des Mineurs de la Society d'Education Morale de la Jeunesse, 17, rue Vasileos Constantinou, Thessaloniki. GroBbritannien 1. Organisationen: a) The Howard League for Penal Reform, 6 Endsleigh St, London; W. C. 1, g: von Rt. Hon. Lord Brougham 1866 als Howard-Association,

HFG: Methoden der Behandlung von Verbrechern, Wege der Verbrechensverhütung. P : „The Howard Journal", b) British Society of Criminology, 8 BourdonStreet, Davies-Street, London W. 1, g: 1962 HFG: Erforschung der Kriminalität und Behandlung der Rechtsbrecher. 2. Institute: a) Institute of Criminology, University of Cambridge, 7 West Road, Cambridge, g: von L. Radzinowicz, 1959 HFG: Gesamtgebiet der Kriminologie, jährliche Kurse in Kriminologie. P: „The Cambridge Studies in Criminology". b) London School of Economics and Political Science, University of London, HoughtonStreet, Aldwych, London W. C. 2, HFG: Seit 1935 ist Kriminologie ein Lehrfach im Rahmen des Studiums der Rechtswissenschaft, Soziologie und Nationalökonomie. c) Burden Neurological Institute, Stoke Lane, Stapleton, Bristol, g: von Mrs. Η. Burden, 1939. d) Institute of Psychiatry, University of London, The Maudsley-Hospital, Denmark-Hill, London S. E. 5, g: 1923 HFG: Kriminologische Forschung, insbes. auf psychiatrischer Basis. Ρ: „Institute of Psychiatry Maudsley Monographs". e) The Institute for the Study and Treatment of Delinquency, 8 Bourdon-Street, Davies-Street, London W. 1, g: 1931 HFG: Psychiatrische Forschung über die klinische Beurteilung und Behandlung der Delinquenten. Abhaltung von Kursen in Kriminologie. P: „British Journal of Criminology". f) Home Office Research Unit, Horseferry House, Dean Ryle Street, London S. W. 1, HFG: Kriminologie und Strafvollzug. g) Department of Criminal Law and Criminology, University of Edinburgh, Old College, Edinburgh 8 (Schottland), HFG: Kriminologie. Indien Institut: TATA Institute of Social Sciences, Department of Criminology, Juvenile Delinquency and Correctional Administration, Sion-Trombay Road, Chembur, Bombay 71, g: 1953 HFG: Forschungen auf dem Gebiete der Kriminologie und des Strafvollzuges, Durchführung von Kursen und Seminaren.

Organisationen und Institute Israel 1. Organisation: The Israel Society of Criminology, p. Adr. Μ. Zvi Bernsen, Judge of the Supreme Court, Jerusalem, g: 1955 HFG: Beschäftigung mit praktischen und theoretischen Problemen des Verbrechens, Veranstaltung von Tagungen, Unterstützung von Forschungsarbeiten, Publikationen usw. P: „Bulletin de la Soci6t6 Israelienne de Criminologie", (erscheint in Hebräisch, Englisch und Französisch). 2. Institute: a) Institute of Criminology, Faculty of Law of the Hebrew University of Jerusalem, g: von Prof. DrapMn, 1959/60 HFG: Kriminologische Forschung und Lehre. b) Institute of Criminology, Bar-Ilan University, Ramat-Gan, Tel-Aviv. Italien 1. Organisationen: a) Society Italiana di Criminologia, Viale dell'University 32, Roma, g: von Prof. B. di Tullio, 1958 HFG: Verbrechensverhütung und Resozialisierung des Rechtsbrechers. Ρ: „Rivista di Criminologia Clinica". b) Sociiti lombarde de Criminologie. Milano, Via Mangiagalli 37 g: 1956 c) Centro Nazionale di Prevenzione e difesa sociale; Palazzo di Giustizia, Piano III, Milano, g: 1947; Section Criminologique seit 1960 HFG: Erforschung der Kriminalität. Untersuchungen über Gefangene in Zusammenarbeit mit den Instituts Pinitentiaires, Roma-Rebibbia. 2. Institute: a) Istituto di Antropologia Criminale, Universität Rom, Via Bartolo Longo, 72-Roma (Rebibbia), g: von Prof. B. di Tullio, 1956. b) Scuola di diritto penale con annesso Istituto di Criminologia, Universität Rom, Roma. c) La chaire d'Anthropologie criminelle de la Faculty de Midecine, Universität Genua, Genova, Via de Toni 12, g: 1965 HFG: Kriminologie und Strafvollzugskunde. d) La chaire d'Anthropologie criminelle de la Faculty de Midecine, Universität Neapel, Napoli. e) La chaire d'Anthropologie criminelle et de Midecine ligale, Universität Padua, Via Fallopio, 16, Padova. 18 HdK, 2. Aufl., Bd. II

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f) La chaire d'Anthropologie criminelle i l a f a c u l t§ de mädecine, Universität Turin, Torino. Japan 1. Organisationen: a) The Japanese Association of Criminology, Tokyo Medical and Dental University Yushima, 3-Chome, Bunkyo-ku, Tokyo, g: 1913; Neugründung von Prof. T. Furuhata, 1952 HFG: Kriminologische und gerichtsmedizinische Forschung, P : „Acta Criminologiae et Medicinae Legalis Japonica". b) Criminal Law Society of Japan (Keihogakkai), Tokyo, g: 1948 P : „Zeitschrift für Strafrecht (Keihozasshi)" mit Aufsätzen aus dem Gebiet der Kriminologie. c) Gesellschaft für kriminologische Forschung (Keijigakukenkyukai), Tokyo, P: „Annales criminologiae japonicae". d) The japanese Association of Correctional Medicine, Tokyo, g: 1926. 2.

Institut: Research and Training Institute of the Ministry of Justice (Homosogokenkyusho), Tokyo, g: 1958 P : Weißbuch über Verbrechen und Strafrechtspflege und Forschungsberichte.

Jugoslawien 1. Organisation: Association yougoslave de droit pinal et de criminologie, Beograd. 2. Institute: a) Institut de Criminologie de la Faculty de Droit (Zavod za kriminologiju i kriminaJistiku Pravnog faculteta), Universität Beograd, g: 1929 HFG: Studium der Kriminalität, Weiterentwicklung der Kriminologie und der Methoden der Verbrechensverhütung. b) Institut de Criminologie de la Faculty de Droit (Institut za kriminologijo pri Pravni fakulteti), Trg revolucije 11, Ljubljana, g: 1954 HFG: Klinische Kriminologie, Kriminalpolitik, vergleichendes Strafrecht und Strafvollzug, P: in der „Revija za kriminalistiko in kriminologijo" (Revue für Kriminalistik und Kriminologie). c) Institut de Criminologie de la Faculty de Droit (Kriminoloski institut Pravnog fakulteta Univerziteta), Universität Sarajevo, g: von Prof. D. Dimitrijevic, 1954

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Organisationen und Institute

HFG: Untersuchung der Kriminalität, besonders der Jugendkriminalität, d) Bureau pour les recherches criminologiques (Narodna Kepublika Hrvatska, Drzavni Sekretarijat za unutrasnje Poslove, Ured za Kriminoloska Ispitivanja), Zagreb, g: 1953 HFG: Phänomenologie und Aetiologie der Kriminalität. Kolumbien Institut: Oficina de Estudios Criminologicos, Bogota. Libanon Institut: Institut de Criminologie, Facult6 des Sciences sociales, Universität des Libanon, Beirut, g : von Prof. M. el Aougi, 1963 H F G : Kriminologische Forschung und Lehre. Luxemburg 1. Organisation: Comitß Nation» Ide D£fense sociale, Luxemburg, g: von Prof. A. Mergen, 1960 HFG: Fürsorge für entlassene Gefangene. 2.

Institut: Institut de I^fense sociale, Rue Munster 26, Luxemburg, g: vom Justizministerium 1950

HFG: Praktische Aufgaben der Defense sociale und wissenschaftliche Forschungsarbeiten. Niederlande 1. Organisationen: a) Nederlandsche Criminologenclub, laan 10, Utrecht g: 1924

Konings-

HFG: Diskussion über wissenschaftliche Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Kriminologie. b) Psychiatrisch-Juridisch Gezelschap, Apollolaan 166, Amsterdam-Z, g: von den Professoren van Hamel, Heilbronner, Simons, Winkler, 1907 HFG: Regelmäßige Zusammenkünfte mit Referaten aus dem Gebiet des Strafrechts, der Kriminologie und der gerichtlichen Psychiatrie. c) Vereniging voor Reclasseringsinstellingen en National Bureau voor Reclassering, Nieuwe Schoolstraat 87, Den Haag, g: 1913 HFG: Praktische Arbeit auf dem Gebiet der Resozialisierang.

2. Institute: a) Centraal Opleidingsinstituut van het Gevangeniswezen, Pompstationsweg 34, Den Haag, g: vom Justizminister, 1951 HFG: Erforschung des Strafvollzugs zur Unterstützung des Justizministeriums. P : „Maandschrift voor het Gevangeniswezen". b) Criminologisch Instituut van de Vrije Universiteit Amsterdam, De Boelelaan 1115, Amsterdam, g: von Prof. H. Bianchi, 1955 HFG: Gesamtgebiet der Kriminologie. c) Seminar for Criminal Law and Criminal Justice „Van Hamel", Universität Amsterdam, Keizersgracht 746, HFG: Strafrechtlich-kriminologische Zusammenhänge. d) Criminologisch Instituut van de Rijksuniversiteit de Groningen, Grote Markt 23, Groningen, g: von Prof. M. Vrij, 1943 HFG: Kriminologische Forschung. e) Criminologisch Instituut van de Rijksuniversiteit Utrecht, Koningslaan 10, Utrecht, g: von Prof. W. P. J. Pompe, 1934 HFG: Kriminologische und strafrechtliche Untersuchungen; Ausbildung von Kriminologen. f) Strafrechtelijk en Criminologisch Instituut aan de Rijksuniversiteit te Leiden, Rapenburg 38, Leiden, g: von Prof. J. M. van Bemmelen, 1936 HFG: Kriminologie und Strafvollzugskunde. g) Centre of Criminal Sciences, Universität Nimwegen, Oranjesingel 72, Nimwegen. Norwegen 1. Organisation: Kriminologisk selskap, Oslo, g: 1956 HFG: Förderung der kriminologischen Wissenschaft. 2. Institute: a) Institutt for kriminologi og strafferett, Universität Oslo, Karl Johansgt. 47, Oslo I, g: von Prof. J. Andenaes, 1954 HFG: Forschung auf dem Gebiet der Kriminologie. b) Institutt for samfunnsforskning, Munthesgate 31, Oslo, g: 1950 HFG: Kriminologische Probleme im Rahmen der soziologischen Forschung P : „Tidsskrift for samfunnsforskning". Österreich 1. Organisationen: a) österreichische Gesellschaft für Strafrecht und Kriminologie, Wien I, Liebiggasse 5, g: 1952

Organisationen und Institute HFG: Veranstaltungen von Vorträgen, Kursen und Diskussionen über Themen und Fragen aus dem Gebiete der Kriminologie. b) Kriminalbiologische Gesellschaft. Diese oben (II, 6) als internationale Gesellschaft aufgeführte Vereinigung hat den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit in Deutschland und Österreich. 2. Institute: a) Universitätsinstitut für Kriminologie der Universität Graz, Mozart-Gasse 3, g: von Prof. H. Gross, 1912 HFG: Alle Gebiete der Kriminologie und der Kriminalbiologie, außerdem Pönologie und Kriminalistik. b) Universitätsinstitut für Kriminologie der Universität Wien, Wien I, Liebig-Gasse 5, g: von Prof. W. Gleispach, 1923 HFG: Forschung auf dem gesamten Gebiet der Kriminologie und der Kriminalistik, P: „Kriminologische Abhandlungen" (seit 1926), „Kriminologische Abhandlungen, Neue Folge", hrsg. von Prof. R. Grassberger (seit 1946). Pereien Institut: Institut de Criminologie, Faculty de Droit, Universität Teheran, g: 1950 HFG: Forschung auf dem Gebiet der Kriminologie und Zusammenarbeit mit der Strafjustiz. Peru Institut: Institute de Criminologia, Facultad de Derecho, Universität Lima, g: 1929 HFG: Kriminologische Forschungen über Erscheinungsformen und Ursachen des Verbrechens P : „Ficha Criminolögica". Polen 1. Organisation: Sociiti Polonaise de MMecine Ligale et de Criminologie, 1 rue Oczki, Warszawa, g: von Prof. W. Grzywo-Dabrowski, 1949 HFG: Zusammenfassung und Organisation aller wissenschaftlichen Arbeiten auf den Gebieten der Gerichtsmedizin und der Kriminologie, P: „Archives de Midecine Ligale, de Psychiatrie Ligale et de Criminalistique". 2. Institute: a) Etablissement de Criminologie de l'Institut des Sciences Juridiques de l'Acadimie Polonaise des Sciences (Zaktad Rryminologii Instytutu 18·

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Nauk Prawnych Polskkiej Akademii Nauk) Warszawa, Palais Staszic, g: von der Acadimie Polonaise des Sciences, 1953 HFG: Forschungen auf dem Gebiete der Kriminologie, Untersuchungen über die Straffälligkeit von Jugendlichen, Bückfälligen und Alkoholtätern, P : „Archives de Criminologie, (Archiwum Kryminologii)", mit englischen Zusammenfassungen (seit 1960). b) Etablissement de Criminologie de la Chaire de Droit Pinal de Γ University de Warszawa, rue Krakowskie Przedmieäcie 26/28, g: 1930 HFG: Forschungen auf dem Gebiete der Kriminologie. c) Etablissement de Criminologie de la Chaire de Droit Pinal de 1'University de L6di, rue Narutowiez 59 a, g: 1946 HFG: Kriminologische Lehre, Forschungen über die Phänomenologie und Ätiologie des Verbrechens. d) Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie der juristischen Fakultät der Universität Wroclaw (Breslau), g: 1945 als Lehrstuhl für Kriminologie HFG: Kriminologie und Strafrecht. e) Centre des recherches pinitentiaires du miniature de la justice, Warszawa, rue Al. Ujazdowskie 11, g: 1961 HFG: Untersuchungen über Probleme des Strafvollzugs, P : „Revue Pinitentiaire", seit 1963. Portugal Institute: a) Instituto de Criminologia de Lisboa, Rua Marquez de Fronteira, 52, Lisboa 1. g: 1919 HFG: Forschung und Lehre auf den Gebieten der Kriminologie, Kriminalsoziologie, Kriminalanthropologie u. Kriminalpolitik sowie der Strafvollzugskunde, P : „Boletim da A d m i n i s t r a t e Penitenciäria e dos institutes de Criminologia" zusammen mit den Instituten von Coimbra und Porto. b) Instituto de Criminologia de Coimbra, Rua de Santana, Coimbra. g: 1927 HFG: Forschung und Lehre auf den Gebieten der Kriminologie, Kriminalsoziologie, Kriminalanthropologie, Kriminalpolitik sowie der Strafvollzugskunde, P : siehe oben unter Lisboa. c) Instituto de Criminologia do Porto, Rua S. Bento da Vitöria, Porto. g: 1935

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Organisationen und Institute

HFG: Forschung und Lehre auf den Gebieten der Kriminologie, besonders der Kriminalanthropologie. P : siehe oben unter Lisboa. Puerto Rico Institut: Centro de Investigaciones Sociales, Facultad de Ciencias Sociales, Universidad de Puerto-Rico, Puerto-Rico, Recinto de Rio Piedras, g: 1964/65 HFG: u. a. Forschung und Lehrtätigkeit auf dem Gebiet der Kriminologie. Schweden 1. Organisation: Svenska KriminaJistföreningen, Riddarhuskaien 1 , 1 Stockholm St. 2. Institut: Kriminalvetenskapliga Institutet vid Stockholms universitet, Västmannagatan 27, Stockholm, g: von Prof. 0 . Kinberg, 1946 HFG: Forschung auf dem Gebiet der Kriminalsoziologie sowie der klinischen und medizinischen Kriminologie. Schweiz 1. Organisationen: a) Schweizerische Kriminalistische Gesellschaft, g: u. a. von Oberstbrigadier Dr. J . Eugster, Dr. 0 . Härdy u. Dr. K. Zbinden, 1942 HFG: Pflege des Strafrechts und Förderung der Verbrechensbekämpfung; Instruktionskurse für Kriminalisten, P : „Rechtsprechung in Strafsachen". b) Soci6t6 Suisse de Criminologie, Lausanne, g: von A. Repond, J . Graven, Μ. Η. Thelin, 1953 HFG: Forschungen auf dem Gesamtgebiet der Kriminologie und Koordination der kriminologischen Forschung. 2. Institute: a) Kriminalistisches Institut des Kantons Zürich, Zürich, Florhofgasse 2, g: 1961 HFG: berufliche Aus- und Weiterbildung von Beamten der Strafrechtspflege. b) Institut de Police scientifique et de Criminologie de l'UniversiW, Ecole de Chimie, 3 Place du Chateau, Lausanne, g: von Prof. R. A. Reiss, 1909 HFG: Grundlagenforschung (Kriminologie und Kriminalistik). c) Wissenschaftlicher Dienst der Stadtpolizei Zürich, Amtshaus I, Bahnhofsquai 3, g: von Dr. M. Frei-Sulzer, 1950 HFG: Grundlagenforschung für die naturwissenschaftliche Kriminalistik und Ausarbeitung von Analysen-Methoden.

d) Kriminalistisches Seminar der Universität Bern, g: von W. Mittermaier, 1901 HFG: Strafrecht, Strafprozeßrecht, Kriminologie (speziell Kriminalsoziologie), P : „Berner Kriminologische Untersuchungen" e) Centre international d'6tudes criminologiques, Case postale 424, Geneve-11, g: von J . Graven, 1960 HFG: Kriminologische Forschungen (speziell Probleme der Prävention und Repression). Sowjetunion (UdSSR) Institut: Allunionsinstitut zur Erforschung der Ursachen und zur Ausarbeitung von Maßnahmen zur Verhütung der Kriminalität (Vsesojuznyj institut po izuieniju pricin i razrabotke mer preduprezdenija prestupnosti) Moskwa, D-22,2-ja Zvenigorodskaja ul., d. 15, g: 1963 HFG: Studium der Ursachen der Kriminalität und Ausarbeitung von Maßnahmen zu deren Verhütung, P : Voprosy bor'by s prestupnost'ju (Periodika über Fragen der Bekämpfung der Kriminalität); Ucenye zapiski (wissenschaftliche Abhandlungen, Sammelbände mit Aufsätzen von Wissenschaftlern und Praktikern). Spanien Institute: a) Institute de Criminologia, Universität Barcelona. Avda Generalissimo Franco, Barcelona. b) Institute de Derecho Penal y Ciencias Criminologicas, Universidad de Deusto, Bilbao, g: von Prof. J. Pereda. S. J., 1965 HFG: Ergänzung des Universitätsstudiums auf dem Gebiet des Strafrechts, der Kriminologie und der Strafvollzugskunde. c) Seminario de Criminologia de la Universidad de La Laguna, Tenerife (Canarias), g: von Dr. J. 0 . Costales, 1960 HFG: Soziologie und Psychiatrie im Zusammenhang mit dem Verbrechen. d) Instituto de Criminologia, Facultad de Derecho, Cuidad Universitaria, Madrid-3, g: von Prof. J. del Rosal u. a., 1964 HFG: Lehre und Forschung auf dem Gebiete der Kriminologie und des Strafvollzugs. Durchführung von Kursen zur Erlangung des Graduado en Ciencias Criminologicas, P : „Revista de Criminologia". Thailand Institut: The Board of Crime Prevention and Suppression Division of Research and Planning, Police Department, Bangkok, g: 1955

Organisationen und Institute HFG: Sammlung von Daten und Fakten über die Kriminalität und kriminologische Forschungen. Tschechoslowakei Institute: a) Studienkabinett für Kriminalistik beim Lehrstuhl für Strafrecht an der Juristischen Fakultät der Karls-Universität, (Studijni kabinet kriminalistiky), Praha 1, Parizskä 27. b) Kabinett für Kriminalistik beim Lehrstuhl iür Strafrecht an der Juristischen Fakultät der Komensky-Universität, Bratislawa (Preßburg), Prävnickä fakulta UK. c) Kriminologisches Forschungsinstitut (V^zkumn^ üstav kriminologck^) pri Generälni prokurature, namösti Hrdinfi 1 300, Praha 4, g: 1960 HFG: Erforschung der Kriminalität und ihrer Ursachen. Türkei Institute: a) Institut turc de criminologie (Ceza Hukuku ve Kriminoloji Enstitüsü), Universität Istanbul, g: 1944 HFG: Forschung und Lehre auf dem Gebiet des Strafrechts und der Kriminologie. b) Institut de criminologie (Ceza Hukuku ve Kriminoloji Enstitüsü) der Universität Ankara. Ungarn a) Institut für Staats- und Rechtswissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (Magyar Tudomänyos Akad£mia Allam- 6s Jogtudominyi Intizete), Budapest V, Szemere utca 10, g: von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, 1950 HFG: Forschungen auf dem Gebiete des Strafrechts, des Strafprozeßrechts, der Kriminologie und der Kriminalistik, P: „Acta Juridica". b) Staatliches Institut für Kriminalistik (Orszägos Kriminalisztikai Int6zet) Budapest XII, Maros utca 6/a sz, g: 1960 HFG: Kriminalistische und kriminologische Forschungen, P: „Kriminalisztikai Tanulmanyok" (Kriminalistische Abhandlungen). Uruguay Organisation: Asociaciön de estudios penales, criminoltSgicos y midico legales, g: 1966. Venezuela 1. Organisation: Soci£t£ venizu61ienne de criminologie, Caracas.

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2. Institute: a) Centro de Investigaciones Criminologicas de la Facultad de Derecho de la Universidad del Zulia, Maracaibo, g: u. a. von Prof. Burgos Finol, 1964 HFG: Erforschung der Kriminalität und ihrer Ursachen in Venezuela. b) Institute de Ciencias Penales de la Universidad Santa Maria de Caracas, g: u. a. von Prof. J . R. Mendoza, 1966. Vereinigte Staaten von Amerika (USA) 1. Organisationen: a) American Academy of Forensic Sciences, c/o Ordway Hilton, 16 Park Row, New York City, g: von Dr. R. Β. H. Gradwohl, 1948 HFG: Förderung der Strafrechtswissenschaft einschl. ihrer Hilfswissenschaften; Organisation von Kongressen, P : „Journal of Forensic Sciences". b) American League to Abolish Capital Punishment, 14, Pearl Street, Brookline 46 (Mass.), g: 1927 HFG: Erforschung der Geschichte der Todesstrafe ; Kampf gegen die Todesstrafe P : „Alacp News". c) American Society of Criminology, 115—117 West 42 nd Street, New York 36, g: von A. Vollmer, 1935 HFG: Förderung des Studiums der Kriminologie an den Universitäten, Ausbildung für die praktische Tätigkeit in der Strafrechtspflege, Bewährungshilfe usw. P: „The Journal of Criminal Law, Criminology and Police Sciences". d) American Correctional Association, 135 E. 15 th Street, New York City 3, HFG: Verbesserungen des Strafvollzugswesens. e) Association for Psychiatric Treatment of Offenders, 27 West 96 th Street, New York 25 (Ν. Y.), g: von Dr. M. Schmideberg, 1957 HFG: Durchführung der psychotherapeutischen Behandlung von Verbrechern, P : „Journal of Offender Therapy". f) Medical Correctional Association, 927 Fifth Avenue, New York (Ν. Y.), g: 1942 H F G : Erforschung der medizinischen Aspekte des Verbrechers, P : „Corrective Psychiatry and Journal of Social Therapy". g) National Council on Crime and Delinquency (früher: National Probation and Parole Association) 44 East 23 Street, New York (Ν. Y.), g: von Ch. L. Chute, 1907 HFG: Forschungs- und Informationszentrum. Methoden der Verbrechensverhütung, Strafrechtsreform, P: „Crime and Delinquency", „NCCD News".

Organisationen und Institute

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h) National Research and Information Center on Crime and Delinquency, 44 East 23 Street, New York 10 (Ν. Y.), Bestandteil des National Council on Crime and Delinquency, g: 1960 HFG: Informationszentrum über Fragen der Verhütung, Kontrolle und Behandlung von Verbrechen und der Jugendkriminalität, P : „Current Projects in the Prevention, Control and Treatment of Crime and Delinquency". 2.

Institute:

a) Bureau of Criminal Statistics, Department of Justice, 2700 Meadowview Road, Sacramento (Calif.), g: 1945 HFG: Studium der Kriminalität und Sammlung entsprechender Fakten. b) Delinquency Control Institute, University of Southern California, Los Angeles 7 (Calif.), g: 1945 HFG: Ausbildung auf den Gebieten der Kriminologie, P : „Delinquency Control Institute News Letter". c) Leonarde Keeler, Inc. 161 E. Grand Avenue Chicago I I (Dl.), g: von L. Keeler, 1938 HFG: Versuche mit dem „Keeler Polygraph", Anwendung psychologischer Tests. d) Midcity Delinquency Research Program, Boston (Mass.), g: von D. M. Austin, 1954 HFG: Sammlung von Informationsmaterial über Bandenverbrechen. e) New York City Youth Board, 79 Madison Avenue, New York 16, g: 1947 HFG: Verhütung und Kontrolle der Jugendkriminalität P : „Youth Board News". f) Research Center, New York School of Social Work, Columbia, 2 East 91 Street, New York 28, g: 1956 HFG: Fragen der Jugendkriminalität im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschung. g) Research Project into the Causes, Management and Prevention of Juvenile Delinquency, Harvard Law School, Westengard House, 3 Garden City, Cambridge, (Mass.), g: von Prof. Sh. Glueck und Dr. E. Glueck, 1930 HFG: Studium der Jugendlichen- und Erwachsenenkriminalität. h) Research and Statistics Branch, Bureau of Prisons, Department of Justice, Washington 25 (D. C.), g: 1930

HFG: Forschung auf dem Gebiet des Strafvollzugswesens. i) School of Criminology, University of California, Berkeley, (Calif.), g: 1950 HFG: Forschung und Lehre auf dem Gesamtgebiet der Kriminologie, k) The Frederick A. Moran Memorial Institute in Delinquency and Crime, St. Lawrence, Canton (New York), g: 1949 HFG: Veranstaltung von kriminologischen Kursen. 1) United States Department of Justice, Federal Bureau of Investigation, Washington 25 (D. C.), HFG: Organisation der amerikanischen Kriminalpolizei (FBI). Praktische Arbeit zur Verbrechensbekämpfung, m) University of Illinois Research Project in the Effectiveness of the Federal Correctional System, 1203 W. Oregon Str. Urbana (Dl.), g: von Prof. D. Glaser, 1958 HFG: Erforschung des Strafvollzugs, n) City of Philadelphia, Department of Public Welfare, Youth Conservation Services, Room 507, City Hall Annex, Philadelphia 7 (Pennsylvania), g: 1959 HFG: Erforschung der Jugendkriminalität und der Methoden zu ihrer Bekämpfung, o) The Graduate School of Arts and Sciences, University of Pennsylvania, Philadelphia 4, (Pa.), HFG: Forschung und Ausbildung auf dem Gebiet der Kriminologie (Master of Arts in Criminology). ρ) Institute of International Delinquency Control, Department of Sociology and Anthropology, Ohio University, Athens (Ohio), g: 1965 HFG: Kriminologische Forschung, insbes. auf dem Gebiet der Jugendkriminalität, q) Department of Sociology and Anthropology, Northeastern-University, 360 Huntington Ave., Boston (Mass.) HFG: Forschung und Lehre auf dem Gebiete der Kriminologie (Master of Arts in Sociology with Specialization in Criminology), r) Institute for Study of Crime and Delinquency, 650 Crocker Anglo Bank Building, Sacramento (Calif.). Monographien F r . K i t z i n g e r : Die internationale kriminalistische Vereinigung. 1005. Α. L e n z : GrundrIB der Kriminalbiologie. 1927. L . F r e d e u. R . S i e v e r t s (Hrsg.): Die Beschlüsse der Internationalen Gefängniskongresse 1872—1930, 1932 (Heft 1 der Schriften der Thüringischen GefängnisgeseUschaft). Κ". K . T e e t e r s : Deliberations of the international penal and penitentiary congresses. Questions and Answers (1872—1935), 1949.

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Organisiertes Verbrechertum Η. Η. J e s c h e c k : Entwicklung, Aufgaben und Methoden der Straf rech tsverglelchung. Hecht und Staat, Heft 181/182, 1955. H. M a n n h e i m : (Hrsg.) Pioneers in Criminology, I960. J . P i n a t e l : La Criminologie. I960. L. R a d z i n o w i c z : In Search of Criminology. 1961. U N E S C O : Elements d'une documentation en Criminologie. Kapports et documents de sciences sociales, No. 14 (1961). F. B o u z a t u. J . P l n a t e l : Traiti de droit p£nal et de criminologie. Tome I I I : Criminologie. 1963. H. M a n n h e i m : Comparative Criminology. Vol. 2. 1965. M. A n c e l : La D6fenee sociale nouvelle. (TJn mouvement de Politique criminelle humaniste). 2. Aufl. 1966. Κ. Η. H e r i n g : Der Weg der Kriminologie zur selbständigen Wissenschaft (Kriminologische Schriftenreihe, Hrsg. A. Mergen) Bd. 23. 1966. Aufsätze aus Zeitschriften und Sammelwerken F r . v. L l s z t : Eine internationale kriminalistische Vereinigung. ZStW 9 (1889) S. 363. A. L e n z : Bio Ziele der Kriminalbiologischen Oesellschaft. Mitt. d. Kriminalbiologischen Oesellschaft, 1 (1928) S. 1. A. L e n z : Probleme der Kriminalbiologie. Mitt. d. Kriminalbiologischen Oesellschaft, 1 (1928) S. 11. M. H a g e m a n n , Kriminalistische Organisationen: I n : Handwörterbuch der Kriminologie, hrsg. v. Elster u. Lingemann, Bd. 2, 1. Aufl. 1936 S. 237. E. D e l a q u l s (Hrsg.): Wirksamkeit der Internationalen Oefängniskommission 1872—1942. I n : Recueil de documents en mati&re pönale et p£nitentialre, 10 (1942/43) S. 30. V. C. B r a n h a m und S. B. K u t a s h (Hrsg.): Encyclopedia of criminology, 1949; Stichwort: Organizations, S. 280. Ε. M e z g e r : Oeschichte der Kriminologie und der Kriminalbiologischen Oesellschaft. Mitt. der Kriminalbiologischen Oesellschaft, β (1951) S. 7. U n i t e d N a t i o n s : The work of the United Nations in field of the prevention of crime and treatment of offenders; International Review of Criminal Policy, 1952, No. 1 S. 3. A. S c h ö n k e : Die Stlllegung der Tätigkeit der Internationalen Strafrechts- und Oefängniskommission. ZStW 65 (1953) S. 42. T h . S e l l i n : Les grandes conceptions de la sociologie criminelle am£ricaine. I n : L'examen m6dico-psychologique et social de delinquents (hrsg. von H e u y e r und P i n a t e l ) , 1953, S. 104. T h . W ü r t e n b e r g e r : Defense sociale. Ziele und Wege einer neuen kriminalpolitischen Bewegung. MschrKrim (Sonderheft zum IV. Congräs Internationale de Defense sociale) 1956, S. 60., J. P i n a t e l : Le 25£me anniversaire de la creation de la Soeieti"; internationale de Criminologie. Bulletin de la Soci£t£ Internationale de Criminologie, 1959, S. 258. K. Z b i n d e n : Internationale kriminologische, kriminalistische und strafrechtliche Organisationen im Dienste der Verbrechensbekämpfung. I n : Internationale Verbrechensbekämpfung (Hrsg. Bundeskriminalamt Wiesbaden) I960, S. 209. C h r . A n d e r s e n : I n : Kriminologie heute. Kriminologische Schriftenreihe (Hrsg. A. M e r g e n ) Bd. 2 (1961) S. 11. H. E l l e n b e r g e r : In: Kriminologie heute. Kriminologische Schriftenreihe (Hrsg. A. M e r g e n ) Bd. 2 (1961) S. 31. Μ. E. Wolf g a n g : I n : Kriminologie heute. Kriminologische Schriftenreihe (Hrsg. A. Mergen) Bd. 2 (1961) S. 121. N. C h r i s t i e : Scandinavian Criminology. I n : Sociological Inquiry. 31 (1961) S. 93. Ε. L a m e r s : Aspects criminologiques de la pratique ρέηΐtentiaire aux Pays-Bas. Bulletin de la Soci6t6 internationale de criminologie, 1961, S. 67. J . P i n a t e l : Les donnSes de probl&me de la bibliographic en criminologie. Elements d'une documentation en criminologie. UNESCO. (1961) S. 11. L. R a d z i n o w i c z : Strafrecht und Kriminologie (unter besonderer Berücksichtigung heutiger Strömungen in der

Bundesrepublik Deutschland). I n : Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (Hrsg. Bundeskriminalamt Wiesbaden) 1961, S. 17. I n s t i t u t d'Asie et d'ExtrSme-Orient pour la prevention du crime et le traltement des d&inquants. RIPC 20 (1962) 8. 87. J . P i n a t e l : La Socl£t£ internationale de Criminologie. Proceedings of the 12th International Course in Criminology. The Causation and Prevention of Crime in Developing Countries. Part 2 (1963) S. 453. T h . W ü r t e n b e r g e r : Entwicklung und Lage der Kriminologie in Deutschland. Juristen-Jahrbuch 6. Bd. 1964/65 S. 147. O. K a i s e r : Entwicklung und Stand der „sozialistischen Kriminologie". Krim. 19ββ, S. 563 und 635. T h . L y o n : Literaturbericht Sowjetunion. ZStW 79 (1967), Heft 1. M. T e u f e l : INTERPOL, Die Internationale Krlmlnalpolizelliche Organisation. Krim. 1967, S. 130. THOMAS W Ü R T E N B E R G E R

ORGANISIERTES VERBRECHERTUM 1.

Begriffsbestimmungen

Die B e d e u t u n g des Ausdrucks „Organisiertes Verbrechertum" s t e h t n i c h t a n n ä h e r n d fest. Er wird für sehr unterschiedliche Erscheinungen der menschlichen Gesellung i m Z u s a m m e n h a n g m i t d e m Verbrechen a n g e w a n d t , die v o n d e m geplant e n Einsatz mehrerer Personen bei einer kriminellen Tat über Kollektivgebilde verschiedener Struktur u n d m i t unterschiedlichem Verhältnis z u m Verbrechen bis h i n zu d e n B e z i e h u n g e n reichen, die zwischen den A n g e h ö r i g e n jener Schicht bestehen, die geläufig als U n t e r w e l t bezeichnet wird. D a b e i h a t m a n sich darüber klar zu sein, daß der kriminelle Mensch u n d das kriminelle Geschehen nur i n e i n e m sehr b e g r e n z t e n Sinn schlechthin m i t d e m Prädikat „ a s o z i a l " zu versehen sind, n ä m l i c h nur insoweit, als diese Qualif i k a t i o n gesamtgesellschaftliche N o r m e n und Belange i m A u g e h a t . D a v o n a b g e s e h e n aber ist a u c h der durch seine B e z i e h u n g z u m Verbrechen gekennzeichnete Mensch ein „ z o o n politikon", d. h. ein Wesen, das n a c h seinen urtümlichen Gegebenheiten wesentlich in u n d aus der sozialen Verbundenheit zu seinen Mitgeschöpfen l e b t u n d handelt. D a s Verbrechen i s t o f t nur als Wirkung solcher Verbundenheit m i t anderen z u verstehen. Diese Realität harrt n o c h i n vieler B e z i e h u n g der Durchleuchtung, zu der besonders die Disziplin der Soiialpsychologie berufen ist. Der Begriff der Organisation h a t ebenfalls verschiedene B e d e u t u n g . E r wird v o n mehreren Wissenschaften, ζ. B. der Biologie oder der Betriebswissenschaft, m i t verschiedenem Inhalt gebraucht. Der Kriminologe h a t m i t d e m soziologischen Organisationsbegriff zu t u n . Bezüglich seiner B e d e u t u n g konvergieren die verschiedenen Auffassungen heute dahin, d a ß er eine i n der menschlichen Gruppe sich verwirklichende K a t e gorie darstellt, i m Sinne eines g e o r d n e t e n Zusammenwirkens der Gruppenangehörigen zur Erreichung bestimmter Ziele. Organisiertheit i n

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Organisiertes Verbrechertum

diesem Sinne ist nicht gleichbedeutend mit formaler Regelung des Gruppenlebens. Sie ist weder an einen juristischen Konstituierungsbeschluß gebunden, noch bei Kurzlebigkeit einer sozialen Formation ausgeschlossen. Die Organisation wird existent in der Koordination der Handlungen der Gruppenmitglieder. 2. Arten des organisierten Verbrechertums An elementaren sozialen Aggregaten mit unterschiedlichem Verhältnis zum Verbrechen und verschiedengradiger bzw. verschiedenartiger Organisation zeichnen sich, abgesehen von den hier nicht zu behandelnden und wesentlich unter noch anderen Gesetzlichkeiten stehenden politischen Typen, die nachfolgend aufgeführten ab: a) Tatbestimmte Verbindungen (Komplizenschaften) b) Kriminöse Verbindungen c) Kriminelle Vereinigungen d) Verbindungen Krimineller ohne kriminelle Zielsetzung a) Die häufigste Verbindung im kriminellen Bereich ist die K o m p l i z e n s c h a f t , die Verbindung zur kriminellen Kooperation. Sie ergibt sich vorwiegend bei der manuellen Nutzkriminalität (Diebstahl, Raub), aber nicht ausschließlich hier (Betrug, Notzucht, Körperverletzung). Strafrechtlich liegt sie in den Komplexen der Mittäterschaft, der Beihilfe und der Begünstigung. Sie ist eine rein von der Tat — nicht nur im Umfange des juristischen Tatbestandes — her bestimmte Verbindung. Ihr Sinn ist Förderung der Tatausführung und Tatnutzung durch vereinte Kräfte oder Fähigkeiten oder im Zusammenspiel verschiedener Funktionen. Trotz ihres oft akzidentellen Charakters handelt es sich bei diesen Kollektiven, auch wenn sie keine klar rational erlebte Konzeption verwirklichen, meist nicht nur um ein arbeitsteiliges Nebeneinander, sondern um echte Sozialgebilde mit einer durch das Zusammenwirken bedingten Organisation. Ihre Kurzlebigkeit darf nicht über das Vorhandensein organisierter Gemeinschaft hinwegtäuschen. Besonders der exzeptionell emotionale Charakter der verbrecherischen Handlung in Richtung auf Spannungs-, Angstund Glücksempfindungen schafft seelisch ein Wir, eine Sozialgestalt. Diese Feststellung ist nicht nur aus systematischen Gründen zu treffen, sondern wegen der sozialen Wirklichkeit, die hinter ihr steht und von erheblicher kriminologischer Bedeutung ist. Der Tatgenosse ist überwiegend mehr als eine reine Erweiterung technischer Möglichkeiten. Er ist oft unerläßliche Tatvoraussetzung und wesentlicher Faktor der Tatgestaltung auch in Fällen, die durch Einzelleistungen durchaus zu bewältigen wären. Es gibt Delikte, die es nahelegen, insoweit von Gruppenkriminalität zu sprechen. Von in Berlin (West) im Jahre 1960 im Bezug auf die Tatbeteiligung geklärten Kraftfahr-

zeugdiebstählen (Gebrauchsdiebstahl) wurden 42%, von Raubüberfällen 51% und von Diebstählen aus Warenautomaten 60% durch Mehrtäter begangen. Bezeichnenderweise handelt es sich um Delikte, die zu einem starken Anteil von jüngeren Personen begangen werden. Derartige Häufigkeiten sind aber nicht nur ein Beitrag zur Typik dieser Delikte, sondern auch zur Bedeutung einer noch wenig beachteten sozialen Komponente, die diesen Tatbegehungen einen bestimmten Platz zuweist, der zwischen den Polen Individual- und Massenverbrechen liegt. b) Als kriminöse Verbindung zeichnen sich Gruppengebilde ab, bei denen Kriminalität nicht Zweck der Verbindung ist, sondern sich als Befalls- bzw. Entwicklungserscheinung ergibt. Dieses besondere Verhältnis einer Assoziation zum Verbrechen findet sich fast ausschließlich bei Verbindungen j u g e n d l i c h e r Personen. Das bedeutet keineswegs, daß Jugendlichenverbindungen an sich zu Kriminalität tendierten. Wohl aber wird Kriminalität häufig Begleiterscheinung der jugendlichen Bande, d. h. einer Verbindung, die bereits wegen des störend abweichenden Charakters ihrer Aktionen diese negativ akzentuierte Bezeichnung verdient. Ein schier unübersehbares Anschauungsmaterial für diesen Typus bieten die USA. In einer Reihe von klassischen Arbeiten hat die amerikanische Soziologie das sich in Fülle anbietende Material verarbeitet. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse erweisen sich als grundsätzlich übertragbar auch auf Jugendlichenbanden anderer Gesellschaften. Denn die festgestellten Entwicklungen und Verhaltensweisen haben ihren Grund in natürlichen, also überall in gleicher Weise gegebenen Komponenten. Eine dieser Komponenten ist die eigentümliche Seelenlage des Jugendalters beim einzelnen, die andere die seelische Auswirkung der Gruppenzugehörigkeit, die man besonders unter dem Begriff „Gruppendynamik" zu erfassen sucht. Das Jugendalter führt das besondere Gesellungsbedürfnis mit sich, das einen günstigen Boden für die Verbindungen der Jugendlichen abgibt. Außerdem verleiht die Eigenart dieser Lebensphase auch den Einstellungen und Handlungen des Kollektivs das abweichende, meist negative Gepräge. Die Gruppendynamik läßt Kollektiworstellungen entstehen, die einen bestimmten Verhaltensdruck auf die Beteiligten ausüben. Sie wirken als ungeschriebene, aber in ihrem begrenzten Geltungsbereich darum nicht weniger wirksame soziale Normen. Des weiteren setzt die Dynamik der Gruppe in dem einzelnen Kräfte frei, die zu einer gesteigerten, oft überspannten Aktivität und Leistung führen. Auf diese Weise wirken besonders die sogenaimten „Intimgruppen". Man versteht darunter Gemeinschaften, in denen die Menschen von Angesicht zu Angesicht und vorwiegend auf Grund emotionaler Beziehungen miteinander verkehren. Sie bewirken

Organisiertes Verbrechertum oft eine die ganze Person nachhaltig ergreifende Formung der Beteiligten. Jugendbanden entwickeln sich aus den ungeformten lockeren Spielgemeinschaften, zu denen Kinder und Jugendliche sich spontan vereinigen, wo immer sie sich selbst überlassen in lokalen Kontakt treten. Insbesondere entstehen solche Zusammenschlüsse an den Sammelplätzen der Wohngegenden, an Straßenecken, in der Nachbarschaft von Vergnügungsstätten und auf dem Heimweg von der Schule. So auch bei uns, wenngleich ein großer Teil der hier entstehenden Verbindungen unbeachtet bleibt, weil sie in ihrem gesamten Stil flacher und blasser erscheinen als die typischen amerikanischen Formen. Insbesondere zeigen sie viel seltener eine ausgeprägte formale Organisation und den Blickfang einheitlicher Kleidungsstücke, einer grellen Namensgebung oder sonstiger Symbole. Der Jugendliche will nicht mehr in der Abhängigkeitsbeziehung bleiben, die seine Stellung als Kind im Schöße der Familie charakterisierte. Mit Kritik, Skepsis und Ablehnung baut er diese Beziehungen zielstrebig ab. Protest und Opposition sind der äußere Ausdruck der inneren Strebung. Auf der anderen Seite ist soziale Einsamkeit eine gerade für den jungen Menschen schwer ertragbare Lebensform. Sein sozialer Status ist noch beunruhigend ungeklärt. Zu einem selbstsicheren Handeln fehlen ihm noch ausreichende Erfahrungen. Er empfindet, wie sehr das seiner sozialen Dirigation beraubte Handeln den einzelnen überfordert. All diesem Drängen und Bedürfen bietet die Gemeinschaft der Gleichaltrigen von gleichen Strebungen und Bedürfnissen Beseelten Erfüllung. Die Vereinigungen, die sich hier ergeben, beruhen nicht auf einem rationalen Grund. Auf dem Hintergrund diffuser Gefühle stehen ebenso diffuse Zielsetzungen, besonders das Ziel der Kameradschaft, aufgefaßt als ideale Gemeinschaft des Füreinander, unabhängig von dem Warum und Wozu. Es entsteht ein Wirgefühl, das sich bald auch in einem starken Wirbewußtsein widerspiegelt, wenn die oppositionellen Einstellungen und Handlungen der Gruppe zu einer an die Gruppe gerichteten Reaktion der Umwelt führen. Nach gruppenimmanenten Gesetzen vollzieht sich der Prozeß einer inneren Strukturierung mit dem Hervortreten einer Führung, aber auch die Entwicklung von Gruppenstandards des Meinens, Vorstellens und Verhaltens. Ihre Inhalte zeigen meist jugendgemäß romantische Ausformung, die bis zur schwärmerischen Kompromißlosigkeit reicht. Der gelindeste Ausdruck dieser Einstellung sind die überall zu beobachtenden Radaubanden, die ihren Bewegungsdrang in oft hysterisch anmutenden Gestikulationen und Lärmorgien mit Hilfe heulender Mopedmotoren und transportabler Musikgeräte ausleben. Ihre extreme Verwirklichung findet die Opposition gegenüber der Erwachsenenwelt in den oft zu beobachtenden Akten von

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Vandalismus. Nachahmung und Suggestion sorgen für die Erfassung der gesamten Gruppe. Die stimulierende Wirkung einer Art Wettkampfstimmung und die Applausantriebe, die die Gruppensituation mit sich bringt, erzeugen exzessive Steigerungen. Ihr allgemeinster und wesentlichster Grund aber dürfte in der Enthemmung von Handlungsimpulsen zu finden sein, die von der Geborgenheit in dem einheitlichen Geschehensstrom der Gruppenaktivität ausgeht. Die Gruppe stellt insofern eine Umwelt eigener Art dar, deren Wirksamkeit mit dem Schema Ursache-Wirkung nicht voll erfaßbar ist. Es handelt sich vielmehr um kommunikative Steuerungen im Gegenseitigkeitsverhältnis. Leicht gleitet die Gruppenaktivität auf dem Wege gewollter Besonderheit zum Verbrechen ab. Die verbrecherische Tat bietet im Unerlaubten das gesuchte Ungewöhnliche, dazu die Erregung der gewagten Bewährung, den Effekt der Beachtung, die mit der ersehnten Achtung und Anerkennung verwechselt wird, und das genußvolle Erlebnis selbstherrlicher Macht. Bevorzugt werden anfangs mitspielerisch und probeweise getroffener Objektwahl Eigentumsdelikte, die sich schnell zu serienmäßigen ernsteren Begehungen steigern. Notzuchtsdelikte sind nicht selten, und Erpressungen kommen vor. Besondere Gefahren erwachsen, wenn die Bande in den Besitz von Waffen gelangt. Dann gerät auch Mord in die Reichweite der Gruppe. Er ist als Kampfhandlung bei Gruppenfehden und kriminellen Aktionen oder als „Hinrichtung" bei internen Auseinandersetzungen konzipiert. Die Persönlichkeitsfremdheit, die bei solchen gruppenbedingten Taten häufig festzustellen ist, ist ein deutlicher Hinweis auf das machtvolle Wirken überindividueller Kraftfelder. Bezeichnend für die Eigenart dieser Wirkungen ist auch das bei den Tätern oft auffällige Fehlen eines Unrechtsbewußtseins. Es handelt sich um Erscheinungen aus dem Sonderbereich der Kriminalität, der die Effektivität der legalen Normen betrifft. Mit der Größe und Autorität der wirkenden Gruppe wächst eine Normenschwankung, deren unabsehbare Folgen besonders die Ungeheuerlichkeiten der jüngsten geschichtlichen Vergangenheit erschreckend erhellen. So entwickeln sich jugendliche Banden oft zu echt kriminellen Zweckverbänden. Aus Gewöhnung und Erfolgserfahrung tritt das Verbrechen an die Stelle der ursprünglichen Pseudoideologien. Wo die Verbindungen sich auflösen, bleiben in dem einzelnen vielfach die unter Gruppeneinfluß verinnerlichten Verhaltensmuster zurück. Vorwiegend soziologisch orientierte Kriminologen sehen in solcherart „internalisierten" Normen und Mustern abweichenden Verhaltens den Ursprung eines Großteils aller Kriminalität. c) K r i m i n e l l e V e r e i n i g u n g e n sind für ihre Mitglieder ein Mittel zur zweckmäßigen,

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Organisiertes Verbrechertum

d. h. besonders risikoarmen und erfolgversprechenden Verbrechensbegehung. Ein in seiner Ausformung und Ausbreitung einzig dastehendes Vorkommen solcher Vereinigungen zeitigte das amerikanische Berufsverbrechertum. Ein Grund für diese Erscheinung mag in dem besonders günstigen Boden für Gemeinschaftsbildungen aller Art liegen, den die amerikanische Gesellschaft darstellt. Eine andere Ursache liegt in der eigentümlichen Erfolgsethik, die die amerikanische Massengesellschaft besonders in ihrem Wirtschaftsleben hervorgebracht hat. Hiernach ist anerkannt, was Erfolg hat. Reichtum als Ausdruck eines besonders begehrten Erfolges ist ein Wert an sich, demgegenüber leicht übersehen wird, aus welchen Quellen er fließt. Diese pragmatische Einstellung hat die Entstehung einer spezifischen Mentalität ermöglicht, die den amerikanischen Berufsverbrecher großen Stils kennzeichnet und ihn als einen Sondertyp erscheinen läßt. Man hat ihn den „sozialen Verbrecher" zum Unterschied von dem „individuellen Verbrecher" genannt. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß diese Kriminellen in Bezogenheit auf eine Vorstellungs- und Wertewelt agieren, die nicht Eigenprodukt einer entsprechenden Persönlichkeit ist, sondern von einer Sondergesellschaft übernommen wurde, die innerhalb der allgemeinen Gesellschaft besteht und eine, wie man es genannt hat, „Subkultur" in Form abweichender Normen und Verhaltungsmuster anbietet. Mit der absichtlichen oder sozialinfektiösen Aneignung dieser Mentalität verflachen die Normen der allgemeinen Moral zu reinen Wissensbeständen, die man einzukalkulieren hat, die den Menschen zu seinen tieferen Schichten aber nicht mehr binden. Nicht wenig gefördert wird die Verbreitung dieser Mentalit ä t durch die Verherrlichung des großen Berufsverbrechers in den Millionenauflagen der Kolportagedarstellung aller Art. Mögen sie ihren Gegenstand wie immer zeichnen, den Kern bildet stets das verführerische Bild des klugen, kühnen und mächtigen Erfolgsmenschen. Überwiegend psychoanalytisch orientierte Verbrechensauffassungen sehen in der Übernahme derartiger Mentalitäten und Leitbilder die Bildung eines kriminellen „Über-Ich", also das Kriminellwerden der innerpersönlichen Instanz, die das Urteil über Gut und Böse liefert. Die metastatische Ausbreitung krimineller Verbindungen in den USA findet weiter eine bedeutende Voraussetzung in einer Reihe von Schwächen der staatlichen Verbrechensbekämpfung. Die Aufspaltung der berufenen Exekutiven in bundes-, einzelstaatliche und kommunale sowie Justiz- und Verwaltungskompetenzen mit vielen voneinander unabhängigen Spezialzweigen in Verbindung mit den buntscheckigen Strafgesetzen der Einzelstaaten machen eine wirkungsvolle Verbrechensbekämpfung sehr schwierig. Hinzu kommt ein

Verfahrens- und Beweisrecht von starrem Formalismus und ein Haftverfahren, das mit Kautionsstellungen allzuleicht manipuliert werden kann. Einige Schriftsteller weisen in diesem Zusammenhang auch auf eine gewisse Anfälligkeit des staatlichen Bekämpfungsapparates für politische und materielle Korruption hin, die besonders in der Prohibitionszeit um sich gegriffen hatte. Eine ihrer Ursachen liegt in der Wählbarkeit und in der auf Zeit gestellten Berufung vieler entscheidender Funktionsträger in Justiz und Verwaltung und der damit eröffneten Möglichkeit, durch finanzielle Wahlhilfe Verpflichtungen und Willfährigkeiten zu schaffen. Organisiertes Verbrechertum in Form von Räuber- und Diebesbanden hat es schon im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten gegeben. Die Entwicklung des gewerbsmäßig verübten Verbrechens zu einer in Nachahmung legaler Wirtschaftsformen betriebsartigen Verbrechensverübung hat sich überwiegend in der Prohibitionszeit vollzogen. Das Berufsverbrechertum kam in diesen Jahren in die Lage, einen ganzen Wirtschaftszweig mit Milliardenumsätzen zu übernehmen. Auf dem großen Experimentierfeld dieser Verhältnisse wurden Erfahrungen gesammelt und Praktiken entwickelt, deren bewährte Klischees heute noch vielfach nachwirken. Insbesondere wurde damals die typische Form des kriminellen Terrors in der Vorstellungswelt der Bevölkerung als eine hoffnungslose Erscheinung hingenommen und institutionalisiert. In dieser Institutionalisierung liegt auch heute noch der Lebensborn der großen Verbrechensunternehmen. Zwei Grundformen des betriebsmäßig organisierten Bandenverbrechens treten besonders hervor. Die eine ist die im Stile von Erwerbsbetrieben verübte und genutzte Erpressung, das Racketeering im engeren Sinne, die andere die ebenfalls gewerbebetriebsartig durchgeführte illegale Befriedigung bestimmter Massenbedürfnisse. Die Erpressung arbeitet mit der Androhung und im Bedarfsfalle unweigerlichen Verwirklichung von Nachteilen, die von bösartiger Sachbeschädigung über Körperverletzung bis zum Mord reichen. Diese Methode hat einen speziellen Zweig des Bandenverbrechens in Gestalt von Lohnterroristen zur Entstehung gebracht. Diese Banden oder Gangs liefern auf Bestellung die von anderen und besonders von übergeordneten kriminellen Verbindungen zur Erreichung ihrer Erwerbsziele, aber auch in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Unternehmungen oder zur Wahrung der Disziplin in den eigenen Reihen benötigte Gewalt. Hunderte brutaler Morde der letzten Jahrzehnte gehen unstreitig auf diese Zusammenhänge zurück; nur wenige von ihnen wurden aufgeklärt. Ganze Gewerbezweige eines bestimmten Gebietes werden so unter der Vorgabe, sie gegen Verbrechen zu schützen, zu ständigen Abgaben gezwun-

Organisiertes Verbrechertum gen. In entwickelten Verfahrensweisen werden durch diese Erpressungen wirtschaftliche Vorzugsstellungen erzwungen, die sich für eine ertragreiche Ausbeutung eignen. Die geschäftsmäßige Bereitstellung des Unerlaubten sucht dagegen ihren Gewinn auf dem Gebiete des Rauschgiftmißbrauchs, des Glücksspiels, der Prostitution und der Abtreibung. Das Prinzip der steuerartigen Belegung unzähliger Geschäitsvorgänge mit kleinen, auf andere abwälzbare Belastungen führt bei den zentralen Dachorganisationen, den Syndikaten, zu Gewinnen und Vermögensbildungen, die denen der legalen Wirtschaft nicht nachstehen. Die illegal gewonnenen Kapitalien werden oft legal eingesetzt und führen so zu einer nicht mehr auflösbaren Verfilzung des Verbrechens mit der Wirtschaft. Auch die kriminelle Infiltration in Schlüsselstellungen einiger Gewerkschaften und die erpresserische Manipulation von Maßnahmen des Arbeitskampfes, ζ. B. in der Filmindustrie und im Transportwesen, haben dem Verbrechertum Millionenbeträge eingebracht. In Europa hat allein der in Süditalien beheimatete Geheimbund „Mafia" ein den amerikanischen Erscheinungen vergleichbares organisiertes Verbrechertum entwickelt. Bei dieser Organisation handelte es sich in der Entstehung um eine politische Untergrundvereinigung während der napoleonischen Kriege. Die politischen Ziele sind jedoch alsbald in den Hintergrund getreten, und die Vereinigung verfolgt seit mehr als einem Jahrhundert die Bereicherung ihrer Mitglieder durch kriminelle Terrormaßnahmen. Im deutschen Bereich stellen vor allem die Z u h ä l t e r v e r e i n e wohlgeordnete kriminelle Verbände dar. Ihr Zweck ist rationelle Ausbeutung der -»-Prostitution. Für ihr Vereinsleben entwerfen sie teils geschriebene, teils ungeschriebene Ordnungsvorschriften. Sie sind meist in den großstädtischen Prostitutionsrevieren angesiedelt. Die Vereine regulieren den Strichgang der Dirnen, die Zulassung von Verkehrslokalen und Unterkünften zur Ausübung des Unzuchtgewerbes, die Preise und Abgaben, und sie erzwingen ζ. T. sogar die Bindung einzelner Prostituierter an ihre Ausbeuter. Häufiger und keineswegs auf städtische Siedlungsgebiete beschränkt sind die gemeinhin als Banden bezeichneten, auch von § 243 Ziff. 6 StGB gemeinten Dauerverbundenheiten, zu denen sich gelegentliche Komplizenschaften verfestigen. Auch der habituelle Erwerbsverbrecher sucht häufig von Fall zu Fall zwar wechselnde Tatbeteiligte, wenn er dabei auch gewöhnlich immer wieder Beziehungen innerhalb des gleichen bestimmbaren Kreises aktiviert. Auf Grund der miteinander gemachten Erfahrungen und aus Gewohnheit können sich aus der Einzeltatgenossenschaft dauerhafte Verbindungen entwickeln. Die Wahrscheinlichkeit dazu wächst mit der spezialistischen

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Ausprägung der von mehreren Personen getragenen Tatbegehung bzw. mit der verzweigten Abwicklung, die erst den angestrebten Taterfolg herbeiführt. Derartige Bandenformen sind in letzter Zeit zunehmend bei Kraftfahrzeugdiebstählen in Form des Zusammenschlusses von Dieben, Dokumentenfälschern und Hehlern zu beobachten. Die aus einem festen Bandenverband heraus handelnden Einbrecherkolonnen scheinen dagegen seltener zu werden. Als Organisation solcher Gruppen ist ausschließlich die Teamform zu beobachten. Die Mitglieder sind ranggleich. Stärkere Persönlichkeiten wirken sich zwar als spiritus rector oder Motor der Bandenaktivität aus, nehmen aber keine echte Führerposition mit Kommandogewalt und Beutevorteilen ein. d) Eine eigenartige Form der Gesellung mit Beziehung zum Verbrechen stellen die sogenannten Unterweltvereine dar, die in den deutschen Groß- und Mittelstädten seit den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts bis zum Anfang der dreißiger Jahre eine gewisse Rolle spielten. Die Fortsetzung ihrer Tradition nach dem zweiten Weltkriege ist an verschiedenen Orten versucht worden, ohne daß ihnen bisher ein dauernder Erfolg beschieden gewesen wäre. Diese Vereine waren zum Teil überörtlich in Organisationen, die sich „Ringe" nannten, zusammengeschlossen und werden daher meist als „Ringvereine" bezeichnet. Ihre Verbindung zum Verbrechen ergibt sich aus der Auswahl der Mitglieder. Die Vereinsmitglieder gehören der soziologischen Schicht an, die durch eine positive Einstellung zum Verbrechen als Mittel und Möglichkeit des Erwerbs gekennzeichnet ist. Überwiegend sind die Mitglieder vorbestraft. Ein Anhang von Mitläufern stammt aus dem entsprechenden Milieu. Die Vereinigungen als solche verfolgen nicht unmittelbar kriminelle Zwecke, bringen aber oft Verbrechen mit sich, indem die Mitglieder dazu neigen, in Wahrnehmung des Vereinsprestiges Gewaltakte zu setzen oder auch zur Erlangung von Vorteilen für den Verein oder einzelne Mitglieder sich der Gewaltandrohung zu bedienen. Besonders werden so Beiträge zu den Kosten von Vereinsveranstaltungen und Zechereien oder auch die berufliche Unterbringung von Vereinsgenossen als Kellner oder in ähnliche Stellungen erlangt. Davon abgesehen, steht die Kriminalität der Mitglieder nicht in Beziehung zu der Vereinsangehörigkeit. Der Antrieb zu der Begründung solcher Vereine liegt in der gesellschaftlichen Sonderstellung dieser Kreise, die sie zwingt, ihr Bedürfnis nach Geselligkeit und gesellschaftlicher Anerkennung in Verbindung mit sozial Gleichgestellten zu befriedigen. Die Annahme, daß die Vereine durch Gestellung von Verteidigern und Fürsorge für die Angehörigen Inhaftierter ihre Mitglieder in Strafverfahren unterstützen, stellt eine nicht gerechtfertigte Verallgemeinerung von Einzelfälllen dar. Selbstver-

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Organisiertes Verbrechertum — Persönlichkeitsforschung O. W i l f e r t : Jugend-„Gangs". 1959. G. C. H o r n a u s : Theorie der soz. Gruppe. I960. Α. K. C o h e n : Kriminelle Jugend. 1961.

ständlich kann der in den Vereinen gepflegte Kontakt den Mitgliedern bei solchen für ihre Lebensgestaltung typischen Wechselfällen nützlich werden. Erheblich kriminogen wirkt dagegen die von den Vereinen auf ihre Umwelt ausgestrahlte Billigung und Verharmlosung asozialer Erwerbs- und Existenzformen (vgl. auch P s y c h o logie des Verbrechens).

Zeitschriften- und Sammelwerkaufs&tze H. S c h m i d t - L a m b e r g : Bekämpfung jugendlicher Gangster in USA. Krim. 11/12 (1953) S. 139. J . Y. D a u t r i c o u r t : La participation dans la formation et l'activltö de bandes criminelles. Rev. Droit Pönal et de Criminologie 1 (1954/5) S. 342ff. H. L a n g e m a n n : Verbrecherorganisationen Krim. 9 (1956) S. 315. J . S u s i n i : Vols dans les „Demeures Historiques". RSC 1 (1957) S. 210. L. H o b e r g : Ringvereine einst und jetzt. Tagungsbericht Bundeskriminalamt. 1958. W. M i d d e n d o r f ! ' : Jagendliche Banden. Krim, β (1958) S. 213. H. L a n d m a n n : Unterweltsvereine als Förderer der Prostitution. Krim. 1 (1959) S. 35. P. H e i n t z u n d R . K ö n i g : Soziologie der Jugendkriminalität. KölnZSoz. Sonderh. 2. LUDWIG HOBERG

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Ρ PABAPSYCHOLOGIE ->• Aberglaube, Psychologie des Verbrechens

PERSÖNLICHKEITSFORSCHUNG 1. Begriff und Geschichte Persönlichkeitsforschung und die hierbei angewandten Methoden sind unlösbar mit der Auffassung verbunden, die ein Forscher beziehungsweise irgendeine psychologische oder psychiatrische Richtung von der menschlichen Persönlichkeit hat. Persönlichkeitsuntersuchungen erfolgen immer auf der Grundlage von deduktiven oder induktiven Hypothesen, die nur durch spezifische Methoden bekräftigt oder entkräftet werden können. Die äußere Form der Forschung und ihr sachlicher Inhalt können daher nicht voneinander getrennt werden. Schließlich muß eine kritische Würdigung von Forschungsresultaten in erster Linie die gewählte Methodik und das spezielle Forschungsobjekt betreffen. Bis vor etwa 100 Jahren beruhte die Erforschung der menschlichen Persönlichkeit hauptsächlich auf planlosen, unsystematischen Beobachtungen, die jedoch wertvolle Erfahrungsinhalte vermittelten. In unserem Kulturkreis hat die klassische griechische und später die europäische Philosophie ein wesentliches Fundament für die Beschäftigung mit menschlichen Problemen gegeben. Während sich die Naturwissenschaft bereits im 15. und 16. Jahrhundert von der philosophischen Mutterwissenschaft befreit hatte, startete der Verselbständigungsprozeß der Psychologie sehr viel später. Die erste Periode der empirischen Psychologie hat zunächst logischerweise die Naturwissenschaften als Modell benützt. Man begnügte sich

mit der Untersuchung von genau abgegrenzten Phänomenen mit Hilfe von quantitativer Messung. Die Forschung konzentrierte sich auf allgemeine Funklionsgesetze und hierunter besonders auf das Verhältnis von den physischen und den psychischen Gegebenheiten. Beispiele für psycho-physische Untersuchungen sind Webers und später Fechners Arbeiten, die sich mit dem Verhältnis von Reiz und Empfindung beschäftigten, und Helmholtz' Arbeiten über Optik und Reaktionszeit. Ein wichtiges Forschungsprojekt war auch das Gedächtnis und der Lernprozeß (Ebbinghaus). Die verschiedenen Funktionsgesetze wurden vermittels Experimenten in Laboratorien festgestellt. Ein Experiment ist eine von vornherein geplante und zurechtgelegte Untersuchung. Die Versuchsbedingungen müssen bekannt, d. h. kontrolliert sein. Der Versuchsleiter kann danach eine oder mehrere Bedingungen variieren und die verschiedenen Resultate notieren. Das Leitmotiv bei allen diesen Untersuchungen war eine Ansammlung der verschiedenen menschlichen funktionellen Fähigkeiten und, soweit möglich, ihrer physiologischen und physischen Grundlagen, um danach mittels Summierung ein Bild der gesamten Persönlichkeit zu erhalten. Das Verfahren war also analytisch-synthetisch, eine Art psychischer Chemie. Individuelle Abweichungen von der erhaltenen Regel wurden als Irrtümer bezeichnet, die man in der Gesamtbewertung außer Betracht ließ. Die einzelnen Sinnesempfindungen sollten den äußeren Reizen entsprechen, und da die Introspektion der Versuchsperson oft andere Ergebnisse gab, war die Schlußfolgerung, daß das Erlebnis aus zwei Faktoren bestehen müßte: den reinen Sinnesempfindungen und

Persönlichkeitsforschung Erfahrungselementen. Titchener (1896) glaubte mehrere tausend reine Sinnesempfindungen konstatieren zu können. Durch eine solche Aufteilung, die nur infolge sehr gekünstelter Versuchsbedingungen möglich war, schien ein fester Zusammenhang von Reiz, physiologischer Grundlage und reiner Sinnesempfindung eine Tatsache zu sein. Der Wert dieser ersten empirischen Forschungsperiode bestand teils in der kontrollierten experimentellen Methode, teils in der Untersuchung von abgegrenzten Phänomenen. Ein großer Mangel war jedoch die mosaikartige Persönlichkeitsauffassung und die nicht immer zweckmäßige Anwendung der Introspektion. Der Widerstand gegen die Mosaikpsychologie kam von zwei verschiedenen Richtungen, der Reflexologie und dem Behaviorismus einerseits und der Gestaltpsychologie rsp. der holistischen Psychologie andererseits. Das Gemeinsame für die Reflexologie und den Behaviorismus besteht in der Abweisung der Introspektion als Metbode, weil Bewußtseinsprozesse einer anderen Person nicht wahrnehmbar sind und eine Auslegung niemals eindeutig vorgenommen werden kann. Der russische Physiologe Pavlov zeigte mit seinen Versuchen mit Hunden, wie neutrale Reize, die in einer Periode mit reflexauslösenden Reizen verknüpft wurden, allmählich selbständige Reflexe hervorrufen können. Der Salivareflex des Hundes entsteht ζ. B. bei Präsentierung eines Knochens. Wenn in einer Periode regelmäßig vor der Präsentierung des Knochens mit einer Klingel geläutet wird, wird der Hund allmählich bereits beim Läuten einen Salivareflex entwickeln. Die Verknüpfung zwischen Klingel und Reflex bleibt bestehen, selbst wenn der Knochen eine Zeitlang nicht mehr präsentiert wird, und der Reflex verschwindet erst allmählich. Die Persönlichkeit kann auf diese Weise als ein System von konditionierten Reflexen aufgefaßt werden (Bechterev). Watson hat unter dem Eindruck von Pavlovs Versuchen eine behavioristische Lehre geschaffen. Er verneint keinesfalls die Existenz des Bewußtseins, er bezeichnet aber das Bewußtsein als der Forschung unzugänglich und damit als Privatsache. Die Wissenschaft darf sich zufolge Watson nur mit den Tatsachen und Gegebenheiten befassen, die von vielen Beobachtern konstatiert und kontrolliert werden können. Die Beschäftigung mit dem äußeren Verhalten (behavior) ist deswegen allein von Bedeutung, und Begriffe wie Anlage, Bewußtsein, Charakter oder Triebkraft dürfen überhaupt nicht angewandt werden. Damit scheidet auch die erbliche Disposition als Forschungsobjekt aus, und das Interesse konzentriert sich ausschließlich auf das Milieu, gewissermaßen also auf die Totalität der äußeren Reizkonstellationen. Bestimmte Gefühlsäußerungen sind von Geburt an mit bestimmten Reizen verbunden. Durch die Verknüpfung von neuen Reizen zu der von vornherein bestehenden

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Konstellation kann aber ein neues Verhalten konditioniert werden. Im Sinne dieser Forschungsrichtung bewirkt jeder Reiz spezielle Reaktionen (formula S -> R), und durch die Anwendung von geeigneten Reizen in der Erziehung kann ein ausgezeichnetes Individuum erschaffen werden. Es ist das Verdienst der Reflexologie und des Behaviorismus, auf die Begrenzungen der Introspektion und auf die Bedeutung von empirischen Untersuchungen des Verhältnisses zwischen Reiz und Reaktion hingewiesen zu haben. Die von Watson aufgestellte S R Formel ist aber keineswegs richtig, da verschiedene Individuen durchaus nicht immer gleichartig auf äußere Reize reagieren. Eine Reaktion ist nicht ausschließlich reizbestimmt, sondern wird auch durch den individuellen psycho-physischen Organismus bestimmt, der ein Produkt von erblicher Disposition und Umweltfaktoren ist. Die Formel S -> Ο R ist daher zweckmäßiger. Bechterevs und Watsons Theorien sind außerdem ebenso mosaikartig wie die Lehre von den reinen Sinnesempfindungen. Bei Aristoteles, dem englischen Empirismus und der Mosaikpsychologie finden wir Ideenassoziationen in Raum und Zeit als ein Band, das rein mechanisch persönlichkeitsschaffend auftritt, bei Reflexologen und Behavioristen gilt dasselbe für mechanisch zusammengefügte Reflexe und Verhaltungsweisen. Der neuere Behaviorismus (ζ. B. Hull und Skinner) h a t die alte Formel S -»• R sehr erweitert und hierbei den inneren Zustand und das Zielbewußtsein des Individuums berücksichtigt, Hulls und Skinners Versuche sind jedoch hauptsächlich mit Tieren vorgenommen worden. Die neuere behavioristische Forschung betrifft besonders den Lernprozeß, der aus ganzheitlichen Gesichtspunkten betrachtet wird. Salter benützt die behavioristischen Gedankengänge sowohl diagnostisch wie therapeutisch; er betont, daß eine Konditionierung nicht mit „Standardklingeln" geschehen kann, sondern nur unter Berücksichtigung der speziellen Struktur des Individuums, besonders des gefühlsmäßigen Zustandes. — Es erscheint angemessen, daß die kriminalpsychologische Forschung sich in größerem Ausmaß als bisher für die neubehavioristischen Gedankengänge interessiert. Es kann hierdurch eine Untersuchung des asozialen Lernprozesses aus anderen Gesichtspunkten als den bisherigen geschehen und danach auch eine Forschung von Abbedingungen und Neubedingungen unter neuen Möglichkeiten erfolgen. Gestaltpsychologen (Hering, Köhler, Koffka, Wertheimer, Duncker) und holistische Psychologen (Lehmann, Rubin, Katz) sind u. a. als Fürsprecher der phänomenologischen Methode aufgetreten, die im Gegensatz zu der von Mosaikpsychologen angewandten Introspektion darin bestand, daß das Individuum (die Versuchsperson) sich unreflek-

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Persönlichkeitsforschung

torisch-beschreibend über seine Erlebnisse äußerte, ohne sich Gedanken über evtl. physische Ursachen zu machen (sogenannte unwissentliche Versuche). Es wurde hier experimentell konstatiert, daß Ganzheitserlebnisse primären Charakter haben und daß erst danach eine Differenzierung in größere und kleinere Teile erfolgt. Bei dieser Differenzierung und der daraus folgenden Bedeutung, die den einzelnen Teilen zugemessen wird, spielt die individuelle Konstitution und Bearbeitung eine wesentliche Bolle. Köhler hat mit seinen Versuchen an Schimpansen bewiesen, daß ein Lernprozeß nicht mechanisch, sondern mit Hilfe von einsichtsvollem Zusammenfassen geschieht. Duncker kam in seinen Untersuchungen des Denkprozesses — er forderte die mit Problemlösungen beschäftigten Versuchspersonen dazu auf, „laut" zu denken — zu dem Resultat, daß Aufgaben mittels Umstrukturierens und heuristischer Methoden gelöst werden. Die Gestaltpsychologie hat oft Ganzheitserlebnisse zu handfest konstruiert; dies gilt besonders für Wertheimers Aufstellung von sogenannten Perzeptionsgesetzen. Die holistische Psychologie hat generalisierende Theoriebildung vermieden und sich bemüht, zwischen den verschiedenen Beobachtungen zu unterscheiden. Die von beiden Richtungen angewandte Methodik hat jedoch befruchtend auf die Persönlichkeitsforschung eingewirkt. Die phänomenologische Methode ist ein wichtiges Hilfsmittel für die Konstatierung von früheren und gegenwärtigen Erlebnissen der Patienten; es ist auch erwiesen, daß eine Diagnose mit größerer Sicherheit gestellt werden kann, sofern die Erlebnisse nicht durch zu starkes Intellektualisieren entstellt werden. Die Gestaltpsychologie hat auch die Kinder- und Entwicklungspsychologie beeinflußt. Längsschnittuntersuchungen (Gesell) haben ergeben, daß die physische und die psychische Entwicklung des Kindes auf den verschiedenen Stufen durch eine gradweise Differenzierung von Ganzheitsreaktionen und den Aufbau neuer ganzheitlicher Verhaltensweisen gekennzeichnet ist. Die Erwerbung der verschiedenen motorischen Fertigkeiten des Kindes startet ζ. B. immer mit Ganzheitsreaktionen und wird allmählich abgelöst von einer zweckmäßigen Koordination der Teilbewegungen. Das Gefühlsleben ist im Anfang eine unbestimmte und nichtdifferenzierte Ganzheit, aus welcher sich langsam die Skala der Gefühle entwickelt, die wir bei den Erwachsenen finden. Dasselbe gilt für die Entwicklung von unreifen zu reifen Verhaltensweisen. Kriminelle Rückfällige zeigen sehr häufig ein Verhalten, das zu einer bedeutend jüngeren Altersstufe paßt (Hoeck-Gradenwitz). Ganzheitspsychologische Gedanken haben auch die klinische Psychiatrie seit Kraepelin geprägt. Vermittels genauer Beobachtung von ätiologischen, pathogenetischen, pathologisch-anato-

mischen, symptomatologischen und prognostischen Faktoren gelang es ihm, Krankheitseinheiten und damit ein Klassifikationssystem aufzustellen. Kretschmer konstatierte u. a., daß ein Zusammenhang zwischen Körperbau und Charakter besteht (-»-Typenlehre). V. B e c h t e r e v : Allgemeine Grundlagen der Reflexologle des Menschen. 1926. A. G e s e l l und H. T h o m p s o n : Infant behavior. New York 1934. Έ. H o e c k - G r a d e n w i t z : Maturity and Life-Stages. Acta Psychiatrica et Neurologica Scandinavica 33 (1058). W. K ö h l e r : Psychologische Probleme. 1933. E . K r a e p e l i n : Klinische Psychiatrie. 9. Aufl. Leipzig 1927. E . K r e t s c h m e r : Körperbau und Charakter. 1921. K. L e w i n : A dynamic theory of personality. 1935. I . P. P a v l o v : Conditioned Reflexes. 1927. A. S a l t e r : Conditioned Reflex Therapy. 1949. J . B. W a t s o n : Psychology from the Standpoint of a Behaviorist. 1919.

2. Der tiefenpsychologische Ansatz Freuds psychoanalytische Forschungsmethode unterscheidet sich von den bisher angeführten durch seine Untersuchungen des Trieblebens, der Energien und der bewußten und unbewußten Motive. Vor Freud wurde Psychologie als die Lehre vom Bewußtsein definiert. Freud hat nachgewiesen, daß unbewußte Faktoren eine größere Rolle für das menschliche Verhalten spielen als bewußte. Nach seinem Modell besteht die Persönlichkeit aus „ E s " (Triebe), „Ego" (die hauptsächlich bewußte Persönlichkeitsfunktion) und „Superego" (Gewissen). Durch einen anderen Arzt (Josef Breuer) in Wien wurde Freud etwa 1885 darauf aufmerksam, daß hysterische Fälle mit Hilfe von Hypnose geheilt werden können. Unter der Hypnose geschah ein Abreagieren von gefühlsmäßig belastendem Stoff, der vor der Hypnose in dem Unbewußten verdrängt lag. Die Abreaktion bewirkte, daß das Symptom (ζ. B. Lähmungen, Sprachfehler) verschwand. Später wandte Freud eine andere Methode, „die freien Assoziationen" an. Der Patient wurde aufgefordert, in einem entspannten Zustande und ohne Reflexion einen Ausdruck für seine Gefühle, Gedanken und Erinnerungen zu geben, gleichgültig ob diese einen angenehmen oder unangenehmen Charakter hatten. Der Patient war sich gewöhnlich über den Zusammenhang zwischen diesen bruchstückartigen Äußerungen nicht klar, der Therapeut war jedoch häufig in der Lage, eine Auslegung vorzunehmen. Eine solche Auslegung geschah jedoch dem Patienten gegenüber niemals früher, als dieser sie verstehen und akzeptieren konnte. Eine andere Methode, die Freud anwandte, war die Traumdeutung; er ließ hier den Patienten auf die verschiedenen Traumelemente assoziieren. Mittels der freien Assoziationen und der Traumdeutung war Freud genauso wie durch Hypnose imstande, unbewußte Faktoren bewußt zu machen. Eine

Persönlichkeitsforschung Untersuchung von Fehlhandlungen (Verschreiben, Versprechen, Vergessen) zeigte in gleicher Weise, daß diese keineswegs immer auf Zufällen beruhen und daß ein Konflikt zwischen bewußten und unbewußtei Kräften zu Grunde liegen kann. Freud vertritt die Auffassung, daß der Analytiker eine wichtige Funktion bei dem Diagnostizierungsprozeß hat, indem die starke Bindung von Seiten des Analysanden, die häufig kindlichprimitiv ist, eine Übertragung von vielen früheren gefühlsmäßigen Reaktionen, besonders Konfliktreaktionen, auf die Person des Analytikers zur Folge hat. Der Analysand gibt bei diesen Übertragungsreaktionen ein sehr intimes Bild seines Lebens. Freud meint, daß diese Übertragungsreaktionen ziemlich unabhängig von der Persönlichkeit des Analytikers sind und daß diese allein auf der Analysesituation beruhen. Freud hat eine sexuelle Entwicklungstheorie aufgestellt, derzufolge die Sexualität bestimmte Stadien passiert, von den praegenitalen (oralen, analen und phallischen) über die Latenzperiode, die im 5.—6. Jahre beginnt, bis zu dem genitalen Stadium, das in der Pubertätszeit anfängt. Wird die Entwicklung gehemmt, kann eine Fixation (Entwicklungsstillstand) oder Regression (Zurückwerfen auf eine frühere Entwicklungsstufe) eintreten. Freud zufolge haben alle Kinder in der praegenitalen Periode den sogenannten Ödipuskomplex. Die Sexualität der Knaben ist gegen die Mutter gerichtet, die der Mädchen gegen den Vater. Wird der Ödipuskomplex nicht vernünftig abgewickelt, kann ein nachhaltiger Schaden entstehen. Freuds Methode ist psychodynamisch sowohl im Querschnitt wie im Längsschnitt, indem sie teils die verschiedenen Schichten der Persönlichkeit, teils die Entwicklung seit der Geburt zu erforschen versucht. Sein großes Verdienst besteht darin, daß er die Bedeutung der unbewußten Faktoren klargelegt und hiermit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Neurosen und Perversionen gegeben hat. Freuds Epigonen wenden jedoch termini technici: ,unbewußt, latent, verdrängt' bisweilen unwissenschaftlich an und sind allzu bereit zu Auslegungen, ohne sich vorher um eine Verifizierung bemüht zu haben. Freuds sexuelle Entwicklungsstufen sind generalisierend und schematisch, und ein Phänomen wie den Ödipuskomplex finden wir sicherlich in einer gewissen Anzahl von Fällen, aber keineswegs in allen (Malinowski). Sein Leitsatz, daß alle Triebkräfte sexuellen Ursprung haben, ist genau so einseitig wie die frühere Unterschätzung der Sexualität. Freud hat der Analyse als Übertragungsphänomen zu große Bedeutung beigemessen. Neuere Untersuchungen (H. St. Sullivan, Sarason, Hoeck-Gradenwitz) haben erwiesen, daß bei dem Übertragungsprozeß eine Auswahl entsprechend dem Erlebnis der Persönlichkeit des Diagnostikers resp. Therapeuten geschieht und daß das spezielle

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Verhältnis zwischen Diagnostiker-Therapeut und Patient überhaupt nicht allein mit Hilfe des Übertragungsmodelles erklärt werden kann. C. G. Jung, ursprünglich ein Schüler von Freud, hat mittels assoziationsdiagnostischer Versuche nachgewiesen, daß eine Gruppe von Vorstellungen und Reaktionstendenzen infolge ihrer gemeinsamen Gefühlsgrundlage oder ihrer gemeinsamen psychogenen Wurzeln Verbindung miteinander haben. Er braucht den terminus .Komplex'. Jung unterscheidet zwischen introvertierten und extravertierten Persönlichkeitststypen, er rechnet mit vier Grundfunktionen, nämlich Denken, Fühlen, Empfinden und Intuieren. Diese Grundfunktionen sind in verschiedenem Grade bewußt entwickelt und entweder introvertiert oder extravertiert. Soweit die Grundfunktionen nicht bewußt vorliegen, sind sie unbewußt vorhanden. Bewußte und unbewußte Faktoren sind so komplementär. Das Unbewußte umfaßt nach Jung nicht nur verdrängten Stoff, sondern auch das Erbgut, das von den Ahnen lang zurück herrühren kann. Jung spricht von Archetypen, dem kollektiv Unbewußten. Für Jung ist das Unbewußte eine innere Reserve, die normalerweise zur Erneuerung der bewußten Prozesse beitragen kann. Sofern eine bewußte introvertierte oder extravertierte Funktion mit großer Einseitigkeit auftritt und die Verbindung zu der komplementären, im Unbewußten befindlichen Funktion infolge starker Verdrängungsprozesse abgebrochen ist, können Neurosen oder andere Störungen eintreten. Jungs Methodik und komplementäre Theorie haben sich vielfach als wertvoll für die Persönlichkeitsdiagnostizierung erwiesen. Seine Lehre von den rassebestimmten Archetypen ist dagegen mehr mythologisch-spekulativ als empirisch-wissenschaftlich (->Typenlehre). Alfred Adler, auch ein ehemaliger Schüler von Freud, hat eine Richtung begründet, die er als Individualpsychologie bezeichnet. Für ihn hat die Sexualität nur untergeordnete Bedeutung, und er sieht im Willen zur Macht die wesentlichste menschliche Triebkraft. Der Ausgangspunkt für seine Theorie waren Untersuchungen über die psychischen Folgen der Organminderwertigkeit. Er konstatierte, daß andere Faktoren, besonders in der Erziehung, Minderwertigkeitsgefühle hervorrufen können; er nennt u. a. zu große Strenge, zu große Verzärtelung und einen unvorteilhaften Platz in der Reihenfolge der Geschwister. Die Folge von Minderwertigkeitsgefühlen sind immer Kompensationsversuche, die mehr oder weniger zweckmäßig die Erreichung einer Machtposition erstreben. Das neurotische Symptom ist zufolge Adler eine Waffe, die dazu eingesetzt wird, um Niederlagen zu vermeiden und die Umwelt zu beherrschen. Adler verneint in einem zu hohen Grade die Bedeutung der Sexualtriebe. Gewisse Neurosen-

Persönlichkeitsforschung

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formen und andere Störungen (ζ. B. geltungsbedürftige Psychopathie) können allerdings mit starken Kompensationen von Minderwertigkeitsgefühlen erklärt werden. Adler hat damit auf einen einzelnen sehr wichtigen Abwehrmechanismus aufmerksam gemacht. Es gibt aber außerdem sehr viele andere Abwehrmechanismen, ζ. B. Verleugnung, Verdrängung, Hemmung, Verschiebung und Sublimierung (Anna Freud). Adlers Lehre ist insoweit einseitig, als sie nur Erfahrungsmaterial berücksichtigt und in Übereinstimmung mit dem älteren Behaviorismus ganz von biologischen Erbfaktoren absieht. A. A d l e r : Über den nervösen Charakter. 1912. A. F r e u d : Das Ich und die Abwehrmechanismen. 1946. S. F r e u d : Die Traumdeutung. 1900; Zur Psychopathologie des Alltagslebens. 1901; Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 1916—1917. Έ. H o e c k - G r a d e n w i t z : Therapy and interpersonal relations. Society Internationale de criminologie. Bulletin Nr. 1 (1959). C. G. J u n g : Psychologische Typen. 8. Aufl. 1949. S. B. S a r a s o n : The clinical interaction. New York 19S4. H. 8. S u l l i v a n : The psychiatric interview. New York 1964. 3. Die erbbiologische

Forschung

Sie hat ihren Ausgangspunkt in Georg Mendels Arbeiten (1865). Statistische Untersuchungen haben späterhin die Erblichkeit von endogenen Geisteskrankheiten (ζ. B. manio-depressive Psychose, Schizophrenie und genuine Epilepsie) und der Intelligenz erwiesen. Während die leichten Grade des Schwachsinns erblich bedingt sind, liegen jedoch bei den schwereren Graden in der Regel embryonale oder natale Fehlentwicklungen und Traumen vor. — Auch die Erblichkeit von kriminellen Verhaltensweisen ist untersucht worden. Lombroso nahm zahlreiche Messungen von Schädeln Gefangener vor und erhielt als Resultat, daß 30—40% von diesen biologisch unterentwickelt waren und einer atavistischen Form des homo sapiens anzugehören schienen. Seine Methode wurde doch später mit Recht kritisiert. Größeres Interesse hat seine Hervorhebung der biologischen Disposition (u. a. Widerstandsfähigkeit) und die Einwirkung von psychosozialen und physischkosmischen Faktoren auf diese. Lombroso konstatierte auch, daß die Intelligenz nur einen relativ geringen Einfluß auf das menschliche Verhalten gegenüber den auf physiologischen Grundlagen beruhenden Gefühlen hat. — Zwillingsuntersuchungen haben seit Johannes Lange (1929) die kriminologische Forschung beschäftigt. Das Verfahren war immer dasselbe: Bekam man Kenntnis von der Kriminalität des einen Zwillings, wurde untersucht, wie weit auch der andere Zwilling kriminell war. Unter der Voraussetzung, daß eineiige Zwillinge dieselben Anlagen haben, während zweieiige nicht mehr dispositionell gemeinsam haben als gewöhnliche Geschwister, glaubte man durch diese Untersuchungen die kriminogene Bedeutung des Erbgutes aufdecken zu können.

Sofern die kriminelle Konkordanz bei eineiigen Zivillingen größer als bei zweieiigen ist, kann man zufolge Lange auf die überwiegende Rolle der Erblichkeit bei Verbrechensursachen schließen. Johannes Lange, Legras (1932), Rosanoff (1934), Kranz (1936), Stumpfl (1936) fanden bedeutend häufigere Konkordanz bei eineiigen als bei zweieiigen Zwillingen. Eine Gesamtauswertung der von den 5 Forschern untersuchten 213 Zwillingspaaren ergibt, daß 70% eineiige Paare kriminell konkordant und 30% diskordant sind, während das Verhältnis umgekehrt bei den zweieiigen ist. — Mit diesem zahlenmäßigen Resultat ist aber kein hinreichender Beweis für die Richtigkeit der Hypothese von Lange geführt: a) Die verschiedenen Forscher arbeiten mit verschiedenen Konkordanzbegriffen, und nur Stumpfl hat sich für eine wirkliche Übereinstimmung bezüglich Verbrechensart und -weise interessiert, b) Eine genauere Analyse des Materials zeigt, daß teilweise auch Umweltfaktoren eine Rolle gespielt haben, c) Eineiige Zwillinge werden wegen ihrer äußeren Gleichheit gleichartiger als zweieiige behandelt, d) Eineiige halten mehr zusammen als zweieiige und haben größeren Einfluß aufeinander. Eine noch nicht abgeschlossene größere dänische Zwillinguntersuchung unter der Leitung von Karl O. Christiansen nimmt Rücksicht auf diese 4 Punkte, und es ist bemerkenswert, daß ein Teil des Materials intensiv sozialpsychologisch erforscht wird. Newman, Freeman und Holzinger haben den Lebenslauf von einigen eineiigen Zwillingen verfolgt, die sehr früh in verschiedenen Milieuverhältnissen aufgewachsen waren. Es wurde hier nicht das kriminelle Konkordanzproblem untersucht. Man fand jedoch, daß genetische Strukturgleichheit keineswegs denselben Lebenslauf determiniert und daß Heranwachsen in sehr verschiedenartigen Milieus einen großen Einfluß auf die Entwicklung von zwei eineiigen Zwillingen haben kann. Es wurde ζ. B. in einem solchen Fall eine Verschiedenheit von 24 Punkten in den Intelligenzquotienten gefunden. K. Gottschaidt hat mit Hilfe von relativ exakten Untersuchungen eine Reihe von Faktoren festgestellt, die in einem höheren Grade erbmäßig als umweltmäßig bestimmt sind. Er nennt hier folgende Faktoren: Grundstimmung, Antriebslage, Ansprechbarkeit, Leistungsfähigkeit (Begabung), Gedächtnis und Lernfähigkeit. Hierzu muß wohl so ein wichtiger Faktor wie die Empfindlichkeit (Sensitivität) hinzugefügt werden. Neuere Untersuchungen (Brönsted) haben erwiesen, daß embryonale Schädigungen eine sehr viel größere Rolle spielen, als früher angenommen, und daß ζ. B. ein in den ersten Lebensjahren konstatierter Intelligenzdefekt von einem Mangel an zwei B-Vitaminen: B12 und Pholinsäure im embryonalen Zustande herrühren kann.

Persönlichkeitsforschung Die angeborene Veranlagung setzt jedenfalls gewisse Grenzen für das Leistungs- und das gefühlsmäßige Vermögen des Individuums, eine genaue Orientierung über diese Grenzen ist daher nicht nur diagnostisch, sondern auch therapeutisch zweckmäßig. Umweltfaktoren können die Entfaltung der individuellen Anlagen hemmen oder fördern, sie können jedoch, abgesehen von besonderen exogenen Umständen (ζ. B. Trauma), nicht die angeborene Grundlage ändern. Η. V. B r 0 n d e t e d : Vort blologiake grundlag III, Kopenhagen. 1957. K. G o t t s c h a l d t : Die Methodik der Persönlichkeitsforschung in der Erbpsychologie. 1942. J. L a n g e : Verbrechen als Schicksal. 1929. C. L o m b r o a o : Uomo delinquents. 1876. Β. Η. N e w m a n , F. Ν. F r e e m a n und Κ. J . H o l z i n g e r : Twins, a study of heredity and environment. Chicago 1957. F. S t u m p f l : Die Ursprünge des Verbrechene. 193β.

4. Dynamische, sozialpsychologische und psychiatrische Persönlichkeitsforschung Die dynamische Persönlichkeitspsychologie der letzten drei Jahrzehnte hat sich unter dem Einfluß der Erbforschung sowohl für biologische wie äußere soziale Einwirkungen interessiert. Murrays Untersuchungen umfassen sowohl Entwicklungsverlauf (Differenzierung der inneren Antriebe, der Bedürfnisse) und den aktuellen Aufbau der Persönlichkeit (das hierarchische System der Bedürfnisse). Bedürfnisse können bewußt odeT unbewußt, latent oder manifest sein. Murray bezeichnet die Anforderungen der Umwelt, in sowohl positiver wie negativer Form, als Druck (press), er unterscheidet zwischen den tatsächlichen objektiven Anforderungen (Ehe und Familie). Sherif, der ausschließlich sozialpsychologisch orientiert ist, hat einen sehr wichtigen Beitrag für die psychologische Forschung geliefert, teils mit Hilfe von Experimenten, teils durch Untersuchungen über Gruppenbildungen. In seinen autokinetischen Experimenten (Exponierung von einem stationären Lichtfleckchen im verdunkelten Raum) erlebten alle Versuchspersonen eine Bewegung. Es bestand jedoch ein großer Unterschied zwischen den Untersuchungssituationen, unter denen eine Versuchsperson allein das Lichtfleckchen betrachtete oder das zusammen mit anderen tat. In der erstgenannten Situation fand Sherif genau so viele Bewegungserlebnisse wie Versuchspersonen, in der letztgenannten kam man in der Regel

allmählich zur Einigkeit über die Art der Bewegung, und der gemeinsame Eindruck wurde auch später festgehalten, wenn die Versuchspersonen einzeln an dem Experiment teilnahmen. Sherif hat auch gezeigt, wie soziale Haltungen (attitudes) infolge der Bindung des Individuums an eine Referenzgruppe entwickelt und festgehalten werden. Sherifs Untersuchungen über Referenzgruppen (d. s. Gruppen, mit denen ein Individuum verknüpft ist) haben eine ausschlaggebende Bedeutung für die Gruppentherapie mit Kriminellen gehabt (Feldman). Sherifs Arbeiten haben Untersuchungen von zwischenmenschlicher Perzeption, teils in Gruppen, teils in dyadischen Situationen (Situationen zu zweien) veranlaßt. Es ist hier nachgewiesen worden, daß die gegenseitigen Erlebnisse von zwei Personen und ihre verbalen und non-verbalen Reaktionen sukzessive Wirkung auf das dyadische System haben und daß es verkehrt ist, die Erlebnisse und Reaktionen einer PeTson ausschließlich mit ihrem bewußten oder unbewußten Seelenleben mit „splendid isolation" zu erklären (Tagiuri & Petrullo). Dasselbe gilt jedenfalls auch für kleinere Gruppen. Ackerman, der sich besonders mit Familienuntersuchungen befaßt hat, betont, daß eine Persönlichkeitsuntersuchung (beziehungsweise Psychoanalyse) eines einzelnen Familienmitgliedes häufig ein sehr entstelltes Bild der Dynamik des Familienlebens gibt und daß es notwendig ist, sich für die sozialen Rollen und Persönlichkeiten der verschiedenen Familienmitglieder und für die Ganzheit der Familie zu interessieren (-»-Ehe und Familie). Zwischenmenschliche Verhaltensweisen und Gruppenprobleme haben in den letzten Jahren auch eine große Rolle bei der Erforschung der Persönlichkeit von Kriminellen gespielt. C. Sullivan, Grant & Grant haben 7 Entwicklungsstufen über die Reife aufgestellt und die Kriterien für die einzelnen Stufen auf der Grundlage von Beziehungen zu anderen bestimmt. Die drei Forscher haben u. a. Entwicklungsstufen normaler Kinder, Jugendlicher und Erwachsener mit denen der Kriminellen verglichen. Die Untersuchungen wurden vermittels Explorationen und Fragebogen vorgenommen. Es wurde konstatiert, daß sehr viele Kriminelle sich auf den kindlichen Entwicklungsstufen 2 und 3 (Ausnützung der Umwelt) und andere auf der Stufe 4 (Verbrechen infolge starker Schuldgefühle) befanden. G. K. Stürup macht darauf aufmerksam, daß die charakterologische Diagnose an einem Gesetzesübertreter keineswegs allein auf der Grundlage von psychiatrischem Wissen geschehen kann, sondern daß auch eine Untersuchung der zwischenmenschlichen Beziehungen vor und zur Zeit der Tat erforderlich ist und daß eine Beurteilung (und Behandlung) während des Strafvollzugs sich auch auf die Beziehungen zu den Beamten, Kameraden

Persönlichkeitsforschung und Besuchern stützen muß (-»• Heilbehandlung). Die in der Haftanstalt Herstedvester in Dänemark angewandte anamnestische Analyse nimmt besonders auf frühere und gegenwärtige zwischenmenschliche Beziehungen Rücksicht (HoeckGradenwitz). Aus den verschiedenen anamnestischanalytischen Fällen geht hervor, daß unbewußte Faktoren nur teilweise Schwierigkeiten in dem Leben des Kriminellen bereiten und daß unzureichender Überblick über den Zusammenhang der Reaktionen und unzureichendes Einfühlungsvermögen in die Verhältnisse von anderen Individuen Konflikte und asoziale Verhaltensweisen gezeitigt haben. Feldman hat festgestellt, daß Gruppentherapie auch eine diagnostische Bedeutung hat, indem die früheren zwischenmenschlichen Beziehungen der einzelnen Gruppenmitglieder sich deutlich in der Gruppe abspiegeln. Zwei norwegische soziologische Untersuchungen geben gleichfalls darüber Aufschluß, daß die zwischenmenschlichen Bedingungen eine wesentliche Rolle spielen. Aus einer Untersuchung über Kinderkriminalität geht hervor, daß diese zahlmäßig eine beachtliche Rolle spielt (Sveri). Zufolge einer norwegischen Polizeistatistik vom Jahre 1967 ist ein kriminelles Verhalten im Alter von 13—14 Jahren sehr häufig. Die Kriminalität nimmt danach allmählich im Alter von 15—29 Jahren ab. Sveri weist außerdem nach, daß sie bis zum Alter von 14—15 Jahren meistens in Gemeinschaft (als sogenannte Rudeltat) begangen wird, und daß kriminelle Handlungen bereits von 16 Jahren und danach in ständig steigendem Grad von Einzelpersonen ausgeführt werden. Eine interessante Untersuchung (Andenaes, 1960) ist an Studenten durchgeführt worden. Mit Hilfe von Fragebogen versuchte man, ihre unentdeckten und nicht angezeigten „kriminellen Delikte" vor dem 14.—15. Lebensjahre und später festzustellen. Das Ergebnis war — entsprechend der norwegischen Polizeistatistik — eine recht hohe Zahl von Delikten vor dem 15. Jahr und eine sehr verminderte kriminelle Aktivität nach diesem samt einer beträchtlichen Verminderung der Kriminalität auch in Gemeinschaft. —• Faßt man diese soziologischen Forschungsresultate mit Resultaten der anamnestischen Analyse zusammen, erscheint folgender Schluß berechtigt: Die Familie und die sozialen Normen ihrer Milieugruppe sind in einer längeren Periode nur äußere Faktoren für das Kind und werden nur allmählich im eigenen Verhalten assimiliert. In der Vorpubertäts- und Pubertätsperiode spielt die Kameradengruppe eine wesentliche Rolle für das Individuum. Kriminalität in Gemeinschaft ist also Ausdruck für eine Verknüpfung mit der Kameradengruppe und für eine Loslösung von den Erwachsenen. Hat der Jugendliche trotz der asozialen Phasen aber noch gefühlsmäßigen Kontakt mit seiner Familie und hat der soziale Reifeprozeß eine plastische Kon19·

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taktbereitschaft geschaffen, wird er allmählich die kriminelle Gemeinschaft verlassen und neue sozialere Interessen entwickeln. Die Jugendlichen hingegen, die niemals eine stärkere Verknüpfung mit sozialen Faktoren gehabt und aus diesem Grunde eine besonders große Befriedigung ihrer Kontaktbedürfnisse in der asozialen Gemeinschaft erlebt haben, werden in höherem Grade kriminell fixiert. Die sozialpsychologische Methodik ist sowohl phänomenologisch wie funktionell. Sie ist phänomenologisch, weil sie die Erlebnisse des Individuums auf den verschiedenen Lebensstufen klarzulegen versucht. Bei Fällen, wo relativ schnell eine Diagnose gestellt werden soll, wird die Exploration angewandt und nach einem bestimmten, aber nicht zu festen Schema gearbeitet. In anderen Fällen (besonders in der Therapie) werden die Erlebnisse und Reaktionsformen weniger im Untersuchungsgespräch, sondern mehr auf indirekte Weise (evtl. auch psychoanalytisch) ausfindig gemacht. In allen Fällen wird, soweit möglich, eine Objektivierung mit außerindividuellen Faktoren vorgenommen (Gespräche mit Angehörigen, bei Kriminellen außerdem Herbeiziehung von Schulzeugnissen und anderen Beurteilungen), und die im übrigen dynamische Diagnose wird mittels Vergleichen von subjektivem und objektivem Stoff ergänzt. Diese funktionelle Methode macht es möglich, einen Zusammenhang zwischen den Erlebnissen und Reaktionsweisen des Individuums und denen der sozialen Umwelt zu finden. N. W. A c k e r m a n : The Psychodynamics of Family Life. 4. Aufl. 1959. J . A n d e n a e s e t a l l l : Krlminalhyppighedhoßustraffede (Kriminalitätshäufigkeit Ton Unbestraften). NTf K2/3 (1960) 97—112. J . B o w l b y : Forty-four Juvenile Thieves. 1946. J . B o w l b y : Maternal Care and Mental Health. 1952. W. F e l d m a n : Group Psychotherapy with Psychopaths. Bulletin, Soci£t£ Internationale de Criminologie. 1 (I960). E . F r o m m : Die Furcht vor der Freiheit. 1945. E . H o e c k - G r a d e n w i t z : The Use of Anamnestic Analysis, its Technique and Results. Bulletin, Socl6t6 Internationale de Criminologie. 1 (I960). M. S h e r i f und C. W. S h e r i f : An Outline of Social Psychology, 1956. G. K. S t l l r n ρ : The Handling of Personality Problems in Herstedvester. Bulletin, Soci£M Internationale de Criminologie. 1 (I960). C. S u l l i v a D , M. Q. G r a n t und J . D. G r a n t : The development of interpersonal maturity, applications to delinquency. Psychiatry. 20 (1957). H. St. S u l l i v a n : Conceptions of Modern Psychiatry. 1963. K . S v e r i : Barnekriminaiiteten. NTfK. 2 (1959).

5.

Psychodiagnostik

In den letzten 50 Jahren sind Tests in wachsendem Ausmaß bei Persönlichkeitsuntersuchungen angewandt worden. Als Pioniere auf dem Testgebiete müssen besonders Cattell, Galton, Ebbinghaus und Kraepelin hervorgehoben werden. Im Jahre 1908 hat Binet als der erste ein reguläres Testsystem ausgearbeitet, das sich als ein brauch-

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Persönlichkeitsforschung

bares Diagnostizierungsinstrument erwies. Es war mittels dieses Testsystems möglich, Schwachbegabte und schwachsinnige Kinder aus den Normalklassen wegzunehmen und sie in Spezialschulen unterzubringen. „Testkonstrukteure" nach Binet haben nicht immer einen bestimmten Zweck mit ihren Tests verfolgt, wobei die empirische Grundlage und die Verbindung zur psychologischen und psychiatrischen Grundforschung oft gefehlt hat. Tests können in psychometrische und projektive Proben eingeteilt werden. Psychometrische Proben sind u. a. Intelligenztests aller Art, psychotechnische Tests und sonstige Fragebogen. In der Psychometrie wird mit standardisierten Tests gearbeitet, die isolierte und genau abgegrenzte Funktionen zu messen bezwecken. Eine solche Standardisierung verlangt immer eine große Vorarbeit. Ein passender Ausschnitt der Population, für die die Probe bestimmt ist, muß vorerst versuchsweise mit den geplanten Testfragen geprüft werden. Der Schwierigkeitsgrad der verschiedenen Intelligenzproben wird auf diese Weise festgelegt, damit die Resultate innerhalb der „Standardisierungspopulation" dieselbe Streuung wie bei der Normalverteilung haben. Binet hält ζ. B. eine Aufgabe als angemessen für eine bestimmte Altersstufe, wenn etwa 75% der Kinder sie lösen kann. Er geht von der Hypothese aus, daß 60% in einer nicht ausgewählten Population normalbegabt, 25% besser und 25% schlechter begabt ist. Intelligenzproben für Kinder ist eine einigermaßen ausreichende Grandforschung vorausgegangen, die meisten Proben sind lebensnahe und in Übereinstimmung mit der Gegenstandswelt der Kinder entsprechend ihrer Alters- und Entwicklungsstufe. Trotzdem muß vor der Überbewertung zahlenmäßiger Resultate (IQ) und einer Vernachlässigung von qualitativen Faktoren gewarnt werden. Ein Intelligenzquotient (IQ) gibt nämlich keinen Aufschluß über die absolute Intelligenz eines Individuums, sondern nur Bescheid über seine Relation zu den Normen, die für die ursprüngliche Standardisierungsgruppe gelten. Dasselbe Individuum kann so verschiedene IQ in verschiedenen Intelligenzprüfungen zeigen. Ein starker Einwand gegen den IQ ist doch der, daß die Intelligenzfunktion ihn nicht ausschließlich bestimmt, sondern daß andere Funktionen (ζ. B. gefühlsmäßige) mitwirken. Auf dem Gebiete der Intelligenzforschung macht sich immer noch ein auf unterteilte Einzelfaktoren abgestellter Gedankengang geltend, und es wird davon abgesehen, daß die Intelligenz nur der Aspekt einer größeren Ganzheit ist. Psychisch Geschädigte oder auf andere Weise benachteiligte Personen (ζ. B. Wortblindheit) erreichen bisweilen einen viel geringeren IQ, als es der Fall sein würde, wenn die potentielle Intelligenz allein meßbar wäre. Eine Untersuchung von „früheren" Schwachsinnigen hat nachgewiesen, daß der IQ

eines Individuums in einer Reihe von Jahren nicht konstant zu sein braucht und daß er, wenn ein störender Faktor vermindert ist, sich deutlich bessern kann. Intelligenzprüfungen für Erwachsene sind häufig ad hoc Konstruktionen, und eine solide Grundforschung hat hier kaum angefangen. Eine Anwendung von Kinderprüfungen ist jedenfalls unangebracht, da diese niemals auf erwachsene Gruppen genormt worden sind und auch nicht von Erwachsenen akzeptiert werden. Wechsler (USA) hat besondere Intelligenzproben für Jugendliche und Erwachsene konstruiert. In Deutschland wurden diese Tests neubearbeitet und standardisiert. (Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene und -Intelligenztest für Kinder.) Wechsler hat statistisch konstatiert, daß die Intelligenz vom 25. Lebensjahr an mit steigendem Alter abnimmt. Die Altersreduktion ist ausgeprägter in einem Teil seiner Subtests als in anderen. — Organische Befunde stützen Wechslers Theorie in einem gewissen Grade, man muß jedoch gegen die spezielle Reduktion in Tests einwenden, daß Wechslers Subtests sehr viel mehr in Verbindung mit den Interessengebieten Jugendlicher stehen und daß erwerbsmäßige Spezialisierung und Interessenbegrenzung das Leistungsvermögen der Erwachsenen bei der Anwendung von „Jugendprüfungen" beeinträchtigen können. Es fehlen Untersuchungen über die für die verschiedenen Erwerbsgruppen wesentlichen und notwendigen Intelligenzformen. Ein IQ für Erwachsene hat demnach einen sehr zweifelhaften Wert. Dagegen kann eine qualitative Analyse der Testprästation einen wertvollen Beitrag zu einer breit angelegten Intelligenzwürdigung im Rahmen der klinischen Beobachtung geben. — Wechslers Subtests haben den Vorteil, daß nicht nur verschiedene Aspekte der Intelligenz, sondern auch nicht-intellektuelle Aspekte (ζ. B. psychopathologische) bestimmt werden können. — Raven-Matrix hat in seinen non-verbalen Intelligenztests (eine Art Strukturproben) auf die Anwendung des IQ verzichtet, er drückt die Resultate in Prozenten aus und teilt die Population in Intelligenzgruppen ein. Raven kann als Gruppenprüfung benutzt werden; seine Methode hat den Nachteil, daß er wie der Intelligenzstrukturtest von Rudolf Amthauer (I-S-T) in den unteren Intelligenzbereichen eine unzureichende Streuung gibt. Innerhalb der Psychometrie sind Fragebogen (die in USA häufig angewandten „personality inventories") die unzuverlässigsten Prüfungen. Die Antworten der Probanden (in vielen Fällen bestehen sie nur aus: ,ja, nein, weiß nicht') werden einer eingehenden Analyse unterworfen, ohne daß untersucht wird, ob und wie die verschiedenen Fragen verstanden wurden. Die Faktoren, die einer Rubrizierung zu Grunde liegen, sind hypothetische, sie sind statistisch berechnete Relatio-

Persönlichkeitsforschung nen zwischen verschiedenen Tests und in keiner Weise wahrnehmbare psychologische Phänomene (L. 0stergaard). Eysenck, der hauptsächlich mit der faktorenanalytischen Methode arbeitet, glaubt, daß die Persönlichkeitsforschung hierdurch einen „objektiven" Charakter erhalten kann. Hierzu muß jedoch betont werden, daß selbst eine hohe Korrelation zwischen zwei oder mehreren Fragebogen nichts über ihren inneren Zusammenhang aussagen kann. Projektive Tests (ζ. B . Rorschach, TAT, Assoziationstest und Goldstein-Scheerer) geben Aufschluß darüber, wie ein Proband ein mehr oder weniger unstrukturiertes mehrdeutiges Material strukturiert und welche strukturierenden Prinzipien er benützt. Man spricht von Projektion, wenn die spezielle Persönlichkeit des Individuums sich in Handlungen, Wahl, Äußerungen und Produktionen zeigt, die nicht ausschließlich von konventioneller Art sind. Projektive Tests beruhen auf der vermittels Experimenten konstatierten Tatsache, daß schwierige Wahrnehmungsbedingungen in hohem Grade eine starke individuelle innere Verarbeitung zur Folge haben. Der Proband kann hierbei verborgene (latente) und evtl. unbewußte Bedürfnisse offenbaren. Die Antworten des Probanden und seine Reaktionen im Verlaufe der Prüfung werden danach psychologisch ausgewertet, welches, selbst bei standardisierten Tests, einen subjektiven Einschlag gibt. Die Rorschachprüfung (benannt nach dem schweizerischen Psychiater Hermann Rorschach •1884, |1922) besteht aus 10 Tafeln, die teüs dunkel schattierte, teils farbige, symmetrische Tintenkleckse auf weißem Grund haben. Das Experiment besteht nach Rorschach „im Deutenlassen von Zufallsformen, d. h. von unbestimmt geformten Figuren". Rorschach hat, bevor der Test seine endgültige Ausgestaltung bekam, große Vorarbeiten geleistet und u. a. untersucht, wie Normale, Schwachbegabte, neurotische Patienten auf seine Tafeln reagierten. Er hat herausgefunden, daß bestimmte Kategorien von Antworten (ζ. B. Ganzheits- oder Detailantworten, Bewegungsantworten, Farbantworten, Deutungen von Tieren, Menschen oder Gegenständen) bestimmte Intelligenzformen, Erlebnistypen, Talentdispositionen, Charaktereigenschaften und evtl. psychische Krankheiten kennzeichnen. Die verschiedenen Kategorien hat Rorschach mit Buchstaben (Formeln) bezeichnet. Auf diese Weise „wurde aus dem Forschungstest ein Prüfungstest", und Rorschach war dadurch zu diagnostischen Berechnungen imstande. Er macht aber darauf aufmerksam, daß „das Experiment in erster Linie qualitatives Reagens" ist und daß „die theoretische Begründung der Versuche teilweise noch ganz in den Anfängen steckt". Trotzdem ist die quantitative Seite des Tests mit Hilfe von neuen Kategorien und Formeln weiter ausgebaut worden

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(Beck, Klopfer), und eine wirklich intensive Forschung über die zu Grunde liegenden psychologischen Phänomene hat bisher nicht stattgefunden. Viele Rorschachdiagnostiker behandeln die Testresultate mosaikpsychologisch, indem sie sich hauptsächlich für Einzelreaktionen und für eine Summierung von diesen interessieren. Es ist jedoch notwendig, auf eine integrierte Ganzheitsauffassung des Testmaterials zu zielen. Eine qualitative Auswertung des Inhalts der Antworten ist außerdem wichtiger als eine formelmäßige Rubrizierung. Eine Inhalts- und Reaktionsanalyse ergibt die Möglichkeit einer Klarlegung von Emotionalität und Gedankengang. Wird „der Rorschach" vom Probanden akzeptiert und das Psychogramm sorgfältig und mit Verständnis für psychologisch-psychiatrische Problematik ausgearbeitet, ist er ein ausgezeichnetes Hilfsmittel für die klinische Diagnostizierung. Der Thematic Apperception Test (TAT) wurde von Murray konstruiert. Der Test besteht aus 20 Bildern (teilweise verschieden für Kinder, Männer und Frauen). Die Ausgestaltung ist ziemlich vage und unbestimmt (semistrukturiert), so daß der Proband, der die Aufgabe hat, eine Geschichte auf der Bildgrundlage zu erzählen, veranlaßt ist, eine selbständige Bearbeitung vorzunehmen. Die einzelnen Bilder schildern recht lebensnahe Situationen (ζ. B. das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, Einsamkeit, Angst und Aggression); eine Tafel ist leer, und der Proband soll hier selbst eine Geschichte erfinden, die ihm gerade einfällt. Während die Rorschachprüfung im wesentlichen Auskünfte über die aktuelle psychische Situation des Probanden gibt, kann mittels des TAT Bescheid über die bewußten und unbewußten Bedürfnisse anderen Personen oder Dingen gegenüber erhalten werden. Die Deutung des TAT ist oft sehr schwierig, sie kann jedoch erleichtert werden, wenn nach dem Abschluß des Tests eine Exploration (evtl. mit Hilfe von Assoziationen) vorgenommen wird. Obschon der TAT nicht standardisiert werden kann, muß der Tester, genau wie im Rorschach, die sogenannten Vulgärantworten kennen, welche die meisten Personen produzieren können. Der Inhalt dieser Antworten besagt wenig über die Persönlichkeitsfaktoren der Probanden. Sind die meisten Beantwortungen „vulgär", kann das auf geringer Probeakzeptation, auf starken Abwehrmechanismen oder auf einer sehr oberflächlichen Wesensart beruhen. Es ist sehr wichtig, sich darüber klar zu werden, mit welchen Personen in den TAT-Bildern sich der Proband identifiziert und wieweit andere Personen in Verbindung mit früheren oder gegenwärtigen wirklich existierenden Mitmenschen gesehen wurden. Der Test kann auf diese Weise Eigen- und Fremdbeurteilung klarlegen (zwischenmenschliche Beziehungen). Die äußere Form und die Struktur der Geschichten geben Aufschluß über

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Persönlichkeitsforschung

die Grade von logischer Konsistenz; der Inhalt kann Impulse, Einstellungen, Blockierungen, Abwehrmechanismen und evtl. Vorhandensein von psychischen Krankheiten zum Ausdruck bringen. Ein Assoziationstest (ζ. B. Jung, Rappaport) besteht aus ausgewählten Reizwörtern, auf welche der Proband spontan mit anderen Wörtern reagieren soll. Die Assoziationen, d. h. die Verbindung zwischen Reiz- und Reaktionswörtern, können nach Form und Inhalt untersucht werden. Die formelle Untersuchung betrifft Begriffsbildung und Richtung des Denkens; die Inhaltsanalyse kann, besonders in den Fällen, wo Reaktionswörter abweichend von gewöhnlichen sind, auf Konfliktgebiete hinweisen (ζ. B. Vater—tyrannisch, Frau—Mißtrauen). Wie beim TAT ist eine spätere Exploration erforderlich, es ist u. a. zweckmäßig, den Probanden auf auffallende Reaktionswörter weiter assoziieren zu lassen. Sacks Sentence Completion Test (SSCT) ist eine Ausfüllungsprüfung. Eine Reihe von abgebrochenen Sätzen (ζ. B. Ich finde, daß mein Vater selten . . . Ich verstehe nicht, warum ich bange bin vor . . . ) sollen von dem Probanden abgeschlossen werden. Aus diesen Vervollständigungen kann auf die Einstellungen zu eigenen Möglichkeiten und anderen Personen und auf Angst, Aggressivität und Schuldgefühle geschlossen werden. Eine statistische Bearbeitung ist möglich, eine tiefgehende Exploration bleibt aber auch hier am wichtigsten. Verschiedene Tests (ζ. B. Kohs* Blocktest und Goldstein und Scheerers Sortierungstest) haben speziell Bedeutung für Diagnostizierung von organischen Gehirnkrankheiten. Bei dem Blocktest, wo bestimmte Figuren nach Vorbildern aufgelegt werden müssen, wird die visuell-motorische Koordination untersucht. Bei dem Sortierungstest, wo verschiedene Gegenstände nach bestimmten Kriterien zusammenzufassen sind, wird der Umfang des abstrakten Leistungsvermögens (beziehungsweise Neigungen zu primitiven Konkretisierungen) untersucht. Es wird in der Regel unzulänglich sein, sich mit der Anwendung eines einzelnen Tests zu begnügen. Mehrere Tests, evtl. sogar eine Testbatterie, zusammengestellt nach dem besonderen Zweck der Untersuchung, werden oft erforderlich sein. Die Probanden akzeptieren Tests oft verschiedenartig und weisen verschiedene Persönlichkeitsaspekte in den einzelnen Tests auf. Tests sind wichtige Hilfsmittel für die klinische Diagnose, die sich jedoch in der Hauptsache auf eine umfassende und tiefgehende Anamnese stützen muß. Eine Anwendung von Blindtests ist unzweckmäßig, weil die Deutung hier leicht zu einem Rätselraten wird. Der Gedanke, die projektiven Tests als Lügendetektoren anzuwenden, erscheint absurd. Es ist ζ. B. möglich, Unzuverlässigkeit bei

einem Individuum aufzudecken; damit ist aber nicht gesagt, daß es in bestimmten abgegrenzten Situationen wirklich immer unzuverlässig ist. Ein Observand kann auch in einem Test kriminelle Neigungen zu erkennen geben (die viele Menschen haben), ein Test erlaubt aber nicht die Folgerung, daß der Proband der Täter für ein bestimmtes Verbrechen ist. Endlich muß betont werden, daß das Verhalten des Probanden in einer Testsituation nicht die Annahme gestattet, daß er in allen anderen Situationen dieselben Eigenschaften aufweisen wird. L. E. A b t und L. B e l l a k : Projective Psychology. 1950. S. J . B e c k : Rorschach's Test. Bd. I—III. 1949—1952. H. J . E y s e n c k : Personality tests. 1958. Κ. G o l d s t e i n und Μ. S c h e e r e r : Abstract and concrete behavior. Psychological Monographs Nr. 239 (1941). E. H o e c k - G r a d e n w i t z : „Frühere" Schwachsinnige. Acta Psychiatrica et Neurologica Skandinavica. 106 (1956). E. H o e c k - G r a d e n w i t z : Rorechachtest mit kriminellen Psychopathen. PsycholRdsch. Χ, 2 (1959). Η. Α. M u r r a y : Manual for the Thematic Apperception Test. 1943. D. R a p p a p o r t : Diagnostic Psychological Testing. Bd. 1—2. 1946. J . G. R a v e n : Guide to using progressive matrices. 1958. Ξ . R o r s c h a c h : Psychodiagnostik 5. Aull. 1946. L. 0 e t e r g a a r d : Den psykologiske testmetode og dens relation til klinisk psykiatri. 1961.

6. Zusammenfassung Methoden zur Erforschung der Persönlichkeit sind entweder quantitativ oder qualitativ. Vielfach können die beiden Methoden einander ergänzen. Die quantitative Methode hat ihre Begrenzung in dem Umstand, daß nur äußere Faktoren meßbar sind und daß solche bedeutenden Persönlichkeitsaspekte wie Gefühl, Vorstellung, Motivation und unbewußte Faktoren sehr schwer quantifizierbar sind. Standardisierte Tests nehmen in der Regel nur ungenügend auf die sehr verschiedenartigen milieu- und erwerbsmäßigen Voraussetzungen Rücksicht, und häufig fehlt dabei eine gründliche Untersuchung des Zusammenhangs von quantitativen Ergebnissen und psychischen Funktionen. Während die qualitativen Methoden nun mehr oder weniger ganzheitspsychologisch angewandt werden, ist das bei den meisten quantitativen Methoden durchaus nicht der Fall, indem hier ständig Messungen von Einzelreaktionen vorgenommen werden und der Zusammenhang mit der Ganzheit der Persönlichkeit und den Milieufaktoren außer Betracht gelassen wird. Neuere behavioristische Methoden haben auf dem Gebiete des Lernprozesses erwiesen, daß eine Messung eines größeren Komplexes von Verhaltensweisen bis zu einem gewissen Grade durchführbar ist. Es erscheint daher möglich, allmählich auch die verschiedenen sozialen Milieus ganzheitlich zu bestimmen, um dadurch Abweichungen von verschiedenen Individuen besser analysieren zu können. Qualitative Methoden sind in den letzten Jahrzehnten zu einer umfassenden Querschnitts-

Persönlichkeitsforschung — Polizei und Längsschnittserforschung der Persönlichkeit benutzt worden, wobei in steigendem Grad die Funktionen der einzelnen Faktoren (Strukturen und Bewußtseinsschichten) und ihr Zusammenwirken innerhalb der Ganzheit unterstrichen wurden. Diese Methoden können in aller Kürze als psychoanalytisch, bedürfnispsychologisch, felddynamisch und sozialpsychologisch charakterisiert werden. Untersuchungen des Verhältnisses zwischen Erbanlage, intrauterinen Faktoren und Milieu haben Resultate ergeben, die ständig berücksichtigt werden müssen. Gleichgültig, welche Methode man anwendet, wird die Persönlichkeit des Forschers immer eine Rolle spielen und mehr oder weniger wechselweise Einwirkung auf den Probanden und damit den Diagnostizierungsprozeß haben. Die für die Kriminologie wichtigste Methode ist die sozialpsychologische, weil sie sich nicht nur phänomenologisch für die Persönlichkeit als eine integrierte Ganzheit interessiert, sondern weil sie diese auch funktionell unter dem Gesichtswinkel der zwischenmenschlichen Beziehungen betrachtet (-»-Psychologie des Verbrechens). ERIK

HOECK-GRADENWITZ

PEESÖNLICHKEITSSCHUTZ Verbrechens POLITISCHE KRIMINALITÄT

Psychologie des Staatsdelikte

POLITISCHER MORD (ATTENTAT) H» Tötungsdelikte

POLIZEI I. DER POLIZEIBEGRIFF UND SEINE ENTSTEHUNG A. Allgemeiner Begriff der Polizei Polizei ist Prinzip, Funktion und Institution. Die Bezeichnung wird bald für das eine, bald für das andere verwendet. Als Prinzip bedeutet Polizei Ordnung als eines der Grundelemente der menschlichen Gesellschaft. Funktional heißt Polizei Gewährleistung dieser Ordnung durch potentielle Machtentfaltung, also erforderlichenfalls Einsatz von Macht. Polizeiliche Institution ist diejenige — „staatliche" — Einrichtung, der die Ordnungsgewährleistung obliegt und die in der Lage ist, Macht einzusetzen. B. Die einzelnen Bestandteile des Polizeibegriffs und ihre Entwicklung 1. Das Prinzip als solches ist Veränderungen nicht unterworfen, weil „Gesellschaft" das Vorhandensein einer Ordnung voraussetzt. Allerdings hat sich die Gesellschaftsgestalt seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte ständig gewandelt und mit

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ihr die Ordnung. Ordnungsinhalt und Ordnungsfunktionen sind also unmittelbar abhängig von der jeweiligen Gesellschafts V e r f a s s u n g , demzufolge — wie diese — in steter Entwicklung. Strukturveränderungen der Gesellschaft können sprunghaft eintreten (durch Naturereignisse, durch Kriege, aber auch durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse). Im allgemeinen vollziehen sie sich langsam und für das Individuum kaum merklich. In nahezu vollkommener Akzessorietät wandelt sich der Ordnungsbegriff. Modifiziert ist diese Abhängigkeit nur dadurch, daß gesellschaftliche Wandlung und die durch sie veränderten gesellschaftlichen Bedürfnisse von dem einzelnen nicht sofort empfunden, der Gesellschaft also nicht jederzeit bewußt werden. Dadurch kommt es zu gewissen Verzögerungen des Angepaßtseins der Ordnungsfunktion an den jeweiligen gesellschaftlichen Zustand. Maßgebend ist die jeweilige „Anschauung", und zwar die des zur Durchsetzung der Ordnung berufenen jeweiligen Machthabers. Im absoluten Staat bestimmt den Inhalt des Prinzips „Ordnung" die Anschauung des Souveräns. Im demokratischen Rechtsstaat dürfen dagegen nur „allgemeine" Anschauungen maßgebend sein, das ist die Überzeugung der Mehrheit des „herrschenden" Volkes, also die „herrschende Anschauung". Die im Rechtsstaat die Polizei kontrollierende Rechtsprechung trägt dabei wesentlich zur Ermittlung der herrschenden Anschauung bei. Sie normiert dadurch bis zu einem gewissen Grade den Begriffsinhalt des Ordnungsprinzips, trägt aber zugleich damit ebenfalls — als ein im Interesse der Rechtssicherheit konservatives Element — zur Verzögerung der Angepaßtheit des Ordnungsbegriffs an den jeweiligen Entwicklungszustand der Gesellschaft bei. Diese Verzögerung läßt im Individuum bzw. in der Generation leicht Auffassungen entstehen, als sei der Inhalt des Ordnungsbegriffs etwas Feststehendes und Unabänderliches. 2. Die funktionalen Möglichkeiten der Polizei zur Gewährleistung der Ordnung reichen vom gelindesten Mittel bis zum äußersten Einsatz. Die Polizei stellt Fragen und hält Nachschau, sie gebietet und verbietet, sie genehmigt und versagt Genehmigungen. Die Polizei bewirkt damit Verhaltens- und Zustandsänderungen. Sie greift auch unmittelbar durch physische Einwirkung auf Personen und Sachen in deren Verhalten und Zustand ein. Zu den äußersten denkbaren Funktionsmöglichkeiten der Polizei gehören Eingriffe in Freiheit und Leben des Menschen. Aller polizeilichen Funktion vom Anbeginn eigentümlich ist Machtentfaltung, zumindest die Möglichkeit eines Machteinsatzes. Zwar macht das Wissen um ihr Vorhandensein den Einsatz der Macht meist entbehrlich. Es wäre aber ein Irrtum, anzunehmen, daß polizeiliche Bereitschaft bereits polizeiliche Funktion wäre. Macht und Polizei sind nicht identisch. Macht ist Attribut, nicht Subjekt. Auch

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Polizei

Militär ist mit Macht ausgestattet, deshalb aber nicht — im herkömmlichen Sinne — Polizei. So wird auch polizeiliche Machtentfaltung erst zur Polizeifunktion, wenn sie auf Erhaltung bzw. Wiederherstellung gesellschaftlicher Ordnung gerichtet ist. Macht als Selbstzweck ist Terror, andererseits bewirkt staatlicher Verzicht auf sie Anarchie. Es gibt gesellschaftliche Normen, die sich nicht kraft Naturnotwendigkeiten durchsetzen. Ihnen Geltung zu verschaffen, sie also erforderlichenfalls gegen Uneinsichtigkeit sowie Böswilligkeit zu verteidigen, erfordert staatliche, in diesem Zusammenhang polizeiliche, Macht. Der Umfang dieser Macht h a t mit der gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung, vor allem mit der Ablösung einseitiger — staatlicher — Gewaltverhältnisse durch Anerkennungsverhältnisse (oboedientia facit imperantem), erhebliche Begrenzungen erfahren, mit denen unmittelbar auch das Ausmaß polizeilicher Funktionsmöglichkeiten eingeengt wurde: Die Befugnisse des Staates zur Machtanwendung wurden verringert, und Rechte des Staatsbürgers wurden geschaffen (Grundrechte!). An die Stelle des allmächtigen Polizeistaates t r a t der Rechtsstaat. Macht wurde mit Recht verbunden. Die polizeiliche Funktion wurde zwar nicht ihrer Macht entkleidet, wohl aber durch das Recht begrenzt und vom Recht kontrolliert. Ja, polizeiliche Funktion begann sogar mit dem Auftrage verflochten zu werden, erforderlichenfalls dem Recht Geltung zu verschaffen. Die entscheidende Entwicklungsrichtung war aber: Der Staat sollte — im Innern —· von seiner Macht nur Gebrauch machen dürfen, wenn und soweit dem Staate bzw. unter seinem Schutze der Gesellschaft Gefahr drohte. Mit anderen Worten: Die Polizei wurde als Teil der Staatsgewalt begrifflieh Residual-Kategorie, auf die erst und nur unter rechtlich möglichst genau umrissenen Voraussetzungen zurückgegriffen werden darf. Wesentliches Stichwort für diese Voraussetzungen ist „Gefahrenabwehr". Deutlich herausgestellt hat das erstmals (1770) der Göttinger Staatsrechtslehrer Johann Stephan Pütter (Institutiones iuris publici germanici): „Politiae est cura avertendi mala futura". Der Akzent liegt auf dem letzten Wort. Künftige Übel (also Gefahren) abzuwenden, ist Aufgabe der Polizei. Pütter grenzte damit polizeiliche Funktionen gegenüber der übrigen staatlichen Aufgabe der Wohlfahrtsförderung (promovendae salutis) ab. Aufgegriffen wurde Pütters Lehrsatz 1794 als Gesetz in dem von Carl Gottlieb Suarez verfaßten (preußischen) „Allgemeinen Landrecht (ALR)". Dessen § 10 Teil II Titel 17 ist berühmt geworden: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publico oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey". Eine kontinuierliche Entwicklung

war allerdings mit dieser ersten gesetzlichen Bestimmung nicht eingeleitet. Schon 1808 trat der preußische Staat als Polizei aus seinem landrechtlichen Residuum der Gefahrenabwehr heraus, indem er mit einer königlichen Verordnung der Polizei „Fürsorge wegen des Gemeinwohls unserer getreuen Unterthanen", also eine Wohlfahrtsaufgabe, übertrug. Das war Reaktion. Sie dauerte an bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Aber dann kehrte man wieder um und drängte den Staat als Polizei zurück in die Funktion der Gefahrenabwehr. Als markantestes Datum hierfür ist das „Kreuzberg-Urteil" des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zu nennen (1882), mit dem eine Polizeiverordnung als mit § 10 I I 17 ALR unvereinbar erachtet wurde, die zum Schutze der Aussicht auf ein Kriegerdenkmal auf dem Berliner Kreuzberg ergangen war. Schutz der Aussicht auf ein Denkmal ist nicht Gefahrenabwehr, rechtfertigt also keine Polizeiverordnung 1 Seitdem allerdings hat sich die Konzeption, daß sich der Staat als Polizei auf Gefahrenabwehr zu beschränken habe, allenthalben — auch außerhalb Preußens — durchgesetzt. 3. Eine so herausragende Aufgabe wie die der Gefahrenabwehr erfordert ihr entsprechende Institutionen, denen die Polizeigewalt anzuvertrauen ist. Hier deutet sich ein wichtiges gesetzgeberisches Problem an. Die Aufmerksamkeit, die jedem Vorhandensein konzentrierter Energie •— unter dem Gesichtspunkt der Möglichkeit einer unerwünschten Entfaltung — zu zollen ist, verdient in hohem Maße die Institution, die im Stande sein soll, staatliche Macht anzuwenden; wo Macht gebraucht werden kann, kann Macht auch mißbraucht werden. Mit Atomenergie kann die Menschheit sowohl beglückt als auch vernichtet werden. Mit staatlicher Macht können Gefahren abgewendet werden, von Macht aber gehen auch Gefahren aus. Mit jenen befaßt sich die Polizeiwissenschaft, diesen hat die Staatspolitik ihre äußerste Aufmerksamkeit zu widmen; daher die vielfältigen, gerade den mit Macht ausgestatteten Institutionen im Staate entgegengebrachten Interessen. Im absoluten Staat wird sich der „getreue Unterthan" mit Vertrauen begnügt haben; ihm war auch nicht viel mehr an Möglichkeiten der „Mitwirkung" geboten. Anders in der Demokratie. Je echter und vollkommener sie ist, desto stärker wird das Interesse des Volkes an denjenigen zu sein haben, denen die Handhabe über die Staatsmacht „anzuvertrauen" ist: Vertrauen genügt nicht, Kontrolle t u t not! Auch Staatsmacht ist nur wohltätig, „wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht". Daß das demokratische Bedürfnis nach Machtkontrolle besonders stark empfunden wird in einer Zeit, der eine Epoche furchtbaren Machtmißbrauchs vorangegangen ist, ist nur selbstverständlich. So erklärt es sich vor allem, daß zwar in den beiden vergangenen Jahrhunderten, ja

Polizei bis etwa zum Jahre 1933, die wissenschaftlichen und gesetzgeberischen Interessen vor allem der Vervollkommnung des materiellen Polizeirechts gegolten haben, daß aber nach 1945 eine spürbare Interessenverschiebung stattgefunden hat, die zur Folge hatte, daß die der Polizei zugewandten Überlegungen mehr und mehr der Institution Polizei als ihrer Funktion gelten. N U R dem GESETZ unterworfene POLIZEI

Gesetzes-Vollzug (Law Enforcement)

—Abbildung 1— Die Möglichkeiten polizeilicher Institutionalisierung sind außerordentlich vielfältig. Etwa fünf Grundtypen wird man unterscheiden können: a) Zunächst eine dem kontinental-europäischen Denken nicht vertraute Form einer Polizei, die nicht „integrierender Bestandteil der Regierungsgewalt" ist: Die Polizei ist „nur dem Recht unterworfen". Sie beschränkt sich insoweit auch nur auf dessen Anwendung. Ihre Funktion besteht in der Verwirklichung des Rechts (law enforcement). Eine Generalvollmacht, die die Polizei zum Eingriff in die Rechte des Bürgers befugt, gibt es nicht. Diese Form einer der Regierungsgewalt weitgehend entzogenen Polizei entspricht anglikanischem Rechtsdenken. Zwar gibt es auch im angelsächsischen Rechtsraum Regierungsaufsicht über die Polizei, die aber keine Weisungsbefugnis beinhaltet. Der für die Polizei letztlich zuständige Minister in England hat allenfalls die Möglichkeit, der Polizei, wenn sie ihre Aufgaben vernachlässigt, die finanziellen Mittel vorzuenthalten. Es ist übrigens durchaus nicht unvorstellbar, daß Polizeifunktionen von nichthoheitlichen Verbänden, ja sogar von Privatunternehmern, wahrgenommen werden. In den USA macht man von dieser Möglichkeit in einem für deutsche Verhältnisse erstaunlichen Umfange Gebrauch (Beispiele: The New York Port Authority, ferner Pinkerton Police u. a.). Hierzulande hat man auch das Institut des „beliehenen Unternehmers", aber man verwendet es auf dem Gebiete der Polizei nur ganz andeutungsweise und sehr behutsam (Beispiele: Freiwillige Feuerwehr, Schüler-Lotsendienst, Technisches Hilfswerk; am ehesten mag hier der „verkehrsregelnde Bauunternehmer"

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— § 3 der Straßenverkehrsordnung — genannt werden). Diese Formen polizeilicher Institutionalisierung sind nicht eigentlich Machtkontrolle, sondern Verkürzung der Regierungsgewalt. b) Uneingeschränkte Machtkompetenz hat der Staat auf polizeilichem Gebiete im Falle einer zentralen und konzentrierten Polizeiorganisation. Unter Konzentration ist dabei die Zusammenfassung aller gefahrenabwehrenden Funktionen in Polizeibehörden zu verstehen, während ich unter Zentralisation auch den Zustand begreife, in dem zwar Polizeibehörden regional gegliedert sind (Landes-, Kreis- und Ortspolizeibehörden), diese „horizontal" gegliederten Behörden aber durch Über- und Unterordnungsverhältnis, d. h. letztlich durch Anweisungsmechanismus, der Regierungsgewalt zur Verfügung stehen. Diese Organisationsform hat zwei wesentliche Vorzüge: Sie ist klar, übersichtlich sowie zur Abwehr gemeiner Gefahren außerordentlich funktionsfähig ; und sie ist, vermöge ihrer Geschlossenheit, leicht zu kontrollieren. Eine zentrale und konzentrierte Polizei steht damit zugleich auch fast unmittelbar unter der parlamentarischen Kontrolle. Die Vorteile dieser Organisationskonzeption sind so groß wie ihre Nachteile: Ist nämlich die parlamentarische Kontrolle unter Umständen einmal nicht wirksam, werden alle die Besorgnisse begründet, die der Eigengewichtigkeit eines geschlossenen Polizeiapparates und den daraus folgenden Mißbrauchgefahren zu gelten haben. Exempla docent. Verringerung der von zn starker Machtkonzentration ausgehenden Gefahren wird also nur durch Dezentralisation oder (bzw. und) Dekonzentration zu erreichen sein. Ζ Ε NTRALE-staatllche-PO LI Ζ ΕI

Minister des Inneren

Reg.Präs.

/

LandesPol.-Dlr.

Pol-Präs.

/ \ .

/

X Landrat

/

Pol.-Dlr.

, Po1 Insp.

LandesKrlm.-Amt

\ Ve

*el;rsstaffeln

Krlm.Insp.

—Abbildung 2— c) Als dezentralisierte Polizei wird diejenige Organisationsform zu bezeichnen sein, in der zwar wiederum verschiedene Polizeiinstitutionen „horizontal" gegliedert sind, in denen aber die regional unterschiedlichen Polizeibehörden nicht einander über- bzw. untergeordnet sind. In diesem Falle sind Orts- bzw. Kreispolizeibehörden nicht nur Selbstverwaltungsorgane,

Polizei

298 DEZENTRALISIERTE POLIZEI (Horizontole Gliederung)

Keine Welsungsbefugnis oder nur Koordinatfonsbefugnis

—Abbildung 3 sondern sind ihre Aufgaben auch Selbstverwaltungsaufgaben (also nicht durch Weisungsbefugnisse des Staates beeinflußbare Auftragsangelegenheiten). d) Gegenüber dem vorgenannten Institutionstyp besteht das mit Dekonzentration zu bezeichnende System polizeilicher Gewaltentflechtung in vertikaler Zerschneidung des Polizei-Ganzen (der Gefahrenabwehr), also in Ressort-Stückelung. Diesem System liegt letztlich der gleiche Gedanke zugrunde, der alle demokratischen Staaten veranlaßt hat, die Armee (Institution zur Abwendung der von „außen" drohenden Gefahren) und die Polizei (Institution zur Abwehr „innerer" Gefahren) zu trennen und von verschiedenen Ministerien ressortieren zu lassen. Die Durchführbarkeit polizeilicher Dekonzentration ist also entscheidend abhängig von der Möglichkeit der Aufteilung des Gefahrenbegriffs nach Materien (ζ. B. Gesundheitspolizei, Baupolizei, Verkehrspolizei usw.). Sie wird demgemäß auch am ehesten da in DEKONZENTRIERTE (Vertikale Gliederung)

GesundheitsMinister

WirtschaftsMinister

GesundheitsPolizei

GewerbePolizei

Betracllit zu ziehen sein, wo bereits für die einzelnen Materien Ressortverwaltungen vorhanden sind (ζ. B. Gesundheitsämter, Baubehörden usw.). Da indessen stets mit dem Eintritt materiell nicht genau bestimmbarer Gefahren zu rechnen ist, wird es kaum möglich sein, alle Polizeiaufgaben bis ins letzte vertikal aufzugliedern. Aus dieser Unmöglichkeit folgt, daß zwar bei Anwendung dieses Systems nicht mehr die gesamte Gefahrenabwehr einer einheitlichen Polizeiinstitution obliegt, daß aber weiterhin eine mit eigenen Ressortaufgaben betraute Polizeiinstitution bestehen bleiben muß, deren Aufgabe darin zu bestehen haben wird, „alle übrigen" Gefahren abzuwehren. Diese Restaufgabe kann man dann mit dem fast nichtssagenden Wort „Sicherheitspolizei" bezeichnen. Eine zusätzliche Aufgabe dieser Sicherheitspolizei ist es, den einzelnen Ressortbehörden (Gesundheitspolizei, Baupolizei usw.) Amts- und Vollzugshilfe zu gewähren. Da schließlich Gefahren, für deren Abwehr Ressortpolizeien zuständig sind, jederzeit eintreten können, aber nur die eigentliche Polizei jederzeit einsatzbereit ist, wird diese in unaufschiebbaren Fällen auch bei diesem System der Sonderzuständigkeit für andere Verwaltungen tätig zu werden haben („antizipierte Amtshilfe"). e) Am extremsten kommt die Tendenz, die Polizei als „Residualkategorie" aufzufassen, in dem Organisationstyp zum Ausdruck, nach welchem die Polizei als Institution nahezu ausschließlich als Vollzugsinstrument anderen f ü r die Gefahrenabwehr zuständigen Verwaltungsbehörden zur Verfügung steht. Bei vollkommener Verwirklichung dieses Prinzips h a t die Polizei — abgesehen von den durch Eile gebotenen Fällen antizipierter Vollzugshilfe — keine Entschließungskompetenz, sondern nur die Pflicht, „fremde" Entschließungen zu verwirklichen. Eine bis ins letzte konsequente

POÜZEI

Kultus· Minister



TheaterPolizei

Sonstiges RessortMinisterium

p. Ii RessortPolizei

Innen· Minister

Sonstiges' Ressort« Ministerium

JustizMinister

Polizeibehörde Verw.-Pol.

Schutz-Pol.

Ordnungspolizei Ressort-Pol. 'Fachaufslcht Dtensiaufslcht

—• Abbildung 4—

Krim. Pol. Gerichtl. Pol.

Sicherheitspolizei

Polizei P O L I Z E I als V O L L Z U G S I N S T R U M E N T

VOLLZUG des Verwaltungswillens Im Einzelfall und staatsanwaltschaftlicher Ersuchen

—Abbildung 5— Durchführung des Prinzips wird kaum möglich sein; einmal wird man der Polizei auch bei diesem Konzept bezüglich der anzuwendenden Vollzugsmittel das Auswahlermessen belassen müssen, zum anderen gilt auch hier, was bereits unter d) ausgeführt worden ist: Es werden immer Gefahrenmöglichkeiten bestehen, für die es keine „zuständigen" Behörden geben wird. Der Gesetzgeber hat zwischen diesen Möglichkeiten polizeilicher Institutionalisierung zu wählen. Bis zu einem gewissen Grade kann er die Typen auch mischen. Nicht möglich ist es, den Gesetzgeber mit Hilfe dogmatischer Überlegungen zu unterstützen, weil es eine „richtige" Institutionsform für die Polizei nicht gibt. „Normalerweise" entwickeln sich Staaten historisch und mit ihnen die Staatsformen. In einem Lande aber, in dessen jüngerer Geschichte es kein organisches Wachstum gegeben hat, zwingt das Fehlen eines logisch begründeten Integrationspunktes zu der Überlegung, ob es zweckmäßig ist, polizeiliche Organisationsformen des Auslandes zu rezipieren. Überlegungen dieser Art sind aber regelmäßig zum Scheitern verurteilt; gerade weil nämlich die Polizei in den Ländern mit einer glücklicheren Geschichte Ergebnis bewährter Tradition und zugleich weitgehend Ausdruck der staatspolitischen Mentalität ihres Landes ist, lassen sich Polizeiorganisationsformen nicht ohne weiteres — d. h. nicht ohne Rezeption zugleich auch von Traditionen und Mentalitäten — importieren. Daran ist besonders zu denken, wenn man in Deutschland mit der Adoption angelsächsischer Polizeiorganisationsprinzipien liebäugelt, die ebenso wie das ihnen zugrunde liegende materielle anglo-amerikanische Polizeirecht (law enforcement) der kontinental-europäischen Polizeikonzeption geradezu diametral entgegengesetzt sind. Ist danach Rezeption für den Gesetzgeber ein nicht geeignetes Rezept, so bleibt ihm die Notwendigkeit, die Polizeiorganisation in Deutschland

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gewissermaßen am Reißbrett zu entwerfen. Dies und das bei jedem Lösungsversuch verbleibende Dilemma sind die Erklärung für den in Deutschland nach dem Kriege auf der Suche nach der zweckmäßigsten — d. h. in der Gefahrenabwehr effektiven und zugleich gefahrlosesten — Polizeiorganisationsform entwickelten gesetzgeberischen Eifer. Da in der Bundesrepublik Polizei grundsätzlich Ländersache ist, konnte an vielen Reißbrettern entworfen werden. Dementsprechend vielfältig ist das Ergebnis (s. u. II C). Immerhin gibt es eine einheitliche Tendenz, für die es auch eine gemeinsame Parole gibt: „Entpolizeilichung". Dieses Wort drückt die bisherige und offenbar noch nicht abgeschlossene Entwicklung nur unvollkommen aus: Soweit im Zuge der Dezentralisierung in ihrer horizontalen Gliederung die Polizei aus der unmittelbaren staatlichen Regierungsgewalt herausgenommen und der kommunalen Verwaltung überlassen ist, könnte man allenfalls von einer Entstaatlichung der Polizei, nicht aber von Entpolizeilichung des Staates sprechen; auch soweit in Ländergesetzen — bei i. w. unverändertem materiellen Polizeirecht — Polizeiaufgaben von den „Polizeibehörden" abgetrennt und auf andere (ζ. T. neugeschaffene) Behörden übertragen worden sind (Dekonzentration in der vertikalen Gliederung), ist nicht der Staat selbst, sondern nur die Polizei „entpolizeilicht". Wie wenig aber vieles bis jetzt ausgereift ist, wird daran deutlich, daß teilweise nur Bezeichnungen geändert worden sind (ζ. B. „Verordnungen zur Gefahrenabwehr" statt „Polizeiverordnungen"), oder daran, daß an einigen Plätzen von Polizeibehörden abgetrennte und auf neugeschaffene Behörden (Ordnungsbehörden) „übertragene" Aufgaben in Wirklichkeit nach wie vor von derselben Behörde wahrgenommen werden, weil beide Behörden durch Union miteinander verschmolzen sind. Ob es sich insoweit nur um Schönheitsfehler handelt, die bei weiterer verwaltungswissenschaftlicher und gesetzgeberischer Durchdringung dieser Materie behoben werden, ist abzuwarten. Wo aber auch die Entwicklung auf diesem Gebiete in Deutschland hinführen wird, immer wird der Gesetzgeber folgende drei Gesichtspunkte zu bedenken haben: Erstens: — Nicht nur ist im Interesse der Rechtssicherheit eine gewisse Kontinuität des materiellen Polizeirechts geboten, auch das Polizeiorganisationsrecht bedarf, soll sich die Polizei gedeihlich entwickeln, der Stabilität. Zweitens: Die Effektivität der Polizei sollte weitgehend der Mentalität der Bevölkerung angepaßt sein. Die in unserem Volke der Polizei geltenden Erwartungen sind hoch. Ein Engländer konnte sagen, er wolle lieber, „daß alle drei bis vier Jahre ein halb Dutzend Menschen in Rateliffe Road erwürgt werden, als den Haussuchungen, der Spionage und all den anderen Machenschaften

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Polizei

Fouches ausgesetzt zu sein". Das aber entspricht nicht deutscher Mentalität. Zwar will auch der Deutsche nicht der Polizei ausgeliefert sein, er verlangt aber fast gebieterisch allenthalben nach Polizei und von ihr jeglichen Schutz. Der Gesetzgeber muß diesem Verlangen irgendwie Rechnung tragen. Drittens: Bedenklich müßte — durch Dezentralisierung und Dekonzentration bedingte — Minderung polizeilichen Potentials sein, wenn mit ihr etwa die Notwendigkeit einer Notstandsgesetzgebung in Kauf zu nehmen ist: Notstandssonderrecht ist nicht minder problematisch als eine starke — für alle Eventualitäten gewappnete — Polizei. Π. DAS DEUTSCHE POLIZEIRECHT A. Allgemeines Das Polizeirecht wird oft als die Mutter des deutschen Verwaltungsrechts bezeichnet. Das ist aber nur teilweise richtig. Polizei gab es zwar jederzeit, ein Polizeirecht aber erst, seit auch Verwaltungsrecht entstand. Es trifft nur zu, daß zahlreiche Grundsätze unseres heutigen Verwaltungsrechts am Polizeirecht entwickelt worden sind. Das hat verschiedene Gründe. Einmal bestand im Staate der Eingriffsverwaltung ein besonderes Bedürfnis, die Eingriffsbefugnisse des Staates zu reglementieren, und überdies gehörte — letztlich aus gleichem Grunde — das Feld der Eingriffsverwaltung, vor allem das der Polizei, in die ursprünglich enumerierten Gebiete, mit denen sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu befassen hatte. Ihre Rechtsprechung war es auch, die den wesentlichsten Beitrag zur Entwicklung des Polizeirechts leistete. Es lag nahe, daß bei ursprünglichem Fehlen eigentlicher die Materie der Polizei behandelnder Gesetze die Verwaltungsgerichtsbarkeit — und mit ihr die Verwaltungswissenschaft — allgemeinere Grundsätze aufstellte, als das vom Gesetzgeber zu erwarten ist und daß diese Grundsätze eben wegen ihrer Allgemeinheit weitgehend als Basis verwaltungsrechtlichen Denkens anerkannt wurden. Anfang des Verwaltungsrechts war letztlich die Ablösung des absoluten Staates selbst. Pütters (oben S. 296) Definition der Polizei und die Deskription der Polizei auch in § 10 I I 17 ALR (oben S. 296) waren ursprünglich noch nicht poiizeirechtliche, sondern allgemeine verwaltungsrechtliche Thesen: Sie gaben anfänglich nicht der Polizei einen Auftrag, sie postulierten zunächst nur, daß sich der Staat „als Polizei" auf die Gefahrenabwehr zu beschränken habe. Immerhin waren Lehre und ALR Voraussetzung für die Verpflichtung des Staates, „als Polizei" Gefahren abzuwehren. Unter Polizeirecht war seitdem in Deutschland — nicht nur in Preußen — der Rahmen zu verstehen, in dem der Staat mit Verboten und

Geboten in Rechte des einzelnen im Interesse der der Allgemeinheit drohenden Gefahren zugleich eingreifen durfte und mußte. Hieraus folgt schon, daß Polizeirecht nicht allein Kontingentierung staatlicher Eingcilisbefugnisse ist. Die polizeiliche Beschränkung des Staates auf die Gefahrenabwehr hat aber den Gesetzgeber und die Rechtslehre und ebenso die Rechtsprechung wie die Polizei selbst vor ein Problem gestellt, für das bis jetzt eine rechtlich befriedigende Lösung nicht gefunden worden ist. Gemeint ist das weite Feld all derjenigen Aufgaben, die nach ihrer Eigenart am ehesten von der Polizei zu erledigen sind, ohne Aufgaben der Gefahrenabwehr zu sein. Hierzu sind diejenigen Verrichtungen zu zählen, die im Wege der „Entpolizeilichung" (oben S. 299) von der Polizei abzuspalten waren, für die man aber nicht immer geeignete andere Ressortbehörden finden oder schaffen konnte. Hierzu gehört aber auch vor allem die tatsächlich nach wie vor der Polizei überlassene Aufklärung begangener Straftaten, obwohl diese Aufgabe — nach deutschem Rechtsdenken — nicht in erster Linie Prävention, also Gefahrenabwehr, ist und obwohl man hierzulande für die „Strafverfolgung" eine eigene — von der Justizverwaltung ressortierende — Institution, die Staatsanwaltschaft, geschaffen hat. Gesetzgeberisch hat man formal das Problem im wesentlichen mit dem Hinweis auf das Institut der Amtshilfe gelöst, wobei die Amtshilfepflicht der Polizei gegenüber der Staatsanwaltschaft über die allgemeinen Amtshilfegrundsätze hinaus konstituiert worden ist (§ 161 StPO: „Gehorsamspflicht" der Polizei gegenüber der Staatsanwaltschaft; § 152 GVG: Bestellung von Polizeibeamten zu „Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft"; § 163 StPO in Verbindung mit § 346 StGB; Strafandrohung auch für Polizeibeamte für den Fall schuldhaft unterlassener Strafverfolgungsmaßnahmen u. a.). Überdies hat man auch in einzelnen Polizeigesetzen den Polizeibehörden ausdrücklich andere Aufgaben als solche der Gefahrenabwehr aufgetragen. Kennzeichnend dafür ist der zweite Absatz des § 14 des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes, mit dem die im ersten Absatz enthaltene Generalklausel der Gefahrenabwehr wie folgt ergänzt wurde: „Daneben haben die Polizeibehörden diejenigen Aufgaben zu erfüllen, die ihnen durch Gesetz besonders übertragen sind". Entsprechende Vorschriften haben auch heute noch die nachstehend aufgeführten Polizeigesetze der Bundesländer: Polizeigesetz Baden-Württemberg (§ 1 Abs. 2), Polizeiaufgabengesetz Bayern (Art. 3), Polizeiverwaltungsgesetz Berlin (§ 14 Abs. 2), Polizeigesetz Bremen (§ 1 Abs. 2), Gesetz über die Polizeiverwaltung Hamburg (§ 1 Abs. 1 Satz 2), Polizeiverwaltungsgesetz Rheinland-Pfalz (§ 1 Abs. 2), Polizeigesetz Schleswig-Holstein (§ 1 Abs. 2). — Alle diese positivrechtlichen Regelun-

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Polizei gen zeigen zum einen deutlich auf, daß es nicht bis zur letzten Konsequenz möglich ist, die Polizei auf die Gefahrenabwehr zu beschränken, und zum anderen, daß das gesetzgeberische Bemühen um das, was als „Entpolizeilichung" deklamiert wird, in entscheidenden Merkmalen eben nur eine Deklamation geblieben ist. Daß das für die Polizei ein unbefriedigender Zustand ist, wird deutlich, wenn man an die Jahrzehnte alte und offenbar permanente Diskussion über das Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei denkt oder sich vergegenwärtigt, in welch ungeheurem Umfange die Polizei um Rechts- und Amtshilfe aller Art angegangen wird, ohne deswegen bei Erledigung der Ersuchen ihrerseits der Gefahrenabwehr zu dienen (dazu Kiskalt S. 49). B. Das materielle Polizeirecht 1. Die Entstehung der polizeilichen „Generalklausel" Das gesamte deutsche Polizeirecht wird noch heute von dem Prinzip des § 10 II 17 ALR beherrscht (oben S. 296 und 300). Wie sehr sich diese Bestimmung ausgewirkt hat, ist vielleicht am besten daran zu erkennen, daß man sich auf sie von Anfang an nicht nur im landrechtlichen Teil Preußens berief, sondern bald auch im übrigen Deutschland, ja sogar im Ausland. Dem entspricht es, daß in späteren Polizeigesetzen Fassungen für die polizeiliche Generalklausel gewählt sind, die inhaltlich kaum von dem § 10 II 17 ALR abweichen. 2. Der Wortlaut der Generalklausel in den verschiedenen Gesetzen a) In § 32 der Thüringischen LVO (1926) erhielt die „Verwaltung als Polizei" die Aufgabe, „der Gesamtheit oder dem einzelnen bevorstehende Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Ruhe, Sicherheit oder Ordnung gestört wird". Wörtliche Wiedergabe verdient die Fassung der polizeilichen Generalklausel des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes vom 1. Juni 1931, dessen § 14 (Abs. 1) lautet: „Die Polizeibehörden haben im Rahmen der geltenden Gesetze die nach pflichtmäßigem Ermessen notwendigen Maßnahmen zu treffen, um von der Allgemeinheit oder dem einzelnen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird". b) Auch nach dem Zusammenbruch 1945 ist in fast allen Ländern der Bundesrepublik die Generalklausel des Preußischen PVG bestehen geblieben, übernommen oder nachgebildet worden. Unverändert ist die Generalklausel geblieben in den Ländern Berlin (§ 14 PVG 1958), NordrheinWestfalen (§ 14 PVG 1931) und Saarland (§ 14 PVG 1931). Mit — unter dem Gesichtspunkt des materiellen Polizeirechts — unwesentlichen Abweichungen ist die preußische Fassung nach-

gebildet worden von den Ländern Baden-Württemberg (§ 1 PolG 1955), Bremen (§ 1 PolG 1960), Hamburg (§ 1 G PolVw 1947), Hessen (§ 1 HSOG 1964), Niedersachsen (§ 1 GöSO 1951), RheinlandPfalz (§ 1 PVG 1954) und Schleswig-Holstein (§ 1 PolG 1949). Eine Sonderstellung nimmt Bayern ein, das sich zu einer eigentlichen Generalklausel nicht entschlossen und überdies die Reduktion der Polizei zur „Residualkategorie" (oben S. 298) am konsequentesten durchgeführt h a t (s. auch unten S. 303). Soweit die letztgenannten Länder die Fassungen der polizeilichen Generalklausel abweichend von § 14 PrPVG gestaltet haben, betreffen die Änderungen vor allem den formellen Polizeibegriff, nicht aber die in der Generalklausel enthaltene materielle Polizeiaufgabe. 3. Der Inhalt der Generalklausel a) Die Eigenart der allgemeinen Norm bringt es mit sich, daß die Anwendbarkeit der Generalklausel auf die Sachverhalte beschränkt bleibt, für die nicht Sondernormen gelten (Grundsatz der Subsidiarität). Wo Sondernormen geschaffen sind, spricht man von Besonderem Polizeirecht. Gleichwohl kommt auch bei Vorhandensein besonderen Polizeirechts die Generalklausel zusätzlich da zum Zuge, wo die Spezialnorm eine Materie nicht erschöpfend regelt. b) Das Polizeirecht ist Zweckrecht: Die Polizei soll — im Gegensatz zum angelsächsischen „Law enforcement" — nicht dem Rechte selbst Geltung verschaffen, sondern der Sicherheit dienen. Es ist ihr Ziel also Sicherheit, während Recht der „Rahmen" ist, innerhalb dessen die Polizei ihre Aufgabe zu verfolgen hat. c) Aus dem Gedanken des Zweckrechts folgt zugleich das Opportunitätsprinzip. Nur wenn mit polizeilichen Maßnahmen sinnvoll einer Gefahr begegnet werden kann, braucht die Polizei sich zum Handeln entschließen. Das in Deutschland strafprozessual begründete sogenaante Legalitätsprinzip (Verfolgungsaicanj) gilt nicht im Polizeirecht. d) Der der Polizei überlassene Spielraum des Entschließungsermessens muß aber pflichlmääig ausgenützt werden. Fehlerhaft unterlassene Entschließung ist Amtspflichtverletzung (§ 831 BGB). e) Aus dem Gedanken des Zweckrechtes folgt bezüglich der zu treffenden „notwendigen" Maßnahmen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Also auch das Auswahlermessen muß nach pflichtmäßigem Ermessen geübt werden. In den meisten Gesetzen heißt es demgemäß, daß die Polizei tunlichst das die Allgemeinheit und den Einzelnen am wenigsten beeinträchtigende Mittel zu wählen habe. f) Wenn das Polizeirecht seiner Natur nach zwar Zweckrecht ist, also begrifflich in die Zukunft weist, so besagt das nicht, daß die polizeiliche Aktion stets nur in Prävention besteht, also bevor-

Polizei

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stehenden Gefahren („mala futura") zuvorkommt. Die Polizei hat auch im Rahmen der Gefahrenabwehr die Aufgabe, bereits eingetretene Störungen zu beseitigen. Ihre Aktion ist insoweit repressiv, wenngleich um der Beseitigung der aus der Störung zu besorgenden Folgen willen. Es ist darum eine irreführende Vereinfachung, wenn man oft hört, Verhütung strafbarer Handlungen sei eine reine Polizeiaufgabe, während die Aufklärung begangener Straftaten eine der Polizei nur zur Amtshilfe zugewiesene Obliegenheit sei. Jede —• insbesondere unaufgeklärte — Straftat bedeutet eine beträchtliche Ordnungsstörung (Furchthaltungen in der Bevölkerung nach Kapitalverbrechen, Verdacht gegen Unschuldige, Geschädigte ohne Handhabe gegen Schadensstifter); insbesondere bei Wiederholungstätern gilt Ermittlung der Gefahrenabwehr. Die durch Tataufklärung richtige Bekanntmachung des Täters ist eine so entscheidende Bedingung seiner Unschädlichmachung, daß man diesen Erfolg bereits mit allen weiteren praktisch gleichsetzen kann. Die Einsicht in die Verbrechenswirklichkeit weist insoweit deutlich auf, daß auch und gerade die Verbrechensaufklärung eine originär polizeiliche Aufgabe, also immanent „Kriminalpolizei" ist, wie schwer auch diese Tatsache in das allgemeine Bewußtsein Eingang findet. Aufklärende Kriminalpolizei vollzieht sich also sowohl nach Polizei- wie nach Prozeßrecht, sie dient der Rechtspflege und der Erhaltung von Sicherheit und Ordnung zugleich. In diesem Sinne sind sowohl Inhalt als auch Standort des nach 1945 in Schrifttum und Judikatur so arg umstrittenen § 17 des früheren Preußischen Verwaltungsgesetzes zu verstehen (polizeiliche Zwangsvorladung von Personen zum Zwecke der Aufklärung begangener strafbarer Handlungen). Zur Vermeidung von Kollisionen, die sich aus der Konkurrenz beider Rechte ergeben, ist der Staatsanwaltschaft durch das Prozeßrecht ein Vorrang eingeräumt worden (dominus litis). Der Vorrang stellt den Einfluß der Staatsanwaltschaft auf eine für justizielle Verwendung sachdienliche Gestaltung der Aufklärungsarbeit sicher und beseitigt auf diesem Sektor auch den Opportunitätsgesichtspunkt. Daneben und ggf. darüber hinaus treten allerdings die polizeilich zu verfolgenden Belange in ihr eigenes Recht. All das gilt auch für die polizeiliche Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten. 4. Öffentliche Sicherheit und Ordnung a) Zum Begriff der öffentlichen Sicherheit zählen der Bestand des Staates, seine Einrichtungen und Symbole, Schutz der Gesellschaft vor strafbaren Handlungen (Kriminalitätsbekämpfung ist also Sicherheitspolizei!) sowie das Leben, die Gesundheit und das Vermögen der Bürger.

b) öffentliche Ordnung umfaßt hingegen die „Gesamtheit jener ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beobachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Gemeinschaftslebens betrachtet wird'·'· (PrOVG 91,139). 5. „Polizeipflicht

und polizeilicher

Notstand"

Die Polizei ist gehalten, weitgehend mit eigenen Mitteln ihre Aufgabe zu erfüllen. Indessen ist sie befugt, erforderliche Maßnahmen gegen Personen zu richten, die für das polizeimäßige Verhalten oder den polizeimäßigen Zustand verantwortlich sind (so § 18 PrPVG). Diese Personen werden als „polizeipflichtig" bezeichnet. Es ist wegen der Eigenart des Polizeirechts zu betonen, daß beide Tatbestände der Polizeipflichtigkeit kein Verschulden (Vorsatz, Fahrlässigkeit) voraussetzen. Eben darum wird von Zustande- bzw. VerursachungsAaf/iiwj gesprochen. Polizeilicher Notstand liegt in extremen Fällen dann vor, wenn Polizeipflichtige nicht vorhanden sind und die Polizei keine andere Möglichkeit der Gefahrenabwehr hat, als Unbeteiligte in Anspruch zu nehmen. Ihnen ist jedoch Entschädigung zu gewähren. 6. Polizeiliche Maßnahmen Die von der Polizei zu treffenden Maßnahmen bestehen regelmäßig in Geboten oder Verboten. Mit solchen „polizeilichen Verfügungen" kann auch in Grundrechte eingegriffen werden, soweit die einzelnen Länderpolizeigesetze nach Maßgabe des Art. 19 GG dahingehende Bestimmungen enthalten. Die Länder sind hierbei verschiedene Wege gegangen (das gilt ζ. B. für polizeilichen Freiheitsentzug), wie sie auch das schwierige Problem des unvermeidbaren „unmittelbaren Zwangs" (der bis zum Recht der Waffenanwendung geht) nicht einheitlich gelöst haben. C. Dag formelle Polizeirecht 1. Allgemeines Die Unterscheidung zwischen materiellem und formellem Polizeirecht ist erforderlich geworden, weil mit dem politisch erklärbaren Streben nach „Entpolizeilichung" Situationen geschaffen worden sind, in denen „Polizeiaufgaben" (Aufgaben der Gefahrenabwehr) auch von Behörden wahrzunehmen sind, die nicht eigentlich „Polizeibehörden" sind, und in denen Polizeibehörden auch andere Aufgaben als solche der Gefahrenabwehr obliegen. Bei einiger Vereinfachung erscheint es zulässig zu sagen, daß zum materiellen Polizeibegriff alle Aufgaben der Gefahrenabwehr gehören und unter dem formellen Polizeibegriff alle die Behörden zusammengefaßt sind, denen Gefahrenabwehraufgaben zugewiesen sind. In

303

Polizei Preußen, wo es das Schlagwort „Entpolizeilichung" nicht gab, gab es ein Unterscheidungsbedürfnis dieser Art verständlicherweise nicht. Immerhin unterschied man auch schon in Preußen zwischen „Verwaltungs-, Schutz- und Kriminalpolizei". An sich aber beinhalten die verschiedenen Begriffe zunächst nur Lauibahnunterschiede: Die Angehörigen der Schutz- und Kriminalpolizei waren — und sind es noch heute — Polizeivollzugsbeamte mit besonderem beamtenrechtlichen Status, während die Angehörigen der „Verwaltungspolizei" Beamte nach allgemeinem Beamtenrecht waren. Funktionell war „Verwaltungspolizei" zu keiner Zeit ein völlig gesicherter Begriff. Man verstand darunter sowohl die Verwaltung der Polizei selbst, als aber auch die „nach Art der Verwaltung" (im Gegensatz zum Vollzug) geübte Gefahrenabwehr (schriftliche Gebote und Verbote, Erlaubnisse, Genehmigungen sowie deren Versagungen u. dgl.). — Während der Polizei auch heute weitgehend ihre eigene Verwaltung belassen worden ist, hat man nach 1945 den „materiellen Teil" der Verwaltungspolizei zum größten Teil von der Polizei herausgenommen. Das Problem, wem dieser Aufgabenbereich zuzuweisen wax, ist in den Ländern unterschiedlich gelöst worden. 2. Die jetzige Situation in den Ländern der Bundesrepublik In den Ländern Hamburg, Rheinland-Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein ist es zu einer prinzipiellen Abtrennung der Verwaltungspolizei von der Polizei nicht gekommen. Mit den ganz und gar uneinheitlichen Bezeichnungen sind dagegen in den übrigen Ländern frühere Verwaltungspolizei und Polizeivollzug unterschieden worden. Bayern verwendet überhaupt nur den Begriff „Polizei" und versteht darunter Vollzugsdienst mit der Aufgabe der exekutiven Unterstützung anderer Behörden. Dort ist die Auffassung der Polizei als Residualkategorie am konsequentesten vertreten; ihre Einordnung in die übrige Verwaltung ist nach dem Schema der Abbildung 5 (s. o. S. 299) gestaltet. Die übrigen Länder verwenden zwar den Polizeibehördenbegriff, aber mit durchaus unterschiedlichem Inhalt. Im wesentlichen nur Polizeivollzugsdienst versehen die 'Polizeibehörden in Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, wohingegen der gleiche „Polizeibehördenbegriff" in BadenWürttemberg, Bremen und Hessen der früheren Verwaltungspolizei vorbehalten ist. In diesen drei Ländern wird nämlich den „verwaltenden" Behörden ausdrücklich „Polizeivollzugsdienst" bzw. „Vollzugspolizei" gegenübergestellt. Dagegen sind in Berlin, Niedersachsen und NordrheinWestfalen die „verwaltungspolizeilichen" Aufgaben besonderen „Ordnungsbehörden" zugewiesen.

D. Staatliche und kommunale Polizei in den Ländern 1. In den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg ist die Unterscheidung praktisch ohne Bedeutung, obwohl Bremen —· wegen Bremerhaven — einen Unterschied zwischen Landes- und Ortspolizeibehörde macht; indessen ist in Bremen die Polizei ausdrücklich als Angelegenheit des Landes bezeichnet. Nach Art eines Stadtstaates ist auch im Saarland die Polizeiorganisation verfaßt. 2. Die Territorialstaaten. In den norddeutschen Ländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen und in Rheinland-Pfalz sind die Länder Träger der Polizeihoheit. Demgegenüber ist in den süddeutschen Ländern BadenWürttemberg, Bayern und Hessen die Polizeiverantwortung zwischen Staat und Gemeinden geteilt. In Bayern obliegt die Polizei grundsätzlich den Gemeinden, so daß der Staat nur außerhalb ihrer Grenzen operieren kann (Land- und Grenzpolizei sowie Landeskriminalamt). In BadenWürttemberg gilt Ähnliches: Allerdings gebührt die Polizei dem Staate in Gemeinden über 75000 Einwohner. Dieser Vorbehalt verliert aber dadurch praktisch jede Bedeutung, daß diesen Gemeinden auf Antrag die Polizeihoheit zu überlassen ist. In Hessen gebührt die Polizei allen Gemeinden mit mehr als 20000 Einwohnern Jedoch ist wichtig, daß in diesem Lande neuerdings dem (staatlichen) Landeskriminalamt die Fachaufsicht auch über die kommunale Kriminalpolizei zusteht. E. Bund und Länder 1. Grundsatz Nach Artikel 30 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland ist Ausübung der staatlichen Befugnisse und Erfüllung der staatlichen Aufgaben grundsätzlich Sache der Länder. Der Bund hat danach polizeiliche Befugnisse nur insoweit, als das Grundgesetz selbst eine andere Regelung getroffen oder zugelassen hat. 2. Die Ausnahmen Läßt man alle die Aufgaben der Gefahrenabwehr außer Betracht, die dem Begriffe der „Verwaltungspolizei" zuzuordnen sind, sind an dieser Stelle also nur Obliegenheiten des Polizeivollzugs zu behandeln, so gebühren dem Bunde nach Artikel 73 Ziff. 5 und 10 GG die ausschließliche Gesetzgebung über „die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in der Kriminalpolizei" und „die Einrichtung eines Bundeskriminalamtes sowie die internationale Verbrechensbekämpfung" und über den Zoll- und Grenzschutz. Auf Grund des Art. 87 GG hat der Bund dementsprechend das Bundeskriminalamt sowie die Bundesgrenzschutzbehörden eingerichtet.

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Polizei

3. Das Bundeskriminalamt in Wiesbaden Die wesentlichen Aufgaben dieser Behörde bestehen in a) der internationalen Verbrechensbekämpfung; d. i. vor allem die Zusammenarbeit mit den etwa 100 Mitgliedsländern der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol). Das Bundeskriminalamt ist das deutsche „Nationale Zentralbüro" (NCB) der Interpol. b) der innerdeutschen Koordination der überlokalen Verbrechensbekämpfung. Es erfüllt diese Aufgabe sowohl als zentrale kriminalpolizeiliche Nachrichtensammelstelle als auch durch generelle Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern (Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landeskriminalämter mit dem Bundeskriminalamt). c) der Unterstützung des Generalbundesanwaltes in solchen Ermittlungssachen, für die der Bundesgerichtshof erstinstanzlich zuständig ist (schwere Fälle des Landes- und Hochverrats). Eine ausdrückliche Gesetzesbestimmung, die dem Bundeskriminalamt diese letztgenannte Aufgabe mit aller Klarheit zuweist, ist allerdings nicht vorhanden. 4. Der Bundesgrenzschutz Ihm obliegt es, das Bundesgebiet gegen verbotene Grenzübertritte zu sichern und sonstige die Sicherheit der Grenzen gefährdende Störungen „im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 km" abzuwehren. Zu seinen Aufgaben gehört auch der Paßkontroll dienst. m . DIE ZAHLENMÄSSIGE STÄRKE DER POLIZEI DER DEUTSCHEN BUNDESLÄNDER In der nachfolgenden Aufstellung sind nur Polizeivollzugsbeamte (Schutz- und Kriminalpolizei) aufgeführt. Stand: 1964. Polizei beamte staatkomauf lieh munal zus.: Einwohner BadenWürttemberg 11849 3210 15059 Bayern 14711 8946 23657 — Berlin 14585 14585 Bremen 601 2157 2758 — Hamburg 7656 7656 Hessen 5336 5438 10774 — Niedersachsen 12215 12216 Nordrhein— Westfalen 28085 28085 — Rheinland-Pfalz 5802 5802 — Saarland 2540 2540 SchleswigHolstein 4889 4889 — Gesamt 108269 19751 128020

1 1 1 1 1 1 1

541 417 150 264 242 465 557

1 585 1 598 1 434 1 488 1 430

Die Stärke des Bundesgrenzschutzes beträgt etwa 20000 und die des Bundeskriminalamtes etwa 495 Polizeivollzugsbeamte. IV. LAUFBAHN UND BESOLDUNG A. Allgemeines Die Polizeivollzugsbeamten sind in Deutschland den Grundsätzen des allgemeinen Beamtenrechts unterworfen, die allerdings mit Maßgaben versehen sind, die sich aus der Besonderheit ihres Dienstes ergeben. Dementsprechend gibt es auch für Polizeibeamte keine besondere Besoldungsordnung. Das allgemeine Besoldungsrecht gilt mithin auch für den Polizeivollzugsdienst; jedoch trägt man der Eigenart des Polizeidienstes dadurch Rechnung, daß den Polizeibeamten weitgehend Zulagen und Abfindungen verschiedener Art gewährt werden. Überdies sind die Stellenpläne der Polizei durchweg wesentlich günstiger als die der übrigen Verwaltung, so daß die Polizeibeamten innerhalb ihrer Laufbahnen erheblich bessere Beförderungsaussichten haben als Beamte der allgemeinen Verwaltung. Zwar hat der Bund auf Grund seiner Gesetzgebungskompetenz Beamtenrechtsrahmenrecht und Besoldungsrechtsrahmenrecht geschaffen mit dem Ziel, die Verhältnisse auf diesem Gebiete innerhalb der Länder der Bundesrepublik mit denen des Bundes selbst weitgehend zu vereinheitlichen ; die Bestimmungen dieser Gesetze enthalten aber nennenswerte Toleranzen, die es mit sich gebracht haben, daß trotz des Rahmenrechts die Laufbahnen und die Besoldungsregelungen des Bundes und der Länder zum Teil erheblich voneinander abweichen. Das Laufbahnrecht der Kriminalpolizei entspricht — von Ausnahmen abgesehen — dem der Schutzpolizei. Wenn diese Ausführungen vor allem der Kriminalpolizei gelten sollen, so muß doch hervorgehoben werden, daß bei aller Unterschiedlichkeit des Laufbahnrechts in der Bundesrepublik sich die Kriminalpolizei zum überaus größten Teil aus früheren Beamten der Schutzpolizei rekrutiert. Die Grundgedanken, welche die Laufbahnen der Polizei beherrschen, können wie folgt kurz zusammengefaßt werden: Einesteils fordert die Ausübung des Polizeiberufes gute Allgemeinbildung und ein umfangreiches Fachwissen. Wegen der erforderlichen Allgemeinbildung muß der Bewerber eine seiner künftigen Laufbahn entsprechende gute Schulbildung mitbringen. Das Fachwissen muß in Praxis und Lehrgängen erworben werden. Andererseits ist eine mindest ebenso wichtige Voraussetzung für den Polizeiberuf die Eignung des Bewerbers. Sie setzt sich aus Persönlichkeitsmerkmalen zusammen, die kaum aus Schul- und Lehrgangszeugnissen erkennbar sind. Man hat sich deshalb in Deutschland allenthalben entschlossen, die Zulassung eines Bewerbers zur Laufbahn

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Polizei — insbesondere zur Kriminalpolizei — von Eignungsprüfungen abhängig zu machen. Als beste Eignungsfeststellung hat sich jedoch bisher die Bewährung eines Bewerbers im vorangegangenen Dienst bei der Schutzpolizei herausgestellt. Diese Erfahrungen vor allem tragen dazu bei, daß sich die Polizeien der Länder nur schwer dazu entschließen können, von der bisherigen Praxis abzuweichen, einen Großteil ihres Nachwuchses für die Kriminalpolizei aus der Schutzpolizei zu entnehmen. Andererseits ist die Kriminalpolizei angesichts ihrer fallweisen Tätigkeit auf fast allen Lebensgebieten darauf angewiesen, Fachleute der verschiedensten Art in Dienst zu stellen (Handwerker, Kaufleute, Techniker und dergleichen), die normalerweise nicht in den Reihen der Schutzpolizei anzutreffen sind. All das hat zwangsläufig dazu geführt, für das Laufbahnrecht der Kriminalpolizei zumindest Ausnahmebestimmungen zu schaffen, die den Zugang von Bewerbern besonderer Schul- und Berufsausbildung und von Wissenschaftlern ermöglichen. B. Die Lanibahn der Kriminalpolizei Die Mehrzahl der Länder unterscheidet — wie im allgemeinen Beamtenrecht — auch bei der Kriminalpolizei zwischen drei Laufbahnen, nämlich dem mittleren, dem gehobenen und dem höheren Dienst. Soweit das der Fall ist, werden dem mittleren Dienst die folgenden Dienstgrade zugeordnet (bei nicht völlig übereinstimmenden Amtsbezeichnungen): Kriminalhauptwachtmeister, Kriminalmeister, Kriminalobermeister und Kriminalhauptmeister, im gehobenen Dienst: Kriminalkommissar, Kriminaloberkommissar und Kriminalhauptkommissar, dem höheren Dienst: Kriminalrat, Kriminaloberrat, Kriminaldirektor und Leitender Kriminaldirektor. Der Übergang von einer Laufbahn zur anderen wird von Prüfungen abhängig gemacht, so daß insgesamt drei Prüfungen zu bestehen sind: Erstens: Kriminalfachprüfung I für den Schutzpolizeibeamten oder sonstigen Bewerber als Voraussetzung der Anstellung im Kriminaldienst. Zweitens: Kriminalfachprüfung II für den Aufstieg zur gehobenen Laufbahn (diese Fachprüfung ist auch erforderlich für solche Bewerber, die in Abweichung von dem Grundsatz der Einheitslaufbahn unmittelbar Zugang zum gehobenen Dienst der Kriminalpolizei erhalten). Drittens: Die Kriminalratsprüfung für den Übergang vom gehobenen zum höheren Dienst. Allgemein werden die Kriminalfachprüfungen in den Ländern, dagegen die beiden anderen Prüfungen am Polizeiinstitut in Hiltrup abgelegt (s. unten Polizeischulen). Insoweit — von der obigen Regelung abweichend — für die Kriminalpolizei teilweise eine 20 HdK, 2. Aufl., Bd. II

zweigeteilte Laufbahn eingerichtet ist, wird zwischen Allgemeinem und Leitendem Dienst unterschieden (s. Bund und Berlin). Das Berliner Laufbahnrecht unterscheidet sich indessen von dem der dreigeteilten Laufbahn im wesentlichen nur terminologisch. Auch in Berlin sind Aufstiegsbeförderungen zwischen den gleichen Gruppen erforderlich. Dagegen weicht von allen übrigen Laufbahnbestimmungen der Länder das Laufbahnrecht der Beamten des Bundeskriminalamtes erheblich ab. Auch hier wird zwischen Allgemeinem und Leitendem Dienst unterschieden, jedoch werden unter dem Allgemeinen Dienst die Ämter der Kriminalmeister, Kriminalobermeister, Kriminalhauptmeister und die der Kriminalkommissare und Kriminaloberkommissare verstanden, während die beiden letztgenannten Ämter in den Ländern dem gehobenen bzw. in Berlin dem Leitenden Dienst zugehören. Auch weicht das Bundeskriminalamt von der Praxis der Länder insofern ab, als es die nach seinem Laufbahnrecht erforderlichen Aufstiegsbeförderungen im eigenen Hause durchführt, seine Beamten also nicht an den Lehrgängen und Prüfungen des Polizeiinstituts in Hiltrup teilnehmen läßt. V. POLIZEISCHULEN A. Allgemeines Es entspricht dem Prinzip der Einheitslaufbahn, daß das Polizeischulwesen in erster Linie der Grundausbildung von Schutzpolizeibeamten gewidmet ist. Alle weitere Ausbildung baut hierauf auf. Das gilt auch für die Ausbildungspläne der Kriminalpolizei. Soweit ausnahmsweise andere Bewerber als Schutzpolizeibeamte im Kriminaldienst auszubilden sind, ist deshalb zusätzlich eine besondere individuelle Unterweisung nötig. B. Landespolizeischulen Die Ausbildung der Polizeianwärter findet, abgesehen von der Laufbahn der Beamten des Bundeskriminalamtes, in Landespolizeischulen statt. Die Lehrpläne für die Ausbildung der Kriminalbeamten umfassen neben Staatsbürgerkunde vor allem die folgenden Fächer: Kriminologie, Kriminalistik, Kriminaltechnik sowie Rechtsfächer, nämlich Strafrecht, Strafprozeßrecht, Polizeirecht und in geringerem Umfange bürgerliches und sonstiges Recht. C. Das Polizeiinstitut Hiltrup Auf Grund eines Abkommens zwischen der Bundesrepublik und ihren Ländern ist in Hiltrup in Westfalen ein Polizeiinstitut als gemeinsame Ausbildungsstätte des Bundes und der Länder geschaffen worden. Es soll vor allem der bundeseinheitliehen Ausbildung der Oberbeamten und Oberbeamtenanwärter der Polizei dienen. Dementsprechend werden am Polizeiinstitut Lehrgänge durchgeführt, die den Laufbahnvorschriften

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Polizei

der Länder entsprechen. Das Polizeiinstitut soll ferner zur Vereinheitlichung der Rechtsgrundlagen auf dem Gebiete der öffentlichen Sicherheit und Ordnung beitragen, fachliche Gutachten erstatten und für die Durchführung der der Polizei übertragenen Aufgaben in Verbindung mit der Praxis Vorschläge erarbeiten. Das Polizeiinstitut ist eine Einrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen, dem auch die Dienstaufsicht zusteht, während die Fachaufsicht von einem Kuratorium ausgeübt wird, dem Bundes- und Ländervertreter angehören, wie auch die Finanzierung des Instituts gemeinsam getragen wird. Es finden seinem Auftrage entsprechend am Polizeiinstitut Hiltrup nach Maßgabe bestehenden Bedarfs Kriminalkommissaranwärter- und KriminalratsanwärterLehrgänge statt. Außerdem werden von Zeit zu Zeit in Hiltrup fachliche Tagungen veranstaltet. Spezialistenausbildung wird auf kriminalpolizeilichem Gebiete in Hiltrup nicht betrieben. Die Ausbildung von Sonderkräften obliegt grundsätzlich den Ländern, insbesondere den Landeskriminalämtern. Zu einem erheblichen Teil werden indessen auch beim Bundeskriminalamt auf Grund getroffener Vereinbarungen Kriminalbeamte der Länder ausgebildet und geprüft (ζ. B. auf dem Gebiete der Daktyloskopie und der Kriminaltechnik). VL SCHLUSSWORT Es ist ein eigentümlicher Befund, daß gleichzeitig mit dem ständigen Ausbau der staatsmachtfreien Sphäre der einzelnen Gesellschaftsmitglieder das polizeiliche Machtinstrument des Staates nicht entsprechend schrumpft, sondern im Gegenteil personell und ausrüstungsmäßig in einer ebenso beständigen Ausdehnung begriffen ist. Dieser Widerspruch enthüllt sich leicht als ein nur scheinbarer auf dem überragenden polizeilichen Tätigkeitsgebiet des Verkehrs. Hier hat offensichtlich eine in unserem Jahrhundert neubegründete Entwicklung der Dinge inzwischen einen millionenfach vervielfältigten spezifischen Gefahrenreichtum hervorgebracht, der einen entsprechend vermehrten Einsatz ordnender und sichernder Macht verständlicherweise erfordert. Auf dem Gebiet der Kriminalitätsbekämpfung, wo die Gefahr ihren Sitz wesentlich nicht in Sachen, sondern im Menschen hat, sind die Relationen nicht im gleichen Maße offenbar. Die Einbußen, die die Polizei modal durch die Liberalisierung des öffentlichen Rechts auf allen Gebieten (Gewerberecht, Melderecht usw.), vor allem auch durch jüngste Prozeßgesetzgebung erlitten hat, sind zur Zeit dieser Niederschrift noch nicht abzusehen, womit nicht angedeutet werden soll, daß sie vermutlich „unabsehbar" sein werden. Unabhängig von solchen Beschränkungen ergibt sich aber in der Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg

deutlich, daß die kriminelle Gefahr trotz eines unverkennbaren Zuwachses des kriminalpolizeilichen Potentials mindestens nicht abgenommen hat. Es wird damit neben den bekannten Aspekten der polizeilichen Verhältnisse wie Funktion, Institution und polizeirechtlicher Modulation eine gesellschaftliche Dimension sichtbar, die den Erscheinungen zwar nicht ihr Gesicht, wohl aber ihr Gewicht verleiht: der wechselnde, in den vergangenen Jahrzehnten offenbar in steter Zunahme begriffene Polizeibedarf der Gesellschaft. Besonders auf dem Gebiet der Kriminalitätsbekämpfung ist das Maß einer sinnvollen Bedarfsdeckung von größter Problematik. Man hat dieses Problem bisher vorwiegend durch Stellenplanerweiterungen und Stellenverbesserungen zu lösen versucht und dadurch eine breite, aber flache, wie es scheint zu flache, Wirkung erzielt. Es spricht vieles dafür, daß nach der Eigenart dieser Polizeiaufgabe neue Wirkungen nunmehr nur noch in anderer Richtung gefunden werden können, nämlich in der im einzelnen schmalen, aber tiefgreifenden Wirkung eines völlig neuen, d. h. unvergleichlich anspruchsvolleren Kriminalpolizeibeamtentyps. Die Aussichten, in diesem Bereich revolutionäre Umwälzungen zu erreichen, sind allerdings nach Art und Beziehung unserer gesellschaftlichen Kräfte äusserst gering. (Vgl. zu den sozialpsychologischen Problemen der Polizei „Psychologie des Verbrechens".) O. A u g s c h u n : Laufbahnen und Ausbildung der Polizeivollzugsbeamten in den Bundesländern. Pol. (1962) S. 230. G. B ö h r e n z : Zur Geltung des formellen Polizeibegriffe. Pol. (1961) S. 81. D r e w s - W a c k e : Allgemeines Polizeirecht (1961). A. H a r t m a n n : Der Waffengebrauch der Polizisten. Krim. (1963) S. 227. H. K a l i c i n s k i : Der Polizeioffizier im Wandel der Zeit. Pol. (1962) S. 99. Έ. K a u f m a n n : Der polizeiliche Eingriff in Freiheiten und Hechte. (1951). H. E i s k a l t : Die Polizei, ihre Aufgaben und ihre Organisation. Pol. (I960) S. 202. H. K i s k a l t : Mißbrauch der Polizeiexekutive durch unzulässige Inanspruchnahme im Rahmen von Amts- und Rechtshilfe. Pol. (1960) S. 253. H. K i s k a l t : Die Entwicklung des Polizeirechts nach 1945. Pol. (1963) S. 65. H. K i s k a l t : Deutsches Polizeirecht. (1961). H. K o t t e c k e r : Großeinsatz der Polizei bei Privatklageverfahren. Mißbräuchliche Inanspruchnahme der Polizei. Krim. (1963) S. 400. G. K u r t h : Das Laufbahnrecht der Polizeivollzugsbeamten im Bundesgrenzschutz. Pol. (1963) S. 88. L i n d n e r : Die Entwicklung des polizeilichen Meldewesens in Deutschland. BKA-Arb.Tg. (1959) 8. 187. P f e n n i g : Das Polizeibeamtenrecht in Bund und Ländern. Pol. (1961) S. 232. W. S a n g m e i s t e r : Die heutige Situation der deutschen Kriminalpolizei. BKA-Arb.Tg. (1959) 8. 115. G. W a c k e : Das Recht der Polizei auf Auskünfte. Pol. (1962) S. 161, 210, 244. H. J. W o l f f : Die Gestaltung des Polizei- und Ordnungsrechtes. Veröffentlichung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer. (1952 H. 9) 8. 134. WOLFRAM

SANGMEISTER

Prostitution

PROSTITUTION A. Begrilfsabgrenzungen und -definitionen, Wesen und Erscheinungsformen 1. Begriffsabgrenzungen

und

Definitionen

Das Wort „Prostitution" stammt vom lateinischen Verb prostituere ( = öffentlich preisgeben, entehren) ab und ist über das Französische im 17. Jahrhundert in die deutsche Sprache eingedrungen, wurde aber noch bei Goethe nicht in dem gegenwärtig allgemein üblichen einseitigen Sinne verwendet. Wir verstehen heute unter „Prostitution" die des Erwerbs halber ausgeübte gewohnheitsmäßige Preisgabe des eigenen Körpers zu geschlechtlichem Verkehr oder zu anderen sexuellen Handlungen. „Lohnhurerei" bietet sich deshalb als zutreffende deutsche Bezeichnung an. Zu einer akkuraten Begriffsdeutung gehört allerdings noch die Aufzählung einiger zusätzlicher bestimmender Merkmale, wie der rasche Wechsel des Partners, die meist gefühlsmäßige Gleichgültigkeit der hingebenden Person usw. „Die prostituierte Person gibt sich zwecks Bestreitung des Lebensunterhaltes in der Regel ohne Gemütsbeteiligung gegen Entgelt — Geld oder sonstigen materiellen Gewinn — wahllos vielen Partnern zum Geschlechtsverkehr hin", lautet eine der gängigen Definitionen, die in einem neueren Standardwerk von P. Hesse geprägt wurde. Grundsätzlich können Frauen und Männer unter die Kategorie der Prostituierten fallen. Aber wer die Worte „Prostitution" oder „Prostituierte" gebraucht, versteht gewöhnlich darunter nur die gewerbsmäßige „unzüchtige" Hingabe von Frauen an Männer. Dieses einschränkende Verständnis erfolgt mit gutem Grund; denn der (gleichgeschlechtlichen) männlichen Prostitution kommt in ihrem Umfang und Auftreten eine vergleichsweise geringere Bedeutung zu, so daß sie in diesem Zusammenhang nur am Rande behandelt zu werden braucht. Der Begriff „männliche Prostitution" im Sinne des käuflichen mannmännlichen Verkehrs wird auch erst seit einem 1853 in erster Auflage erschienenen Buch des Franzosen E. A. Duchesne (über die Prostitution in Algier) verwendet. Von den beiden anderen, theoretisch noch möglichen Prostitutionsbeziehungen entwickelt die „Liebe donna con donna", die sog. lesbische Liebe, nur sehr rare prostitutive Erscheinungen, obwohl sich keimhafte Ansätze dazu seit eh und je in Harems, Frauenbädern und exklusiven Damenklubs ausgebildet haben. F. S. Caprio, der eine umfassende Monographie über die „Homosexualität der Frau" verfaßt hat, verweist auf die in einigen Brennpunkten des internationalen Tourismus — wie Havanna, Paris und Neapel — existierenden „Tempel der Sappho", wo lesbische Akte durch Benützung eines gummi20*

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artigen Penisersatzes (eines „dildo" oder „godmiche"), durch wechselseitige Masturbation, Cunni- und Anilingus ausgeführt werden. Zur Befriedigung des Voyeurtums (der „Skopophilie" oder „Mikoskopie") richten einige wenige anspruchsvolle Bordelle auch lesbische Vorstellungen ein, die manchmal noch unter Hinzuziehung eines Mannes erweitert werden, so daß es sogar zur Schaustellung eines „Triolismus", eines mannweib-männlichen Geschlechtsverkehrs kommt. Die letzte noch mögliche Prostitutionsbeziehung, die „Hingabe" von Männern an Frauen, erregt in unserer Zeit ab und zu als kurioses, literarisch extravagantes Sujet ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit, so ζ. B. aufgrund des von der pornographischen Schriftstellerin Mary Wilson dargestellten und entworfenen Planes zur Errichtung eines „Damenbordells". Vor einigen Jahrhunderten jedoch gab es in manchen Bädern des vorderen Orients männliche Prostituierte, die sowohl Männern als auch Frauen zur Verfügung standen. Und heute kommt es gelegentlich noch vor, daß Eintänzer, die sich in Animierlokalen um solche Damen zu kümmern haben, die keinen Tanzpartner finden, zugleich die Rolle eines männlichen Prostituierten übernehmen. Auch BorelliStarck führt neuerdings einige anschauliche Beispiele für die gegenwärtige Existenz von Damenbordells an. Bis vor kurzem konnte man in jeder einschlägigen Abhandlung über Prostitution die stereotype Generalthese vertreten finden, daß es immer und überall „käufliche Liebe" gegeben habe. Inzwischen formuliert man vorsichtiger und differenzierter. W. Bemsdorf meint sogar, daß es sich bei der Prostitution um „keine allgemein-gesellschaftliche Erscheinung" handele; „denn sie kommt in genossenschaftlichen Gruppen (bei unteren und mittleren Naturvölkern) nicht vor". — Außerdem fällt es schwer, klassische Kernkriterien herauszuschälen, die für alle Zeiten und Kulturräume gültig umschreiben könnten, was unter Prostitution zu verstehen ist. Die jeweiligen prostitutiven Gewohnheiten und Verhaltensweisen sind nämlich allein in ihrem Gesamtbezug zum gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Leben einer Epoche zu deuten und zu verstehen und deshalb meistens gar nicht miteinander vergleichbar, wenn sie einander fremden Kulturkreisen inhärent sind. Auf der Basis der im sog. christlichen Abendland gewachsenen und bis auf heute geltenden Normen ist die Aufnahme und Unterhaltung geschlechtlicher Beziehungen nur innerhalb der einmaligen und exklusiven personalen Gesamtbindung einer Ehe möglich. Alles, was an alloerotischem Erleben nicht in die Rechtsfigur der Ehe eingebettet ist, zählt zum promiskuitiven Verhalten. Die Promiskuität in ihren zahlreichen Formen und Schattierungen ist also nur als Negativum zur Ehe bestimmbar als sexuelle Frei-

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Prostitution

zügigkeit und Bindungslosigkeit. Sie umfaßt E r scheinungen wie die „freie Liebe", das „Verhältnis", das Konkubinat oder den Zufallsverkehr. Die Prostitution wiederum muß als eine Unterund Spezialform der Promiskuität begriffen werden. —• Dieser communis opinio hinsichtlich der Terminologie schließen sich freilich nicht alle gewichtigen Autoren an. Das braucht sich nicht unbedingt nachteilig auf das Fachgespräch innerhalb dieses noch wenig axiomatisierten Wissenschaftsbereiches auszuwirken. Für A. Flexner oder G. May ζ. B . ist Promiskuität kein Überordnungsbegriff, sondern (neben dem Geschäftsmäßigen und der emotionellen Indifferenz) eines der elementaren Kennzeichen der Prostitution. Begriffsdefinitionen und -abgrenzungen dieser Art — so notwendig sie sind — leiden darunter, daß ihnen im außerwissenschaftlichen Bereich ein moralisch diskriminierender Unterton beigelegt wird. Dazu tritt erschwerend hinzu, daß auch der Begriff Promiskuität im Zuge der weltweiten ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West innerhalb der divergierenden weltanschaulichen Konzepte eine konträre Akzentsetzung erhält. Wenn in der breiten Öffentlichkeit der westlichen, der euroamerikanischen Gesellschaft von Promiskuit ä t gesprochen wird, dann geschieht das im abwertenden Sinne oder sogar zur Illustration einer „Verfallstheorie". Der moderne entwurzelte Mensch verfällt der Promiskuität, dem Symptom letzter Entordnung und Bindungslosigkeit. In ihr artikuliert sich die Existenz des dividierten Individuums unserer Zeit. — In der vom MarxismusLeninismus beherrschten Welt wird dagegen von Promiskuität vor allem dann geredet, wenn im Anschluß an die entwicklungsgeschichtlichen Lehren I. J . Bachofens und L . H. Morgans über den „Aufstieg" des Menschen verhandelt wird: Promiskuität kennzeichnet die nach der Menschwerdung ursprüngliche („pantogame") Periode des Zusammenlebens mit uneingeschränktem Geschlechtsverkehr, auf die die Periode der Gruppenund zuletzt die der Einehe folgt. Unabhängig von solchen ideologischen Voreingenommenheiten, Vorschaltungen und standpunktlich bedingten Interpretationen meint in unserem terminologischdefinitorischen Aufriß der Begriff Promiskuität einzig und allein das Gegenstück zu dem ausschließlich in der Ehe integrierten geschlechtlichen Miteinander. Die Prostitution stellt dabei durch die völlige Isolierung der Sexualität von allen personalen, familiären und sozialen Bezügen den extremen Gegenpol zum ehelichen Geschlechtsleben dar. Noch nicht zur Prostitution zählen die Festund Gastpromiskuität, vergesellschaftete Eheverhältnisse oder -surrogate (ζ. Β . die „wilde E h e " ) , die Einrichtungen des Zeugungshelfers und der Hilfs-, Probe- und Zeitehe und der in manchen Kulturen legitimierte voreheliche Geschlechtsverkehr. Und während in der Promiskuität beide

Partner primär erotisch-sexuelle Bedürfnisse befriedigen wollen, steht beim prostitutiven Verhalten (der profanen käuflichen Liebe) der Forderung nach Genuß, der gewöhnlich auf recht begrenzte Erlebnisräume des Nur-Sexuellen reduziert bleibt, die massive Forderung nach Entgelt gegenüber. — Allerdings können sich dahinter auch noch raffiniertere Ziele verbergen. Die „Prostitution der party-girls im Dienste von Politik und Wirtschaft", wie es K. F . Müller taktvoll umschreibt, ist ein in hochindustrialisierten Staaten vereinzelt vorkommendes, zudem äußerst unfeines Mittel, um mit Hilfe von Puellen geschäftliche, wirtschaftliche, diplomatische oder militärpolitische Fäden anzuknüpfen, Geheimnisse zu erkunden oder Erpressungen durchzuführen. Bei weitestgehender Begriffsbestimmung müßte jede außer- bzw. nichteheliche Beziehung als Prostitution bezeichnet werden. Das geschieht zuweilen in den USA, wo sich der sittenstrenge puritanische Geist der englischen Kolonisten zu einer Art Staats- und Gesellschaftsmoral fortentwickelt hat. Im allgemeinen jedoch setzt man voraus, daß in den Beziehungen der Geschlechter zwischen Ehe und Prostitution eine gleitende Skala mannigfaltiger Zwischenstufen zu berücksichtigen ist. Offensichtlich gibt es ein Legitimitäts- und Prestigegefälle des sozial erlaubten und geregelten Geschlechtsverkehrs, in dem der eheliche Sexualverkehr ganz oben, der prostitutive ganz unten rangiert. 2. Klassifizierungsversuche

und

Erscheinungsformen

Der Versuch einer hieb- und stichfesten Klassifizierung der Prostitution oder des prostitutiven Verhaltens nach eindeutigen Unterscheidungskriterien erweist sich als wenig sinnvoll und aussichtsreich. Manchmal benennt man eine besondere Prostitutionsart einfach nach ihrem Auslösungsfaktor oder nach ihrer wirklichen oder vermeintlichen Ursache (Kriegs-, Hunger- oder Frauenüberschußprostitution). Gemeinhin differenziert man jedoch entweder nach dem Ort, wo die Dirnen „auf den Strich" gehen oder die Prostitution ausüben (daher Haus-, Bordell-, Straßen-, Theater-, Lokal-, Eisenbahn-, Bahn-, Kraftfahrzeug- oder Autobahnprostitution) oder nach dem Beruf, den die Dirnen gerne als ihre eigentliche Tätigkeit ausgeben bzw. noch wirklich nebenher auszuüben pflegen (daher Bar- und Tischdamen-, Kellnerinnen-, Serviererinnen- oder Tänzerinnenprostitution). Beide Klassifizierungsversuche, so unwissenschaftlich einerseits und praktikabel andererseits sie sein mögen, können auf eine lange Tradition verweisen. Schon Griechen und Römer haben sich ihrer bedient. — Manchmal fließen diese beiden Differenzierungsformen auch zusammen. Die Römer z . B . verstanden unter „copae" die Gasthausdirnen, die als solche vondenbustuariae, den Dirnen auf dem Friedhof, oder den alicariae, den vor den Mühlen auf Kundschaft wartenden

Prostitution Puellen, auseinanderzuhalten waren. Aber „copa" heißt auch Schenkmädchen, was zugleich bedeutet, daß diese Gattung von Freudenmädchen ursprünglich oder nebenbei einer solchen beruflichen Tätigkeit nachgegangen ist. Bei historischen Überblicken gliedert man gerne die Prostitution in eine religiöse (kultische, sakrale oder „heilige"), profane und gastliche unter. Erstere kennzeichnet hauptsächlich die „prosexuellen" Kulturen der antiken Mittelmeerwelt; die profane Prostitution ist die für das Abendland typische und hier heute noch übliche. Reste der gastlichen Prostitution haben sich bei uns bis ins Mittelalter erhalten: Der Gast durfte die Nacht mit der Frau, Tochter oder Magd des Gastgebers „auf guten Glauben" verbringen, d. h. in der Erwartung, daß keine Schwängerung erfolgt. Aber es ist eigentlich falsch, auf dieses, u. a. auch bei einigen semitischen Hirten- und Nomadenvölkern und unter den Eskimos nachweisbare, gastliche Brauchtum die Kategorie der Prostitution anzuwenden. Zu dieser Überzeugung gelangt u. a. auch E. Seelig. Es kommt hinzu, daß der gastlichen Prostitution ζ. B. der Hindus die Absicht zugrunde liegt, dadurch besonderes Ansehen bei den Göttern zu gewinnen, so daß sich also hier (und vielleicht auch anderswo I) das gastliche Motiv auf ein ursprünglich religiöses zurückführen läßt. Eine Aufklammerung der Prostitutionsformen könnte ebenfalls unter dem Gesichtspunkt erfolgen, ob die Dirnen ihren Lebensunterhalt ausschließlich durch die Ausübung gewerbsmäßiger Unzucht bestreiten, also Vollprostituierte sind, oder ob es sich um Gelegenheits- oder Nebenerwerbsprostitution handelt. Hier sind die Übergänge nicht fest zu markieren. Ein solcher Differenzierungsversuch liefe nämlich darauf hinaus, die Puellen nach der Höhe ihres Einkommens oder der Frequenz ihrer Kunden einzustufen. Zuletzt käme man dann zu einer Aufstellung, die von dem berüchtigten Typ der „Mostdirne", die schon für ein paar Mark zur körperlichen Preisgabe bereit ist, bis zur fürstlich dotierten „Edelnutte" vom Schlage einer Rosemarie Nitribitt reicht. Und diese Einstufung nach den Verdienstmöglichkeiten und Einkommensverhältnissen und dem daraus resultierenden ungeschriebenen sozialen Status ist ebenfalls ein uraltes Phänomen, das die Prostitutionsgeschichte von Anfang an kennt. Allerdings muß es nicht unbedingt die Puelle selber sein, die am Gewinn interessiert ist. In Ausnahmefällen sind es die Eltern oder Ehemänner, die ihre Kinder bzw. Ehefrauen sich prostituieren lassen, um daran zu verdienen. Ziemlich fest eingebürgert hat sich die herkömmliche und inzwischen fragwürdig gewordene Unterscheidung von „öffentlicher" und „heimlicher" (oder „wilder") Prostitution. Zur öffentlichen Prostitution in der überlieferten Form gehört die schon an ihrem Äußeren als solche erkenn-

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bare Prostituierte, die in der Regel unumwunden ihre Tätigkeit zugibt und sich gewöhnlich einer ordnungspolizeilichen und sanitären Kontrolle nicht entzieht. Im Gegenteil: Sie zeigt ihren Kunden ohne weiteres ihre Gesundheitskarte vor, um zu beweisen, daß sie keine „Schwarzarbeiterin" ist, sondern den Status einer Kontrolldime besitzt, bei der man nicht zu befürchten braucht, sich eine Geschlechtskrankheit zuzuziehen. Darüber hinaus achten die Traditionsdirnen streng auf die Einhaltung gewisser eingewurzelter Verhaltensnormen und Bräuche, was sich u. a. auf die Kleidung, das Ritual des Sich-Anbietens und die Respektierung der einzelnen Strichgebiete bezieht. Sie rechnen mit einem täglichen Durchschnittsbesuch von drei Kunden. Die meisten Freier werden am Wochenende aufgetrieben, und manche versierte Dirne soll es dann bis auf zwanzig Abendbesucher bringen. Die Prostituierten alten Stils waren (bzw. sind) teilweise kaserniert. Sie müssen dann entweder in bestimmten „Kontrollstraßen" oder Dirnenquartieren ansässig sein, oder aber sie waren (bzw. sind) in einem Bordell („maison de tolerance") untergebracht, in dem ihnen Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung gestellt werden, wobei die Dirnen zugleich in ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis zum Bordellunternehmer geraten. Bordelle können für die Insassinnen u. U. zu Stätten gemeinster Ausbeutung und schrankenloser Perversität werden, wenn infolge behinderter Freizügigkeit bei strenger Reglementierung die Prostituierten den Bordellwirten praktisch ausgeliefert sind. Sie sind deshalb häufig am sog. Strumpfgeld interessiert, d. h. an einem dem Kunden besonders entlockten Trinkgeld, das nicht dem Bordellunternehmer abgegeben oder mit ihm verrechnet werden soll und deshalb von den Prostituierten vorzugsweise im Strumpf aufbewahrt wird. Die nicht-kasernierten oder -bordeliierten Dirnen, mit denen wir es heute in fast allen Kulturstaaten zu tun haben, betreiben ihr Gewerbe ganz auf eigene Rechnung und bevorzugen dann von sich aus ein geschlossenes Wohngebiet, das den Kunden, den sog. Freiern („Kobern", „Affen"), als Dirnenviertel hinreichend bekannt ist. Die Routineprostituierte bevorzugt „feste" Freier, Stammkunden, die u. a. gewohnt sind, den Entgelt unaufgefordert unter den Aschenbecher zu schieben. Man ärgert sich nicht gerne mit „nassen" oder „linken" Freiern herum, die den Preis drücken wollen. Der Laufkundschaft, die nach einem alten Dirnenwort „nur Handgeld macht", gibt sich die Puelle durch Winken mit der Hand, durch Augenzwinkern, durch Herumlehnen und -lungern an Türen und Fenstern oder durch direktes Ansprechen, was in recht massiver und lasziver oder auch in dezenter Form geschehen kann, zu erkennen. Zu stereotypen Lockrufen der Prostituierten gehört das Nachahmen des Wolfsgeheuls im antiken Rom genauso wie die

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einladende Anfrage („Veux-tu monter, mon bei homme?") im modernen Paris. (Im Deutschen hören sich ähnliche sog. Dirnenkaufrufe weitaus ordinärer an). Die Abfertigung der Freier erfolgt teils in „Stundenhotels", teils in anderen Absteigequartieren oder „intimen" Pensionen minderen Niveaus, teils in der eigenen Wohnung. Oft wird in diesem Zusammenhang auch von „Bordellstraßen" gesprochen, was sachlich jedoch immer anfechtbar ist, wenn es sich um ein loses Zusammenwohnen von Dirnen in benachbarten Häusern und bestimmten Straßen ohne organisatorische Zusammenfassung handelt. Es ist überhaupt notwendig, den Begriff „Bordell" einer einschneidenden Revision zu unterziehen, vielleicht sogar — wenn von heutigen Verhältnissen gesprochen wird — ganz fallen zu lassen, da er meist falsche Assoziationen erweckt. Das Bordell im Sinne eines „Gewinnerzielung erstrebenden Unternehmens, bei dem der Inhaber von ihm wirtschaftlich abhängige Dirnen zur Unzuchtausübung bereithält", ist heute in Deutschland weithin durch den „Liebesbetrieb" oder „Salon" ersetzt. Die Salonprostitution ist eine gehobene Form der käuflichen Liebe als das für das wilhelminische Deutschland kennzeichnende Bordellwesen, erfreut sich natürlich keiner staatlichen Duldung und wird überdies sehr empfindlich von anderen, neuen prostitutiven und promiskuitiven Verhaltensgewohnheiten konkurrenziert. Der Salon, ein Appartement mit einer Anzahl von Einzelzimmern, befindet sich vorzugsweise in Häusern mit Laufkundschaft, hat also ζ. B. einen gemeinsamen Hauseingang mit einer stark frequentierten Arzt- oder Rechtsanwaltspraxis. Der Inhaber — meist eine Frau — vermittelt die dort wohnenden Dirnen einem überwiegend festen Kundenkreis und ist dabei auf strengste Diskretion bedacht. Die Geschäftszeit des Salons ist häufig auf die Stunden vom späten Vormittag bis zum frühen Abend begrenzt. Eine „Unterhaltung" der Freier zu anderen Tages- oder Nachtzeiten wird nicht geduldet. Die Dirnen haben sich meistens noch anderen festen Regelungen zu unterwerfen: Ihnen steht gewöhnlich die Hälfte der Einnahmen zu; aber es ist ihnen nicht gestattet, einen Partner abzulehnen, und sie müssen es sich gefallen lassen, daß sie in mehrmonatigen Abständen mit anderen Salons ausgetauscht werden, weil man den jeweiligen Stammkunden eine personelle Abwechslung bieten will. Viele dieser Salonprostituierten sind „heimliche" Dirnen, d. h. sie dissimulieren ihr eigentliches Gewerbe, sind amtlich nicht registriert und verstehen sich zuweilen selber nicht als puellae publicae, weil sie vielleicht nicht bemerkten, den Schritt vom Promiskuitiven zum Prostitutiven schon getan zu haben; oder aber sie umhüllen sich zumindest mit den Attributen eines geordneten, unauffälligen und normalen bürgerlichen Lebenswandels.

Wie fließend die Grenzen zwischen „heimlich" und „öffentlich" auch ansonsten geworden sind, beweist ein Einblick in das Management der Telefonkuppelei, die man als gültige und typische Prostitutionsform der modernen Industriegesellschaft bezeichnen kann. Bordellartige Etablissements oder Einzelpersonen verkuppeln auf fernmündlichem Wege den Kunden die gewünschten Damen, oder aber eine Liste mit der Angabe von Telefonnummern kursiert unter den eingeweihten Interessenten, die sich dann direkt mit den Dirnen in Verbindung setzen können. Zuweilen fungieren Taxichauffeure und Hotelportiers als Mittelsmänner solcher Call-Girl-Systeme. Die Call-Girls, moderne Hetären einerseits und eine Mischung von Straßendirne und Geliebte andererseits, bedienen sich fast immer einer vermittelnden Instanz. Treffen sie dann doch einmal eine Verabredung mit einem Kunden, ohne ihre Agentur verständigt zu haben, so laufen sie nicht nur Gefahr, aus ihrem Call-Girl-Ring ausgeschlossen zu werden, sondern auch keine Aufnahme mehr in einem ähnlichen Unternehmen zu finden. — Gewöhnlich rekrutieren sich die C-Girls zu einem geringen Teil aus der Gruppe der gewerbsmäßigen Prostituierten, hauptsächlich jedoch aus einem Kreis von solchen Frauen und Mädchen, die — an einem einträglichen Nebenverdienst interessiert •— aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten herkommen und keine „Offiziellen" sind. Oft stehen sie in Scheinarbeitsverhältnissen und geben sich als Sekretärin, Artistin, Film- oder Fotokünstlerin, Wirtschafterin, Mannequin, Bardame, Studentin oder Sängerin aus. Sie werden meist durch andere C-Girls oder durch Männer, die in C-GirlKreisen verkehren, in ihren Beruf eingeführt. In Deutschland ist das C-Girl-System noch nicht sonderlich verbreitet. „Das hochbezahlte Call-Girl gehört . . . zur Hochkonjunktur der Jahre nach 1960 und zum amerikanischen Steuersystem", schreibt H. Greenwald. In New York, Chicago, Los Angeles, Miami und Las Vegas liegen ihre Hauptarbeitsgebiete. Greenwald konstatiert bei den dort tätigen Rufmädchen eine strenge kastenmäßige Trennung nach Verdienst und Ansehen. Die teuersten und vornehmsten C-Girls, die sich selber als erlesene Luxusgeschöpfe und Aristokratinnen unter den käuflichen Frauen einschätzen, sind die „60-Dollar-Mädchen". Sie absolvieren gewöhnlich nicht mehr als eine Verabredung je Abend. Sie weisen gelegentlich einen Interessenten nur deshalb ab, um zu demonstrieren, daß sie keine kleinen reizlosen Puellen sind, die ihren Kunden hinterherlaufen oder auf der Straße flanieren müssen. Nur selten gelingt es einer Straßendirne, sich zum C-Girl „emporzuarbeiten". Ganz der heimlichen Prostitution zuzurechnen sind solche bordellartigen Unternehmungen, die sich als Schönheits- und Massageinstitute tarnen.

Prostitution Mädchen und Frauen, die sich dort um eine Anstellung bewerben, sind entweder von vornherein bereit, sich gewerbsmäßig preiszugeben, oder aber sie fallen unter dem Einfluß ihrer Umgebung der Prostitution nolens volens früher oder später zum Opfer. Derartige zweifelhafte Unternehmen hat es schon im alten Rom gegeben, wo die tractatio, die Durchführung unzüchtiger Massagen, in den öffentlichen Bädern gang und gäbe war. Zwischen Prostitution einerseits und Massagebetrieb und Badewesen andererseits besteht aus den verschiedensten Gründen ein uralter Zusammenhang. Andere zeitgenössische Prostitutionsformen beruhen darauf, daß der erste Kontakt zwischen den Partnern durch scheinbar harmlose Wandaushänge, auf denen die sog. Annoncen-Girls (unter alleiniger Angabe ihrer Telefonnummer) sich als Gymnastiklehrerin oder Masseuse anbieten, durch andere zweideutige Anzeigenhinweise oder fingierte Heiratsinserate hergestellt wird. Hier ist die Frage, ob heimliche oder öffentliche Prostitution vorliegt, schlechthin gegenstandslos geworden. Hier deutet sich vielmehr ein Trend an, der der Prostitution alles Kompromittierende und Indezente zu nehmen bemüht ist, ihr einen privaten, ja häuslichen Charakter verleiht und sie dank verfeinerter Arbeitsweisen durch die Maschen gesetzlicher und behördlicher Bestimmungen hindurchschlüpfen läßt. Die überkommenen Tatbestandsmerkmale der öffentlichen Unzucht treffen auf diese modernen Prostitutionsformen nicht mehr zu. Den dernier cri auf dem Gebiete des Dirnenwesens stellt das nach allen Regeln eines industriellen Betriebes organisierte und geleitete „Lastersyndikat" dar. Was darüber in sensationell aufgemachten Presseberichten aus England und den USA bekannt wurde, mag übertrieben sein. Immerhin liegt es durchaus im Zuge der Entwicklung, Prostituierte in ein Angestelltenverhältnis zu übernehmen, ihnen bezahlten Urlaub zu gewähren und den Krankenhausaufenthalt zu bezahlen. Und solche Dirnen aus den „Prostitutionsgangs", die nicht mehr für die geschlechtliche Feilbietung taugen, werden nach einer Darstellung A. Mergens in die „administrative" oder „fürsorgerische" Abteilung übernommen. Es ist naheliegend — was übrigens mutatis mutandis im klassischen Athen üblich war —, der Aufnahme in ein Lastersyndikat oder ein Prostitutionsgang eine regelrechte Schulung vorausgehen zu lassen. Gehörte in der Antike, die bereits „Hetärenkatechismen" kannte, die Beherrschung von Musik und Tanz und vielleicht noch die Zubereitung von Liebes- und Zaubertränken zur Berufsvoraussetzung einer Puelle, so muß heute vor allem gelernt werden, den geschmacklichen Finessen und Sonderwünschen der Kunden gerechtzuwerden und sich selbst ζ. B. als Französinnen- oder Spanierinnentyp zu stilisieren, um durch eine reiche Auswahl dem Unternehmen eine höhere

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Attraktion zu geben, im Umgang mit Betrunkenen den richtigen Ton und die richtigen Maßnahmen zu treffen und auf unauffällige Weise zu überprüfen, ob ein Partner nicht geschlechtskrank sein könnte. 3. Besonderheiten der männlichen Prostitution Eine Sonderstellung nimmt in diesem Zusammenhang die männliche Prostitution ein, die „zum Bezirk der unkontrollierten und am schlechtesten regulierten Prostitution gehört", zumal sie nicht nur in Deutschland unter das generelle Verdikt der strafwürdigen „widernatürlichen Unzucht" fällt— ganz gleich, ob mutuelle oder einseitige Onanie oder kohabitationsähnliche Handlungen wie After-, Schenkel- und Mundverkehr (Koitus in os; Fellatio) ausgeübt werden. Die männliche Prostitution kann deshalb nur „heimlich" erfolgen, und sie spielt sich tatsächlich in einem Rahmenmodus ab, der Unbeteiligten kaum wahrnehmbar wird. Zwischen den weiblichen und „männlichen" Dirnen besteht wegen des jeweils verschiedenartigen Kundenkreises gewöhnlich kein Konkurrenzverhältnis. Eine pittoreske, historisch belegte Ausnahmesituation spielte sich allerdings um 1480 in Venedig ab, wo die Dirnen eine eigentlich für Männer bestimmte Haartracht, die sog. Pilsfrisur, bevorzugten, um mit der homosexuellen Konkurrenz rivalisieren zu können. Im übrigen laufen manche äußeren Erscheinungsformen der beiden Prostitutionsweisen durchaus parallel: Hier wie dort gebraucht man ein ähnliches Vokabular, die gleichen Gewerbeausdrücke und Spitznamen; hier wie dort unterscheidet man eine niedere und höhere Klasse von Prostituierten; hier wie dort pflegt man sich auf gewissen „Strichen", auf den für das Werben und Anlocken von Freiern günstigen örtlichkeiten, in mehr oder minder auffälliger Weise übermäßig lange aufzuhalten, um „angeln zu gehen". Allerdings bevorzugen die „Strichoder Puppenjungen", die „Raben" oder „Töhlen", weniger die Straßen und Plätze und mehr die öffentlichen Bedürfnisanstalten und Parkanlagen. Überhaupt unterliegt der homosexuelle Strich einem ständigen Wandel. Die männlichen Prostituierten üben meist ihr Gewerbe nicht über das 25. Lebensjahr aus. Sie „arbeiten" nicht in bordellartigen Unternehmungen oder deren modernen Abwandlungen, schließen sich aber untereinander gerne in vereinsähnlichen Gruppierungen zusammen. Als Annex muß noch auf die transvestitische Prostitution verwiesen werden: Als Männer verkleidete Frauen bzw. als Frauen verkleidete Männer geben sich zu homo- oder heterosexueller Unzuchtsausübung preis. Die historische Wurzel dieses Randphänomens der Lohnhurerei reicht zurück auf das kultische Transvestitentum semitischer und altamerikanischer Völker. Man mißt jedoch der transvestitischen Prostitution zu viel Bedeutung bei, wenn sie — wie bei W. Bernsdorf—

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Prostitution

als dritte prostitutive Erscheinungsform neben der homo- und heterosexuellen Gewerbsunzucht genannt wird. 4. Zuhältertum und

Mädchenhandel

Dem Zusammenschluß männlicher Prostituierter untereinander steht die Verbindung und das Hand-in-Hand-Arbeiten der Puellen mit einem Zuhälter gegenüber, der in der Dirnensprache meistens mit dem französischen Vornamen „Louis" bedacht wird (und in Wien oft auch „Strizzi", in Berlin „Fohsenhahn" und in England „ B u l l y " heißt). Weibliche Vertreter dieses Gewerbes finden sich relativ selten. Etymologisch leitet sich das Wort „Zuhälter" von „zuhalten mit einem" ab, was bedeuten soll, mit jemandem intime Gemeinschaft pflegen. Die offiziellen Definitionen des Zuhälters stellen heraus, daß er eine Dirne „gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz bei der Ausübung der Unzucht schützt oder fördert". In diesem Sinne ist das Zuhältertum eine uralte Begleiterscheinung vor allem des nicht bordellartig zusammengefaßten Dirnentums. Zuweilen sind es sogar mehrere Dirnen, die ein Zuhälter „für sich laufen" läßt, d. h. die ihm den Lebensunterhalt zu bestreiten haben. Das enge Zusammengehörigkeitsgefühl von Puelle und Zuhälter beruht auf mehreren Faktoren. Einerseits bedarf die Prostituierte eines wirksamen Schutzes und einer durchgreifenden Hilfe sowohl vor anderen und neuen Konkurrentinnen als auch gegenüber zahlungsunwilligen oder gewalttätigen und perversen Liebhabern, vielfach auch vor den Nachstellungen der Polizei. Andererseits spielt hier das rein menschliche Motiv eine entscheidende Rolle, daß sich die Dirne wenigstens einem männlichen Partner in stärker gemüthafter Weise verbunden wissen will. Außerdem machen sich viele Zuhälter auch durch kupplerische Tätigkeit als aktive Förderer des Gewerbes ihrer „ B i e n e " verdient. Trotzdem gehört es zu den üblichen Berufsgefahren einer Prostituierten, nicht nur von ihren Kunden bedroht oder geschlagen oder sogar gewürgt zu werden, sondern auch heftige Auseinandersetzungen mit ihrem Zuhälter zu bestehen, in deren Verlauf es zu lautstarken Eifersuchtsszenen und bedrohlichen Messerstechereien kommen kann. E . Seeligs Aper^y, daß die Prostitution für die Frau „die einfachste und primitivste Form der Bestreitung des Lebensunterhaltes" darstelle, gilt nur unter erheblichen Restriktionen. Manche Zuhälter sind zugleich Mädchenhändler, deren Arbeitsmethode ζ. T. wirklich so abenteuerlich ist bzw. war, wie es zweifelhafte Groschenblätter ab und an ihrem sensationshungrigen Leserpublikum zu schildern pflegen. Den Mädchenhandel kannten schon die Antike und das Frankreich des 18. Jahrhunderts, wo ständig neue „Lieferungen" für den berühmtberüchtigten „Hirschpark" der französischen Könige benötigt wurden. Die Spezifik des modernen

Mädchenhandels besteht darin, daß dieser recht eigentlich eine Folgeerscheinung unseres mobilen und reisefreudigen Zeitalters ist. Die professionellen Mädchenhändler wenden sich gerne an schlechtbezahlte weibliche Arbeitskräfte in Gaststätten oder Vergnügungslokalen, um sie zu überreden, sich als Animiermädchen zu betätigen. Von dort aus ist der Weg nicht mehr weit, von einer erfahrenen Dirne zur Prostitution ermuntert und buchstäblich abgerichtet zu werden. Zuletzt werden die verführten Mädchen in ein bordellartiges Unternehmen einer fremden Stadt gebracht, in seltenen Fällen auch gewaltsam verschleppt, zumal wenn ihnen die eigentliche Absicht und der Zuführungsort verheimlicht bleiben sollen. Andere, inzwischen wohl weitgehend der Vergangenheit angehörende Methoden des Mädchenhandels beruhen darauf, daß 16 bis 20jährige Mädchen von jungen, gutaussehenden (bei I. Block) „ K a d e t t e n " genannten Männern angelockt und aufgefordert werden, als Lehrlinge bzw. „Elevinnen" einen regelrechten Artistenvertrag abzuschließen. Sie absolvieren dann eine scheinbare Ausbildung als Tänzerin, während sie nach dem Willen der Drahtzieher dieses dubiosen Unternehmens doch nur zur Schau gestellt werden sollen. Ist der Lehrvertrag erloschen, so beginnt mitunter eine sog. Auslandstournee, die gewissermaßen die Vorstufe zur Aufnahme des Prostitutionsgewerbes bildet oder die Möglichkeit bietet, das Mädchen in einer ausländischen Stadt zum Dableiben und zur gewerbsmäßigen Unzucht zu ermutigen oder sogar halbwegs zu zwingen. — Hauptabsatzgebiete des Mädchenhandels sind Pensionen, Bordelle und Absteigequartiere in der Levante, in Mittelmeerhäfen und vor allem in Südamerika. Doch soll, wie A. D. Dieckhoff versichert, seit 1946 kein einziger Fall von Verschleppung „weißer Sklavinnen" mehr vorgekommen sein. 5. Moderne

Entwicklungstendenzen

Zuhälterei, Kupplertum und Geschlechtskrankheiten gelten als die Trias der übelsten Begleiterscheinungen und Folgen der Prostitution, denen staatliche und kommunale Behörden und Gesundheitsämter ihre Hauptaufmerksamkeit zuwenden. Mehr und mehr verliert diese Trias im Zuge der sexualethischen Neuorientierung und der grundlegenden Wandlung der Erscheinungsformen der Prostitution an besorgniserregender Bedeutung. Das typische, in der Literatur oft beschriebene Bild eines gewalttätigen, erpresserischen Zuhälters oder einer raffinierten, ausbeuterischen Kupplerin verblaßt allmählich, und die Geschlechtskrankheiten können einer hygienebeflissenen Wohlstandsgesellschaft nur noch in geringem Maße gefährlich werden. Diese Entwicklungstendenz wird dadurch erkauft, daß sich neben der Prostitution alten Stils und ihrer modernen Abarten, die hier und da ihre Positionen dank der Anwesenheit von

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Prostitution ausländischen Gastarbeitern und Besatzungstruppen einigermaßen halten, vielleicht sogar verbessern konnten, ein (neues) ubiquitäres prostitutives Verhalten breitmacht. Allgemeine Promiskuität ermöglicht aber vielfach ein Abnehmen der organisierten Unmoral. Die Dirne verliert ihren Wert als sexueller Bedarfsartikel, wo „freie" oder sog. feste „Verhältnisse", die auf ethisch teils gehobenen, teils herabgesetzten Sexualmotiven beruhen, durchweg sanktioniert werden. Neben die zunehmend größere weibliche Bereitschaft zum außer-, neben- und vorehelichen Sexualverkehr tritt die verstärkte Neigung zur Frühehe, die ebenfalls das Aktionsfeld der haupt- oder nebengewerblichen Prostitution empfindlich einschränkt. Einen deutlichen Niederschlag findet der Wandel der Sexualsitten und-Verhaltensmuster in der wenig glücklichen, unpräzisen, behördenüblichen Redeweise vom „hwG", vom häufig wechselnden Geschlechtsverkehr, der sich in einem die öffentliche oder heimliche Prostitution um ein Vielfaches übersteigenden Umfang ausbreitet, und zwar in einer Form, die sich weitgehend der Einflußnahme behördlicher Maßnahmen und Eindämmungsversuche entzieht. Der hwG unterscheidet sich von der konventionellen Prostitution in mehrfacher Hinsicht. Zu seinem Personenkreis zählen Frauen und Mädchen, die sexuelle Beziehungen zum anderen Geschlecht in auffälliger Weise suchen, ohne daß dabei — wie gewöhnlich bei der prostitutiven Partnersuche — das Moment der krassen Wahllosigkeit oder der Merkantilität bestimmend in den Vordergrund rückt. Geschlechtliche Hingabe und ein Geschenk des Sexualpartners sind sowieso in unserer heutigen Gesellschaft oft selbstverständliche Korrelate, so daß oft zwischen dem Geschenk des Geliebten und dem Entgelt des Kunden kein essentieller Unterschied zu bestehen braucht. Der hwG konzentriert sich außerdem nicht so ausschließlich auf größere Städte, Fremdenverkehrszentren und Hafenviertel, sondern ist breitflächiger über das ganze Land verstreut. Auch altersmäßig besteht ein Unterschied: Die hwGPersonen sind kaum über 35 Jahre alt, während es zahlreiche Kontrolldirnen über 40, ja über 50 und sogar über 60 Jahre gibt, auch wenn sich deren Hauptkontingent aus den 18 bis 40 jährigen Frauen rekrutiert. Den hwG noch als Prostitutionserscheinung im Sinne der herkömmlichen Definition zu bezeichnen, ist schwer zu rechtfertigen. Fraglich mag es sogar sein, ob die „Fräuleins" und „Veronikas", die ausgehaltenen Freundinnen und Pseudoverlobten der in Westdeutschland stationierten Soldaten, schon unter das Dirnentum im konventionellen Verständnis zu subsumieren sind. Der Terminus „Prostitution" stellt jedenfalls eins der aktuellen Probleme dar, bei denen ein Maximum an Widersprüchen und Antinomien vorhanden ist. W. E. Simmat sieht die Prostitution auf einem Wege, „an dessen Ende sie viel-

leicht als sozialhygienisches und kriminologisches Problem zu existieren aufgehört haben wird". Man kann und sollte es auch (nach Simmat) alarmierender formulieren: „Das normale Leben unserer Gesellschaft dehnt sich mehr und mehr auf Bereiche aus, die früher der Prostitution vorbehalten waren". B. Geschichtlicher Aufriß 1. In vorgeschichtlicher

Zeit

Die Prostitution ist ein ausschließlich hominides Verhaltensphänomen. W. Bernsdorf setzte sich einmal kritisch mit dem angeblich prostitutiven Gebaren der „Tanzfliege" auseinander, um darzulegen, daß es sich hierbei um keine tierische Prostitutionsvariante handelt. Schwerer wiegt schon die Tatsache, daß bei einigen Zooaffen sich das Weibchen dem Männchen anbietet, wenn es einen Anteil an begehrten Leckerbissen erhalten will. Doch es wäre überspitzt, von diesem einen, zudem ziemlich vagen Faktum aus die menschliche Prostitution auf ein allgemeineres Primaten-, Säugetier· oder gar Wirbeltierverhalten zurückführen zu wollen. Vielmehr ist die Prostitution ein ausgesprochen kulturanthropologisches Problem, das erst verständlich erscheint, wenn man es zusammen sieht mit der menschlich-kulturellen Überformung und Institutionalisierung des Sexualverhaltens. Die Soziologie und die biologische Forschung kennen zahlreiche Ansätze zu Ehe- und Familienformen schon bei Tieren, ζ. B. auch eine Art Monogamie bei menschenähnlichen Affen, so daß die Annahme berechtigt ist, daß der Mensch sowohl Ehe als auch Familie aus seiner animalischen Natur entwickelt. Wann und wie beim „Ursprung" der Familie die Demarkationslinie zwischen Tier und Mensch überschritten wurde, ist schwer anzugeben. Man kann aber mit Fug und Recht behaupten, daß die menschliche Familie erst entstehen konnte, als die Mutter-KindBeziehung durch die „Famiiiarisierung" des Männchens zu dem persistierenden Verhältnis einer Fürsorge- und Sicherungsgemeinschaft von Vater, Mutter und Nachkommenschaft erweitert wurde. War die Familie auch ursprünglich in erster Linie eine ökonomische Institution, so lag in ihr doch von vornherein eine Tendenz zur Monopolisierung der Geschlechtsbeziehungen beschlossen, da das familiäre Dauerverhältnis auch gewisse Dauerbindungen der Sexualpartner im affektiven, erotischen und sexuellen Bereich konstituiert (-> Ehe und Familie). Nun hat man lange Zeit die Ansicht vertreten, daß ein Überrest der Polygamie der Primatenhorden mehr oder minder diffamiert oder geduldet in allen menschlichen Gesellschaften als „survival" bestehen bliebe und sich nicht zuletzt in der Prostitution fortsetze, so daß man von deren interkulturellen Evidenz sprechen könne. Inzwischen hat die moderne Anthropologie nicht nur erkannt, daß die mensch-

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Prostitution

liehe Geschlechtlichkeit als weitgehendes „unspezialisiertes Grundbedürfnis" auf kulturelle Leitung und Regelung angewiesen ist, sondern daß es überhaupt die unvorstellbare Vielfalt menschlicher Gefühls-, Denk- und Verhaltensweisen und die scheinbar unbeschränkte Plastizität und Wandlungsmöglichkeit der menschlichen Anlagen nicht erlaubt, voreilig vermeintlich allgemeingültige Schlüsse auf die menschliche Natur — auf das, was ihr möglich und angemessen und von ihr zu erwarten sei — zu ziehen. W. Bernsdorf hält es außerdem für ein suspektes Unterfangen, wenn man mit präsozial bedingten Einstellungskomplexen, nämlich mit biologisch festgelegten Antrieben des Menschen, die in der Prostitution vorliegenden sozialen Beziehungen und Formen zu erklären versucht. Und die in einigen Kulturen sozial gebilligte Polygamie konnte bisher nie von sexuellen Motiven her erklärt werden. Sie beruht vielmehr größtenteils darauf, daß sie dem Mann, tier mehrere Frauen heiratet, ein höheres Sozialprestige verleiht und mehr Arbeitskräfte zur Verfügung stellt und ihm darüber hinaus die Gewähr dafür bietet, daß er dank seiner zahlreichen Verschwägerungen in Notzeiten auf eine starke verwandtschaftliche Unterstützung rechnen kann. Im übrigen sind überhaupt die Ansichten, Hypothesen und wissenschaftlichen Forschungsergebnisse über die Systeme und Strukturformen von Ehe und Familie in der vorgeschichtlichen, primitiven menschlichen Gesellschaft äußerst widersprechend. Festzustehen scheint freilich, daß ein Pansexualismus auf keiner Stufe der Zivilisation nachweisbar ist. Ob es dagegen bei den Jägern und Sammlern im ausgehenden Eiszeitalter oder später, als beim Übergang zu Ackerbau und Viehwirtschaft unter den veränderten Bedingungen die Frau ihre besondere gesellschaftliche Stellung verlor, schon so etwas wie Lohnhurerei gegeben hat, gehört in das Reich der Mutmaßungen. Möglicherweise hat die Sexualherrschaft überlagernder Stämme oder Völker über die von ihnen Unterworfenen zu einem innervolklichen Dauerzustand und bei den männerherrschaftlich organisierten Völkern zu einer geregelten und sozial gebilligten Einrichtung geführt, die dem Mann oder der Frau außerhalb mono- oder polygamer Eheformen den vor- oder außerehelichen Geschlechtsverkehr gestattete. Hier können mannigfaltige Übergangsformen zum prostitutiven Verhalten entstanden sein. 2. Prostitution

bis zum Auftreten

des

Christentums

Die ersten, für unseren Gegenstand wesentlichen geschichtlichen Belege, über die immer nur exemplarisch berichtet werden kann, stammen von den Kulturvölkern des alten Orients. In Mesopotamien steht die Prostitution als öffentliche und dementsprechend lukrative Einrichtung — wie aus dem Codex Hammurabi zu schließen ist — ver-

mutlich schon im (2. oder) 3. Jahrtausend vor Chr. in hoher Blüte, später dann auch in Syrien, Lydien, Persien, Ägypten usw. Daß der Bau der Cheopspyramide durch das „Sündengeld" der sich prostituierenden Tochter des Pharao mitfinanziert worden sein soll, beruht auf einer gern zitierten Überlieferung. Immerhin besitzt das alte Ägypten schon ziemlich früh eine hochentwickelte Schenken- und Animierkneipenprostitution. Wahrscheinlich war die Prostitution schon bei den Sumerern institutionell geordnet. Immer ist sie zuerst an den religiösen Kultus gebunden, und der Nimbus, ein „heiliger Gottesdiener" oder eine „Gottessehwester" zu sein, umgibt die männlichen und weiblichen Hierodulen, die sich innerhalb oder außerhalb des Tempels prostituieren. An homosexuellem Verkehr wird kein Anstoß genommen, und von Anfang an führt nur ein kleiner Schritt von der „heiligen Prostitution", in der sich sexuelle, magische und religiöse Motive (aber auch wirtschaftliche Interessen der sie unterhaltenden Priester) unentwirrbar miteinander vermengen, zur religiös indifferenten, gewerbsmäßigen Hingabe. In Babel findet die käufliche Liebe ihren Ausdruck in der bald gesetzlich geregelten Schenkenprostitution. Nüchterner Geschäftsbetrieb im Tempelbezirk schließt außerdem nicht aus, daß der prostitutiv ausgeübte Geschlechtsakt ein religiöses Fruchtbarkeitszeremoniell und ein Lustund Dankopfer für die Göttinnen Ischtar, Melitta, Anaitis, Astarte, Baalath oder Isis darstellt. Zuweilen werden die weiblichen Tempelprostituierten zur Verhütung von Schwangerschaften auch unfruchtbar gemacht. Berühmt geworden ist der Bericht Herodots, nachdem sich jungfräuliche Babylonierinnen einem Fremden in der Nähe des Ischtar-Haines hingeben mußten — einmal, und dann niemals wieder. Manches Mädchen habe drei bis vier Jahre im Heiligtum der Fruchtbarkeitsgöttin warten müssen, bis endlich ein Mann kam und zum Zeichen, daß er sie begehrte, ihr ein Silberstück in den Schoß warf. Viele Einzelzüge dieser Überlieferung muten fabulös und unwirklich an, und man wird diese Herodot-Stelle nicht zum Locus classicus für das Vorhandensein uralter prostitutiver Sitten und Gewohnheiten erheben dürfen; denn höchstwahrscheinlich steht hinter dieser als Lustopfer ausgegebenen Zwangsvereinigung ein pränuptialer Brauch, wie er von vielen primitiven Völkern bekannt ist und von Haus aus nichts mit Prostitution zu tun hat. Die früheste Kunde, die wir über die Prostitution als festgefügte Ordnung erhalten, scheint den herkömmlichen Satz zu bestätigen, daß es sich hier um das „älteste Gewerbe" der Menschheit handelt. Aber diese These muß modifiziert werden. Zwar weist die Prostitution von damals viele, ζ. T. verblüffende Parallelen mit der von später oder von heute auf: Es gibt in Babylon schon Tempelbordelle mit Oberaufsehern; es gibt fast überall

Prostitution eine niedere und eine höhere Schicht von Puellen; es gibt Kleidervorschriften, denen sich nach altassyrischem Recht die Tempeldirnen unter Androhung drakonischer Strafen zu unterwerfen hatten; es gibt sogar bei den Phöniziern in Heliopolis schon so etwas wie das Raffinement einer transvestitischen Prostitution! Aber gerade als reines „Gewerbe" tritt prostitutives Verhalten bei den alten Völkern des vorderen Orients primär noch nicht auf, sondern stets erst einmal als integrierender Bestandteil einer von einer bestimmten Religion geprägten Kultur und Lebensgestalt. Und es ist entscheidend, daB die Prostitution hierbei profaniert, „säkularisiert" werden und einen „gesellschaftlichen Funktionswandel" — wie W. Bernsdorf diesen Prozeß bezeichnet — durchmachen muß, um zum richtigen Geschäft zu werden. Eine Absage erhält die Mixtur von Sexus und Religion, von Prostitution und Frömmigkeit nur durch den alttestamentlichen Jahweglauben. Der Profetismus führt einen erbarmungslosen Kampf gegen die „Kedeschim", gegen die weiblichen und männlichen Tempelhuren und gegen die Überreste alter und das Einsickern neuer Natur- und Fruchtbarkeitsreligionen. Besonders für den Baalskult, einem kanaanäischen Pendant zur wildwuchernden Tempelprostitution der kleinasiatischen Muttergottheiten und des phönizischen Melkartkultes, ist die sakrale Prostitution so typisch, daß er von den Profeten direkt als „Hurerei" bezeichnet und angeprangert wird. Nicht die Prostitution als solche soll in Israel ausgerottet werden, sondern das durch sie gekennzeichnete religiöse Verständnis, Gott nicht als Gott der Geschichte erkennen zu wollen, sondern als ein in das Stirb-und-Werde der Natur personifiziertes höchstes Lebensprinzip. Ein rigoros asketischer Zug liegt im übrigen dem alten Israel so fern wie eine Verkehrung religiös-prostitutiver Sitten, Ordnungen und Verhaltensweisen in ihr bloßes Gegenteil. Letzteres ereignete sich aber ansonsten in der Mittelmeerwelt häufiger: Nicht zur religiösen Prostitution, sondern vice versa zur unbedingten Einhaltung ihres Keuschheitsgelübdes mußten sich die Vestalinnen und hier und da auch die Priesterinnen des Dionys verpflichten; nicht Tempelhurer verlangte der Dienst zu Ehren der Kybele und der Dea Syria ζ. Zt. des Hellenismus, sondern kastrierte Priester, die eigenartigerweise „Galli" genannt wurden; nicht zu orgiastischen Ausschweifungen, sondern zur Selbstentmannung kam es bei den kultischen Feiern des phrygischen Attis. Der streng glaubensethisch motivierte Einspruch des Alten Testamentes gegen die Prostitution kam erst im Christentum zur vollen, weltweiten Auswirkung. Vorerst war davon nur in Israel selber etwas zu verspüren. Doch auch von zwei prominenten Prostituierten weiß das Alte Testament zu berichten: von Rahab, einer der Stammütter Christi, und von Gomer, der Frau des Propheten

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Hosea. Und über Thamar, die Schwägerin Onans, die Juda zum Geschlechtsverkehr verführte, erfahren wir, daß sich damals die Huren verhüllt an den Rand des Weges vor das Stadttor setzten, um Kunden anzulocken. Reichlicher als vorher fließen die Quellen über die Prostitution aus der griechisch-römischen Kulturwelt des Altertums. Tempelprostitution hat es auch hier gegeben. Sie geht auf eine Migration zurück, in deren Verlauf sich der syrisch-phönizische Astartekult in den Aphroditedienst verwandelte, wie er hauptsächlich in der wegen ihrer Sinnenfreude berühmt-berüchtigten Stadt Korinth aufblühte. Ihre Wurzeln können aber auch in vorhellenischen Fruchtbarkeitszeremonien zu Ehren chthonischer Gottheiten zu finden sein. Insgesamt trat im griechischen Kulturbereich die sakrale Prostitution zurück, und in Sparta, wo die Stellung der Frau eine relativ unabhängige war, hat es überhaupt zu keiner Zeit ein nennenswertes Dirnentum gegeben. Im 6. Jahrhundert v. Chr. machte Solon die Athener Tempeldirnen zu Insassen eines öffentlichen Freudenhauses, das er durch ein Schild mit dem wichtigsten Symbol der mythologischen Erotik des alten Griechenland, nämlich mit dem Bild des Gottes Priapos, des Sohnes der Aphrodite und des Dionys, kennzeichnen ließ. Die Einnahmen des staatlichen Bordells wurden für den Unterhalt des Tempels der Aphrodite Pandemos verwendet. Nur außerhalb der Stadt durften sich private Bordellwirte niederlassen. Die Prostituierten wurden regelmäßig gezählt und mußten Steuern entrichten. Die Bordelldirnen Athens, die in den oft nicht einmal unkomfortabel eingerichteten Staatsbordellen „Dikteriaden", stellten die Parias unter den Freudenmädchen dar. Sie wurden vulgo als die „Handwerkerinnen der Gewerbsunzucht" eingestuft. Sie rekrutierten sich aus Sklavinnen, mußten nach einem Ritual festgelegter Regeln ihre Kunden anlocken und durften nicht mehr als einen Obolus für ihre Dienste verlangen. Eine mittlere Prostituiertenschicht bildeten die „Flötenspielerinnen" (Auletriden), deren Name schon auf die seit der Perserzeit nachweisbare Verquickung von Prostitution und Musik hinweist. Sie lebten nicht kaserniert, kamen auf Bestellung zu Gelagen in die Häuser vornehmer Bürger, wo sie sich als Musikantinnen, dann auch als Akrobatinnen und Tänzerinnen und — last not least — als Prostituierte betätigten. Angehörige aus dem niederen Dirnentum wurden zuweilen von einem reichen Gönner losgekauft oder regelrecht vertraglich gemietet und konnten dann u. U. in die gesellschaftliche Position einer „pallake", einer Konkubine, aufrücken. Ein hervorragendes Spezifikum des griechischen Kulturlebens bestand in der Erscheinung des Hetärentums. Das Wort leitet sich von „hetairai", die Gefährtinnen, ab. Nicht ganz eindeutig ist, wer alles unter dem Oberbegriff

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„Hetäre" subsumiert werden kann. Manchmal meinte man damit die Gesamtheit aller Dirnen, meistens jedoch nur deren oberste Schicht, die hochgebildeten, ζ. T. äußerst einflußreichen Geistesfreundinnen und Maitressen — von denen einige sogar Kurse an den Philosophenschulen absolviert hatten — bedeutender Politiker, Dichter oder Künstler. Sie traten erstmals im 5. Jahrhundert v. Chr. in Erscheinung, und aus der griechischen Literatur sind der Nachwelt die Namen ihrer berühmtesten Vertreterinnen — Aspasia, Glykera, Lais, Phryne — überliefert worden. Als Dirnen können diese Frauen nicht mehr verbucht werden; denn für die Begriffsbestimmung „Prostituierte" werden solche entscheidenden Voraussetzungen wie die des „laufenden Wechsels" und der „reinen Geschäftsmäßigkeit" oder zumindest die des „allgemeinen Sich-Anbietens" nicht mehr erfüllt. Eher könnte man von einer sukzessiven (und manchmal auch simultanen!) Polyandrie der Hetären sprechen. Auch die Päderastie, das für das alte Hellas so typische freie Liebesverhältnis zwischen einem erwachsenen Bürger und einem Knaben, darf nur zu einem geringen Teil als Prostitutionsphänomen gewertet werden. Sie diente vielmehr erziehlichen und militärischen Zwecken und war im Blick auf die sittliche Führung und die körperliche Ausbildung und Ertüchtigung der Heranwachsenden ein geradezu unersetzlicher Bestandteil der klassischen „paideia". — Die Sexualsphäre des griechischen Mannes erstreckte sich in erster Linie auf das Zusammensein mit Hetären und Epheben, während der Ehefrau, die durch Sitte und Recht an das Haus gebunden und vom Kulturleben weitgehend ausgeschlossen war, die wenig angesehene Funktion verblieb, Mitgiftbringerin zu sein und Nachkommen zu gebären. Vorbedingung für die Entwicklung der profanen Prostitution in Griechenland war hauptsächlich der Umstand, daß dem Mann in geschlechtlicher Beziehung jede Freiheit gewährt wurde, während die verheiratete Frau streng auf die Ehe angewiesen war. Diesen Dualismus findet man zu keiner anderen Zeit und in keinem anderen Land so scharf ausgeprägt. Neben der offiziell tolerierten Pädophilie und Päderastie existierte eine weitverzweigte gleichgeschlechtliche Liebe zwischen Männern, die auf merkantiler Basis und deshalb keineswegs uneingeschränkt erfolgen konnte. Erwachsene Männer durften sich zwar prostituieren; aber nur dann, wenn der Kunde ein Ausländer war, wurde es ihnen gestattet, sich als „Kinäde" oder „Uranier" — wie die Homosexuellen nach der den gleichgeschlechtlichen Verkehr patronisierenden „himmlischen Liebesgöttin" Aphrodite Urania hier und da genannt wurden — zu einem festen Lohn zu verdingen. Und die Eltern von Halbwüchsigen und Knaben machten sich strafbar, wenn sie ihre Kinder anlernten, wie sie sich zu prostituieren hatten. Knabenbordelle sind dennoch sowohl im

alten Athen als auch später in Rom anzutreffen gewesen. Da die Päderastie jedoch Männerbündnisse begünstigte, die sich aus freiheitsliebenden Motiven zur Beseitigung einer Tyrannis bildeten, wurde sie zeitweise (und besonders in den ionischen Städten) beargwöhnt, ja sogar bekämpft. In Rom galt die Ephebophilie und das libidinöse In- und Miteinander von homo- und heterosexueller Zuneigung lange Zeit als „griechische Sitte", bis es in der Kaiserzeit auch hier sich prostituierende „pueri sancti" und passive Päderasten gab, die allerdings häufig kastriert waren und gewöhnlich nicht dem jünglingshaften Schönheitstyp glichen, den die Griechen bei Mann und Frau in gleicher Weise präferierten. Die Lustknaben Roms wurden in den „Septen" auf dem Marsfeld zu näherer Prüfung auf einem drehbaren Gestell feilgehalten und dann entweder verkauft, verpachtet oder verliehen. Ihr Preis schwankte außerordentlich, je nachdem, ob es sich um einfache Sklaven und Kriegsgefangene oder um musisch gebildete, Zitter und Leier spielende männliche Dirnen höheren Ranges handelte. Überhaupt wurden Sklaven und Sklavinnen grundsätzlich danach unterschieden, ob sie als billige Arbeitsoder als teure Lusttiere Verwendung finden sollten. Angesehene Leute wie Cato und Brutus waren stolz auf die Wucherpreise, die sie für die Ausleihe von Dirnen-Sklavinnen einstreichen konnten. Es dauerte allerdings ziemlich lange, bis die Prostitution in Rom Eingang fand. Zu Beginn der römischen Geschichte herrschte eine strenge Ehemoral, und das Virginitätsideal, sichtbar verkörpert in den zu dreißigjähriger Jungfräulichkeit verpflichteten Vestalinnen, wurde hoch eingeschätzt. Erst mit dem Anwachsen der Macht und der Ausdehnung des Reiches und mit dem Übergang zur sklavenhaltenden Gesellschaft breitete sich das Dirnenwesen aus. Die Luperealien und Floralien nahmen mehr und mehr den Charakter von Prostituiertenfesten an, und die Puellen bekamen ihren eigenen Venustempel, wo sie Ziegen, Tauben oder Sperlinge opferten. Die gesellschaftliche Untergliederung des römischen Dirnenstandes entsprach in etwa der in Griechenland, nur daß die den Hetären vergleichbaren „bonae" größtenteils ungebildeter und politisch uninteressierter waren als ihre griechischen Kolleginnen. Schon früh tauchten Klagen darüber auf, daß sich neben der behördlich geordneten Prostitution die Schmutzkonkurrenz heimlicher puellae publicae, der sog. famosae, in Schenken, Zirkussen, Theatern, Singspielhallen und Badeanstalten störend bemerkbar machte. Zuletzt nahm der Sittenverfall im römischen Reich derart überhand, daß kaum mehr zwischen einer Prostituierten und einer ungetreuen Ehefrau unterschieden werden konnte. Im dritten nachchristlichen Jahrhundert war Rom von mehr Dirnen bevölkert als jemals zuvor die Stadt Athen. Dennoch ist es falsch, den Niedergang der römi-

Prostitution sehen Weltmacht auf die Sittenlosigkeit zurückzuführen. — Es besteht ein Gefalle von der vorderasiatischen Tempelprostitution, wo der Koitus als symbolische Handlung resp. als magische Verstärkung der der Natur oder einer Gottheit zugeschriebenen Fruchtbarkeit galt, über die mythologische Verbrämung, Ästhetisierung und Sublimierung der käuflichen Liebe bei den Griechen bis zur freimütigen Bejahung, ja Verherrlichung des prostitutiven Sexualgenusses bei den Römern. „Hic habitat felicitas", so stand auf manchen öffentlichen Freudenhäusern (Lupanaren), über die fast jede Provinzstadt verfügte. Für reiche Kaufleute oder Senatoren standen überdies Luxusbordelle zur Verfügung, von deren Ausstattung uns die Ausgrabungen von Pompeji einen plastischen Eindruck vermitteln. An regelmäßige Bordellbesucher wurden Abonnementsmarken ausgegeben, die aus kleinen Metallplättchen bestanden, auf denen verschiedene Koitusstellungen abgebildet waren. Perverse Praktiken aller Art wurden im römischen Bordell gepflegt, wovon pompejanische Wandinschriften beredtes Zeugnis ablegen. Deflorationen wurden festlich begangen, indem vor dem Bordell ein Lorbeerzweig oder ein Kranz angebracht wurden. Selbst zu sexuellen Zwecken besonders abgerichtete Tiere gehörten zum ständigen Inventar manchen römischen Freudenhauses, wie überhaupt die Sinnlichkeit der Römer robuster und weniger verfeinert anmutet als die der Hellenen. 3. Prostitution bis zum Beginn der Neuzeit Mit dem Auftreten und dem Siegeszug des Christentums im Mittelmeerraum rückte das Prostitutionswesen unter ganz neue Gesichtswinkel. Die Stärke der jungen christlichen Mission, kein geschlossenes (philosophisches) Denksystem vermitteln zu wollen, sondern primär das Evangelium zu verkündigen und zum neuen Glauben aufzurufen, wirkte sich allerdings auch darin aus, daß auf die käufliche Liebe, wie sie überall und vielgestaltig im römischen Kaiserreich anzutreffen war, keineswegs nur eine eindeutig ablehnende Antwort gegeben wurde. In einer mehrfachen und teilweise widersprüchlichen Weise wurde auf die sexuellen Verhältnisse und Mißstände vom christlichen Glauben aus reagiert. Häufig machte sich das frühe Christentum einfach die asketische Tendenz und die Leibfeindlichkeit des Hellenismus, vor allem der neuplatonischen und neupythagoreischen Philosophie, zu eigen. Man überbot ζ. B. den konkreten paulinischen Appell, sich eines ausschweifenden Lebens zu enthalten, weil der menschliche Leib „ein Tempel des Heiligen Geistes" sei (I. Kor. 6,19) und weil den Heiden kein schlechtes Beispiel gegeben werden solle, durch grundsätzliche und nicht mehr biblische Spekulationen: Die „sarx", das sündige Fleisch, widerstrebt dem „Geist" und verkörpert schlecht-

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hin das Prinzip des Bösen im Menschen und in der Weltgeschichte. „Hurerei" zählte neben Mord und Abfall zu den Todsünden der frühkatholischen Kirche, und der Kirchenvater Augustin vertrat später sogar die Ansicht, daß die copula carnalis zwischen Eheleuten von der copula carnalis fornicatoria, dem Geschlechtsverkehr mit einer Hure, materiell nicht verschieden sei. Andererseits entfaltete das Christentum eine ungeheure synthetische Kraft, indem es gerade vermittels dieser vorgefundenen enkratitischen Tendenz die kultische Prostitution der semitischen und ägyptischen Antike vergeistigte und in die Einrichtung der „geistlichen Ehen" und in den ganzen mystisch-erotischen Komplex um Christus als den „Bräutigam" umwandelte. — Aber auch Ausnahmefälle sind zu verzeichnen: Bei einigen christlichen Splittergruppen, wie ζ. B. bei der libertinistischen Sekte der Nikolaiten in Kleinasien, entfaltete sich zeitweilig eine blühende gastliche und religiöse Prostitution. Die christliche Mission knüpfte im übrigen an die alttestamentlichjüdische Frömmigkeit und Sittlichkeit an, die das Familienleben hoch einschätzte und es für einen doppelt gotteslästerlichen Greuel hielt, wenn die hellenistische Umwelt für ihr Dirnentum auch noch die Schirmherrschaft einer Aphrodite Peribaso bzw. einer Venus Vulgivaga, der hurenden, umherschweifenden Liebesgöttin, bemühte. Aber noch ζ. Ζ. Konstantins des Großen wurde der Gott Adonis im Libanon durch Prostitution verehrt. Und der „einzige Unterschied", der nach BorelliStarck sich im Rahmen der Zweiteilung des Römischen Reiches als Folge des römischen Christentums einerseits und des griechischen andererseits herausbildete, sei der gewesen, „daß in Rom das gehobene öffentliche Dirnenwesen (Hetärentum) verlorenging und nur die einfache Lupanar-Prostitution übrigblieb. In Ost-Rom bestand der griechische Stil mit seinen Hetären, Flötenspielerinnen und Sexualkünstlerinnen weiter". Als das Christentum im 4. Jahrhundert zur Staatskirche wurde, versuchte es, durch hohe Besteuerung der Bordellwirte, Kuppler und Dirnen die Prostitution zu unterdrücken. Gleichzeitig mehrten sich allerdings die Stimmen der Theologen und Kirchenführer, die für eine Duldung und Institutionalisierung der Prostitution eintraten, weil dadurch die Männer abgehalten würden, andere Ehen zu zerstören. Dieser nüchternen rationalen Argumentation bediente sich der Kirchenvater Augustin genauso wie vor ihm schon die heidnischen Philosophen Cicero und Seneca und nach ihm Thomas von Aquin. Trotzdem war eine ethische Fundamentalentscheidung gefallen: Eine nachchristliche Tolerierung der Gewerbsunzucht konnte nur noch mit latent schlechtem Gewissen der christlichen Obrigkeit bzw. Öffentlichkeit erfolgen. Der Stachel, daß durch die Nichtbewältigung des Prostitutionsproblems eigentlich etwas geschieht, was der kla-

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ren Weisung der christlichen Offenbarung zuwider ist, steckt seitdem tief im Bewußtsein der Völker, die in den Bannkreis der christlichen Verkündigung geraten sind. Auch im Blick auf die gesellschaftliche Position der Dirne änderte sich das Bild durch die christliche Missionierung. Die Prostituierte wurde zu einem Objekt öffentlicher Verachtung, was sie nur teilweise schon vorher gewesen war. Daneben hat das Christentum nie ganz vergessen und eliminieren können, daß sein Stifter selber sich vor allem um Zöllner und Huren gekümmert hat. Maria Magdalena, die „große Sünderin" aus dem Neuen Testament, wurde nach alter christlicher Überlieferung sogar für würdig befunden, eine der ersten Zeugen der Auferstehung Jesu zu sein. Der Typ der „bekehrten Buhlerin", die später Märtyrerin oder Konfessorin wurde, kommt häufig in den Überlieferungen aus der Verfolgungszeit des Christentums vor. Unter Maria Magdalenas Namen wurden später fromme Stiftungen zur Rettung reuiger Dirnen errichtet. Schon im vierten Jahrhundert gab es solche Magdalenenklöster, die unter der Obhut der sog. Weißfrauen standen. Die pädagogische Absicht, die „gefallenen", sich prostituierenden Mädchen von ihrem bösen Gewerbe abzubringen, durchzog das gesamte, christliche Mittelalter. Die Dirnen erhielten eigene Schutzpatrone, zu denen sie beten sollten, um gerettet zu werden, und Papst Innocenz III. empfahl 1198 sogar, daß junge Männer Prostituierte heiraten sollten, um sie für einen geordneten christlichen Lebenswandel zurückzugewinnen. — Im großen und ganzen ist in dem ersten halben Jahrtausend nach Konstantin dem Großen von käuflicher Liebe im Abendland nicht allzuviel zu hören. Aber daß sie weiter bestand, wenn auch in keinem breiteren Ausmaß, das beweisen zahlreiche Rechtsurkunden — von den Leges Visigothorum über die Kapitularien der Karolinger bis zum Sachsenspiegel — und die Bußbücher der Angelsachsen, Franken oder Spanier. Ursprünglich soll es bei Germanen und Hunnen tatsächlich keine Prostitutionserscheinungen gegeben haben. Während der Völkerwanderung, so wird treffend bei Borelli-Starck bemerkt, sei die „eheliche Einengung sowieso weitaus geringer" gewesen. Was bis zum Früh- und Hochmittelalter an vergleichbaren prostitutiven Erscheinungen aus anderen Kulturkreisen registriert werden kann, ist spärlich und vermittelt keine grundsätzlich neuen Perspektiven. Dennoch sei einiges um der Vollständigkeit willen davon nachtragsweise erwähnt. Der Einfluß, den der Islam auf die Entwicklung der Prostitution nahm, ähnelte dem der christlichen Kirche. Allerdings lassen sich Einzelheiten schlechter beobachten. Mohammed selber wendete sich zwar in der 24. Koransure sehr scharf gegen die Hurer und Huren. Aber asketische Züge spielen im Mohammedanismus eine geringe Rolle. Auch

die unterprivilegierte Stellung der Frau wirkte sich auf das Prostitutionswesen in dem Sinne aus, daß man auf keine generellen Lösungen drängte. Bemerkenswert ist, daß sich im byzanthinischen Kulturkreis auch unter dem Islam das altgriechische Hetärentum hielt und der Ausbreitung der bordeliierten Prostitution entgegenwirkte. In Japan, der Heimat der „Teemädchen", der Geishas und Oirans, kannte man bereits seit altersher eine unter dem Schutz (und unter der finanziellen Ausbeutung) von Klöstern stehende kultische Prostitution. In China dagegen, wo die „Blumenmädchen" oft schon in frühem Alter von ihren Eltern in die „Blauen Häuser" oder in die „Blumenboote", d. h. in Schiffsbordelle mit blumengeschmückten Dirnen, verkauft wurden, herrschte die profane käufliche Liebe vor. In beiden Ländern waren die Puellen relativ gebildet. Auch aus dem alten Indien oder von den Azteken liegen Überlieferungen von einer ausgedehnten Tempelprostitution vor. Für die Inder war die scharfe kastenmäßige Schranke kennzeichnend, die zwischen den Tempelmädchen, den Bajaderen, und den sozial niedriger stehenden Tempeldienerinnen, den Devadasis, aufgerichtet war. Im alten Mexiko dienten die religiösen Prostituierten anläßlich der Feiern zu Ehren der Liebesgöttinnen der geschlechtlichen Ausschweifung, und im sowohl ekstatischen als auch wollüstigen Taumel soll es sich zugetragen haben, daß einige der Dirnen rituellen Selbstmord begingen. Alles in allem ergibt sich ein vielfacettiertes Bild von verschiedenen Tatsachengruppen, deren eigentlicher kulturbezogener Stellenwert uns unbekannt und unverstehbar bleibt. Das gilt nicht allein für die sog. Primitiven, wo viele der Prostitution verwandte Erscheinungen (wie Mietehe, Nebenehe, freie Liebe vor der Ehe, Frauentausch, Fruchtbarkeitsriten, geschlechtliche Privilegien bestimmter Personen) eine uns unerfindliche Bedeutung besitzen. Wir können die Prostitutionsphänomene fremder Kulturen und vergangener Völker ein Stück weit positivistisch umschreiben, indem wir aus ihrer Sittengeschichte diese oder jene Fakten getreulich zutagefördern. Aber wir kommen der Dechiffrierung und Analysierung des Prostitutionsphänomens als Ganzem nur dann näher, wenn wir uns bei einer diachronischen Betrachtungsweise vor allem auf den Raum unserer abendländischen Kulturwelt beschränken. Aus dem 11. Jahrhundert stammt die Erzählung von dem „Goliath der Prostitution", von dem später bekehrten und reuigen Wüstling Wilhelm von Aquitanien, der den diabolischen Plan verfolgt habe, Bordelle nach dem Vorbild von Abteien einzurichten und die darin wohnenden Dirnen der Regie einer „Meisterin der Ausschweifungen" zu unterstellen. Dieser Bericht vermittelt einen anschaulichen Eindruck davon, wie stark damals die Gemüter vom Prostitutionsproblem bewegt gewesen sein müssen und wie sich plötzlich

Prostitution eine Amalgamierung des Christlich-Religiösen mit dem Sexuellen bildete, die sich ansonsten noch im Hexenwahn und in den Vorstellungen von den „Satansmessen" nachweisen läßt. Ende des 11. Jahrhunderts folgte bereits ein Dirnentroß den Kreuzfahrerheeren nach. Jetzt mehrten sich die Verbote und Maßnahmen zur Bekämpfung der Gewerbsunzucht. In Leipzig beschwerte man sich ζ. B. 1170 über das Auftreten der Prostitution während der Messezeit und bewegte damit Kaiser Barbarossa zum Eingreifen. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts bestanden in den großen und kleinen Städten Deutschlands „Frauenhäuser" oder „gemeine Häuser", in denen die „Hübschierinnen" untergebracht waren. Diese Bordelle, die sich meist in einem abgelegenen, verkehrsarmen Teil der Stadt — in „Winkel" oder „Frauengassen" („rues auxputains", „rues Chaudes")— befanden, bewährten sich als gewinnbringende Unternehmungen in den Händen geistlicher oder weltlicher Herren; denn sie warfen die Hurensteuer, das sog. Finkengeld, ab. Die Dirnen bildeten eine Axt berechtigter Zunft. Sie standen unter dem Schutz der obrigkeitlichen Behörde, waren den Stockmeistern oder Henkern unterstellt und befanden sich in der Obhut vereidigter „Frauenwirte" („Freywirte"), deren Pflichtenkreis in den „Hurenhausordnungen" genau umrissen war. Nähere Einzelheiten sind uns u. a. aus den erhaltengebliebenen Statuten des von der Königin beider Sizilien 1347 in Avignon gegründeten Frauenhauses und aus der ungefähr im gleichen Jahrzehnt erlassenen „Ordnung der gemeinen Weiber in Nürnberg" bekannt. Der Bordellbetrieb lief gewöhnlich bis zum Spätabend; Dauergäste durften über Nacht im Hause bleiben. Verheirateten Personen war i. a. der Bordellbesuch verwehrt. Hier und da gab es in der Fastnachtszeit sogar besondere Hurenprozessionen, für deren Veranstaltung die Puellen von den Einwohnern mit Speis und Trank bewirtet wurden. Die Insassinnen der Frauenhäuser traten bei Fürstenempfängen und Patrizierhochzeiten korporativ auf, um zu gratulieren bzw. Blumen zu überreichen, und wurden dafür mit kleinen Benefizien bedacht. Die Nürnberger Dirnenzunft wählte alljährlich eine Bordellkönigin, die behördlich bestätigt und vereidigt werden mußte. Sie sollte im Bordell für Ordnung sorgen und in der Stadt die nicht zunftgemäßen „Winkeldirnen" zur Anzeige bringen. Und während einerseits die einheimischen Bürgerstöchter aus Standesgründen nicht für den Bordellnachwuchs ins Auge gefaßt wurden, kam es andererseits in einigen Städten immer wieder vor, daß man prominenten (männlichen) Besuch honoris causa im Frauenhaus auf städtische Kosten logieren ließ. Außerdem konnten reisende Staatsbeamte die Auslagen für einen Bordellbesuch als Spesen absetzen. Krönungsfeierlichkeiten, Konzile, Reichstage, Turniere oder andere ähnliche

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Veranstaltungen lockten zudem zahllose „fahrende Dirnen" an. Allein auf dem Konstanzer Konzil sollen es ungefähr eintausend gewesen sein. Der Franzose Francois Villon, der um 1450 lebte, schildert plastisch das Tun und Treiben der Dirnen seiner Zeit. Die Landsknechtsheere wurden regelmäßig von Schwärmen von Prostituierten begleitet, die — so behauptet eine nicht ganz zuverlässige Quelle — eigenen „Hurenweibeln" unterstanden und nicht nur ihr genuines Gewerbe ausübten, sondern auch Küchen- oder sogar Schanzarbeiten leisten mußten. Auch die schon im alten Rom beliebte Badeprostitution erfreute sich wieder eines regen Zuspruchs, vornehmlich in England, später auch in Rußland, Finnland, Ungarn, Polen und der Schweiz. Das Badehaus als Zentrum des damaligen öffentlichen Lebens bot der wenig renommiertenBadehure einen einträglichenArbeitsplatz. Ein inoffizielles, von („den Bönhäsinnen" genannten) heimlichen Dirnen betriebenes Prostitutionswesen erstreckte sich außerdem auf Gaststätten, Animierkneipen und schwer auffindbare „Liebesnester". Als „Weltbordell" signiert E. Friedeil in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit das gesamte Spätmittelalter — das oft sogar Hure und Nonne für Synonyma halte — wegen seiner Anästhesie gegen alle sittlichen Empfindungen und seiner für uns schlechthin unvorstellbaren sexuellen Unbefangenheit. 4. Prostitution bis zur französischen Revolution Anfang des 16. Jahrhunderts begannen die behördlich genehmigten und betriebenen Bordelle aus dem Städtebild zu verschwinden. Die Syphilis, die bisher der europäischen und asiatischen Kulturwelt unbekannt war, hatte zu wüten angefangen und erwies sich als weitaus gefährlicher als der Aussatz. Zuerst wurden die infizierten Prostituierten vertrieben. Dann unterdrückte man die Prostitution generell, Schloß die Frauenhäuser und stellte jeden außerehelichen Geschlechtsverkehr unter Strafe. Die Dirnen verjagte man; oder man behielt sie da, um sie zu einem geordneten bürgerlichen Lebenswandel umzuerziehen. In der Zeit von Reformation und Gegenreformation versuchten sich die Landesherren in grausamen, drakonischen Maßnahmen gegen Prostituierte, Kuppler und Zuhälter geradezu zu überbieten, und Luther verfaßte 1543 seine gegen die Prostitution gerichtete „Ernste Vermahnung und Warnungsschrift an die Studenten von Wittenberg". Vielleicht ist es notwendig, gerade an dieser Stelle zu betonen, daß die sonst in der Aufspürung und Bestrafung der Ketzer so rührige Inquisition sich nicht direkt an der Bekämpfung der Prostitution beteiligte, Gynophobie und Sexualhaß des „Hexenhammens" wirkten sich nicht unmittelbar gegen den Dirnenstand aus. Das fatale Resultat aller Maßnahmen gegen die Prostitution bestand darin, daß die aus den Städten vertriebenen Puellen, die

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„Sunneweigerinnen", die Syphilis über das ganze Land weiter verbreiteten und ihr Gewerbe nun im geheimen ausübten. Sie gerieten dabei häufig in die Gemeinschaft und Abhängigkeit von Ganoven und anderen unehrlichen Leuten, Jenischen, Landfahrern und kriminellen Elementen. Das Auftreten der Syphilis markierte dennoch einen neuen, den dritten Einschnitt in der Prostitutionsgeschichte. Die Profanierung der sakralen Prostitution durch Solon war eine erste Zäsur. Die zweite entstand durch das Aufkommen des Christentums und der mit schlechtem Gewissen und resigniertem Bedauern tolerierten Bordellprostitution. Aber als die Syphilis um sich griff, geriet die bisherige Überzeugung von der Prostitution als notwendigem Übel ins Wanken. Um die Sauberkeit von Palästen zu sichern, braucht man Ablaufrinnen, sagten die Kirchenväter. Nun wagte es niemand mehr — auch wenn sich äußerlich nicht viel zu ändern schien —, mit den Worten oder im Sinne Augustins oder Thomas von Aquins die Prostitution als zwangsläufige Pest, als „Kloake der Gesellschaft", zu rechtfertigen. Das übertrug sich auch auf die Stellung zur gleichgeschlechtlichen männlichen Homosexualität. Um 1490 unternahm man in Köln nichts gegen die ungefähr 2000 Päderasten, die sich käuflich feilboten, weil man meinte, daß sich sonst das Übel doch nur weiter verbreitete. Jetzt dagegen ließ man solche Begründungen nicht mehr gelten. Für die Geschichte der Prostitution im 16. und 17. Jahrhundert waren nicht nur die prostitutionsfeindliche Stimmung und der Typ der schütz- und rechtlosen „fahrenden Hure" charakteristisch, sondern auch die Figur der den antiken Hetären vergleichbaren Kurtisane oder Mätresse, die seit der Renaissance zuerst bei den aristokratischen Schichten Italiens Anerkennung erlangte, dann auch in Frankreich und Deutschland. Ende des 17. Jahrhunderts erreichte das Mätressenwesen in ganz Europa seinen Höhepunkt. Die Frage, ob diese vornehme, am Erwerbszweck nur gelegentlich interessierte Dirnenschicht noch ein Prostitutionsphänomen darstellt, muß begreiflicherweise verneint werden. Aber Kurtisanengestalten wie die als „mobilissimum Romae scortum" gerühmte Imperia oder später Ninon de Lenclos, die „männlich unabhängigste . . . Frau von Frankreich", wirkten lange Zeit prägend und leitbildlich auf die kultivierte Prostitution, die sich während dieser Zeitspanne u. a. gerne in „Mamsellenhäusern" lokalisierte, wie die zentral gelegenen, nach französischem Vorbild eingerichteten vornehmen Bordelle in den deutschen Städten genannt wurden. Im 30jährigen Krieg folgten in Deutschland „Huren und Bübinnen" den Kriegsheeren nach, während sich zur gleichen Zeit die gleichgeschlechtliche männliche Prostitution, die schon vorher unter den Söldnern der Condottieri hoch im Schwange war, in Rom einnistete, in

Amerika die ersten Dirnen aus der „Alten Welt" eintrafen und in Spanien Philipp IV. durch Einweisung der Freudenmädchen in Arbeitshäuser die Lohnhurerei abzuschaffen versuchte. Trotz grundlegendem Wandel des Lebensgefühls, trotz der als Gottesgeißel empfundenen Syphilis, trotz entsetzlicher Kriegsgreuel und -Verwüstungen und einer erneuerten Frömmigkeit hatte sich die Prostitution zu halten und den veränderten Umständen anzupassen verstanden. Das „galante" 18. Jahrhundert, das Jahrhundert der Polygynie und Polyandrie der höheren Stände und herrschenden Gesellschaftskreise, stand durchweg im Zeichen der „freien" Prostitution (und der damit verbundenen „galanten" — venerischen! — Leiden). Das bestimmende Forum der erotikgeladenen und frivolen Atmosphäre dieses Zeitalters war der aristokratische und bürgerliche „Salon", wo sich Männer und Frauen von Rang, Geist und Namen ein Stelldichein gaben. Dennoch nahm das Dirnenwesen auch rein quantitativ zu, obwohl es eine solche Bedeutung wie im Spätmittelalter nicht zurückerlangte und dieser Epoche in sittengeschichtlicher Hinsicht nicht den Stempel aufdrückte. Die damaligen Bordelle versah man oft mit geheimen Zugängen, oder man tarnte sie geradezu als Krämer- oder Tabakläden („Tabagien"). Außerdem stattete man sie gerne mit einer erotischen Bibliothek und mit pornographischen Stichen oder Fresken aus. Ende des 18. Jahrhunderts besaß Berlin mit seinen ungefähr 150000 Einwohnern annähernd hundert Bordelle mit durchschnittlich acht Freudenmädchen. London und Paris verfügten sogar über Knaben- und Männerbordelle, während die Strichjungen in den deutschen Städten ihre Freier noch ausschließlich auf dem „Strich" zu werben versuchten. Die Cafihäuser, die sich im 18. Jahrhundert in den Städten ausbreiteten, wurden bald von den Dirnen als hervorragend geeignete Lokalität zur Anlockung von Kunden erkannt. Dadurch erhielt die Prostitution eine zusätzliche Möglichkeit, in breitere Volkskreise einzudringen. Der französische Mimoirenautor R6tif de la Bretonne, der maßgeblich von J. J. Rousseau beeinflußt und stark sozialtheoretisch interessiert war, vcrfaßte 1769 die für die damalige Situation kennzeichnende Abhandlung „Le pornographe ou id£e d'un honnete homme sur un projet de reglement pour les prostituies". Es war die erste ausführliche Empfehlung für praktische Maßnahmen des Staates gegen Geschlechtskrankheiten und Dirnenwesen. Maria Theresia glaubte, mit der Einsetzung einer „Keuschheitskommission" der Lohnhurerei Herr zu werden. An allen Ecken und Enden befaßte man sich mit dem Problem der ständig zunehmenden Prostitution, sei es durch Tolerierung und gelegentliche, meist ungenügende Kontrolle oder durch Kasernierung der Dirnen in Bordellen.

Prostitution 5. Prostitution vom Reglementarismus bis zum Abolitionismus des 20. Jahrhunderts In Frankreich reifte im Zuge der Aufklärung der Gedanke der Reglementierung im modernen Verständnis aus: Die heimliche Prostitution sollte verboten, strenge Kontrolle der behördlich geduldeten Prostitution eingeführt werden. Das Reglementierungsprinzip, das außerdem vorsieht, die öffentlichen Dirnen einer Zwangsbehandlung bzw. -Untersuchung zu unterziehen und ihnen zahlreiche Beschränkungen ihrer Lebensweise nach sittenpolizeilichen Vorschriften aufzuerlegen, wurde seitdem immer wieder in allen Kulturstaaten neu durchdiskutiert. Paris war schon im 18. Jahrhundert dafür bekannt, über hervorragend gut eingerichtete und geschickt geleitete Bordelle zu verfügen. Frankreich war und blieb das einzige europäische Land, in dem die Prostituierten nicht allgemein verachtet werden, was sich rückwirkend wieder darin bemerkbar macht, daß die französische Dirne in vielerlei Hinsicht vorteilhaft von ihren ausländischen Kolleginnen absticht. Zwischen ihr und der typisch französischen „garijonne", der selbständigen unverheirateten Frau mit emanzipierter Lebensführung und burschikosem Auftreten, besteht kaum ein Unterschied. Regelrechte Bordellführer, Dirnenadreßbücher in einer Art Baedeckerformat, in denen die Namen der Prostitutierten und die Preisliste der Absteigen, „Stundenhotels" und Bordelle vom billigen „ B o u c a n " bis zum teuren Etablissement und „Aufführhaus" verzeichnet sind, erschienen in Paris noch in den ersten Jahren der Französischen Revolution und wurden später in anderen Weltstädten imitiert. Robespierre bereitete diesem Treiben zwar ein jähes E n d e ; aber noch unter Napoleon kam es zur Wiederherstellung der alten Sitten und Zustände. Die erste industrielle Revolution, die in England gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte und dann schrittweise die anderen europäischen und nordamerikanischen Länder ergriff, erwies sich als ein technologisch und sozialhistorisch umwälzender Vorgang, in dessen Verlauf auch das Prostitutionswesen einen erneuten Aufschwung erhielt. In Wien entstand nach 1815 der „größte Liebesmarkt der W e l t " . Fünf Prozent der Einwohnerschaft rekrutierte sich aus den sog. Freimädchen (oder „Straßennymphen"), die viel zur Belebung des Fremdenverkehrs beitrugen. Die teure Kurtisane Marie Preindl, das „Tausendguldenkräutl", erlangte europäische Berühmtheit. Was sich auf dem Sektor der Gewerbsunzucht in anderen Großstädten Europas abspielte, in London oder auch in Petersburg, kam den Wiener Verhältnissen in etwa gleich. Erhöhte Funktion und Bedeutung erlangte dabei das bordeliierte Prostitutionswesen. Hierhin hatte man Erotik und Sexualität verbannt, die ansonsten im viktorianischen Zeitalter für das normale gesellschaftliche 21 HdK, 2 Aufl., Bd. I I

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Leben tabuierte Themen bildeten. Der Geschlechtstrieb galt als der Paria unter den Lebensgewohnheiten. Bei der jungen Frau setzte man bei Antritt der Ehe nicht nur körperliche Unberührtheit, sondern völlige Ahnungslosigkeit über die elementarsten Kenntnisse des Liebes- und Ehelebens voraus. Die übertriebene Wertschätzung der Virginit ä t in der damaligen „bürgerlichen Ehe- und F a milienideologie" fand ihr perverses Gegenstück in der starken Nachfrage nach unberührten Bordellmädchen, für deren Defloration exzeptionell hohe Taxen erhoben wurden. Daß die ersten Sexualerlebnisse des Mannes mit Prostituierten im Bordell stattfanden, wurde zwar nicht offen ausgesprochen, aber stillschweigend geduldet. So erwies sich das „öffentliche Haus", wie van Bolen herausstellt, nicht nur als kaufmännisches Unternehmen, als Lasterhöhle, als Ort der Ausschweifung für unbefriedigte Männer, sondern vor allem auch als „Vorschule der bürgerlichen E h e " . Daraus erklärt sich seine damalige Form, seine weite Verbreitung, aber auch seine gesellschaftliche Ächtung. Nach einer sehr vorsichtigen Schätzung W. E . Simmats hat es in Europa vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ungefähr vier Millionen Prostituierte gegeben. Alles, was sich auf dem Gebiet der Prostitutionsausbreitung und -eindämmung seit ungefähr 1850 zugetragen hat, läßt sich eigentlich nicht mehr unter die historischen Fakten einordnen. Es gehört bereits zur bedrängenden Gegenwart und ist verbunden mit zwei Prozessen, die seit über hundert Jahren unser gesellschaftliches, politisches und geistiges Leben besonders im nordamerikanischen und europäischen Bereich tief geprägt haben und noch weiterhin bestimmen werden: die Industrialisierung und damit die E n t wicklung der industriellen Gesellschaft auf der einen und die Demokratisierung auf der anderen Seite. Beide Prozesse wirken strukturierend und strukturändernd auf das menschliche Zusammenleben ein. In diesem Zusammenhang gerät das Prostitutionsproblem immer wieder vor die E n t scheidungsfrage, ob das Reglementierungssystem durchgeführt werden soll oder darf und was dagegen eingewendet werden kann. Der Kampf für das Nein zur Reglementierung wird ab 1875 von der „Internationalen Abolitionistischen Föderat i o n " getragen, besonders von ihrer entschiedensten Verfechterin, der Engländerin Josephine B u t ler. Aber die Diskussion über die Ordnung des Prostitutionswesens, wie sie in Deutschland besonders zwischen 1871 und 1927 stattfand, beschränkte sich keineswegs auf nur rechtliche Fragen. Die Blitzlichter der Debatten fielen nicht allein auf die abzustellenden facta bruta der käuflichen Liebe. Es wurde mehr und mehr erkannt, daß die Prostitution hineinverflochten ist in die auf allen Lebensgebieten sich abzeichnenden revolutionären Umwälzungen, von denen unser J a h r -

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hundert ein grandioses Schauspiel bietet. Da der Mensch sich selber noch nie so problematisch gewesen ist wie in unserer jetzigen Epoche, wäre es unerklärlich, wenn sich ihm nicht auch das Prostitutionsproblem neu stellte, damit er es mit allen seinen Implikationen neu verstehen und besser zu lösen lernt. C. Der psychologische Aspekt Zur Deutung und Interpretation des Prostitutionsproblems bietet sich neben dem historischkulturgeschichtlichen Weg noch ein anthropologisch-psychologischer und ein soziologisch-ökonomischer an. Jeder dieser drei Erklärungs-, Deutungs- und Verstehensversuche vermittelt für sich genommen nur einen einseitigen Aspekt. Darum ist es notwendig, nicht einen dieser einzelnen Blickpunkte zuungunsten eines anderen besonders herauszustellen. Entscheidend ist vielmehr die Synopse. Jetzt, nach Klärung der zeithistorischen Hintergründe, können u. a. die spezifisch psychologischen Faktoren der Gewerbsunzucht leichter ins rechte Licht treten und durch ein kognitivdeskriptives Vorgehen begreiflich gemacht werden. 1. Das entwicklungs- und tiefenpsychologische ständnis der Dirnenmentalität

Ver-

Die entwicklungspsychologische Durchleuchtung der Dirnenmentalität steht im Kreuzfeuer zweier verschiedener Schulmeinungen. Auf der einen Seite wird der Standpunkt vertreten, daß Dirnen immer durch anlagemäßig gegebene bzw. angeborene Defekte zu ihrem zukünftigen Gewerbe vorbestimmt sind. C. Lombroso und G. Ferrero, die konsequentesten Verfechter dieser Auffassung, von der „geborenen Dirne", von der „donna delinquente e prostituta", versuchten nachzuweisen, daß eine Reihe typischer Degenerationsmerkmale und Eigenheiten für die sittlich entarteten Prostituierten kennzeichnend seien. Dieser Anlagetheorie steht eine Milieutheorie, vor allem von A. Pappritz vertreten, diametral gegenüber. Sie behauptet, daß in den unglücklichen Umweltverhältnissen die eigentliche Ursache zu suchen ist, die ein Mädchen zur Dirne werden läßt. Dirne ist man nicht; zur Dirne wird man aufgrund falscher Erziehungs- und Milieueinflüsse. Nicht umsonst hätten statistische Erhebungen erwiesen, daß das Gros der puellae publicae aus Volksschichten mit niedrigstem sozialökonomischen Status herkomme. Zwischen diesen beiden extremen Standpunkten vermittelt die •— von W. Stern so benannte — Konvergenztheorie. Sie bekennt sich zu einem „Sowohl-als-auch" und wird ζ. B. von C. K. Schneider vertreten. Negative biologisch-psychologische Dispositionen und ungünstige Prägungsund Milieueinflüsse wirkten zusammen. Aber auch diese Theorie muß unbefriedigend bleiben, solange sie nicht die Bedeutung des Zusammenspiels der exogenen und endogenen Faktoren klar heraus-

arbeitet. Die Debatte über Anlage und Milieu ist inzwischen weitgehend abgeklungen. Sie entzündete sich, als man sich noch fast ausschließlich mit der weiblichen Prostituierten befaßte und das Vorhandensein von deren männlichem Pendant kaum zur Kenntnis nahm. Doch es kann an dieser Stelle vorweggesagt werden, daß nahezu alle Aussagen und Feststellungen über das entwicklungsund tiefenpsychologische Verständnis der Dirnenmentalität auch mutatis mutandis für den sog. Strichjungen, den männlichen Prostituierten, gültig sind. Eine ganz neue Sicht der psychologischen Problemstellung, jenseits aller Anlage- oder MilieuDebatte, ergibt sich durch die Einbeziehung einer spezifisch tiefenpsychologischen Aufhellung und Untersuchung von Prostituiertenschicksalen und -Verhaltensweisen, was in der deutschen Literatur —• im Gegensatz zur angloamerikanischen — bisher nur selten geschehen ist. Selbst ein so gründliches Standardwerk wie das von W. Bauer über „Geschichte und Wesen der Prostitution" bringt eine tiefenpsychologische Sichtweise der Gesamtproblematik noch nicht einmal ansatzweise zur Geltung. Doch erst die Zusammenschau anlageund milieutheoretischer und strukturgenetischer, tiefenpsychologischer Verursachungskomplexe und Bedingungsmöglichkeiten verschafft einen einigermaßen vollständigen Überblick über die statischen und dynamischen psychologischen Faktoren, die das Ergreifen des Prostitutionsgewerbes verständlich erscheinen lassen. Unter den puellae publicae finden sich mehr uneheliche Kinder, als dem Bevölkerungsdurchschnitt entspricht. Dieses statistische Faktum besitzt einen ersten Indizienwert. Es legt den Verdacht nahe, daß viele Prostituierte schon in ihrer frühen Kindheit zu spüren bekamen, eigentlich unerwünscht gewesen zu sein, daß sie deshalb wenig bemuttert wurden und sich keiner rechten Zuneigung und liebenden Zuwendung erfreuen durften. Befragungen und schriftlich fixierte Lebensläufe von Dirnen bestätigen diese Vermutung. Unbeweisbar bleibt dagegen die vielfach geäußerte Meinung, die unehelich geborenen Prostituierten hätten die gleiche Hemmungs- und Verantwortungslosigkeit, die ihre Eltern als nicht ehelich miteinander verbundene Partner zur Erzeugung eines Kindes trieb, einfach als Erbschaden mit auf den Lebensweg bekommen. Früher dachte man, ein uneheliches Mädchen sei eo ipso zur Prostitution prädisponiert. Zumindest hieß es: „Was von Huren geboren, ist zur Hure erkoren". In modifizierter Weise steckt dieses in der Volksmeinung herrschende und wenig abgeklärte Klischeeurteil auch hinter den Ausführungen 0. Weinigers, wenn er in seinem 1903 erschienenen „Geschlecht und Charakter" den Weib-Typus der „absoluten Mutter" von dem der „absoluten Dirne" abhebt und letzterem anlastet, ausschließlich „sexuell"

Prostitution orientiert und wiederum Mutter von Prostituierten zu sein. Eine Weiterentwicklung und schlüssigere Modifizierung dieser weitgehend als antiquiert anzusehenden These kann man in der weit verbreiteten Vorstellung erblicken, daß bestimmte psychopathologische Wesenseigenschaften, die zur Prostitution disponieren und einer Art geschwächter Immunitätslage vergleichbar sind, familiär weitergegeben werden. Inzwischen hat man zumindest erkannt, daß es keine „geborenen Dirnen" gibt und daß nicht die uneheliche Geburt an sich es ist, die zuerst die Weichen zum späteren Prostituiertendasein stellt, sondern sehr wahrscheinlich der seelische Hospitalismus, der Mangel an warmer Geborgenheit in einer Familie. Das Kind erlebte dann nie das Gefühl der Selbstbestätigung, erfuhr nie den beglückenden gefühlsmäßigen Gesamteindruck, daß es in seiner Einmaligkeit für einen anderen, vorzugsweise die Mutter, und für eine breitere familiäre Umwelt unersetzlich ist. Daraus kann Selbsthaß erwachsen, die Sucht zur Selbsterniedrigung durch prostitutiven Umgang, die abartige Lust am Sich-weg-Werfen, weil man ja seinen eigenen personalen Wert nie in den Augen anderer widergespiegelt sah. Unabhängig davon behält die pauschale Feststellung, daß Dirnen sehr oft in einer sexualisierten Gesamtatmosphäre großgeworden sind und dadurch „angesteckt" wurden, ihre relative Gültigkeit. Solche Prostituierten wurden im Kindesalter Zeugen intimer geschlechtlicher Szenen, wodurch es bei ihnen nicht zur Ausreifung des normalen sexuellen Relevanzempfindens kam, dagegen zur frühzeitigen Weckung der geschlechtlichen Neugierde usw. Dennoch muß hierbei auch auf Borelli-Starcks Untersuchungsergebnisse hingewiesen werden, die die Bemühungen der Prostituierten herausstellen, die Kenntnis der mütterlichen Unzucht den Kindern möglichst zu verheimlichen. Kennzeichnend für viele Dirnenschicksale sind ebenfalls negative Vatererfahrungen und -beziehungen. Die einen erlebten den Vater nur als harte, furchteinflößende und bedrohliche Machtinstanz. Die übersteigerte Autorität des Vaters untergräbt an der Basis die Bildung eines Superegos. Andere Prostituierte wuchsen häufig nur bei der Mutter in „Halbfamilien" auf, ohne vom Erlebnis einer tragenden und führenden Vaterfigur nachhaltig geprägt worden zu sein. Daraus resultiert oft eine gestörte postpubertäre Mannbeziehung, die sowohl zu gering als auch zu stark und nymphomanisch sein kann, weil man ja ein Wunschbild von „dem" Vater entworfen hat, den man in jedem Mann zu entdecken hofft ( - > Ehe und Familie). Wiederum andere Dirnen lernten nur einen lockeren Familienzusammenhang kennen, in dem die Rolle des Vaters schwach oder nur ersatzweise besetzt war, und entwickelten deshalb frühzeitig das Bedürfnis, sich außerhalb dieser nicht festgefügten Familie einem Menschen bzw. Manne anzuschließen und total anzuvertrauen.

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Eine solche wenig instinktgesteuerte Partnersuche, die Unfähigkeit, eine echte intensive Bindung einzugehen, führt meist zu ständig sich wiederholenden Liebesenttäuschungen, zu weiblichem DonJuanismus, zu promiskuitiven und zuletzt auch prostitutiven Verhaltensformen. Sind nämlich solche Mädchen einmal an eine männliche Person gebunden, dann wird diese Liaison sogleich wieder von einer forcierten und aggressiven Abhängigkeit, die das fehlende Erlebnis der vollen sexuellen Erfüllung kaschieren soll, ernstlich gefährdet. Eine befriedigende geschlechtliche Dauerbeziehung wird jedenfalls kaum erreicht. — Auch bei der Anamnese von weitgehend gleichgeschlechtlich empfindenden Strichjungen stößt man häufig auf den Umstand, daß der junge Mann scheiterte, als er die Schranken zum heterosexuellen Partner zu überschreiten versuchte. Über frustrane Kohabitationsversuche und exzessive Masturbation gleitet er dann ab bis zur (bezahlten) gleichgeschlechtlichen Betätigungsweise. Die Dirne ist nach tiefenpsychologischem Verständnis nie aus der sog. ödipus- bzw. Elektraphase herausgewachsen, gerade weil sie ihre Unabhängigkeit so trotzig und provokativ zur Schau trägt. Man kann diesen Gesamtsachverhalt auf verschiedene Weise ausformulieren und zu deuten versuchen: Die gewerbsmäßige Hingabe bietet sich als eine Möglichkeit an, ostentativ die Liebe zum Vater zu verleugnen, weil man sich ja ohne weiteres an andere verschenkt. Sie ist außerdem auch verstehbar als ein gegen den Vater, dem man seine Liebeszuwendung zur Mutter (oder zu anderen Geschwistern) verargt, gerichteter feindlicher Akt, indem man sich weigert, grundsätzlich nur einem Manne treu zu sein. In jedem Falle handelt es sich um ein Stück Infantilismus, um mangelnde seelische Ausreifung, um ein mißglücktes gegengeschlechtliches Partnerverhältnis, das auf eine nicht stattgehabte oder verfehlte frühkindliche Vaterbeziehung reduzierbar ist. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die oft anzutreffende Bemerkung, daß die Dirnen zeitlebens in einem relativ besseren Kontakt zu ihrer Mutter als zu ihrem Vater stehen. Doch die Prostituiertenmütter haben ihre Töchter oft gegen die Ehe erzogen und sie nolens volens allzu früh und allzu nachhaltig mit eigenen negativen Eheerfahrungen vertraut gemacht. Das heranreifende Mädchen ist deshalb, wenn sich die Möglichkeit einer Heirat eröffnet, nur von herabgesetzten Eheerwartungen erfüllt, j a sie bleibt vielleicht beseelt vom geheimen Wunsch, die vermeintlichen oder tatsächlichen Ehetragödien ihrer Mutter nicht zu repetieren und lieber ihre Freiheit zu „genießen". Auch von hier aus wird ein Weg zur Prostitution gebahnt. Bei einem gespannten, disharmonischen oder ambivalenten Verhältnis zur Mutter wird die Tatsache, eine Dirne geworden zu sein, zuweilen als Waffe gegen die Mutter empfunden. Diese soll dadurch

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verletzt werden und sich ihrer Tochter schämen. Hat die Mutter gesprächsweise die Bemerkung gemacht, daß sie es verhindern wolle, ihr Kind zur Hure werden zu lassen, dann hat sie ja selbst ausgesprochen, wie sehr sie durch das soziale Absinken ihrer Tochter innerlich getroffen werden kann. Und gegenüber Vater und Mutter aufzutrumpfen, sich stark und unabhängig, ja brutal zu gebärden, ist nur die psychologische Kehrseite der inneren Unselbständigkeit und Abhängigkeit. K. Darius hat bei einer Befragung von 50 Prostituierten erfahren, daß nur zwei von ihnen „aus relativ guten Familienverhältnissen" kommen. Sie gelangt zu dem Schluß, daß gerade „der Mangel an echter Seinsverbundenheit" die Lebensläufe der Dirnen kennzeichne. Das braucht natürlich nicht durch eine feststellbare fehlende oder unzureichende familiäre Einbettung bedingt zu sein. Es genügt schon, wenn die Mutter zwar anwesend und fürsorglich ist, aber nur wenig Zeit für ihre Tochter erübrigen kann, weil sie vielleicht einen größeren Familienkreis zu betreuen hat oder ständig unfroh und gedrückter Stimmung ist. Von hier aus wird verständlich, warum lesbische Akte unter Prostituierten so häufig vorkommen. Das liegt nicht allein an der noch zu erwähnenden Aversion oder ambivalenten Einstellung der Puellen gegenüber dem anderen Geschlecht. In vielen Fällen wird durch ein lesbisches Verhältnis ein seelischer Nachholbedarf abgesättigt, indem eine Dirne die in ihrer Kindheit unbefriedigend gewesene Beziehung zu ihrer Mutter auf neue und bessere Art durch ihre Bindung an eine mütterliche Prostituierte wiederholen möchte. An diesem Punkt müßten noch genauere Untersuchungen darüber angestellt werden, ob es zutrifft, daß — wie oft zu lesen ist — ein höher als zu erwartender Prozentsatz von Prostituierten aus kinderreichen Familien stammt. Fast ein Drittel der von G. Schermer untersuchten Puellen hatte über fünf bis elf Geschwister. Wenn diese Zahlenangabe auch nur in etwa repräsentativ sein sollte, dann wären folgende Einzelfragen zu klären: Stellen kinderreiche Familien nur deshalb einen überdurchschnittlich starken Anteil an Dirnennachwuchs, weil sie ökonomisch in der Regel benachteiligter sind als Ein-Kind-Familien und weniger kulturelle Anreize bieten können, so daß ihre Töchter leichter den Gefahren der Straße erliegen? Oder ist ursächlich hierfür anzusehen der Umstand, daß es — unbeschadet aller psychologischen Interpretationen — kurzerhand erbbiologisch minderwertige asoziale Großfamilien gibt? Oder ist der Grund in der Tatsache zu suchen, daß Einzelkinder dank des engeren ElternKind-Kontaktes widerstandskräftigere Hemmungen besitzen, sodaß sie besser vor sexuellen Verführungsversuchen gefeit sind? Könnte es auch daran liegen, daß in kinderreichen Familien besonders die jüngeren Geschwister zu sehr unter dem „Hackordnungssystem" zu leiden haben,

deshalb Insuffizienzgefühle entwickeln und diese wiederum durch verfrühte erotische Unternehmungen zu kompensieren versuchen ? Gewöhnlich werden beide Elternteile von der Dirne nicht als Vorbilder „introjiziert" und sind nicht als solche in die Persönlichkeit eingegangen. Die Prostituierten erlernten die sexuelle Rolle durch Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil entweder überhaupt nicht oder nur unvollständig und verzerrt. Oft bot sich ihnen keinerlei Möglichkeit und Gelegenheit an, aufgrund vitaler Beziehungen ein verwendbares menschliches Vorbild zu entdecken, nach dem ihre Persönlichkeit hätte geformt werden können. Das trifft selbstverständlich in nicht geringerem Maße auch auf die Strichjungen zu. Dagegen haben die (männlichen und) weiblichen Prostituierten gewöhnlich sehr früh die Erfahrung gemacht, durch sexuelle Preisgabe Lohn zu empfangen — sei es, daß sie im kindlichen Alter verführt wurden oder sehr jung, um einen Liebesmangel zu kompensieren, dem Familienverbande entflohen, sich in zahlreiche Verhältnisse mit Männern stürzten und so den Weg über die Promiskuität zur Prostitution gegangen sind. In beiden Fällen hofften sie, jemanden zu finden, mit dem man sich identifizieren und über die trostlose, kontaktleere und liebesarme Vergangenheit und Umwelt erheben kann. Der prozentuale Anteil der puellae publicae, die aus geschiedenen Ehen stammen, ist außerordentlich hoch. Tritt ein Stiefelternteil in die familiäre Umwelt des Kindes neu ein, so können zusätzliche Konfliktstörungen auftreten, indem das Mädchen in ein gesteigertes Abhängigkeitsverhältnis oder — umgekehrt — in einen Dauerzustand affektiver Ablehnung zu der Stiefmutter bzw. dem Stiefvater gerät. Viele Dirnen wachsen allerdings in zerrütteten Familien auf, die nach außen hin gar nicht als solche oder als unvollständige in Erscheinung treten. Aber die Familienatmosphäre ist belastet, erfüllt von aufreibenden Binnenkonflikten, beherrscht von schleichender Unzufriedenheit und Disharmonie. Diesen Sachverhalt bestätigt besonders D. Origlia in seiner grundlegenden Untersuchung über „La piaga sociale della prostituzione". Fortlaufende Unverträglichkeit der Eltern wirkt sich hauptsächlich dann schädigend auf die kindliche Entwicklung aus, wenn erlebnisstarke Eindrücke dieser Art auf das Kind in einer Entwicklungsphase einstürmen, indem das Mädchen zwar die elterlichen Querelen heftig nacherlebt, aber noch nicht die brokenhome-Situation geistig zu verarbeiten vermag. Zurück bleibt oft ein tiefeingewurzeltes Gefühl der Unsicherheit, der Angst, der Wertlosigkeit und der Einsamkeit. Um dieser seelischen Konstellation wieder zu entfliehen, die emotionelle Leere auszufüllen, kommt es auch deshalb zuweilen zur verfrühten und überstürzten Aufnahme geschlechtlicher Beziehungen. Die verhängnisvolle Weiter-

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Prostitution entwicklung braucht keineswegs gradlinig bis zur Dauerprostitution zu führen. Kommt es jedoch so weit, dann dient das Geld als eine Art Rechtfertigung für die wahllose Hingabe. Die Profitgier spielt nur eine untergeordnete Rolle. Die Nichterfüllung des kindlichen Verlangens nach befriedigendem sozialen Kontakt und nach verstehender, einfühlender Liebe äußert sich in der unbewußten Sehnsucht der Prostituierten, so umsorgt und geliebt zu werden, wie sie es im frühkindlichen Alter niemals erleben durften, zum anderen aber auch in dem anhaltenden, ebenfalls nicht bewußt werdenden Werben um Zuneigung und Umhegtsein, und zwar vermittels von Sexualakten mit Männern und auch mit Frauen. Die Dirne stellt zuweilen ein Opfer daraus resultierender bisexueller Konflikte dar, und die Prostitution entpuppt sich oft als überbordende Abwehrmaßnahme gegen Homosexualität und als Selbstbestätigung heterosexueller Veranlagung. In der einschlägigen Literatur wird deshalb gerne von der „Pseudoheterosexualität" der Dirnen gesprochen. Bei einer Deutung der Prostitution als Hilfe, um mit der verdrängten Homosexualität fertigzuwerden — was neuerdings sehr überzeugend in der Monographie F. S. Caprios über die „Homosexualität der Frau" geschieht —·, tritt wiederum das Verdienstmotiv fast vollständig in den Hintergrund. Das Geld wird nur als Symbol oder Surrogat für die nicht erhaltene Liebe und Zuneigung empfunden, dessen man sich entledigt, indem man es schnell wieder verbraucht oder dem Zuhälter zuführt. In diesem Falle steht die gefühlsmäßige Einstellung dahinter: Dieses Geld habe ich auf schändliche Weise verdient. Indem ich es Dir (d. h. dem Zuhälter) gebe, erniedrige ich dich noch tiefer, als ich selbst erniedrigt bin. Immer wieder stößt man bei den Dirnen neben der unaufhörlichen unbewußten Suche nach mitmenschlicher Wärme, nach Selbstbestätigung, Verstandenwerden, Fürsorge, Geborgenheit und Aufmerksamkeit auf Ressentiments und Haß- und Rachegefühle gegen die Umwelt, besonders gegen die (potentiellen) männlichen Kunden, aber auch gegen die eigene Familie. K. Landauer macht darauf aufmerksam, wie Sadismus und Rachebedürfnis in dem uneingestandenen Wunsch der Prostituierten kulminieren, ihre Freier zu kastrieren. Die Puellen kennen kaum Dankbarkeit, weil in ihnen zeitlebens die unausformulierte Überzeugung schwelt, immer zu kurz gekommen zu sein. Das betont und professionell zur Schau getragene einschmeichelnde Benehmen und die Maske der Anpassung verdecken zuweilen sehr geschickt dieses tiefe seelische Trauma. Der oft genannte, manchmal auch im Habitus erkennbare Infantilismus der Prostituierten äußert sich in dem regressiven Verhalten, von der Umwelt eine zwischenmenschliche Beziehungsweise elterlicher Art zu verlangen. Sie sind unfähig, Entbehrungen auf

sich zu nehmen und Opfer zu bringen, da ihnen die emotionale Einstellung inhärent ist, schon ohnehin um vieles betrogen worden zu sein. Sie kaschieren aber diese ihre psychischen Komplexstellen oft so vollständig, daß sie um ihres seelischen Gleichgewichtes willen ihre Biographie zurechtbiegen und selber daran glauben, eine fröhliche und sonnige Kindheit gehabt zu haben. Ein „fiktives Glücklichsein" in ferner Vergangenheit, so meint R. Herren dazu, an das sich die Prostituierte mit zäher Verbissenheit klammert, soll ihr über die Trostlosigkeit der Gegenwart hinweghelfen und den Wunsch, es möge so gewesen sein, mit Hilfe der Imagination erfüllen. Insgesamt kann man feststellen, daß die psychodynamische tiefen- und entwicklungspsychologische Betrachtung der Prostituiertenmentalität einsichtig macht, wie es in frühester und früher Jugend zur Ausbildung verschiedener charakterlicher Dominanten kommen kann, die die Basisvoraussetzungen zur Ergreifung des Dirnenberufes bilden. Eine von Anfang an nicht fördernde, sondern abweisend oder feindlich gesinnte Umwelt wirkt sich verhängnisvoll auf Festigung und Erstarkung des „Über-Ich" aus; bzw. „ I c h " und „Über-Ich" werden im Kinde nicht aufeinander abgestimmt. E . Kern hat erstmalig mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß bei den meisten Dirnen ein Bruch in der Persönlichkeitsentwicklung bereits vor der Vorpubertät stattgefunden hat. Das geschlechtsreife Mädchen gerät dann auf die schiefe Bahn zweifelhafter Abenteuer und gewöhnt sich allmählich an einen Sexualstil, der kaum von einer angeborenen Hypersexualität oder von einem überstarken Variationsbedürfnis hinsichtlich des Partners herrührt, sondern auf der frühkindlichen Prägung der gesamten Persönlichkeit beruht. Dieses prozeßhafte Geschehen gipfelt schließlich in der fundamentalen Unfähigkeit, eine normale tragfähige sexuelle Dauerbeziehung einzugehen (Vgl. auch „Ehe und Familie"). 2. Die Charaktertypologie der Dirnen Es mangelt nicht an Versuchen, verschiedene Dirnentypen als repräsentativ herauszuarbeiten. Eine recht summarische Differenzierung, die sich allerdings auf zahlreiche wissenschaftliche Gewährsleute berufen könnte, bietet neuerdings W. Bauer an. Er nennt fünf Kategorien: die leichtsinnig-haltlosen, die gemütlosen, die ethisch defekten, die schwachsinnigen und die kriminellen Dirnen. — Erwähnenswert ist auch die vor Jahrzehnten aufgrund literarischer Vorbilder durchgeführte Unterscheidung C. K. Schneiders, der von einem Nana-, einem Thymian- und einem Sonjatypus der Prostitutierten spricht. Es ließen sich noch weitere Klassifizierungsversuche aufführen, die wiederum nach anderen Differenzierungsprinzipien verfahren. Insgesamt vermitteln solche Typologien zwar geschlossene Persönlichkeitsbilder,

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aber diese besitzen nur behelfsmäßigen, „heuristischen" Wert. Das „Individuum ineffabile" jeder einzelnen Prostituierten wird dadurch leicht verfehlt. Dennoch ist es durchaus möglich und notwendig, das Psychogramm bestimmter, bei einer großen Anzahl von Dirnen immer wieder anzutreffender seelischer Einstellungen und Bereitschaften in ihrer ganzen Spannweite charaktertypologisch aufzuzeichnen. Nur muß dabei in Rechnung gestellt werden, daß es äußerst schwierig ist, auch nur umrißhaft die Charaktertypologie einer Menschengruppe zu skizzieren, deren Gesamtzahl einfach nicht überschaubar ist. Es wird deshalb immer allein etwas über diejenigen Prostituierten gesagt werden können, deren man habhaft werden konnte. Die intelligenteren und gesellschaftlich arrivierten puellae publicae sind klug und geschickt genug, den Makel der gewerblichen Unzucht von sich fernzuhalten. Zum anderen gilt das, was charaktertypologisch erforscht werden kann, nur für Personen aus einem begrenzten geographischen und kulturellen Bereich. Vergleichende Untersuchungen über Prostituierte aus anderen Ländern und zu anderen Zeiten müßten korrigierend herangezogen werden. Es gehört nach BorelliStarck zur „kollektiven Besonderheit" der gewöhnlichen Bordell- oder Straßendirne, sogleich erkannt zu werden. Das liegt an der Uniformität von Kleidung und Gebaren, an der meist tiefen Stimme, an den groben „verlebten" Gesichtszügen usw. W. Bauer erwähnt in diesem Zusammenhang auch die stark entwickelten „Freßwerkzeuge" und schon Lombroso führte unter seinen anatomischen Degenerationsmerkmalen eine ganze Reihe abnormer körperlicher Mißbildungen und Stigmata an, die mit dem abnormen sexuellen Habitus in direktem und notwendigem Zusammenhang ständen und für die Psychopathie der Gewerbsunzucht treibenden Frauen typisch sein sollen. Ausdruckspsychologisch müssen derartige feste Zuordnungen von somatischen Erscheinungsmerkmalen zu Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen mit einem Fragezeichen versehen werden. Die meisten Erwachsenen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ζ. B. in einer Großstadtstraße die Dirnen auf Anhieb als solche erkennen, vermögen das aufgrund eines ganzheitlichen, wissenschaftlich kaum mehr näher erhellbaren prima-vista-Eindrucks und nicht deshalb, weil eine Anzahl ausdruckspsychologisch relevanter Einzelmerkmale gegeben und erfaßt worden ist. Außerdem sind viele der Lombrososchen Einzelstigmata — wie auch die häufige Verwischung der sekundären und tertiären Geschlechtsmerkmale — als einfache Folge der Dirnentätigkeit und des damit verbundenen Lebenswandels (des Herumlungerns bei Wind und Regen auf der Straße oder in raucherfüllten stickigen Lokalen, des Alkohol- und Nikotinabusus usw.) zu erklären.

Über die Triebstruktur der Prostituierten ist man sich im Gang der wissenschaftlichen Meinungsbildung insofern einig, als man es durchweg für abwegig hält, die „normale" Genese einer Dirne von einer übermäßigen, vorzeitig erwachten Libido herzuleiten. Die auffälligen Tatsachen einer in jungen Jahren erfolgten Defloration und des im Gegensatz zur gesellschaftlichen Norm stehenden sittlichen Verhaltens verstellen leicht den Blick für die eigentlichen entwicklungs- und tiefenpsychologischen Auslösefaktoren. Seit Lombroso wird daher sehr stark das Moment der (absoluten oder relativen) Geschlechtskälte, die emotionelle Teilnahmslosigkeit und Indolenz, der puellae publicae betont, so ζ. B. durch den Freud-Schüler K. Abraham, der die Frigidität geradezu für ein typisches Merkmal jeder Prostituierten hält. Sehr viele Dirnen geben an, nur durch Cunnilingus oder nur dann, wenn sie mit ihrem Zuhälter verkehren, zum Orgasmus zu gelangen; im übrigen empfänden sie höchstens einen Zustand sexueller Dauererregung ohne Entspannung und Lösung. „Ihre Auflehnung gegen die männliche Arroganz", meint S. de Beauvoir, „drückt sich in ihrer Frigidität aus". Alle diese Mitteilungen sind aber zu ergänzen durch das, was W. E. Simmat als eine Prostituiertenäußerung von paradigmatischem Charakter empfindet: „ . . . etwas Liebe ist schon immer dabei". Vielleicht ist dem Menschen qua Menschen grundsätzlich eine absolut erosfreie Kohabitation unmöglich. Diese spekulative Hypothese übergreift allerdings das psychologisch Faßbare und auf induktivem Weg zu Erschließende. Jedenfalls ist die körperlich intime Begegnung zwischen Freier und Strichjunge, bei der Vortäuschung oder Andeutung echten Empfindens oder gar erotische Präliminarien nur selten verlangt werden, durch einen weit mehr autoerotischen Erlebnisablauf gekennzeichnet als der Geschlechtsverkehr zwischen Kunde und Puelle. Und wenn die Dirne auch aufgrund ihrer primitiv-infantilen Persönlichkeitsstruktur nicht begreifen kann, daß der Koitus Ergänzung und sinnliches Siegel spiritueller Liebe ist, so verbietet es ihr doch ein Stück unversehrt gebliebener Selbstachtung und unzerbrechbarer menschlicher Würde, über die Simulation sexueller Erregung hinaus auch noch gefühlsmäßige Zuneigung zu heucheln. Sie ist gerne bereit, sich wenigstens zuweilen selber einzureden und zu belügen, daß ihre Kundenbeziehungen nicht immer und ausschließlich materieller Natur seien. Der Mensch sei nun einmal nicht in der Lage, so meint H. Giese in seinem Aufsatz über „Moral im Regelwidrigen", „auch außerhalb der Regel, sofern er gesund bleiben will, die Entwicklung sittlicher Haltungen zu unterlassen". Ein anderes oberflächliches Allgemeinurteil behauptet, die Dirnen seien prinzipiell „polygam" veranlagt. Hierbei wird völlig übersehen, daß viele Prostituierte ein durchaus gefühls- und empfindungsintensives sexuelles

Prostitution Partnerverhältnis mit einem einzigen Mann oder einer einzigen Frau zu unterhalten pflegen. Ist es ein Mann, so kann diese Rolle ein Zuhälter übernehmen, aber ebenso gut auch ein in die Funktion des Geliebten avancierter Kunde. Oft stellt sich der bereits von Freud beschriebene „Dirnenrettertypus" ein, d. i. ein häufig zwangsneurotisch (oder auch masochistisch) veranlagter Mann, der sich in unglücklicher Weise in Prostituierte verliebt, um diese mit mehr oder minder großem Erfolg auf den rechten Weg zurückzubringen. — Zuweilen kommt es nicht zu einer heterosexuellen Bindung, sondern zu einem lesbischen Verhältnis zwischen zwei Prostituierten, wobei die wechselseitigen Gefühlsbeziehungen entweder der Mutter-Tochteroder der Mann-Frau-Relation ähnlich sind. Die affektive Sphäre der Dirnen ist nach Meinung der Fachautoren gekennzeichnet durch Reizbarkeit, affektive Erregbarkeit (D. Origlia), flatterhafte Unstetigkeit (K. Schneider), Geltungssucht, Gemütsarmut, geringe Kontaktfähigkeit (K. F. Schaller). Und immer wieder fällt dabei das Stichwort „Psychopathie", dem eine schärfere Prägung allerdings abgeht. Meistens wird dabei nur ausgedrückt, daß es sich um Persönlichkeiten handelt, die — nach K. Schneider — an ihrer Abnormität leiden und an deren Abnormität die Gesellschaft leidet (Psychopathologie). Das gefühlsmäßige und gemüthafte Defizit der Dirnen beruht auf zwei Komponenten: auf der unausgereiften, infantilen Affektlage und auf der Unkontrollierbarkeit, der mangelnden Willensbestimmtheit des Tuns und Lassens. Doch wird öfter darauf hingewiesen, daß dem Mangel an affektivem Beherrschungsvermögen eine beachtliche seelische Ausgeglichenheit gegenübersteht, da die Prostituierte gewöhnlich nicht dazu neigt, Gefühle zu verdrängen, zu verhalten oder zu verschieben und nachtragend zu sein. Ihre Zu- und Abneigungsaffekte äußert sie offen, „ungefiltert" und intensiv. Manchmal entpuppt sie sich später als gute und treue Hausfrau und Mutter, die ihre Kinder in angemessener Weise zu erziehen versteht. Selbst ein Mangel an Gemütstiefe schließt ja einen normal entwickelten Mutterinstinkt nicht aus. Die Dirne leidet unter einer permanenten innerseelischen Auseinandersetzung mit tiefgreifenden Minderwertigkeitsgefühlen, die nicht nur strukturgenetisch zu begreifen sind. Vielmehr geben die Kunden immer wieder offen, verblümt oder unbeabsichtigt der Prostituierten zu verstehen, daß sie eigentlich etwas Verachtenswertes ist und betreibt. So wird eine latente Haßbereitschaft gegen die Außenwelt und gegen die eigene Person geschürt. Denn zu stark und häufig erfährt die Puella, wie sehr sie einer gesellschaftlichen Ächtung unterliegt, so daß es ihr unmöglich ist, sich darüber allein mit gespielter Ignoranz oder mit einem beharrlichen Insistieren auf dem eigenen Tun und Lassen hinwegzusetzen. Besondere Zielscheibe ihrer gegen die

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Gesellschaft gerichteten Feindschaft sind nicht nur „die Männer", sondern auch die sog. anständigen Frauen, die ja nur so täten, als ob sie etwas Besseres seien. Schon bei den orgiastischen Feiern zu Ehren der aztekischen Liebesgöttin Xochiquetzal sollen die Sakraldirnen sich in Schimpfkanonaden gegen die „ehrbaren" Frauen ergangen haben — immerhin ein gewisses Indiz dafür, daß Angehörige des exponierten Dirnenstandes sich auch in uns fremden Kulturkreisen ähnlich verhalten können. Unter ihren Freiern präferieren die Dirnen kennzeichnenderweise nicht einen Mann, der zu ihnen altersmäßig und unter partnerschaftlichem Aspekt am ehesten paßte, sondern entweder einen mehr väterlichen oder einen mehr infantilen Typ, dem gegenüber sie wiederum entweder die Rolle des kleinen Mädchens oder die der bemutternden großen Schwester spielen können. Bosheit und Rachsucht gegen die Umwelt wecken kompensatorisch das Bedürfnis der Puellen, unter allen Umständen aufzufallen und beachtet zu werden. Als man im letzten Krieg die Prostituierten rigoros zum Einsatz als Rüstungsarbeiterinnen oder Straßenbahnschaffnerinnen „dienstverpflichtete", zeigte es sich häufig, daß die „Kontrollfrauen" die ihnen stereotyp attestierte Faulheit, Berufsunlust und Arbeitsscheu zugunsten einer Aufgabenbereitschaft und eines unerwarteten Arbeitseifers preisgaben, sobald sie das Gefühl erhielten, wirklich gebraucht und als unersetzliche Arbeitskraft anerkannt zu werden. Sie waren zwar der routinemäßigen, an bestimmte Orte und Stunden gebundenen Tätigkeit entwöhnt und neigten auch anfangs dazu, ihren Arbeitsplatz öfters zu wechseln, waren aber fähig und bereit, sich schnell anzupassen und einzuordnen. Vielleicht erklärt sich von daher auch der erstaunliche therapeutische Erfolg, den die Sowjetunion durch die Einrichtung von „Prophylakterien" erzielt haben soll, wo Prostituierte eine Berufsausbildung erhielten und dann — ohne rückfällig zu werden — in den Arbeitsprozeß eingegliedert werden konnten. Die bemerkenswerte Religiosität, die der Dirne zuweilen nachgesagt wird, erstreckt sich bei genauerer Nachprüfung auf ein bloßes Festhalten am „ritual pattern", an äußerlich-formalen Übungen, Gewohnheiten und Einstellungen. Was sich dahinter verbirgt, ist schwer zu eruieren: Sicher ist es sowohl eine Suche nach Halt und Trost als auch ein reiner, oft sentimental ausgestalteter Anpaesungsvorgang. Prostituierte von hohem Einsichtspotential begreifen daher auch ihre Religiosität als eine Art selbsttätiges seelisches Regulativ gegen ihre eigene moralische Haltlosigkeit, Unbekümmertheit, Selbstbezogenheit oder geistige Faulheit. Das Phantasieleben der Dirnen ist meist dürftig und schwunglos. Es fehlt der Resonanzboden des Gemüts und einer reich gegliederten Gefühlsstruktur. W. Bernsdorf erwähnt noch den Mangel an „imaginärem Erotismus". Ersatzweise

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gibt sich die puella publica gerne einer üppig wuchernden Tagträumerei hin. Sie baut sich riesige Luftschlösser und träumt vom illusionären Glanz des,, glücklichen Lebens", von Ansehen, Reichtum, Luxus und von den erstrebenswerten Symbolen des kleinbürgerlichen Wohlstandskonformismus (elegantes Auto, Prunkvilla, Nerzmantel usw.). Manchmal nimmt sie auch Zuflucht zu Gedichtproduktionen, in denen sie zu schwülstigen angelesenen Phrasen greift und nun — im Gegensatz zu ihrem vom Warencharakter der Liebe und von geschlechtlicher Feilbietung bestimmten Dasein — das „tiefe Empfinden" und die „Heiligkeit der großen Liebe" verklärt. Durch die im Gedicht enthaltene Wunscherfüllung wird das bedrückende Gefühl völliger Verlassenheit und des Unglücklichseins stark gemildert und gedämpft. Nur mit erheblichen Restriktionen läßt sich das Pauschalurteil aufrechterhalten, die Debilität sei ein wesensgemäßer Persönlichkeitsanteil der Prostitution. Zu dieser Meinung verführt allzu leicht die Erfahrung, daß das Seelenleben der Dirnen oft auf einige wenige Primitivfunktionen zusammenschrumpft. Aber die verschiedenen Intelligenzfaktoren werden davon kaum betroffen — höchstens im Sinne einer „Inaktivitätsatrophie", wie sie ζ. B. D. Origlia versteht. Unabhängig von der kulturhistorisch relevanten Tatsache, daß es hochbegabte Hetären, Geishas, Luxuskokotten und Kurtisanen gab und gibt, kann man allerdings von dem heute durchschnittlich niedrigen Intelligenzniveau der Dirnen sprechen. Viele Mädchen gelangen nur deshalb zum Prostitutionsgewerbe, weil sie aufgrund ihrer schwachen Begabung im normalen Berufsleben mit für sie unüberwindlichen emotionalen und sozialen Anpassungsschwierigkeiten zu kämpfen hatten. Unterzieht man jedoch Prostituierte einem Intelligenztest, so scheitert das schon häufig an der mangelnden Willigkeit und Anstrengungsbereitschaft. Die erfolgreichen, höher dotierten und deshalb meist auch klügeren puellae publicae sind sowieso schwer greifbar, um für eine derartige psychologische Untersuchung zur Verfügung zu stehen. Wenn mit steigendem Lebensstandard die Telefonkuppelei an Umfang zunimmt, dann ist zu erwarten, daß sich damit auch das durchschnittliche geistige Niveau der Dirnen beträchtlich hebt, da die „Ruf-Mädchen" gewöhnlich intelligenter und gebildeter sind. Und mit der Luxurierung des Lebensstils wird von dem Kunden nicht nur eine breitere Vielfalt an technischen Raffinements von Befriedigungsmöglichkeiten verlangt, sondern auch eine stärkere Beachtung der geselligen und kulturellen Note des erotisch-sexuellen Umgangs. Eine Charaktertypologie der Prostituierten führt letztlich zu der Erkenntnis, daß es eigentlich keine typischen Dirneneigenschaften gibt. Aber das Mädchen, das am besten den Fundus angeborener oder erworbener Charakterzüge und Verhaltensweisen den Leit-

bildern anzugleichen vermag, die in einer bestimmten Gesellschaft für Dirnen üblich sind — dieses Mädchen wird am ehesten das Prostitutionsgewerbe ergreifen (Vgl. auch „Psychologie des Verbrechens"). 3. Die Persönlichkeitspsychologie der Nebenpersonen des Prostitutionsgewerbes Zu den unmittelbaren Beziehungspersonen des Prostitutionsgewerbes, die in ständigem geschäftlichem oder menschlichem Kontakt mit den männlichen oder weiblichen Prostituierten stehen, zählen die Kunden, die Zuhälter und die Kupplerinnen), dann die „Puffmütter" und Mädchenhändler, zuletzt auch noch die Schlepper und Zutreiber, die bereits im alten Rom als „admissarii" bekannt waren und möglichst viele und reiche Kunden in die Lupanare bringen sollten. Das Prostitutionsgewerbe setzt sich aus einem Rollengefüge zusammen, deren Hauptakteure zwar hauptsächlich, aber keineswegs ausschließlich die Dirnen selber sind. Über die erwähnten Randpersonen, besonders über die Kunden, Zuhälter und Kuppler, deren Attitüden, Verhaltens- und Reaktionsbereitschaften, sind wiederum ganz bestimmte Meinungen und Ansichten im Umlauf, die teils auf stereotypen Verallgemeinerungen und umweltbedingten Vorurteilen beruhen und deshalb korrigiert werden müssen, teils jedoch durch ein breites, induktiv gewonnenes Tatsachenmaterial bestätigt werden können. Die Kunden der Dirnen, von denen schätzungsweise ein Fünftel verheiratet ist, setzt sich hauptsächlich aus gelegentlichen Reflektanten und nur zu einem geringen Teil aus Stammkunden zusammen. In beiden Besuchsgruppen finden sich Männer, die wegen ihres sexualpathologischen Habitus den Geschlechtsverkehr mit einer Prostituierten ausschließlich oder gelegentlich bevorzugen. Dazu gehören diejenigen Freier, die nur bei Prostituierten potent zu sein vermögen oder ein übertriebenes sexuelles Variationsbedürfnis besitzen, dann die Verbalerotiker, die Sado-Masochisten oder andere Pervertierte. Die durchschnittlichen Kunden suchen jedoch eine Dirne einfach deswegen auf, weil sie — immer oder vorübergehend— im unfreiwilligen Zölibat leben, wegen der Abkühlung der körperlichen ehelichen Beziehungen sich eine gelegentliche „Abwechslung" gestatten möchten oder einem typisch männlichen Wertminderungsgefühl entweichen wollen, das sich bei einem nicht (mehr) befriedigenden Ablauf des Sexualverhaltens mit einem gewohnten Partner einzustellen pflegt. Andererseits scheuen diese Dirnenbesucher aber auch vor amourösen Zufallsabenteuern und mehr oder minder eheähnlichen Dauerbindungen zurück. Bei einer Sichtung der Motive, wann und weshalb der Geschlechtsverkehr mit Dirnen gewünscht wird, findet sich also kein tertium comparationis. Eine auch nur umrißhafte

Prostitution Persönlichkeitspsychologie der Prostituiertenkunden kann nicht geliefert werden; denn die Beweggründe zum Dirnenverkehr sind in miteinander unvergleichbarer Weise charakterologisch eingebettet. Man denke nur daran, daß zuweilen amerikanische Väter ihre gerade pubertierten Söhne zu einer Dirne bringen, weil sie es sowohl für „anständiger" halten, wenn die geschlechtsreifen jungen Männer sich mit Puellen befassen, statt sich mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft herumzutreiben, als auch von der panischen Furcht bewegt werden, ihr Sohn könne vielleicht homosexuell werden. Grundsätzlich kann freilich ganz allgemein konstatiert werden: Wenn der geschlechtsreife männliche Erwachsene nicht fähig oder gewillt ist, wenigstens zeitweise asketisch zu leben, oder wenn er sich mit flüchtigen und unverbindlichen Sexualakten, für die er bezahlen muß, zufrieden gibt und bewußt darauf verzichtet, um vielleicht keine Zeit zu verlieren oder anonym zu bleiben, ein normal erotisch-sexuelles Partnerverhältnis anzustreben, dann steckt meistens hinter diesem geschlechtlichen Gesamtverhalten genauso eine neurotische Grundkomponente wie nicht nur hinter der vielzitierten psychischen impotentia coeundi eines Ehemannes, sondern auch hinter dem Verlangen der Dirnenkunden nach perversen Praktiken und Reizungen. Sicherlich kann man für das Bestehen der käuflichen Liebe nur zu einem geringen Teil die spezifische Beschaffenheit der männlichen Sexualität verantwortlich machen. Man kann vielmehr von der männlichen Sexualität und ihren perversen und abnormen Varianten her den zunehmenden Funktionsverlust der traditionellen Prostitution verstehen. Die Apersonalität bedarf der Prostitution zu einem sehr großen Teil nicht mehr. Und das perverse Verlangen nach anonymem und promiskuem Sexualverkehr kann heute viel leichter als früher in einem „Verhältnis" realisiert werden. Heute tritt zuweilen das rein triebhaft-sexuelle oder perverse Moment bei der Nachfrage nach käuflichem Geschlechtsverkehr stark in den Hintergrund. Überlastete Geschäftsleute und prominente Vertreter des öffentlichen Lebens suchen bei den Edeldirnen nicht in erster Linie sexuelle Entspannung, sondern ein kleines, meist romantisch oder idyllisch verklärt gesehenes Refugium, in dem sie zeitweilig ihre Alltagsverpflichtungen und -belastungen und sogar ihr eigenes Alter vergessen können. Charaktertypologisch homogener als der Kundenkreis von Dirnen stellt sich die Gruppe der den homosexuellen Strich frequentierenden Männer dar. In der Mehrzahl handelt es sich nicht um echte Invertierte, sondern um „Pseudohomosexuelle", die jedoch alle zumindest einen Wesenszug miteinander gemeinsam haben: den starken Autoerotismus. Alles was man zu erleben wünscht, verbleibt im Bereich der eigenen

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genitalen Sexualität und der vertrauten Atmosphäre des eigenen Geschlechts. Kuppler und Zuhälter bilden ein konventionelles Requisit psychologisierender Romanliteratur. Dabei stehen einmal Kriminalität und materielles Nutznießer- und Schmarotzertum im Zentrum, zum andern die vielschichtigen menschlichen Beziehungen dieser Personen untereinander. H. v. Hentig verweist auf den im hohen Grade verwickelten seelischen Mechanismus bei Kupplerinnen; nur die kleinen Übeltäter, die ihren Weg bis vor die Schranken des Gerichts finden, mögen dem Schema „Haltlosigkeit, geringe Intelligenz und moralischer Tiefstand" entsprechen. Sie sind gegenüber der Dirne fast ausschließlich geschäftlich interessiert und weisen darin eine unilineare Verhaltensstruktur auf, während die seelischen Motive bei der erschwerten Kuppelei noch weithin unbekannt sind. Der Zuhälter handelt keineswegs nur einzig und allein aus Eigennutz. „Erotik, Zusammengehörigkeitsgefühl und Geschäftsgeist kennzeichnen das eigenartige Dirnen-ZuhälterVerhältnis", konkludiert W. Bernsdorf. Diese drei Motivkomplexe durchdringen einander in oft merkwürdig ambitendenten Aktionen und Reaktionen. Dazu gehört ζ. B . die sog. Lusteifersucht, jenes eigenartige Mischgefühl von Angezogen- und Abgestoßenwerden, mit dem der Zuhälter die Tatsache beantwortet, daß seine Puelle mit ihren „Affen" geschlechtlich verkehrt. Und wenn der Zuhälter seiner „Biene" übelnimmt, daß sie mit einem einzigen Freier die ganze Nacht verbracht hat, dann steckt dahinter sowohl ein Stück Eifersucht als auch die Furcht, verlassen zu werden, und häufig noch das Mißtrauen, die Dirne wolle „planquer la recette", ihren Lohn heimlich beiseitebringen. In der Gegenwart sieht es so aus, als ob die Dirnen in den hochzivilisierten Ländern auf den Anhang von Zuhälter und Kuppler — deren klassische Funktionen, Hilfsdienste und auch menschliche Nähe — glauben verzichten zu können. Die Prostituierte ist emanzipiert und eigenunternehmend geworden. Außerdem scheint der übelbeleumundete Zuhältertyp seine brutalen und ausbeuterischen Manieren gegen ein kulanteres und umgänglicheres Verhalten eingetauscht zu haben. H. Greenwald ist es zu danken, daß er unter tiefenpsychologischen Aspekten die verblüffende charakterologische Verwandschaft zwischen Dirne und Zuhälter herausgearbeitet hat: Beide — so heißt es — stehen in ständiger Abwehrhaltung zu ihrer homosexuellen Tendenz; beide handeln aus Rachsucht an der Gesellschaft; beide suchen bewußt oder unbewußt die Schuld für ihre selbsterniedrigende Tätigkeit ihrer Mutter bzw. ihrem Vater in die Schuhe zu schieben; beide besitzen ein gestörtes Wertesystem, das in der Regel von der mangelnden seelischen Bindung an die Elternfiguren herrührt. ( - > Ehe und Familie).

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330 D. Die soziologische Betrachtungsebene

Im Laufe der bisherigen Darlegungen wurde mehrmals die Grenze des historisch-kulturgeschichtlichen und des anthropologisch-psychologischen Verständnisses der Prostitution gestreift. Dabei wurde jedesmal deutlich, wie wenig befriedigend für die Erklärung der Prostitution eine ausschließlich auf psychologische, biologische und kulturgeschichtliche Sachverhalte sich stützende Theorie ist; denn wenn die Frau die Absicht hat, sich materieller Vorteile wegen körperlich wahllos hinzugeben, wenn der Mann ein derartiges Verhalten erwartet, so muß die jeweilige Gesellschaft dafür die Voraussetzungen bieten und eine solche Einstellung von Mann und Frau überhaupt erst denkbar machen (Bernsdorf). Es tauchen deshalb am Rande der geschichtlichen und psychologischen Betrachtung des Dirnenwesens vor allem zwei Fragekomplexe auf: Welches sind die spezifisch gesellschaftlichen Konstellationen für Aufkommen und Bestehen der Prostitution?, und: Welche Stellung kommt der Prostitution als Institution und der Dirne bzw. dem prostitutiven Verhalten als Möglichkeit in konkreten gesellschaftlichen Gesamtzusammenhängen zu ? 1. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für das Entstehen und den Bestand der Prostitution Die Prostitution kann nicht unter die „allgemein menschlichen Erscheinungen" rubriziert werden; denn sie ist mit ganz bestimmten Formen der Geschlechtsbeziehungen verknüpft, die ihrerseits wiederum vor allem von der Entfaltung sozialer Macht- und Schichtungsverhältnisse geprägt werden. Entstehen und Fortbestand des Dirnenwesens ist von der jeweiligen gesellschaftlichen Konstellation im allgemeinen und von dem jeweiligen Eheverständnis im besonderen abhängig. H. Schelsky sieht in der Prostitution das „Widerspiel einer Eheform, die den Anspruch macht, alle Sexualbeziehungen in der Ehe zu monopolisieren". Als „Komplementär-Institution" der patriarchalisch-monogam verstandenen und geführten Ehe sind für sie alle Regelungen mitentscheidend, die für die Sexual- und Fortpflanzungsbeziehungen regulierende und normierende Bedeutung besitzen. Ein durch die monogame Ehe hochgezüchtetes Moralsystem sucht sich „abzuladen"; die Anerkennung der sexualethischen Strenge als Idealität bedingt die Eingehung sozial geregelter Kompromißkonventionen, sodaß die Prostitution rückwirkend sogar als Beweismittel für die Gültigkeit strenger ehelicher und vorehelicher sexualmoralischer Ideale in der betreffenden Gesellschaft dienen kann. Mit dieser grundlegenden Erkenntnis wird u. a. die oft vertretene evolutionistische Theorie begrenzt, nach der die gewerbsmäßige Käuflichkeit des Geschlechtsgenusses nichts anderes als einen Überrest aus dem ehemals freien In-

stinktleben und dem spezifischen Sexualhabitus der Urmenschlichkeit darstelle. Das Dirnenwesen steht in engem Zusammenhang mit einer vaterrechtlichen und herrschaftlichen Gesellschaftsform. In der bei unteren und mittleren Naturvölkern üblichen genossenschaftlichen Gesellschaftsordnung fehlen noch die sozialen Voraussetzungen für das Entstehen und Florieren der Prostitution. Erst das Herrschaftsprinzip gestattet die Behandlung des Individuums bzw. des Menschen in der Unterschicht als Gegenstand, als Mittel zum Zweck und als Lustobjekt. Es besteht ja grundsätzliche Machtungleichheit in der Gruppe, und das Bewußtsein einer Wertdifferenz zwischen den Teilgruppen einer Gesellschaft macht das Entstehen eines prostitutiven Sexualverhaltens, in dem die Frau als Lustinstrument und „Sache" eingestuft wird, erst denkbar und möglich. Dort und dann, wenn die Frau rechtlich benachteiligt und als Kaufobjekt und Besitzgegenstand eingeschätzt wird, kann der Geschlechtsverkehr unter kommerziellem Gesichtspunkt betrachtet werden. Die käufliche Liebe ist daher in der Antike auch eine ständige Begleiterscheinung des Sklavenhandels, und vor allem die männliche Prostitution in Griechenland wurde in der älteren Zeit fast ausschließlich von Sklaven, Kriegsgefangenen und unterprivilegierten Ortsfremden betrieben. Der Übergang zur Feudalherrschaft durch Aufhebung der Sklaverei hinderte die Prostitution lange Zeit an der Verbreitung in Mitteleuropa. Die Tendenz der Neuzeit, die Frau zu „emanzipieren" und ihr die völlige Gleichberechtigung zu sichern, vermehrt zwar die promiskuitiven Verhaltensweisen, wirkt sich aber durchweg reduzierend auf die Prostitution aus. Ursprünglich kommt sowohl der Ehe als auch der Familie eine primär ökonomische Struktur zu. Erst hinterher werden die verschiedenen sozialen Funktionen der Eheinstitution mit der Geschlechtsliebe verbunden, die damit rückwirkend auch zu einem ökonomisch ins Gewicht fallenden Faktor wird. Das ist schon im Matriarchat der Fall, wo der Frau wegen ihrer wirtschaftlichen und politischen Präponderanz nicht nur die Führung der Ehe zukommt, sondern auch die Formung der Geschlechtsmoral, in der ihr, der Frau, aber nicht dem Manne, die relative Sexualfreiheit zugestanden wird. Mit der Auflösung des mutterrechtlichen Familienbildes ändert sich dieser Zustand. Die patriarchalisch konstruierte Gesellschaft schränkt nun die Sexualfreiheit der Frau ein, indem sie ihr gewöhnlich keine sexuellen Beziehungen außerhalb der Ehe gestattet, während dem Mann meistens ein „Seitensprung" nachgesehen wird. Doch selbst wenn die strenge Einehe der bürgerlichen Gesellschaft auch dem Mann geschlechtliche Beziehungen zu einer Nebenfrau, Konkubine oder „Freundin" erschwert oder sogar verbietet, so wird doch gerade dadurch das Bedürfnis nach einer sexuellen Freizone erst recht ge-

Prostitution weckt. Die Prostitution, die das komplizierte Verhältnis zwischen Mann und Frau, wie es Ehe und Konkubinat mit sich bringen, durch einen einfachen Tauschhandel ersetzt, bietet die relativ leichteste Möglichkeit einer Evasion aus der ehelichen Unfreiheit an. Aber überall, wo heute der „freie" Geschlechtsverkehr nicht unterbunden oder eingeschränkt wird, wie das in besonderem Maße auf die von einer laxeren Sexualmoral und einem liberaleren Lebenswandel geprägten skandinavischen Länder zutrifft, tritt das Dirnenwesen erheblich zurück. Bei Anlegung der historischen Perspektive erkennt man, daß die Prostitution immer ein vorwiegend städtisches Problem gewesen ist. Das hängt teilweise mit der Bevölkerungsakkumulation als solcher zusammen: Bei zu dichter, unstrukturierter Population tritt ein „Verhaltenszerfall" ein, der sich u. a. in einer Zunahme der käuflichen Liebe äußern kann; je größer — und im sozialpsychologischen Sinne unüberschaubarer — die Wohngemeinde ist, desto ungünstiger gestalten sich die Bedingungen, einen befriedigenden gesellschaftlichen Kontakt anzuknüpfen, desto mehr nimmt die Prostitution zu, weil sie Kontaktsurrogate bzw. Quasi-Kontakte anbietet. Die funktionale Abhängigkeit des Prostitutionswesens von der Entstehung und Ausbildung des Städtewesens ergibt sich aber auch ganz einfach aus der ständigen Zuwanderung nichtintegrierter Elemente, aus denen sich größtenteils der Dirnennachwuchs zusammensetzt. Die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen über das Dirnenwesen stammen ungefähr aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts und sind gründliche Monographien über die Prostitutionsverhältnisse in einigen größeren Städten, die mit der Einrichtung und dem Aufbau von Industrieanlagen einen ungeheuren Zuzug zu verzeichnen hatten. Zum anderen wird in der (Groß-)Stadt mit der Vermehrung der Massenkommunikationsmittel — vom Theater über die Illustrierte bis zur Werbevorführung — ein ständiges sexuelles Stimulans gesetzt. Trotzdem muß man hierbei W. Becks Einwendung berücksichtigen: „Es ist im Prinzip sehr wohl möglich, daß die publizistische Übersexualisierung unserer Atmosphäre eher vom Sexuellen weg als zu ihm hinführt. Andererseits ist unbestreitbar, daß sie zur Steigerung sexueller Erregbarkeit beiträgt. Welche Wirkung eintritt, hängt . . . ab von der Ganzheit der sozialpsychischen Situation". Generell kann man allerdings behaupten: Das heutige städtische Milieu bewirkt eine „Außendesorganisation" der Familie, und die moderne Wirtschaftsgesellschaft mit ihrer horizontalen und vertikalen Mobilität — Wohnsitzwechsel und Aufstieg der Massen bei gleichzeitiger Nivellierung der alten Rangordnungen — erzeugt eine wachsende Tendenz zur Abwechslung auch auf geschlechtlichem Gebiet. Da die Besonderheiten des städtischen Lebensstils sich heute

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jedoch zunehmend von den städtischen Einflußzentren lösen und praktisch überallhin ausstrahlen, entsteht dadurch eine ganz neue Problemlage. Ein Modellbeispiel für die gesamtgesellschaftliche Determiniertheit der Prostitution ist die Integration und staatliche Organisation der käuflichen Liebe im 14. und 15. Jahrhundert durch die ständisch gegliederte Gesellschaft des westlichen Abendlandes. Die Kommerzialisierung und der Ausbau der Bordelle gingen mit dem Aufblühen des städtischen Lebens und der Ausbildung des Heer- und Geldwesens parallel. Auch die Freudenmädchen mußten als Zunftglieder eingeordnet, anerkannt und geduldet werden, entsprechend der damals herrschenden gesellschaftlichen Struktur. Daß die Prostitution im 16. Jahrhundert mit der Schließung der behördlich konzessionierten Bordelle wieder zu einer Art freien Gewerbes herabsank, hing nicht allein mit Reformation und Gegenreformation und mit dem Auftreten der Syphilis zusammen, sondern auch mit der beginnenden Ausprägung und Emanzipierung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Optimale Bedingungen für das Florieren der käuflichen Liebe bietet seit der industriellen Entwicklung eine Gesellschaftsform, in der eine ärmere Schicht, die von einem ökonomisch verhältnismäßig stabilisierten Mittelstand überlagert wird, unter drohender Arbeitslosigkeit, unzureichenden Löhnen und wirtschaftlichen Krisensituationen zu leiden hat. In diesem unbefriedigenden Zustand befindet sich die moderne Klassengesellschaft, die sich mit dem Aufkommen der kapitalistischen Wirtschaft allmählich etablierte und die Ständegesellschaft nach und nach zurückdrängte. Sie löste zwar die starren, auf Geburt und Herkunft beruhenden Scheidewände zwischen den einzelnen ständischen Gruppen auf, entwickelte aber dafür den Klassengegensatz von Bürgertum und Proletariertum. Die sozialökonomisch untere Schicht der Arbeiter erhält in einer solchen Klassengesellschaft, soweit sie sich nicht — wie in den meisten Industrieländern seit der Jahrhundertwende — durch eine stärkere Klassendifferenzierung von ihrem Anfangszustand entfernt hat, keine reale Zukunftsperspektive. Der durchschnittliche Lohnarbeiter sieht keine Möglichkeit, seine äußeren Verhältnisse durchgreifend zu ändern. Das einzige, was ihm verbleibt, ist die vollständige Ausnützung der im Augenblick vielleicht gegebenen Vorteile. Frauen und Mädchen, die aus der unteren Gesellschaftsschicht stammen, sehen begreiflicherweise oft gar keinen Grund, warum sie den Verlockungen des leichten Geldverdienens durch geschlechtliche Feilbietung widerstreben sollen. P. Adler und K. F. Schaller, die von verschiedenen Standpunkten aus nach dem Zweiten Weltkrieg das Prostitutionsproblem untersucht haben, konstatieren übereinstimmend, daß es vor allem ein Mangel an zukunftbezogenen Gefühlen sei, der die

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puellae publicae kennzeichne. Ebenso konnte der Verfasser in einer Monographie „Zur gleichgeschlechtlichen männlichen Prostitution" dasselbe hervorstechende Phänomen an der überwiegenden Mehrzahl der untersuchten Strichjungen feststellen. Deren Lebensführung und -gestaltung war durchweg improvisiert, richtungs- und planlos. Und S. de Beauvoir und W. Bernsdorf bestätigen für die Gegenwart, was bereits vor fast 120 Jahren von A. J . Groß-Hoffinger behauptet wurde, daß nämlich das Gros der Dirnen sich aus der „Dienstmädchenklasse" rekrutiert, also aus einer Berufsgruppe, deren einzelne Vertreter meist keine Hoffnung haben, daß sich ihre menschliche und soziale Lage einmal zum Besseren wenden könnte. Ebenso stammte das Hauptkontingent der „weißen Sklavinnen", die vor dem Ersten Weltkrieg vor allem nach Buenos Aires exportiert wurden, nicht zufällig aus Galizien; denn es gab für den Großteil der dort ansässigen Juden keine sicheren und ausreichenden Erwerbsverhältnisse, sodaß sie sich gerne der „traite des blanches" zuwandten und unter der armen Dorfbevölkerung ihrer Umgebung auch genügend auswanderungs- und prostitutionswillige Mädchen fanden. Unterhalb dieser Ausführungen muß einschränkend gesagt werden, daß der „Hungerprostitution" im engeren Sinne i. a. viel weniger Bedeutung zukommt, als gewöhnlich angenommen wird, zumal die Beziehungen zwischen ökonomischer Notlage und Aufnahme der Gewerbsunzucht komplizierter sind als ein einfaches Ursache-Folge-Verhältnis. Jedoch kann die geschlechtliche Feilbietung aus vermeintlicher oder wirklicher Not geradezu einen institutionalisierten ökonomischen Faktor bilden und als legitime Art der wirtschaftlichen Betätigung anerkannt werden. In Vorderindien findet man neben Stämmen, die peinlich auf eheliche Treue und voreheliche Keuschheit achten, auch solche, bei denen es zur konventionellen Pflicht der jungen Mädchen gehört, durch Prostitution einen wesentlichen Beitrag zum Lebensunterhalt der Familie zu leisten. Nicht nur chronische Armut oder wirtschaftliche Baisse bieten günstige Voraussetzungen für den Bestand bzw. das Anwachsen der Prostitution, sondern ebenso auch Wohlstand und ökonomische Hausse. In ersterem Fall steigt vornehmlich das Angebot der puellae publicae aus den schlechtbezahlten Frauenberufen (Dienstmädchen, Fabrikarbeiterinnen, Näherinnen, Schneiderinnen, Wäscherinnen und Plätterinnen), wie sie hauptsächlich für früh- und hochkapitalistische Zeitabschnitte kennzeichnend sind. Bei wirtschaftlichem Hochstand mit seinem chronischen Konsumanreiz nimmt die Nachfrage nach den Dirnen wiederum zu, und die Prostitution wird heftig gefördert durch die „geschäftetreibende Männerwelt". Letzteres traf schon auf die Zeit Solons zu, als Industrie und Handel in raschem Aufschwung begriffen

waren und sogar schon kleine Fabriken und Betriebe bestanden, in welchen Sklaven als Arbeiter beschäftigt waren. Es ergab sich eine soziale Struktur, die für die Entwicklung eines ausgedehnten außerehelichen Geschlechtsverkehrs günstig war. Es kam zu zahlreichen Ehebrüchen und Verführungen freier Mädchen, sodaß Solon durch die Einrichtung eines Staatsbordells die Möglichkeit zu schrankenloser Befriedigung aller außerehelichen Geschlechtsbedürfnisse schaffen wollte, um in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufstiegs die Ehe zu sichern und die Zahl der Ehebrüche einzuschränken. Vieles von dem, was A. Blaschko im Jahre 1910 von der unterschiedlichen „Affinität" der einzelnen Klassen zur Prostitution herausgearbeitet hat, besitzt heute noch Gültigkeit: Die Dirnen kommen aus den Basisschichten der Gesellschaft, der Besucherkreis der Bordelle jedoch stammt vor allem aus dem Mittelstand; denn gegenüber den „oberen Zehntausend" und der „leisure class", für die alles Sorgen um das tägliche Brot dahinfällt, und gegenüber den Proletariern, den einfachen Arbeitern und Kleinbauern, erhält der Mittelstandsbürger gewöhnlich erst relativ spät ein ausreichendes Einkommen, um „standesgemäß" zu heiraten und eine Familie zu gründen. Um so näher liegt es für ihn, mit Dirnen zu verkehren. Das Mädchen aus dem Mittelstand wiederum wird aus konventionellen Gründen vor einem auf einen längeren Zeitraum sich erstreckenden vorehelichen Geschlechtsverkehr zurückschrecken, während in Proletarierkreisen sowieso früher geheiratet wird und die Virginität keiner besonderen Hochschätzung unterliegt. Ein Mädchen aus der untersten Gesellschaftsschicht wird deshalb — soziologisch gesehen — am ehesten und unbeschwertesten den Schritt zur Prostitution tun. Diese schematische Feststellung ist begreiflicherweise ziemlich grob. Der Arzt H. Lippert differenzierte schon vor über hundert Jahren feiner, wenn er in seinem Bericht über die Zustände im Hamburger Prostitutionswesen darlegte, daß den Hauptanteil der Dirnen die „Dienstboten" und nicht eigentlich die „Arbeiterklasse" stelle. Das beruht zum großen Teil darauf, daß zwischen jungen Arbeitern und Arbeiterinnen seit jeher eine freiere Gestaltung des Liebeslebens vorgeherrscht hat, die eine Prostitution erst gar nicht aufkommen ließ. Bei der historisch-systematischen Unterscheidung eines ständischen Prostitutionstyps von einem klassengesellschaftlichen muß bedacht werden, daß sich in Deutschland erst im 19. Jahrhundert die ökonomische und persönliche Bewegungsfreiheit des Einzelnen entgegen dem früheren Zustand der ständischen Bindungen ganz zu entfalten vermochte. Der Individualismus wurde damals zu einem der Hauptfaktoren der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Er lehnte sich, so formulierte Anfang dieses Jahrhunderts I. Bloch, einer seiner Hauptbefürworter auf sexualethischem Ge-

Prostitution biet, „gegen die unleugbare Unfreiheit auf, die die gesetzliche Ehe mit sich bringt". Er wirkte sich auch modifizierend auf das Prostitutionswesen aus, und zwar nicht nur im Sinne der Begünstigung, weil der Einzelne in einem von individualistischen Daseinsvorstellungen geprägten sozialen Gebilde dem kollektiven Gesamtwohl sich verantwortlich fühlt und die gesellschaftlich-kulturellen Verhaltensnormen mißachtet. Die hyperindividualistische These: „Jeder kann mit seinem Körper machen, was er will", ist sowieso niemals zur Allgemeinüberzeugung breiter Volksschichten geworden und bildete nie ein ernstzunehmendes Motiv zur Aufnahme des Prostitutionsgewerbes. Aber individuelles Verhalten setzt sich im Trend zur Klein- und Gattenfamilie durch, die sich aus der Gesamtgesellschaft desintegriert und nun ihrerseits zwar die Gefahr heraufbeschwört, daß enttäuschte Liebeserwartungen in der streng monogamen bürgerlichen Ehe zunehmen und die Nachfrage nach einem prostitutiven Ersatzerlebnis erhöhen, andererseits aber auch eine erotische Sublimierung und Vertiefung der Gattenbeziehungen zur Folge hat, die sich auf die Prostitution abträglich auswirkt. Nach marxistischer Meinung ist für die Prostitution, die als eine Form der Ausbeutung der unteren, unterdrückten Klassen durch eine beherrschende Schicht angesehen wird, in der sozialistischen Gesellschaft kein Platz mehr vorhanden. Wenn nicht nur die Produktionsmittel, sondern auch alle Konsumartikel dem gemeinsamen Gebrauch anheimfallen, wird keine Frau mehr nach ihrem „Handelswert" taxiert werden. Tatsächlich existiert — zumindest offiziell — in der Sowjetunion und in den meisten sozialistischen Staaten kein Dirnenwesen mehr, wenigstens nicht mehr ein solches von nennenswertem Umfang. Aber es besteht kein Anlaß, darin eine Bestätigung der marxistischen Theorie zu sehen, daß die Verwirklichung der klassenlosen Gesellschaft allein die Gewähr dafür biete, die Prostitution zum Aussterben zu bringen. Vielmehr verbirgt sich in der Verbindung des in vielen sozialistischen Staaten herrschenden niedrigen Lebensstandards mit der ständigen politischen Beanspruchung der Bevölkerung und der immerwährenden Aufforderung, noch mehr zu leisten, ein Konvulat von Faktoren, die eine bestehende Prostitution abzudrosseln geeignet sind, ohne daß behördlicherseits rigoros eingegriffen werden müßte. Der marxistischen Kritik am prostitutionsfördernden, kapitalistischen Lebensstil muß zugestanden werden, daß hauptsächlich in einer Gesellschaft, für die das Geld einen maximalen Wertmaßstab darstellt, in der die Tendenz zur „reinen Konsumation" immer bedrohlichere Formen annimmt und pausenlose Appelle an Lustgewinn und Sensationsgier gerichtet werden, auch die Beziehungen der Geschlechter vom Verdienst- und Genußstreben bestimmt

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bleiben und depraviert werden. Nicht gesehen wird dagegen von den marxistischen Kritikern, daß in der modernen Industriegesellschaft zusätzlich neue Faktoren, neue Verhaltens-, Lebens- und Denkformen emergieren — Tolerierung des „Verhältnisses", zunehmende Neigung zur Frühheirat und zur Sachlichkeit im erotischen Bereich, Verblassen des Virginitätsideals —, die sich auf das Prostitutionswesen einschränkend auswirken, ohne daß es zu einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne der marxistischen Theoretiker kommt. Trotz des tiefen ideologischen Grabens, der heute Ost und West voneinander trennt, stehen beide Gesellschaftssysteme ebenso wie die jungen, vom Kolonialismus befreiten Völker vor der gleichen Frage: Wie wirkt sich der technologische und wirtschaftliche Fortschritt, das Bevölkerungswachstum, die gesellschaftliche und geographische Mobilität — wie wirken sich alle diese Erscheinungen auf die Fähigkeit des Menschen aus, die offiziell monogame Ehe und die auf ihr gegründete traditionale Familienstruktur unter so radikal gewandelten Voraussetzungen aufrechtzuerhalten und Promiskuität und Prostitution nicht überhandnehmen zu lassen ? 2. Die Stellung der Prostitution und der Prostituierten in konkreten gesellschaftlichen Gesamtzusammenhängen Wenn in einem Sozialgebilde die gewerbsmäßige geschlechtliche Feilbietung geduldet, gebilligt oder sogar gefördert wird, dann muß sie mit all den Grundelementen, die einer Gesellschaft die unentbehrliche Ordnung, Stabilität und Kontinuität verleihen, mit den offiziell proklamierten Rechtsnormen, den transzendentalen Vorstellungen oder deren funktionalen Äquivalenten, den Traditionen und Sitten in ein kompatibles Verhältnis treten. Es erhebt sich deshalb die Frage, in welcher Weise die Prostitution in ein mehr oder minder weites gesellschaftliches „Bedingungsnetz" eingespannt und integriert wird. Gewöhnlich geschieht das vermittels einer ganzen Reihe gesellschaftlichkultureller Verhaltensnormen und Leitideen, die sich in unterschiedlichen Gestalten und Graden von Verbindlichkeit präsentieren, das Prostitutionswesen ordnen und dem sozialen Ganzen einfügen. P. Hesse sieht die Hauptschuld dafür, daß es überhaupt noch Prostitution gibt, in der „doppelten Moral der modernen bürgerlichen Gesellschaft, bei der die öffentliche Verachtung der Prostitution mit geheimer Beanspruchung einhergeht". Er hat damit eins der wichtigsten Kennzeichen der käuflichen Liebe herausgestellt: Diskriminierung der Prostitution einerseits, aber keine Ächtung des Mannes andererseits, der Dirnen aufsucht. Es wäre zu ergänzen, daß die Verabscheuung der Gewerbsunzucht und der Dirne selbstverständlich nicht ein Spezifikum der bürgerlichen

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Gesellschaft ist, sondern ganz generell „ein Teil des absoluten monogamen oder polygamen Ehesystems mit hoher Einschätzung der Virginität" (Schelsky). Nur in wenigen Zeitabschnitten und nur bei wenigen Völkern — wie in Japan und bei einigen arabischen Stämmen — galt es nicht als entwürdigend, wenn eine Frau immer oder eine gewisse Zeit lang dem Dirnengewerbe nachging. Zu diesen Äusnahmefällen zählen u. a. die sog. Mädchenzelte, die im alten Karthago um das Heiligtum der Liebesgöttin aufgestellt waren und in denen junge Mädchen sich ihre Mitgift durch „ehrenvolle Prostitution" verdienen wollten. Im allgemeinen ist zwar der Mann, von dessen Umgang mit Prostituierten seine Umgebung Kenntnis hat, keinen gesellschaftlichen Sanktionen ausgesetzt, und die antiken Bordelle und die japanischen Teehäuser galten als offizielle Vergnügungs- und Geselligkeitshäuser, in die man unbekümmert und ohne Heimlichtuerei hineingehen konnte. Dennoch färbt das als Schande und Ehrlosigkeit gebrandmarkte prostitutive Gewerbe häufig auch auf den Dirnenbesucher ab und beeinflußt das heimliche, schamhafte Verhalten des Dirnenkunden. Selbst im antiken Rom, wo man dem Mann ein außerordentlich hohes Maß an Triebfreiheit gewährte, hielt man es sogar in Zeiten der schlimmsten Sittenverderbnis für am geziemendsten, das Bordell im Dunkel der Nacht und eingehüllt in einen „cucullus", eine Art Kapuze, aufzusuchen. Die Diffamierung der Prostituierten findet ihren Niederschlag in den zahlreichen Kleiderordnungen, denen die Dirnen, um sie auch im äußeren Erscheinungsbild kenntlich zu machen, seit dem Altertum bis ins 18. Jahrhundert hinein unterworfen wurden. Die babylonischen Prostituierten durften keinen Schleier anlegen. In Griechenland mußten sie, soweit sie keine von reichen und vornehmen Gönnern geschützten Hetären waren, Stoffe mit Blumenmustern tragen und auf Schmuck verzichten. Im antiken Rom wurde ihnen verboten, sich mit der langen Stola der ehrbaren Matrone zu bekleiden; sie mußten sich mit der kurzen stola meretrica begnügen. Nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war und allen nichtehelichen Geschlechtsverkehr prinzipiell infamierte, wurde ihnen auferlegt, vor allem keine bei Nonnen üblichen Kleidungsstücke anzulegen. Ein gelbes Rädchen am Ärmel, ein gelber Schleier oder ein gelbes Halstuch war vielerorts im Mittelalter das obligatorische Dirnenabzeichen. Im Florenz des 14. Jahrhunderts hatten die Puellen ihre Kopfbedeckung, die in einigen anderen italienischen Städten grundsätzlich aus einer roten Kappe zu bestehen hatte, mit einem Glöckchen zu versehen, damit sie auch akustisch von den anderen Frauen unterschieden werden konnten. In Bern und Zürich mußte der Dirnenmantel rot gefärbt sein; und im Paris des 15. Jahrhunderts untersagte man den „filles communes", Kragen

mit Pelzbesatz und breite Röcke zu tragen und goldene Gürtel oder überhaupt hoffähige Gewänder anzulegen. Gleichzeitig und mehr oder minder unabhängig von diesen Kleiderordnungen, die die Absicht verfolgten, dem Dirnenstand einen festen gesellschaftlichen Ort anzuweisen und ihn von dem Gros der sog. züchtigen Frauen abzuheben, bedienten sich die Prostituierten selber mit Vorliebe auffälliger Kleider und modischer Extravaganzen, um Kunden auf sich aufmerksam zu machen. Das sexuelle Stimulans der Kleidung entsteht einerseits aus der Hervorhebung und erotischen Akzentuierung gewisser Körperteile, andererseits aus der einfachen Entblößung — oder sogar deren Gegenteil, der Verhüllung, die den Beschauer das Vorhandensein erregender Körperformen imaginieren läßt. In Athen galt das gelbgefärbte, also blondierte Kopfhaar neben dem Tragen raffiniert geöffneter und „koischer", d. h. auf Kos hergestellter, aus spinnwebfeinem Material bestehender Gewänder als ein Charakteristikum der Freudenmädchen. Ein eigener Berufsstand, die „Pornographen", beschäftigte sich damit, die Dirnen zu kämmen und zu schminken. Und obwohl es heute keine standesgemäße Tracht mehr gibt, übt doch das „horizontale Gewerbe" (Heinrich Heine) per se schon den Zwang aus, daß eine Dirne im Exterieur erkennbar bleibt. Zusätzlich verwenden die Dirnen seit jeher besondere Farbvaleurs. Der bereits mehrfach erwähnten Farbe Gelb kommt in diesem Zusammenhang eine eigenartig doppelsinnige Bedeutung zu. Einerseits verband man mit ihr im Altertum und Mittelalter die magische Qualität des Bösen und Unheilvollen. Das sollte auch ihre Funktion sein, wenn man vielerorts verlangte, daß die Judenhüte gelb gefärbt zu sein hätten. Andrerseits galt gelb als die Symbolfarbe für „finnigliches" Glück und erfreute sich entsprechender Verwendung auch seitens des Dirnenstandes. Die genannten Kleidervorschriften bezogen sich nicht mehr auf die gehobene Prostitution, deren Hauptvertreter — wie die Kurtisane der Renaissance oder die Kokotte ζ. Z. der mondänen Liebe des „galanten Jahrhunderts" — sogar schrittmachend und tonangebend für die Mode ihrer Ägide geworden sind. Aber auch dieser positive Sachverhalt hängt mit der eigentümlichen und unsicheren gesellschaftlichen Position der arrivierten Prostituierten zusammen. Sie zählen zur Demimonde und leben eine „Marginalexistenz"; denn sie sind dem gewöhnlichen Dirnenstand entwachsen, ohne schon der erstrebten, geachteten aristokratischen Schicht voll anzugehören, so daß sie alles Konventionelle und Althergebrachte gerne hinter sich lassen und bereit sind, den Antrieb zu neuen Moden zu geben. So wurde ζ. B. der Reifrock (Montgolfiöre) oder die Krinoline im 16. Jahrhundert zuerst von Kurtisanen getragen, „die mit runden herausfordernden Formen prahlen und die Männer durch diese .vertugales', die nach

Prostitution dem Bonmot eines Franziskaners die ,vertu' vertreiben, um nur die ,gale' (Syphilis) übrigzulassen, anlocken wollten". Ähnlich wie mit der Dirnenkleidung steht es mit den sog. Bordellabzeichen, die aufgrund behördlicher Anordnung zur Kenntlichmachung des besonderen Unternehmens an der Hauswand, an der Tür oder an einem Fenster angebracht werden mußten oder aber auch von dem Bordellunternehmer gerne angebracht wurden (bzw. angebracht werden!), um werbend und einladend aui das „öffentliche Haus" hinzuweisen. Als Bordellabzeichen verwendete man im Altertum häufig Reliefbilder mit den männlichen und weiblichen Genitalien oder auch Schildembleme, auf denen ein Schwan, ein Eber, eine Krähe oder ein Esel abgebildet waren. Andere, aus späterer Zeit stammende Erkennungszeichen für ein Freudenhaus sind Hufeisen und Hammelhörner, der Papageienkäfig, Hahn und Henne, die Seemuschel, ein roter Hund und vor allem die gerade in Deutschland übliche rote Laterne. Ein mehrfach schon erwähntes Phänomen ist die soziologische Schichtung des Dirnenstandes. Überall, wo Prostitution im weitesten Sinne auftritt, findet sich regelmäßig eine untere, eine obere und meist noch eine mittlere Dirnenklasse. Diese drei Gruppen schließen sich voneinander ab und konkurrenzieren, ja bekämpfen sich gegenseitig. Mit der Differenzierung des Dirnenstandes läuft ein Wettbewerbs- und Karriere-Streben einher. Man will die Hürde nach oben überspringen; man möchte nicht eine unter anderen, sondern eben eine ganz große Über-Dirne, ja eine von allen begehrte und ausgehaltene Nicht-mehr-Dirne, ein „femme entertenue" werden. In professionellen Strichjungen-Kreisen kursieren ständig Gerüchte, wonach irgendein „Stricher" in einer Großstadt das lockende Ziel erreicht hat, unvorstellbar viel „einzuheimsen" und einflußreiche Kunden zu gewinnen. Meistens steckt hinter diesem permanenten Geraune nichts anderes als der projizierte Wunsch der Strichjungen, zum „Edelstrich" aufzurücken. Nach welchen Kriterien die schichtungsmäßige Rangstellung der männlichen oder weiblichen Prostituierten bestimmt wird, ist zuweilen schwer festzustellen. Sie kann fixiert sein durch Geburt — im Rahmen eines auf religiösem Glauben und strikter Tradition beruhenden Kastenoder Standesystems —, oder sie kann dem mehr oder minder freien Wirken von Persönlichkeitsfaktoren in Bewährung an jeweils gegebenen Umweltsituationen überlassen sein. Im ersten Fall haben wir es mit einer geschlossenen und stabilen, im letzten mit einer relativ offenen und mobilen Schichtungsstruktur zu tun. Die ständische Gesellschaft repräsentiert insofern den ersten Fall, als in ihr gewöhnlich und nahezu ausschließlich die Frage der Herkunft einer Prostituierten ausschlaggebend ist, was schon anhand von historischen Beispielen veranschaulicht wurde. Die Stellung der

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Dirne in einer kapitalistischen Klassengesellschaft dagegen, am reinsten ausgeprägt im amerikanischen C-Girl-Wesen, beruht auf mehreren Einzelfaktoren, auf dem finanziellen „Polster", den politischen Verbindungen und den körperlichen Reizen der Prostituierten — und nicht zuletzt ihrer Geschäftstüchtigkeit und ihrem Durchsetzungsvermögen. Zum Dirnendasein gehört deshalb neben dem dauernden Wettbewerb, neben dem beständigen Bestreben, andere auszustechen und nach oben aufzurücken, zugleich die Furcht, zur billigsten — in Paris „Pierreuse" genannten — Straßendirne abzusinken oder zu altern und dann eine „Manuelle" zu werden, die ihr Handwerk höchstens noch manustupratorisch ausübt. Kennzeichnend für den Wandel der Prostitution und deren aktueller Abhängigkeit von einer Gesellschaftsform, in der die Emanzipation der Frau, die Vertragsgesinnung des kapitalistischen Lebens und die von der Wirtschaft geforderte Rationalisierung des Verhaltens sich durchgesetzt haben, ist das heute selbstbewußte und unternehmerische Auftreten der Dirnen. Die Puelle kann auf Zuhälter und Bordellwirt verzichten und ihre Preise variabel gestalten. Sie profitiert sogar von der Wandlung vom autoritär-patriarchalischen zum partnerschaftlich-demokratischen Verhalten, das sich in den Beziehungen zwischen den Generationen ebenso dokumentiert wie im alltäglichen Miteinander der Ehegatten, da der Dirne die Kunden jetzt kulanter und weniger herrisch gegenübertreten, als das in einem sozialenGebilde mit ausgeprägten ständischen Distanzen und extrem wirtschaftlicher Ausbeutung breiter Bevölkerungsschichten üblich war. Das Verhältnis der Prostituierten untereinander, die ein und derselben Dirnenschicht angehören, ist ausgesprochen ambitendent. Rivalentum, Intrigen und dauernde Eifersüchteleien kennzeichnen die eine, Kameradschaftlichkeit und Solidaritätsbewußtsein die andere Seite. Man fühlt sich durch eine Art Korps- und Kastengeist zusammengehalten und verkehrt am liebsten mit seinesgleichen. Da man sich von der Gesellschaft ausgeschlossen und verachtet weiß, etabliert sich eine (isolierte) „Eigengruppe" (in-group) mit spezifischen Lebensformen, Wertsystemen, „Wir-Gefühlen" und Ehrbegriffen. Das trifft in erster Linie auf die verschiedengestaltigen Interessengemeinschaften der Strichjungen zu, die sich wegen der strafrechtlichen Verfolgung ihrer Betätigung und der landläufigen Beurteilung und Verabscheuung ihres Sexualpartners in besonderer Weise nach außen hin abzuschirmen und nach innen hin zu konsolidieren versuchen. Zu sog. Liebstenklubs, die Namen wie „Deutsche Kraft", „Kegelklub Leu" oder „Rotschwänzchen" tragen, schließen sich häufig die Zuhälter zusammen. Es handelt sich um vereinsähnliche Gebilde, mit Statuten, wöchentlich stattfindenden Sitzungen und jährlichem Stif-

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tungsfest. Die Dirnen, die „Klubschwestern", erhalten nur zu einigen wenigen Veranstaltungen Zutritt. Kein „Vereinsbruder" darf der „Schwester" eines anderen zu nahe treten. Der Vereinsvorstand unterhält die Verbindung zu anderen Zuhältervereinigungen, mit denen man in einem „Ring" zusammengeschlossen ist. Der Vorstand schlichtet Differenzen zwischen den Zuhältern, den „Luden" und ihren „Tüllen", und er sorgt dafür, daß in Not geratene Mitglieder finanziell unterstützt werden (-»• Organisiertes Verbrechertum). Bs hängt unmittelbar mit dem Sonderstatus der weiblichen und männlichen Prostituierten und der Zuhälter zusammen, daß sie sich eines Berufsjargons bedienen, der füT Uneingeweihte manchmal unverständlich ist. Diese „Dirnensprache" verfügt jedoch über einen nur spärlichen Wortschatz, der sich weitgehend mit dem der unteren Gesellschaftsschicht deckt. Die Ausbildung einer eigenen Umgangssprache wird durch den ständigen Anpassungsdruck an den potentiellen Kundenkreis stark behindert. Das originellste Element des sog. Bordelljargons sind die mannigfaltigen Einzelbezeichnungen für die Kundenwerbung und -bedienung, besonders für den perversen Geschlechtsverkehr, und die Spitznamen, unter denen die Dirnen in ihren Kreisen bekannt sind, ohne daß man gewöhnlich ihren richtigen Vor- und Familiennamen überhaupt zur Kenntnis nimmt. In fast allen Ländern und zu fast allen Zeiten bevorzugte man fremdstämmige, exotisch anmutende Dirnen. In dem merkwürdigen Anspruch des Dirnenkunden, daß die Puelle den Reiz des Fremdartigen verkörpern müsse, erweist sich die Prostitution wiederum als Kontrast- und Ausweichinstitution zur vertrauten und oft monotonen ehelichen Gemeinschaftsform. Möglicherweise stekken dahinter auch Restbestände von primitivreligiösen Vorstellungen, die schon in der zu Ehren der Göttin Ischtar erfolgten sexuellen Hingabe zum Ausdruck gelangten, wonach allem Fremden eine übernatürliche Macht zukommt und durch die (religiöse) Prostitution ein Fremder in die Kulturgemeinschaft eines Volkes aufgenommen werden könne. In Hellas bestand besondere Nachfrage nach Bordellinsassinnen aus dem Orient und nach Hetären, die aus Lesbos oder anderen kleinasiatischen Inseln einwanderten. In Rom präferierte man im Altertum die Griechinnen, Ägypterinnen, Nordafrikanerinnen, Spanierinnen, speziell auch die menschlichen „Lusttiere" aus Judäa und Smyrna. Im Mittelalter zählten in den italienischen Stadtstaaten die Schwäbinnen zu den Puellen erster Klasse. In Deutschland hält sich beharrlich das jahrhundertealte Vorurteil von den erotisch vielversprechenden Frauen aus den südeuropäischen Ländern. Und immer wurde und wird die Nachfrage nach bestimmten fremdländischen Dirnen mit dem durch nichts bewiesenen oder beweisenden Hinweis begründet, daß diese Frauen

eben leidenschaftlicher und heißblütiger seien als der einheimische Weibtypus. Έ. Das kriminologische und juristisch-administrative Problem Die Auseinandersetzung mit diesem letzten Fragenkreis erfolgt am zweckmäßigsten in Anlehnung an eine möglichst enge Begriffsbestimmung, die der juristischen und kriminologischen Seite des Problems am besten gerecht wird. „Die Prostitution", so schreibt ζ. Β. M. Hagemann, „ist eine bestimmte Form des außerehelichen Geschlechtsverkehrs, die dadurch ausgezeichnet ist, daß das sich prostituierende Individuum mehr oder weniger wahllos sich unbestimmt vielen Personen fortgesetzt, öffentlich und notorisch, selten ohne Entgelt, meist in der Form der gewerbsmäßigen Käuflichkeit zum Beischlafe oder zu anderen geschlechtlichen Handlungen preisgibt oder ihnen sonstige geschlechtliche Erregung und Befriedigung verschafft und infolge dieses Unzuchtsgewerbes einen bestimmten konstanten Typus bekommt". So sehr es am Platze ist, diese gründliche und klare, inzwischen allerdings eine Generation alte Definition zu wiederholen, in Erinnerung zu bringen und als Maßstab anzulegen, so notwendig ist zugleich der kritische Vermerk, daß sich in der Fachdiskussion bereits ein neuer Begriff der Gewerbsunzucht auszuprägen beginnt. Danach macht sich der Prostitution schuldig, wer fortgesetzte Unzucht treibt und daraus Vermögenswerte Vorteile zieht, die für seine Lebensführung ins Gewicht fallen. Diese von E. Zillken versuchte Begriffsneufassung wirft in ihrer Knappheit und bewußten Unprägnanz ein bezeichnendes Schlaglicht auf die heutige Verlegenheit, das Faktum der Prostitution — zumal unter juristischem Aspekt— zu konstatieren. Im ersten Abschnitt werden die Fragen der Interdependenz von Kriminalität und Gewerbsunzucht und der Kriminogenität des Dirnenwesens erörtert, indem zunächst einmal grundsätzlich davon abgesehen wird, inwieweit die Prostitution qua Prostitution gegen das Rechtsgut der sexuellen Sittlichkeit in einer Gesellschaft verstößt. Es geht vielmehr darum, weshalb Prostituierte, Strichjungen, Zuhälter oder auch die Prostituiertenkunden noch Gegenstand der Kriminologie sind — also einer Wissenschaft, die sich mit der Verursachung und Wirkungsweise solcher menschlicher Handlungen beschäftigt, die unter bestimmten Voraussetzungen als Straftaten angesehen werden —, während doch in sehr vielen Ländern die Prostitution nicht a limine, sondern nur die anstößige Art der fallweisen Ausübung verboten ist. Im Zentrum des zweiten Abschnittes steht dann der juristisch-administrative Aspekt. Es wird über Sinn, Zweck und Bedeutung überholter und noch geltender Gesetze und Verordnungen zu reden sein, die die Prostitution abschaffen oder ordnen und kanalisieren sollen.

Prostitution 1. Die Interdependem von Prostitution und Kriminalität Aus den bisherigen Darlegungen drängt sich die Schlußfolgerung auf: „Die Prostitution ist kein Verbrechen, die Dirne keine Verbrecherin". Schamlos und amoralisch ist das Verhalten der Prostituierten häufig einzig und allein bezüglich ihres Berufsgebarens. Ihre professional-personale Spannweite ist äußerst groß, so daß sie sich außerhalb ihrer Erwerbssphäre durchaus gehalten und gebunden fühlt von den in ihrem gesellschaftlichen Umkreis gültigen Moral- und Wertvorstellungen, die sich freilich bei genauerer Prüfung als korrumpierte Restbestände einer gut- oder kleinbürgerlichen Alltagsmoral erweisen. J a , es muß geradezu als ein spezifisch soziologisches Datum angesehen werden, daß das Wesen der Dirne in der einschlägigen Fachliteratur lange Zeit als bloßer Minus-Entwurf dargestellt und fast ausschließlich durch Negationen umschrieben wurde: Denn die Gesellschaft kann, ohne selbst Hand an ihr Ordnungsgefüge zu legen, auf keinen Fall zulassen, daß das von der sittlichen Norm Abweichende nicht als solches gekennzeichnet bleibt. Aber seitdem sich eine psychodynamische und soziologische Erkenntnisweise des Dirnentums und überhaupt ein spezifisch ideologiekritisches Denken Bahn gebrochen hat, ist hier doch ein spürbarer Wandel eingetreten ( - > Psychologie des Verbrechens). Mit der Feststellung, daß der Dirne als „outcast" kriminelle Neigungen vorschnell nachgesagt werden, ist allerdings nur die eine Seite eines komplizierten Phänomens markiert. „Huren, Lügner und Diebe sind Geschwisterkinder", lautet das dazugehörige deutsche Sprichwort. Unabhängig davon, daß sich die Puellen dem negativen Bild, das sich die Gesellschaft von ihnen macht, gewöhnlich annähern, tritt man dort, wo die Prostitution als „unehrliches Gewerbe" gilt, der Dirne mit tabuistisch-zwiespältigen Einstellungen gegenüber. Neben dem „Hurenschema", neben dem Motiv von dem lügnerischen, faulen, putzsüchtigen, gefährlichen und kriminellen, wohlfeilen käuflichen Weibe steht das unerschöpfliche Thema von der „ehrbaren Dirne", das von Sartre ebenso behandelt wurde wie vorher von Dostojewski und schon in der Bibel in der Gestalt der Hure Rahab seinen ersten Niederschlag fand (-ä- Kriminalroman). Unterhalb dieser Vorüberlegungen kann niemand übersehen, daß zwischen Prostitution und Kriminalität zumindest in unserem Kulturkreis ein merkwürdig inniges Beziehungsverhältnis besteht, so daß um die Prostitution herum das übelste Verbrechertum wuchert und die Dirne selber häufig jener „grauen W e l t " angehört, die die Zwischenzone bildet zwischen bürgerlicher Achtbarkeit und Lasterhaftigkeit oder Verbrechertum. An diesem Faktum kann nicht gerüttelt werden, auch wenn die Dunkel22 HdK, 2. Aufl., Bd. I I

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ziffer der Prostitution, d. h. die Zahl der Dirnen, die unerkannt ihrem heimlichen Gewerbe nachgehen, sehr hoch ist. Für das Zusammentreffen von Prostitution und Kriminalität legen der Vorstrafenkatalog der Dirnen und das üppig wuchernde Verbrechertum der Zuhälter beredtes Zeugnis ab. Bis in die jüngste Gegenwart hinein halten deshalb eine Anzahl von Kriminologen an einer Art „Kriminalitätstheorie" fest, die auf Lombrosos und Ferreros grundlegenden Ausführungen basiert und in dem Dirnenwesen die spezifisch weibliche Erscheinungsform des Verbrechens sieht. „Wo sie (d. h. die Prostituierte) nicht eigentlich Verbrechen begeht, liegt das daran, daß psychische Schwäche und spärliche Intelligenz ihr das erschweren, zumal sie in der Prostitution das Mittel hat, alle ihre Wünsche zu befriedigen", erläutert G. Schermer den Standpunkt der Kriminologen, die an Lombrosos Ansicht festhalten. Der Ursprung der Prostitution ist in einem schweren sittlichen Defekt, in der moral insanity des Weibes zu suchen. Während der sozial minderwertige und arbeitsscheue Mann vagabundiert, bettelt und Verbrechen gegen das Eigentum begeht, befaßt sich die Frau mit der käuflichen Liebe. — Diese Kriminalitätstheorie sieht noch fast völlig ab von der gleichgeschlechtlichen männlichen Prostitution und ist zudem einer ganz bestimmten, inzwischen überholten Auffassung von naturgegebenen anthropologischen und psychologischen Geschlechtsdifferenzen verpflichtet. Die „Verwahrlosungstheorie" dagegen meint, daß nicht Prostitution und Kriminalität korrespondieren, sondern Prostitution und Verwahrlosung. Die Dirne wird nicht mit dem „Lumpen", dem Verbrecher, sondern mit dem männlichen Typ des passiven, willensschwachen Asozialen gleichgestellt. I m Rahmen zunehmender Verwahrlosung kann auch der Weg zur gewerbsmäßigen Unzucht eingeschlagen werden. Diese psychologische und sozialgenetische Möglichkeit läßt sich heute paradoxerweise am überzeugendsten an Anamnesen von männlichen Prostituierten verdeutlichen. Vom Herumtreiber, vom „Bahnhofsb o y " und vom Penner führt eine gerade Linie bis zum homosexuellen Stricher. B e i einer solchen Genese spielt die Neigung der Prostituierten zum häufigen Ortswechsel eine vorrangige Rolle. Selbst dort, wo sie unangefochten leben und einträglich verdienen, vermögen die männlichen und weiblichen Dirnen keine Wurzeln zu fassen. Die „Konnexitätstheorie" sieht im Dirnenwesen ganz allgemein ein Bindeglied zum Verbrechertum. Diese Ansicht kann für sich ins Feld führen, daß der Strich gewöhnlich ein Rekrutendepot für zukünftige Kriminelle und ein relativ gefahrloses Übungsgelände für den verbrecherischen Nachwuchs darstellt. Aber darüber hinaus zeichnet sich diese Theorie durch eine schwammige Unprägnanz aus. Sie beantwortet nämlich gar nicht die eigentlich erst entscheidende Frage, ob die Prostitution nur

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ein Bindeglied zur „kleinen Kriminalität" (Diebstahl, Erpressung, Körperverletzung) darstellt oder ob sie schlechthin als eine „Brutstätte" des Verbrechens, also auch schwerer Delikte, anzusehen ist. Die „Ablenkungstheorie" behauptet, daß die Prostitution solchen Frauen ein Ausweichmanöver ermöglicht, die ansonsten in andere Virulenzen ausbrechen und straffällig würden. Kriminologisches Interesse kann danach die Prostitution gerade und nur deshalb beanspruchen, weil sie eine einleuchtende Erklärung für die geringe weibliche Kriminalität liefert, die nur ein Siebtel bis ein Viertel der Gesamtkriminalität ausmacht. Mit diesem Begründungsausweis für die Ausweichtheorie inkliniert der tiefenpsychologische Befund, daß viele Prostituierte von Kind auf keinen rechten inneren Bezug zu vertrauten Personen zu finden vermochten und daß sich daraus charakterologisch verheerende Folgen ergeben, die sowohl für späteres kriminelles als auch prostitutives Verhalten richtungsgebend zu sein vermögen. Diebinnen, so wird häufig argumentiert, die von frühester Jugend an zu stehlen gewöhnt seien, hörten sofort damit auf, wenn sie sich der Prostitution ergäben. Viele Mädchen, die zu Betrug und Unterschlagung greifen würden, um ihre Putzund Vergnügungssucht zu befriedigen, wenden sich sogleich der Gewerbsunzucht zu, wenn sie dadurch ihre Wünsche ausgiebiger, schneller und leichter zu befriedigen vermögen. Die Prostitution braucht also nicht nur Verbrechensursache zu sein, sondern in einigen seltenen Fällen erweist sie sich sogar als Verbrechensersatz. Neben einer durchweg verbrechenerzeugenden, kommt ihr ab und zu auch einmal eine verbrechenmindernde Bedeutung zu. Alle diese vier Theorien können — wenn auch in unterschiedlicher Weise — weder völlig bestätigt noch völlig widerlegt, noch gegeneinander ausgespielt werden. Jede kann sich auf ein paar gesicherte Tatbestände stützen; jede beleuchtet von ihrem Blickwinkel aus, wo, wann, wie stark und in welcher Weise sich Verbrechertum und Dirnenwesen tangieren oder miteinander verflechten. W. Bernsdorf erwähnt noch einen anderen, wenn auch nicht als Theorie benannten und so gemeinten Erklärungsversuch, der die Interdependenz von Prostitution und Kriminalität von einem neuen Standort aus zu erhellen vermag. Das verbrecherische Verhalten der Dirne wird als „Nachahmungshandlung und Weitergabe des erlittenen Drucks und der staatlichen Bedrohung" erklärt. Die Puelle nimmt ebenfalls eine Verfolgungshaltung ein. Die eigene Gefährdung — und das gilt nun wiederum vornehmlich für den Zuhälter und den Strichjungen — führt und verführt zur Hemmungs- und Rücksichtslosigkeit. Das Prostitutionsgewerbe bietet von sich aus ein breites Spektrum von Versuchungssituationen zu Vergehen und Verbrechen an, die auf einem anderen sozialen und soziologischen Hintergrund kaum

möglich wären. Es versetzt die an ihr Beteiligten in eine kriminogene Umwelt, veranlaßt sie zu einer kriminogenen Persönlichkeitsgestaltung. Die männlichen und weiblichen Dirnen und die Zuhälter stellen deshalb eine durch ihre spezialisierte kriminelle Begehensform verhältnismäßig einheitliche Gruppe dar. Ihre Straftaten sind größtenteils mit einer „culture conflict theory" leicht zu erklären. Das fängt an mit dem relativ harmlosen Beischlafdiebstahl, dem heimlichen Griff in die Brief- oder Hosentasche des nichtsahnenden Reflektanten, dem es später aus verschiedenen Gründen nicht ratsam erscheint, juristisch gegen Dieb oder Diebin vorzugehen. Und es hört auf mit dem in überdurchschnittlicher Häufigkeit sich ereignenden Raub- oder Lustmord an einer Prostituierten. G. Schermer begründet seine These, daß die Dirnen auch weiterhin Gegenstand der Kriminologie sein werden, mit dem Hinweis auf seine Untersuchung und Befragung von 50 Prostituierten. Auf jede der Dirnen kam eine durchschnittliche Freiheitsstrafe von ungefähr einem Jahr, und zwar hauptsächlich für folgende Delikte: Hausfriedensbruch, Diebstahl, Aufforderung zur Unzucht, Unterschlagung, Landstreicherei usw. Auf 50 Zuhälter, deren Kriminalität erheblich stärker und reichhaltiger war, entfielen durchschnittlich 2 2 / 3 Jahre Freiheitsentzug. Die Reihenfolge der bevorzugten Delikte stimmt in etwa mit der der Dirnen überein. — Zu den wenigen Fachleuten, die epragiert gegen die „lapidare Feststellung" von einer „regelmäßigen Gemeingefährlichkeit oder Gewalttätigkeit" der Zuhälter polemisieren, zählt A. Mergen, wenn er das Zuhältertum von der Verwahrlosungstheorie her deutet und dabei die „Nichtangepaßtheit an die bestehenden sozialen Verhältnisse" akzentuiert. J.Jersild, der in einer Studie über „Boy Prostitution" viel Gewicht auf die Beziehungen zwischen männlicher Prostitution und Kriminalität legt, zeigt schlüssig auf, wie die männlichen Dirnen insbesondere zu Vermögens- und Gewaltvergehen neigen. Das ganze Strichjungen-Freier-Verhältnis ist durchzogen von der Furcht vor Erpressungen. Der Kunde wird bedroht, daß von seinem gleichgeschlechtlichen Umgang etwas ruchbar wird: Die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung und strafrechtlicher Verfolgung bewegt ihn, die geforderte Geldsumme zu bezahlen. Dieser Erpressungsvorgang kann sich natürlich wiederholen. Daß sich hierbei Tragödien abspielen, Menschen finanziell ruiniert, ja sogar zum Selbstmord getrieben werden, ist oft das einzige, was einer breiten Öffentlichkeit von der homosexuellen Prostitution bekannt ist. Der Gesetzgeber trägt diesem Umstand Rechnung, wenn gemäß § 154b StPO bei einem leichten Fall homosexuellen Verkehrs zwischen Männern die Staatsanwaltschaft von einer Anklage gemäß § 175 StGB gegenüber dem Erpreßten Abstand nehmen und sich ausschließlich an den

Prostitution niederträchtigen Erpresser halten kann. Eine üble erpresserische Praktik auf dem weiblichen Strich erfolgt durch das plötzliche Auftreten eines „Trappers", der eine Schwangerschaft vortäuschende Dirne begleitet, um vom (angeblichen) Schwängerer eine Abfindungssumme zu erpressen. Ahnlich ist das Vorgehen der „entoleuse", die sich in flagranti vom angeblichen Bruder oder Ehemann erwischen läßt, der daraufhin vom Beischläfer eine erpresserisch hohe Entschädigungssumme fordert. 2. Die Maßnahmen zur Bekämpfung oder Kanalisierung der Prostitution Der ständige Wandel, dem die Prostitution bezüglich ihrer Ursachen und Erscheinungen unterworfen ist, läßt sich deutlich an der verschiedenen Regelung des Dirnenwesens im Laufe der Geschichte ablesen. Sowohl auf verwaltungs- als auch auf strafrechtlichem Gebiet sind hier die Unterschiede frappierend. Fast ausnahmslos wurde und wird dabei von Gegnern wie von Verteidigern des vorhandenen Dirnenwesens ein allgemein verpflichtendes Sittengesetz vorausgesetzt. Doch fehlt weitgehend die Übereinstimmung darüber, was als sittlich verpflichtende Norm anzuerkennen ist bzw. ob und bejahendenfalls wie das Sittengesetz das prostitutive Verhalten beurteilt. Die Skala der einander widersprechenden Maßnahmen, die immer wieder von neuem gegenüber der käuflichen Liebe durchdekliniert wurden, reicht von der gelegentlichen stichprobenweisen Überwachung bis zur strengsten Kontrolle, von der Kasernierung bis zur schrankenlosen Duldung. Und dahinter stehen Traditionen, prinzipielle Überzeugungen und Stimmungen von der Strafwürdigkeit der Prostitution im allgemeinen und im kasuistisch gelagerten Einzelfall. Am deutlichsten wird dieser Sachverhalt anhand eines knappen rechtsgeschichtlichen Überblicks. Der sakralen Prostitution des Altertums haftete kein Makel an. Weil sie im Dienste der Gottheit geschah, etablierte sie sich als beschränkte, gelenkte und priesterlich überwachte Prostitution, die eng mit dem religiös-kultischen Brauchtum verbunden war. Daneben ergab sich schon bald in Babylonien und Ägypten die Notwendigkeit, die mit der Sakralprostitution von Anfang an verzahnte profane Gewerbsunzucht gesetzlich zu regeln. Die erste administrative Maßnahme, über die eine genauere Überlieferung vorhanden ist, stammt von Solon. Er schuf ζ. B. für den erwachsenen weiblichen Bevölkerungsanteil zwei verschiedene Aufsichtsbehörden: Die Gynäkonomen übten die Kontrolle über alle anständigen und ehrbaren Frauen aus; die Pädonomen fungierten als eine Art Sittenpolizei für die Prostituierten. Diese Regelung wurde von Rom teils kopiert. Die Dirne, die man kurz und bündig als „meretrix", Verdienerin („quae corpore meret") bezeichnete, wurde der Kontrolle durch die Ädilen unterstellt. 22·

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Das römische Recht mit seiner ausgeprägten Systematik kannte relativ früh die Registrierung der Puellen, wenn diese die „licentia stupri", die Erlaubnis zur Ausübung der öffentlichen Unzucht, erhalten wollten. Ehebrecherinnen konnten aufgrund eines Gesetzes, das erst vom Kaiser Theodosius abgeschafft wurde, zu lebenslänglicher Einsperrung ins Lupanar verurteilt werden. Sie waren damit den dort sich prostituierenden Sklavinnen rechtlich gleichgestellt. Während der Christenverfolgungen wurden verschiedentlich auch christliche Frauen und Mädchen zur öffentlichen Unzucht verurteilt. Schon das römische Recht führte die grundsätzliche Unterscheidung zwischen öffentlicher und geheimer Prostitution durch, und es unterschied die Dirne, die mulier quaestuaria, streng von anderen Frauen, die sich dem freien Geschlechtsleben ergaben. Der römische Rechtsgelehrte Ulpian trat überdies für die sublime Differenzierung ein, wonach eine Frau, die sich zwar gegen Geld, aber nur einem oder wenigen Männern körperlich preisgibt, noch keine Dirne, sondern eine Konkubine ist. Die lateinische Sprache prägte eine umfangreiche Anzahl von Spezialbenennungen für verschiedene Prostituiertengruppen, die in ihren bürgerlichen Rechten um so mehr beschnitten wurden, je größer ihre sexuelle Freiheit und Freizügigkeit war. Alle Prostituierten und Ehebrecherinnen gehörten ζ. Z. des Augustus, der seine eigene Tochter Julia wegen ihres dirnenartigen Lebenswandels verbannen ließ, zur dritten, d. h. zur niedrigsten Klasse der Frauen. Sie durften sich ungestraft im Rahmen der für sie gültigen behördlichen Regulative einem unsittlichen Lebenswandel hingeben. Da die Mehrzahl der Puellen dem Sklavenstand angehörte, erwies sich dieser freie Bewegungsraum meist als sehr eng; denn die Sklavinnen durften gegen eine Kaufsumme von ihren Besitzern als privates oder vermietbares Objekt beliebig weitergegeben werden. Daneben gab es eine Anzahl von „freien Mädchen", die vertraglich an einen Hurenhalter gebunden und oft schon von Kind auf — und meistens mit Wissen und Wollen ihres Vaters bzw. ihrer Eltern— zum Hurendasein erzogen und abgerichtet wurden. Den Frauen der mittleren Klasse, die sich nicht prostituieren durften, aber auch nicht vollgültige Ehefrauen — sondern höchstens Konkubinen I — von Staatsbeamten höherer Geburt werden konnten, stand allerdings die Möglichkeit offen, sich von den Ädilen in die niedrigste Klasse einschreiben zu lassen, wenn sie sich in irgendeiner Weise der gewerblichen Unzucht zuwenden wollten. — Dieses ganze Geflecht von juristischen und administrativen Bestimmungen fand sein Ende, als die Kaiser Theodosius, Honorius und Arcadius grundsätzlich jegliche Prostitution verbieten wollten. Justinian drohte 541 sogar für die männliche Prostitution die Todesstrafe an. Der sittenreformierende Einfluß des Christentums und die

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Angst, daß das Überhandnehmen der Prostitution eine Schwächung der Kampfkraft ihres Heeraufgebotes herbeiführe, bewirkte, daß einige der jungen missionierten Völker ebenfalls ihre Zuflucht zu rigorosen prostitutionsfeindlichen Gesetzen nahmen, wie wir sie ζ. B. in den Leges Visigothorum oder in einer Kapitulare Karls des Großen aus dem Jahre 805 vorfinden. Die Dirnen durften sich in der Bannmeile der kaiserlichen Kesidenz nicht erblicken lassen: „Wer einer Prostituierten heimlich Unterkunft gewährt hatte und dabei entdeckt wurde, mußte den Schandweg zum Marktplatz antreten mit der Prostituierten auf seinen Schultern, und dort erwartete dann die beiden die Auspeitschung vor der versammelten Menge". Auch bei anderen germanischen Stämmen wurden Lohnhurerei und Kuppelei mit schweren Strafen belegt, manchmal mit Kastration, Feuertod oder Versenkung im Sumpf. Doch sind gerade die Todesstrafen keine eigentlich staatlichen Strafen gewesen, sondern Menschenopfer, die zur Versöhnung der erzürnten Götter dienten. Andere germanische Stämme, die ebenfalls noch keine staatliche Judikatur kennen konnten, behalfen sich mit Strafen im Kähmen der hausväterlichen Zucht, wenn ein Familienmitglied durch sein prostitutives Verhalten gegen die geltende Sittenordnung verstoßen hatte. Der rhythmische Ablauf in der Einstellung zur Prostitution, wie ihn zuerst L. v.Wiese herausgearbeitet hat, d. h. die gleiche Abfolge von widerwilliger Institutionalisierung oder Duldung als Ventilsitte bis zur systematischen Unterdrükkung und Bekämpfung, wiederholt sich im Abendland insofern, als sich bald nach einem Tiefpunkt im frühen Mittelalter das Dirnenwesen wieder erholte und sich ziemlich unbehelligt auf den städtischen Jahrmärkten zeigte. P. Hesse spricht vom „halbamtlichen Charakter" der Prostitution im Mittelalter. Die scharfen Reaktionen der Behörden ließen nach und wurden allmählich durch ein umfangreiches Kontrollsystem ersetzt, über das in den Städten die Gewaltboten und -meister, eine Art Sittenpolizei, zu wachen hatten. Im 12. Jahrhundert haben besonders der englische Herrscher Heinrich I I . und die neapolitanischen Könige Roger I I . und Wilhelm I. die Prostitution gesetzlich zu regeln versucht, wobei die Kontrolle des Staates sich weit deutlicher bemerkbar machte als jemals zuvor in der Antike. Anfang des 13. Jahrhunderts gab es bereits in Frankreich eine zentrale Instanz, die als oberstes Schiedsgericht in allen Prostitutionsangelegenheiten angerufen werden konnte. Ein gegenläufiges Intermezzo ereignete sich unter dem französischen König Ludwig I X . , dem Heiligen, als dieser 1254 den Versuch unternahm, die Prostitution mit der Strenge des Gesetzes und der Schärfe des Schwertes auszurotten. Vom 13. bis 15. Jahrhundert blühte das städtische Bordellwesen auf und wurde mitunter sogar behördlicherseits gefördert, obwohl sich in den Stadt-

rechten auch Bestimmungen gegen das Dirnenwesen vorfinden, die sich meistens jedoch nicht gegen die meretrices publicae, sondern gegen die meretrices privatae richteten. Anfang und Ende dieser Periode können durch einige kennzeichnende juristische und administrative Maßnahmen und kirchliche Verlautbarungen markiert werden: Während Rudolf von Habsburg den Dirnen 1278 das Klagerecht einräumte und damit deren rechtlosen Zustand beendete, während Papst Paul I I (1464—1471) sich zum Beschützer der Prostituierten gegen Ausnützung und Gewalttätigkeit aufwarf und während noch Papst Klemens V I I I (1523—1534) in die Fußstapfen seines Vorgängers Sixtus IV. (1471—1484) trat, indem er nichts Entscheidendes gegen die Gewerbsunzucht unternahm, aber die Hälfte des Dirnenlohnes einem Kloster zugeführt wissen wollte, erfolgte ab ungefähr 1530 eine Reihe radikaler Gegenmaßnahmen: Die Prostitution wurde als kriminelles Delikt eingestuft; die Unterhaltung von Frauenhäusern wurde untersagt, und die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548, 1577 stellten sogar jeden Sexualverkehr unter Strafe. Auch in Paris wurde 1560 das Bordellsystem offiziell aufgehoben. In fast ganz Europa wurden Mädchen und Frauen, die sich prostituierten, mit Stadt und Landesverweisung oder sogar mit der Hinrichtung, ganz bestimmt aber mit der umfangreichen Skala der damals üblichen Körper- und Ehrenstrafen — also sowohl mit dem Prangerstehen, dem Fahren am „Hurenkarren" und dem Anziehen eines farbigen Kleides als auch mit dem Abhauen des Eidfingers, der Rutenauspeitschung, der Brandmarkung und dem Abschneiden von Nasen und Ohren — bedroht. Wer die „Bübinnen" „hauste" und „hegte", wer sich als Kuppler betätigte, hatte mit Ähnlichem zu rechnen, in schweren Fällen sogar mit der Todesstrafe. Zum dritten Male beginnt im 16. und 17. Jahrhundert der Kreislauf von stillschweigender oder offener, gesundheitlich beaufsichtigter Tolerierung der Prostitution bis zum erneuten mehr oder minder energischen behördlichen Einschreiten. Ausgangspunkt war diesmal die „freie" Prostitution, die in der Renaissance bereits das Bordellwesen zu verdrängen suchte. Zuletzt war es auch wieder die Bordellprostitution, an der man mit Drohen und Strafen herumlaborierte. Dieses Stadium wird durch das Aufkommen und die Ausprägung der liberalen Ideologie beendet, die von der Freiheit des Individuums auf allen Gebieten schlechthin alles erwartet und deshalb darauf drängte, die Dirnen aus der Reglementierung zu entlassen und gegen die Prostitution nicht straf- oder verwaltungsrechtlich vorzugehen. Das Prinzip des Reglementarismus bot sich für eine geraume Zeit als wirksamstes Mittel an, um durch eine Zusammenfassung der Dirnen in sanitär überwachten Bordellen die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten, denen man noch

Prostitution ziemlich machtlos gegenüberstand, einzudämmen. Um 1700 wurde schon in Berlin gefordert, daß ein amtlicher Arzt die Puellen alle zwei Wochen zu untersuchen habe. In vielen Ländern schaltete man die Polizei in die Kontrolle und Verwaltung des Prostitutionswesens ein. Das schien nicht nur die öffentliche Moral zu verlangen, und auf diese Weise wollte man nicht nur die öffentlichen Ärgernisse verhüten, sondern auch das von der Prostitution ausgehende Verbrechertum sollte dadurch eingeschränkt werden. Neben dem Bordellwesen, dem gegenüber die reine Straßenprostitution vor 1914 in Deutschland eine recht unwesentliche Rolle spielte, ist es besonders das bereits erwähnte „Bremer System", das den Erfordernissen des reglementaristischen Prinzips gerecht zu werden vermag. In der dortigen Helenenstraße, einer gegen den Fahrzeugverkehr abgeschlossenen „Kontrollstraße", gibt es keine Betriebsinhaber. Die Dirnen wohnen zwar zusammen, aber sie bleiben selbständige Unternehmerinnen und müssen sich nur — wie alle „Kontrollfrauen" der ambulanten Straßenprostitution—einer sanitären Überwachung unterstellen. — Als Modifikation des klassischen Bordellwesens gelten auch die Kasernierung in bestimmten Stadtteilen und die sog. Dirnenquartiere. Mit dem Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches vom 15. Mai 1871, das eine für das ganze Bismarck-Deutschland gültige rechtliche Regelung der Prostitutionsfrage mit sich brachte, wurde der Reglementarismus bedenklich. Die Kuppeleibestimmung des §180 Abs. 2 des StGB verbietet nämlich die Unterhaltung eines Bordells oder bordellartigen Betriebes, d. h. eines solchen Unternehmens, das zwar nicht die wirtschaftliche Abhängigkeit der Dirnen vom Inhaber voraussetzt, wohl aber Einrichtungen besitzt, die auf einen bordellartigen Gesamtbetrieb schließen lassen. Man suchte behördlicherseits nach einem Ausweg, indem man die Prostituierten zur freiwilligen Kasernierung veranlaßte, was wiederum von Gegnern eines solchen Verfahrens als „amtliche Kuppelei" gebrandmarkt wurde. Dieser Gegensatz zum Reglementarismus, der seinen Niederschlag in der abolitionistischen Bewegung fand, stützt sich auf eine teils recht überzeugende Argumentationskette: 1. Der Reglementarismus ist ungeeignet, ernsthafte Schäden sittlicher Art, die Ausbreitung des Dirnenwesens oder auch nur der Geschlechtskrankheiten zu verhindern; denn erfahrungsgemäß werden nur zehn bis zwanzig Prozent der Prostituierten dadurch erfaßt. Dem Rest gelingt es, sich auch weiterhin der behördlichen Kontrolle zu entziehen. 2. Überhaupt reizt die Bordellierung nicht zur Verminderung, sondern vice versa zur Vermehrung der Prostitution; sie wird praktisch als Sanktionierung und Konzessionierung des Dirnenwesens durch den Staat —• der dadurch in die dubiose Rolle eines „gran Galeotto" gerät — verstanden, da ja von

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den Behörden eine occasio proxima zur Ausübung der Gewerbsunzucht gewährt wird. 3. Der Reglementarismus, der die primäre Wertgleichheit der Geschlechter mißachtet, indem er einseitig die Dirne erfaßt, deren männliche Klientel jedoch unbehelligt läßt, birgt überdies die Gefahr in sich, daß eine Prostituierte endgültig abgleitet und als Dirne gebrandmarkt bleibt und deshalb nicht mehr den Weg der Resozialisierung zum normalen bürgerlichen Lebenswandel zurückfindet. 4. Die Bordelle bilden Anziehungspunkte für gefährdete Personen und lichtscheues Gesindel. Die Abolitionisten fordern die Abschaffung aller Verordnungen und Gesetze, die die käufliche Liebe anerkennen oder konzessionieren. Die Gewerbsunzucht stellt für sie ein soziales, humanitäres und ethisches Problem dar, das unabhängig von allen Nützlichkeitserwägungen oder von der Frage der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten gelöst werden müsse. Der abolitionistische Protest stützt sich nicht allein auf das demokratische und individualistische Denken, sondern auch auf die unbestreitbare Verantwortung der Gesellschaft gegenüber den gestrauchelten Dirnen. Dem Dirnenwesen soll freier Lauf gelassen werden; die Prostituierten sollen dadurch stillschweigend eine Art „Gewerbefreiheit" zugestanden bekommen. Freie und freiwillige Behandlung in Polikliniken und Krankenhäusern müsse ihnen ermöglicht werden. Schutz der Jugend, Aufklärung und sexualpädagogische Erziehung sollen in den Vordergrund gerückt werden, dazu die Bekämpfung von Schundliteratur und -filmen und von zweideutigen Schlagertexten. Die Schaffung geeigneter Heime, die Behebung des Wohnungselends und eine reibungslos funktionierende Arbeitsvermittlung könnten das Gros der Prostituierten von der gewerblichen Unzucht abhalten. Wenn die übrigen Puellen — so wird argumentiert — von der entehrenden Bordellüberwachung grundsätzlich befreit sind, steht ihnen zumindest der Aufstieg zum höheren Hetärentum offen. Die „Dirne" muß verschwinden, der „Mensch" muß wieder erwachen. Die prostituierte Frau muß wieder zugelassen werden zur sozialen Gemeinschaft. Für die Abschaffung der Bordelle verwandten sich u. a. die Kaiserin Auguste Viktoria und später, nach dem Ersten Weltkrieg, die Frauenrechtlerin A. Pappritz. Das Ziel des Abolitionismus, die Prostituierten von möglichst allen Vorschriften, Registrierungen und Überwachungen zu befreien, gelangte in Deutschland 1927 zum Erfolg, wo es seither keine polizeiliche Reglementierung der Prostitution, sondern nur noch eine Registrierung beim Gesundheitsamt und eine medizinische Überwachung aller Personen mit „häufig wechselndem Geschlechtsverkehr" gibt. Die Gewerbsunzucht wird ausschließlich mittelbar bekämpft; denn das Geschlechtskrankheitengesetz vom 17. Februar 1927 (RGBl. 1/61), das inzwischen in der Bundesrepublik durch

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ein Gesetz vom 23. Juli 1953 abgelöst wurde, brachte in § 16 durch Neufassung des § 361 Nr. 6 StGB die grundsätzliche Straflosigkeit der Prostitution. Allerdings enthält der § 361 in der Nummer 6 (a—c) eine Anzahl von Einschränkungen: Es ist verboten, in auffälliger Weise, die geeignet ist, Einzelne oder die Allgemeinheit zu belästigen, zur Unzucht aufzufordern oder sich anzubieten; die Dirnen dürfen sich nicht in Gemeinden unter 20000 Einwohnern und nicht in der Nähe von Kirchen und Schulen prostituieren, ebenfalls nicht in Wohnungen, in denen Kinder oder Jugendliche im Alter zwischen drei und achtzehn Jahren wohnen. Bei strenger Auslegung wäre ζ. B. schon das Auf- und Abgehen der Puellen an bestimmten Straßenstellen ein auffälliges Sich-Erbieten zur Unzucht, ohne daß Straßenpassanten angesprochen zu werden brauchen. Es genügt, wenn die prostitutive Werbung ihrer Art nach geeignet ist, im Straßenverkehr aufzufallen. Aber der Rahmen der Tolerierung der Gewerbsunzucht, den die Gesetzgebung zuläßt, wird oft erheblich überschritten, zumal wenn die öffentliche Meinung gar nicht geeignet ist, von sich aus ihre Stimme gegen die Auswüchse prostitutiven Treibens zu erheben. Neben den Gesetzen, die im Paragraph 361 zusammengefaßt sind, gibt es noch einige andere Möglichkeiten, um die gewerbsmäßige Unzucht mittel- oder unmittelbar an ihrer uneingeschränkten Entfaltung zu hindern. Dazu zählt der § 183 StGB, der sich gegen die Erregung öffentlichen Ärgernisses durch unzüchtige Handlungen wendet. Auch hier ist die Auslegung des Begriffes der „Öffentlichkeit" entscheidend. Es fragt sich, ob letztere schon dann gegeben ist, wenn die Handlung nach den örtlichen Verhältnissen von einer mehr oder minder großen Anzahl von Personen wahrgenommen werden kann, ohne daß viele Leute zugegen sein müssen, ob es also schon genügt, wenn sie potentialiter anwesend sein könnten. Der schon genannte, das Kupplertum betreffende § 180 richtet sich nicht direkt gegen die Prostituierten selber, sondern gegen deren Nutznießer und Ausbeuter, die allerdings meistens nur sehr schwer belangt werden können. Die außerordentlich hohen Freispruchziffern deuten die Schwierigkeiten der Beweislage an. — Es gilt beispielsweise noch nicht als Kuppelei, wenn ein Hauswirt oder Wohnungsinhaber Räume oder Wohnungen an Frauen vermietet, von denen bekannt ist, daß sie gegen Entgelt häufig wechselnde Liebhaber mit in das Zimmer bringen — es sei denn, daß die Dirnen einen unangemessen hohen Mietzins zu zahlen haben, dessen Höhe auf dem Umstand beruht, daß sie die gemieteten Räume zur Erwerbsunzucht gebrauchen. Eine unangemessene Ausbeutung liegt aber nicht schon dann vor, wenn der Mietzins über dem üblichen Satz liegt, weil ja andererseits das Haus in Verruf gerät und deshalb für das normale Ver-

mieten beeinträchtigt wird. Abgesehen davon gibt es heute eine große Anzahl von Stundenhotels und Vermietungen etwa in der Nähe von Truppenübungsplätzen, die den Charakter von bordellartigen Betrieben annehmen, ohne daß dieser Tatbestand ohne weiteres nachweisbar ist. So taucht immer wieder die irrige Meinung auf, daß es in Deutschland doch noch so etwas gebe wie eine konzessionierte gewerbliche Unzucht. Das Zuhältertum soll durch den § 181a, der nach einem Berliner Unterweltler benannten „lex Heintze", getroffen werden. Die Zuhälterei schließlich, bezüglich ihrer Tatbestandsmerkmale zumindest in rechtlicher Hinsicht eines der am schwierigsten zu erfassenden Delikte, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bedroht. Zu erwähnen wäre außerdem noch die nach § 42 StGB mögliche Unterbringung in einem Arbeitshaus, die angeordnet werden kann, wenn es erforderlich erscheint, auf diese Weise eine Person zur Arbeit anzuhalten und an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen. Diese Maßnahme wird natürlich von den Betroffenen besonders gefürchtet. Von dieser Möglichkeit, Prostituierte zu Arbeitshaus zu verurteilen, wird heute in Westdeutschland viel weniger Gebrauch gemacht als in Mitteldeutschland. Dort wird die Lohnhurerei im Sinne des marxistischen Rechtsdenkens als verwerflicher Ausdruck eines gesellschaftsschädigenden Verhaltens eingestuft, wenn sie in einem Lande erfolgt, das sich dem Aufbau des Sozialismus zugewendet habe. Alle diese gesetzlichen Strafbestimmungen und Verordnungen reichen für die heutigen Verhältnisse nicht aus, so daß neue grundsätzliche Vorschläge in den Entwurf eines zukünftigen Strafgesetzbuches aufgenommen werden sollen. Gegenwärtig ist beispielsweise die Wahrscheinlichkeit gering, daß eine Dirne gegen ihren Willen zum Unzuchtsgewerbe gezwungen oder ausgebeutet wird. Auch sind durchschnittlich nur noch 1 bis 1,5% der Puellen geschlechtskrank. Schier unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet dagegen die Überwachung der heimlichen Prostituierten. Relativ unberührt von der jahrhundertelangen Auseinandersetzung um Verbot, Reglementierung oder Freigabe der käuflichen Liebe zwischen Mann und Frau blieben die gesetzlichen Veränderungen auf dem Gebiet des homosexuellen Strichs. Hier hing alles ab von der Einstellung zur gleichgeschlechtlichen Erotik im prinzipiellen Sinne. Im allgemeinen machten die Gesetze schon früh einen deutlichen Unterschied zwischen der sexuellen Beziehung zweier Frauen und der zweier Männer. Die Hettiter ζ. B. bestraften streng die männliche Homosexualität, erachteten dagegen die lesbische Liebe nicht als strafwürdig. Nur wenige Länder — wie Österreich und Finnland — bestrafen heute die weibliche homosexuelle Betätigung; aber in zahlreichen Kulturstaaten wird immer noch der gleichgeschlechtliche männliche Verkehr krimina-

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Prostitution lisiert. Der Islam gestattet homosexuelle Betätigung zwischen unverheirateten männlichen Erwachsenen. F. Bauer weist darauf hin, daß in bereits 15 Staaten des nichtkommunistischen Europa die Strafbarkeit der Homosexualität auf den Jugendschutz beschränkt ist, während nur noch in vier Ländern der mannmännliche Verkehr unbegrenzt strafbar ist. Natürlich dürfen sich alle diese straffreien gleichgeschlechtlichen Beziehungen nicht außerhalb der privaten Sphäre abspielen. Wenn aber die homosexuellen Betätigungen zwischen Männern (und Frauen) nicht unter Strafe stehen, dann bedeutet das meistens eo ipso auch eine Gleichstellung der mannmännlichen (und weibweiblichen) mit der weibmännlichen Prostitution. Monographien F . A d l e r : A house Is not a home. New York 1Θ53. A u g u s t i n : B e Ordine. Lib. I I , cap. I V . G. B a r t s c h : Prostitution, Kuppelei, Zuhälterei. Hamburg 1956. W. B a u e r : Geschichte und Wesen der Prostitution. 2. Aufl. Hamburg 1059. W. B e c k : Grundzüge der Sozialpsychologie. München 19S3. R . F . B e h r e n d t : Der Mensch im Licht der Soziologie. Stuttgart 1962. I . B l o c h : Das Sexualleben unserer Zelt. 7. bis 9. Aufl. Berlin 1909. I . B l o c h : Die Prostitution. 2. Berlin 1912 u. 1925. C. v a n B o l e n : Geschichte der Erotik. Wien 1951. S. B o r e l l i u. W. S t a r c k : Die Prostitution als psychologisches Problem. Berlin—Göttingen—Heidelberg 1967. J . B ü h l e r : Die Kultur der Antike. Kröner 1888. 2. Aufl. 1957. F . S. C a p r i o : Die Homosexualität der Frau. RüschllkonZürich 1958. € . C o l m e i r o - L a f a r e t : Die Sexualität der Frau. Stuttgart I960. Έ. A. D u c h e s n e : De la prostitution dans la Tille d'Alger depuis la conqugte. Paris 1853. P . D u f o u r : Die Geschichte der Prostitution. 7. Aufl. Berlin 1926. F . E x n e r : Kriminologie. 3. Aufl. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1949. A. F l e x n e r : Die Prostitution in Europa. Berlin 1921. F r a n c e s c h i n i : Vita sessuale Mailand 1944. E . F r i e d e l l : Kulturgeschichte der Neuzeit. München 1959. Th. G e i g e r : Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel. Köln 1949. H. G r e e n w a l d : Das C-Girl. Zürlch/Stuttgart/Wien 1969. A. J . G r o B - H o f f i n g e r : Die Schicksale der Frauen und die Prostitution. Leipzig 1847. J . J e r s i l d : Boy Prostitution. Kopenhagen 1956. E . K e r n : Kindheitserlebnis und Prostitution. Sexualnot und Sexualreform. Wien 1931. A. K i n s e y , W. P o m e r o y , C. E . M a r t i n : Das sexuelle Verhalten des Mannes. Berlin/Frankfurt a. M. 1955. R . K ö n i g : Materialien zur Soziologie der Familie. Bern 1946. Sh. U. L a w t o n und J . A r c h e r : Das sexuelle Verhalten der Jugendlichen. Bonn 1952. K . L e o n h a r d : Instinkte und Urinstinkte in der menschlichen Sexualität. Stuttgart 1964. H. L i c h t : Sittengeschichte Griechenlands. 2. u. 1. Erg. Bd. Dresden/Zürich 1926/1926. H. L i p p e r t : Die Prostitution in Hamburg in ihren eigentümlichen Verhältnissen. Hamburg 1848. C. L o m b r o s o : Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte. Hamburg 1894. (Übersetzung). M. M e a d : Sex and Temperament in three primitive socleties. New York 1936.

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und

Sammelwerkaufsätze

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Psychiatrie

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PSYCHIATRIE (Psychopathologie, Begutachtung) A. Kriminologie — Psychiatrie — Strafrecht Die Forensische Psychiatrie h a t es mit psychischen Krankheiten, Störungen oder Behinderungen unter dem besonderen Aspekt ihrer t a t sächlichen oder möglichen Auswirkung in den verschiedenen Bereichen der Rechtsordnung — Kriminalrecht, Zivilrecht, Sozialrecht, Jugendrecht — zu t u n . Der psychiatrische Sachverständige kann u n d darf sich aber nicht auf die ihm aus der Klinik geläufige Diagnostik beschränken. E r m u ß sich zu jeweils bestimmten, rechtlich relevanten „Fähigkeiten" äußern: Schuldfähigkeit, Geschäftsfähigkeit, Erwerbsfähigkeit etc. Es geht also um die Feststellung, ob diese bei einem „normalen" Staatsbürger von der Rechtsordnung als gegeben unterstellten Fähigkeiten irgendwie beeinträchtigt oder gar aufgehoben sind, und wenn dem so ist, folgen Fragen nach Art und Grad der Beeinträchtigung u n d nach

ihren Ursachen. In einem weiteren Sinne handelt es sich f ü r den psychiatrisch-psychologischen Sachverständigen stets u m die besondere Stellung einer von der gedachten Durchschnittsnorm des Staatsbürgers irgendwie abweichenden Persönlichkeitsstruktur gegenüber einer bestimmten Rechtsnorm oder einem konkreten Rechtsanspruch. Die Kriminologie als Wissenschaft vom Verbrechen überschneidet sich n u r in einem Teilbereich mit der Forensischen Psychiatrie: bei der Frage nach den Ursachen einer kriminellen Handlung, soweit sie in der Persönlichkeit des Täters und in seinem Verhältnis zur Umwelt zu suchen sind. Der psychiatrische Sachverständige im Strafprozeß braucht die Kriminologie als Basiswissenschaft. Zur Kriminalbiologie, -psychologie und -Soziologie, zur Kriminalpädagogik u n d zur Pönologie, zur Viktimologie kann die Psychiatrie als Wissenschaft selbst wichtige Beiträge liefern. Der Psychiater als Gutachter sollte aber — und heute mehr als früher — über Grundkenntnisse im Strafrecht und Strafprozeßrecht, in der Kriminalistik und in der Krimmalpolitik verfügen, wenn er seinem Auftrag gerecht werden will. Das Phänomen der Kriminalität h a t nun einmal juristische und nichtjuristische Aspekte. Die Bedeutung der nichtjuristischen Betrachtungsweise, die Andersartigkeit und die Selbständigkeit der Kriminologie gegenüber dem Strafrecht wurden — u n d nicht nur in unserem Lande — allzulange verkannt. Hinsichtlich der kriminalpolitischen Erfolge haben sich allerdings diese beiden Betrachtungsweisen nicht viel vorzuwerfen. Die überspannten Erwartungen u n d Versprechungen verschiedener Versionen empirischer Kriminologie — Psychiatrie, Psychologie u n d nicht zuletzt Soziologie — haben sich in nur bescheidenem Maße erfüllt und sind einer nüchterneren Einstellung gewichen. Der amerikanische Strafrechtler Jerome Hall h a t auf der Jahrestagung der „American Psychiatric Association" 1966 über die Berechtigung oder die Gültigkeit der „ E h e " zwischen Kriminologie u n d Psychiatrie gesprochen, wobei er Kriminologie in jenem weiteren Sinne versteht, der die gesamte strafrechtliche Behandlung des Verbrechens und der Verbrecher einbezieht. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen formulierte Hall mit unübersehbarem Akzent: „A point is reached where a choice must he made between government by law and government by experts". Man könnte auch etwa so fragen: Was h a t die empirische Kriminologie an gesicherten Erkenntnissen anzubieten, um bestimmte Normen der Rechtsordnung erfahrungswissenschaftlich zu bestätigen oder zu widerlegen u n d damit vielleicht die Zahl „ n u r " normativ begründeter Verhaltensregeln, Vorschriften und Verbote zu reduzieren? Es geht letzten Endes darum, ob unser heutiges

Psychiatrie Wissen vom Menschen, insbesondere von seinen abnormen, dissozialen oder kriminellen Verhaltensweisen, einem auf das Prinzip von Schuld und Verantwortung gegründeten Strafrecht den wissenschaftlichen Boden entzogen hat oder nicht. Hinter derartigen Überlegungen findet man nicht selten eine Verkennung von Aufgabe und Reichweite einerseits der normativen Wissenschaften, andererseits der empirischen Wissenschaften bei der Regelung von zwischenmenschlichen Beziehungen im Rahmen einer Gemeinschaftsordnung. Schwierigkeiten und Insuffizienzen ergeben sich immer dann, wenn der Normwissenschaftler Ergebnisse der empirischen Wissenschaften nicht kennt oder ignoriert und umgekehrt, wenn der Erfahrungswissenschaftler Ergebnisse seiner Forschung in ihrer generellen Tragweite wie in ihrer realen Bedeutung für die Rechtsordnung überschätzt und zu Postulaten für eine „grundsätzliche" Reform erhebt. Deswegen ist die Intensivierung und Verbreiterung der gegenseitigen Information eine vordringliche interdisziplinäre Aufgabe. Je mehr sich etwa die Erkenntnis durchsetzt, daß die Begriffe von Schuld und Verantwortung nach geltendem und kommendem Recht in unserem Kulturkreis auf weitgehend stabile Prinzipien einer weltanschaulich neutralen Sozialethik und Sozialpädagogik gestützt sind, desto mehr wird auch der von allzu üppiger Theorienbildung gespeiste Zweifel an diesen Grundlagen aus dem Gerichtssaal verschwinden. Ganz unabhängig von dieser Grundsatzfrage sind Fragen nach den Mängeln und Schwächen, der Reformbedürftigkeit und Verbesserungsmöglichkeit der geltenden Rechtsordnung, nach der unbefriedigenden oder fehlenden Verwertung kriminologischer Erkenntnisse in der Rechtspraxis, besonders im Vollzug von Strafen und Maßregeln. Zur Kriminologie im weiteren Sinne gehören auch die Bekämpfung, die Verhütung und die Vorbeugung von Verbrechen. Insoweit ist es durchaus begründet, von Kriminalwissenschaften zu sprechen, deren Ergebnisse als Richtlinien für die Kriminalpolitik dienen sollten. Die einzelnen Teilgebiete der Kriminalwissenschaften sind ganz unterschiedlich als mehr oder weniger „reine" Seinswissenschaften bzw. empirische Wissenschaften, als mehr oder weniger „reine" Normwissenschaften charakterisiert. Das ist auch eine Frage der Methodik, die vom Gegenstand, von der spezifischen wissenschaftlichen Aufgabe bestimmt wird. Die Überbewertung oder Verschätzung dieses Methodenproblems hat in der Vergangenheit immer wieder zu einem unfruchtbaren Nebeneinander oder Gegeneinander der einzelnen Kriminalwissenschaften geführt. Das Verbindende liegt in der gemeinsamen Aufgabe: Erscheinungsformen, Ursachen und Bekämpfung des Verbrechens, Verhütung und Vorbeugung kriminellen Verhaltens. Die Entscheidungsfindung

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in der Kriminalpolitik muß deshalb über dem „Methodenstreit" der Kriminalwissenschaften stehen; sie sollte bewußt eklektisch und synthetisch, allein unter dem Gesichtspunkt bestmöglicher Effizienz erfolgen. Eine realistische Kriminalpolitik sollte, als eine echte Kunst des Möglichen, elastisch und nach allen Seiten offen sein; sie muß den Mut zum Experiment haben, ohne Rücksicht auf Dogmatik traditioneller oder moderner Prägung, aber mit klarem Blick für die Unterschiede von Theorie und Praxis. Gegenstand einer Kriminalanthropologie oder Kriminalbiologie ist die Täterpersönlichkeit. Die Erforschung der Täterpersönlichkeit ist zentrale Aufgabe einer Kriminologie im engeren Sinn. Sie stützt sich in erster Linie auf die Ergebnisse der Psychiatrie, der Psychologie und der Soziologie. Die unterschiedlichen, sich überschneidenden und ergänzenden Ergebnisse dieser Wissenschaften muß der Kriminologe in einem synthetischen Prozeß aufnehmen und verarbeiten, um sie bei der Lösung seiner speziellen Probleme zu verwerten und um bei der Vorbereitung kriminalpolitischer Entscheidungen sachlich fundierte Hilfestellung leisten zu können. Jede der mit der Persönlichkeitsforschung befaßten Wissenschaften hat ihre eigenen Methoden, ihre eigene Betrachtungsweise, und immer wieder begegnen wir dem Wissenschaftler, der wichtige Einzel- oder Teilergebnisse in ihrer konkreten Bedeutung für Kriminologie und Kriminalpolitik verschätzt. Typische Beispiele vermitteln uns Entwicklung und Wandlung in der kriminologischen Bewertung von somatischen wie psychischen Befunden mit Methoden, die in den letzten Jahrzehnten mit großem Erfolg in der allgemeinen psychiatrischen und psychologischen Diagnostik eingesetzt wurden: Luftencephalographie, Hirnangiographie, Echound Elektro-Encephalographie, Zellkernuntersuchungen im Hinblick auf Chromosomenanomalien und schließlich die zahlreichen testpsychologischen Untersuchungsmethoden. Soweit es sich um die Schwerkriminalität, um Rückf all Verbrecher oder Hangtäter handelt, hat die Psychiatrie von jeher die meisten und wichtigsten Beiträge zum kriminologischen Verständnis der Täterpersönlichkeit geleistet. Das ist naheliegend, da der psychisch auffällige, gestörte oder kranke Mensch nun einmal Gegenstand der Psychiatrie ist. Man muß sich allerdings von der Vorstellung lösen, daß der Psychiater nur oder in erster Linie mit „Verrückten" oder „ I r r e n " sich zu beschäftigen habe. Der eigentlich Geisteskranke ist auch im Bereich der Schwerkriminalität eine Ausnahmeerscheinung. Dissoziales, asoziales oder kriminelles Verhalten auf Grund seelischer Fehlanlagen oder anlagebedingter seelischer Fehlentwicklungen (Psychopathien, Neurosen, Anomalien des Sexualtriebes) ist, allein schon unter dem Gesichtspunkt der Häufigkeit, ein Zentral-

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problem jeder Kriminalpsychopathologie. Die Bearbeitung dieses Problems erfordert eine multifaktorielle Betrachtungsweise, und die Psychopathologie der sog. großen Psychosen kann uns bei dieser Albeit nur wenig weiterhelfen. Reifungsbiologische und entwicklungspsychologische, sozialpsychologische und soziologische Gesichtspunkte müssen hier gleichermaßen berücksichtigt werden, wie etwa endokrinologische, erbbiologische oder neurologische Faktoren. Die alte Auseinandersetzung über die ätiologische Bedeutung von Anlage und Umwell hat in der heutigen Kriminologie an Bedeutung verloren, zumindest hat sie einen anderen Akzent bekommen. Bereits Franz von Liszt hatte die Unmöglichkeit einer alternativen Lösung dieses Problems erkannt und dazu bemerkt: „Das Verbrechen ist das Produkt aus der Eigenart des Täters im Augenblick der Tat und aus den ihn in diesem Augenblick umgebenden Verhältnissen". Wir wissen heute, daß die Umwelt, der soziale Faktor, oder wie man sonst die sogenannten exogenen Verbrechensursachen benennen mag, ihre Wertigkeit, Wirkungsstärke und Wirkungsrichtung erst durch die Persönlichkeitsstruktur erhalten, auf die sie einwirken. Die charakterologische Analyse menschlichen Handelns im Sinne des wirkenden Verhaltens, wie sie etwa Lersch in seinem „Aufbau der Person" entworfen hat, zeigt den eigenartigen Komplexcharakter jeder Handlung. Der methodische Weg zum Verständnis und zur Erklärung einer Handlung muß also in einem mehrdimensionalen Bemühen wenigstens alle wesentlichen ätiologischen Bedingungen zu erfassen versuchen. Endogene und exogene Faktoren, Anlage und Umwelt bestimmen das wirkende Verhalten des Menschen ganz allgemein. Mit der pauschalen Feststellung, daß die Anlage oder die Umwelt oder beide gemeinsam das kriminelle Verhalten eines Menschen mehr oder weniger beeinflussen, ist aber noch gar nichts über die spezifische Kriminogenese in diesem besonderen Fall und bei jenem bestimmten Delinquenten gesagt. Die Frage nach dem Warum einer verbrecherischen Handlung verlangt eine differenzierte Antwort, die Anlage und Umwelt unter den Gesichtspunkten von Ursache, Motiv und Zweck (Absicht) berücksichtigt. Aus der Umwelt kommt die wichtige Gruppe der exogenen Verbrechensursachen. Die Umwelt ist aber gelegentlich sehr eingreifenden Wandlungen unterworfen, wie uns die letzten Jahrzehnte eindringlich gelehrt haben. Krieg und Nachkriegszeit sind eine Art „kriminologisches Experiment" größten Maßstabes gewesen, bei dem die sozialen und ökonomischen Verhältnisse als kriminogene Faktoren ein erhebliches Übergewicht erhalten. Geburtsschicksal (Unehelichkeit, Stellung in der Geschwisterreihe), familiäre Situation und soziale Herkunft, Verwaisung, geschiedene Ehe der Eltern, Erziehung in einer Pflegefamilie, berufliche Lage

des Vaters, Berufstätigkeit der Mutter, Schulbildung und Lehre, Religionsgemeinschaft und Jugendorganisation sind erfahrungsgemäß wichtige Milieufaktoren, die das Persönlichkeitsbild eines Menschen, vor allem in der Entwicklungszeit, entscheidend zu prägen vermögen (-»· Ehe und Familie, Schule). Diese Milieufaktoren als mögliche Bedingungsmomente für dissoziales und kriminelles Verhalten müssen in Zusammenhang mit dem tiefgreifenden sozialen Strukturwandel in den letzten beiden Generationen gesehen werden. Die Frage nach den sozialen Ursachen von Dissozialität und Kriminalität wird aus der jeweiligen Zeitsituation immer von neuem an uns herangetragen, wie ζ. B. die neuere Entwicklung der Eigentumskriminalität bei Jugendlichen und eine international vergleichende Betrachtung der Jugendkriminalität zeigen (-»· Vergleichende Kriminologie). Der Gutachter sollte aber im konkreten Einzelfall immer daran denken, daß Milieufaktoren als „objektive Gefährdungsdispositionen" keine autonome Bedeutung für die Kriminogenese haben. Erst unter bestimmten und sehr variablen biologischen und psychologischen Bedingungen im Persönlichkeitsgefüge des Rechtsbrechers erhalten sie eine kriminogene Wertigkeit in individuell unterschiedlicher Ausprägung. Die jeweilige Eigenart der Kombination von Verbrechensursachen, die Differenzierung ursächlicher Faktoren bei delinquentem Verhalten durch eine polyätiologisch-dynamische Betrachtungsweise unter Berücksichtigung unseres Wissens in den Bereichen der Psychiatrie und Psychologie, der Soziologie und Sozialpädagogik bleibt eine stets neu gestellte Aufgabe der Analyse des Einzelfalles. In dem Grenzgebiet von Psychiatrie und Recht war es von jeher schwierig, zu einer Verständigung zwischen Arzt und Richter zu kommen. Hinderlich sind die Verschiedenheit der Sprache, die unterschiedliche Terminologie, vor allem aber der Gegensatz von Psychiatrie als Naturwissenschaft und Psychologie zur Jurisprudenz als Norm- oder Wertwissenschaft. Die psychiatrische Begriffsbildung ist nur partiell naturwissenschaftlich, in einem weiten Bereich sind Motivations- und Sinnzusammenhänge bestimmend, ob vorläufig mangels naturwissenschaftlich fundierter Kenntnisse oder prinzipiell, mag dahingestellt sein. Psychologie und Psychopathologie sind zwar empirische Wissenschaften, das Postulat von der „Psychologie als Naturwissenschaft" ist aber eine Fiktion, insoweit „nur" Naturwissenschaft gemeint ist. Diese „Grenzsituation" der Psychiatrie erschwert jedenfalls dem Juristen den Zugang zu einer Wissenschaft, die den Menschen in seinem Tun und Lassen in einer anderen Perspektive sieht, als er es gewohnt ist. Scheinbar allgemeinverständliche Begriffe wie Norm und Abnorm, Gesundheit und Krankheit sind in der Medizin umstritten; es gibt weder einen verbindlichen Gesundheits- noch Krankheitsbe-

Psychiatrie griff. In Abhängigkeit vom Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis ist der medizinische Krankheitsbegriff einem ständigen Wandel unterworfen, was zu beklagen töricht wäre. Der Jurist hat aber aus den verschiedenen und wechselnden Auffassungen der Mediziner über das Wesen der Krankheit einen rechtserheblichen Krankheitsbegriff abstrahiert, weil die diagnostischen, pathogenetischen und nosologischen Überlegungen des Mediziners juristisch weitgehend ohne Belang sind (-» Krankheit). Juristisch kommt es wesentlich darauf an, ob eine Krankheit im Sinne einer Normabweichung vorliegt, und insbesondere, ob die Krankheit einen solchen Grad, ein solches Ausmaß erreicht hat, daß sich daraus irgendwelche rechtlichen Konsequenzen ableiten lassen. Im Sozialrecht geht es ζ. B. entscheidend darum, welchen objektivierbaren Grad einer Minderung der Erwerbsfähigkeit die Krankheit bedingt. Im §51 StGB (§§20, 21 i. d. F. des 2. StrRG) ist danach gefragt, ob der Krankheitszustand so schwerwiegend ist, daß die Einsichtsfähigkeit oder die Fähigkeit zum einsichtsgemäßen Handeln erheblich vermindert bzw. ausgeschlossen ist. Gemäß § 6 BGB ergeben sich je nach der graduellen Ausprägung des Krankheitszustandes (Geisteskrankheit oder Geistesschwäche) unterschiedliche Rechtsfolgen. Der juristische Krankheitsbegriff ist also weitgehend quantitativ akzentuiert. Die allegorische Darstellung der „Justitia mit der Waage" kann man als eine Symbolisierung auch dieses gedanklichen Konzepts interpretieren. Die Problematik des Krankheitsbegriffes bekommt in der forensischen Psychiatrie dadurch noch eine besondere Zuspitzung, daß häufig im Gesetzestext gebräuchliche Ausdrücke für psychische Störungen und Defekte weder medizinisch noch juristisch klar umschriebene Begriffe darstellen, weil sie dem vorwissenschaftlich-volkstümlichen Sprachgebrauch entnommen sind. Die mannigfaltigen und mit dem Fortschritt der Erkenntnis wechselnden Differenzierungen der psychiatrischen Diagnostik sind dem volkstümlichen Sprachgebrauch fremd. Aber auch für den Juristen ist es nicht ganz cinfach, die möglichen Auswirkungen von organischer Krankheit und psychogenem Kranksein, von Artungsanomalien und Haltungsanomalien auf die Schuldfähigkeit oder die Geschäftsfähigkeit eines Menschen zu verstehen, zumal die diagnostischen Abgrenzungen im rein Psychopathologischen — entsprechend der Eigenart psychologischer Begriffsbildung — oft nur akzentuierend und nicht determierend wie im naturwissenschaftlichen Bereich sein können. Andere Quellen gegenseitigen Mißversteliens liegen etwa in einer differenten Einschätzung der Grenzen bzw. des Beweiswertes von psychiatrischen und psychologischen Aussagen vor Gericht oder in dem schwierigen Problem der Kausalität,

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dessen juristische Interpretationen manchem Arzt unbekannt und unverständlich sind. Sachlich fundierte Mißverständnisse haben in der Regel ihren Grund in der unterschiedlichen Betrachtungsweise, in der eigenartigen Struktur der Psychiatrie als deskriptiv-erklärende Naturwissenschaft und als „verstehende" Psychologie einerseits, in dem normativ-axiologischen Charakter der Jurisprudenz andererseits. Maßstab des Richters ist das Gesetz, und das gesetzlich geschützte Rechtsgut ist der für ihn bestimmende Wert. Sehen wir einmal davon ab, daß auch gesetzmäßiges Unrecht für unsere Generation eine traurige Erfahrung ist, so bleibt es doch eine ebenso wichtige wie schwierige Aufgabe des Richters, im Rahmen „gerechter" Gesetze kollidierende Rechtsgüter nach ihrer Wertigkeit zu wägen. Dabei kann er sich im konkreten Einzelfall nicht nur auf das stets mehr oder weniger abstrakte Gesetz berufen, sondern er muß ebenso den Sinn des Gesetzes und das im ungeschriebenen Sittengesetz verankerte „höhere" Recht berücksichtigen. Gesetz und Recht können auch in einem letzten und absoluten Sinn nicht immer identisch sein. Das weiß der Richter, aber er muß in der Praxis von einer „Als-ob-Identität" ausgehen. So manches höchstrichterliche Urteil verliert für den Arzt an Unverständlichkeit, wenn er sich diese Zusammenhänge klarmacht. Der Versuch einer Differenzierung einzelner Rechtsgüter wie Freiheit, Gesetzmäßigkeit, Gesundheit usw. nach ihrem absoluten Wertgehalt ist aussichtslos, zumal Wertungen dieser Art in verschiedenen Kulturkreisen, aber auch im Laufe der Geschichte eines Volkes wechseln. Ein typisches Beispiel unserer Tage ist die nach dem Zusammenbruch von 1945 gewandelte Auffassung von Wert und Recht der Persönlichkeit. Als verständliche Reaktion auf die nationalsozialistische Ära herrscht heute eine ängstliche Scheu vor jedem Eingriff in die grundgesetzlich garantierte Sphäre des Persönlichen in fast allen Rechtsgebieten. Die in der Rechtsprechung verbreitete Tendenz zur Verabsolutierung des Persönlichkeitsrechts, die Unterschätzung seiner Relativität und seiner notwendigen Limitierung (Art. 2 GG) dürfte ein zeitgebunden typischer Ausdruck der allgemeinen Unsicherheit im Bereich des Ethischen und des Weltanschaulich-Religiösen sein. In einem unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Unsicherheit steht die bedenkliche Neigung zum Perfektionismus in Gesetzgebung und Rechtsprechung, besonders deutlich im Sozialrecht, unverkennbar auch im Regierungsentwurf eines Strafgesetzbuches von 1962. Durch die zunehmende Einschaltung von Sachverständigen in die richterliche Beweisaufnahme muß dieser Perfektionismus zu Rechtsunsicherheit führen, weil er mit schlichter Selbstverständlichkeit die Möglichkeit einer wissenschaftlich fundierten Beantwortung von immer zahlreicher werdenden Fragen

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Psychiatrie

voraussetzt, die im konkreten Fall oder grundsätzlich weder vom Arzt noch vom Richter beantwortet werden können. Den Gefahren des Perfektionismus auf der juristischen Seite korrespondiert im psychiatrischen Bereich die Neigung zu „grundsätzlicher" Kritik und damit zur Relativierung anerkannter und bewährter Prinzipien der forensischen Begutachtung lediglich auf Grund eben konzipierter und meist sehr privater Hypothesen, deren Tragweite in der wissenschaftlichen Psychiatrie noch gar nicht übersehbar und deren mögliche Auswirkungen in der forensischen Praxis nicht hinreichend durchdacht sind. B. Symptome und Syndrome In den älteren Gesamtdarstellungen und Sammelwerken zur Forensischen Psychiatrie, vor allem im deutschen Sprachkreis, war es vielfach üblich, die Psychopathologie unter jeweils allgemeinen und speziellen Gesichtspunkten abzuhandeln. In dem allgemeinen Teil werden bei diesem Vorgehen etwa die Störungen der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, des Denkens, der Affektivität und des Trieblebens in besonderen Kapiteln mit verschiedenen Möglichkeiten der Untergliederung behandelt. Die Darstellung der speziellen Psychopathologie erfolgt dann unter nosologischen Gesichtspunkten, im Hinblick auf die Krankheitslehre, wie sie von Kahlbaum und Kraepelin, E. Bleuler, Bonhoeffer u. a. entwickelt und später in verschiedenen Richtungen ergänzt und modifiziert wurde. Zum näheren Verständnis unserer heutigen Nosologie und Systematik muß auf die Geschichte der Psychiatrie bzw. Psychopathologie verwiesen werden (Ackerknecht, Alexander-Selesnick, Zilboorg). Wichtige Positionen der gültigen Klassifikation sind die verschiedenen Schwachsinnsformen, endogene und exogene Psychosen, Anfallskrankheiten, Suchtstoffabhängigkeit, Psychopathien und Neurosen. Ein solches Vorgehen kann man auch heute noch mit guten Gründen rechfertigen. Es hat manche Vorteile, aber auch gewichtige Nachteile, gerade wenn man an den Leser denkt, der über keine speziellen psychiatrischen Kenntnisse und Erfahrungen verfügt. Eine fundierte Darstellung der allgemeinen Psychopathologie unter kriminologischen und forensischen Gesichtspunkten würde sich heute leicht zu einem umfangreichen Band auswachsen, aus dem der Kriminologe und vor allem der Jurist nur wenig für seine speziellen Aufgaben entnehmen könnte. Der Autor einer solchen Gesamtdarstellung käme außerdem leicht in die unangenehme Situation, sich ständig auf einem schmalen Grat zwischen unpersönlichem Sammelreferat und allzu persönlichen eigenen Lehrmeinungen bewegen zu müssen. Da der Versuch einer Gesamtdarstellung der Psychopathologie ohnehin den hier gezogenen

Rahmen sprengen würde, kann darauf verzichtet werden. Insoweit wäre zunächst auf die verschiedenen Beiträge in dem Handbuch „Psychiatrie der Gegenwart" (1959—67) zu verweisen. Weiterhin sind die Lehrbücher oder Monographien von Bash, Bleuler, Bumke, Engel, Hoff, Jaspers, Kolle, Leonhard, K. Schneider, P. B. Schneider, Schulte, Smythies, Weitbrecht und Wieck zu nennen. Zur Psychopathologie und Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters: Aichhorn, Asperger, Dührssen, Heuyer, Kanner, Lutz, Stutte, Tramer, Züblin, Zulliger. Zum Verständnis der Kriminalpsychopathologie sind Grundkenntnisse in der „Normal"-Psychologie und in der Soziologie unerläßlich. Das „Handbuch der Psychologie" in 12 Bänden (ab 1959), herausgegeben von Gottschaidt, Lersch, Sander und Thomae, vermittelt einen umfassenden Überblick. Unter den monographischen Darstellungen seien hier nur Bühler, Heiss, Hess, Katz, Lersch, Metzger, Rohracher, Traxel und Wellek genannt. Zur forensischen Psychologie: Altavilla, Blau und Müller-Luckmann, Grassberger sowie der von Undeutsch redigierte Bd. 11/1967 des „Handbuchs der Psychologie". Zur Krimmalpädagogik: Busch/ Edel, Glasser, Hellmer, Peters. Die Kenntnis der Werke von S. Freud und A. Adler sollte für jeden Kriminologen selbstverständlich sein. Aus der Fülle der soziologischen Literatur nur einige Hinweise: Aubert, Bahrdt, Barley, Bernsdorf, Dahrendorf, Fichter, Fürstenau, Gehlen, Hartmann, Heintz, König, Mechanic, Pflanz, Schelsky, Sherif, Weber, Wurzbacher. Monographische Darstellungen oder Handbuchbeiträge zur forensischen Psychiatrie oder Kriminalpsychopathologie: Aschaffenburg, v. Baeyer, Binder, Bresser, Bumke, Ehrhardt-Villinger, Hoche, Langelüddeke, Rasch, Vorkastner, Witter und Wyrsch. Aus dem französischen Sprachkreis sind vor allem die drei umfangreichen Bände „Psychiatrie" aus der „Encyclop£die M£dico-Chirurgicale" zu nennen, die von Henri Ey redigiert und fortlaufend ergänzt werden. Ey-Bernard-Brisset, Guiraud, Logre und Michaux sind Verfasser bekannter Lehrbücher der französischen Psychiatrie. Pi6deliövre-Fournier und Porot-Bardenat haben die forensische Psychiatrie ausführlich abgehandelt. Zur Kriminalbiologie ist auf Cassiers, Debuyst, Ellenberger-Dongier, Larguier, Levasseur, Sizaret und auf die sehr persönlich akzentuierte Darstellung von Pinatel zu verweisen. Ein Bild der amerikanischen Psychiatrie vermitteln als Sammelwerke das „American Handbook of Psychiatry" in 3 Bänden (Ed. Arieti 1959,1966) und die 6 Bände der von Deutsch und Fishman herausgegebenen „Encyclopedia of Mental Health" (1963). Verbreitete Lehrbücher wurden von Aldrich, Cameron, Ewalt-Farnsworth, Freed-

Psychiatrie man-Kaplan, Kolb, Massermann und RedlichFreedman herausgegeben. Das Handbook of Abnormal Psychology" von Eysenck (1961) hat in mancher Beziehung den Charakter eines Standardwerkes. Repräsentativ für die britische Psychiatrie sind die Bücher von Fish, HendersonBatchelor sowie Meyer-Gross, Slater and Roth. Eine gute Orientierungshilfe in dem kriminologisch-psychiatrischen Schrifttum, besonders aus dem angelsächsischen Sprachbereich, bilden die jährlichen Übersichtsreferate von Freedman, Psychiatry and Law, und von Maugs, Criminal Psychopathology, in „Progress in Neurology and Psychiatry" (Spiegel). Als Autoren wichtiger Publikationen, meist größeren Umfangs sind zu nennen: Allen-Ferster-Rubin, Biggs, Cohen, Conrad, Cressey-Ward, Davidson, Gibbens, Glueck, Goldstein, Guttmacher, Halleck, Katz-Goldstein-Dershowitz, Klare, Knight, Levitt-Rubenstein, Menninger, Overholser, Polier, Roche, Rubin, Sellin, Szasz, Walker, Weihofen und Zilboorg. — Ein in deutscher Übersetzung (1960) vorliegendes Lehrbuch von Giljarowsky vermittelt einen guten Einblick in Stand und Entwicklungstendenzen der sowjetrussischen Psychiatrie. Cole and Maltzman eröffnen mit einem Handbuch in englischer Sprache (1969) einen Zugang zur gegenwärtigen Sowjet-Psychologie. Hinsichtlich der Terminologie, die in unserem Bereich zu so vielen Mißverständnissen geführt hat, können wir uns heute auf die „Internationale Klassifikation der Krankheiten" in der Fassung der 8. Revision stützen, die von der Weltgesundheitsorganisation 1965 beschlossen wurde und am 1 . 1 . 1968 in Kraft getreten ist. Gerade der psychiatrische Abschnitt dieser Klassifikation ist in mancher Beziehung unbefriedigend und bedarf der Überarbeitung. Wir haben aber jetzt wieder eine internationale Verständigungsbasis, die den bleibenden Ergebnissen der europäischen Psychiatrie Rechnung trägt. Endogene und exogene Psychosen, Psychopathien und Neurosen sind heute im internationalen Sprachgebrauch anerkannte Klassifikationen. Die folgende Schilderung der Hauptgruppen psychopathologischer Erscheinungsbilder hält sich an diese Terminologie und ist als informatorische Übersicht zu verstehen. Sie beschränkt sich auf kriminologische und forensische Aspekte, die der Verfasser für grundsätzlich und praktisch wichtig hält. Die etwas unsystematisch vorangestellten Hinweise auf genetische und reifungsbiologische Probleme sollen nur zum Verständnis der aktuellen Diskussion beitragen. 1. Genetische Aspekte Die humangenetische Forschung war in unserem Lande nach dem Zusammenbruch von 1945 so gut wie vollständig ausgeschaltet. Der Miß-

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brauch von Ergebnissen der Erbbiologie für eine ideologisch orientierte Eugenik in der Zeit des Nationalsozialismus hatte diese medizinische Grundlagenwissenschaft mit einer schweren politischen Hypothek belastet. Nur zögernd kam es zur Neugründung einiger Lehrstühle und Institute in einem meist so bescheidenen Rahmen, daß größere Forschungsprojekte kaum in Angriff genommen werden konnten. Die entscheidende Wendung brachten erst die Empfehlungen des Wissenschaftsrates von 1960, in denen nachdrücklich die Bedeutung der Humangenetik herausgestellt und für jede Medizinische Fakultät ein Lehrstuhl gefordert wurde. Heute haben wir wieder eine eigene humangenetische Forschung, die sich um die Überbrückung einer Lücke von über 20 Jahren bemüht. Zur Orientierung kann auf die Bücher von Fuhrman, Lenz, Nachtsheim, Stern, Verschuer und Vogel oder auf das seit 1964 von Becker herausgegebene Handbuch „Humangenetik" mit 5 bzw. 8 Bänden verwiesen werden. Fragt man nach den eigentlichen Fortschritten der psychiatrischen Genetik, der Erbpsychiatrie etwa in den letzten 3 Jahrzehnten, so sind sie als insgesamt recht bescheiden zu bezeichnen, trotz wichtiger neuer Erkenntnisse in Teilbereichen. Hier wäre vor allem die genetische und klinische Aufschlüsselung verschiedener Formen des metabolisch bedingten Schwachsinns zu nennen (Bickel, Grüter). Gerade der Kriminologe darf sich aber durch diese medizinisch höchst interessanten Forschungsergebnisse nicht darüber hinwegtäuschen lassen, daß die in ihren Ursachen mehr oder weniger bekannten Schwachsinnsformen, insbesondere soweit es sich um Intelligenzdefekte leichten bis mittleren Grades handelt, einen einstweilen noch relativ bescheidenen Sektor innerhalb der großen Population von Schwachsinnigen bilden. Im Bereich der endogenen oder kryptogenen Psychosen, bei den schizophrenen und manisch-depressiven Krankheitsformen, h a t die genetische Forschung keine grundsätzlich neuen Ergebnisse erbracht. Das gilt gleichermaßen für die genuine Epilepsie wie für die Psychopathien und Neurosen. Es kann auf das Übersichtsreferat von Strömgren in „Psychiatrie der Gegenwart" Band 1/1967 sowie auf die verschiedenen Beiträge in Band V/2 (1967) in dem erwähnten Handbuch der Humangenetik verwiesen werden. Grundlegend sind die Arbeiten von Kallmann; nach wie vor unentbehrlich für jede wissenschaftliche Arbeit und Urteilsbildung auf diesem Gebiet sind die Beiträge in Band V/2 (1939), der im Rahmen des von Just herausgegebenen „Handbuchs der Erbbiologie des Menschen" ausschließlich der „Erbpsychiatrie" gewidmet ist. Das Thema „Erbanlage und Verbrechen" wurde auf Grund eingehender Zwillingsuntersuchungen von J . Lange (1929), Stumpfl (1935/36) und Kranz (1936) ausführlich abgehandelt. Gesicherte Er-

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gebnisse der genetischen Forschung, die darüber hinausführen würden, sind noch nicht bekannt geworden. Neue Ansatzpunkte könnten sich aus den Untersuchungen des Zellkerns ergeben, die in den letzten Jahren zur Entdeckung einer ganzen Reihe von Zahl- und Strukturanomalien der Chromosomen geführt haben. W. Lenz hat die bisherigen Ergebnisse dieser cytogenetischen Untersuchungen in zwei ausgezeichneten Übersichtsreferaten (1964, 1967) dargestellt; speziell zur Psychologie und Psychopathologie: W. Züblin. Die kriminogene Bedeutung einer Störung des Erbgefüges durch Zahl- oder Strukturanomalien der Chromosomen, insbesondere der Geschlechtschromosomen, die im normalen männlichen Chromosomensatz mit XY gekennzeichnet werden, ist in jüngster Zeit zum Gegenstand lebhafter Diskussionen geworden. Als eine weitere Abnormität des Chromosomenbildes fanden Sandberg et al. 1961 die Verdoppelung des Y-Chromosoms, die XYY-Konstellation, bei einem „ganz normalen" Mann, gleichsam als Nebenbefund. Lenz hat darauf hingewiesen, daß gerade das Y-Chromosom relativ wenig genetisches Material trage, deswegen werde seine Überzahl nur zufällig entdeckt. Seit 1965 haben verschiedene Arbeitsgruppen, vor allem in Dänemark, Großbritannien und den USA (Court Brown, Hauschka, Jacobs, Nielsen, Price u. a.), die bis dahin wenig beachtete Chromosomenaberration des XYY-Typus intensiver untersucht. Die ersten größeren Untersuchungsreihen wurden in psychiatrischen Krankenananstalten und Spezialinstitutionen für psychisch abnorme Delinquenten durchgeführt, und man fand die Verdoppelung des Y-Chromosoms bei Schwachsinnigen und anderen psychisch Abnormen oder Kranken mit vorwiegend athletisch-dysplastischem Körperbau und einer überdurchschnittlichen Körperlänge. Analoge Befunde wurden bei „normalen" Delinquenten in Strafanstalten, aber auch bei medizinisch und sozial unauffälligen Männern erhoben (StencheverMacintyre). Über die Eigenart und Häufigkeit dieser Anomalie in der Durchschnittsbevölkerung lassen sich noch keine verbindlichen Aussagen machen. Nach den bisherigen Beobachtungen und Schätzungen kommt etwa 1 Fall von XYY auf 1000 männliche Neugeborene (Keutel, Pfeiffer). Bei kriminellen Anstaltsinsassen wurde eine Häufung auf 3 bis 10% beobachtet (Siebner und Pufke). Diese Befunde waren der Anlaß zu überschießenden Spekulationen hinsichtlich des Beginns einer „neuen Ära" in Kriminologie und Strafrechtspflege. Das überzählige Y-Chromosom als organisches Substrat für asoziales, vor allem für aggressives und kriminelles Verhalten ist aber eine so vereinfachend-primitive Vorstellung, die den mit einschlägigen Untersuchungen befaßten Forschern von Anfang an als fragwürdig oder überhaupt illusorisch erschien. — Zur

kriminogenen Bedeutung der Chromosomenanomalien auf Grund der Untersuchungsergebnisse bis 1969 wird auf die Übersichtsreferate von Court Brown, Jörgensen, Keutel und L. Moor verwiesen; dazu auch G. R. Clark (DÄ1969, 2282) und APA-Meetings in Miami 1969, San Francisco 1970. Einstweilen handelt es sich hier um einen wissenschaftlich interessanten Beitrag zu der alten These vom „geborenen Verbrecher", die aber in der Konzeption von Lombroso (1871), trotz Chromosomenanomalien, überholt sein dürfte. Das überzählige Y-Chromosom bedeutet für sich allein noch keinen „unwiderstehlichen" Hang oder Zwang zum Begehen von Gewaltverbrechen. Es ist ein medizinischer Befund unter vielen anderen, dessen Stellenwert und Bedeutung für die Persönlichkeitsstruktur im Einzelfall sorgfältig zu untersuchen ist. Angesichts dieses Standes unseres Wissens ist die Behauptung, eine psychiatrische Begutachtung ohne cytogenetischen Untersuchungsbefund wäre unzureichend, verfehlt und unsachlich. Nur in bestimmten Einzelfällen ist eine solche Untersuchung einstweilen indiziert. Bei der Begutachtung von drei besonders schweren Mordfällen im Arbeitsbereich des Verfassers wurden Chromosomenanalysen aus kriminologischer Indikation, die zu den ersten in der BRD gehören, mit negativem Ergebnis durchgeführt. Sollte sich eine Chromosomenanomalie finden, dann handelt es sich um einen wichtigen Faktor, der bei der Beurteilung etwa der strafrechtlichen Verantwortlichkeit oder der Maßregelindikation angemessen zu berücksichtigen ist. Neue Erkenntnisse dieser Art sollten nicht voreilig in ein ideologisches Argument zur Änderung der Rechtsordnung umgemünzt werden; sie müssen nur ihrer faktischen Bedeutung entsprechend in die kriminologische und forensische Urteilsbildung einbezogen werden. Das XYY-Syndrom ist kein Grund für Gesetzesänderungen und wird es auch nicht werden. 2. Zur Reifungsbiologie und -pathologic Reifungsbiologisch und entwicklungspsychologisch bedingte Störungen sind für die Kriminologie ganz allgemein, nicht nur für die speziellen Fragen der Jugendkriminalität von besonderer Bedeutung. Kretschmer, Stumpfl, Villinger u. a. haben schon vor geraumer Zeit auf die kriminogene Valenz von Reifungsstörungen hingewiesen. Vergleichende reifungsbiologische Untersuchungen an Fürsorgezöglingen und an Insassen von Jugendgefängnissen ergaben eine statistisch eindeutige Häufung von Reifestörungen bei den dissozialen und kriminellen Jugendlichen. In diesem Zusammenhang muß das eigenartige Phänomen einer Entwicklungswandlung der

Psychiatrie Jugend etwa seit der Jahrhundertwende erwähnt werden. Während der letzten Jahrzehnte wurde in allen zivilisierten Ländern eine allgemeine Entwicklungsbeschleunigung — Acceleration — beobachtet. Geburtsgröße und -gewicht haben ebenso wie die durchschnittliche Körpergröße zugenommen. Ossifikation, Dentition, Menarche und Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale als markante Reifezeichen sind vorverlegt. Über die Ätiologie dieser generationsweisen Entwicklungsbeschleunigung wie auch über ihre Bedeutung für die Entstehung von Dissozialität und Kriminalität ist noch kein abschließendes Urteil möglich. Die Acceleration als solche ist jedenfalls für die Kriminogenese weniger interessant als die gleichzeitig zu beobachtende universelle Disharmonisierung des Reifungsablaufs (Harbauer, Lempp, Lenz-Kellner, Stutte, Tanner, Zeller). Die Erfahrung lehrt, daß eine Anzahl von Jugendlichen mehr oder minder hochgradige Abweichungen von der Normskala des derzeitigen Entwicklungsstandes, die die generationseigentümliche Acceleration umfaßt, zeigt, und zwar im Sinne eines Entwicklungsvorsprunges (IndividualAcceleration) oder eines Entwicklungsrückstandes (Individual-Retardierung). Der in diesem Sinne Accelerierte oder Retardierte hat eine Sonderstellung unter seinen Alterskameraden, die sich in der Regel für seine Persönlichkeitsentwicklung ungünstig auswirkt. Die individuelle Accelerierung oder Retardierung als harmonische Reifungsstörung beinhaltet bereits — je nach ihrer gradmäßigen Ausprägung und den Milieubedingungen des Einzelfalles — mehr oder minder erhebliche Konfliktsmöglichkeiten, die als Störungen der Erlebnisverarbeitung für die Ätiologie neurotischer Fehlhaltungen von Bedeutung sind und die in der Ursachenkombination dissozialer und krimineller Verhaltensweisen, vor allem bei Jugendlichen und Heranwachsenden, unsere besondere Beachtung beanspruchen (Kretschmer, Leuner). Es bedarf keiner näheren Begründung, daß die Gefährdung bei den disharmonisch Entwicklungsgestörten noch größer ist. Die offenbar recht häufige Reifungsdissoziation zwischen intellektuellen und endothymen Funktionen, die sich ζ. B. bei Accelerierten in einer einseitigen und frühreifen Akzentuierung des Intellekts bei altersgemäßer oder retardierter Entwicklung der endothymen Sphäre der Triebe und Strebungen, der Gefühle und Stimmungen, der Phantasie und des Gemüts manifestieren, bedeutet eine mehr oder weniger ausgeprägte Störung des integrativen Gleichgewichts zwischen „endothymem Grund" und „personellem Oberbau" (Lersch). Das natürliche Verhältnis von Grund und Oberbau im „syntonen" Persönlichkeitsgefüge zeigt im Laufe der psychischen Entwicklung eine phasenspezifische Prägung, und für das kindliche Erleben ganz

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allgemein ist eine endothyme Akzentuierung charakteristisch. Eine reifungsbedingte Verschiebung der phasenspezifischen Schichtenrelation zwischen Grund und Oberbau bedeutet eine Desintegration im Persönlichkeitsaufbau des Jugendlichen, deren Dynamik durch das „Spannungsgefälle" zwischen den unterschiedlich (disharmonisch) entwickelten Persönlichkeitsanteilen bestimmt wird. Der integrativen und strukturierten Eigenart des Persönlichkeitsaufbaus entspricht eine weitgehende Synchronisierung im Reifungsablauf körperlicher und seelischer Persönlichkeitsbereiche. Partielle Entwicklungshemmungen oder -beschleunigungen stören diese Synchronisierung. Die Entwicklungsdisharmonie durch Partialretardierung scheint in der Regel durch die Eigenart der allgemeinen Acceleration zu einer höhergradigen Reifediskrepanz ausgeweitet zu werden. In solchen Fällen stehen sich nicht retardierte und „normalgereifte", sondern retardierte und accelerierte Persönlichkeitsanteile stark kontrastierend gegenüber. Der entwicklungspsychologische Aspekt dissozialen und kriminellen Verhaltens überschneidet sich in mehrfacher Hinsicht mit den eben besprochenen reifungsbiologischen Gesichtspunkten, was aus der Eigenart des Reifungsprozesses als eines psychosomatischen Geschehens ohne weiteres verständlich ist. Pubertät und Adoleszenz sind auch beim „ganz normalen" Jugendlichen Krisenzeiten mit phasentypischen seelischen Gegebenheiten, in die sich mancher Erwachsene nur noch schwer zurückversetzen kann. Es wäre aber verfehlt, in dem Krisenhaften der Reifungs- und Nachreifungszeit an sich einen kriminogenen Faktor zu sehen. Den Reifungsprozeß mit all seinen Schwierigkeiten und Nöten durchläuft jeder Mensch, aber nur ein kleiner Bruchteil der Bevölkerung wird kriminell. Andererseits besteht kein Zweifel, daß phasenspezifische Haltungen und Reaktionen, die eigenartige und mehr oder weniger unfertige Integrierung und Strukturierung der verschiedenen Persönlichkeitsschichten bei der Motivbildung wie bei der Tatausführung eine erhebliche Rolle spielen können. Ein großer Teil der Jugendkriminalität, insbesondere auch der Gewaltverbrechen und der Sittlichkeitsdelikte Jugendlicher, wird deshalb mit Recht zur sog. Entwicklungskriminalität gerechnet. Bezüglich der Psychologie der Reifezeit kann hier auf den von Thomae herausgegebenen Band III/1959 des „Handbuchs der Psychologie" sowie die Bücher von Baldwin, Busemann, Erikson, Muchow, Müssen et al., Piaget, Spitz und Remplein verwiesen werden. Gesteigerter Betätigungs-, Erlebnis- und Unabhängigkeitsdrang, überzogenes Bedürfnis nach Selbstbestätigung und Geltung, gelegentlich auch frühkindlich geprägte Insuffizienzgefühle hinsichtlich der körperlichen Durchsetzungsfähigkeit sind in

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Psychiatrie

der Persönlichkeitsanalyse häufig faßbare und phasenspezifische Bedingungsmomente jugendlicher Delinquenz. Der bei Jungen meist plötzlich erwachende und zunächst noch mehr oder weniger richtungslose Geschlechtstrieb, die fehlende oder mangelhafte Integration von Eros und Sexus spielen in der Motivstruktur vieler Delikte von Jugendlichen eine überragende Rolle. Dazu kommen in einer für Pubertierende und Adoleszenten charakteristischen Weise: Labilität und Störbarkeit im emotionalen Bereich, mangelhaftes Steuerungs- und Hemmungsvermögen gegenüber Trieben und Gefühlen, schnell wechselnde und große Affektausschläge, Unsicherheit in den mitmenschlichen Beziehungen, schwankendes Pflichtund Verantwortungsgefühl, Unausgeglichenheit und Widersprüchlichkeit. Auf diesem psychologischen Hintergrund werden einige der immer wieder überraschenden und viel diskutierten Besonderheiten bei Jugendstraitaten verständlich, wie ζ. B. der fast „jugendspezifische" Modus des sog. Deckungsverbrechens, bei dem ein relativ harmloses Sittlichkeitsvergehen oder gar nur eine beschämende Situation durch einen Mord gleichsam gedeckt, ausgelöscht und ungeschehen gemacht werden soll. Hierher gehört auch die ,,Zufälligkeit" der Tatentstehung und die grausambrutale Durchführungsart bei so manchen Gewaltverbrechen Jugendlicher. „Es" ist eben — beinahe zufällig oder doch in nicht so schlimm gemeinter Absicht — passiert, und nun kann man es nicht mehr aus der Welt schaffen. Manche Eigenarten der phasentypischen Bandendelikte, der weiblichen Jugendkriminalität ganz generell und viele Auffälligkeiten bezüglich Entstehung und Ausführung in den einzelnen Deliktgruppen haben eine spezifisch puberale Prägung, sind durch das mehr oder weniger inadäquate und kurzschlüssige Denken und Handeln dieser Entwicklungsphase gekennzeichnet. So manche dieser Eigenheiten finden wir auch bei „Jungtätern" im dritten Lebensjahrzehnt und gelegentlich noch später. —• Zur Jugendkriminalität: Brückner, Cohen, HeintzKönig, Gibbens, Glueck, Künzel, Stutte. 3. Körperlich

begründbare psychische

Störungen

Das breite Spektrum der in dieses Kapitel fallenden psychopathologischen Symptome und Syndrome reicht von den exogenen Psychosen, etwa bei progressiver Paralyse, bis zu den mannigfaltigen Erscheinungsbildern bei einer Suchtstoffabhängigkeit, ja bis zum akuten alkoholischen Rausch. Es handelt sich hier immer um „krankhafte" Störungen, die nach dem Sprachgebrauch der allgemeinen Pathologie auf einem Krankheitsprozeß, ausgelöst ζ. B. durch eine Infektion, beruhen oder die Folge einer Mißbildung, einer Verletzung oder einer Intoxikation sind. Bonhoeffer beschrieb als erster (1912) den „akuten

exogenen Reaktionstypus" mit dem Leitsymptom der Bewußtseinstrübung bei einer ganzen Reihe internistischer Erkrankungen. Die weitere psychopathologische Forschung hat zu dem Begriff des „organischen Psychosyndroms" geführt, dessen Nachweis in der Regel für eine diffuse und bleibende Hirnrindenschädigung beweisend ist (Bash, Μ. Bleuler). Anfangs kann das Bild des akuten exogenen Reaktionstypus dominierend und die Hirnschädigung reversibel sein. Kennzeichnend ist aber der chronische Verlauf, der in jedem Stadium zum Stillltand kommen und in individuell unterschiedlichem Tempo progredient sein kann. Leitsymptome sind zunehmende Störungen der Merkfähigkeit und der Konzentration, inhaltliche Verarmung des Bewußtseins, Verlangsamung der Psychomotorik, Nachlassen der affektiven Steuerung und Antriebsschwäche — bis zum irreversiblen Defektsyndrom im Sinne einer Demenz. Zur Psychopathologie und Klinik der mannigfaltigen Krankheitsbilder wird auf die Beiträge von Conrad, Faust und Scheid in Band 11/1960, „Psychiatrie der Gegenwart" verwiesen. Unter den zahlreichen Erscheinungsformen körperlich begründbarer psychischer Störungen haben nur wenige eine nennenswerte kriminogene Bedeutung. Dazu gehören Zirkulationsstörungen des Gehirns, insbesondere durch eine sog. Cerebralsklerose. Etwa 8% der Gesamtkriminalität der über Sechzigjährigen sind Sittlichkeitsdelikte, in den jüngeren Jahrgängen weniger als 1%. Da die „Kinderschänder" einen großen Anteil stellen, werden Einzelfälle immer wieder Gegenstand öffentlicher Diskussionen mit der dabei unvermeidlichen Sensationsmache. Bei diesen alternden und alten Sittlichkeitsdelinquenten wird schon durch das späte Faktum einer ersten strafbaren Handlung dieser Art, nach einem bis dahin einwandfreien Lebenslauf, die Vermutung einer organischen Persönlichkeitsveränderung nahegelegt. Wir wissen heute, daß der alternde Mensch im Präsenium oder im Senium in seinem gewohnten Lebenskreis sich durchaus noch unauffällig zu bewegen vermag, daß es aber durch mehr oder weniger vorzeitige Involutionsprozesse gerade in der Intimsphäre der Gefühle und Strebungen zu Veränderungen kommen kann, die oft nicht einmal von seinen nächsten Angehörigen als solche erkannt werden. Damit ist nur ein Sektor aus der Fülle der Probleme angedeutet, die von der psychiatrischen Geriatrie zu bewältigen sind (Chr. Müller, Ruffin). Das Gefäßsystem eines Menschen altert in allen seinen Abschnitten keineswegs gleichmäßig. Ein 65- oder 70jähriger kann in seinem äußeren Habitus wie ein um 10 Jahre Jüngerer aussehen und über eine tadellose Herzfunktion verfügen, aber sein cerebraler Kreislauf, die Hirndurchblutung, ist infolge sklerotischer Veränderungen

Psychiatrie bereits erheblich gestört. Während bei dem einen Menschen die Herzkranzgefäße oder die Gefäße peripherer Körperabschnitte vorzeitig altern bzw. sklerosieren, sind es beim anderen Menschen die Hirngefäße bzw. bestimmte Abschnitte dieses Gefäßgebietes. Durch die Möglichkeit der Kontrastmittel-Darstellung der Hirninnenräume (Pneumencephalographie) und der Hirngefäße (Angiographie) sowie durch bestimmte Methoden der Hirndurchblutungsmessung können wir heute vielfach sklerotische oder atrophische Veränderungen objektiv nachweisen. Wir wissen aber andererseits nur zu gut, daß solche organpathologischen Befunde keineswegs gesetzmäßig mit bestimmten psychischen Veränderungen korrespondieren, und nichts wäre verfehlter, als in dieser Beziehung einen strengen psychophysischen Parallelismus zu postulieren. Immer wieder machen wir die verblüffende Feststellung, daß auch bei eindeutigen und schweren Veränderungen der Hirngefäße, evtl. mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Schwund von Hirnsubstanz, psychische Störungen oder Ausfälle gar nicht oder in einem nur bescheidenen Ausmaß nachweisbar sind. Die Kriminologie hat bisher nur wenig zum Verständnis der Sexualdelinquenz im höheren Lebensalter beitragen können. Die typologische Einordnung unter die „Kriminalit ä t aus Schwäche" sagt uns nicht gerade viel. Auch die im Alter relativ häufige Beleidigung gehört hierher. Bxner schließt eine kurze Abhandlung dieses Kapitels mit der Bemerkung: „Die endgültige Lösung dieser Frage muß den Medizinern uberlassen bleiben." Die Mediziner sind aber auch noch nicht viel weiter gekommen. Die Meinung von Krafft-Ebing, daß es sich stets um ausgeprägte Fälle sogenannten Greisenblödsinns handele, trifft sicher nicht zu. Es ist auch nicht richtig, daß sich nur völlig Impotente an Kindern vergreifen. Das plötzliche Wiederaufleben eines bereits erloschenen Sexualtriebes ist ebenfalls nicht die Regel, wie man früher glaubte. Selbst wenn man von der Annahme ausgehen will, daß eine in der Primärpersönlichkeit nachweisbare oder nicht nachweisbare Disposition eine entscheidende Rolle beim Zustandekommen derartiger Altersdelikte spielt, bleibt immer noch die Frage, ob und wieweit organische Abbauvorgänge, sklerotische oder atrophische Veränderungen gerade bei diesem Mann und unter diesen Umständen zu einem „Versagen" des bisher intakten Hemmungsvermögens geführt haben. Vom sklerosierten Hirngefäß und von der verminderten Hirndurchblutung bis zum Sexualverbrechen ist eben noch ein weiter Weg. Generell und pauschal eine erhebliche Verminderung oder gar Aufhebung der forensisch relevanten Steuerungsfähigkeit — vielleicht auch noch der Einsichtsfähigkeit — bei diesen Patienten 23 HdK, 2. Aufl., Bd. II

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zu postulieren, widerspricht ganz einfach der klinischen Erfahrung, sogar in vielen der Fälle, bei denen ein eindeutig organ-pathologischer Befund zu erheben ist. Auf diesem Wege käme man bald zum „Alters-Strafrecht" und zu der Forderung einer verminderten strafrechtlichen Verantwortlichkeit jenseits einer bestimmten Altersgrenze, über die natürlich die Meinungen erheblich auseinandergehen würden. Verallgemeinerungen oder „Konventionen" sind in diesem Bereich lediglich Konzessionen an ein irgendwie wirklichkeitsfremdes Dogma. Die Unterbringung eines dieser alten Sittlichkeitsdelinquenten in einer psychiatrischen Krankenanstalt kann genauso falsch und ungerecht sein wie seine Verbringung in eine Strafanstalt, weil er in keine der geläufigen Kategorien von Vergeltung, Sühne, Heilung, Besserung oder Pflege (im Sinne der Anstaltspflege) so recht hineinpaßt. Noch schwieriger und wichtiger ist die Frage der Prävention, mit der wir den engeren Bereich der Strafrechtspflege überschreiten. Es ist gar nicht die Insuffizienz unseres Schuldstrafrechts, es sind nicht die Mängel und Schwächen unseres Systems der Schuldfähigkeits-Beurteilung, die unser Unbehagen gegenüber vielen dieser Fälle begründen. Wir wissen ganz einfach nicht, wohin mit diesen alten Menschen, die eben keine Gewohnheitsverbrecher oder Hangtäter sind und deren „Gefährlichkeit" in der Regel mit relativ einfachen Mitteln zu neutralisieren wäre, wenn wir über entsprechende Möglichkeiten verfügten. Zur Lösung dieses schwierigen Problems brauchen wir also keine neue Rechtsordnung, sondern wir brauchen zeitgemäße Institutionen der Fürsorge für die Alten, auch für solche, die nur lockerer Führung und Betreuung bedürfen, um sich nicht oder nicht wieder an Kindern zu vergreifen. Eine andere Gruppe bilden die Hirnverletzten. Es handelt sich dabei nicht nur um die Kriegsbeschädigten, sondern vor allem um die wachsende Zahl der Unfallverletzten. Da das Gros dieser Patienten im Zuge irgendeines Verfahrens der Sozialhilfe ein oder mehrere Male begutachtet wird, verfügt der Psychiater auf diesem Gebiet über besonders umfangreiche Erfahrungen. Hirnverletzte werden aber bemerkenswert selten in Strafverfahren verwickelt, und es besteht nicht der geringste Anhalt dafür, daß eine organische Hirnverletzung einen kriminogenen Faktor im engeren Sinne darstellt. Im Einzelfalle kann es nicht gerade einfach sein, zu entscheiden, in welchem Umfange die Schuldfähigkeit eines Menschen durch eine sog. posttraumatische Wesensänderung oder Hirnleistungsschwäche beeinträchtigt wird. Auch bei den Hirnverletzungen verfügen wir aber durch die Luft-, Echo- und Elektro-Encephalographie wie auch durch die Möglichkeit der röntgenologischen Darstellung der Hirngefäße (Angiographie) über ein wesentlich

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verbessertes Rüstzeug der diagnostischen Objektivierung organischer Hirnveränderungen bzw. Hirndefekte. Dazu kommt eine verbesserte und differenziertere psychologische Diagnostik zur Erfassung psychischer Störungen und Ausfälle (Hiltmann, Meili, Pichot). Wenn auch kein Zweifel besteht, daß uns die Test-Psychologie bei der Diagnostik psychischer Folgen organischer Hirnveränderungen eine wertvolle Hilfe sein kann, so darf man die Tragweite dieser Methoden doch nicht überschätzen (Wewetzer). Leistungs-Testverfahren, wie ζ. B. die Intelligenzprüfung nach Wechsler, der Aufzählversuch nach Busemann, der Rechenversuch nach Kraepelin-Pauli und die verschiedenen Fragebogenmethoden, geben uns immer nur ein Querschnittsbild der Leistung zur Zeit der Untersuchung. Für die zuverlässige Beurteilung der psychischen Folgen einer Hirnverletzung brauchten wir mit denselben Methoden erzielte Vergleichsbefunde vor der Schädigung bzw. dem Trauma. Die Möglichkeit zu einem solchen Vergleich ist aber eine Ausnahme. Dasselbe gilt in vielleicht noch höherem Grade für die sog. Projektions-Testverfahren, wie ζ. B. nach Rorschach, Wartegg, Murray, Szondi, Pfister-Heiss usw. In allen diesen Verfahren kennen wir verschiedene Symptome und Syndrome, die etwa für einen organischen Abbau intelligenter oder charakterlicher Funktionen sprechen, die als im Laufe des Lebens erworbene im Gegensatz zu primärpersönlichen Eigenheiten, Störungen oder Defekten figurieren. Der Beweiswert derartiger Feststellungen ist aber meist nur bescheiden, eben weil der Vergleich mit dem prämorbiden oder prätraumatischen Persönlichkeitsbild fehlt. In den schweren Fällen kann der Testbefund klarer und eindeutiger sein, dann brauchen wir aber für die Diagnose meist keine so differenzierten psychologischen Methoden. Die kriminogene Bedeutung von Anfallskrank· heiten verschiedener Eigenart und Entstehungsweise ist, unter kriminalstatistischen Gesichtspunkten gesehen, nur gering. Zu den Anfallskrankheiten rechnen wir heute außer der anlagebedingten-erblichen (genuinen) Epilepsie zahlreiche Formen symptomatischer Epilepsie bei verschiedenartigen körperlichen Erkrankungen und Verletzungen, insbesondere des Gehirns. Leitsymptom ist der cerebrale Krampfanfall generalisierter oder fokaler Prägung, in abortiver Form (petit mal) oder als Absence, in wechselnder Frequenz und Intensität (Janz, Schorsch, Schulte). Daneben können „Schlafanfälle" als Ausdruck einer Narkolepsie und in Verbindung mit einer meist erhöhten Bereitschaft zu affektivem Tonusverlust, vegetativ-vasomotorische bzw. synkopale Anfälle und schließlich auch tetanische Anfälle gelegentlich als kriminogener Faktor in Erscheinung treten. „Epileptiforme" Anfälle, Schlaf-, Dämmer- und affektive Ausnahmezustände be-

obachten wir auch bei der Spontanhypoglykämie, einem Blutzuckermangelsyndrom bei Störungen des Hypophysenzwischenhirnsystems oder der Nebennierenfunktion, bei hormonal-vegetativen Dysregulationen usw. (Stutte). Die Differentialdiagnose der Anfallskrankheiten konnte in den letzten Jahrzehnten durch Methoden wie Luft- und Elektro-Encephalographie, Stoffwechseluntersuchungen usw. wesentlich verbessert werden. Vieles, was man früher zur „erblichen Fallsucht" rechnete, läßt sich heute auf bestimmte organische Ursachen zurückführen. Auf der anderen Seite wissen wir, daß in Epileptiker-Familien Kriminalität und besonders Gewaltverbrechen gehäuft vorkommen. Forensisch bedeutsam sind bei allen Formen von Anfallskrankheiten episodische Bewußtseinsstörungen und affektive Ausnahmezustände, durch die in der Regel die Schuldfähigkeit eines Delinquenten ausgeschlossen oder doch erheblich eingeschränkt wird. Wesensveränderung und Demenz bei einer genuinen Epilepsie sind hinsichtlich ihrer Folgen für die Schuldfähigkeit ganz individuell nach Ausmaß und Eigenart der psychischen Veränderungen einerseits, Art und Ausführung des Delikts andererseits zu beurteilen. Experimental-psychologische Untersuchungsmethoden können uns hier eine wertvolle Hilfe sein. Kriminologisch wichtig ist, daß die Behandlung der genuinen wie der symptomatischen Epilepsie mit dem Ziel einer Senkung der Anfallsfrequenz und damit einer Verhinderung oder doch Verzögerung progredienter Persönlichkeitsveränderung erheblich verbessert werden konnte (Dreyer, Janz). Bei richtig dosierter, regelmäßiger und elektroencephalographisch kontrollierter medikamentöser Behandlung in Verbindung mit individuell orientierten Hilfen zur sozialen Einordnung lassen sich kriminelle Entgleisungen von Epileptikern weitgehend vermeiden. Die symptomatischen Anfallskrankheiten stellen uns vor manchmal recht schwierige medizinische Fragen diagnostischer und therapeutischer Art. Die Spontanhypoglykämie ζ. B. ist vielleicht häufiger und ihre kriminogene Bedeutung größer als bisher vermutet. Die Diagnose ist relativ leicht, wenn man das Krankheitsbild kennt und — wenn man im gegebenen Fall daran denkt (Schrappe). Nur bei einem noch bescheidenen Teil der nach Eigenart und Ausprägung sehr unterschiedlichen Formen des Schwachsinns kennen wir eine organische Ursache, worauf oben bereits hingewiesen wurde. In einer streng durchgehaltenen Systematik müßten wir uns hier auf diese exogenen Formen beschränken. In kriminologischer und forensischer Sicht geht es aber in erster Linie um den Intelligenzmangel als solchen und die damit verbundenen, mehr oder weniger schweren Defekte bzw. Störungen des Charakters. Die Frage nach den bekannten oder unbekannten Ursachen

Psychiatrie gewinnt erst im Zusammenhang mit prognostischen, pädagogischen und präventiven Erwägungen an Interesse. Die diagnostische Feststellung eines Schwachsinns besagt heute nicht mehr, daß es sich um einen „Pflegefall" handelt, bei dem sämtliche Maßnahmen der Therapie und der Rehabilitation aussichtslos sind. Der auf einer angeborenen Stoffwechselstörung beruhende, metabolisch bedingte Schwachsinn (ζ. B. Phenylketonurie) läßt sich mit gutem Erfolg diätetisch behandeln, sofern er rechtzeitig diagnostiziert wird. Ein thyreogener Schwachsinn verlangt eine möglichst frühe und intensive Behandlung mit Schilddrüsenpräparaten. So gibt es heute eine ganze Reihe ärztlich-therapeutischer Maßnahmen, die bei möglichst frühzeitigem Einsatz durchaus erfolgversprechend sind. Bei bleibenden Intelligenzdefekten gleich welcher Ursache gilt es, rechtzeitig von den Möglichkeiten der Heilpädagogik Gebrauch zu machen (Asperger, Moor). Ein schwachsinniges Kind sollte man heute nicht mehr durch die Normal-Schule schleppen, die ihm nichts zu geben vermag und für die es eine Last ist. Leider ist es noch viel zu wenig bekannt, was in Sonderschulen und durch adäquate Heimerziehung auf diesem Gebiet erreicht werden kann (Trost-Scherpner). Gerade bei diesem Personenkreis, der gern an die Peripherie des therapeutischen und sozialen Bewußtseins verdrängt wird, lassen sich durch eine gezielte und intensivierte Behandlung und Fürsorge erstaunliche Erfolge erzielen, wie die in den letzten Jahren schnell gewachsene Bundesvereinigung „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind" eindrucksvoll bewiesen hat. Für den erwachsenen Schwachsinnigen kommt es vor allem auf eine ihm gemäße fürsorgliche Betreuung, auf die Schaffung eines seinen intellektuellen Potenzen angepaßten Lebensraumes an. Hier hat sich uns ein weites Feld der Kriminalprävention eröffnet, dessen Möglichkeiten bisher nur in Ansätzen genutzt wurden. — Zu der vielschichtigen Problematik des Schwachsinns insgesamt wird auf die Handbuchbeiträge von Benda und Poeck verwiesen. Die kriminogene Bedeutung der Oligophrenien wurde früher überschätzt. Andererseits ist es eine lange bekannte Tatsache, daß in den Sippen von sog. Erbschwachsinnigen Asozialität und Kriminalität gehäuft vorkommen. Hochgradiger Schwachsinn, die Idiotie, ist kriminologisch uninteressant, da Idioten in der Regel irgendwie verwahrt werden. In der forensischen Praxis spielen aber die Intelligenzmängel leichteren und mittleren Grades schon rein zahlenmäßig eine beachtliche Rolle. Standardisierte testpsychologische Untersuchungsverfahren ermöglichen uns heute eine relativ zuverlässige Diagnostik von Ausfällen und Störungen im Bereich der Intelligenz mit ihren verschiedenen Unterfunktionen. Andere Bereiche seelischen Lebens und Erlebens 23'

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lassen sich diagnostisch viel schwieriger fassen, weil es an einem quantifizierbaren Bezugspunkt in Gestalt der Durchschnittsnorm fehlt. Forensisch und kriminalprognostisch besonders problematisch ist die Kombination von geringergradigem Schwachsinn mit bestimmten Charaktermängeln. Das Persönlichkeitsbild eines Schwachsinnigen ist durch die Feststellung eines erniedrigten Intelligenzquotienten noch nicht ausreichend charakterisiert. Jeder Grad von Intelligenzmangel pflegt sich auch in individuell ganz unterschiedlicher Eigenart und Ausprägung auf das übrige Persönlichkeitsbild auszuwirken. Dabei handelt es sich um eine in der Psychiatrie keineswegs neue Erkenntnis, die aber vom BGH in einem Urteil vom 2.2.1966 (NJW 1966, 1275) übersehen wurde. Bemerkenswert in der Begründung dieses Urteils ist einmal die rein theoretische Differenzierung von Einsichtsfähigkeit und Fähigkeit zu einsichtsgemäßem Handeln als abstrakt und unabhängig voneinander bestimmbare Größen, zum anderen die nicht minder theoretische Aufspaltung von potentieller und aktueller Einsicht. Mit der Lebenswirklichkeit haben derartige begriffliche Differenzierungen nichts zu tun, und in der Gerichtspraxis sind sie unbrauchbar. Eine Pseudodemenz, also ein unechter Schwachsinn, kann gelegentlich einmal forensisch Schwierigkeiten machen und kriminologisch interessant werden, wenn es sich nicht um eine eindeutig zweckgerichtete Simulation handelt. Pseudodementes Verhalten findet man auch bei leicht Schwachsinnigen und bei Psychopathen. Man muß sich dann um die Abklärung der mehr oder weniger unbewußten, psychogenen Hindergründe eines solchen Verhaltens bemühen. Auch eine Pseudodemenz kann einmal eine echte Beeinträchtigung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bedeuten. Unter den Partialstörungen der Intelligenz war in den letzten Jahren die kongenitale Legasthenie, die erbliche Lese-Rechtschreibeschwäche, Gegenstand eingehender Untersuchungen (Grissemann, Ingenkamp, Schenk-Danzinger, Weinschenk). Es handelt sich um eine angeborene, unterschiedlich ausgeprägte Schwäche im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens bei sonst ausreichender Intelligenz und ohne gravierende Ausfälle oder Störungen hinsichtlich der Funktion der Sinnesorgane oder des Zentralnervensystems. Bei dem kongenitalen Legastheniker ist die Fähigkeit des Zusammenlesens von Buchstaben zu Worten wie die der Zerlegung von Worten in Buchstaben in individuell sehr unterschiedlicher Ausprägung beeinträchtigt. Da diese Form der Legasthenie, ihre Häufigkeit und ihre große pädagogische Bedeutung in der Lehrerschaft noch zu wenig bekannt ist, bleibt die Eigenart der Störung gerade in den ersten Schuljahren verborgen. Das ist um so bedauerlicher, weil eine kongenitale Legasthenie

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durch eine möglichst früh einsetzende sonderpädagogische Behandlung durchaus günstig zu beeinflussen, ja zu heilen ist, zumal es auch nicht wenige Abortivformen dieser Störung mit spontaner Heilungstendenz zu geben scheint. Die mangelhaften Leistungen legasthenischer Kinder im Lesen und Rechtschreiben werden aus Unkenntnis noch immer und zu oft mit Dummheit oder Faulheit erklärt. J e nach der charakterlichen Eigenart und den Umweltbedingungen eines Kindes können sich daraus mehr oder weniger erhebliche und auch bleibende Konfliktsituationen ergeben. Eine unerkannte kongenitale Legasthenie ist zweifellos ein neurotisierender Faktor, der je nach persönlicher Eigenart und Lebenssituation zu langdauernden oder bleibenden Fehlhaltungen führen kann. Bei der Untersuchung von 120 Strafgefangenen fand Weinschenk eine kongenitale Legasthenie in beachtlicher Häufigkeit. Eine zuverlässige Aussage über die Verbreitung dieser Anomalie in der Gesamtpopulation wie in bestimmten Gruppen von Delinquenten wird aber von dem Ergebnis weiterer Untersuchungen und ihrer statistischen Signifikanz abhängen. 4. Endogene oder kryptogene

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Die unter dieser Rubrik zusammengefaßten schizophrenen und manisch-depressiven Erkrankungen sind keineswegs als eine nosologische Einheit zu verstehen. Man unterscheidet zwischen einem schizophrenen Formenkreis und einem manisch-depressiven Formenkreis, man spricht von einer Gruppe der Schizophrenien und von einer Gruppe der Zyklothymien. Die Bezeichnung Zyklothymie ist nach dem Vorschlag von Kurt Schneider eine sachlich begründete Korrektur des früher üblichen Begriffs „manisch-depressives Irresein", weil diese Patienten nicht „irre" sind, weil es sich nicht um „Geisteskrankheiten", sondern um „Gemütskrankheiten" handelt. Diese an sich zu begrüßende terminologische Bereinigung wird nur dadurch etwas gestört, daß Itretschmer mit dem Begriff „zyklothym" normale Temperamentsvarianten charakterisierte, die im Falle der Erkrankung offenbar als Disposition in Richtung einer manisch-depressiven Psychose sich auswirken. Die Verwendung des Plural in der Überschrift für jede der beiden Gruppen rechtfertigt sich dadurch, daß nach Eigenart und Verlauf verwandte psychopathologische Syndrome in jeder der beiden Gruppen zusammengefaßt werden. Es gibt auch sog. Mischbilder mit „Grenzüberschreitung" gruppentypischer Symptome. So kann ein Schizophrener depressiv verstimmt sein, und bei einem Depressiven können schizophrenieähnliche Denkstörungen beobachtet werden. Die intensivere Bearbeitung der exogenen Reaktionsformen, des organischen Psychosyndroms, der pharmakologischen Modellpsychosen und schließ-

lich der Psychoreaktiven Störungen hat gelehrt, daß psychopathologische Symptome und Syndrome „unspezifischer" sind, als man früher angenommen hat. Der in der deutschsprachigen Psychiatrie so liebevoll gepflegte Streit um die Differentialdiagnose endogen-psychotischer Krankheitsbilder hat in der anglo-amerikanischen Psychiatrie nur wenig Resonanz gefunden, weil er für die Behandlung und Rehabilitation dieser Kranken von untergeordneter Bedeutung ist. Die unbekannte organische Ursache ist den endogenen Psychosen noch immer gemeinsam, verbindet sie irgendwie. Bis auf weiteres handelt es sich um — wenn auch mit guten Gründen — „postulierte" Krankheiten im engeren medizinischen Sinn. Psychopathologie und Klinik der Schizophrenien sind ein weites Feld, in dem nur einige schmale Sektoren für den Kriminologen und die forensische Praxis interessant sind. Die Vielfalt der Krankheitsbilder kann man nach verschiedenen Gesichtspunkten gliedern und untergliedern. Neben der Dementia simplex sind hebephrene, katatone und paranoide Formen im internationalen Sprachgebrauch anerkannte Klassifikationen. Formale und inhaltliche Störungen des Denkens können in Verbindung mit eigenartigen Veränderungen der Wahrnehmung und des Antriebs zu typischen und unverwechselbaren Krankheitsbildern führen. Ganz so einfach ist es aber nicht mit der Diagnose der Schizophrenien, zumal die eindeutigen und beweisenden Symptome oft erst im Laufe einer kürzeren oder längeren Beobachtung überzeugend erkennbar werden. Der episodische Verlauf der Erkrankung, in kürzeren oder längeren Abständen sich wiederholende „schizophrene Schübe" gelten als typisch, sind aber keineswegs obligatorisch. Die Krankheit kann abrupt oder schleichend beginnen; sie kann in jedem Stadium mit oder ohne Behandlung, mit oder ohne nachweisbaren Persönlichkeitsdefekt zum Stillstand kommen. Vielfach endet eine Schizophrenie in einem therapeutisch weitgehend unbeeinflußbaren Persönlichkeitsdefekt. Die Häufigkeit schizophrener Erkrankungen in der Gesamtpopulation wird, mit einer manchmal erheblichen Streubreite, auf etwa 1 % geschätzt. In den psychiatrischen Krankenanstalten stellen die Schizophrenen den größten Anteil der längerfristig oder dauernd Untergebrachten und neuerdings auch der wiederholt zur Aufnahme kommenden Patienten, die an einer Psychose leiden. Die heute dominierende Behandlung mit einer ständig wachsenden Zahl von Psychopharmaka bedeutet noch keine „Heilung" des unbekannten somatischen Grundprozesses, sie hat aber die Zahl der schizophrenen „Pflegefälle" in den Krankenanstalten beträchtlich vermindert, und sie ermöglicht uns in vielen Fällen eine wirkliche Rehabilitation. Die kriminogene Bedeutung der Schizophrenien wird vielfach noch zu hoch eingeschätzt. Nach wie

Psychiatrie vor ist der eigentlich geisteskranke Verbrecher eine Ausnahmeerscheinung innerhalb der Gesamtkriminalität. Darüber können auch in Abständen regelmäßig wiederkehrende und sensationell aufgebauschte Berichte und Meldungen über besonders schwere Gewaltverbrechen von tatsächlich oder vermeintlich Geisteskranken nicht hinwegtäuschen. Kriminologisch interessierte Psychiater haben sich wiederholt und eingehend mit dem Thema „Schizophrenie und Mord" beschäftigt (Bürger-Prinz, Schipkowensky, Wilmanns u. a.). Interessante Einzelfälle wurden immer wieder publiziert, eben weil es sich um Ausnahmen handelt (Ehrhardt 1959). Am bekanntesten wurde der von Gaupp über viele Jahre beobachtete und meisterhaft beschriebene Fall des Hauptlehrers Wagner. In der forensischen Praxis kann die Beurteilung etwa der Schuldfähigkeit oder der Geschäftsfähigkeit im Prodromal- oder Initialstadium einer Schizophrenie sowie bei leichteren und unklaren schizophrenen Persönlichkeitsdefekten recht schwierig sein. Die alte These, daß die Diagnose Schizophrenie zugleich auch Schuldunfähigkeit impliziere, muß als überholt bezeichnet werden. Bei den schweren und manchmal schon dem Laien erkennbaren Rrankheitsformen ist das natürlich richtig. Bei den leichteren Erkrankungen, deren Symptomatologie heute oft noch durch eine länger dauernde psychopharmakologische Behandlung überdeckt und verschoben sein kann, sind die diagnostischen Meinungsverschiedenheiten unter den Psychiatern größer geworden. Wir müssen uns also ganz auf die Analyse des konkreten Einzelfalles, auf die Persönlichkeitsstruktur dieses Täters zur Zeit dieser Tat konzentrieren. Noch schwieriger kann die Beurteilung in den sog. Grenzfällen werden, die aber in der forensischen Praxis Raritäten sind. Die psychiatrische Erfahrung lehrt, daß es , .krankheitsverdächtige" psychopathologische Syndrome gibt, die durch ihre „Psychosennähe" auffallen, ohne daß man sie zur Zeit der Untersuchung als Psychose zu klassifizieren vermag. Als Beispiel wäre auf den in der Psychiatrie von jeher umstrittenen Formenkreis der Paranoia oder des Paranoiden zu verweisen, soweit sich derartige Syndrome nicht oder noch nicht den Schizophrenien zuordnen lassen. Es handelt sich hier lediglich um seltene Grenzfälle der psychiatrischen Diagnostik, bei denen etwa das Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung als Voraussetzung von Schuldunfähigkeit nicht auszuschließen ist. — Standardwerk für alle Fragen der Psychopathologie und Klinik der Schizophrenien, abgesehen von Therapie und Rehabilitation, ist nach wie vor der von Wilmanns herausgegebene Band IX/1932 des „Handbuchs der Geisteskrankheiten" (0. Bumke). Die manisch-depressiven Erkrankungen, die Zyklothymien, sind durch eine große Mannig-

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faltigkeit der Erscheinungsbilder und der Verlaufsformen gekennzeichnet. Es handelt sich um sog. Gemütskrankheiten mit dem Schwerpunkt der pathologischen Veränderungen im Bereich der Lebensgrundstimmung. Auch für die Zyklothymien ist der episodische Verlauf in „Phasen" individuell ganz unterschiedlicher Dauer und Frequenz charakteristisch. Der regelhafte Wechsel von manischen und depressiven Phasen ist nur eine Verlaufsform unter anderen, die nicht einmal besonders häufig ist, aber doch zu der alten Bezeichnung der ganzen Krankheitsgruppe geführt hat. Daneben gibt es auch mehr oder weniger chronische Verlaufsformen, die uns vor besonders schwierige therapeutische Probleme stellen. Der progressive Persönlichkeitszerfall, wie wir ihn bei schizophrenen Krankheitsprozessen beobachten, gehört nicht zum Krankheitsbild der Zyklothymien. Die heitere Grundstimmung und Selbstüberschätzung bis zu Größenideen, der Antriebsüberschuß und die Enthemmung verführen den Maniker gelegentlich zu geschäftlichen Transaktionen, die seine realen finanziellen Potenzen weit übersteigen, zu betrügerischen Manipulationen, zu Eigentums- und manchmal auch zu Sittlichkeitsdelikten. Bei „gereizten oder zornigen" Manien kann es einmal zu Gewaltverbrechen kommen. — Psychopathologie^ führende Symptome der endogenen Depression sind die vitale Traurigkeit, die psychomotorische Hemmung, wahnhafte Ideen mit Minderwertigkeits- und Schuldgefühlen, Verarmungsvorstellungen, Versündigungsangst, Hypochondrie und expansiver Nihilismus. Solange in dem Bild einer Depression die Hemmung dominiert, ist der Kranke mehr oder weniger handlungsunfähig, insoweit „schützt" ihn auch die Hemmung vor kriminellen Handlungen. Bei weniger ausgeprägter Hemmung kann es zu Unterlassungsdelikten oder falscher Selbstbeschuldigung infolge wahnhafter Schuldgefühle kommen (Hippius-Selbach, Schulte-Mende). Das für Depressive gleichsam typische „Delikt" ist der nach deutschem Recht nicht strafbare Suizid aus psychotischen Schuld- und Angstgefühlen heraus (-»• Selbstmord). Will der Kranke auch nächste Angehörige oder Freunde vor vermeintlichem Unheil, Schande, Elend oder dergleichen bewahren, kommt es zu den tragischen Fällen von erweitertem Selbstmord. Die polizeiliche Kriminalstatistik der Bundesrepublik verzeichnete im Jahre 1965 rund 10600 Selbstmorde und rund 13400 Selbstmordversuche. Für 66,5% der männlichen und 81,6% der weiblichen Selbstmörder werden „unheilbare Krankheit, Schwermut, Nervenleiden" als Motive angegeben. Dasselbe Motiv findet sich bei den Selbstmordversuchen in 37,3% bzw. 41,0% der Fälle. Ein erhebliches Kontingent dieser Motivationsgruppe dürften nicht erkannte, nicht oder unvollkommen behandelte endogene Depressionen stellen. An-

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gesichts dieser Zahlen ist es wohl begründet, daß man sich in den letzten Jahren intensiver und von verschiedenen Seiten um die Probleme des Selbstmordes und insbesondere der Selbstmordverhütung bemüht (Dubitscher, Dürkheim, Gibbs, Pöldinger, Ringel, Stengel, Thomas, Zwingmann). Verstimmungen manischer oder submanischer, depressiver oder subdepressiver Prägung außerhalb des engeren Kreises der eigentlichen phasischen Psychosen sind psychologisch weitgehend indifferent und unspezifisch, diagnostisch schwer faßbar und therapeutisch ebenso schwer angehbar. Auf dem Hintergrund einer konstitutionell gegebenen Lebensgrundstimmung individuell sehr unterschiedlicher Tönung verfügt jeder Mensch über eine weitgehend variable Skala affektiver und gemütsmäßiger Reaktionsmöglichkeiten (Albrecht). Lebensgrundstimmung, Gemüt und affektives Reaktionsspektrum sind individuelle Gegebenheiten, die wir in der Kriminologie weder überschätzen noch vernachlässigen dürfen. Wenn wir nach den in der Persönlichkeit liegenden Verbrechensursachen fragen, wird uns stets die aus Lebenslängsschnitt und rezentem psychischem Befund erschließbare endothyme Sphäre ganz besonders interessieren. Wir werden uns aber der Tatsache bewußt bleiben, daß jeder Psychodiagnostik in diesem Bereich bis jetzt — und vielleicht grundsätzlich — enge Grenzen gezogen sind. Stimmung, Gemüt und Affektivität — außerhalb des Psychotischen ·— sind immer nur einzelne Faktoren in einer sehr komplexen Ursachenkombination bzw. in einem sehr vielgestaltigen Motivbündel zum Verständnis einer verbrecherischen Handlung. 5. Psychopathien, Neurosen, abnorme Reaktionen Die seelischen Gesundheitsstörungen, mit denen es die Psychiatrie zu tun hat, zerfallen in drei Hauptgruppen: Sie können körperlich begründbar und damit krankhaft sein, dazu rechnet man auch die sog. endogenen Psychosen als zur Zeit nur „postulierte" Krankheiten, sie können auf einer anlagemäßigen seelischen Abartigkeit beruhen, und sie können schließlich Psychoreaktiv (neurotisch) bedingt sein. Der Psychiater wird damit, und zwar nicht nur als forensischer Gutachter, vor heterogene und manchmal recht schwierige Aufgaben gestellt. In unserem ärztlichen Tun und Lassen stehen selbstverständlich krankhafte, konstitutionell-charakterogene und psychoreaktivneurotische Gesundheitsstörungen, organische Krankheit und psychogenes Kranksein, gleichberechtigt nebeneinander. Der „ärztliche Auftrag" kennt keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen gestörter Gesundheit. Auch in der Kriminologie spielt die Unterscheidung von krankhaften und nicht-krankhaften seelischen Störungen keine so entscheidende Rolle,

wenn wir lediglich nach den in einer mehr oder weniger abnormen Persönlichkeitsstruktur liegenden Ursachen kriminellen Verhaltens fragen. Für den Richter wie für den Arzt als Sachverständigen des Gerichts erscheint diese Problematik in einem anderen Licht, weil es sich um eine andere Fragestellung handelt. Einen „Geisteskranken" kann man für sein Fehlverhalten im strafrechtlichen oder zivilrechtlichen Sinn nicht verantwortlich machen. Wie ist es aber mit dieser Verantwortlichkeit, im weitesten Sinne jeder Rechtsordnung, bei den nichtkrankhaften seelischen Störungen? In der Gutachtertätigkeit müssen deshalb Wortlaut und Sinn einer gesetzlichen Vorschrift bestimmend sein. Die vom Arzt konstatierte Hilfsbedürftigkeit oder Hilfsmöglichkeit ist kein Maßstab für die Voraussetzungen der Schuldfähigkeit oder der Geschäftsfähigkeit oder der Erwerbsfähigkeit. Jeder Mensch kann einmal „abnorm" reagieren, zumindest im Sinne einer mehr oder weniger erheblichen Abweichung von der ihm eigenen „normalen" Reaktionsweise. Der Normbegriff war in den verschiedenen Wissenschaften, die es mit dem Menschen zu tun haben, von jeher umstritten (Müller-Suur). Der Schweizer Strafrechtler Hafter hat einmal geäußert: „Wo immer man sich umsieht, erkennt man die verlorene Liebesmühe, den Normalmenschen überzeugend zu charakterisieren. Er existiert nicht"'. Diese Skepsis ist berechtigt, wenn man an eine für den Juristen brauchbare und kurze Definition denkt, an einen Maßstab, der ebenso präzise wie leicht und schnell zu handhaben ist. Die Definition und den Maßstab gibt es zwar nicht, dafür aber den Menschen mit den Kennzeichen des Normalen, des Krankhaften oder des Abnormen. Das dürfte für die Rechtspraxis entscheidend sein. Wyrsch meinte dazu, vielleicht habe Hafter recht, und die psychische Norm existiere nicht, dann müsse man aber ergänzen: „Sie existiert nicht an sich, als Ding, losgelöst von gerade diesem Menschen, der normal ist, sondern es gibt sie immer nur in Verbindung mit dem jeweils lebendigen Menschen, dem wir sie zugestehen oder absprechen." Ganz ähnlich ist es mit dem Begriff der Gesundheit, der sich zwar nicht mit dem der Norm deckt, bezüglich der Definition gilt aber das eben Gesagte (Büchner et al.). Wenn man Gesundheit im Sinne der Präambel zu der Satzung der Weltgesundheitsorganisation als Optimum körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens versteht — natürlich nicht als Idealnorm, sondern im Rahmen der individuellen wie sozialen Gegebenheiten und Möglichkeiten —, dann müssen wir auch mit einer beachtlichen Zahl möglicher Störungsbedingungen rechnen. Eine Normabweichung oder eine Gesundheitsstörung, die wir bei den meisten Menschen nachweisen können, ist also — für sich allein betrachtet — durchaus noch kein kriminogener Faktor. Abnorme Ver-

Psychiatrie haltensweisen müssen nach ihrer Eigenart und Frequenz, vor allem nach ihrem Stellenwert im Persönlichkeitsgefüge, beurteilt werden. In diesem Abschnitt geht es ausschließlich um die vielfältigen Erscheinungsbilder der sog. „kleinen" Psychiatrie, die in der Kriminologie und in der forensischen Praxis wie in der ambulanten Tätigkeit des Arztes — auch des Nervenarztes — eine viel größere Rolle spielen als die ausgeprägten Krankheitsbilder bei den eigentlichen Psychosen und den hirnorganisch bedingten Defektzuständen, die wir zur „großen" Psychiatrie rechnen (Bräutigam). Abnorme Reaktionen, neurotische oder psychopathische Verhaltensweisen können natürlich auch einmal körperlich begründet oder mitbegründet sein. Die Aufdeckung somatischer Ursachen ist eine in manchen Fällen schwierige Aufgabe psychiatrischer Differentialdiagnostik. Der medizinisch so interessante Einzelfall darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um Ausnahmeerscheinungen in dem weiten Feld der „kleinen" Psychiatrie handelt. Verfügten wir über zuverlässige Statistiken, so würde der Anteil der körperlich mehr oder weniger begründbaren Störungen dieses Bereichs wahrscheinlich viel kleiner sein als die Zahl der metabolisch oder sonstwie exogen bedingten Schwachsinnsformen gegenüber dem Gros der idiopathisch Schwachsinnigen, wie oben ausgeführt wurde. Die verschiedenen somatischen Untersuchungsmethoden, die im Laufe der letzten Jahrzehnte in der Psychiatrie und Neurologie an Bedeutung gewonnen haben, wurden natürlich auch im Hinblick auf die diagnostische Brauchbarkeit bei sog. Psychopathen oder Neurotikern eingesetzt. Stoffwechselpathologie und Endokrinologie, Neurophysiologie und Neuroradiologie, schließlich auch die Humangenetik vermochten bisher nur bescheidene Beiträge zur Abklärung möglicher somatischer Ursachen in Einzelfällen aus dem großen Bereich der hier gemeinten Störungen beizutragen. Deswegen erübrigt sich eine ausführlichere Darstellung der einschlägigen Arbeiten in diesem Zusammenhang. —· Auf das Sammelreferat von Petrilowitsch und Baer (1967) wird verwiesen. Für die Zwecke der Kriminologie und der Rechtspraxis empfiehlt es sich, die Störungen der „kleinen" Psychiatrie im Zusammenhang zu sehen. Die alten Auseinandersetzungen innerhalb der Psychiatrie über kausale Erklärung, psychologisches Verständnis und nosologische Zuordnung einzelner Erscheinungsformen dieser Störungen haben für die Kriminologie eine nur begrenzte Bedeutung. Nach dem heutigen Stand der Erkenntnis handelt es sich dabei zum größeren Teil um historische und um „dogmatische" Positionen. Kurt Schneider, und mancher seiner Schüler noch heute, verwirft den Begriff der Neurose, was im Hinblick auf das ursprüngliche Wortverständnis

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sachlich durchaus begründbar ist. Im internationalen Sprachgebrauch denkt aber heute niemand mehr an „Nervenkrankheiten", wenn von Neurosen die Rede ist. Auch K. Schneider unterscheidet abnorme Reaktionen auf äußere Erlebnisse und innere Konfliktreaktionen, die beide zu „erlebnisreaktiven Entwicklungen" führen können. Eben diese Störungen werden im internationalen Sprachgebrauch nunmehr Neurosen genannt, während die „Nervenkrankheit" Neurose aus der Nosologie verschwunden ist. Geblieben ist die Abgrenzung der Neurosen von den Psychopathien als mehr oder weniger anlagebedingter Abnormitäten des Charakters oder der Persönlichkeit, was durch die bereits erwähnte internationale Klassifikation der Krankheiten von 1968 bestätigt wurde. Anlagebedingt heißt noch keineswegs erbbedingt, die Feststellung einer anlagemäßigen Charakterabartigkeit impliziert auch nicht Irreversibilität oder Unbeeinflußbarkeit durch Milieufaktoren, insbesondere durch bestimmte Formen der Behandlung. Neurosen und Psychopathien, neurotische und psychopathische Entwicklungen sind keine nosologischen Entitäten, sie lassen sich nicht nach den in der Organpathologie üblichen Kriterien voneinander abgrenzen. Es handelt sich nicht um Krankheiten im engeren medizinischen Sinn. Deswegen sind wir in der Differentialdiagnose neurotischer und psychopathischer Störungen auf die der Psychologie und Psychopathologie eigene akzentuierende Begriffsbildung angewiesen, deren Eigengesetzlichkeit gegenüber der determinierenden Begriffsbildung der Naturwissenschaften nicht verkannt werden darf. Zwischen Neurosen und Psychopathien gibt es keine „exakt" faßbare Grenze, was sich etwa in dem Begriff der Kern- oder Charakterneurose ( J . H. Schultz) sehr deutlich zeigt. Sogenannte Kernneurosen können sich immer nur auf dem konstitutionellen Hintergrund einer irgendwie anlagebedingten Charakterabartigkeit entwickeln. Aus der neueren Konfliktpsychologie (Lehr, Lückert, Pongratz, Thomae) haben wir gelernt, daß die jedem Menschen im Laufe seiner Entwicklung und in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt aufgegebene Verarbeitung von Konflikten in mannigfaltiger Weise, einmalig oder wiederholt, vorübergehend oder dauernd, gestört sein kann. In den „natürlichen und normalen" Konfliktsituationen geht es unter einem mehr oder weniger imperativen Entscheidungsdruck um das Nebeneinander und Gegeneinander verschiedener, in sich unvereinbarer oder widerspruchsvoller Verhaltenstendenzen, elementarer Triebe und vitaler Bedürfnisse. Reifungskonflikte, Frustrationskonflikte oder Ambivalenzkonflikte wären hier als geläufige Beispiele zu nennen. Die verschiedenen Tendenzen, die zu einer Konfliktkonstellation führen, können teil-

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weise oder ganz unbewußt bleiben. Hier stoßen wir auf den Ansatzpunkt des tiefenpsychologischen oder psychoanalytischen Verständnisses von Neurosen. In der von Sigmund Freud geschaffenen Psychoanalyse als Behandlungsmethode geht es primär und entscheidend um die Bewußtmachung von unbewußten Tendenzen, die zu neurotischen Störungen des Erlebens und Verhaltens geführt haben. Diese Grundkonzeption gehört heute zum unverlierbaren Erkenntnisbestand der Psychiatrie. Die kaum noch überschaubare Fülle auf Freud sich berufender Interpretationen und Lehrmeinungen, bis zu ideologisch verbrämten Systemen der Analyse von Mensch und Gesellschaft mit dem Ziel der Weltverbesserung, ist davon wohl zu unterscheiden. So ζ. B. haben die aggressiv-phantastischen Behauptungen und Forderungen Reiwalds dem legitimen Anliegen der Neurosenpsychologie in der Kriminologie mehr geschadet als genützt. Die Geschichte der „psychoanalytischen Bewegung" lehrt, wie verfehlt es ist, wenn übereifrige Jünger eine Forschungsmethode oder ein Behandlungsverfahren in eine Weltanschauung umzumünzen versuchen. Um nur ein Beispiel aus jüngster Zeit zu nennen: J. Lacan und der französische Strukturalismus (J. Am6ry). Die klassische Psychoanalyse ist schon lange nicht mehr das einzige und das letzte Wort zum Verständnis und zur Behandlung der Störungen der „kleinen" Psychiatrie. Die wiederholten Versuche, die Neurosen in den Psychopathien oder umgekehrt, aufgehen zu lassen, sind ebenso unfruchtbar und überholt wie die bei manchen amerikanischen Psychiatern noch immer bestehende Tendenz, Neurosen und Psychosen lediglich als unterschiedliche „Reaktionsformen" zu betrachten. In der russischen Psychiatrie wurden die Psychoanalyse Freuds wie auch alle verwandten psychotherapeutischen Schulen von jeher abgelehnt. Grundlage eines rein physiologischen Verständnisses neurotischer und psychopathischer Verhaltensstörungen ist nach wie vor die Lehre von den bedingten Reflexen, wie sie in den Arbeiten von Setschenow und Pawlow, Bechterew und Korsakow entwickelt wurde. Die einschlägigen Forschungen der sowjet-russischen Psychiatrie in den letzten Jahrzehnten scheinen sich einstweilen noch ziemlich eng und fast ausschließlich an diese Grundkonzeption zu halten (Giljarowsky). In der neueren Entwicklung des amerikanischen Behaviourismus, der Reflexologie, beim Studium der experimentellen Neurosen und in den Lerntheorien finden wir ähnliche Tendenzen (Hilgard, Massermann, Skinner, Thorpe, Young). Auf die Übersichtsreferate von Brengelmann und Jung wird verwiesen. Die vergleichende Erforschung angeborenen Verhaltens (Ethologie) ist ein Arbeitsgebiet, das sich auch bei uns in den letzten Jahren zunehmender Beachtung erfreut. Die Ethologie ist eine

empirische Wissenschaft, die in ihrer Arbeitsweise die Methoden und Ergebnisse der genannten Forschungsrichtungen einbezieht. Zunächst geht es um das Verhalten von Tieren, und wenn der Ethologe von „Angeborensein" spricht, so wird damit die Bedeutung peristatischer Einflüsse — Entwicklung, Reifung, Prägung — weder übersehen noch geleugnet (Lorenz, Tinbergen, Eibl-Eibesfeldt). Das Studium des Verhaltens, insbesondere bei höheren Säugetieren, vermag uns eine Fülle von Einsichten in die „Basisstruktur" menschlichen Verhaltens und Fehlverhaltens zu eröffnen, sofern man sich vor voreiligen Schlußfolgerungen hütet. Ploog hat in einem Übersichtsreferat die bisherigen Ergebnisse dieses Forschungszweiges mit den sich daraus ergebenden Perspektiven für die Psychiatrie dargestellt. Eysenck und Mitarbeiter entwickelten auf Grund der Ergebnisse der Verhaltensforschung ein eigenes Verfahren der Behandlung, die Verhaltenstherapie, die zwar vorerst noch nicht zu einer „Standardmethode" ausgereift ist, aus der aber eine für die Kriminologie sehr beachtliche Möglichkeit der Behandlung neurotischer und psychopathischer Delinquenten werden könnte (Franks, Krasner, Wölpe). Eine Systematik der Störungen der „kleinen" Psychiatrie, die man als „verbindlich" oder der „herrschenden Meinung" entsprechend bezeichnen könnte, gibt es bisher nicht. Angesichts der noch relativ kurzen Geschichte der wissenschaftlichen Psychiatrie und der Vielfalt ihrer Theorienbildung ist das nicht verwunderlich. Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen bereits ergibt, kann man die heutige Psychiatrie nicht mehr unter simplifizierenden Alternativen begreifen, also etwa eine dynamische Psychiatrie psychoanalytischer Prägung als „zeitgemäß" einer deskriptiv-phänomenologischen Psychiatrie, wie sie von Kraepelin entwickelt wurde, als „überholt" entgegensetzen. Der ganz unwissenschaftliche Vorwurf der „Antiquiertheit" dürfte auf Freud nicht weniger als auf Kraepelin zutreffen, ohne daß dadurch die bleibende Bedeutung des Werkes beider Forscher irgendwie tangiert würde. Die organo-dynamische Konzeption der Psychiatrie von Henri Ey, die Daseinsanalyse im Sinne von L. Binswanger oder R. Kuhn und die damit verwandten Vorstellungen einer verstehenden Anthropologie von Zutt (in diesem Zusammenhang auch Buytendijk, von Gebsattel, Portmann, E. Straus), die Psychosomatik (Delay, Lopez-Ibor, Spiegelberg, Stokvis, Th. v. Uexküll), die ethnologisch-transkulturelle Psychiatrie (Beaubrun, Carstairs, Ellenberger, Kiev, Leighton, Mead, Murphy, Pfeiffer, Wittkower, Ciba Foundation Symposium on Transcultural Psychiatry 1965), Psychohygiene und Sozial-Psychiatrie (Bastiede, Bellak, David, Duchene, Caplan, Hoch, Hollingshead, Jones, Klineberg, Meng, Reimann,

Psychiatrie Soddy, Strotzka, Thornton, Tramer, WilliamsOzarin, Wing) sind weitere Arbeitsriehtungen und Forschungsansätze in der heutigen Psychiatrie, die als unterschiedliche Ausgangspositionen für eine hier in Rede stehende Systematik kaum zu übereinstimmenden Ergebnissen führen können. Trotz dieser Schwierigkeiten grundsätzlicher oder dogmatischer Art gibt es doch eine Reihe von Kriterien hinsichtlich Diagnose, Prognose und Therapie, die aus der rein klinischen Erfahrung stammen und über deren Anwendung in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis weitgehend Übereinstimmung besteht. Wenn man etwa neurotische Reaktionen und Entwicklungen als Haltungsanomalien den psychopathischen Reaktionen und Entwicklungen als Artungsanomalien gegenüberstellt, so ist das empirisch wohl begründet und gerechtfertigt, sofern man sich stets der Tatsache bewußt bleibt, daß es sich hier nie um mathematisch-naturwissenschaftlich fixierbare Größen handelt, daß es im konkreten Einzelfall nicht nur und allein um „Haltung", nicht nur und allein um „Artung" geht, daß es neurotisch überformte Psychopathien und psychopathisch geprägte Neurosen gibt, daß auch rein organpathologische Faktoren eine größere oder kleinere Rolle spielen können. Auf den Versuch einer vorwiegend ätiologisch, teils symptomatologisch orientierten Systematik von Binder (1960) kann hier verwiesen werden. Die Psychoanalyse und die ihr nahestehenden tiefenpsychologischen Schulen haben sich mit vergleichsweise nur bescheidener Intensität um die Systematik bemüht. Freud selbst unterschied zwischen Aktualneurosen und Psychoneurosen oder Abwehrneurosen, später zwischen Übertragungsneurosen und narzißtischen Neurosen. Dieser Klassifizierungsversuch hat sich nicht durchgesetzt. — Zur weiteren Information über dieses weitgespannte Thema sind die Arbeiten von Balint, Bally, Brun, E. Kretschmer, Kuiper, Langen, Nunberg, Wiesenhütter und D. Wyss sowie die verschiedenen Beiträge in dem von Frankl, v. Gebsattel und J . H. Schultz herausgegebenen „Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie" in 5 Bänden (1959/61) zu nennen. Die psychiatrischen Bemühungen um eine Einteilung, eine Typologie der psychopathischen Persönlichkeiten haben die Kriminologie von jeher in besonderem Maße interessiert. Charakterliche Abartigkeiten als Varianten einer Durchschnittsnorm werden in der Kriminologie wie in der Sozialhilfe erst dann beachtlich, wenn sie sich irgendwie sozialnegativ auswirken. Deswegen nimmt Kurt Schneider aus der großen Gruppe abnormer Charaktere als „psychopathische Persönlichkeiten" nur diejenigen heraus, „die an ihrer Abnormität leiden oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet." Ganz in diesem Sinn ist auch die rein pragmatische, bereits auf J. L. A. Koch (1891) und Wollenberg (1916) zurück-

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gehende Gruppierung der Psychopathen in „Störer" und „Versager" zu verstehen. Noch heute spielen in der amerikanischen Psychiatrie unter den „character-disorders" oder „personalitydisorders" die „Antisozialen" eine — nach unserer Auffassung — einseitige und überzogene Rolle. Zu den bedeutenderen Versuchen einer systematischen Typologie gehören die von der polaren Anordnung bestimmter seelischer Grundeigenschaften ausgehende Konzeption Gruhles, weiterhin die Reaktionstypologie von Ewald, die Schichtentypologie von E. Kahn und die Konstitutionstypologie von E. Kretschmer. Am bekanntesten wurde die systemlose Typologie Kurt Schneiders mit der so lebendigen und treffenden Charakterisierung der folgenden 10 Gruppen: hyperthymische, depressive, selbstunsichere, fanatische, geltungsbedürftige, stimmungslabile, explosible, gemütlose, willenlose und asthenische Psychopathen. Die Grenzen und Schwächen dieser Typologie, wie überhaupt aller Versuche einer typologischen Ordnung der Psychopathien, hat Kurt Schneider selbst sehr deutlich gesehen. Die pathocharakterologische Umschreibung einer psychopathischen Persönlichkeit und ihre typologische Zuordnung sind nicht mit einer medizinischen Diagnose zu verwechseln, was leider immer wieder geschieht. Wiederkehrender Anlaß zu Mißverständnissen ist auch die sachlich unzulässige Identifizierung von einzelnen Psychopathentypen mit bestimmten Tätertypen, deren Differenzierung ein wichtiges Anliegen der Kriminologie ist. Wie so viele psychiatrische Klassifizierungen hat auch der Begriff der Psychopathie einen negativen moralischen Wertakzent erhalten, obwohl er durchaus wertfrei gemeint ist. Die Psychiater sind u. a. deshalb mit der Feststellung einer Psychopathie viel zurückhaltender geworden, insbesondere in der Jugendpsychiatrie (Stutte). Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte lehren, daß so manches, was früher als Psychopathie bezeichnet wurde, einer anderen nosologischen Zuordnung bedarf. Es ist aber auch eine Erfahrungstatsache, daß wir auf diese in vieler Beziehung unbefriedigende psychiatrische Kategorie einstweilen nicht verzichten können. Wir haben nun einmal eine beachtliche Zahl abnormer Persönlichkeitsvarianten, die sicher nicht hirnorganisch bedingt sind, die sicher nicht in dem noch so weit gespannten Kreis der endogenen Psychosen untergebracht werden können, die sicher nicht neurosenpsychologisch verständlich oder auflösbar sind, und die in der -»• Sozialpsychiatrie, in der Sozialhilfe wie in der Kriminologie eine nur zu große Rolle spielen (Häfner, Kallwass, Petrilowitsch). Die praktische Bedeutung des Psychopathenproblems in der Sozialhilfe und damit zugleich auch für die Kriminologie wurde bisher zu wenig beachtet. Die Gefährdetenhilfe nimmt schon

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seit langem in der Fürsorgepraxis, besonders in größeren Städten, einen breiten Raum ein (Petersen). Man unterscheidet vier Hauptkategorien: Alkohol- und Rauschgift-Süchtige, Straffällige und Strafentlassene, sittlich Gefährdete und Nichtseßhafte. Diese Klassifikation ist ganz eindeutig an bestimmten und relativ häufigen sozialen Verhaltensauffälligkeiten orientiert. Der in jeder Klassifikation von Krankheiten dominierende ätiologische Gesichtspunkt fehlt völlig. Eine Typologie der Gefährdeten hat es niemals mit Krankheitseinheiten im organpathologischen Sinn zu tun. Aber auch die psychiatrische Krankheitslehre ist hier nur begrenzt verwertbar. Zweifellos sind viele der Gefährdeten Psychopathen, d. h. charakterlich Abartige. Das besagt aber noch nicht gerade viel über ihre Behandlungsfähigkeit als Gefährdete, in dieser Beziehung jedenfalls nicht mehr als die Feststellung von Reifungsstörungen, von Intelligenzmängeln, von neurotischen Störungen oder von leichteren hirnorganischen Defekten. Der psychiatrische Befund kennzeichnet lediglich eine subjektive Gefährdungsdisposition, die für sich allein das Bild des Gefährdeten in der Sozialhilfe nicht zu bestimmen vermag. Charakterliche oder intellektuelle Mängel, neurotische oder psychopathische Störungen finden sich heute so häufig, daß wir nur mit ihrer Feststellung und Beschreibung in der Sozialhilfe noch nicht viel anfangen können. Das gilt auch für lebensphasisch bedingte Gefährdungsdispositionen wie etwa die Pubertät oder das Klimakterium. In dem Bemühen um eine Klärung der Frage, was eigentlich „Gefährdung" ist und wie man den „Gefährdeten" i. S. der Sozialhilfe diagnostizieren kann, müssen wir immer an das natürliche Spannungsfeld von Individuum und Gemeinschaft denken, in dem jeder Mensch aufwächst und lebt. Den in der persönlichen Eigenart verankerten Gefährdungsdispositionen stehen die aus der Umwelt erwachsenden objektiven Gefährdungsdispositionen gegenüber, auf die besonders Scherpner hingewiesen hat. Mit der Aufzählung und Analysierung umweltbedingter Gefährdungsfaktoren könnte man Bände füllen. Das Leben in einer Industrie- und Konsum-Gesellschaft heutiger Prägung umfaßt in seiner ganzen Differenziertheit und Kompliziertheit eine unüberschaubare Fülle von Gefährdungsmöglichkeiten für den einzelnen, insbesondere für einen noch jungen und unausgereiften Menschen. Fast alle Manifestationen zivilisatorischen Fortschritts sind zugleich potentielle Gefährdungsfaktoren. Die vielzitierten Massenmedien wie Fernsehen, Film und Funk, Presse, die Technik und der Wohlstand, der Trend zum totalen Wohlfahrtsstaat, die Lockerung religiöser und ethischer Bindungen etc. — es sind objektive Gefährdungsdispositionen, aktueller oder potentieller Art, was wiederum eine Frage der Reaktionsweise des ihnen begegnenden Individuums

ist. Individuell sehr unterschiedliche Legierungen subjektiver und objektiver Gefährdungsdispositionen führen erst zu den genannten Hauptgruppen, auf die sich die Arbeit der Gefährdetenhilfe konzentriert. Die genannten subjektiven wie objektiven Gefährdungsdispositionen sind so verbreitet, daß mit ihrem Nachweis noch kein Anspruch auf Sozialhilfe begründet werden kann. Die Legaldefinition des § 72 BSHG i. d. F. v. 18. 9.1969 (BGBl. I, 1688) kann deshalb auch auf eine Differenzierung von Gefährdung und Gefährdetsein verzichten. In einem erfreulich nüchternen Pragmatismus beschränkt sie sich ganz schlicht auf die „Unfähigkeit zu geordneter Lebensführung", die sich in der Fürsorgepraxis — leider nur zu häufig — überzeugend nachweisen läßt, als das entscheidende Kriterium. Die sehr komplizierten, unterschiedlichen und wechselnden Ursachen einer solchen Unfähigkeit werden in der Sprache des Gesetzes auf den „Mangel an innerer Festigkeit" reduziert und komprimiert. Die Genese eines solchen Mangels wird im Gesetzestext nicht angesprochen, was auch nicht erforderlich ist. Sinn und Zweck der Hilfe für Gefährdete ist Besserung oder Behebung dieses Mangels, um damit die Voraussetzungen für eine geordnete Lebensführung zu schaffen. Das Gesetz kennt also nur eine subjektive Gefährdungsdisposition, nämlich den Mangel an innerer Festigkeit, der nach Art und Grad so ausgeprägt sein muß, daß er Unfähigkeit zu geordneter Lebensführung bedingt. Bezüglich der objektiven Gefährdungsdispositionen kann und muß der Gesetzgeber davon ausgehen, daß der „normale" Staatsbürger damit fertig zu werden vermag, ohne in seiner geordneten Lebensführung beeinträchtigt zu werden. Wer diese Simplifizierung des Gefährdetenproblems im Gesetz glaubt kritisieren zu müssen, sollte sich auch klarmachen, daß jedes weitere Wort die juristischen Angriffsflächen der ganzen Konzeption nur verbreitern könnte, womit dem praktischen Anliegen der Gefährdetenhilfe kaum gedient wäre. Die psychologisch und psychopathologisch so interessante Frage nach der Relation zwischen objektiver Gefährdung und subjektiver Fähigkeit zur Gefährdungsbewältigung oder ganz allgemein zur Erlebnisverarbeitung, kann wohl kaum gesetzlich erfaßt und administrativ gelöst werden. Werfen wir nach diesem Exkurs in einen kriminologisch beachtlichen Bezirk der Praxis noch einmal einen Blick auf das Gesamtgebiet der Störungen der „kleinen" Psychiatrie, so mag eine allgemeine Charakteristik in der folgenden Formulierung nützlich erscheinen: Es handelt sich hier regelmäßig um konfliktmotivierte Störungen der Erlebnisverarbeitung und des Verhaltens. Einfache Konfliktreaktionen und viele neurotische Manifestationen bzw. Entwicklungen dürften

Psychiatrie durch diese Definition erschöpfend gekennzeichnet sein. Das Bild der psychopathischen Störungen und Entwicklungen ist demgegenüber durch die Vorgegebenheit einer anlagemäßigen Abartigkeit des Charakters, einer abnormen Struktur der Primärpersönlichkeit mehr oder weniger geprägt; mit der Konsequenz eines höheren Grades an Umweltstabilität als bei den eigentlichen oder überwiegend neurotischen Störungen. Erbbiologische oder organpathologische Faktoren können das Erscheinungsbild aller Störungen dieses Bereichs modifizieren oder auch bestimmen. 6. Suchtstoffabhängigkeit Der -> Alkoholismus, der Rauschmittelmißbrauch und die -> Sexualdelikte werden durch gesonderte Beiträge in diesem Werk ausführlich und im Zusammenhang behandelt. Deshalb beschränke ich mich hier auf einige Anmerkungen zur Anthropologie und zur Psychopathologie süchtiger und sexueller Fehlhaltungen, die in Theorie und Praxis der Kriminologie von jeher besondere Beachtung gefunden haben. Es handelt sich um eine breite Palette von Verhaltensabnormitäten unterschiedlicher Genese mit einer quantitativ und qualitativ beträchtlichen Variabilität der Erscheinungsbilder. Auch erheblichere Abweichungen von einer in diesem Bereich kaum zu präzisierenden Norm sind so ubiquitär, daß die Abgrenzung der sozialnegativen Manifestationsformen hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingungen, ihrer Behandlung und Verhütung ein vordringliches Interesse des Kriminologen beanspruchen. Sucht ist eine Möglichkeit menschlichen Verhaltens, die primär nichts mit einer Krankheit im engeren medizinischen Sinn zu tun hat. So spricht man von Ehrsucht und Herrschsucht, von Geltungssucht und Ruhmsucht, von Eifersucht und Rachsucht, von Habsucht und Genußsucht. Wir kennzeichnen mit diesen Begriffen Antriebserlebnisse, deren gemeinsame Merkmale große Intensität und Nachhaltigkeit sind. Abgesehen von den in der Umgangssprache geläufigen „Süchten" können alle menschlichen Triebe und Strebungen im Modus der Süchtigkeit gelebt und erlebt werden, die einen mehr, die anderen weniger. Deswegen hat man auch ganz zutreffend auf die Verbreitung süchtigen Verhaltens im Bereich der Sexualität und den Suchtcharakter sexueller Perversionen verwiesen. Der anthropologische Sinnzusammenhang mit den klinisch und forensisch relevanten Toxikomanien wird hier deutlich, ein Sinnzusammenhang, auf den uns bereits die Etymologie verweist: Sucht bildet zusammen mit „siech", „siechen" und „Seuche" eine germanische Wortsippe, und erst im Neuhochdeutschen entwickelte sich die Verknüpfung von Sucht mit „suchen". Die uns in diesem Zusammenhang interessierenden Giftsüchte repräsentieren nur einen Aus-

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schnitt aus den zahlreichen und mannigfaltigen Möglichkeiten süchtigen Verhallens, die dem Menschen gegeben sind. Das Bemühen um eine möglichst erschöpfende und zugleich praktisch brauchbare Definition der Sucht im klinischen Sinn stößt aber immer noch auf erhebliche Schwierigkeiten, weil sich das Gemeinsame und Wesentliche der sehr komplexen Entstehungsbedingungen und Manifestationsformen von Suchtstoffabhängigkeit in einer kurzen Formel kaum fassen läßt. Den Süchtigen als einigermaßen klar umrissene konstitutionsbiologische Variante gibt es ebensowenig wie die Sucht als nosologische Einheit, etwa als Intoxikation, als Psychopathie oder als Neurose. Der opiumrauchende Chinese in Hongkong, der kokakauende Indianer Boliviens oder Perus, aber auch der alkoholsüchtige Gelegenheitsarbeiter in Hamburg oder London haben in bezug auf Eigenart und Entstehung ihrer Sucht nur wenig gemeinsam mit dem Pethidine-spritzenden Chefarzt eines Krankenhauses in München oder New York. Hinsichtlich der Rauschgiftsucht in Kreisen von sog. Intellektuellen oder in „gehobenen" Gesellschaftsschichten kann man aber feststellen: Die Sucht als Verhaltensanomalie ist in aller Regel sowohl anlagemäßige Charakterabartigkeit (Psychopathie) als auch Störung der Erlebnisverarbeitung (Neurose), und als Alkoholoder Rauschgiftsucht ist sie immer Intoxikation. In ärztlicher Sicht ist der Süchtige zunächst einmal ein „Abnormer", aber auch ein „Leidender". Wenn man daran festhält, daß es Krankheit nur im Bereich des Leiblichen gibt, daß sich der engere medizinische Krankheitsbegriff auf funktionelle und strukturelle Organveränderungen beschränkt, dann ist der Süchtige nur insoweit „krank", als toxisch bedingte Organveränderungen vorhanden sind. Die veränderte Reaktionslage des Organismus, die wir heute mit den Begriffen „Toleranz" und „körperliche Abhängigkeit" (physical dependence) umschreiben, ist eine pathophysiologische Gegebenheit, die uns wichtige Einblicke in die körperlichen Vorgänge bei einer Rauschgiftsucht vermittelt. Eigenart und Entstehung einer Sucht lassen sich aber unter diesem organischen Aspekt allein niemals erschöpfend erklären. Am Anfang einer Sucht steht immer die mißbräuchliche Verwendung eines Suchtmittels, zu der es unter individuell sehr unterschiedlichen Bedingungen zu kommen pflegt. Wir müssen grundsätzlich festhalten: Sucht als eine Möglichkeit menschlichen Verhaltens ist ein differenziertes und umfassendes anthropologisches Phänomen;Toleranz und körperliche Abhängigkeit sind innerhalb dieses Phänomens und im Rahmen biologischer Regulationsmechanismen naturwissenschaftlich erweisbare Fakten. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, insbesondere mit den neueren Suchtmitteln, haben unser Bild von Sucht und Süchtigkeit in mancher

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Beziehung korrigiert und ergänzt. So ζ. B. kann man nicht mehr von der Euphorie als der gemeinsamen und kennzeichnenden Wirkung aller Suchtmittel sprechen. Analgetisch oder sedativ, stimulierend oder narkotisch wirkende Substanzen können auch ohne euphorisierenden Effekt geeignete und begehrte Suchtmittel sein. Für viele Süchtige ist die Euphorie keineswegs die erstrebte und tatsächlich erlebte Zustandsänderung. Ganz allgemein geht es dem Süchtigen um eine Durchbrechung der Kontinuität des Bewußtseins, um eine wenigstens vorübergehende Aufhebung oder Veränderung des Zeitbewußtseins, in dem wir unser Dasein als Aufgabe und Verpflichtung — als „Sorge" — erleben und das unter bestimmten Voraussetzungen die Langeweile ebenso wie die Überforderung unerträglich erscheinen läßt. Was der Süchtige vom Rausch erwartet und was er tatsächlich erlebt, ist individuell unterschiedlich: Vergessen oder Euphorie, Ataraxie oder Sensation. Mit der erstrebten und wiederholten Zustandsänderung im Rausch gefährdet oder zerstört der Süchtige ebenso seine biologische Entwicklung wie den jedem Menschen aufgegebenen Werdeprozeß seiner „historischen Gestalt", weil er sein Dasein aus irgendwelchen Gründen nicht „auszuhalten" vermag. Begriff und Wesen der Sucht erschließen sich nur einer weitgespannten anthropologischen Sichtweise mit den drei Schwerpunkten: Pharmakologie und Toxikologie, Charakterologie und Psychiatrie, Soziologie und Sozialfürsorge. Der Versuch einer Reduzierung auf eine Perspektive ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Eigenart des Problems verlangt eine mehrdimensionale Betrachtungsweise, der man bei dem Versuch einer verbindlichen Definition in einer kurzen, zugleich erschöpfenden, wirklichkeitsnahen und praktisch brauchbaren Formulierung des Suchtbegriffes kaum genügen kann. Viel Verwirrung hat der alte Streit zwischen Pharmakologen und Psychiatern über die Definition von Sucht und Suchtmitteln gestiftet. In der World Health Organization (WHO) bemühte man sich über ein Jahrzehnt, möglichst präzise zwischen Sucht und Gewöhnung zu unterscheiden. Bei den traditionellen Suchtmitteln wie Morphium oder Heroin läßt sich die „körperliche Abhängigkeit" mit der typischen Toleranzsteigerung und den charakteristischen Entziehungserscheinungen experimentell nachweisen. Nach diesen Kriterien sind weder der Alkohol noch die Barbiturate oder die Weckamine oder das Haschisch eigentliche Suchtmittel. Es zeigte sich aber immer wieder, daß diese „nur" Gewöhnungsmittel potentielle Suchtmittel sein können, sei es auch nur im Modus des partiellen Austausches oder der Ergänzung. Das Fehlen von körperlicher Abhängigkeit und von Entziehungserscheinungen reicht offensichtlich für die Differenzierung von Sucht-

und Gewöhnungsmitteln nicht aus. Mehr noch gilt das für die Beurteilung der individuellen und sozialen Auswirkungen von Gewöhnung und Sucht. Beim Haschisch, den Amphetaminen, den Barbituraten und einer Reihe neuerer Psychopharmaka läßt sich die Fragwürdigkeit dieser Unterscheidung eindrucksvoll demonstrieren. Deswegen entschloß sich der Sachverständigenbeirat der WHO 1964, die Begriffe Sucht und Gewöhnung durch den Oberbegriff Suchtstoff-Abhängigkeit zu ersetzen und bestimmte Typen der Abhängigkeit (Morphin, Barbiturat, Cannabis usw.) auf Grund der pharmakologischen und klinischen Erfahrungen konkret zu beschreiben. Alle hier in Frage kommenden Substanzen können zu einer „psychischen Abhängigkeit" führen, einige darüber hinaus zu einer mehr oder weniger ausgeprägten „körperlichen Abhängigkeit". Nach wie vor ist sorgfältig zwischen Mißbrauch und Sucht zu unterscheiden. Diese begriffliche Klärung auf Grund langer und eingehender Untersuchungen unter Berücksichtigung der vielen und unterschiedlichen Aspekte des Suchtproblems ist sehr zu begrüßen. Eine Rauschgiftsucht, vor allem in ihren zahllosen Intimvarianten und Abortivformen, ist nicht einfach eine Krankheit, wie eine Lungenentzündung oder eine Leukämie, weitgehend oder völlig außerhalb des Bereichs persönlicher Verantwortung. Der Süchtige ist — von Ausnahmen abgesehen — zwar auch, aber keineswegs nur ein „Kranker". Er soll zwar auch, aber nicht nur als solcher behandelt werden. Jede Behandlung eines Süchtigen hat nur dann einen Sinn, wenn sie psychotherapeutisch und sozialpädagogisch orientiert ist, wenn sie an den Süchtigen als einen Träger persönlicher Verantwortung für sich selbst, für seine Familie und für die Gemeinschaft appelliert, wenn sie ihm dazu verhelfen will und kann, den mehr oder weniger verwirkten Anspruch, Inhaber und Träger verfassungsmäßig garantierter Persönlichkeitsrechte zu sein, neu zu begründen. Neue Aspekte des alten Themas Sucht und Kriminalität ergaben sich hierzulande erst durch die etwas verspätete „Entdeckung" von Marihuana, Lysergsäurediäthylamid (LSD) und ähnlicher Halluzinogene, die von einer ideologisch akzentuierten und sensationell gefärbten Publizistik gebahnt wurde. Über die sogenannten Massenmedien kann man heute auch ein Rauschgift „aufbauen" wie einen Politiker oder einen Schlagerstar. Es ist nur eine Frage der Marktanalyse und des Managements, ob man ein solches Geschäft machen und wie lange man es durchhalten kann. Ein alarmierendes Faktum ist der Anteil der Jugendlichen und Heranwachsenden an der Gesamttäterzahl unserer „Rauschgiftkriminalität", der laut polizeilicher Kriminalstatistik von l,4°/ 0 im Jahre 1955 auf 8 , 6 % im Jahre

Psychiatrie 1966 und 35,5 °/ 0 im J a h r e 1968 angestiegen ist und 1969 bereits 47,8 % betragen h a t . Dabei handelt es sich um illegalen Handel oder Schmuggel, Erwerb oder Besitz oder Weitergabe von Rauschgiften sowie Verstöße gegen die Betäubungsmittel-^Verschreibungs-Verordnung. Der rapide Anstieg der polizeilich sichergestellten Menge von Cannabis (Haschisch, Marihuana) von 2,6 kg im J a h r e 1961 auf 381 kg im J a h r e 1968 und 2278 kg im Jahre 1969 ist eine weitere statistische Feststellung, an der es nicht viel zu deuten gibt. Abgesehen von Cannabis wächst in jüngster Zeit der illegale Handel und Schmuggel von Rohopium, von dem 1969 in der B R D 48 kg sichergestellt wurden. Die Bedeutung akuter oder chronischer Alkoholisierung für die Kriminalität ist vielfach belegt und heute unbestritten. Nach einer neueren Schätzung erfolgen etwa 3 0 % der Delikte Jugendlicher und Heranwachsender unter Alkoholeinfluß (Biener). Gewaltverbrechen und Suicide im LSD-Rausch sind aus den USA in beachtlicher Zahl bekannt geworden. Auch Haschisch ist, wie der Alkohol, nicht nur „sozialfreundlich". Es wird u. a. deswegen begehrt, weil es gleichgültig macht und insoweit auch enthemmt. Haschisch h a t zwar keine spezifisch stimulierende Wirkung auf die Sexualität, zu einer phantastischen Erweiterung des sexuellen Erlebnishorizontes vermag es aber dem einschlägig Erfahrenen zu dienen. Im übrigen ist es ein verbreiteter Irrtum, die Wirkungen eines Suchtstoffes zu verallgemeinern. Nicht jeder Mensch reagiert auf Alkohol mit gehobener Stimmung oder mit E n t h e m m u n g oder mit gesteigerter Reizbarkeit. So wirkt auch Haschisch nicht nur u n d nicht immer „aggressionsdämpf e n d . " Mancher wird lediglich müde, gleichgültig und abgestumpft in seinem normalen Empfinden gegenüber Gewalt und Grausamkeit. Setzt er sich dann ans Steuer eines P K W , so k a n n es zu folgenschweren Verkehrsunfällen kommen, wie schon wiederholt beobachtet und beschrieben. In dem heute so wichtigen Bereich der Verkehrssicherheit und der Verkehrstauglichkeit haben die „Intimformen der Sucht" und das „Süchteln" sicher eine viel größere Bedeutung als die klinisch ausgeprägten Krankheitsbilder einer Sucht. Deswegen stellt sich auch beim Marihuana-Raucher in jedem Fall das Problem der Fahrtauglichkeit. Wir haben heute auch in der B R D ein Suchtproblem, das uns besonders im Hinblick auf den Jugendschutz vor eine Reihe neuer u n d bislang ungewohnter Fragen stellt. Der Konsum von Rauschdrogen h a t einen besonderen Stellenwert in der Gammler- und Hippie-Subkultur derzeitiger Prägung mit einer unübersehbaren Ausstrahlung in breitere Kreise unserer Jugend u n d mit einer Fülle noch weitgehend unbekannter psychologischer und sozialer Implikationen, die wir als Faktum registrieren und baldmöglichst zu klären ver-

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suchen müssen. Es besteht kein Anlaß zur Dramatisierung der Situation, es wäre aber töricht und verantwortungslos, die in dem wachsenden Mißbrauch von Marihuana, LSD u n d ähnlicher Substanzen sich manifestierende Suchtgefährdung in ihren neu- und andersartigen Perspektiven zu verharmlosen. Man m u ß nachdrücklich betonen, daß der Schwerpunkt von Suchfbekämpfung und Suchtprophylaxe im Vorfeld der eigentlichen Strafrechtspflege liegt. Es h a t keinen Sinn, den Sekundaner etwa, der mit der Marihuana-Zigarette erwischt wird, ins Gefängnis zu stecken, weil niemandem damit gedient wäre. Die Verfolgung derjenigen, die das Geschäft machen, der Händler, Schmuggler u n d Zulieferer, bleibt aber eine wichtige Aufgabe der Polizei, deren Lösung schwieriger wird u n d deshalb größere Aufwendungen erfordert. Rauschgifthandel ist kein Kavaliersdelikt, und die Haltung von Polizei u n d Strafverfolgungsbehörde gegenüber diesem Täterkreis m u ß h a r t und konsequent sein. Das gilt auch in bezug auf Haschisch, das keineswegs harmlos ist, wie bereits die Untersuchungen deutscher Psychiater in dem Arbeitskreis u m Beringer vor vierzig Jahren gezeigt haben (Stringaris). In Analogie zum Alkohol gibt es auch bei chronischem Haschisch-Mißbrauch charakteristische Psychosen und Defektzustände. Sie werden in der westlichen Welt nicht angetroffen, weil das Haschisch hier nicht heimisch ist u n d der auf den Geschmack gekommene echte Süchtige zu härteren Drogen übergeht. I m übrigen k a n n hier nur auf die große Zahl der einschlägigen Arbeiten verwiesen werden, die u. a. in dem Cannabis-Bericht des Advisory Committee on Drug Dependence (London 1968) ausgewertet wurden, insbesondere auf Chopra, Hoffer-Osmond, Valle, Weil, Wolff, Wolstenholme-Knight. — Die mit der Suchtstoffkontrolle befaßten internationalen Gremien halten deshalb nach wie vor und aus wohlerwogenen Gründen an dem Haschischverbot fest. Anläßlich ihrer Jahrestagung in Istanbul h a t auch die Europäische Liga für Psychohygiene in einer Entschließung vom 20. September 1969 nachdrücklich vor jeder Liberalisierung der Herstellung, des Handels u n d des Verbrauchs von Cannabis (Marihuana), LSD u n d anderer halluzinogener Substanzen gewarnt. Die Liga empfiehlt den Regierungen der europäischen Länder die Bildung und finanzielle Unterstützung von interdisziplinären Forschungsgruppen zum Studium der aktuellen Probleme der Suchtstoffabhängigkeit unter besonderer Berücksichtigung ihrer kulturellen, sozialen u n d ökonomischen Bedingungen. Der Vorstand der ,,Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde" h a t im Dezember 1969 diese Entschließung ausdrücklich gebilligt u n d u n t e r s t ü t z t (DÄ1970,473).

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Die Behauptung, daß die Pönalisierung des Erwerbs von Haschisch, seine Einbeziehung in die Liste der über das Opiumgesetz kontrollierten Suchtstoffe (Betäubungsmittel), verfassungswidrig sei, sollte endlich einmal aus der Diskussion verschwinden. Das Bayerische Oberste Landesgericht hat in einem Beschluß vom 27.8.1969 (NJW 1969, 2297) mit einer sachlich völlig zutreffenden Begründung festgestellt, daß die Strafbarkeit des Erwerbs von Cannabis durch das Opiumgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte diese Auffassung durch einen nicht zur Veröffentlichung bestimmten Beschluß v. 17.12.1969 (1 BvR 639/69) insoweit, als eine dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde als „offensichtlich unbegründet" nicht zur Entscheidung angenommen wurde. — Darüber hinaus zitiert man in diesem Zusammenhang gern das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gem. Art. 2 GG. Auch dabei handelt es sich um ein Scheinargument. Wir leben nicht nur in einem liberalen Rechtsstaat, sondern nicht minder in einem sozialen Wohlfahrtsstaat. Der Sozialstaat kann aber dem Bürger nicht einfach freistellen, „auf seine Weise" zugrunde zu gehen. Die publizistische „Ausschlachtung" des Mißbrauchs von Marihuana, LSD und ähnlicher Substanzen zeigt uns die Aktualität des Problems der Suchtgefahrdung in einer bedenklichen Form. Zahllose Presseberichte, Illustrierten-Romane, Filme und auch wissenschaftlich verbrämte Bücher stehen im Dienst einer — nicht gerade neuen — Apologie und Apotheose des Rausches. Persönliches Geltungsbedürfnis und ideologischer Eifer, Sensation und Geschäft spielen dabei eine unterschiedliche Rolle. Für so manchen geht es hier um ein modisch und konform gewordenes Bekenntnis zum Nonkonformismus, um den Protest gegen mittelalterliche Mittelstands-Moral, an der ein sich genial und verkannt fühlender Autor irgendwie gescheitert ist. Noch unerfreulicher ist die Behandlung dieses Themas im l'art-pour-l'artStil „kritischer Reflexion", ohne Sinn für individuelle und soziale Verantwortung, aber unter Berufung auf sämtliche Koryphäen aus Vergangenheit und Gegenwart, die auch einmal ein Rauschgift geschluckt haben und dabei gar nicht so selten in einer Psychiatrischen Krankenanstalt landeten oder elend zugrunde gingen. Suchtbekämpfung und Suchtprophylaxe sind stets auch Kriminalprävention und gerade als solche nicht nur und nicht in erster Linie eine Aufgabe der Ärzte, insbesondere der Psychiater. Der ärztlich-therapeutische wie der sozialpädagogische Ansatzpunkt einer wirksamen Suchtbekämpfung liegt gerade nicht bei den in einem meist schon fortgeschrittenen Stadium in klinische Beobachtung kommenden Fällen, schon gar nicht bei den signifikanten „Endzuständen". Die individuelle Behandlung und Hilfe muß so früh wie

möglich und so gründlich wie möglich einsetzen, und sie muß so prophylaktisch wie möglich durchgeführt werden. Gerade bei Jugendlichen ist eine frühzeitige und gründliche Abklärung der Motivation und der Hintergründe des Suchtverhaltens für den Behandlungserfolg von entscheidender Bedeutung. Unerläßlich sind eine breit gestreute, intensive und sachliche Information und Aufklärung der Jugendlichen selbst, der Eltern und der Lehrer. Das wird nur möglich sein, wenn sich alle mit Jugendfragen befaßten Organisationen aktiv an der Lösung dieser — im Sinne einer zeitgemäßen Psychohygiene — echten und vordringlichen Aufgabe beteiligen. — Zur weiteren Orientierung wird auf die folgenden Autoren verwiesen: Bochnik, Bovet, Durand, Ehrhardt, Gabriel, v. Gebsattel, Janz, Kolb, Laubenthal, Matussek, Maurer-Vogel, Porot, Schrappe, Staehelin, Stringaris, Wikler, Wolff, Zutt sowie die regelmäßigen Berichte des „WHO Expert Committee on Drug Dependence". 7. Störungen des Sexualverhaltens „Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Perversionen" ist der Titel einer der frühen Arbeiten (1932) v. Gebsattels zu diesem Themenkreis, die für die Entwicklung einer „anthropologischen Betrachtungsweise" sexueller Fehlhaltungen oder perversen Sexualverhaltens grundlegend war. Wyrsch hat zutreffend vermerkt, daß es sich hier nicht um eine eigentliche „Theorie" handelt wie etwa bei der Sexualtheorie Freuds. Die anthropologische wie die ihr verwandte daseinsanalytische Betrachtungsweise (L. Binswanger, Boss) sind Möglichkeiten der Interpretation, des Verständnisses, die an Heidegger und Sartre anknüpfen. Ansätze in dieser Richtung finden sich bereits bei Allers (1922), Kronfeld (1923) und E. Kahn (1928), die in ihren heute noch beachtlichen Beiträgen den von der vorwiegend deskriptiv-organpathologisch orientierten Sexualpathologie (Forel, H. Ellis, Hirschfeld, v. KrafftEbing, Moll) seit etwa der Mitte des vorigen Jahrhunderts gezogenen Rahmen in mehrfacher Hinsicht sprengten, ohne die ganz unabhängige und eigenständige Konzeption Freuds aus dem Jahre 1905 kritiklos zu übernehmen. Zur weiteren Orientierung hinsichtlich der anthropologischen oder daseinsanalytischen Betrachtungsweise ist insbesondere auf H. Kunz, 0 . Schwarz, E. Straus und J. Zutt zu verweisen. Die Entwicklung und Modifikation der Sexualtheorie Freuds durch die spätere Psychoanalyse und andere tiefenpsychologische Schulen ist so vielgestaltig, daß hier nur ein Hinweis auf Originalarbeiten möglich ist, die man in schon genannten Monographien (wie D. Wyss) oder Sammelwerken zitiert findet. Der einzelne Patient war ausschließlicher Gegenstand des Interesses der Sexualpsycho-

Psychiatrie pathologie in ihren Anfängen, und die von v. Krafft-Bbing entwickelte, mit Abwandlungen noch heute gültige Klassiiikation der sexuellen Perversionen beruht auf klinischer Kasuistik. Für Freud und andere tiefenpsychologische Schulen waren natürlich auch die Einzelfallanalyse, das individuelle Längsschnittverfahren, der selbstverständliche methodische Ansatz. Die anthropologische oder daseinsanalytische Betrachtungsweise ist demgegenüber nicht mehr in diesem Sinne kasuistisch orientiert, sie gehört ebensowenig zur empirischen Sexvtalforschung nach heutiger Terminologie. Erst die von Kinsey und seinem Arbeitskreis 1938 bis 1953 bei 5300 männlichen und 5940 weiblichen Personen durchgeführten Erhebungen zur Klärung des Sexualverhaltens der weißen Bevölkerung in den USA haben das Profil der Sexualforschung neu geprägt, zumindest um eine Variante mit hoffnungsvollen Perspektiven bereichert. Hier ist nicht der Ort, das Für und Wider der Kinsey-Reports zu diskutieren. Die Legitimität des Versuchs einer „voraussetzungslosen" Tatbestandserhebung kann man jedenfalls kaum bestreiten, auch wenn dieser Versuch nur partiell geglückt sein sollte. Gebhard, der Mitarbeiter und Nachfolger Kinseys, hat weitere Untersuchungen in dieser Richtung mit eingeengter Thematik durchgeführt, und GieseSchmidt veröffentlichten kürzlich das Ergebnis einer großangelegten Umfrage zur „StudentenSexualität". Uber die Auswertung derartiger Erhebungen und ihre Bedeutung, gerade auch für die Kriminologie, kann man natürlich geteilter Meinung sein. Durch eine genauere Betrachtung der Methode dieser Untersuchungen läßt sich ohne große Mühe der Aussagewert damit erzielter Befunde, ihre Reichweite und ihre prinzipielle Limitierung, evident machen. Bei Kinsey und den ihm folgenden Autoren geht es nicht um Psychopathologie oder Anthropologie, sondern um die durchschnittliche Verhaltensnorm. Die Feststellung einer statistischen Häufung spezifischer Formen sexueller Betätigung in einer umschriebenen Population besagt lediglich, daß eine nach überlieferten Vorstellungen vielleicht als „abnorm" geltende Verhaltensweise häufiger praktiziert wird — meist allerdings nur gelegentlich und vorübergehend —, als der eine oder andere vermutet oder auch für wünschenswert gehalten hat. Objekt statistischer Erhebungen dieser Art bleibt aber stets genitales Verhalten mit seinem — physiologischen — Umfeld. Das sehr viel weiter reichende Phänomen der Geschlechtlichkeit dieses einen und einmaligen Menschen, der Mensch als Individuum, liegt jenseits der Erkenntnisebene der Kinsey-Reports und ähnlicher Untersuchungen. Die Feststellung, daß etwa homosexuelle Kontakte im Jugendalter auch bei uns und zur Zeit verbreiteter als erwartet sind, vermag uns

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noch keine grundsätzlich neuen Einsichten in die soziale und kriminologische Bedeutung der Homosexualität zu vermitteln, und für die Psychologie oder Psychopathologie des konkreten Einzelfalles sind die Ergebnisse einer solchen Datenverarbeitung nur wenig ergiebig. Hier dürfte der Ansatz jeder begründeten Kritik an Kinsey und seinen Nachfolgern liegen, einer Kritik, die vielleicht noch mehr auf bestimmte Interpretationen als auf die Methode und die eigentlichen Untersuchungsergebnisse gerichtet sein sollte. — Aus der umfangreichen Literatur um die KinseyReports kann hier u. a. auf Hoch und Zubin, H. Lutz sowie Wyrsch verwiesen werden. Die direkte Beobachtung sexueller Betätigungen im Laboratorium mit subtiler Messung möglichst aller physiologischen Vorgänge, soweit methodisch faßbar, ist ein von Masters und Johnson beschrittener Weg empirischer Sexualforschung. Die Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse (1966) wurde zu einem von der „Sexwelle" getragenen Schlager. Die Physiologie der Sexualorgane oder des Sexualaktes ist aber immer nur ein Teilaspekt der Sexualität, und physiologische Experimente dieser komplexen Art sind durch eine kaum überschaubare Fülle psychischer „Störungsfaktoren" in dem Aussagewert ihrer Ergebnisse einstweilen noch sehr eng begrenzt. Das Interesse der Kriminologie ist auf die Persönlichkeitsstruktur des Sexualdelinquenten, des sogenannten Triebtäters, gerichtet. Der Kriminologe muß sich deshalb mit den Ergebnissen und Überlegungen aller Richtungen innerhalb der Sexualforschung auseinandersetzen. Eine vorwiegend medizinisch-psychiatrisch orientierte Bearbeitung von ärztlich und kriminologisch relevanten Störungen des Sexualverhaltens kann ebensowenig auf die Psychologie wie auf die Soziologie verzichten, sie muß die kulturanthropologischen Untersuchungsergebnisse etwa von R. Benedict, Livy-Strauss oder M. Mead wie die sozialpsychologischen bzw. soziologischen Arbeiten etwa von Erikson oder Schelsky kennen und angemessen verwerten. Die Gefahr der Skotombildung gegenüber der Vielfalt individueller Realität in der ärztlich-psychotherapeutischen Praxis durch theoretische Fixierung auf nur einen Aspekt hat J. H. Schultz mit Bezug auf die anthropologischdaseinsanalytische Betrachtungsweise unmißverständlich gekennzeichnet, was für die Kriminologie nicht weniger beachtlich ist. Deswegen ist der Plural „Sexualwissenschaften" ebenso sachlich begründet wie bei den oben erwähnten „Kriminalwissenschaften". Eine Sexualforschung, die den ihr heute gestellten Anforderungen gerecht werden will, kann nur interdisziplinär und multiprofessionell arbeiten, wie es Bürger-Prinz und Giese in dem „Institut für Sexualforschung" der Universität Hamburg hierzulande erstmalig ver-

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suchten und dabei von der — multiprofessionell zusammengesetzten — „Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung" unterstützt wurden. Die Literatur zu den Abnormitäten des Sexualverhaltens ist unübersehbar geworden. Wissenschaftlich verbrämte, halbwissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Bücher erklimmen auf den Wogen der Sexwelle eine ungeahnte Auflagenhöhe. Noch nie war das gedruckte Angebot an mehr oder weniger fragwürdigen Informationen auf diesem Sektor so groß, was nach alten Geschäftsgrundsätzen als Korrespondenzphänomen zur Nachfrage gesehen werden muß. „Man" muß eben heute wissen, was es auf sich hat mit Sadismus und Masochismus, Fetischismus und Transvestitismus, Exhibitionismus und Voyeurtum, Pädophilie und Gerontophilie, Homosexualität und Transsexualität. Aber auch, wenn man sich auf das eigentlich wissenschaftliche Schrifttum beschränkt, so stehen Zahl und Umfang der einschlägigen Publikationen in einem umgekehrtproportionalen Verhältnis zu dem, was an wirklich neuen Erkenntnissen erreicht wurde. Der Zuwachs an kriminologisch und vor allem kriminalpolitisch verwertbarem Wissen über die Abartigkeit des Sexual Verhaltens hat sich im Laufe der letzten 50 Jahre in recht bescheidenen Grenzen gehalten. Als Beispiel kann hier zunächst auf die Homosexualität verwiesen werden. Die Ablehnung oder das Unbehagen gegenüber dem § 175 StGB a. F., der gem. Art. 1 Nr. 52 in Verbindung mit Art. 105, 106 des 1. StrRG v. 25. 6. 1969 (BGBl. I, 645) am 31. 8. 1969 außer Kraft getreten ist, konzentrierte sich auf den sog. Grundtatbestand, also die Kriminalisierung und Pönalisierung homosexueller Betätigung von erwachsenen Männern und „im stillen Kämmerlein". Durch die Neufassung des § 175 ist die „einfache" Homosexualität als Straftatbestand in Wegfall gekommen. Damit folgte der Gesetzgeber den Vorschlägen, die fast übereinstimmend von allen wissenschaftlichen Fachgesellschaften bereits zu Beginn der Vorarbeiten für diese Strafrechtsreform gemacht wurden. Noch heute werden die wissenschaftliche Begründung und die kriminalpolitische Zweckmäßigkeit einer solchen Neuregelung von ernsthaften Vertretern ganz verschiedener Wissenschaftsbereiche nachdrücklich bestritten. Brauchen wir ein solches Verbot? Ist es kriminalpolitisch gesehen für uns und heute noch notwendig? Ob und wieweit hat es sich in seiner bisherigen Form bewährt ? Diese Fragen überschreiten zweifellos die Kompetenz des Vertreters einer der zuständigen empirischen Wissenschaften. Man kann und darf hier aber auf den Empiriker nicht verzichten. Zeigt sich bei den Antworten ein tatsächlicher oder vermeintlicher Widerspruch zu unserem faktischen Wissen über Entwicklung, Eigenart und Auswirkung homosexueller Verhaltensweisen,

dann muß das zu Zweifel, Ablehnung und Protest führen. Der offene Gegensatz zwischen einer Rechtsnorm und wissenschaftlich gesicherten Tatsachen erscheint in unserer derzeitigen Gesellschaftsordnung untragbar. Im Strafrecht genügt bereits ein möglicher oder mutmaßlicher Gegensatz dieser Art, um eine Verbotsnorm zu relativieren und damit für die Praxis mehr oder weniger unbrauchbar zu machen. Daraus folgt, daß für jede rechtliche oder kriminalpolitische Betrachtung und Beurteilung homosexueller Handlungen die Kenntnis der Grenzen unseres faktischen Wissens um das Phänomen der Homosexualität eine unerläßliche Voraussetzung ist. Die relativ seltenen Fälle homosexuellen — wie auch sonst irgendwie abnormen bzw. kriminellen — Kohabitationsverhaltens, die auf eine cerebralorganische Veränderung der Trieb- und Charakterstruktur, ζ. B. nach Traumen oder Entzündungsprozessen, zurückzuführen sind, bedürfen hier keiner besonderen Besprechung. Das große Interesse des Mediziners an solchen Fällen steht in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer kriminologischen Bedeutung. Im übrigen ist die Frage nach den „Ursachen" der Homosexualität noch immer in der Schwebe, was aber heute nicht mehr als ein grundsätzliches Hindernis für eine objektiver begründete Regelung in unserer Rechtsordnung angesehen werden kann. Wir können noch nicht definitiv sagen, ob und wieweit es eine angeborene, anlagebedingte und vielleicht auch vererbliche Homosexualität als endogen-konstitutionelle Triebinversion oder Triebanomalie gibt. Manche Befunde aus der Zwillingsforschung und aus genealogischen Untersuchungen sprechen in diesem Sinne, ebenso der Nachweis einer Häufung biologischer Varianten der Sexualkonstitution im Erbumkreis Homosexueller. Die somatischen wie auch die viel schwerer faßbaren psychischen Besonderheiten dieser Art können aber in aller Regel nicht als unausweichliche biologische Determinierung der Triebrichtung interpretiert werden. Da die Sexualität des Menschen, ganz gleich in welcher Form sie betätigt oder praktiziert wird, nicht nur Organfunktion ist, kann man von der somatischen Ursachenforschung nicht erwarten, daß sie uns eine biochemische Formel oder einen morphologischen Befund als naturwissenschaftlich eindeutiges Substrat „der Homosexualität" beschert. Erwarten können wir nur die Herausarbeitung einzelner Faktoren, die in einer bestimmten Kombination eine mehr oder weniger günstige somatische Basis, eine Anlage oder konstitutionelle Grundlage für die Entwicklung homosexueller Fehlhaltungen oder Perversionen sein können. „Die Homosexualität" als körperliche Krankheit oder Mißbildung gibt es nicht. Vielleicht gibt es aber unglückliche Kombinationen somatischer Bedingungen, die als „abartige Konstitution" für

Psychiatrie die Entwicklung und Fixierung homosexuellen Verhaltens besonders förderlich sind. Wie überall in der lebendigen Wirklichkeit müssen wir bei diesen Konstitutionsvarianten mit ungezählten Legierungen und Verdünnungsformen rechnen. Nur bei bestimmten Extremformen könnte man vielleicht an eine Art von „biologischem Zwang" zu homosexuellem Verhalten denken, nur bei ihnen konnte die so häufige Frage, ob „angeboren" bzw. „anlagebedingt", eine konkrete forensische Bedeutung haben. Den Gesetzgeber brauchte es aber gar nicht zu beunruhigen, daß der überzeugende Beweis für die Existenz dieser Extremvarianten bisher nicht erbracht wurde. Wenn es sie gibt, sind sie selten. Das Gros homosexueller Delinquenten, mit denen wir uns in foro und kriminalpolitisch befassen müssen, wird von dieser ganzen Problematik nicht tangiert. Eine „biologische Notwendigkeit" läßt sich im Regelfall des homosexuellen Deliktes ebensowenig begründen wie bei Sittlichkeitsdelikten „normaler" Täter; es sei denn, man möchte in jeder kriminellen Handlung ein Krankheitssymptom sehen und damit die Grundbegriffe von Schuld und Verantwortung negieren. Für die partielle oder ausschließliche Fixierung des Triebes auf homosexuelle Betätigung spielt eine nach Umfang und Intensität sehr unterschiedliche Prägung durch Umweltfaktoren mannigfaltiger Art eine meist entscheidende Rolle. Vieles spricht dafür, daß derartige Prägungen, deren Bedeutung einerseits von der Neurosenpsychologie, andererseits von der Verhaltensforschung herausgearbeitet wurde, in bezug auf das menschliche Sexualverhalten bereits in den frühkindlichen und präpuberalen Phasen der Entwicklung erfolgen. Von hier aus ergeben sich Verbindungslinien zu einer vorwiegend soziologischen Interpretation der Homosexualität sowie zu der anthropologischen und daseinsanalytischen Betrachtungsweise. Aus einschlägigen Untersuchungen haben wir u. a. gelernt, daß man von der homosexuellen Betätigung noch nicht auf eine homosexuelle Fehlhaltung oder auf eine Perversion als besondere Stilbildung der Sexualität schließen kann. Die vielzitierte Not-Homosexualität, einmalige, wiederholte oder auch periodische „Entgleisungen" unter bestimmten situativen Bedingungen gehören zu den „Reaktionen". Es ist eine Frage der biographischen Relevanz von Einzelerlebnissen gelegentlicher homosexueller Betätigung, ob und wann daraus durch Gewöhnung eine Gewohnheitshaltung, eine „Entwicklung" wird. Von hier führt uns die anthropologische Betrachtungsweise zu einer weiteren Differenzierung, die durch die Alternative „Verfehlen als Fehlstehenin-der-Ordnung" und „Zerstören als Fehlstehengegen-die-Ordnung" gekennzeichnet wird. Nach Giese wäre erst für das „Zerstören" der Begriff 24 Hdk, 2. Aufl., Bd. II

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Perversion adäquat und legitim. Im homosexuellen Vollzug bleibt ζ. B. die Potentia generandi ungenutzt, die generative Leistung der Sexualität wird in jedem Fall verfehlt; die Potentia coeundi kann dagegen ganz regelrecht funktionieren. Das gilt aber gleichermaßen für zahlreiche heterosexuelle Praktiken. Erst die „Verselbständigung einzelner sinnlicher Wahrnehmungsvollzüge", der „Verfall an die Sinnlichkeit", Bindungslosigkeit und Unstetigkeit führen auf dem Weg über eine Gewohnheitshaltung zum „Zirkel der Perversion", der so manche Beziehungen zu den psychopathologisch und anthropologisch interessanten Phänomenen der Sucht und des Zwanges hat. Es gibt „homosexuelle Stilbildungen" mit hohem personal-kulturellem Niveau und ohne sozialnegative Akzentuierung. Sie dürften aber nicht gerade häufig sein und sind schon deshalb von untergeordneter Bedeutung für die rechtliche und kriminalpolitische Betrachtung der Homosexualität. Der Gesetzgeber konnte im Hinblick auf unser heutiges Wissen von der Homosexualität davon ausgehen, daß es — wenn auch relativ selten — „echte" Homosexuelle mit fixierter und kaum oder gar nicht korrigierbarer Triebrichtung gibt, sei es im erb- und konstitutionsbiologischen Sinn der Anlage oder des Angeborenseins, sei es im verhaltensphysiologischen oder psychoanalytischen Sinn der frühkindlichen Prägung. Angesichts der Begrenztheit und Lückenhaftigkeit unseres Wissens können die Diagnose und die Abgrenzung gegen die zahllosen „Verdünnungsformen" gegen die sich auch homosexuell betätigenden Psychopathen und Neurotiker sehr schwierig sein. Schon deshalb war es nicht gerade sinnvoll und wünschenswert, den Richter in jedem einschlägigen Fall mit dem Problem der Schuldfähigkeit und der Besserungsfähigkeit zu konfrontieren. — Im übrigen wird zum Thema Homosexualität insbesondere auf Bieber, Bräutigam, Bromberg, Ettis-Cory, Gagnon-Simon, Giese, v. Hentig, Klimmer, Rosolato, West verwiesen. Bei vielen anderen Abartigkeiten des Sexualverhaltens, mit denen wir es in der Psychiatrie und in der Kriminologie zu tun haben, befinden wir uns in einer keineswegs glücklicheren Situation hinsichtlich der Ätiologie, der Diagnose und der Therapie. An anderer Stelle (1963) habe ich einen Fall von Yoyeurtum und Fetischismus beschrieben, der zu wiederholter Verurteilung wegen Erpressung bzw. räuberischer Erpressung geführt hat. Ein 40 Jahre alter Bauarbeiter fuhr über Jahre keineswegs regelmäßig und unter Beachtung vieler Vorsichtsmaßregeln nach Arbeitsschluß mit seinem Kleinwagen in ein nahe der Stadt gelegenes Waldgebiet, das in den Abendstunden gern von motorisierten Liebespaaren aufgesucht wurde. Zunächst begnügte er sich damit,

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die Pärchen zu belauschen, ihrem Treiben zuzuschauen und dann seine eigene Erregung durch Masturbation abzureagieren. Später ging er dazu über, unter massiven Drohungen von dem überraschten und erschreckten Paar die Herausgabe des Schlüpfers der Partnerin zu verlangen. Wenn er das begehrte Wäschestück bekommen hatte, ging er in den Wald zurück und befriedigte sich, indem er onanierend daran roch. Der Schlüpfer mußte gebraucht sein, nicht etwa neu oder frisch gewaschen, er durfte auch nicht der eigenen Ehefrau gehören, mit der er regelmäßigen und normalen Verkehr hatte. Der Mann war sich des Absurden und Verbotenen seines Tuns wie auch des damit verbundenen Risikos durchaus bewußt. Er stammte aus einer erbbiologisch und sozial unauffälligen Familie, war körperlich gesund und im übrigen sozial durchaus angepaßt. Die nach jeder Richtung erschöpfende Untersuchung ergab keinen verwertbaren Befund; also ein Fall, den jeder erfahrene Psychiater und Kriminologe in der einen oder anderen Version aus eigener Erfahrung kennt. Die kriminologische Klassifizierung als Voyeurtum und Fetischismus ist rein phänomenologisch und besagt nichts über die Genese. Somatisch war kein Befund zu erheben, der als kausaler Faktor diskutabel wäre. Wohl alle Abnormitäten des Sexualverhaltens können sich auch auf dem Hintergrund einer organischen Störung, Schädigung oder Mißbildung, besonders cerebraler Art, entwickeln bzw. abspielen. Im ganzen sind derartige Fälle aber gar nicht so häufig, wie es nach manchen Publikationen den Anschein haben könnte. Niemand wird die Berechtigung, Notwendigkeit und Dringlichkeit der somatischen Forschung in der Kriminologie bestreiten, gerade im Hinblick auf den „triebhaften Verbrecher". Konstitutionsund reifungsbiologische Korrelations-Statistiken können uns interessante kriminologische Erkenntnisse vermitteln, sie besagen aber meist nur wenig oder gar nichts über das kausale Verständnis der Handlungsweise des einzelnen Täters. Mit der somatischen Ursachenforschung in der Kriminologie befinden wir uns immer noch in einem frühen Anfangsstadium. Arbeitshypothesen, Forschungsprogramme und Theorien darf man nicht mit bereits gesichertem Wissen über naturwissenschaftlich faßbare Fakten verwechseln. Wenn wir einer für den gewöhnlichen Sterblichen so schwer oder gar nicht einfühlbaren Abnormität des Sexualverhaltens wie bei unserem Probanden gegenüberstehen, werden wir selbstverständlich auch bei der Psychoanalyse und verwandten Richtungen in der heutigen Psychologie nach Möglichkeiten genetischen Verstehens, vor allem aber der Behandlung und Verhütung suchen. Es kann nicht mehr ernsthaft bezweifelt werden, daß die analytisch-psychotherapeutische „Erschließung" der Persönlichkeit in so manchen

Fällen sexueller Fehlhaltung oder Perversion diagnostisch-psychogenetische Einsichten zu eröffnen vermag, die auf keinem anderen Weg erreichbar sind. Auch die „Heilbarkeit" sexueller Perversionen durch Psychotherapie läßt sich grundsätzlich nicht bestreiten. Man muß aber dazusagen: in bestimmten einzelnen Fällen. Man muß auch wissen, daß Besserung und Heilung in der Psychotherapie hinsichtlich ihres Zustandekommens, ihrer Erkennbarkeit und ihrer erfolgsstatistischen Auswertung nicht in Analogie etwa zur Chirurgie betrachtet werden können (Cremerius). Die korrelationsstatistische Feststellung, daß etwa bei den Gewaltverbrechern die athletischviskosen Konstitutionen im Sinne Kretschmers dominieren, ist uns kriminologisch wertvoll, besagt aber nur wenig oder gar nichts für die Beurteilung und Behandlung des einzelnen Gewaltverbrechers. Die Beobachtung sexueller Perversionen nach encephalitischen Erkrankungen, mit oder ohne kriminelle Entgleisungen, ist ebenso interessant wie selten. Der Lehrer, der durch eine Hormonbehandlung in einen Zustand gesteigerter sexueller Erregbarkeit kommt und sich dann erstmalig und einmalig an einem Kind vergeht, ist eine Rarität unter den einschlägigen forensischen Fällen. — Andererseits ist die frühkindliche Libidofixierung kaum etwas psychogenetisch Letztes, „die Ursache" der sexuellen Perversionen. Ein von Freud geschilderter Patient war nur durch den Anblick eines mageren, sehnigen Fußes in sexuelle Erregung zu versetzen, also ein Fuß-Fetischist. Als Kind hatte er beim Anblick des so beschaffenen Fußes der Gouvernante erstmals eine starke sinnliche Erregung empfunden. Speer berichtet von einem Masochisten, der als kleiner Junge während des Auftrittes einer Zirkusreiterin erstmalig eine heftige sexuelle Erregung erlebte. Später brauchte er zur sexuellen Befriedigung das ganze Arrangement des Dressurrittes einschließlich Peitsche und Stiefel. Auf psychoanalytischem Wege eruierte Schlüsselerlebnisse oder psychische Traumen dieser Art sind aber noch nicht des Rätsels Lösung; sie stellen uns vor eine Fülle neuer Fragen. Wieviel Kinder haben wohl diesen oder einen ähnlichen Gouvernanten-Fuß mit oder ohne sinnliche Erregung gesehen und sind nicht zu Fuß-Fetischisten geworden? Wieviel Kinder haben diese oder ähnliche Zirkusvorführungen gesehen und gerieten dabei erstmals in eine irgendwie sexuelle Erregung, ohne daß ihre sexuelle Entwicklung und Erlebnisweise dadurch beeinträchtigt, verändert oder gestört wurden ? Unseren heute aufwachsenden Kindern wird, im Vergleich zu Freuds Zeiten, ein Vielfaches an sexuellen Stimulantien, an Möglichkeiten psychischer Traumatisierung in aller Öffentlichkeit geboten. Trotzdem sind die Fetischisten, Masochisten usw. in be-

Psychiatrie völkerungsstatistischer Sicht relativ selten geblieben. Das in der Analyse sichtbar gemachte Schlüsselerlebnis kann also immer nur ein ätiologisch-psychogenetischer Faktor sein, der uns zur Frage und Suche nach den anderen am Werden einer Perversion beteiligten Faktoren zwingt. Auch die Tuberkel-Bakterie macht für sich allein noch nicht die Krankheit Tuberkulose I Der „interessante Fall" hat in unserer wissenschafts- und fortschrittsgläubigen Welt einen verführerischen Sog. Er ist eine jener katathymen Quellen, aus denen der verschwommenen Tendenz zur Relativierung der Rechtsordnung ständig neue Nahrung zufließt. In der Kriminologie der Sexualdelinquenten und im Sittenstrafrecht bedarf es immer wieder des Hinweises auf die engen Grenzen unseres derzeitigen Wissens um die normale wie die gestörte oder verirrte Sexualität des Menschen. Die verbreitete Skepsis erfahrener Psychiater und Kriminologen in allen einschlägigen Fragen der Behandlung und der Verhütung ist unter den gegebenen Voraussetzungen sachlich wohl begründet. Die weitaus meisten Sexualdelinquenten sind nicht „krank" im engeren medizinischen Sinn. Deswegen können wir sie auch nicht mit den Mitteln der somatischen Medizin „heilen". Trotzdem können und müssen wir versuchen, sie zu „behandeln", wovon im letzten Abschnitt dieses Beitrages die Rede ist. C. Die Beurteilung der Schuldlähigkeit Schuld und Sühne, Freiheit und Verantwortung sind Grundbegriffe des Kriminalrechts aller zivilisierten Staaten. Wir finden sie in sonst so unterschiedlichen Neuregelungen wie in dem Strafgesetzbuch für Schweden (1965) oder in dem Strafgesetzbuch der DDR (1968). Keiner der vielen und zum Teil seit Jahren diskutierten Reformentwürfe von Japan bis hin zu den USA hat diese Grundkonzeption aufgegeben. Die Aufregung über das „Bekenntnis" des hart kritisierten Regierungsentwurfs für ein neues Strafgesetzbuch der B R D von 1962 (E-62) zum Schuldstrafrecht dürfte deshalb mehr emotional als sachlich begründet sein. Der von 14 Strafrechtslehrern verfaßte Alternativ-Entwurf für den Allgemeinen Teil eines StGB (AE-66), der in vielen Punkten wichtige Anregungen für eine zeitgemäße Reform unseres Strafrechts enthält, bleibt beim Schuldprinzip, und der Sonderausschuß des Bundestags für die Strafrechtsreform hat sich, in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in der vierten und fünften Wahlperiode im gleichen Sinn ausgesprochen. Dabei konnte und mußte man sich auf das Grundgesetz berufen, in dem nun einmal Freiheit und Würde des Menschen als zentrale Rechtswerte verankert sind. So ist es nicht überraschend, daß auch die Neufassung des Allgemeinen Teils des S t G B durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts 24·

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(2. StrRG = AT-73) vom 4. 7 . 1 9 6 9 (BGBl. I, 717) am Schuldprinzip festhält, zugleich aber die früher zu enge und zu abstrakte Verknüpfung mit dem Vergeltungsprinzip löst. Die Prinzipien des Schuldstrafrechts liegen außerhalb des Bereichs der empirischen Wissenschaften. Nur eine dogmatische Befangenheit in den mechanistischen und positivistischen Denkformen des vorigen Jahrhunderts stößt hier auf unlösbare Schwierigkeiten. Die heutige Anthropologie weiß dagegen um die Grenzen naturwissenschaftlichen Erklärens, psychologischen und soziologischen Verstehens bei der Interpretation menschlicher Verhaltensweisen. Das ist auch der Strafrechtswissenschaft keineswegs entgangen, wie schon ein Blick auf die umfangreiche Literatur zu diesen Grundsatzfragen allein in den letzten beiden Dezennien beweist. Im geltenden Strafrecht wie in fast allen Reformvorschlägen finden wir nach wie vor Gedanken von Kant oder Hegel, was für gewisse Kritiker, die sich für besonders „modern" halten, bereits ausreicht, um eine Lehrmeinung oder eine Gesetzeskonzeption als „antiquiert" zu disqualifizieren. Denkern der in Rede stehenden historischen Größenordnung sollte man aber konzedieren, daß sie auch heute noch beachtet werden dürfen, eben weil sie nicht nur zeit- und situationsgebunden gedacht haben. Es ist ebenso falsch wie töricht, etwa die Mängel des derzeitigen Strafvollzugs dem Kantianismus oder dem Hegelianismus anzulasten. Schuldstrafrecht ist für uns nicht mehr identisch mit Vergeltungsstrafrecht, Schuld und Vergeltung sind nicht mehr obligatorische Korrespondenzbegriffe. Daß die Schuld ein Straftatmerkmal ist, dürfte in der heutigen Strafrechtswissenschaft weithin unbestritten sein. Problematischer ist dagegen die Relation von Schuld und Strafe. Nach § 46 des 2. StrRG in Übereinstimmung mit § 60 E-62 ist die Schuld des Täters „Grundlage für die Zumessung der Strafe", hat also eine konstitutive Bedeutung für Inhalt und Sinn der Strafe. Der AE-66 will demgegenüber der Schuld lediglich eine regulative Funktion hinsichtlich des Strafmaßes zuerkennen. In § 5 9 heißt es: „Die Tatschuld bestimmt das Höchstmaß der Strafe". Die Schuld wäre also nicht mehr Grund und Rechtfertigung der Strafe, sondern nur noch ein unentbehrliches Kriterium zu ihrer Begrenzung (Roxin, H. Schultz). Wenn dem so wäre, dann könnte man vielleicht auch die Frage, ob es überhaupt menschliche Schuld und Freiheit gibt, offenlassen. Dagegen hat Arthur Kaufmann zutreffend eingewandt, daß sicherlich nur eine Schuld, die es gibt und die sich feststellen läßt, die Strafbarkeit begrenzen könne. Wer von Schuldfähigkeit spricht, tut das unter der Voraussetzung, daß es menschliche Schuld gibt und daß diese Schuld — wenigstens in gewissen Grenzen — auch erkennbar ist. In der

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neueren Strafrechtslehre begründet die Schuld den persönlichen Vorwurf gegenüber dem Täter. Vorwerfbar ist ein Verhalten aber nur dann, wenn sich der Mensch auch anders hätte verhalten können, wenn er einer rechtmäßigen Willensbestimmung fähig war. Die Rechtsordnung aller Kulturstaaten geht davon aus, daß der „normale" Staatsbürger über die Fähigkeit zu sinngemäßer Selbstbestimmung verfügt, wenigstens soweit es der rechtlich regelbare Rahmen einer staatlichen Ordnung erfordert. Damit sind drei entscheidende Voraussetzungen der forensischen Schuldfähigkeitsbeurteilung aufgezeigt: Schuld, Freiheit und Normalität. In ihrer allgemeinen und grundsätzlichen Bedeutung haben sie alle ihren Schwerpunkt im Vorfeld gesetzlicher Bestimmungen über die strafrechtliche Verantwortlichkeit. Deswegen braucht sich der Sachverständige im konkreten Einzelfall vor Gericht nicht mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Durch die Strafrechtsreform ist aber die Grundsatzdebatte wieder einmal aktuell geworden. Andererseits finden wir gar nicht so selten Sachverständige, deren private Meinungen über die Grundlagen des Strafrechts bewußt oder unbewußt in ihre Gutachtertätigkeit einfließen, was der Strafrechtspflege nicht gerade dienlich ist. Auf die Problematik des Begriffes der Norm wie des der Gesundheit wurde bereits hingewiesen. Hier noch einige Anmerkungen zum heutigen Verständnis von Schuld und Freiheit. Vermischung und Verwechslung der Begriffe von Schuld und Schuldfähigkeit einerseits, von Schuld und Schuldgefühlen andererseits sind bis zum heutigen Tage eine Quelle ungezählter Irrtümer und MißVerständnisse, besonders in dem Gespräch zwischen den Vertretern der Jurisprudenz als einer normativen Wissenschaft und den Vertretern der sogenannten empirischen Wissenschaften. Nach unserem Sprachgebrauch kann sich ein Mensch „schuldig gemacht" haben oder er kann „schuldig geworden" sein. Die erste Formulierung ist mehr aktiv, die zweite mehr passiv akzentuiert. Ganz allgemein ist man eher geneigt, demjenigen zu verzeihen oder ihn zu begnadigen, der sich nur „in Schuld verstrickt" hat, als demjenigen, der bewußt und gezielt „Schuld auf sich geladen" hat. Verzeihung oder Begnadigung hat — zumindest bei demjenigen, der sie gewährt — die Überzeugung zur Voraussetzung, daß hier Schuld ist beziehungsweise gewesen ist. Martin Buber gibt dieser Überzeugung in der folgenden Formulierung Ausdruck: „Der Mensch ist das Wesen, das fähig ist, schuldig zu werden, und fähig ist, seine Schuld zu erhellen ...". Das ist gewiß keine naturwissenschaftlich-medizinisch begründbare Aussage. Einem Arzt, vor allem einem Psychiater, kann aber das Phänomen der Schuld nur dann entgehen, wenn er sehr fest in dem Glauben steht, Anthropologie sei ausschließlich angewandte Physik und Chemie. Als

Psychiater haben wir es in der täglichen Praxis recht häufig mit Schuldgefühlen zu tun. Wir haben gelernt, zwischen einem „legitimen", einem übertriebenen oder einem krankhaften Schuldgefühl zu unterscheiden. Angesichts der Vielschichtigkeit und des Komplexcharakters der heute gern zitierten „Intimsphäre" des Menschen ist das nicht immer so ganz einfach, und die determinierenden Begriffsschemata der exakten Naturwissenschaften helfen uns dabei nicht weiter. Der Psychiater und Kliniker kann eigentlich nur bestätigen und unterstreichen, was — wieder — Martin Buber in einer grundlegenden Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse gesagt hat: „Es gibt wirkliche Schuld, grundverschieden von all den angsteinflößenden Popanzen, die in der Höhle des Unlewußlen hergestellt werden". Ethische oder strafrechtliche Schuld ist kein Objekt empirisch-wissenschaftlicher Forschung. Das Phänomen der Schuld liegt außerhalb der naturwissenschaftlichen Erkenntnisebene. Psychologie und Psychopathologie haben es stets mit dem Schulderlebnis oder mit Schuldgefühlen zu tun, die nicht immer durch ein schuldhaftes Verhalten motiviert sein müssen, die nicht mit Schuld identifiziert werden können, was sich am Beispiel der Depression ebenso leicht wie eindrucksvoll demonstrieren läßt. Die ständig wiederkehrenden Versuche einer „wissenschaftlichen" Widerlegung des Schuldprinzips müssen sich deshalb auf Scheinargumente beschränken, soweit Naturwissenschaften und empirische Psychologie dabei bemüht werden. Die eingangs erwähnte Grundsatzentscheidung zugunsten des Schuldprinzips als Basis für ein künftiges StGB entspricht also der weithin dominierenden Auffassung in der Strafrechtswissenschaft, und sie steht in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung seit dem Bestehen der B R D , zuletzt noch bestätigt vom Bundesverfassungsgericht am 2 5 . 1 0 . 1 9 6 6 in BVerfGE 20, 323 (331); sie entspricht dem derzeitigen Stand unseres Wissens vom Menschen, sie bedarf zu ihrer Begründung keiner Metaphysik oder Theologie, sie vermeidet aber auch jegliche Spekulation auf ein elektronisch-kybernetisches Bild vom Menschen der Zukunft. Schuld und Verantwortung werden durch diese Grundsatzentscheidung zutreffend als weltanschaulich neutrale Prinzipien einer allgemeinverbindlichen Sozialethik und Sozialpädagogik erkannt. — Aus der umfangreichen Literatur wird hier noch auf die folgenden Autoren verwiesen: Baumann, Bockelmann, Dreher, Engisch, E. R. Frey, Jescheck, H. Kaufmann, Klug, R . Lange, Mannheim, Maihofer, Nass, Noll, Welzel, Würtenberger. 1. Freiheit und

Verantwortung

Die Frage nach der Schuld ist mehr oder weniger gleichbedeutend mit der Frage nach der Fähigkeit

Psychiatrie des Menschen zu sinnvoller Selbstbestimmung, zur Freiheit. Die Konzeption eines Schuldstrafrechts impliziert die Willensfreiheit des „normal e n " Staatsbürgers als Prinzip. Bei der herrschenden Begriffsverwirrung in diesem Bereich muß man sich zunächst einmal fragen, ob es bei der hier gemeinten Freiheit als Voraussetzung jeder rechtsstaatlichen Ordnung überhaupt um diejenige Freiheit geht, über die sich die Philosophen verschiedenster Provenienz im Laufe der Jahrhunderte noch nie einigen konnten. Der Philosoph J. Ebbinghaus bezweifelt das und bemerkt dazu (1954): „Unsere Jurisien könnten sich viele philosophische Unkosten sparen, wenn sie sich nur von dem Gedanken freimachen wollten, sie bedürften zur Sicherung der Strafgerechtigkeit einer Versicherung derjenigen Freiheit, über die die Philosophen streiten, und deren Annahme nur dann sinnvoll sein kann, wenn es gelingt, der Natur selber Grenzen su bestimmen. Für sie genügt die Oberzeugung, daß der Mensch, der ihrem Urteile unierliegt, ein Wesen ist, das die Fähigkeit hat, sich Beliebiges innerhalb der dem Menschen von Natur möglichen Zwecke zur Regel zu machen." In Weiterführung dieses Gedankens heißt es (1968): „Eben aber die Fähigkeit, unter Bedingungen der Vernunft zur Realisierung irgendwelcher empirisch bedingter Zwecke zu handeln, ist diejenige Freiheit, die allein für die Möglichkeit der Idee des Rechtes und deren Verwirklichung unter Bedingungen der Erfahrung erforderlich ist. Daß aber der Mensch im Besitz dieser Freiheit ist, die jedermann beständig bei sich selbst und jedem anderen voraussetzt, bedarf keines Beweises und am wenigsten eines philosophischen." In diesem Sinne dürfte durch die Tatsache, daß ein „normaler" Staatsbürger vor der auf Rot geschalteten Verkehrsampel anhalten „kann", daß er ein Stopsignal keineswegs ignorieren „muß", diejenige „Freiheit" eines Staatsbürgers, die unerläßliche und wissenschaftlich unangreifbare Voraussetzung jeder Rechtsordnung ist, völlig ausreichend gekennzeichnet sein. Selbstverständlich ist das verkehrsgerechte oder verkehrswidrige Verhalten des Verkehrsteilnehmers kausal und final motiviert, wie jede Handlung, Entscheidung oder Willensentschließung eines Menschen. Das ist schon ziemlich lange bekannt und sicher kein Argument gegen die hier in Rede stehende „Freiheit". Die „emotionale Besetzung" des Wollens kann man auch nicht als eine gerade neue Erkenntnis der Psychologie bezeichnen. Wenn aber Danner diese emotionale Besetzung zur „zwingenden causa" des Wollens erklärt, dann handelt es sich um ein so großes Mißverständnis des Wissenschaftscharakters der Psychologie, daß alle weiteren Ausführungen zum Beweis der „Unfreiheit" einfach in der Luft hängen. Im übrigen vertritt Danner einen Determinismus, der mit dem über-

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lieferten und „eigentlichen" Determinismus nur noch den Namen gemeinsam h a t ; und er bekämpft aus dieser Position, die auch durch die Unterstützung von Nowakowski nicht überzeugender wird, einen Indeterminismus, der in dieser Form überhaupt nicht mehr in der Diskussion ist, insbesondere nicht in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, was u. a. der gründlichen Analyse von Engisch (1965) entnommen werden kann. Ein in dem erwähnten Sinn eingeengter Begriff von Freiheit mag manchem zu bescheiden erscheinen, wenn er an die freiheitlich-demokratische Staatsordnung als unantastbares Leitbild der ganzen westlichen Welt und als bewußte Antithese zu jeder Form von Machtstaatlichkeit denkt. Tatsächlich sind die meisten der im Fortschrittswunderglauben befangenen Kausalmonisten oder Vertreter eines elektronisch-kybernetischen Menschenbildes, das sie für bewiesen oder in Kürze beweisbar halten, geradezu blind hinsichtlich der Folgen ihrer Vorstellungen vom Zukunftsmenschen für die gesamte Gemeinschaftsordnung. Wie wäre es mit der Freiheit von Staaten und Völkern bestellt, wenn der einzelne Staatsbürger nicht einmal über so viel an sinngemäßer Selbstbestimmung verfügte, daß er Leben und Eigentum seines Nachbarn respektieren kann, daß der Staat dieses Sozialverhalten fordern darf und gegebenenfalls erzwingen muß? Mit welchem Recht kann man von einem Staatsbürger als konditioniertem und beliebig konditionierbarem Automaten erwarten oder gar verlangen, daß er sich in der „Wahl" der Staatsform „verantwortungsbewußt" für die Freiheit und gegen die Tyrannis entscheidet? Diesen Fragenkatalog könnte man noch über Seiten fortsetzen, ohne bei den Utopisten auch nur eine vernünftige, realistische und praktikable Antwort zu finden. „Echte" Deterministen haben sich von jeher und mit Vorliebe auf eine allein der Wissenschaft, natürlich nur im Sinne von Naturwissenschaft oder Mathematik, verpflichtete Grundhaltung berufen. Sie sahen und sehen darin ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber den Indeterministen, gleich welcher Richtung und Prägung. Der Eifer, mit dem manche unserer heutigen Deterministen für ihre Überzeugung streiten, ist aber suspekt. Für die Anerkennung einer neuen mathematischen, chemischen oder physikalischen Erkenntnis braucht man nicht mehr zu kämpfen. Für jede naturwissenschaftliche Erkenntnis ist die Überprüfung und Bestätigung der Beweisführung, ihre Wiederholungsmöglichkeit, selbstverständlich; sonst ist es eben keine neue Erkenntnis, allenfalls eine Hypothese, die des Beweises harrt. Manchmal geht es dabei auch um Hypothesen, die bereits im Denkansatz verfehlt sind. Über eine Erkenntnis, die nach den verbindlichen Regeln der Naturwissenschaften

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oder der Mathematik bestätigt wurde, kann es gar keinen Meinungsstreit geben. Auch die dunkelsten Dunkelmänner bestimmter Weltanschauungsrichtungen könnten ihre Anerkennung u n d Verbreitung nicht mehr verhindern. Die „Unfreiheit" ist aber keine solche Erkenntnis, u n d ihrem wissenschaftlichen Beweis, in der für einen „echten" Deterministen allein verbindlichen Form, sind wir im Laufe des letzten Jahrhunderts nicht gerade näher gekommen. Das alles ist gewiß nicht neu, aber die Deterministen unserer Zeit neigen dazu, unter ständiger Berufung auf „die Wissenschaft" in aller Öffentlichkeit und mit manchmal nicht geringem publizistischem Effekt für ihre Ideologie zu kämpfen (F. Bauer) u n d damit die gefährliche Ausbreitung der von P. W. Wenger zutreffend kritisierten Normenunsicherheit in Justiz und Politik (Rhein. Merkur v. 7. 2. 69) zu fördern. Deswegen läßt sich die wiederkehrende Auseinandersetzung mit den alten Problemen nicht vermeiden. Willensfreiheit ist heute ein in zahlreichen Nuancen wissenschaftlicher und weltanschaulicher Art schillernder Begriff. Die alte Auseinandersetzung über Determinismus und Indeterminismus reicht bis in unsere Tage und ist ein Streit um empirisch nicht zu widerlegende metaphysische Extrempositionen. Der zu Ende gedachte Determinismus oder Kausalmonismus m u ß auf jede Möglichkeit der Freiheit und damit auf die Begriffe von Schuld und Verantwortung verzichten. Auf der anderen Seite vermag auch der konsequente Indeterminismus verantwortliches Handeln nicht zu begründen. Die kausal und final völlig unbedingte „Wahlfreiheit" ist als reine Willkür eine lebensfremde Konstruktion, die auch die Identität des Subjekts in der Kontinuität seines Seins leugnen muß. M. Planck h a t diese Diskussion mit Recht als einen „müßigen Streit um die Betrachtungsweise" bezeichnet. Die Willensfreiheit h a t aber in den Auseinandersetzungen der „modernen" mit der „klassischen" Strafrechtsschule in der zweiten Hälfte des vorigen und am Anfang dieses Jahrhunderts eine große Rolle gespielt. Die „moderne" Schule argumentierte in zahlreichen Variationen gegen den „unwissenschaftlichen" Indeterminismus der „Klassiker". Heute kann man feststellen, daß auch der naturwissenschaftlich-soziologische Determinismus der „Modernen" und ihr zeitbedingter Fortschrittsglaube wissenschaftlich überholt sind. Andererseits k a n n man aber weder das geltende Strafrecht u n d noch weniger das Recht der Reformgesetze als indetermmistisch im „klassischen" Sinn bezeichnen. Sofern kein besserer Ausdruck zur Verfügung steht, könnte man allenfalls von einem relativen oder kritischen Indeterminismus sprechen. Aus der Geschichte der Philosophie und Psychologie kennen wir zahlreiche Versuche einer

Definition der Willensfreiheit. Wenn Kant von der Freiheit als einem „Postulat der praktischen Vernunft" spricht oder Nikolai H a r t m a n n in der Freiheit eine „ethische Notwendigkeit" und eine „ontologische Möglichkeit" sieht, so handelt es sich um Bekenntniswahrheiten im Sinne von Jaspers und nicht um empirisch-wissenschaftlich fundierte Erkenntniswahrheiten. Menschliches Handeln vollzieht sich aber niemals im luftleeren Raum eines abstrakten Sollens. Das Erlebnis der Freiheit, das Freiheitsbewußtsein, in der Selbsterfahrung und in der zwischenmenschlichen Gemeinschaft war deshalb von jeher eines der stärksten Argumente gegen alle philosophischen Überlegungen, die den fernen Bereich der Metaphysik als einzig möglichen „ O r t " für Freiheit postulierten. Der Indeterminismus als Vorentscheidung der Freiheitsfrage im Sinne eines metaphysischen Idealismus vermag das empirischpsychologische Phänomen des Freiheitsbewußtseins ebensowenig einzuordnen wie der Determinismus als Vorentscheidung der Freiheitsfrage im Sinne eines naturwissenschaftlichen Materialismus, der das Freiheitsbewußtsein lediglich als eine Fiktion, als einen Wunschtraum unter anderen betrachtet. Es blieb der modernen Anthropologie vorbehalten, die ganze Problematik in einem neuen und viel realeren Licht zu sehen (Arnold, Binder, Buytendijk, Gehlen, Lersch, Lorenz, Portmann, Ricoer, Rothacker, Teilhard de Chardin, Wellek). Die Frage nach dem Wesen des Menschen und der Freiheit wird wieder „ursprünglich" gestellt ohne Rücksicht auf die traditionellen Positionen der Ethik und der Metaphysik. Ansatzpunkte sind einmal die Reifungsbiologie des Menschen als einer „physiologischen Frühgeburt", zum anderen die Erkenntnis des Wesens der Intentionalität als Grundphänomen des Seelischen. Das Verhältnis von Kausalität und Freiheit wird nicht mehr als metaphysische Rivalität, sondern als ontologische Komplementarität verstanden. W. Keller spricht hier von einem „Grundprinzip" der modernen Anthropologie und formuliert: „Freiheit haut sich über der Determination auf, aber nicht als etwas gänzlich Neues ohne jegliche Kontinuität, sondern als Selbstbestimmung, die im menschlichen Dasein durch die Eigenart der in ihm zugrunde liegenden determinativen, naturhaften Bestimmung selber gefordert ist. Die Freiheit als Selbstbestimmung ist das Komplement der mangelnden naturhaften Integration des Menschen, die ihm nicht einmal das bloße Existieren zu gewährleisten vermöchte. Das freiheitliche Dasein ist so gerade von der determinativen Bestimmtheit in ihm höchstselbst gefordert und zugleich ermöglicht." Die so verstandene Freiheit als sinngemäße Selbstbestimmung ist eine ontologische Grundvoraussetzung, keine bloße Möglichkeit. Die Alter-

Psychiatrie native frei oder unfrei in bezug auf menschliches Verhalten ist also bereits als Frage zu korrigieren. Menschliches Verhalten ist stets in unterschiedlicher Eigenart und Ausprägung kausal und final determiniert. Die Bedingtheit ist ebenso unbezweifelbar wie die Freiheit, die sich stets erst im Vollzug zu verwirklichen vermag und deshalb nicht als gegebene Tatsache angesetzt werden kann. Freiheit wird immer nur unter bestimmten Bedingungen real, als Vollzug im Rahmen bestimmter organischer, psychologischer und situativer Voraussetzungen. In der empirischpsychologischen Analyse erfahren wir das Eigentliche der Entscheidung immer wieder als „Hinordnung zum Sinn" (Thomae). Die philosophische Anthropologie und die Willenspsychologie unserer Zeit stützen also mit überzeugenden Argumenten die Ausgangsposition für ein Schuldstrafrecht und die theoretische Basis der strafrechtlichen Schuldfähigkeitsbeurteilung. Die das Personsein ausmachende Freiheit ist eine allgemeine und prinzipielle Voraussetzung der Schuldfähigkeit des normalen Menschen. Im konkreten Einzelfall sind die biologisch-psychologisch-situativen Bedingungen eines bestimmten Verhaltens zu prüfen. Diese Fragestellung ist rein empirisch, und sie kann nur empirisch — wenn auch manchmal unvollkommen — beantwortet werden. Bei bestimmten Konstellationen der somatisch-psychisch-situativen Voraussetzungen kann die „Freiheit im Vollzug" aufgehoben oder erheblich vermindert sein; wir sprechen dann von aufgehobener oder erheblich verminderter Schuldfähigkeit. Für die Beurteilung der strafrechtlichen Schuldfähigkeit spielt es also gar keine Iiolle, ob man in der Willensfreiheit des normalen Menschen eine metaphysische Prämisse oder aber eine erweisbare ontologische Grundvoraussetzung sieht. Eier geht es immer nur um die empirisch faßbaren Bedingungen der Möglichkeit von Unfreiheil. In den Merkmalen der Einsichtsfähigkeit und der Steuerungsfähigkeit sind die im Einzelfall näher zu untersuchenden Bedingungen bereits vom Gesetzgeber präzisiert. Unser diagnostisches Bemühen gilt immer der Determinationsstruktur des Verhaltens eines Menschen. Wir erheben somatische und psychische Befunde. Wir stellen fest, ob und wieweit in diesen Befunden eventuell manifeste Anomalien das bisherige Verhalten eines Probanden — insbesondere zur Zeit der Tat — beeinflußt haben, wieweit sie das Verhalten in der Untersuchungssituation bestimmen und wie sie sich möglicherweise in der Zukunft auswirken werden. Diese Feststellungen sind oft schwierig und manchmal lückenhaft. Unser Vorgehen kann dabei aber immer nur empirisch sein. Die Sollensnormen der Ethik und des Rechts ermöglichen die soziale Bewertung eines bestimmten Verhaltens, und insoweit sind sie ein Maßstab

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für die Schuld. Ethische und rechtliche Normen ermöglichen die Feststellung, daß ein Verhalten nicht normgemäß ist. Die Frage nach dem Warum, nach den Bedingungen abnormen Verhaltens liegt auf einer anderen Erkenntnisebene, muß empirisch-biologisch-psychologisch geklärt werden. 2. Kriterien aufgehobener oder verminderter Schuldfähigkeit Die Rechtsordnung kann und muß davon ausgehen, daß der „normale" Staatsbürger über die Fähigkeit zu verantwortlichem Handeln verfügt, jedenfalls in dem Rahmen, der durch die gesetzlichen Vorschriften in den verschiedenen Rechtsbereichen gezogen ist. Diese Voraussetzung des Gesetzgebers wird dadurch nicht in Frage gestellt, daß es zweifellos erhebliche individuelle Unterschiede, etwa hinsichtlich der Einsichtsfähigkeit oder der Handlungsfähigkeit, auch in diesem „Normalbereich" gibt. Selbst ein so relativ einfacher und grobmaschiger Normenkatalog wie der Dekalog des Alten Testaments beruht auf dieser Prämisse, deren Angreifbarkeit proportional mit der Differenziertheit und Kompliziertheit kodifizierter Verhaltensnormen wächst. Solange es rechtliche Regeln im Sinne eines Strafrechts gibt, solange man sich um den Schutz der Gemeinschaft gegen „Störer" dieser Gemeinschaft bemüht, solange gibt es auch das Problem der Verantwortlichkeit solcher „Störenfriede". Es fing aber nicht etwa mit jenen sozial irgendwie auffälligen und schwierigen Menschen an, die wir heute als Psychopathen oder Neurotiker bezeichnen und die es sicher auch in früheren Jahrhunderten gegeben hat. Sehr viele dürften es aber nicht gewesen sein, bei denen die strafrechtliche Verantwortlichkeit einmal in Zweifel gezogen wurde. Zunächst ging es um die oft auch dem Laien erkennbaren schwer Geisteskranken und höhergradig Schwachsinnigen. Bereits im römischen Recht finden wir 3 Typen von „Geisteskrankheit" als Exkulpierungsgrund: furor, mentecaptio und melancholia. Einen Menschen, der infolge Krankheit, Mißbildung, Verletzung oder Intoxikation psychisch erheblich gestört oder verändert ist, kann man für sein rechtswidriges Verhalten nicht zur Verantwortung ziehen. Das ist die noch immer gültige Ausgangsposition jeder gesetzlichen Schuldfähigkeitsregelung, die in der heute dominierenden Diskussion über den fragwürdigen Grenzfall und seine noch fragwürdigere Interpretation manchmal in Vergessenheit zu geraten droht. Die Entscheidung über das Vorliegen von Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderter Schuldfähigkeit ist Sache des Richters. Der Richter stellt fest, ob die Sollensnorm der Rechtsordnung für einen Menschen, dessen Einsichtsfähigkeit oder Fähigkeit zu einsichtsgemäßem

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Handeln durch eine seelische Störung oder dergleichen in der vom Sachverständigen ausgeführten Weise beeinträchtigt ist, Gültigkeit hat oder nicht, ob der Mensch also zurechnungsunfähig, erheblich vermindert oder voll zurechnungsfähig ist. Das Vorgehen bei der Tatsachenfeststellung im Rahmen der Beweisaufnahme (§ 244 StPO) durch den Richter mit Hilfe des Sachverständigen ist grundsätzlich zu unterscheiden von der Fragestellung und der Methodik des Richters bei der Beweiswürdigung (§ 261 StPO) oder bei der Urteilsbegründung gemäß § 267 StPO. Hier geht es um die ontologische Seinsnorm, dort um die rechtliche Sollensnorm. Der Richter ist bei der Beweisaufnahme im Rahmen seines eigenen „Sachverständnisses" stets an der Tätigkeit des Sachverständigen „beteiligt"; er muß schließlich aus eigener Überzeugung und in eigener Verantwortung zu einem Urteil finden. Der Sachverständige ist dagegen immer nur Berater des Richters; er muß seine Kompetenzen kennen; er darf nicht „urteilen", auch nicht über die Schuldfähigkeit. Wenn er sein Gutachten über den Beschuldigten mit den Worten: „es steht ihm daher § 51 Abs. 1 StGB zur Seite" oder einer ähnlichen Formulierung schließt, so ist das eine klare Kompetenzüberschreitung. Der korrekte Schluß eines Gutachtens darf lediglich die Feststellung enthalten, ob die psychiatrischen (biologisch-psychologischen) Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 oder Abs. 2 StGB (§§ 20, 21 AT-73) gegeben sind oder nicht. Diese Grundsätze der Aufgabenverteilung zwischen Richter und Sachverständigem sind geltendes Verfahrensrecht, das insoweit von der Reform des materiellen Rechtes nicht berührt wird. Schuldfähigkeit ist nach herrschender juristischer Lehrmeinung identisch mit Zurechnungsfähigkeit. Im bisherigen Recht spricht man von Zurechnungsfähigkeit und Zurechnungsunfähigkeit des Täters, obwohl diese Begriffe rein sprachlich mehr auf eine Fähigkeit bzw. Unfähigkeit des Richters, nicht aber des Beschuldigten zielen. Erst in den noch laufenden Reformarbeiten (E-62) wurde bei uns der Begriff Zurechnungsfähigkeit zugunsten von Schuldfähigkeit fallen gelassen. Die terminologische Änderung ist sachlich zutreffend und erleichtert die internationale Verständigung. Aus guten Gründen hat man wohl in allen Ländern vermieden, diese Schuldfähigkeit positiv gesetzlich zu definieren. Überall bemüht sich der Gesetzgeber um eine praktisch brauchbare Umschreibung der Voraussetzungen von Schuldunfähigkeit. Dazu kommt erst in neuerer Zeit und in einzelnen Ländern die gesetzliche Definition der Voraussetzungen (erheblich) verminderter Schuldfähigkeit. Die Bestimmung der Schuldunfähigkeit erfolgt in den deutschsprachigen Ländern nach der biologisch-psychologischen oder gemischten Methode.

Aus dem weitgehend übereinstimmenden Text von Art. 10 und 11 schweizerisches StGB und § 51 deutsches StGB ist die gemischte Methode auch für den Laien ohne weiteres erkennbar. Der aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts stammende Text des § 2 österreichisches StGB klingt für unsere heutigen Ohren recht befremdlich und ist begrifflich überholt. In der Rechtsprechung folgt man aber schon lange der gemischten Methode, und in dem österreichischen Reformentwurf (1962) schließt man sich den in der BRD und in der Schweiz geltenden wie geplanten Definitionen der Schuldunfähigkeit weitgehend an. Das neue StGB der DDR vom 12.1.1968 (GBl. 1,1) bleibt in den §§ 15, 16 bei der gemischten Methode, reduziert aber die psychologischen Merkmale auf die Entscheidungsfähigkeit hinsichtlich der „Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens", deren Festlegung und Interpretation eine wohl kaum zu bezweifelnde politische Angelegenheit ist. Die biologischen Merkmale werden in drei Gruppen zusammengefaßt: „Zeitweilige oder dauernde krankhafte Störung der Geistestätigkeit", „Bewußtseinsstörung" und schließlich eine „schwerwiegende abnorme Entwicklung der Persönlichkeit mit Krankheitswert", die nur noch als Voraussetzung erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit (§ 16) Berücksichtigung finden kann. Insoweit wurde also vom „sozialistischen Strafrecht" der DDR die „differenzierende Lösung" hinsichtlich der biologischen Merkmale aufgehobener oder verminderter Schuldfähigkeit, von der noch die Rede sein wird, übernommen. — Grundsätzlich zum Problem von Verantwortung und Schuld im Strafrecht der DDR vgl. Lekschas, Loose, Renneberg (1964) und Szewczyk (1966); zum neuen StGB der DDR: Lekschas (1968), Maurach (1968), Renneberg (1968). Was besagt die heute und zumindest in der Strafrechtswissenschaft überwiegend anerkannte gemischte Methode ? Als biologische Voraussetzungen nennt § 51 StGB: Bewußtseinsstörung, krankhafte Störung der Geistestätigkeit und Geistesschwäche. Entsprechend auch § 7 Abs. 2 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) vom 24. 5.1968 (BGBl. 1,481). Die Kennzeichnung dieser Merkmale als „biologisch" wurde und wird kritisiert. Der Ausdruck ist nicht schön, nicht ganz treffend und leicht angreifbar. Er ist aber nach meiner Überzeugung besser als alle bisher gemachten Änderungsvorschläge. Es handelt sich hier ohne Zweifel um psychopathologische Vorgänge oder Zustände. Der Ausdruck „biologisch" zielt auf den organischen Hintergrund einer forensisch relevanten Störung der Geistestätigkeit, auf ihre „Krankhaftigkeit" oder „Krankheitswertigkeit". Die forensische Relevanz der biologischen Merkmale erschöpft sich also nicht im rein Deskriptiven (Mezger) oder im rein Psychologischen (Welzel).

Psychiatrie Eine Korrektur der Terminologie hinsichtlich der biologischen Merkmale war unvermeidlich, weil etwa die „Geistesschwäche" sich zu einem im psychiatrischen wie im populären Sprachgebrauch unverständlichen Rechtsbegriff entwickelt hat. Die Praxis der Rechtsprechung verlangt eine möglichst weitgehende Übereinstimmung des gesetzlichen und des psychiatrischen Sprachgebrauchs. Der Gesetzgeber kann und darf natürlich nicht mehr oder weniger schnell wechselnden „Modeströmungen" in Psychiatrie und Psychologie folgen. Er darf aber auch keine Begriffe konservieren, die in ihrer ursprünglichen Bedeutung denaturiert und schließlich unverständlich wurden. In den seit 1954 laufenden Reformarbeiten hat man sich um diese terminologische Bereinigung bemüht. Das Ergebnis findet sich in § 20 des 2. StrRG vom 4. 7. 1969. Die biologischen Merkmale werden hier wie folgt charakterisiert: Krankhafte seelische Störung, tiefgreifende Bewußtseinsstörung, Schwachsinn, schwere andere seelische Abartigkeit. Diese Formulierung war, vor allem hinsichtlich der Bewußtseinsstörungen und der Abartigkeiten, Gegenstand lebhafter Auseinandersetzungen, die man nur dann richtig verstehen kann, wenn man die Definition der Begriffe in der amtlichen Begründung zu den §§ 24, 25 E-62 mit den späteren Ergänzungsvorschlägen durch die „Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde" kennt. Bezüglich des Verlaufs der Diskussion muß hier auf die Beiträge von Ehrhardt/Villinger (1961) und Ehrhardt (1964, 1968) verwiesen werden. Neu in der Geschichte dieser gesetzlichen Vorschrift ist ihre ausführliche Begründung in dem E-62. Es ist, in diesem Bereich und in unserem Lande, der erste Versuch einer sachlich detaillierten Darstellung dessen, was mit der vorgeschlagenen Formulierung gemeint ist. Eben das war die bei weitem vordringlichste Aufgabe einer Reform der gesetzlichen Vorschrift betr. die Schuldfähigkeit, deren Interpretation durch Rechtsprechung und Kommentatoren im Laufe eines Jahrhunderts nachweislich daran gescheitert ist, den mutmaßlichen Willen des früheren Gesetzgebers zu ergründen. Der Gesetzestext kann sich immer nur auf wenige Sätze beschränken. Jeder der in diesen Sätzen zur Anwendung kommenden und die Vorschrift tragenden Begriffe hat heute in jeder Kultursprache dieser Welt mehrere und ζ. T. recht divergente Bedeutungen. Dabei ist es ganz gleich, ob man vom populären, juristischen, soziologischen, psychiatrischen oder psychologischen Sprachgebrauch ausgeht. Deswegen wäre es nicht nur eine Aufgabe, sondern die Pflicht des Gesetzgebers, die von ihm gewählte Gesetzesformulierung so zu begründen, daß jeder Staatsbürger weiß, was damit gemeint ist. Der wiederkehrende juristische Einwand, die Auslegung des Gesetzes wäre allein Sache der

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Rechtsprechung, greift hier nicht durch. Es geht lediglich um die Forderung nach Gesetzesklarheit, die der anerkannten Autonomie der Rechtsprechung kaum im Wege stehen dürfte. Eigentlich sollte doch jedes Gesetz so klar und eindeutig sein, daß man ihm den Willen des Gesetzgebers entnehmen kann. Reicht die gebotene Kürze der Gesetzesformel zur Verdeutlichung ihres Sinnes nicht aus, bedarf es der Begründung, und zwar durch den Gesetzgeber selbst. Zweifellos bieten ein unklares Gesetz und der im Halbdunkel verschwimmende Wille des Gesetzgebers der Auslegung durch die Rechtsprechung und durch Kommentatoren mehr Spielraum. Der Verwirklichung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit dürfte dadurch aber kaum gedient sein. Es spricht auch nicht gerade für das Verantwortungsbewußtsein des Gesetzgebers, wenn er dem Staatsbürger eine Gesetzesformel als Orakelspruch übergibt, in der stillen Hoffnung, daß die Rechtsprechung schon etwas Vernünftiges daraus machen wird. Im übrigen wäre der Rechtsprechung und den Kommentatoren auch dann noch ein weites Feld der Interpretation verblieben, wenn sich der Gesetzgeber im AT-73 zu einer präzisierten Bekundung seines Willens auf der Linie der Begründung des E-62 entschlossen hätte. So bleibt zu befürchten, daß die Neufassung zu einer weiteren Verunsicherung führt und daß in der künftigen Gerichtspraxis die Entscheidung des Einzelfalles mehr noch als bisher zu einer Frage des Menschenbildes — der „Weltanschauung" — von Richtern und Sachverständigen wird. Die psychologischen Merkmale von Schuldunfähigkeit sind bereits im geltenden deutschen und schweizerischen Recht als Unfähigkeit zur Einsicht und Unfähigkeit zum einsichtsgemäßen Handeln, auch Steuerungsunfähigkeit genannt, gekennzeichnet. In dem 2. StrRG ist keine Änderung vorgesehen, und auch der österreichische wie der schweizerische Entwurf übernehmen diese Definition. Wenn in einem Strafprozeß die Frage nach der Schuldfähigkeit des Täters auftaucht, genügt es nicht, das Vorliegen einer der biologischen Voraussetzungen festzustellen. Darüber hinaus bedarf es der Klärung, ob und wieweit durch die festgestellte seelische Störung die Einsichtsfähigkeit oder (und) die Steuerungsfähigkeit des Täters zur Zeit der Tat beeinträchtigt war. Daß dieser zweite Teil der Frage nach der Schuldunfähigkeit eines Menschen rein normativer Natur sei und deshalb nur vom Gericht als Rechtsfrage beantwortet werden könne, halte ich für einen wirklichkeitsfremden Irrtum, auf den Aschaffenburg und andere namhafte Gerichtspsychiater schon vor Jahrzehnten hingewiesen haben. Ich bin der Überzeugung, daß die Frage nach den psychologischen Merkmalen eine empirisch-psychologische oder empirisch-klinische Frage ist, die

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inhaltlich von der Frage nach den biologischen Merkmalen nicht getrennt werden kann. Die Frage nach der Schuldunfähigkeit eines Täters stellt sich für den Richter primär und entscheidend als eine Tatfrage oder Sachfrage, die er als solche — gegebenenfalls mit Hilfe eines Sachverständigen — zu beantworten hat. Eine Aufspaltung dieser Frage in einen tatsächlichen und einen normativen Teil widerspricht der Realität des Lebendigen. Einsicht und Steuerung als seelische Fähigkeiten sind keine normativen Gegebenheiten. Die Identifizierung mit sittlichen Werten ist sogar sehr bedenklich, weil damit fähig-gesund = gut und unfähig-krank = schlecht gesetzt würde. Fähigkeiten oder Unfähigkeiten eines Menschen sind aus ganz grundsätzlichen Erwägungen einer primär und allein normativen Beurteilung entzogen, wenn wir nicht auf die im Rechtsleben notwendige und adäquate Persönlichkeitserforschung zugunsten politischer oder weltanschaulicher Meinungen über das Können oder Nichtkönnen eines Menschen verzichten wollen. Erst die Betrachtung der Relation zwischen bestimmten seelischen Fähigkeiten und ebenso bestimmten Ansprüchen der Gemeinschaft erfordert normative Kriterien. Das ist aber gleichsam ein „zweiter Akt", jenseits naturwissenschaftlicher und psychologischer Empirie. Bei nachweisbarer Einsichts- oder Steuerungsunfähigkeit entfällt dieser „zweite Akt", weil es zwischen einer Unfähigkeit und einem staatlichen Normenanspruch keine rechtlich beachtliche Relation geben kann. Schwieriger ist es bei der verminderten Schuldfähigkeit. Aber auch hier ist stets und zuerst die Auswirkung einer gegebenen biologischen Voraussetzung auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit empirisch-klinisch-psychologisch zu prüfen. Daran anschließend kann sich gelegentlich die Frage stellen, ob die so diagnostizierte Verminderung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit auch im Rechtssinne „erheblich" und damit forensisch beachtlich ist. An dieser Stelle überschneiden sich Tatfrage und Rechtsfrage. Diese Schwierigkeit läßt sich in der Praxis relativ leicht überwinden, wenn Richter wie Sachverständige ihre Grenzen kennen und gut zusammenarbeiten. Besonders aus Gründen der Praktikabilität ist es wichtig, daß bereits der Gesetzestext eindeutig auf die „erhebliche" Verminderung abstellt. Diese Regelung hat sich in der Rechtsprechung bewährt, und sie wurde in das 2. StrRG übernommen. Hier geht es fast ausschließlich um Fälle aus dem Grenzgebiet zwischen gesund und krank, bei denen man recht häufig eine Verminderung der Schuldfähigkeit — vor allem der Steuerungsfähigkeit — gegenüber einer gedachten Durchschnittsnorm des Staatsbürgers feststellen kann. Daß nur „erhebliche" oder hohe Grade der Verminderung forensisch berücksichtigt werden können, ist eigentlich ein selbstverständ-

liches Erfordernis der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Auch der „normale Gelegenheitsdelinquent" war gar nicht so selten zur Zeit seiner „einmaligen Entgleisung" in einem Zustand verminderter Schuldfähigkeit, was vom Richter bei der Bemessung von Schuld und Strafe als mehr oder weniger „mildernder Umstand" zu berücksichtigen ist. Das ist aber eine — stets im Bereich der Normalpsychologie bleibende — normativ zu entscheidende Frage der Zumutbarkeit und nicht mehr eine empirisch zu klärende Frage der Zurechenbarkeit. Vom Standpunkt des Sachverständigen kann man nur bestätigen, daß die gemischte Methode gegenüber den „einspurigen" Methoden theoretisch besser fundiert, wirklichkeitsnäher und in der Praxis brauchbarer ist. Die in Frankreich (Art. 64 CP) und in Belgien (Art. 71 CP) heute noch dominierende biologische Methode verleitet zu einem direkten Schluß von der psychiatrischen Diagnose auf die Schuldfähigkeit. Allein schon im Hinblick auf die zunehmende Auflockerung der psychiatrischen Systematik, die heute ein internationales Phänomen ist, erscheint mir ein solches Vorgehen bedenklich. Die in der anglo-amerikanischen Rechtsprechung nach wie vor dominierende psychologische Methode muß dem Psychiater noch fragwürdiger erscheinen. Die ehrwürdigen McNaghten Rules (1843) enthalten durchaus beachtliche Möglichkeiten einer wirklichkeitsnahen Interpretation. Jeder Psychiater empfindet es aber heute als abwegig und irreführend, wenn er sich über einen psychisch kranken Menschen gutachtlich in Form von J a oder Nein-Antworten auf entsprechende Fragen von Staatsanwalt und Verteidiger äußern soll. Es gibt zweifellos psychisch schwerkranke Menschen — zum Beispiel Schizophrene —, die bezüglich ihres Deliktes ausgezeichnet zwischen richtig und falsch im Sinne des vielzitierten „right and wrong test" unterscheiden können. Deswegen kann man sie aber noch nicht als strafrechtlich verantwortlich bezeichnen. Die Psychiater wehren sich schon lange gegen diese „psychologische" Methode, und gerade in den letzten Jahren ist es, vor allem in den USA, wieder zu lebhaften Auseinandersetzungen gekommen. Nach G. 0 . W. Mueller bestehen unter seinen juristischen Kollegen über diese Frage „hoffnungslose Meinungsverschiedenheiten". Amerikanische Psychiater erschweren allerdings auch den ihren Argumenten aufgeschlossenen Juristen jede Reformarbeit, wenn sie „impairment of ego functioning" oder „emotional disorders" oder dergleichen als Exkulpierungsgründe gesetzlich verankert wissen möchten. Die theoretische Grundlegung wie die praktische Anwendung der biologisch-psychologischen oder gemischten Methode der Schuldfähigkeitsbestimmung wurde von der deutschen Gerichtspsychiatrie in den letzten beiden Generationen ent-

Psychiatrie scheidend geprägt (vgl. u. a. Aschaffenburg, Bumke, Hoche). Nach wie vor entspricht die gemischte Methode der in unserer Psychiatrie herrschenden Auffassung, zumal die Erfordernisse der Gerichtspraxis nur wenig Spielraum für rein theoretische Konzeptionen anderer Art lassen. Kurt Schneider hat in einem Vortrag (1948) die Berechtigung der gemischten Methode erneut in Frage gestellt. Er hat es aber ausdrücklich und wiederholt abgelehnt, praktische Konsequenzen aus seiner grundsätzlichen Kritik zu ziehen. Und er meinte, eben das könnte vom Gesetzgeber nicht verantwortet werden, selbst wenn die erkenntnistheoretisch und willenspsychologisch begründete Annahme zuträfe, daß die Frage nach der Einsichtsfähigkeit und nach der Fähigkeit zu einsichtsgemäßem Handeln schlechthin unbeantwortbar ist. Nach wie vor wird K. Schneider als Begründer dieser These bezeichnet und seine Autorität zu ihrer Stützung mißbraucht. Nach wie vor wird verschwiegen, daß diese These bereits vor 1933 ausdiskutiert war, daß sie gerade von dem langjährigen Lehrer und Chef K. Schneiders, dem bis heute unbestritten besten Forensiker der deutschen Psychiatrie, Aschaffenburg, eindeutig zurückgewiesen wurde. Viele Juristen haben diese These mit überraschendem Eifer aufgegriffen, ebenfalls unter völliger Ignorierung ihrer Historie. Sie haben meist übersehen, daß nach dieser These „kein Mensch" — also kein Sachverständiger und kein Richter — etwas über die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aussagen kann und daß man diese Insuffizienz mit einer normativen Hilfskonstruktion nicht glaubhaft zu überbrücken vermag (vgl. die treffende Kritik von Seelig). Der „juristische Erfolg" der These beruht auf der — sicher nicht unbegründeten — Angst vor der Überschwemmung des Gerichtssaales mit Sachverständigen. Die These ist aber kein hier geeigneter Damm, sondern eine Fiktion. Das ständig wachsende Verlangen nach dem „Sachverständigen-Beweis" ist auf diesem Wege sicher nicht zu bremsen. Im übrigen haben sich Ehrhardt/ Villinger (1961) ausführlich zu dieser Frage geäußert, so daß hier auf eine Wiederholung verzichtet werden kann. Im Anschluß an das Ignoramus et Ignorabimus hinsichtlich der psychologischen Merkmale der Schuldfähigkeit wurde von Haddenbrock der „Agnostizismusstreit" als der unserer Zeit gemäßere Ersatz für den allmählich etwas antiquierten und ermüdenden „Determinismusstreit" herausgestellt. Die Gutachter werden in Gnostiker und Agnostiker eingeteilt, d. h. in solche, die die Voraussetzungen von Schuldunfähigkeit für mehr oder weniger beweisbar halten, und solche, denen zumindest ein beachtlicher Teil dieser Voraussetzungen als „grundsätzlich" unbeweisbar erscheint. In der Wertung schneiden die Agnostiker wegen ihrer vermeintlichen „Anspruchslosigkeit"

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viel besser ab als die Gnostiker, ähnlich wie die Pykniker bei Kretschmer oder die Nonkonformisten unserer Tage. Die Begriffe Gnostizismus und Agnostizismus sind nicht neu, dem Vokabular der Theologie und der Philosophie mit einem recht unterschiedlichen Bedeutungsgehalt entliehen. Diese „erbliche Belastung" beider Begriffe sollte zur Vorsicht mahnen. Die Beschwörung eines „Agnostizismusstreites" an Stelle eines für tot erklärten „Determinismusstreites" erinnert an die aktuelle Forderung nach Freigabe von Marihuana in einem vom Alkoholismus geplagten Land, u m so den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Dieser „Agnostizismusstreit" ist nur eine magische Variante zur Fortsetzung des ohnehin endlosen Philosophierens und Pseudophilosophierens um die „Grundlagen" der Schuldfähigkeitsbeurteilung und insoweit ein Beitrag zur weiteren Irritierung der Gerichtspraxis. Gnostizist in diesem Sinne kann nur ein Gutachter sein, der von klinischer Psychiatrie und empirischer Psychologie keine Ahnung hat. Ein konsequenter Agnostiker, der außerdem noch Charakter hat, dürfte aber überhaupt kein Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit de lege lata et ferenda übernehmen; in der Praxis kommt er kaum vor, weil er für den Richter eine ziemlich überflüssige Figur ist. Der Gnostiker aber könnte nur so lange eine Gefahr für die Rechtsprechung sein, wie der Richter die Fragwürdigkeit seines Alleswissens nicht durchschaut. Wir stehen hier wieder einmal vor einer Scheinproblematik, die schließlich doch bei der alten Freiheitsfrage endet und den totgesagten Determinismusstreit fortzusetzen hilft. Wenden wir uns jetzt wieder den biologischen Merkmalen aufgehobener oder erheblich verminderter Schuldfähigkeit in der Neufassung der gesetzlichen Vorschrift (§§ 20,21AT-73) zu, so finden wir einen relativ einfachen, von der möglichen wissenschaftlichen Entwicklung der Psychiatrie weitgehend unabhängigen Rahmen, der als solcher kaum umstritten ist. Die Einsichtsfähigkeit oder/ und die Fähigkeit zu einsichtsgemäßem Handeln kann aufgehoben oder erheblich vermindert sein durch 1. krankhafte seelische Anomalien in Form von a) körperlich begründbaren, d. h. auf Krankheit, Mißbildung, Verletzung, Intoxikation oder dergl. beruhenden schweren seelischen Störungen, b) Geisteskrankheiten im Sinne von endogenen Psychosen aus dem zyklothymen (manisch-depressiven) oder schizophrenen Formenkreis, deren Krankhaftigkeit bzw. körperliche Begründbarkeit, z. Zt. nur, wenn auch mit guten Gründen, „postuliert" ist;

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2. „normalpsychologische" Beeinträchtigungen des Bewußtseins oder vorübergehende und tiefgreifende Bewußtseinsstörungen im Sinne von nicht-krankhaft bedingten Zuständen der Erschöpfung und Übermüdung, der Schlaftrunkenheit, des „Affektsturms", der Hypnose und dergl., die in ihren Auswirkungen auf Persönlichkeitsgefüge und Sozialverhalten einer schweren krankhaften Bewußtseinsstörung gelegentlich und durch das Hinzutreten „konstellativer Faktoren" somatischer, psychischer oder situativer Art vergleichbar sein können; 3. seelische Abartigkeiten in Form von a) Artungs-Anomalien im Sinne von schweren, den „Persönlichkeitskern" oder die „Sinngesetzlichkeit des Lebens" tangierenden Normvarianten der Persönlichkeit, wie ζ. B. höhergradige Formen des Schwachsinns unbekannter Ursache oder ausgeprägte Psychopathien; b) Haltungs-Anomalien als im späteren Leben entstandene oder manifest gewordene schwere neurotische Entwicklungen oder konfliktmotivierte Störungen der Erlebnisverarbeitung und des Verhaltens, die in forensisch relevanter Eigenart und Ausprägung als Kern- oder Charakterneurosen eine anlagemäßige Abartigkeit als konstitutionelle Voraussetzung (Disposition) haben. Bei der folgenden Charakterisierung dieser biologischen Merkmale können wir uns weitgehend auf die oben erwähnte, modifizierte Fassung der Begründung zu §§ 24, 25 E-62 stützen (Ehrhardt 1968), die insoweit auch für die §§ 20, 21 des 2. StrRG vom 4. 7. 1969 zutrifft. — Die „krankhafte Störung der Geistestätigkeit" im bisherigen Recht wurde durch „krankhafte seelische Störung" ersetzt. „Seele" ist nach heute ziemlich übereinstimmender Ansicht in Psychiatrie und Psychologie der hier geeignetere Oberbegriff. Zur Verdeutlichung brauchen wir nur an psychopathologische Auffälligkeiten im Bereich des Manisch-Depressiven zu denken, die — zumindest primär — keine Störungen der Geistestätigkeit sind. Zu dieser ersten Merkmalsgruppe gehören einerseits körperlich begründbare seelische Störungen als Folge von Krankheit, Mißbildung, Verletzung und Intoxikation, andererseits die sog. endogenen Psychosen als vorerst nur „postulierte" organische Krankheiten im Sinne von Kurt Schneider. Gegenüber dem § 51 StGB wurde diese erste Gruppe inhaltlich präzisiert und in ihrem Umfang eingeengt; der endogene Schwachsinn und die Psychopathien gehören nicht mehr dazu. Zum Verständnis der Neuformulierung muß man weiterhin wissen, daß „Krankhaftigkeit" in diesem Zusammenhang ein empirisch-klinischer und auf

leibliches Geschehen eingeengter Seinsbegriff ist, so wie ihn der psychiatrische Sachverständige aus der klinischen Erfahrung und der Gutachtertätigkeit kennt. Krankhaft (pathologisch) ist zwar als Adjektivum von Krankheit üblich. Leider ist es aber nicht möglich, zur Kennzeichnung der ersten Gruppe auf den Begriff „Krankheit" sich zu beschränken, weil damit — nach dem Sprachgebrauch der allgemeinen Pathologie und Medizin — Mißbildungen, Verletzungen und Intoxikationen als organische Schäden, die zu schweren psychischen Ausfällen und Störungen führen können, nicht erfaßt würden. „Krankhaftigkeit" ist insoweit ein Oberbegriff, der Krankheiten im Sinne von krankhaften (pathologischen) Vorgängen an einem oder mehreren Organen (wie Entzündungen oder Neubildungen), Mißbildungen (ζ. B. des Gehirns) im Sinne von angeborenen Abnormitäten der Organstruktur oder der Organfunktion (ζ. B. metabolisch bedingter Schwachsinn), Verletzungen im Sinne einer traumatischen Schädigung der Organstruktur und Intoxikationen (Vergiftungen) der verschiedensten Art und mit der Folge einer toxisch gestörten Organfunktion umfaßt. Von diesem somatisch-organpathologisch bestimmten Oberbegriff der Krankhaftigkeit sind die Abartigkeiten der Intelligenz (Schwachsinnsformen ohne organischen Befund), des Charakters im allgemeinen (Psychopathien als Normvarianten der Persönlichkeit) oder nur der Sexualität (sexuelle Fehlhaltungen und Perversionen ohne organischen Befund) und schließlich die abnormen Erlebnisreaktionen oder Neurosen zu unterscheiden. Gerade bei der ersten Gruppe bedarf noch ein anderer Gesichtspunkt der Erwähnung. Nicht jede krankhafte seelische Störung bedingt Schuldunfähigkeit, weil durchaus nicht jede dieser Störungen die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufzuheben vermag. Nach allgemeiner ärztlicher Erfahrung gibt es leichte und schwere Krankheiten, äußert sich ein Krankheitsprozeß in Symptomen unterschiedlicher Intensität im körperlichen wie im seelischen Bereich. Hinsichtlich Eigenart und Ausprägung gibt es keine feststehenden Beziehungen zurischen einem organpathologischen Befund und seinen seelischen Auswirkungen. Hier zeigt sich die sachliche und methodische Notwendigkeit einer integrierten Beurteilung der biologischen und der psychologischen Voraussetzungen von Schuldunfähigkeit. Eine krankhafte seelische Störung kann nur dann zu Schuldunfähigkeit führen, wenn sie die Einsichtsfähigkeit oder die Steuerungsfähigkeit des Täters ζ. Z. der Tat ausgeschlossen hat. Ob das der Fall ist, muß der Sachverständige dem Richter erklären. Wie sollte sonst der Richter feststellen, ob die seelischen Störungen bei einer Cerebralsklerose oder bei einer Hirnverletzung der Art und dem Grade nach so schwerwiegend sind, daß sie die Ein-

Psychiatrie sichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters ausschließen? Mit den ihm zur Verfügung stehenden ethischen oder rechtlichen Begriffen und Maßstäben kann eine solche Frage niemals adäquat beantwortet werden. Über die Voraussetzungen von Schuldunfähigkeit entscheidet auch der Richter primär und immer als Tatfrage. Jeder Versuch einer „Umfunktionierung" dieser Tatfrage in eine Rechtsfrage führt uns aus der Realität des Lebens in den gefährlichen Bereich höchst privater Meinungen über das Können oder Nichtkönnen eines Menschen und bringt darüber hinaus den Beurteiler in die Gefahr der Verwechslung von Können und Sollen. Es ist weiterhin nicht einzusehen, wie man sich über derartige, ihrem Wesen nach rein empirische Fragen auf dem Wege einer „Konvention" einigen könnte, auch dann nicht, wenn wir bei der Beantwortung dieser Fragen auf große und gelegentlich sogar auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen sollten. Im Bereich der endogenen Psychosen hat man schon vor Jahrzehnten auf eine vermeintliche Konvention im Sinne der Formel: „Schizophrenie = Zurechnungsunfähigkeit" hingewiesen. Damit unterstellte man, daß der unbekannte somatische Prozeß der Schizophrenie generell und für immer die strafrechtlich relevante Einsichts- und Handlungsfähigkeit eines Menschen zerstört. Gerade wenn wir aber einen somatischen Prozeß annehmen, warum sollte es dann nicht leichte und schwere, beginnende und vollentwikkelte, passagere, episodische und schließlich defektuöse Krankheitsformen mit unterschiedlichen und wechselnden psychischen Auswirkungen geben? Die Schuldunfähigkeit beim ausgeprägten schizophrenen Defekt wie im akuten Schub wird niemand bezweifeln. Die klinische und forensische Erfahrung in diesen Fällen begründet aber noch keine „Konvention" über die rechtlich beachtlichen Auswirkungen eines uns völlig unbekannten Krankheitsprozesses, die irgendeinen Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit erheben könnte. Dazu kommt, daß wir heute, auch in Deutschland, kaum noch von einer „herrschenden Meinung" über die Diagnose der Schizophrenien sprechen können, was vor etwa 50 Jahren noch weitgehend der Fall war. Allein aus diesem Grund kann sich der verantwortungsbewußte Richter niemals auf vermeintliche „Konventionen" über die rechtliche Bedeutung psychiatrischer Diagnosen einlassen. Er wird vom Sachverständigen immer eine aus der Analyse des Einzelfalles gewonnene Stellungnahme zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit dieses Täters in dieser Tatsituation verlangen müssen. Im juristischen Schrifttum spricht man deshalb ganz zutreffend von dem Grundsatz der Relativität der S chuldunfähigkeit. Die zweite Gruppe der biologischen Merkmale aufgehobener oder erheblich verminderter Schuld-

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fähigkeit wird von den „tiefgreifenden Bewußtseinsstörungen" gebildet. Gemeint sind hier Beeinträchtigungen des Bewußtseins, die so tiefgreifend sind, daß sie sich in einer den krankhaften seelischen Störungen vergleichbaren Weise auf die Persönlichkeitsstruktur und das Sozialverhalten eines Menschen auswirken. In dem E-62 war deshalb von „gleichwertigen" Bewußtseinsstörungen die Rede. Krankheit oder Krankhaftigkeit ist nun einmal als zentrales Kriterium unseres Konzepts der Schuldfähigkeitsbeurteilung unerläßlich. Es gibt keine psychologische Methode, die uns den „exakten" Schluß auf die forensische „Erheblichkeit" von „normalpsychologischen" Störungen erlauben würde. Ohne ausreichende Kenntnis der krankhaften seelischen Störungen hängt ein Urteil über die forensische Relevanz normalpsychologischer Störungen in der Luft. Die Psychologen Thomae und Undeutsch haben scharf und — nach meiner Ansicht — mit insuffizienten Argumenten gegen die Begriffe Bewußtseinsstörung und Krankheitswertigkeit polemisiert. Auch von psychiatrischer Seite wurde die forensische Wertigkeit von Bewußtseinsstörungen erneut, aber mit anderem Ansatz und anderer Tendenz analysiert (de Boor, Witter). Diese Auseinandersetzungen führten 1965 zu der von dem BT-Sonderausschuß beschlossenen Kompromißformel „tiefgreifende" Bewußtseinsstörung. — Zum Verlauf dieser Diskussion wird auf Arnold (1966) und Ehrhardt (1961,1964, 1968) verwiesen. Die „normalpsychologischen" Bewußtseinsstörungen gehören — neben den Abnormitäten des Charakters und des Sexualverhaltens — zu den „allergischen Punkten" in unserem System der Schuldfähigkeitsbeurteilung. Im bisherigen deutschen wie schweizerischen Strafrecht umfaßt der Begriff der Bewußtseinsstörung krankhafte u n d „normale" Beeinträchtigungen des Bewußtseins. Bei Anfallskrankheiten gleich welcher Genese, bei Hirnerkrankungen und Hirnverletzungen kann das Bewußtsein in qualitativ und quantitativ unterschiedlicher Art über kürzere oder längere Zeit gestört sein. Es handelt sich ohne Zweifel um „krankhafte Störungen der Geistestätigkeit" (§ 51 StGB). Insoweit bedarf es also keiner besonderen Kennzeichnung im Gesetz. Das gilt gleichermaßen für die üblicherweise hierher gerechneten alkoholischen Rauschzustände. Auch die leichte Trunkenheit ist eine Intoxikation, als solche organisch bedingt und „krankhaft". Im übrigen erschöpft sich die forensische Relevanz des alkoholischen Rausches meist nicht in der „Bewußtseinstrübung". Es kommt hier nicht auf das zur Intoxikation benutzte Mittel, sondern auf seine psychischen Auswirkungen an. Der mißbräuchliche Genuß bestimmter Drogen wie Opium, Haschisch, LSD oder Morphium kann zur „Rauschgiftsucht" führen und ist ebenso eine — stets krankhafte — Intoxikation wie der

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Alkoholgenuß, der als Abusus zu allen unerfreulichen Erscheinungen des Alkoholismus oder der „Alkoholsucht" ausarten kann (-» Alkoholismus, Rauschmittelmißbrauch). In dem 2. StrRG bedeutet es einen Fortschritt, daß sämtliche pathologischen Bewußtseinsstörungen unter dem Oberbegriff der „krankhaften seelischen Störung" subsumiert werden. Es bleiben die einer krankhaften seelischen Störung vergleichbaren Bewußtseinsstörungen, bedingt durch Übermüdung oder Erschöpfung, Hypnose oder Posthypnose, Schlaftrunkenheit oder schließlich hochgradige Affekte, die gelegentlich einmal forensisch bedeutsam werden können. In der Praxis handelt es sich ausschließlich um seltene und diagnostisch besonders schwierige Fälle im Grenzgebiet von normal und pathologisch, bei denen sogenannte konstellative Faktoren Entstehung und Verlauf der Bewußtseinsstörung mehr oder weniger beeinflußt haben. „Vergleichbar" besagt in diesem Zusammenhang, daß sich eine solche „normale" Bewußtseinsstörung — wenn auch nur vorübergehend — wie eine schwere krankhafte seelische Störung auswirken kann, ohne selbst krankhaft zu sein. Hypnotische oder posthypnotische Zustände, wie auch die gern zitierte Schlaftrunkenheit oder das Schlafwandeln, spielen vor Gericht gar keine oder eine nur sehr bescheidene Rolle. Die Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Einsichts- oder der Steuerungsfähigkeit eines Menschen durch Übermüdung und Erschöpfung ist aber eine allgemeine Erfahrungstatsache. Die Übermüdung als kriminogener Faktor ist allerdings praktisch nur im Verkehrsstrafrecht von größerem Interesse und erledigt sich dort in der Regel unter dem Gesichtspunkt der actio libera in causa. Praktisch viel wichtiger sind „normale" Bewußtseinsstörungen durch hochgradige Affekte. Die Beurteilung sogenannter Affekthandlungen ist und bleibt eine der schwierigsten Aufgaben für Richter und Sachverständige. Fragen wir zunächst nach der Eigenart von Affekten wie Angst, Zorn, Wut, Ekstase usw., so erleben wir sie als intensive und plötzlich auftretende Gefühlsregungen, gekennzeichnet durch relativ kurzen Gefühlsverlauf und eine große, aber auch schnell wechselnde Intensität. Gemeinsames Merkmal ist eine Einengung oder Verdunkelung des „noetischen Horizontes", das heißt des Horizontes „der deutlich gegliederten Wahrnehmungen, der Vorstellungen und Gedanken, durch die der Mensch sein Weltbild ordnet, überschaubar macht und die Grundlage einer bewußten und zielgerichteten Lebensführung schafft" (Lersch). Mit Affekten ist also hier nicht das Gefühlsleben schlechthin gemeint, wie etwa in der gelegentlichen Rede von der Affektivität eines Menschen. Die Handlung im Affekt, auch Trieb-, Impuls- oder Kurzschlußhandlung genannt, wäre demnach von der einsichtigen oder Willenshandlung zu unterscheiden.

Die „reine" Vernunft- oder Willenshandlung und die „reine" Affekt- oder Impulshandlung sind dabei Grenzbegriffe, Endpunkte auf einer Skala ungezählter Variationen. Mit dem Begriff Affekt allein ist aber der eine „Endpunkt" noch nicht markiert. Affekt bedeutet zwar per definitionem etwas „Hochgradiges", innerhalb dessen aber nach der Erfahrung noch ein beträchtlicher Intensitätsspielraum gegeben ist. Wenn die Frage der „Affekthandlung" vor Gericht auftaucht, so handelt es sich für den Sachverständigen stets um eine rein diagnostische Problematik, die ihre besondere Aktzentuierung dadurch erhält, daß vorübergehende Beeinträchtigungen des Bewußtseins zur Alltagserfahrung eines jeden Menschen gehören und daß ein Gewaltverbrechen in aller Regel eine „Affekthandlung" darstellt, es sei denn, der Täter leide an einem schizophrenen Persönlichkeitsdefekt. Der Sachverständige muß also zunächst fragen, ob bei der in Rede stehenden Tat ein „hochgradiger Affekt" überhaupt irgendeine beachtliche Rolle gespielt hat. Wie kam es zu diesem Affekt ? Welche krankhaften Faktoren sind bei seinem Zustandekommen evtl. zu berücksichtigen? Bei einem solchen Vorgehen bleiben nur noch wenige „affektive Ausnahmezustände", die der Art und dem Grade nach eine Bewußtseinsstörung im Sinne des Gesetzes sind und die nicht auf eine pathologische Ursache oder Mitursache zurückgeführt werden können. Deswegen ist und bleibt das „krankhaft bedingte Verhalten" der in der Gerichtspraxis allein brauchbare Maßstab für die Beurteilung der Schuldunfähigkeit. Was einen normalen Staatsbürger „innerlichst bewegtdarüber kann und darf und soll kein Strafrichter urteilen. Über das, was „letztlich" einen Menschen, der nicht irgendwie krank oder hochgradig abnorm ist, zu einer strafbaren Handlung bestimmt hat, zu Gericht zu sitzen, kann niemals Aufgabe des Strafrichters sein. Das wäre nicht nur eine Überforderung, sondern eine Anmaßung. Außerdem wäre es eine Mißachtung des im Grundgesetz verankerten Persönlichkeitsrechtes. Bewußtseinsstörungen sind ihrer Eigenart nach gleichsam dazu prädestiniert, die Einsichtsfähigkeit eines Menschen und damit seine strafrechtliche Verantwortlichkeit zu beeinträchtigen. Bei einem Schwachsinnigen etwa kann man überzeugend nachweisen, daß ihm das Vermögen der Einsicht in eine Verbotsnorm — ζ. B. Meineid oder Urkundenfälschung — einfach fehlt. Die Einsicht fehlt aber auch dem normalen Staatsbürger, der in Unkenntnis einer Verbotsnorm, im Verbotsirrtum rechtswidrig handelt. Das beiden Fällen gemeinsame, aber ganz unterschiedlich begründete Fehlen der Einsicht führte in jüngster Zeit zu Überlegungen hinsichtlich des Verhältnisses der Vorschriften betr. Verbotsirrtum und aufgehobene oder verminderte Schuldfähigkeit (Dre-

Psychiatrie her, Armin Kaufmann). Es stellte sich die Frage, ob man durch eine Kombination der einschlägigen Vorschriften (§§ 21, 24, 25 E-62) zu einer einfacheren und zugleich praktikablen Regelung im Gesetz kommen könnte (vgl. Sonderausschuß f. d. Strafrechtsreform, Prot. V/1790). Nach meiner Ansicht beruhen derartige Überlegungen auf einem Mißverständnis der psychologischen und psychopathologischen Gegebenheiten, und eine Kombination im Gesetz würde zu einer in ihren Folgen kaum absehbaren Verwirrung in der Rechtspraxis führen. Die Vorschriften der § 59 StGB, §§ 19, 21 E-62, §§ 19, 20 AE-66 und §§ 16,17 AT-73 beziehen sich meines Erachtens eindeutig auf das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein von Einsicht, unter der stillschweigenden und selbstverständlichen Voraussetzung intakter Einsichtsfähigkeit. Die Vorschriften betreffend die Schuldfähigkeit, ganz gleich in welcher der vorliegenden Fassungen, beziehen sich dagegen nicht minder eindeutig auf die Fähigkeit zur Einsicht und die Fähigkeit zu einsichtsgemäßem Handeln. Die Differenzierung dieser sogenannten psychologischen Voraussetzungen in einen intellektuellen und einen voluntativen Anteil wurde in allen Reformvorschlägen aus wohlerwogenen Gründen beibehalten. Daß diese Differenzierung nur akzentuierend und nicht determinierend, wie in den „exakten" Naturwissenschaften, zu verstehen ist, gehört heute zu den in Psychologie und Psychopathologie unbestrittenen Erkenntnissen. Die Frage, ob ein „normaler" Täter die erforderliche Einsicht in die Rechtswidrigkeit seiner Handlungen gehabt hat, wurde in der bisherigen Rechtspraxis ohne Beiziehung eines Sachverständigen entschieden, jedenfalls in der Regel. Der Richter kann und muß in der Praxis davon ausgehen, daß dem sogenannten „normalen" Staatsbürger die Verbotsnormen des Strafgesetzbuches einsichtig sind. Deswegen sollte es auch ein wohlbegründetes Anliegen jeder Strafrechtsreform sein, den Katalog der Verbotsnormen so „allgemeinverständlich" wie irgend möglich zu gestalten. Je größer und differenzierter der Verbotskatalog wird, um so größer wird auch für den durchschnittlichen Staatsbürger die Chance des Verbotsirrtums. Das zeigt sich sehr deutlich im Nebenstrafrecht, ζ. B. im Steuerrecht, wo sich die Frage des Verbotsirrtums infolge schlichter Unkenntnis ziemlich häufig stellen dürfte. Die Fähigkeit des Betroffenen zur Einsicht wird dabei nur in seltenen Ausnahmefällen zur Diskussion stehen. Es geht primär und immer um eine nur vom Richter zu entscheidende Frage der Zumutbarkeit, ob nämlich von dem Betroffenen verlangt werden konnte, sich die erforderliche Einsicht zu verschaffen. Wollte man konsequent und in jedem Fall einer rechtswidrigen Handlung bei einem normalen Staatsbürger das Vorhandensein oder

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Nichtvorhandensein von Einsicht, die erforderliche Kenntnis bzw. die mehr oder weniger vollständige Unkenntnis der in Rede stehenden Verbotsnorm überprüfen, so müßte man schon ex officio einen Psychologen und einen Psychiater zum hauptamtlichen Mitglied eines jeden Gerichtes machen. Abgesehen von der praktischen Unmöglichkeit glaube ich kaum, daß dadurch die Rechtsprechung „gerechter" würde. Überzogene Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit, die heute verbreitet sind, legen die Weiterführung dieses Gedankens nahe. So ζ. B. ist es eine sehr aktuelle Frage, ob und wieweit einem Delinquenten der Verstoß gegen eine Verbotsnorm vorzuwerfen ist, die er zwar kennt oder kennen könnte, deren Inhalt er aber aus irgendwelchen ideologischen Gründen ablehnt. Das rechtswidrige Tun oder Lassen eines solchen „Überzeugungstäters" eröffnet beachtliche Perspektiven hinsichtlich des echten wie des unechten Verbotsirrtums, und die empirische Psychologie würde dem Richter die Entscheidung nur selten erleichtern können. Man kann auf diesem Wege die Psychologisierung der Rechtsprechung so weit treiben, daß sie sich in weiten Bereichen selbst paralysiert. In der Begründung zu § 24 E-62 heißt es auf Seite 140, Sp. 2 zutreffend: „Für die Einsichtsfähigkeit kommt es nur darauf an, daß der Täter das Unrecht der Tat erkennen kann, nicht aber, daß er es wirklich erkennt." In jahrzehntelanger Rechtspraxis wurde bei dem überzeugenden Nachweis des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 oder 2 StGB niemals gefragt, ob und wieweit der Täter unter Berücksichtigung seiner mehr oder weniger verminderten Einsichtsfähigkeit tatsächlich auch das Rechtswidrige seiner Handlungsweise zum Zeitpunkt der Tat eingesehen hat. Diese Frage stellt der Richter dem Sachverständigen gar nicht, weil er weiß, daß sie nur in seltenen Ausnahmefällen und auch dann nur mit einigen Fragezeichen zu beantworten ist. Im übrigen ist bei einem psychisch behinderten, gestörten oder kranken Täter die Frage nach Art und Grad der aktuellen Einsicht von ganz nebensächlicher Bedeutung im Hinblick auf die gegen oder für diesen Delinquenten zu ergreifenden Maßnahmen. In einer Zeit, in der abstrakte Vorstellungen von Vergeltung ganz allgemein durch den Gedanken der Resozialisierung oder Rehabilitierung verdrängt werden, sollte das unmittelbar evident sein. Leider hat der 2. Strafsenat des BGH durch einige Urteile aus den letzten Jahren eine ziemliche Verwirrung in diesem Fragenkomplex angerichtet. So ζ. B. ist das Urteil vom 2. 2. 1966 (BGHSt 21, 27) im Ergebnis falsch, weil es auf einigen grundsätzlichen Mißverständnissen beruht, wie sich aus der Begründung ergibt. Der Angeklagte wurde wegen Betruges im Rückfall zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, und außer-

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dem wurde seine Unterbringung gem. § 42 b StGB angeordnet, weil die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 StGB gegeben waren. Die erhebliche Verminderung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit beruht auf der Feststellung eines „leichten bis mittelgradigen Schwachsinns". Der BGH rügt, daß sich die Strafkammer auf diese Feststellung beschränkt und darüber hinaus nicht geprüft habe, ob durch die erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit im Einzelfall auch tatsächlich die Einsicht ausgeschlossen war oder nicht. Entscheidend sei „die konkrete Beziehung des Täters zur Tat, die durch den Mangel der Einsicht gekennzeichnet ist." Der Täter ist offenbar wiederholt einschlägig vorbestraft. Aus dieser Tatsache schließt der BGH, der Täter habe ein beträchtliches Erfahrungswissen in bezug auf Betrugsdelikte und ihre Folgen gesammelt. Der naheliegende Gedanke, daß gerade bei einem Schwachsinnigen die ständige Wiederholung gerade dieses Deliktes für fehlende oder zumindest nicht ausreichende Einsicht sprechen könnte, ist vom BGH offenbar nicht erwogen worden, obwohl eine erhebliche Verminderung der Einsichtsfähigkeit festgestellt war. Der Delinquent wurde durch die diversen Vorstrafen offensichtlich in keiner Weise beeindruckt. Auch das ist immerhin ein beachtlicher Hinweis, daß das Persönlichkeitsbild dieses Schwachsinnigen keineswegs nur durch den Intelligenzmangel geprägt ist. Der Intelligenzquotient ist nun einmal kein erschöpfendes Kriterium zur Charakterisierung eines Menschen. Jeder Grad von Intelligenzmangel pflegt sich auch in individuell ganz unterschiedlicher Eigenart und Ausprägung auf das übrige Persönlichkeitsbild auszuwirken. Selbst wenn dieser Delinquent eine partielle oder gar vollständige Einsicht in das Rechtswidrige seiner Betrügereien gehabt haben sollte, so war offenbar seine Fähigkeit zu einsichtsgemäßem Handeln erheblich vermindert, weil es sich um eine infolge Schwachsinns erheblich veränderte Persönlichkeit handelt. Ob und wieweit dieser Schwachsinnige bei seinen Betrügereien der Rechtswidrigkeit seines Handelns sich bewußt gewesen ist, entzieht sich weitgehend oder vollständig einer empirisch-wissenschaftlichen Abklärung, kann also von keinem Sachverständigen und keinem Richter mit der in der Rechtsprechung erforderlichen Zuverlässigkeit festgestellt werden. Das ist aber auch ganz überflüssig, wenn es sich um eine Täterpersönlichkeit dieser Art handelt. Eine Unterbringung gem. § 42 b wäre der Täterpersönlichkeit wie der Sachlage angemessen gewesen. Der offenbar noch nicht gemachte Versuch einer Behandlung mit den in einer psychiatrischen Krankenanstalt gegebenen Möglichkeiten war indiziert. Gleichzeitig hätte man sich um eine weitere diagnostische und prognostische Abklärung bemühen können. Bei Erfolglosigkeit dieses Versuchs bliebe z. Zt. nur die Sicherungs-

verwahrung, da eine Möglichkeit der Unterbringung mit vorwiegend sozialpädagogischer Behandlung einstweilen nicht besteht. Es wurde oben bereits einmal vermerkt, daß die Begründung dieses Urteils von falschen Vorstellungen über die Täterpersönlichkeit ausgeht. Einsichtsfähigkeit und Fähigkeit zu einsichtsgemäßem Handeln sind keine abstrakt bestimmbaren Größen. Ihr Vorhandensein oder Nichtvorhandensein erschließen wir immer nur im konkreten Einzelfall durch eine individuelle und möglichst umfassende Analyse der Persönlichkeit. Die rein theoretische Aufspaltung von potentieller und aktueller Einsicht hat ebenfalls eine nur begrenzte Bedeutung in der Praxis. Kein halbwegs erfahrener Richter wird nach der aktuellen Einsicht fragen, wenn er sich von dem Fehlen oder einer erheblichen Verminderung der potentiellen Einsicht überzeugt hat. Wenden wir uns jetzt wieder der Systematik der biologischen Voraussetzungen aufgehobener oder verminderter Schuldfähigkeit zu, so stoßen wir auf den Schwachsinn als dritte Gruppe seelischer Ausfälle oder Störungen. Gemeint ist damit die angeborene Intelligenzschwäche ohne nachweisbare Ursache. Schwachsinn als Folge intrauteriner, geburtstraumatischer oder frühkindlicher Hirnschädigung gehört in die erste Gruppe. Ebenso gehören hierher diejenigen Intelligenzdefekte, die im Sinne einer organischen Demenz Symptom eines cerebralen Krankheitsprozesses (ζ. B. in der Involution oder im Senium) sind; es handelt sich um krankhafte seelische Störungen der ersten Gruppe. Der Schwachsinn ist nach dem Sprachgebrauch des 2. StrRG eine Unterart der seelischen Abartigkeit, nämlich diejenige Abartigkeit, die vorwiegend durch Intelligenzmängel gekennzeichnet ist. Der Begriff ist enger als der Begriff der Geistesschwäche in § 51 StGB, der nach der Rechtsprechung (RGSt. 73, 121) geringergradige Störungen der Geistestätigkeit krankhafter wie nichtkrankhafter Art umfaßt. Die Neufassung beschränkt sich auf die eine Unterart, den Schwachsinn. In ausgeprägter Form ist der Schwachsinn diagnostisch deutlich abgrenzbar und bereits seinem Wesen nach eine schwere seelische Abartigkeit in dem Sinne, daß sie die Fähigkeit des Betroffenen zu sinnvollem Handeln ganz oder teilweise aufzuheben oder wesentlich herabzusetzen vermag. Insofern ist der höhergradige Schwachsinn seiner Eigenart nach den krankhaften seelischen Störungen vergleichbar. Die vierte und letzte Gruppe der biologischen Merkmale wird von den „schweren anderen seelischen Abartigheiten'''' gebildet. Gemeint sind hier die oben (vgl. S. 358) besprochenen Störungen der „kleinen" Psychiatrie, also Psychopathien, Neurosen, abnorme Erlebnisreaktionen, bestimmte Formen von Suchtstoffabhängigkeit, sexuelle Fehlhaltungen und Perversionen. Die gesonderte

Psychiatrie Nennung dieser Abartigkeiten im Gesetzestext wie auch die Ausklammerung des genuinen Schwachsinns in einer eigenen Untergruppe sind angesichts der großen Bedeutung dieser mannigfaltigen Formen seelischer Behinderung oder Störung in der Kriminologie wie in der Gerichtspraxis wohlbegründet. Die auch an dieser Stelle nach langen Auseinandersetzungen erreichte Übereinstimmung des juristischen mit dem psychiatrischen Sprachgebrauch wurde hinsichtlich der Abartigkeiten durch den AE-66 erneut in Frage gestellt. Es soll sich dabei um einen „diskriminierenden Ausdruck" handeln, der deshalb zu vermeiden sei. In einer Zeit, in der zahlreiche Varianten von Abartigkeit publizistische Orgien feiern, in der tatsächliche oder vermeintliche Abartigkeit bzw. abartige Verhaltensweisen zu den „heiligen Kühen" eines konform gewordenen Nonkonformismus gehören, dürfte ein solches Maß an Feinfühligkeit und Rücksichtnahme doch etwas überzogen sein. Gegen einen besseren Begriff wäre natürlich nichts einzuwenden, sofern er einigermaßen klar und damit praktikabel ist. Man kann aber nicht die „schwere andere seelische Abartigkeit" durch „vergleichbar schwere seelische Störung" ersetzen. Die Unhaltbarkeit dieses Vorschlags zeigt sich in der Gegenüberstellung zur „krankhaften seelischen Störung". Die „Krankhaftigkeit" ist eben kein hier ausreichendes und überhaupt zutreffendes Kriterium des Grades oder der Schwere einer Störung. Das ergibt sich bereits eindeutig aus der Begründung des E-62. Die erfreulich weitgehende Übereinstimmung in der Kennzeichnung der biologischen Merkmale mit der „Internationalen Klassifikation der Krankheiten" (1968) darf durch eine Umformulierung nicht beeinträchtigt werden, die im Ergebnis nur zu einer Verschlechterung der Praktikabilität der Vorschrift führen könnte. Die hier in Rede stehenden Abartigkeiten sind als nicht-krankhafte Persönlichkeitsvarianten oder seelische Störungen in der Regel kein ausreichender Grund für die Annahme von Schuldunfähigkeit. Die Vorschrift verlangt auch zutreffend eine „erhebliche" Minderung der Einsichts- oder/und Steuerungsfähigkeit, um Beeinträchtigungen geringeren Grades, wie sie ζ. B. bei Kapital-, Trieboder Hangverbrechern regelmäßig vorliegen, als für die Schuldfähigkeit unbeachtlich zu kennzeichnen. Die Uneinheitlichkeit und Unsicherheit der Rechtsprechung hinsichtlich der Schuldfähigkeit bei Abartigkeiten des Charakters bzw. des Sexualverhaltens hat dazu geführt, daß nach eingehenden Beratungen in der großen Strafrechtskommission die „schweren anderen seelischen Abartigkeiten" nur noch als Voraussetzung verminderter Schuldfähigkeit in § 25 E-62 genannt werden. Ausländischen Vorbildern folgend, wurde damit die Einheitlichkeit der biologischen Voraussetzungen von aufgehobener und verminderter 25 HdK, 2. Aufl., Bd. II

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Schuldfähigkeit in § 51 S t G B zugunsten einer „differenzierenden Lösung" aufgegeben. Aus theoretisch-grundsätzlichen und historischen Erwägungen habe ich früher ebenfalls die einheitliche Regelung in der überlieferten und geltenden Form bevorzugt. Eine gesetzliche Einschränkung der Berücksichtigung „anderer seelischer Abartigkeiten" bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit ist aber für die Gerichtspraxis zweifellos vorteilhafter. Es wäre dann nicht mehr so einfach, gerade im Bereich der Schwerkriminalität gleichsam prophylaktisch den Verdacht auf Schuldunfähigkeit zu äußern, der sich mit der Behauptung einer seelischen Fehlanlage oder anlagebedingten seelischen Fehlentwicklung allzu leicht begründen läßt. Der Sonderausschuß des 4. Bundestages hat sich 1965 nach sorgfältiger Beratung einstimmig für die im E-62 vorgesehene Regelung ausgesprochen (Prot. IV/635, 649, 742). Leider ist der Sonderausschuß in der folgenden Wahlperiode 1966 mit wenig überzeugenden Argumenten zur „Einheitslösung" alter Prägung zurückgekehrt, die dann in §§ 20, 21 des 2. StrRG übernommen wurde. Auch der AE-66 plädiert in dieser Frage für die alte Lösung. Die Ausschußberatungen hätten in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung gezeigt, daß die fraglichen Grenzfälle aus dem Bereich der Schuldunfähigkeit nicht auszuschließen seien. Deswegen könne man solche Störungen nicht mit Rücksicht auf die „Alltagspraxis des Gerichts" im Gesetz „totschweigen" und irgendwie „unter der Hand" lösen. Fragwürdige Absichten dieser Art werden vor allem den psychiatrischen Sachverständigen unterstellt. Der Hinweis auf die Bedürfnisse der täglichen Gerichtspraxis erscheint den Verfassern des AE-66 offenbar als eine „Sünde wider den Geist". Gerade die Erfordernisse der Gerichtspraxis wären aber die einzige noch lohnende Aufgabe für die parlamentarische Diskussion der gesetzlichen Neuregelung betreffend die Schuldfähigkeit gewesen. An eine theoretisch-grundsätzliche Lösung, die alle Wünsche befriedigt, kann nur jemand glauben, der die Problematik nicht kennt. Diese „grundsätzliche" Lösung brauchen wir aber weder für die Gerichtspraxis noch für eine zeitgemäße -*• Kriminalpolitik. Die differenzierende Lösung hinsichtlich der biologischen Voraussetzungen würde nicht ausschließen, daß in seltenen Grenz- oder Ausnahmefallen eine Störung aus dem Bereich der schweren anderen seelischen Abartigkeit zur Annahme von Schuldunfähigkeit führen kann, wenn nämlich die „Krankhaftigkeit" dieser Störung nicht hinreichend zuverlässig ausgrenzbar ist. Die klinischpsychiatrische Erfahrung lehrt, daß es „krankheitsverdächtige" psychopathologische Erscheinungsbilder (Syndrome) gibt, die durch ihre „Psychosennähe" auffallen, ohne daß man sie zur Zeit der Untersuchung als Psychose zu klassifizieren

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vermag. Als Beispiel sei auf den in der Psychiatrie von jeher umstrittenen Formenkreis der Paranoia und des Paranoiden (Wahnhaften) verwiesen, soweit sich derartige Syndrome nicht oder noch nicht den Schizophrenien zuordnen lassen. Auch an bestimmte Sexualdelinquenten mit einem einschlägigen organpathologischen Befund wäre hier zu denken. Es handelt sich in diesem Zusammenhang ausschließlich um seltene Grenzfälle der psychiatrischen Diagnostik, bei denen das Vorliegen der Voraussetzungen von Schul dunfähigkeit nicht auszuschließen ist. Problemfälle dieser Art hat der Richter auf der empirisch-wissenschaftlichen Ebene "der Sachfrage mit Hilfe von Sachverständigen zu klären. Er kann sie nicht nur normativ als Rechtsfrage entscheiden. Im Rahmen einer differenzierenden Lösung würde also die kriminalpolitisch und kriminalpräventiv unergiebige Diskussion über die Schuldunfähigkeit bei „anderen Abartigkeiten" auf eine verschwindend geringe Zahl von Delinquenten — alle Prozentangaben sind reine Phantasie — beschränkt, die als fakultativ echte Fälle von „Krankhaftigkeit" Schwierigkeiten hinsichtlich ihrer diagnostischen Einordnung und forensischen Beurteilung bereiten. Die „Einheitslösung" zwingt aber zur Fortsetzung des bisherigen Spiels um die „Krankheitswertigkeit" nicht-krankhafter Störungen, und der BGH wird künftig noch häufiger „als Rechtsfrage" zu entscheiden haben, wer „krank im Rechtssinne" und damit schuldunfähig ist. Das Basteln an dieser logisch schiefen und biologisch falschen Konstruktion von „Krankheit" wird weitergehen. Die Diskrepanz zwischen dem medizinischen und dem juristischen Krankheitsbegriff wird also größer, und damit auch die Zahl der fragwürdigen Urteile. Je mehr sich der juristische vom medizinischen Krankheitsbegriff entfernt, um so mehr muß er sich einem sozialen oder soziologischen Krankheitsbegriff annähern, weil das faktische Sozialverhalten unvermeidlich zum entscheidenden Kriterium wird. Jedes Verbrechen ist aber zweifellos Symptom einer „sozialen Krankheit", und das Gewaltverbrechen ist ebenso unbezweifelbar ein Symptom für die besondere Schwere einer solchen „Krankheit". Der Spielraum für den in diesen Fragen versierten Verteidiger, der die „geeigneten" Sachverständigen beizuziehen versteht, wird damit erheblich größer, und für den Angeklagten kommt es ganz entscheidend darauf an, eben diese Verteidiger und diese Sachverständigen zu „gewinnen". Die Schuldfähigkeitsbeurteilung bei den „anderen seelischen Abartigkeiten" ist und bleibt eine schwierige Aufgabe für den Sachverständigen wie für den Richter. Insgesamt gesehen sind die Ergebnisse der bei uns üblichen Begutachtung keineswegs so schlecht, wie sie gelegentlich gemacht werden. Insbesondere sind sie nicht schlechter als

in anderen Ländern mit anderen Konzeptionen der Schuldfähigkeitsbeurteilung. Es besagt eben nicht viel, wenn man die Begutachtungsergebnisse bei 100 oder 500 sogenannter Psychopathen miteinander vergleicht und dabei mehr oder weniger erhebliche Beurteilungsdifferenzen feststellt. In der forensischen Praxis kann man immer und überall mehr oder minder große Mängel und Schwächen bei der Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nachweisen. Die Ursachen dafür sind in erster Linie bei den Beurteilern und nicht beim Konzept der Beurteilung zu suchen. Seit eh und je hat es gute und schlechte Richter wie auch gute und schlechte Sachverständige gegeben. Keine gesetzliche Formulierung vermag daran etwas zu ändern. Man sollte aber nicht vergessen, daß mit dem Wachsen der Gesamtzahl der Richter und der Sachverständigen auch die Zahl der weniger guten oder schlechten Vertreter ihrer Profession wächst, wahrscheinlich sogar schneller als die Gesamtzahl. Im übrigen sind die mehr oder weniger großen Mängel einer Methodik bei ihrer praktischen Anwendung noch lange kein Beweis gegen ihre Richtigkeit. Ein ebenso wichtiger wie gern übersehener Grund für die beklagte Insuffizienz oder Unsicherheit liegt in der bei uns üblichen Betrachtung der Schuldfähigkeit als ein Abstraktum, wie sie das Gesetz zu verlangen scheint. Theoretisch mag eine solche Auffassung begründet und richtig sein. Gerade der gute und erfahrene Richter hält sich aber in der Praxis bei der Beurteilung so mancher Psychopathen oder Sexualdelinquenten keineswegs streng an diese Regel. Es ist gut und manchmal notwendig, wenn er sich vor der Entscheidung über die Zubilligung erheblich verminderter Schuldfähigkeit auch die Konsequenzen dieser Entscheidung überlegt. In der viel zu engen Begrenzung des Spielraums dieser Überlegungen zeigt sich ein vordringliches Reformbedürfnis unseres alten StGB. Für den Sachverständigen stellt sich das Problem ganz ähnlich, zumal seine Aufgabe präzise auf die Feststellung der Voraussetzungen aufgehobener oder erheblich verminderter Schuldfähigkeit konzentriert ist. Bejaht er aber diese Voraussetzungen, so folgt heute regelmäßig die Frage nach der Maßregelindikation. Ist es verwunderlich, wenn der Direktor eines Psychiatrischen Krankenhauses bei der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 StGB zögert, weil er genau weiß, daß sein J a zur Unterbringung dieses Psychopathen in seiner Krankenanstalt führt ? Insbesondere zögert er dann, wenn er außerdem weiß, daß dieser Psychopath lediglich den ganzen Betrieb stören wird, daß er ihn in keiner Weise adäquat behandeln kann und daß die ausdrückliche Verneinung der Indikation für eine Unterbringung gemäß § 42 b StGB gar nichts nützt, weil der Richter keine Möglichkeit zur Anordnung einer anderen und angemessenen Maß-

Psychiatrie regel hat. Die „abstrakte" Bestimmung der Schuldfähigkeit läßt sich nur dann einigermaßen konsequent durchhalten, wenn man einen klaren Trennungsstrich zwischen die Frage nach der Verantwortlichkeit und die Frage nach der Maßregelindikation setzt, wie es Frey schon vor Jahren gefordert hat. Die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortlichkeit sollte in der Gerichtspraxis nicht überstrapaziert werden, wie es heute in zunehmendem Maße geschieht. Dazu bedarf es vor allem einer Limiiierung und „Bereinigung" der Straftatbestände. Entsprechende Vorschläge für den Bereich des Sexualstrafrechts enthalten etwa der Alternativentwurf zum besonderen Teil des StGB (1968) oder das Gutachten von Hanack für den Deutschen Juristentag 1968, die im Detail hier nicht diskutiert werden können. Typisches und bekanntestes Beispiel ist die Kriminalisierung und Pönalisierung homosexueller Betätigung von erwachsenen Männern „im stillen Kämmerlein", also jener vieldiskutierte strafrechtliche Grundtatbestand, der ab 1. 9. 1969 durch die Neufassung der §§ 175, 175 a StGB gem. Art. 1 Nr. 52 des 1. StrRG vom 25. 6. 1969 suspendiert wurde. In diesem Sinne haben die zuständigen wissenschaftlichen Gesellschaften schon vor mehr als 10 Jahren votiert. Nicht nur aus allgemeinen und grundsätzlichen, sondern vor allem aus forensisch-praktischen Überlegungen heraus ist der Grundtatbestand durchaus entbehrlich vgl. S. (368). Die völlige sexuelle Abstinenz kann man auch beim „Gleichling" nur in Ausnahmefällen mit entsprechenden charakterlichen und weltanschaulichen Voraussetzungen anstreben und vielleicht erwarten. Sie von Seiten des Staates zu fordern, ist eine Utopie. Mit dem Wegfall des Grundtatbestandes braucht der Richter sich nicht mehr über die bisher ziemlich regelmäßig gestellte Frage „angeboren oder erworben" den Kopf zu zerbrechen. Selbstverständlich kann der Staat homosexueller Betätigung Grenzen setzen. Dagegen gibt es kein haltbares biologisches oder psychologisches Argument; das ist berechtigt, zumutbar und notwendig. Es gibt keinen „biologischen Zwang" zu ausschließlich homo- oder heterosexueller Betätigung mit Kindern, zur Pädophilie oder Päderastie. Die seltenen Fälle organpathologisch bedingter Entgleisungen dieser Art können wir hier beiseite lassen. Die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Betätigung zwischen Erwachsenen, die sich als praktisch undurchführbar erwiesen hat, verwässert und paralysiert aber die notwendige Verfolgung der eigentlich gefährlichen Auswirkungen der Homosexualität in Form der qualifizierten Delikte. Eine ernsthafte Bekämpfung der Homosexualität mit den —naturgemäß begrenzten — Mitteln des Strafrechts ist überhaupt nur möglich, wenn man den Richter nicht bereits im „Regelfall" des einschlägigen 25·

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Deliktes vor die Frage nach der Schuldfähigkeit des Täters stellt. Nicht weniger unbefriedigend ist die Situation in dem oben (S. 369) zitierten Fall von Voyeurtum und Fetischismus. Man würde nicht zögern, diesem Mann die Voraussetzungen erheblich verminderter Schuldfähigkeit zu testieren, wenn sich dadurch die Möglichkeit einer angemessenen Behandlung eröffnen würde, natürlich nur als ein Versuch, aber ein Versuch, der in solchen Fällen gemacht werden müßte, weil die ständig wiederholte Unterbringung in einer Strafanstalt genauso sinnlos und kostspielig ist wie die Unterbringung in einer Psychiatrischen Krankenanstalt ohne adäquate Behandlungsmöglichkeiten. Diese Beispiele lassen sich gerade im Bereich der „anderen seelischen Abartigkeiten" beliebig vermehren. Nur zu häufig zeigt sich dabei, daß gar nicht die Schuldfähigkeit das eigentlich zentrale Problem ist, und man kann sich nur wundern, wie oft und bedenkenlos die richterliche Bestätigung fehlender Verantwortlichkeit als das vermeintlich kleinere Übel heute gefordert wird. Die Entscheidung über die Formulierung der Schuldfähigkeitsvorschrift und ihre — nur noch dürftige — Begründung waren lediglich Vorentscheidungen zu der aus kriminologischer und kriminalpolitischer Sicht viel wichtigeren Neuordnung und Verbesserung des Systems der Strafen und Maßregeln. Dazu kommt die noch dringlichere Reform des Vollzugs dieser Strafen und Maßregeln, die uns bevorsteht. Bei der Schuldfähigkeitsregelung sollte man sich darüber im klaren sein, daß sie in grundsätzlicher Sicht niemals allseits befriedigend oder gar unangreifbar zu sein vermag, sie kann nicht die Offenheit einer „letztlich" richtigen Beurteilung auch des allerletzten Grenzfalles ausschließen. Sie könnte aber in einer realistischeren Fassung viel zur Verbesserung der Gerichtspraxis in den weitaus meisten Fällen, einschließlich der sogenannten Grenzfälle, beitragen. Jede Neuregelung der Schuldfähigkeitsbeurteilung vermag jedoch erst dann zum Tragen zu kommen, wenn die Voraussetzungen zur Anwendung des neuen Systems von Strafen und Maßregeln nach dem 2. StrRG vom 4. 7. 1969 geschaffen sein werden. D. Behandlung, Vorbeugung, Verhütung Die sich wiederholenden Versuche, kriminelles Verhalten als eine Art „sozialer Krankheit" zu deklarieren, vermögen ebensowenig zu überzeugen wie der verbreitete Wunderglaube an die „Heilbarkeit" von Delinquenten. „Heilen statt Strafen" ist ein irreführendes Schlagwort, das nur einem Laien zu imponieren vermag, der von den Möglichkeiten und Grenzen einer medizinischen wie einer psychotherapeutischen oder sozialpädagogischen Behandlung bei Asozialen und Krimi-

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nellen keine rechte Vorstellung hat. Eine solche Feststellung besagt natürlich nicht, daß man vor den erheblichen Mängeln und Schwächen unseres heutigen Vollzugs von Strafen und Maßregeln die Augen verschließen soll. Gerade diese bekannten und beklagten Insuffizienzen des Vollzugs lassen sich aber gewiß nicht dadurch beheben, daß man jeden Delinquenten als bedauernswerten Kranken aus der persönlichen und sozialen Verantwortung entläßt. Erziehung zur Verantwortung ist eine noch heute ziemlich allgemein anerkannte Aufgabe für Eltern und Lehrer, sie ist auch der eigentliche Inhalt aller sozialpädagogischen und psychotherapeutischen Bemühungen zur Resozialisierung und Rehabilitation Krimineller. Wenn in der Strafrechtspflege und in der Kriminalpolitik von „Behandlung" die Rede ist, so werden damit ganz unterschiedliche Maßnahmen gekennzeichnet. Der für eine ärztliche oder psychiatrische Behandlung im engeren Sinn in Frage kommende Personenkreis ist relativ klein. Über die Möglichkeiten der Psychotherapie bei Delinquenten gehen die Meinungen noch sehr auseinander. Auch wenn man geneigt ist, jede soziale Entgleisung und jede Straftat als ein neurotisches Symptom zu interpretieren, so besagt das noch fast nichts über die Indikation für eine Psychotherapie. Einer stets auch irgendwie psychotherapeutisch orientierten Sozialpädagogik wird man dagegen einen wachsenden Spielraum im Vollzug von Strafen und Maßregeln einräumen müssen. Der Begriff der Sozialpädagogik umfaßt alle mehr oder weniger aussichtsreichen Methoden der Behandlung von nicht-kranken Kriminellen (Glasser, Mollenhauer, Röhrs, Scherpner, Stutte). Schließlich ist auch die Strafe eine Behandlungsmethode, zumal Ubelzufügung und Vergeltung schon lange nicht mehr als ihr dominierender oder gar ausschließlicher Zweck angesehen werden. Die unbestreitbare Tatsache, daß bei bestimmten Delinquenten Besserung und Resozialisierung als kriminalpolitisch vordringliche Strafzwecke nicht oder nur sehr begrenzt erreichbar sind, besagt gegen das Institut der Strafe ebensowenig wie das Verfehlen des Strafzweckes bei einem strafempfänglichen Täter durch Mängel des Vollzugs. Strafe und ärztliche oder sozialpädagogische Behandlung als Rechtsfolgen einer Straftat sollte man nicht alternativ gegeneinander ausspielen. M. Bleuler hat in einem bemerkenswerten Vortrag (1962) auf die „heilende Bedeutung" der Sühne, die nicht mit Vergeltung identisch ist, im Vergleich zur ärztlichen Behandlung hingewiesen. Gegenüber dem wirklichkeitsfremden Postulat eines Ausschließungsverhältnisses muß man hier festhalten, daß wir heilen wollen, wo es möglich ist, und daß wir strafen müssen, wo es nötig ist. Fragen der Behandlung wurden in den vorstehenden Ausführungen wiederholt angeschnitten, und Stürup hat der -> „Heilbehandlung" einen

eigenen Beitrag in diesem Werk gewidmet. Systematisch wäre es richtig und wichtig, zunächst einmal Sinn und Zweck der Strafe, insbesondere der Freiheitsstrafe, unter ärztlichen, psychologischen und pädagogischen Gesichtspunkten zu analysieren. Damit würde aber der Rahmen dieses Beitrags gesprengt. Ich beschränke mich deshalb auf Anmerkungen zu einigen aktuellen Fragen der ärztlich-psychiatrischen Behandlung, zum Institut der bedingten Verurteilung und schließlich zu den Maßregeln der Besserung und Sicherung entsprechend den Vorschriften des sechsten Titels (§§ 61—72) des Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (2. StrRG = AT-73) vom 4. 7.1969 (BGBl. I, 717), die das Ergebnis der Beratungen des BT-Sonderausschusses für die Strafrechtsreform über die Vorschläge des Regierungsentwurfs für ein neues StGB (E-62) unter Einbeziehung des Alternativentwurfs von 14 Strafrechtslehrern für den Allgemeinen Teil des StGB (AE-66) und einer Reihe von Empfehlungen der Strafvollzugskommission (Vorsitzender: R. Sieverts) sind. Die Änderungs- und Übergangsbestimmungen des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) vom 25. 6. 1969 (BGBl. I, 645) wurden berücksichtigt. Die Begründung der neuen Gesetze findet sich in zwei schriftlichen Berichten des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform vom 23. 4. 1969 (BT-Drucks. Nr. V/4094 und V/4095). Schließlich ist auf die zweite und dritte Lesung der beiden Gesetze in der 230. und 232. Sitzung des Deutschen Bundestags am 7. 5. und am 9. 5. 1969 (BT-Prot. V/12703,12784,12827) zu verweisen. — Das System der Rechtsfolgen einer Straftat wird durch die Reformgesetze unter das gemeinsame Leitmotiv der Resozialisierung gestellt. 1. Ärztliche

Behandlungsmethoden

Krankheiten im medizinischen Sinn sind nach den Regeln der ärztlichen Kunst, die sich im Einzelfall nach dem jeweiligen Stand unseres diagnostischen und therapeutischen Wissens konkretisieren lassen, zu behandeln. Das gilt auch für den Delinquenten, ganz abgesehen davon, ob diese Krankheit eine mehr oder weniger ursächliche Rolle bei seinem rechtswidrigen Verhalten gespielt hat, ob sie die Schuldfähigkeit beeinträchtigt oder aufgehoben hat. Insoweit ist also die ärztliche Behandlung eines Straftäters völlig identisch mit der Behandlung eines anderen Patienten, der sozial oder kriminell niemals auffällig geworden ist. Bei Delinquenten mit einer Störung aus dem Bereich der „kleinen" Psychiatrie (vgl. o. S. 358 ff.) ist die therapeutische Situation viel komplizierter. Die Zahl der auch für den Laien eindrucksvollen und überzeugenden „Heilerfolge" steht in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu dem Angebot vermeintlich erfolgversprechendcr Behandlungsmethoden. Deswegen die

Psychiatrie unermüdliche Suche nach solchen Methoden, deswegen die immer wieder verfrühten Erfolgsmeldungen. Abnormitäten des Sexualverhaltens werden bevorzugt für „krankhaft" gehalten, besonders dann, wenn es sich um normalpsychologisch schwer einfühlbare Deviationen, wie ζ. B. Fetischismus und Transvestitismus, oder um die in der öffentlichen Meinung als besonders verwerflich empfundene Pädophilie handelt. Oben wurde bereits darauf hingewiesen (vgl. S. 366ff.), wie bescheiden unser faktisches Wissen über die Entstehungsbedingungen der weitaus meisten sexuellen Triebstörungen ist. In aller Regel handelt es sich eben nicht um organische Krankheiten oder Krankheitssymptome, und die „Psychopathia sexualis" kann man nun einmal nicht wie eine Lungenentzündung behandeln und heilen. Ein für den Kriminologen und Kriminalpolitiker wichtiges Argument gegen die These von der Krankheit ist auch die Tatsache, daß über die Hälfte aller Sittlichkeitsdelinquenten nur einmal bestraft wird. Mit Strafe kann man sicher keine Krankheit heilen, aber man kann offenbar doch und trotz schlechter Vollzugsbedingungen so manchen strafempfänglichen Täter abschrecken und „bessern". Zwischen Strafempfänglichkeit, oder auch Sühnefähigkeit, und Behandlungsfähigkeit bestehen zweifellos enge Beziehungen im Sinne eines gleichsinnig proportionalen Verhältnisses. Deswegen sollte man gerade bei Sexualdelinquenten nicht so voreilig die Strafempfänglichkeit negieren und Psychotherapie fordern. Bei einem wirklich strafunempfänglichen Täter sind in der Regel auch die Chancen einer psychotherapeutischen Behandlung nicht viel besser. Ein Homosexueller etwa, der durch Strafe überhaupt nicht beeindruckbar ist, wird nur selten Bereitschaft zur Psychotherapie mitbringen, ganz abgesehen von den anderen Voraussetzungen. Die Erkenntnis der sehr begrenzten oder völlig fehlenden Beeinflußbarkeit durch Strafen wie auch durch sozialpädagogische oder psychotherapeutische Maßnahmen bei einer kleinen Gruppe unter der großen Zahl von Sexualdelinquenten war und ist der Anlaß für die Bemühungen um eine Dämpfung oder Ausschaltung des Geschlechtstriebes mit somatischen Methoden. Der schwerwiegendste, aber auch der — kriminalpräventiv gesehen — erfolgreichste Eingriff ist die Kastration durch operative Entfernung der Keimdrüsen. Mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. 11. 1933 wurde § 42 k StGB eingefügt, der dem Richter die Anordnung der „Entmannung" als Maßregel der Sicherung und Besserung ermöglichte. Dieses Institut der Zwangskastration entfiel durch das Kontrollratsgesetz Nr. 11 v. 3 0 . 1 . 1 9 4 6 . Die Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit freiwilliger Kastrationen blieb offen. Die Regelung in § 14 des Erbgesundheitsgesetzes i. d. F . v. 26. 6 . 1 9 3 5 (RGBl. I, 773) enthielt nach Auffassung des Kon-

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trollrates kein typisch nationalsozialistisches Gedankengut und wurde deshalb nicht aufgehoben. Die neuen Bundesländer regelten aber die Frage unabhängig voneinander und kamen zu divergenten Lösungen. So ζ. B . haben Bayern und Hessen das Erbgesundheitsgesetz in toto außer Kraft gesetzt, während in den Ländern der ehemals britischen Besatzungszone der § 14 Abs. 2 des Erbgesundheitsgesetzes noch immer geltendes Recht ist. Ehrhardt-Villinger, Hanack, Langelüddeke u. a. haben seinerzeit den Standpunkt vertreten, daß unabhängig von der Frage der Weitergeltung einzelner Bestimmungen des Erbgesundheitsgesetzes die rechtliche Zulässigkeit der freiwilligen Kastration nach § 226 a S t G B begründet sei und nach den vorliegenden ärztlichen Erfahrungen befürwortet werden könne. Eine partielle Klärung der verworrenen Rechtslage brachte erst das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 13.12. 1963 (BGHSt. 19, 201), das sich ebenfalls auf § 226 a S t G B stützt. Nach den Gründen des Urteils genügt es, daß die „Gefahr künftiger Straftaten" besteht. Der Täter muß also nicht einschlägig vorbestraft sein. Das bedeutet eine rechtliche Indikationserweiterung gegenüber § 14 Abs. 2 des Erbgesundheitsgesetzes, die vom ärztlichen Standpunkt nur begrüßt werden kann. Andererseits verlangt der B G H den Nachweis einer Beeinträchtigung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, zumindest im Sinne des § 61 Abs. 2 StGB, eine aus ärztlicher Sicht problematische Forderung, auf die im Erbgesundheitsgesetz verzichtet wurde. Im Anschluß an dieses BGH-Urteil — wie schon vorher — hat sich die Gerichts- und Verwaltungspraxis nur vorsichtig und zurückhaltend mit dieser Materie befaßt, zumal eine gesetzliche Neuregelung immer wieder angekündigt wurde. Dabei spielte die Frage der Einwilligung bzw. der Freiwilligkeit bei Delinquenten, die in Untersuchungshaft oder im Vollzug einer Strafe oder Maßregel untergebracht sind, die zu erwartende große Rolle (OLG Hamburg in J Z 1963, 374; OLG Frankfurt/Main in N J W 1967, 687; OLG Stuttgart in N J W 1968, 1200). Die Frage einer gesetzlichen Regelung für die freiwillige Kastration wurde bereits bei der Vorbereitung des E-62 diskutiert. Hier ist insbesondere auf die Tagung der Sachverständigenkommission für juristisch-medizinische Fragen im Bundesmmisterium der Justiz am 13. und 14. 7. 1961, an der Vertreter der großen medizinisch-wissenschaf tHchen Fachgesellschaften, der Bundesärztekammer, juristische Sachverständige sowie die Vertreter der zuständigen Bundesministerien teilnahmen, zu verweisen. Die Kommission hat damals alle an sie gestellten Fragen hinsichtlich des Bedürfnisses, der Voraussetzungen und der Modalitäten einer gesetzlichen Regelung für die freiwillige Kastration einstimmig bejaht

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(Niedersehr. S. 85). Der Bundesrat betonte anläßlich der ersten Lesung des E-62 in einer Entschließung das Erfordernis einer gesetzlichen Regelung für freiwillige Kastrationen. Die folgenden Bemühungen um ein „Gesetz über freiwillige Unfruchtbarmachungen" gediehen aber nicht über das Stadium des Vorentwurfs hinaus. Geplant war eine gemeinsame Regelung für Sterilisation und Kastration, weil es sich um ärztliche Eingriffe mit in vieler Hinsicht übereinstimmenden rechtlichen Gesichtspunkten handelt. Durch die große publizistische Resonanz des unglücklichen Strafverfahrens gegen Dr. Dohm wurde das Bedürfnis einer Klärung der Rechtslage bei operativen Sterilisationen unterstrichen. Der nicht gerade überzeugende Abschluß dieses Strafverfahrens durch das BGH-Urteil vom 27. 10. 1964 (JZ 1965, 222) konstatierte eine „Lücke" im Gesetz, und seither besteht kein gesetzliches Hindernis gegen die Vornahme einer Sterilisation, ganz gleich aus welcher der umstrittenen, aber ärztlich begründbaren Indikationen. Die gesetzgeberische Initiative wurde durch dieses Urteil nur wenig stimuliert. In parlamentarischer Sicht blieb die Sterilisation eine Weltanschauungsfrage, noch dazu mit nationalsozialistischer Vorbelastung, und insoweit ein „heißes Eisen". Daran vermochte auch die ziemlich überstürzte Veränderung der Sachlage durch die Entwicklung von zuverlässigen Methoden der temporären Sterilisation, insbesondere durch die „Pille", nur wenig zu ändern. Zweifellos wurde dadurch das Problem einer gesetzlichen Regelung für sterilisierende Eingriffe, die im Ergebnis praktisch irreversibel sind, partiell entschärft und weniger akut. Die operative Sterilisation ist aber ein ärztlicher Eingriff, der kriminalpräventive Aspekte hat, die einer größeren Beachtung wert wären. Im Kreise der Rückfallkriminellen gibt es nicht wenige, denen man psychiatrischerseits aus wohlerwogenen Gründen zur Sterilisation raten würde. Dabei geht es nicht primär und entscheidend um die Verhütung „erbkranken Nachwuchses", auch wenn die Erblichkeit der Debilität oder der Psychopathie mehr oder weniger eindeutig und überzeugend sein sollte. Praktisch wichtiger ist hier der sozialpsychiatrische und zugleich kriminalpräventive Gesichtspunkt, die Erkenntnis der Tatsache, daß der oder die Betroffene unfähig zur Übernahme der Vater- oder Mutterrolle ist, daß die Gefährdung der Kinder in solchen Familien oft unverantwortlich hoch ist und daß diese milieugeschädigten Kinder besonders häufig sozial und kriminell entgleisen. Die nach wie vor offene Frage hinsichtlich der Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung für sterilisierende Eingriffe braucht aber hier nicht weiter diskutiert zu werden, zumal damit gleich mehrere der zur Zeit herrschenden Tabus juristischer und politischer Art berührt würden.

In Konsequenz dieser Entwicklung beschäftigte sich der BT-Sonderausschuß für die Strafrechtsreform seit etwa April 1968 mit einer gesetzlichen Neuregelung des Verfahrens bei freiwilliger Kastration. Die prinzipielle Übereinstimmung der Fraktionen des Bundestags hinsichtlich des Bedürfnisses einer solchen Regelung ermöglichte den Abschluß der Beratungen noch in der fünften Legislaturperiode. Das „Oesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden" vom 15. 8. 1969 (BGBl. I, 1143) vermeidet zutreffend den Begriff der Entmannung und limitiert den Begriff der Kastration in § 1 ausdrücklich auf einen Eingriff oder eine Behandlung, die „gegen die Auswirkungen eines abnormen Geschlechtstriebes" gerichtet ist. In § 2 unterscheidet das Gesetz als Voraussetzung zur Kastration — weniger deutlich als in früheren Entwürfen —• zwischen einer überwiegend oder nur medizinischen Indikation und einer überwiegend oder nur kriminologischen Indikation. Altersgrenze ist das vollendete 25. Lebensjahr. Das Bedürfnis einer strafrechtlichen Regelung der Kastration nur zu Heilzwecken wurde von der Bundesärztekammer (DÄ 1969, 311) mit guten Gründen bestritten. In vielen der hier in Rede stehenden Fälle kann man aber keinen scharfen Trennungsstrich zwischen medizinischer und kriminologischer Indikation ziehen. Die rein medizinisch indizierte Kastration, etwa bei einem Tumor, mit ihren ebenso unerwünschten wie unvermeidlichen Folgen ist hier nicht gemeint (§ 1). Dafür bedarf es keiner besonderen gesetzlichen Regelung. Es gelten die rechtlichen Gesichtspunkte, die bei ärztlichen Eingriffen zu Heilzwecken generell verbindlich sind. Wir müssen aber bei dem Kreis von fakultativ Betroffenen neben der organmedizinischen vor allem an die sozialmedizinische oder sozialpsychiatrische Indikation mit ihren fließenden Übergängen zur kriminologischen Indikation denken. Die Kastration darf nicht nur als Sicherungsmaßnahme gegen unzählige Male rückfällig gewordene Sittlichkeitsdelinquenten erscheinen. Wenn ein Mann unter der erheblichen Abartigkeit seines geschlechtlichen Verhaltens leidet, wenn er deswegen die Kastration wünscht und ein entsprechender psychiatrisch-sexualpathologischer Befund festgestellt wird, dann bedarf es nicht noch des Nachweises mehrerer einschlägiger Straftaten als obligatorischer Voraussetzung zur Kastration. Das wird auch in dem Gesetz vom 15. 8.1969 vermieden. Das Freimlligkeitsproblem löst das Gesetz in Übereinstimmung mit der inzwischen herrschenden Rechtsprechung. Gerade bei dem hier gemeinten Personenkreis wäre es irrealistisch, die Wirksamkeit der Einwilligung nur deshalb zu bestreiten, weil sich der Betroffene zur Zeit seiner Entscheidung rechtmäßig in Anstaltsverwahrung befindet (§ 3 Abs. 2). Man kann auch ruhig auf

Psychiatrie den Nachweis einer wenigstens erheblich verminderten Schuldfähigkeit bei dem Betroffenen verzichten, wie es in dem Gesetz geschieht, entgegen den Ausführungen in dem genannten BGH-Urteil. Im übrigen sind die Bestimmungen des § 3 betreffend die Einwilligung, vor allem bei verminderter oder aufgehobener Einsichtsfähigkeit, ausgesprochen perfektionistisch. Wenn eine „lebensbedrohende Krankheit" bei einem einsichtsunfähigen Patienten zur Diskussion steht (§ 3 Abs.4), dann dürfte kaum noch eine Kastration im Sinne dieses Gesetzes in Betracht kommen. Wichtig ist die Einschaltung von Gutachterstellen (§ 6), die in jedem Fall das Vorliegen der Voraussetzungen einer Kastration im Sinne dieses Gesetzes zu überprüfen haben. Eine derartige Entscheidung kann dem einzelnen Arzt in seinem eigenen Interesse nicht überlassen bleiben. Hamburg hat als erstes Bundesland ein „Gesetz über die Gutachterstelle für die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden" am 1.12.1969 (GVB1. I, 225) beschlossen, das am 18. 2.1970 in Kraft getreten ist. Die anderen Bundesländer dürften mit einer in den wesentlichen Punkten übereinstimmenden Regelung schnell folgen. Abgesehen von der operativen Kastration durch Entfernung der Keimdrüsen werden durch § 4 des Gesetzes „andere Behandlungsmethoden" erfaßt, mit denen eine temporäre oder partielle Kastration auf medikamentösem bzw. hormonalem Wege oder durch einen hirnchirurgischen Eingriff — einseitige stereotaktische Ausschaltung des „sexbehaviour-center" im Hypothalamus — angestrebt wird und bei denen eine irreversible Schädigung der Keimdrüsenfunktion nicht beabsichtigt, aber möglich ist. Eine solche gesetzliche Vorsorge kann man in der gegenwärtigen Situation nur befürworten. Für die Einwilligung bei Einsichtsunfähigkeit (§ 4 Abs. 2) gilt das zu § 3 Gesagte entsprechend. Die Gutachterstelle ist in diesen Fällen nur dann einzuschalten, wenn der Patient zu voller Einsicht und einsichtsgemäßer Willensbestimmung unfähig ist oder wenn er das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (§ 5 Abs. 2). Über die Auswirkungen der chirurgischen Kastration, insbesondere über die positiven Ergebnisse hinsichtlich der einschlägigen Rückfallhäufigkeit, können wir uns heute aufgrund umfangreicher und sorgfältiger Erfahrungsberichte aus dem In- und Ausland informieren. Hier sei nur auf die Denkschrift zur Vorbereitung des dänischen Gesetzes über die Sterilisation und Kastration vom 3. 6. 1967 (Denkschrift Nr. 353, Kopenhagen 1964) und auf die Nachuntersuchungen von Langelüddeke bei 1036 Männern, die in den Jahren von 1934 bis 1944 kastriert wurden, verwiesen. Es handelt sich aber um einen verstümmelnden Eingriff, und so war es naheliegend, daß man sich immer wieder um harmlosere

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Methoden mit möglichst dem gleichen Effekt bemüht hat. Auf medikamentösem Wege kann man mit verschiedenen Mitteln eine Triebdämpfung erreichen, die sich aber nicht auf die Sexualsphäre beschränken läßt und deshalb für die notwendige Langzeitbehandlung ungeeignet ist. Vor etwa 30 Jahren begann man, zunächst in den USA, mit Östrogenen Substanzen zu experimentieren, und konnte eine Herabsetzung der Libido bis zur Impotenz feststellen. Friedemann bestätigte (1952) die libidodämpfende Wirkung der Östrogene und vermutete, daß eine Hemmung der Gonadotropinbildung im Hypophysenvorderlappen zu diesem Effekt führt. Die Verwendung von östradiolderivaten hat aber den Nachteil, daß sie eine Feminisierung der Patienten mit Verkleinerung von Penis und Testes sowie mit einer stets irreversiblen Gynäkomastie verursacht. Diese unerwünschten Nebenwirkungen fehlen offenbar bei der Verwendung von Progesteronabkömmlingen. F. Neumann u. Mitarb. haben seit 1963 über Tierversuche berichtet, die für eine antigonadotrope wie auch antiandrogene Wirkung dieser Substanzen sprechen. Von den bisher getesteten Progesteronabkömmlingen scheint das von R. Wiechert synthetisierte Cyproteronacetat für die Zwecke einer sogenannten hormonalen Kastration zur Zeit am brauchbarsten zu sein. Die klinische Prüfung beschränkt sich einstweilen auf eine noch bescheidene Zahl von Fällen und hat zunächst mehr Probleme aufgeworfen als gelöst (Krause, Laschet). Bei oraler Verabfolgung von täglich 100 bis zu 200 mg Cyproteronacetat ist nach wenigen Tagen bis zu drei Wochen eine deutliche Triebdämpfung zu beobachten. Nach 2 bis 3 Monaten wurde im Spermiogramm eine Aspermie oder zumindest eine hochgradige Oligospermie gefunden. Nach Absetzen des Präparates war noch monatelang eine Beeinträchtigung der Spermiogenese nachzuweisen. Krause berichtet über eine erstmalig durchgeführte Hodenbiopsie bei einem Patienten, der über 12 Monate täglich 100 mg des Präparates eingenommen hatte. Der makroskopische wie der histologische Befund ergaben eine Hodenatrophie mit sistierender Spermiogenese. Zuverlässige Angaben über die Regenerationsfähigkeit bei derart schwerwiegenden Veränderungen lassen sich zur Zeit noch nicht machen. Andererseits wissen wir, daß gerade bei Sexualdelinquenten, die für eine solche Behandlung überhaupt in Frage kommen, in der Regel mit einer kurzfristigen Triebdämpfung oder -ausschaltung kaum etwas zu erreichen ist. Die Frage, ob überhaupt und nach wie langer Zeit durch gegengeschlechtliche Hormonbehandlung eine irreversible Hodenatrophie erzielt werden kann, ist noch offen. Die hormonal bewirkte Dauerkastration ist aber problematischer und wahrscheinlich gefährlicher als die chirurgische Kastration.

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Demnach besteht zur Zeit kein Anlaß für die maßlos übertriebenen Erwartungen, die an die Möglichkeit einer temporären Kastration auf hormonalem Weg geknüpft und natürlich schon in aller Öffentlichkeit diskutiert werden. Die operative Kastration wie auch die sog. hormonale Kastration, wenn sie einmal zu einer verantwortungsbewußt anwendbaren Methode ausgereift ist, werden in ihrem Indikationsbereich stets eng begrenzt sein, und man wird auf lange Sicht nach einem statistisch signifikanten Effekt ihrer Anwendung in dem Gesamtbild der Sexualkriminalität vergeblich suchen. Das gilt nicht weniger für die hirnchirurgische Therapie von Abnormitäten oder Perversionen des Sexualverhaltens durch einseitigen stereotaktischen Eingriff im Tuber cinereum. Orthner, Roeder et al. haben über erste, sehr interessante Ergebnisse berichtet. Es ist aber sachlich in keiner Weise begründet, wenn jetzt bereits im Fernsehen derartige Eingriffe als „Methode der Wahl" zur Behandlung und „Heilung" von sog. Triebtätern deklariert werden. Zu den ärztlichen Behandlungsmöglichkeiten im Bereich der Kriminologie gehört eine wachsende Zahl psychotherapeutischer Methoden. Es handelt sich um eine Vielzahl von Möglichkeiten mit fließenden Übergängen zur somatischen Medizin auf der einen Seite, zur Psychologie und Pädagogik auf der anderen Seite. Die klassische Psychoanalyse, wie sie von Sigmund Freud entwickelt wurde, ist nur ein Weg, und zwar derjenige mit der relativ geringsten Indikationsbreite bei der Behandlung von Kriminellen. Das ist keine Kritik an Freud und seiner historischen Leistung, wohl aber eine Ablehnung gewisser Freud-Epigonen, die immer wieder zu der Illusion verführen, man könnte mit einer psychoanalytischen Ideologie Delinquenten behandeln und die Kriminalität ausrotten. Die psychotherapeutische Ausgangsposition in der ärztlichen Sprechstunde läßt sich nur teilweise oder gar nicht mit der Situation des Psychotherapeuten gegenüber einem Delinquenten in einer Vollzugsanstalt vergleichen. Bei der Behandlung von süchtigen und sexuellen Fehlhaltungen haben sich die Grenzen der Psychoanalyse am deutlichsten gezeigt. Ein so erfahrener Psychotherapeut wie J . H. Schultz hat einmal im Hinblick auf sexuelle Triebstörungen ausgeführt, daß man allein für Diagnose, Prognose und damit Behandlungsindikation mit einem Arbeitsaufwand von „mindestens" 50 Stunden rechnen müsse, „von therapeutischen Zielsetzungen ganz zu schweigen." Bei einem Sexualdelinquenten oder einem anderen kriminellen Psychopathen kann man in aller Regel nicht damit rechnen, daß die psychotherapeutische Situation einfacher wäre. Im übrigen weiß jeder erfahrene Psychotherapeut, daß die Erfolgsaussichten einer solchen großen Behandlung von einer ganzen Reihe individueller

und situativer Voraussetzungen abhängig sind. Genannt seien nur das Alter, die Intelligenz, die emotionale Ansprechbarkeit und nicht zuletzt die persönliche Initiative und die Bereitschaft zu einer solchen Behandlung. Damit sind eigentlich hinreichend die engen Grenzen der sog. großen Psychotherapie im Rahmen des Vollzugs von Strafen und Maßregeln gekennzeichnet. Trotzdem wird immer wieder in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, als ob es nur an der Rückständigkeit und dem Widerstand der deutschen Psychiatrie gegenüber den Erkenntnissen der Psychoanalyse läge, daß wir nicht mit den wachsenden Schwierigkeiten der Dissozialität, der Asozialität und der Kriminalität fertig werden. Ein Vergleich der Kriminalstatistik bei uns und in Ländern, die in den letzten Jahrzehnten der Entwicklung der Psychoanalyse freundlicher gegenüberstanden oder völlig geöffnet waren, ist ein nicht zu übersehendes Argument gegen diese Behauptung. Zu dem gleichen Ergebnis führt ein Blick auf die Statistiken der Psychiatrischen Krankenanstalten in den verschiedenen Ländern. Mit Behauptungen und Vorwürfen kommen wir hier nicht weiter. In der Kriminalpolitik entscheidend ist immer nur der Erfolg. Deswegen sollten wir in der Kriminologie ebenso offen wie kritisch gegenüber allen nur denkbaren Methoden und Wegen der Behandlung und der Prävention sein (Friedemann, Glasser, Levitt-Rubenstein, Perlman-Allington, Stürup). Aus der allgemeinen und psychotherapeutischen Behandlung insbesondere von Süchtigen haben wir aber etwas gelernt, was mir für die verschiedenartigen Behandlungsmöglichkeiten bei Kriminellen generell wichtig zu sein scheint. Nach dem letzten Weltkrieg wurde uns unter Hinweis auf ausländische Vorbilder nachdrücklich und wiederholt gesagt, ein Süchtiger sei als Kranker, nicht als Krimineller oder Lasterhafter zu behandeln. Das ist grundsätzlich richtig, aber es ist zugleich eine verführerische Teilwahrheit, wie oben (S. 363ff.) näher beschrieben. Bei den voll oder vermindert schuldfähigen Straftätern entfällt der Faktor des Krankhaften, oder er spielt eine meist geringere Rolle als bei den Süchtigen. Im übrigen bin ich der Meinung, daß die Erfahrungen und Regeln einer psychotherapeutisch orientierten Sozialpädagogik für jede Behandlung von Delinquenten, abgesehen vom engeren medizinischen Bereich, verbindlich sind. 2. Strafaussetzung zur Bewährung Das Institut der bedingten Verurteilung oder der Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 56—58 i. d. F. des 2. StrRG v. 4. 7.1969) entspricht seiner Rechtsnatur nach etwa dem romanischen sursis, nicht der angelsächsischen probation. Es ist kein Novum in unserem Strafrecht, wurde aber ver-

Psychiatrie gleichsweise recht spät — durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. 8. 1953 — in das Strafgesetzbuch (§§ 23—26 StGB a. F.) übernommen. Vorher war dieser ganze Komplex im Rahmen des Gnadenrechts geregelt, was schon deswegen nicht befriedigen konnte, weil es sich hier — materiell-rechtlich gesehen — sicher nicht um Gnade, sondern um ein kriminalpolitisches Reaktionsmittel eigener Art handelt. Mit den Bestimmungen über die Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe in den §§ 27—30 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) i. d. F. v. 25.6.1969 (BGBl. I, 645) wurde gleichzeitig das anglo-amerikanische Probationssystem in das deutsche Jugendstrafrecht eingeführt. Aus verschiedenen rechtlichen und kriminalpolitischen Erwägungen hatte man im E-62 keine Angleichung der einschlägigen Bestimmungen im Jugendstraf recht und im Erwachsenenstrafrecht empfohlen. In diesem Zusammenhang interessieren uns aber weniger die rechtlichen Probleme der bedingten Verurteilung als vielmehr ihre Bedeutung für die „Behandlung" von Delinquenten. Die Strafe ist zwar auch, aber keineswegs nur ein Instrument zur Verteidigung der Rechtsordnung. Sie wird ausgesetzt, wenn im Hinblick auf Täterpersönlichkeit und Tat begründeter Anlaß gegeben ist, den Gesichtspunkt der Rechtsbewährung zugunsten anderer Strafzwecke, die auch ohne Vollzug der Strafe erreichbar erscheinen, zurücktreten zu lassen. In ärztlichpsychologischer Sicht ist deswegen die bedingte Verurteilung ein sehr wichtiges Institut im Sinne einer wirklichkeitsnahen Kriminalpolitik. Nach bisherigem Recht (§ 23 StGB a. F.) ist die -*• Strafaussetzung zur Bewährung nur bei Haft-, Einschließungs- oder Gefängnisstrafe bis zu 9 Monaten zulässig, insoweit also eindeutig auf Fälle der leichteren Kriminalität beschränkt. In § 71 E-62 blieb man zunächst bei dieser Zulässigkeitsgrenze, die aber von jeher umstritten war und vielfach für zu starr und willkürlich gehalten wird. Durch die am 1. 4.1970 in Kraft getretene Neufassung der §§ 23 bis 26 StGB (Art. 1 Nr. 9 des 1. StrRG vom 25. 6. 1969) wird die Zulässigkeitsgrenze generell auf ein Jahr und in Ausnahmefällen auf 2 Jahre Freiheitsstrafe heraufgesetzt. Andererseits sieht der neu eingefügte § 23 Abs. 3 vor, daß die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von mindestens 6 Monaten nicht ausgesetzt wird, wenn die Verteidigung der Rechtsordnung sie gebietet. Man wollte also offensichtlich an der grundsätzlichen Konzeption dieses Instituts festhalten. Danach kommen für eine bedingte Verurteilung im wesentlichen zwei Tätergruppen in Frage: der Gelegenheitstäter, der aus einer vielleicht einmaligen Konfliktsituation heraus entgleist ist, und der potentielle Hangtäter kleineren Formats, der zunächst nur als besonders gefährdet, aber durchaus noch beeindruckbar und korrigierbar erscheint. Das kriminalpolitische Schwergewicht

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der Strafaussetzung liegt natürlich bei der zweiten Gruppe. Es ist psychologisch falsch, gerade den sogenannten Gelegenheitstäter unnötig mit dem Makel einer Freiheitsstrafe zu belasten, nur um einem abstrakten Vergeltungsprinzip Genüge zu tun. Das Strafverfahren und die Verurteilung sind für ihn bereits ausreichende Vergeltung, Sühne und Abschreckung. Durch den Vollzug der Strafe wird in solchen Fällen die Besserung und Rehabilitation nicht selten mehr gefährdet als gefördert. Bei den Gelegenheitstätern erübrigen sich in der Regel eingreifendere Maßnahmen für die Dauer der Bewährungszeit von mindestens zwei und höchstens fünf Jahren (§ 24 i. d. F. des 1. StrRG). Insbesondere für Delinquenten dieser Gruppe ist auch die Erteilung bestimmter Auflagen (§ 24 a i. d. F. des 1. StrRG) gedacht, die der Genugtuung für das begangene Unrecht und der Wiedergutmachung des angerichteten Schadens dienen sollen. In Ergänzung des bisherigen Rechtes sind außerdem Weisungen (§ 24b i. d. F. des 1. StrRG) vor allem für die gefährdeten Delinquenten der zweiten Gruppe vorgesehen. Das Gericht kann den Verurteilten anweisen, bestimmte Anordnungen bezüglich seines Aufenthaltes, seines Umganges, seiner Ausbildung und Arbeit etc. zu befolgen. Die Weisung, sich einer Heilbehandlung oder Entziehungskur zu unterziehen oder in einer geeigneten Anstalt bzw. einem Heim Aufenthalt zu nehmen (§ 24 b Abs. 3), darf jetzt nur noch mit Einwilligung des Verurteilten erteilt werden. Dieses gegenüber dem bisherigen Recht (§ 24 Abs. 1 Nr. 3 StGB a. F.) zusätzliche Erfordernis der Einwilligung wird zunächst einmal verfassungsrechtlich begründet. Vom ärztlichen Standpunkt gesehen ist die Einwilligung eine Selbstverständlichkeit bei jeder Art von psychotherapeutischer Behandlung, weil eine Psychotherapie gegen den Willen des Patienten praktisch nicht durchführbar ist. Erfahrungsgemäß nutzt uns aber die rechtlich einwandfrei erklärte Einwilligung gerade in diesen Fällen nicht viel. Der Homosexuelle ζ. B. wird nur zu gern seine Einwilligung zu einer psychotherapeutischen Behandlung geben, auch wenn er nichts davon hält oder gar nicht daran denkt, seine homosexuelle Betätigung etwa mit Jugendlichen oder Heranwachsenden aufzugeben. Psychotherapie erscheint in jedem Fall als das kleinere Übel gegenüber dem Gefängnis. Nicht weniger fragwürdig ist die Einwilligung eines Süchtigen zur Durchführung einer Entziehungskur. Abgesehen von dem Gedanken des kleineren Übels lehrt hier die Erfahrung, daß gerade der Süchtige nur zu bereitwillig jeder konsequenten Behandlung ausweicht. Die Formulierung in § 24b Abs. 1 i. d. F. des 1. StrRG, nach der die Weisungen keine unzumutbaren Anforderungen an die Lebensführung des Ver-

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urteilten stellen dürfen, bedeutet einen ausgezeichneten rechtlichen Vorwand für den Süchtigen, um nach Abklingen der akuten Sucht- und Entziehungserscheinungen der notwendigen und stets längere Zeit in Anspruch nehmenden Entwöhnung mit entsprechender psychotherapeutischer und sozialpädagogischer Behandlung zu entgehen. Es kann deshalb nicht erwartet werden, daß diese Vorschrift ein brauchbares Mittel bei der Suchtbekämpfung wird. Die Vorschrift über die Bewährungshilfe (§ 24 c i. d. F. des 1. StrRG) bringt nichts grundsätzlich Neues gegenüber dem bisherigen Recht (§ 24 Abs. 1 Nr. 6 und § 24a StGB a.F.). Lediglich die Umschreibung der Aufgaben des Bewährungshelfers wurde nach dem Vorbild des Jugendgerichtsgesetzes (§ 24 Abs. 2) verbessert. Außerdem wurde die Bindung der Tätigkeit des Bewährungshelfers an die Weisungen des Gerichts entsprechend den praktischen Erfahrungen und Bedürfnissen aufgelockert. Im Einführungsgesetz und im Strafvollzugsgesetz ist eine weitere Klärung und Präzisierung von Art und Umfang der Tätigkeit des Bewährungshelfers vorgesehen. Die Unterstellung unter einen Bewährungshelfer ist die eingreifendste Maßnahme im Rahmen der bedingten Verurteilung und als solche für die besonders gefährdeten Delinquenten der zweiten Tätergruppe vorgesehen, „in der Regel" für Täter, bei denen das Gericht eine Freiheitsstrafe von mehr als neun Monaten aussetzt und die noch nicht 27 Jahre alt sind (§ 24 c Abs. 2 i. d. F. des 1. StrRG). Das ganze Konzept der bedingten Verurteilung mit seiner Ergänzung „nach unten" durch das neue Rechtsinstitut der Verwarnung mit Strafvorbehalt (§§ 59—59 c i. d. F. des 2. StrRG) und der Möglichkeit des Absehens von Strafe (§ 60 i. d. F. des 2. StrRG), wie es jetzt (1969) in den beiden Gesetzen zur Reform des Strafrechts vorliegt, bedeutet aus der Sicht des Psychiaters, des Psychologen und des Pädagogen einen beachtlichen Fortschritt. Bei dem Gedanken an die Realisierung dieses Programms wird aber jeder, der über einige praktische Erfahrungen verfügt, mit Skepsis reagieren. Der kriminalpolitische Effekt des Projektes dürfte ganz entscheidend dadurch bestimmt werden, was die Bewährungshilfe zu leisten vermag. Das ist aber keineswegs nur und in erster Linie eine Frage der Institution und des Geldes. Woher soll die zusätzlich erforderliche Zahl qualifizierter Bewährungshelfer kommen? Diese Frage wird besonders bedrückend, wenn man an die personellen Anforderungen denkt, die sich aus der vordringlichen Reform des Vollzuges von Strafen und Maßregeln ergeben. 3. Maßregeln

der Besserung und

Sicherung

Die Erfahrung hat gelehrt, daß die Strafe allein den vielfältigen Aufgaben der Verbrechensverhü-

tung nicht gerecht zu werden vermag. Wo sie versagt, bedarf es der Ergänzung durch Maßnahmen anderer Art. Mit dem GewohnheitsverbrecherGesetz von 1933 wurde in unser Strafrecht ein Katalog besonderer Maßregeln der Sicherung und Besserung eingefügt, der die Lücken im System der reinen Strafe schließen sollte. Neben die Schuld des Täters als Maßstab der Strafe tritt seine Gefährlichkeit als Kriterium für die anzuwendende Maßregel. Damit wurde der Grundsatz der sogenannten Zweispurigkeit der Rechtsfolgen einer Straftat in unser Strafrecht übernommen. Die am 31. 3 . 1 9 7 0 bzw. am 30. 9.1973 (Art. 105 des 1. StrRG, Art. 7 des 2. StrRG) außer Kraft getretene und tretende Fassung der §§ 42 a—42 η StGB enthält vier Maßregeln mit und zwei ohne Freiheitsentzug. Neben der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, einer Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt, einem Arbeitshaus oder der Sicherungsverwahrung stehen das Berufsausübungsverbot und die Entziehung der Fahrerlaubnis. Die Statistik der letzten 20 Jahre zeigt eine betonte Zurückhaltung unserer Gerichte hinsichtlich der Anwendung freiheitsentziehender Maßregeln. So etwa wurde von der Unterbringung in einem Arbeitshaus in den letzten Jahren immer weniger Gebrauch gemacht, abgesehen von der neuerdings in Frage gestellten Verfassungsmäßigkeit dieser Maßregel. Nicht nur beim Arbeitshaus, auch bei den anderen freiheitsentziehenden Maßregeln sind die erheblichen Mängel des geltenden Systems kaum zu übersehen. Die unbestreitbare Insuffizienz liegt nur teilweise in einer verfehlten Konzeption, mehr in der Praxis der Anwendung durch die Gerichte, vor allem aber im Vollzug, in dem es an den einfachsten Voraussetzungen zur Erfüllung dieser speziellen Aufgaben fehlt. So ζ. B. unterscheidet sich der Vollzug der Sicherungsverwahrung nur wenig oder gar nicht von dem Vollzug der Freiheitsstrafe. Der als schuldfähig beurteilte psychopathische Gewohnheitsverbrecher wird wieder und wieder zu einer immer längeren Freiheitsstrafe verurteilt, bis sich endlich ein Gericht zur Anordnung der Sicherungsverwahrung entschließt. Abgesehen von den ausgesprochenen Gewaltverbrechern wird dem Gericht in vielen Fällen die Entscheidung dadurch so schwer gemacht, daß auch bei einem vielfach vorbestraften Delinquenten Persönlichkeitsbild und kriminelle Prognose weitgehend unklar geblieben sind, bis auf das Faktum der kontinuierlichen Rückfälligkeit. Selbst wenn der Täter schon ein oder mehrere Male in einer Jugendstrafanstalt war, so verschwinden Untersuchungsbefunde sowie die durchweg erstellten Erziehungs- und Entlassungsprognosen fast regelmäßig in den Vollzugsakten. Der spätere Richter bekommt sie nur selten zu Gesicht. Weiterhin sieht die geltende Dienst- und Vollzugsordnung (betr. Erwachsene) schon seit geraumer Zeit die Persönlichkeitserfor-

Psychiatrie schung (Nr. 68), einen kriminologischen Dienst (Nr. 59) und bestimmte Regeln für die „Behandlung" der Gefangenen (Nr. 61) vor. In einzelnen Strafanstalten bemühen sich auch Ärzte, Psychologen, Pädagogen und Fürsorger unter mehr oder weniger mangelhaften Voraussetzungen um „Diagnostik" und „Behandlung". Bisher war das aber noch weniger als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein, und die prognostisch ungünstigeren Rezidivisten müssen in einer solchen Mangelsituation zwangsläufig zurückstehen. Zwischen fortschrittlichen Proklamationen, auch wenn sie gesetzlich fixiert sind, und ihrer Realisierung liegt offensichtlich ein recht weiter Weg. — Zum Maßregelrecht und seiner Reform vgl. Ancel, Baan, Bruns, Ehrhardt, Frey, Grünwald, Hellmer, Herrmann, Hoeck-Gradenwitz, Krebs, Lang-Hinrichsen u. Maurach, Müller-Preiser, Noll, Stumpfl. Bei der Vorbereitung des 2. StrRG vom 4. 7. 1969 hat man sich ganz besonders um eine Erweiterung und Verbesserung des Maßregelrechts (§§ 61—72) bemüht. Die angestrebte Neuorientierung zeigt sich bereits in der Überschrift: Maßregeln der Besserung und Sicherung. Der Besserungsgedanke wurde bewußt in den Vordergrund gerückt. Die ursprüngliche Konzeption des E-62, die der Verfasser an anderer Stelle (1964) kritisch analysiert hat, wurde vom Sonderausschuß des Bundestages erheblich verändert. Die Entziehung der Fahrerlaubnis und das Berufsverbot wurden aus dem bisherigen Recht übernommen. Als Maßregeln mit Freiheitsentzug sind jetzt vorgesehen: die Unterbringung in einer psychiatrischen Krankenanstalt, in einer Entziehungsanstalt, in einer sozialtherapeutischen Anstalt und in der Sicherungsverwahrung. Die in dem E-62 darüber hinaus vorgesehene Unterbringung in einem Arbeitshaus, die vorbeugende oder Erziehungs-Verwahrung und das Verbot der Tierhaltung entfielen, zumindest als selbständige Maßregel. Entsprechend den Empfehlungen des AE-66 und der Strafvollzugskommission hat der Sonderausschuß das Arbeitshaus aus dem Katalog der Maßregeln gestrichen. Bei dieser Streichung war den Mitgliedern des Sonderausschusses nicht ganz wohl, es hätte ihnen aber noch viel unwohler sein müssen. Zweifellos hat sich die Maßregel der Unterbringung in einem Arbeitshaus nach geltendem Recht nicht bewährt. Man vermißt aber in den zahlreichen Diskussionen den Hinweis, daß dieses Institut niemals auch nur annähernd in einer Form ausgestaltet war und praktiziert wurde, von der man einen kriminalpolitisch signifikanten Effekt hätte erwarten können. Immerhin geht es hier um einen Personenkreis, der für eine präventiv orientierte Kriminalpolitik von besonderem Interesse ist. Man sollte in dieser Frage auch nicht mit der veralteten Terminologie argumentieren. Natürlich interessieren uns heute nicht mehr die Bettler und die Landstreicher. Die Ge-

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fährdetenhilfe, die hierzulande als ein ständiger Sektor der öffentlichen und privaten Fürsorge über Jahrzehnte sich erstreckende Erfahrungen verfügt, vermag sehr wohl zu sagen, wer hier gemeint ist; sie weiß auch, daß dieser Personenkreis größer und nicht etwa kleiner wird (Petersen). Die vorbeugende Verhütung von Verbrechen ist wohl unbestritten eine gleichermaßen wichtige Aufgabe für eine zeitgemäße Krimmalpolitik wie die aktuelle Verbrechensbekämpfung. Die Gefährdeten bilden aber ein großes Reservoir für künftige Verbrecher (vgl. S. 362). Deswegen hat gerade hier die Verbrechensverhütung anzusetzen. Das Problem läßt sich vor allem nicht dadurch aus der Welt schaffen, daß man es zur Kompetenzfrage „umfunktioniert". Mag sein, daß das materielle Strafrecht nicht der rechte Ort für die hier notwendige Regelung ist. Das insuffiziente Institut des Arbeitshauses war aber eine für diesen Personenkreis gedachte Maßregel. Sie wurde jetzt mit mehr oder weniger guten Gründen abgeschafft, ersatzlos, obwohl erst kürzlich das Bundesverfassungsgericht die Tür für eine Lösung dieses Problems über die Sozialhilfe mit einem vernehmlichen Knall zugeschlagen hat. Wenn man schon eine neue Kriminalpolitik machen will, dann wird sich der Gesetzgeber um eine praktikable Lösung für diese wichtige Frage bemühen müssen. Mit Urteil vom 18. 7. 67 hat das Bundesverfassungsgericht u. a. auch § 73 Abs. 2 und 3 BS HG wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG für nichtig erklärt (BVerfGE 22, 180 (218)). Diese nunmehr annullierte Vorschrift war der erste und ganz schüchterne Versuch in Richtung eines Bewahrungsgesetzes, wie es von Fürsorge-Fachleuten schon seit Jahrzehnten gefordert wird. Aus der Sicht der Praxis war es sogar ein ziemlich verunglückter Versuch, weil er zu deutlich die Möglichkeiten, einer Zwangsunterbringung zu entgehen, herausstellte und außerdem jede Regelung für die Durchführung einer solchen Unterbringung fehlte. Um so bedenklicher ist der entscheidende Satz, mit dem das Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung begründet: „Der Staat hat aber nicht die Aufgabe, seine Bürger zu ,bessern', und deshalb auch nicht das Recht, ihnen die Freiheit zu entziehen, nur um sie zu ,bessern1, ohne daß sie sich selbst oder andere gefährden, wenn sie in Freiheit blieben." Hier handelt es sich zunächst einmal um ein gefährliches Mißverständnis des zugrundeliegenden Sachverhaltes, des Begriffs der Besserung und damit des Zweckes der Unterbringung. Der Alkohol- oder Rauschgiftsüchtige etwa — um ein klassisches und besonders häufiges Beispiel aus der Gruppe der Gefährdeten zu nennen — wird nicht untergebracht, „nur" um die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit in Form von exzessivem Alkoholmißbrauch zu beschränken und ihn insoweit zu bessern. Der Alkoholiker gefährdet

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immer seine Gesundheit und seine soziale Existenz, er ist ausgesprochen selbstgefährlich. Ganz unbestreitbar gefährdet er andere, wenn er für eine Familie verantwortlich ist. Darüber hinaus verletzt der Alkoholiker immer die Rechte anderer gem. Art. 2 Abs. 1 GG. Wir leben in einem Sozialstaat, der sich inzwischen zu einem bedrohlich überdimensionierten Wohlfahrtsstaat entwickelt hat. Dieser Staat kann dem Bürger nicht mehr erlauben, „auf seine Weise" zugrunde zu gehen. Er hilft ihm, auch wenn er die Hilfe nicht will. Die Hilfe bezahlen aber „die anderen", und gerade bei den Alkoholikern ist das ziemlich viel Geld. Deswegen ist es in einem Sozialstaat durchaus keine „Privatangelegenheit", ob und wie sich ein Staatsbürger gesundheitlich und sozial ruiniert. Das Bundesverfassungsgericht hat es sich in diesem Urteil mit seiner Beschränkung auf die „reine" Idee des liberalen Rechtsstaates allzu bequem gemacht. Mit verfassungsrechtlichen Proklamationen gegen jede Form von Machtstaatlichkeit ist es aber heute nicht mehr getan. Wir brauchen eine Klärung der verfassungsgemäßen Grenzen des Persönlichkeitsrechtes in einem Sozialstaat, wir brauchen eine Klärung der Relation zwischen Rechtsstaatsprinzip und Sozialstaatsprinzip. Bei den Arbeitsscheuen, die in psychiatrischer und kriminologischer Sicht zu demselben Personenkreis wie die Gefährdeten gehören, gelten ganz die gleichen Überlegungen. Durch §§ 25, 26 BSHG ist klargestellt, wenn auch in verklausulierter Form, daß man in der Bundesrepublik nicht zu arbeiten braucht und trotzdem vom Staat in einer mehr oder weniger bescheidenen Form ernährt wird. Selbstverständlich kümmert sich der Staat auch um die Unterhaltsberechtigten. In dem Gefühl, daß hier vielleicht doch das Wohlfahrtsstaatsprinzip zum Nachteil des arbeitenden und Steuern zahlenden Staatsbürgers etwas überstrapaziert wird, hat man die Möglichkeit der Zwangsunterbringung des Arbeitsscheuen in einer Arbeitseinrichtung vorgesehen. Sie ist aber nicht zulässig, wenn sie für den Betroffenen „eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde", läßt sich also infolge dieser „rechtsstaatlichen Absicherung" leicht umgehen, da eine Zwangsunterbringung im Zweifelsfall stets „außergewöhnlich h a r t " ist. Trotzdem erwartet man in Bälde die Nichtigkeitserklärung auch von § 26 BSHG durch das Bundesverfassungsgericht. Der Arbeitsscheue ist wie der Alkoholiker selbstgefährlich, und er verletzt in grober Weise die Rechte anderer, deswegen sollte er nicht „nur" zur Besserung, sondern nicht minder zur Abwendung der genannten Gefahren untergebracht werden können. Selbst wenn man diese Argumentation akzeptiert, bleibt immer noch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, ein Gummibegriff, der etwa für einen Sozialarbeiter in dem hier diskutierten Bereich eine ganz andere und empirisch fundierte Bedeutung

hat als für den Verfassungsrechtler. Das Verfassungsgericht entscheidet natürlich „richtig". Ob aber der Sachverhalt, von dem die Entscheidung ausgeht, den realen Gegebenheiten entspricht, ist eine ganz andere Frage. Hier geht es um das rechte und zugleich rechtliche Verständnis der Begriffe von Besserung und Resozialisierung, die für die mit der Strafrechtsreform angestrebte Neuorientierung der Kriminalpolitik entscheidend sind. Es geht außerdem um einen großen und wachsenden Kreis potentieller Delinquenter. Grund genug, daß sich der Gesetzgeber gerade bei der Bearbeitung der Strafrechtsreform ernstlich um eine Klärung und Lösung dieser Fragen bemüht, zumal die bisherigen Diskussionen in der Strafvollzugskommission und im BT-Sonderausschuß zu keinem überzeugenden und verwertbaren Ergebnis geführt haben. Die Unterbringung in einer psychiatrischen Krankenanstalt (§42b StGB, §63 i. d. F. des 2. StrRG) ist zunächst einmal für schuldunfähige Delinquenten (§ 51 Abs. 1 StGB, § 20 i. d. F. des 2. StrRG) gedacht, die sich aus dem für freiheitsentziehende Maßregeln in Betracht kommenden Personenkreis eindeutig herausheben. In der bisherigen Rechtsprechung und Vollzugspraxis dieses Bereichs haben sich eine Reihe von Mängeln und Schwierigkeiten herausgestellt, die sich um die Begriffe Gefährlichkeit, Prognose, Kausalität und Subsidiarität gruppieren lassen und die durch das 2. StrRG korrigiert werden sollen. Das Gefährlichkeitsproblem versucht die neu formulierte Vorschrift zusammen mit dem Kausalitätsproblem durch eine Präzisierung der Voraussetzungen der Anstaltsunterbringung in § 63 Abs. 1 zu lösen. Bei Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderter Schuldfähigkeit ordnet das Gericht die Unterbringung an, „wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist." Damit werden immerhin einige der Zweifelsfragen in der bisherigen Rechtsprechung geklärt. Das Gericht muß den abnormen Geisteszustand als Ursache der Gefährlichkeit feststellen, und die Gefährlichkeit ist nicht mehr beschränkt auf „Gemeingefahr". Letzteres war in der Fassung des E-62 deutlich gesagt, wird jetzt nur unterstellt — und deswegen zu Auslegungsschwierigkeiten führen. Die Feststellung der „Erheblichkeit" zukünftiger Delikte, die zu erwarten sind, überläßt der Entwurf der Rechtsprechung im Einzelfall, was vom kriminologischen Standpunkt zu begrüßen ist. Das Prognoseproblem wird für den Richter dadurch erleichtert, daß er künftig in allen Fällen die Gefährlichkeit des Täters nur noch zum Zeitpunkt der Aburteilung festzustellen hat. Nach geltendem Recht ist bei verminderter Schuldfähigkeit der Zeitpunkt der Entlassung nach einer

Psychiatrie evtl. vor der Unterbringung vollzogenen Strafverbüßung oder der einer vorzeitigen Entlassung (BGH in NJW 1960, 393) maßgebend. Die Überprüfung der Gefährlichkeit in solchen Fällen soll in Zukunft Aufgabe eines besonderen Vollstreckungsgerichtes (§67e Abs. 1) sein. Die Bildung eigener Vollstreckungsgerichle ist eine der beachtlichsten Neuerungen, da die erkennenden Gerichte den ständig wachsenden Aufgaben des Vollzugs immer weniger gerecht zu werden vermögen. Das zeigt sich etwa in der Rechtsprechung zu der Frage des „gelockerten Vollzugs", die seit einigen Jahren besonders akut geworden ist. Es handelt sich um einen anderen, aber praktisch nicht weniger wichtigen Aspekt des Prognoseproblems. Die Ergebnisse der manchmal überschätzten und mit Vorsicht zu beurteilenden Prognoseforschung, der Kriminalprognostik (Geerds, Leferenz, Mey, Munkwitz, H. J . Schneider), vermögen uns hier kaum weiterzuhelfen. Eine Unterbringung gemäß § 42b StGB ist nach geltendem Recht in erster Linie eine Sicherungsmaßnahme (BGHSt. 5, 312). Die Besserung ist lediglich sekundärer Zweck der Unterbringung. Diese Konstruktion ist bereits im Ansatz verfehlt, und die dazu ergangene Rechtsprechung hat die Situation im Vollzug der Unterbringung fortlaufend verschlechtert (Ehrhardt-Villinger). Ein geschickter Delinquent — oder sein Anwalt — kann mit der Behauptung, daß der Zweck der Unterbringung erreicht sei, Behörden und Gerichte in Permanenz beschäftigen. Es hat sich allmählich herumgesprochen, daß auch nur der Versuch einer Objektivierung dieser Behauptung nicht zulässig ist. Unsere psychiatrischen Krankenhäuser können ihre Aufgabe als Unterbringungsanstalten nur dann erfüllen, wenn der untergebrachte Delinquent wegen einer psychischen Erkrankung oder Störung der medizinisch-psychiatrischen Behandlung oder Pflege bedarf. Auch und gerade bei diesem Personenkreis muß die Möglichkeit einer Behandlungskontrolle gegeben sein. Nach international übereinstimmenden Erfahrungen geschieht das am zweckmäßigsten in Form von Bewährungsstufen, also durch allmähliche und alternierende Lockerung der Sicherungsmaßnahmen. Einen psychisch kranken oder gestörten Menschen entläßt man schrittweise in Freiheit und Selbstverantwortung. Nach Möglichkeit hilft man ihm durch angemessene Nachfürsorge und prüft zugleich seine Belastbarkeit. Dabei muß man ein gewisses Risiko in Kauf nehmen, man muß gelegentlich einen oder einige Schritte zurückgehen. Für Untergebrachte gem. § 4 2 b StGB ist aber bei uns eine Erfolgskontrolle durch Bewährung rechtswidrig. Die insgesamt etwas elastischere und wirklichkeitsnähere Auffassung, wie sie zu diesem Fragenkreis in den Entscheidungen des OLG Frankfurt/Main vom 20.12. 56 (NJW 1957,

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391) und vom 14. 8. 57 (NJW 1957, 1684) sowie von Lang (NJW 1965, 1071) vertreten wurde, ist zugunsten der strengeren und justizförmigeren, aber auch realitätsfremderen Auffassung des OLG Braunschweig vom 5.10. 62 (NJW 1963, 403) und von Pohlmann (NJW 1966, 387) aufgegeben worden. Die Justizverwaltungen neigen offensichtlich auch zu dieser engen Auslegung, wie etwa der Erlaß des Hessischen Ministers der Justiz vom 22. 3. 1966 beweist. Dem Richter, der über derartige Unterbringungsfragen zu entscheiden hat, werden auf diesem Wege die objektiven Kriterien für sein Urteil entzogen, und er wird zu fragwürdigen Ermessensentscheidungen gedrängt. Gerade der Richer müßte aber an einer Objektivierung im Rahmen der ohnehin meist nur begrenzten Möglichkeiten besonders interessiert sein. Isoliert man einen Menschen jahrelang in einem künstlich keimfrei gehaltenen Raum, so kann man nicht den objektiven Beweis führen, ob er über die normal-biologische Widerstandskraft gegenüber Infektionen verfügt. Hier geht es nur um eine ganz primitive Regel für eine einigermaßen zeitgemäße, nicht etwa besonders fortschrittliche Kriminalpolitik. Wenn unsere Rechtsprechung schon über eine so simple Frage stolpert, dann muß man sich ernstlich fragen, was eigentlich aus dem in mancher Beziehung überdimensionierten kriminalpolitischen Reformprogramm des 2. StrRG v. 4. 7. 1969 werden soll. Das Subsidiaritätsproblem wird durch das 2. Reformgesetz von der Anordnung auf die Vollstreckung der Anstaltsunterbringung verlagert. Sofern die Voraussetzungen gegeben sind, muß der Richter die Unterbringung anordnen. In der ursprünglichen Fassung des E-62 „bestimmt das Gericht nach der besonderen Behandlungsart, die der Zustand des Täters erfordert", ob er in einer psychiatrischen Krankenanstalt oder in einer Bewahrungsanstalt unterzubringen ist. Bei der Neufassung wurden die Voraussetzungen einer Unterbringung in der Bewahrungsanstalt (sozialtherapeutischen Anstalt) ganz beträchtlich erweitert, und nach § 63 Abs. 2 in Verbindung mit § 65 Abs. 3 wird jetzt auch die Unterbringung schuldunfähiger Täter in der sozialtherapeutischen Anstalt präzisiert. Das ist nur ein Punkt, bei dem der — vor allem im jetzigen Planungsstadium — gefährliche Perfektionismus hinsichtlich des Projektes der sozialtherapeutischen Anstalten in der Neufassung deutlich wird. Dieser Einwand gilt nicht für den neuformulierten § 67 b, demzufolge das Gericht die Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung aussetzen kann, wenn „besondere Umstände" die Erwartung rechtfertigen, daß der Zweck der Unterbringung auch dadurch erreichbar ist. Gleichzeitig mit der Aussetzung wird der Delinquent unter Führungsaufsicht (§ 68) gestellt. Die insgesamt elastischere Gestaltung des Maßregelsystems, die Ermöglichung

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des Vikariierens im Vollzug, durch die gesetzliche Neuregelung ist im Prinzip zu begrüßen. Ob es aber dem Institut der sozialtherapeutischen Anstalt, mit dem wir hierzulande über keine Erfahrungen verfügen und für dessen Realisierung einstweilen noch sämtliche Voraussetzungen fehlen, gerade dienlich ist, schon jetzt ein Vikariieren auch mit der Sicherungsverwahrung gesetzlich vorzusehen, erscheint mehr als fragwürdig. Nach §§66, 67 d i . d . F . des 2. StrRG soll die Sicherungsverwahrung keine „Endstation" sein. Auch der Vollzug der Sicherungsverwahrung soll primär unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung erfolgen, so meinen jedenfalls die Empfehlungen der Strafvollzugskommission vom 7. 12. 1967. Wäre es bei so viel kriminalpolitischem Optimismus nicht sinnvoller, die Resozialisierung dieses Personenkreises, wenigstens zunächst einmal, dem Vollzug der Sicherungsverwahrung zu überlassen ? Bei der jetzigen Fassung des § 67 a ließe sich bei fast jedem der Sicherungsverwahrten die Verbringung in eine sozialtherapeutische Anstalt leicht — und nach dem bei uns herrschenden Verständnis des Legalitätsprinzips unwiderlegbar — begründen. Die Vorschrift des §64 i.d.F. des 2. StrRG betr. Unterbringung von Süchtigen in einer Entziehungsanstalt bringt zwar gegenüber dem bisherigen § 42 c StGB einige Verbesserungen, ist aber vom ärztlichen Standpunkt her gesehen noch keine befriedigende Lösung der praktischen Schwierigkeiten in diesem Bereich. Der für die Anordnung nach § 64 in Frage kommende Personenkreis wurde insofern erweitert, als nunmehr alle in diesem Zusammenhang Schuldunfähigen einbezogen sind. Im Gegensatz zu § 63 braucht hier die Schuldunfähigkeit nicht eindeutig erwiesen zu sein; es genügt, daß sie nicht auszuschließen ist. Mit dieser Ergänzung ist die stets beklagte „Lücke" in der Vorschrift des §42c StGB a. F. geschlossen worden. Die Lösung des Gefährlichkeitsproblems in § 64 vermag dagegen nicht zu befriedigen und ist bedenklich. Nur bei Gefahr „erheblicher" rechtswidriger Taten soll die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt möglich sein. Damit entfällt die Anwendbarkeit der Vorschrift bei vielen Alkoholikern und bei den meisten Rauschgiftsüchtigen. Die Erheblichkeit der die Anordnung der Maßregel auslösenden Tat läßt sich kaum von der Erheblichkeit der zu erwartenden Taten trennen. Bisher genügte ein indirekter oder symptomatischer Zusammenhang des kriminellen Verhaltens mit der Sucht als Voraussetzung der Unterbringung (OLG Celle in N J W 1958, 270). Die Erheblichkeit einer Rechtswidrigkeit ergibt sich dann aus der Tatsache, daß sie eines unter anderen Symptomen einer durch die Sucht bedingten Depravierung der Persönlichkeit und des sozialen Verfalls des Täters ist.

Nach der neuen Formulierung und ihrer Begründung dürfte es fraglich sein, ob ζ. B. die Rezeptfälschung eines süchtigen Arztes oder die nuancierten Verstöße eines Alkoholikers gegen die §§197—201 E-62 (Verlassen eines Kindes, Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht, der Aufsichtspflicht, der Unterhaltspflicht, der Hilfspflicht gegenüber einer Schwangeren) dem so betonten Erfordernis der Erheblichkeit genügen. Die Schwere der Tat nach den Maßstäben des Strafgesetzbuches sollte nicht das entscheidende Kriterium für die Gefährlichkeit und die Behandlungsbedürftigkeit eines süchtigen Täters sein. Nach allgemeiner ärztlicher Erfahrung muß die Entziehung, Behandlung und Rehabilitation eines Süchtigen so früh wie möglich und so gründlich wie möglich erfolgen (vgl. S. 366). Es widerspricht also direkt dem therapeutischen Sinn dieser Maßregel, ihre Anordnung von der Erheblichkeit künftiger Rechtswidrigkeiten abhängig zu machen bzw. zu warten, bis eine hinreichend schwere Tat erfolgt ist. Die frühzeitige Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist für die prognostisch ungünstige Kerngruppe der Alkohol- und Rauschgiftsüchtigen die einzige Chance, zu einer normalen Lebensführung zurückzufinden. Deswegen ist es auch zu begrüßen, daß bei der Überarbeitung des Entwurfs durch den Sonderausschuß das Subsidiaritätsproblem bezüglich der Unterbringung in einer psychiatrischen Krankenanstalt, in einer Entziehungsanstalt und in einer sozialtherapeutischen Anstalt übereinstimmend gelöst wurde (§§ 67 b, 67 c). Gerade der Süchtige bedarf im Falle einer Aussetzung der Maßregel zur Bewährung der Führungsaufsicht. Einen Rückschritt gegenüber dem E-62 bedeutet dagegen die Formulierung des § 67 d Abs. 1 i. d. F. des 2. StrRG hinsichtlich der strikten Limitierung der Unterbringung von Süchtigen auf 2 Jahre entsprechend dem bisherigen Recht (§ 42f StGB). Diese Frist wird von psychiatrischer Seite seit Jahrzehnten als zu kurz moniert, und eine solche „Schutzklausel" ist insbesondere bei Süchtigen entbehrlich, da es mehr als genug Sicherungen gegen eine unbegründete Festhaltung gibt. Es widerspricht aber dem Resozialisierungs- wie dem Humanitätsgedanken, einen noch nicht rehabilitierten Süchtigen nach 2 Jahren auf die Straße zu setzen, nur um abstrakten Vorstellungen von der Verhältnismäßigkeit einer strafrechtlichen Sanktion zu genügen. Das Hauptproblem des ganzen Maßregelrechts, soweit es sich um freiheitsentziehende Maßregeln handelt, sind nicht die wenigen psychisch kranken Straftäter, sondern die vielen Delinquenten mit Störungen aus dem Bereich der „kleinen" Psychiatrie (vgl. oben S. 358), bei denen unter psychiatrischen, kriminologischen und sozialpädagogischen Gesichtspunkten durchaus verschiedene Maßregeln indiziert sein können. In unserem gel-

Psychiatrie tenden Maßregelrecht spielt der Gedanke der Besserung und der Resozialisierung gegenüber diesem Personenkreis eine so untergeordnete Rolle, daß die unbefriedigenden Ergebnisse nicht überraschen können. Man hat den psychiatrischen Krankenanstalten einen zusätzlichen Aufgabenbereich übertragen, man hat sich aber auch nach 1945 erstaunlich wenig Gedanken über die Schaffung der institutionellen und personellen Voraussetzungen zur Erfüllung dieser Aufgaben gemacht. Trotz der kümmerlichen Bedingungen haben die Krankenanstalten auf diesem ihnen unerwünschten und aufgezwungenen Sektor zum Teil sogar recht Beachtliches geleistet. Die Psychiater erklärten schon bald nach der Einführung des § 4 2 b StGB und seither fortlaufend, daß die vermindert schuldfähigen debilen und psychopathischen Delinquenten eine nicht zu verantwortende Belastung für die Krankenanstalten bedeuten. Eine adäquate Behandlung und Resozialisierung mit den der Anstalt zur Verfügung stehenden Mitteln ist in der Regel nicht durchführbar, und die Möglichkeiten der Sicherung sind unvollständig, wenn man nicht den Krankenhauscharakter der Anstalten nach Art eines Gefängnisses verändern will. Da der Schwerpunkt der Behandlung dieser Tätergruppen im sozialpädagogischen, nicht im engeren psychiatrischen Bereich liegt, bedarf es eigener Institutionen (Ehrhardt-Villinger). Der in jüngsten Diskussionen anklingende Gedanke, daß die Krankenanstalten lediglich ihre „Störer" loswerden möchten, geht an dem eigentlichen Problem vorbei. Auch in Anstalten anderer Art, wie ζ. B. in Strafanstalten, sind solche „Störer" nicht gerade gern gesehen. Das ist nicht nur menschlich verständlich, das Interesse der anderen Anstaltsinsassen und das „Betriebsklima" verlangen vielmehr die Verlegung eines solchen Delinquenten in ein für ihn geeigneteres Korrektionsmilieu. Durchaus ähnliche Überlegungen, nicht nur besonders progressive Vorstellungen in Richtung Resozialisierungs-Vollzug, standen hinter dem — aus akutem Anlaß provozierten — Vorschlag (1967) der Justizminister der Länder, in den für die Bewahrungsanstalten vorgesehenen Personenkreis auch schuldfähige, aber besonders schwierige Delinquenten einzubeziehen. In diesem Zusammenhang wäre es naheliegend gewesen, sich mit dem interessanten Versuch einer Rehabilitation von „Schwerstkriminellen" in der „Sonderanstalt Mittersteig" bei Wien zu befassen, über den Hoff, Doleisch und Sluga (ÖJZ 1966, 342) berichtet haben. Mittersteig ist ein Experiment unter der Leitung der Psychiatrischen Universitäts-Klinik in Wien. Wir hätten schon seit wenigstens 15 Jahren ähnliche Experimente machen können und müssen, um die Möglichkeiten und Grenzen der Verwirklichung von Reformmodellen in unserem Lande zu testen, um eigene Erfahrungen zu

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sammeln. Trotz der engen Nachbarschaft sind die Voraussetzungen für kriminalpolitische Reformen etwa in Dänemark oder in Holland nur partiell mit unserer Situation vergleichbar. Die Konzeption der Bewahrungsanstalten in § 82 E-62 war bei uns der erste konkrete Vorschlag für eine wenigstens partielle Lösung der in Rede stehenden Probleme in einem amtlichen Gesetzentwurf. Dieser Vorschlag war bescheiden, hatte manche Mängel, und er wäre in verschiedener Hinsicht noch zu verbessern gewesen (Ehrhardt, Flitner, Rasch, Rotthaus). Das Projekt der Bewahrungsanstalten hat aber den großen Vorzug, daß es realisierbar erscheint, wenn auch langsam, in kleinen Schritten und mit manchen Rückschlägen. Wie immer wieder angeregt, hätte man mit der Einrichtung dieser Anstalten längst beginnen können, man brauchte durchaus nicht auf die Verabschiedung des allgemeinen Teils oder gar des ganzen StGB zu warten. Die Forderung der Sonderanstalten ist alt, sie findet sich auch in allen „Gutachten und Stellungnahmen zu Fragen der Strafrechtsreform mit ärztlichem Einschlag", die auf Anforderung des Bundesjustizministeriums Mitte der fünfziger Jahre insbesondere von den zuständigen wissenschaftlichen Fachgesellschaften erstellt wurden. Trotz der wiederholten Appelle ist aber so gut wie nichts geschehen. Nicht einmal die wenigen, schon seit geraumer Zeit an einzelnen Strafanstalten eingerichteten psychiatrischen oder psychotherapeutischen Abteilungen wurden nennenswert gefördert (Mauch, Pietsch, Rollmann). Erst die trüben Affären um den Kölner „Klingelpütz" und die Hamburger „Glocke" (1966) wirkten auf die Justizverwaltungen insoweit stimulierend, daß jetzt wenigstens an einigen Orten Sonderabteilungen oder Sonderanstalten zunächst kleineren Formats (ζ. B. Hohenasperg, HamburgBergedorf) eingerichtet oder geplant werden. Nach dem Vorbild der sogenannten Psychopathenanstalten in Dänemark und Holland waren die Bewahrungsanstalten in erster Linie für vermindert schuldfähige Delinquenten mit einer charakterlichen Abartigkeit, mit einer seelischen Behinderung oder Störung außerhalb des Kreises der eigentlichen Psychosen gedacht. Die Schuldfähigkeitsverminderung ist ein zweifellos problematisches Kriterium für die Indikation zur Unterbringung in einer Bewahrungsanstalt. Wenn man aber psychopathologische Gesichtspunkte für die Abgrenzung des Personenkreises verwerten will, was ich auf einstweilen noch längere Sicht für unvermeidlich halte, dann erscheint mir die Bezugnahme auf die Schuldfähigkeitsverminderung als die zur Zeit praktikabelste Lösung. Jedenfalls gibt es bisher viele theoretische Einwände, aber keinen Vorschlag, der aus der Sicht der Praxis vorteilhafter wäre. Auf Holland kann man sich hier schwerlich berufen, nicht nur weil es im Gesetz keine verminderte Schuldfähigkeit kennt.

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Ich hätte natürlich nichts dagegen, wenn man die Auswahl der Delinquenten, wie in Holland, der Anstaltsleitung überläßt. Dazu bedürfte es aber wohl einiger Korrekturen in unseren Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit; außerdem ist es eine Frage der Größenordnung und des Kostenträgers. Auch die dänische Sonderregelung hinsichtlich der Voraussetzungen für die Unterbringung in einer Psychopathenanstalt dürfte bei uns auf erhebliche rechtliche Bedenken stoßen, sonst hätte man sie wohl schon längst als zugkräftiges Argument in die Diskussion gebracht. Der in vielen Punkten gegen den E-62 zu Recht erhobene Vorwurf des Perfektionismus trifft sicher nicht die Konzeption der Bewahrungsanstalten. Wir befinden uns auf diesem Gebiet in einer Nullpunktsituation, in der man ein Reformprogramm nur mit Vorsicht einleiten und im Hinblick auf noch nicht überschaubare künftige Entwicklungen offen gestalten sollte. Auf dieser Linie hätte man den Vorschlag des E-62 für die Bewahrungsanstalten ohne besondere Schwierigkeiten noch verbessern können. — Bezüglich der Erfahrungen in Holland ist auf Baan und Roosenburg, in Dänemark auf Stürup, Hoeck-Gradenwitz, Sachs und Widmer, allgemein zur derzeitigen Situation im mitteleuropäischen Raum auf Eisenberg zu verweisen. Die Verfasser des AE-66 haben mit der Einweisung in die sozialtherapeutische Anstalt (§ 69) ein sehr viel weiter reichendes Reformprogramm entwickelt. Dieser neue Anstaltstyp ist „als die zentrale, spezialpräventiv gezielte Maßregel für erheblich Rückfällige gedacht, für die der gewöhnliche Strafvollzug keinen Resozialisierungserfolg verspricht, die aber auch keiner ärztlichen Hilfe und Pflege bedürfen. Sie soll für diese Täter nicht nur die Heil- und Pflegeanstalt, sondern weitgehend auch die Sicherungsverwahrung und die vorbeugende Verwahrung des § 86 E-62 ersetzen." Es werden zwei Typen von Tätern bzw. zwei Gruppen von Voraussetzungen für die Anstaltseinweisung unterschieden. Die erste Gruppe umfaßt Delinquenten, deren Straftat „mit einer seelischen Krankheit oder tiefgreifenden Persönlichkeitsstörung zusammenhängt" und zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 2 Jahren, im Falle verminderter Schuldfähigkeit von mindestens 16 Monaten geführt hat. Die zweite Gruppe (§ 69 Abs. 3) umfaßt Rückfalltäter unter der Voraussetzung von 3 Vorverurteilungen wegen vorsätzlicher Straftaten, Verbüßung von Freiheitsstrafen von zusammen wenigstens 2 Jahren und erneute Verurteilung zu Freiheitsstrafe wegen einer vorsätzlichen Straftat. Die Persönlichkeitsartung und die Schuldfähigkeit bedürfen bei diesen Rückfalltätern keiner Berücksichtigung für die Indikation zur Anstaltseinweisung. Maßgeblich sind allein das Faktum der Rückfälligkeit und die Mutmaßung der Erfolglosigkeit des regulären Strafvollzugs. Das bedeutet eine ganz beträchtliche Ausweitung

des für die neuen Anstalten in Frage kommenden Personenkreises. Außerdem würde gerade im Bereich der schweren Kriminalität praktisch die Maßregel an die Stelle der Strafe treten. Es würde hier zu weit führen, den Vorschlag des AE-66 im Detail zu diskutieren. Die Tatsache, daß man „seelisch kranke" Täter in den gleichen Maßregelvollzug wie den „normalen" Rückfalltäter bringen will, ist nur ein Symptom für die herrschende Begriffsverwirrung. Der seelisch kranke Täter, ganz allgemein der Delinquent, dessen kriminelles Verhalten mit einer behandlungsfähigen oder pflegebedürftigen psychiatrischen Erkrankung zusammenhängt, gehört in eine psychiatrische Krankenanstalt. Rehabilitierung oder Resozialisierung von kranken und von nichtkranken Delinquenten ist aber nicht identisch. Deswegen soll ja auch der Strafvollzug mit dem Akzent auf der Resozialisierung reformiert werden, und in den neu zu schaffenden Bewahrungsanstalten geht es selbstverständlich und in erster Linie um Resozialisierung. Die psychiatrischen Krankenanstalten können bereits auf eine reiche Erfahrung mit der Resozialisierung oder Rehabilitierung psychisch abnormer Patienten verweisen. Sie haben noch keineswegs ausreichende, aber doch beachtliche Fortschritte mit den Methoden einer zeitgemäßen Sozialpsychiatrie machen können. Sieht man einmal von dem wohlbegründeten rechtlichen Aspekt der Strafe ab, so gibt es praktisch durchaus brauchbare Kriterien für die Indikation zur Unterbringung in einer Strafanstalt oder in einer Bewahrungsanstalt oder in einer psychiatrischen Krankenanstalt. Die so gezogenen Grenzen sind aber nicht starr. Deswegen muß der Gesetzgeber für eine den Erfordernissen des Einzelfalles angemessene Durchlässigkeit für die Möglichkeit des Vikariierens sorgen. Das Bemühen um eine solche Regelung ist jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn man bereits in der primären Konzeption die Grenzen zwischen den einzelnen Anstaltstypen und Vollzugsformen bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Deswegen und im Hinblick auf die im AE-66 entwickelte Konzeption halte ich die Bezeichnung „sozialtherapeutische Anstalt" für verfehlt. Der seelisch Kranke und der „normale" Rückfalltäter sollen in der gleichen Anstalt „therapiert" werden, weil sie beide „krank" sind, weil kriminelles Verhalten eine „Krankheit" ist, wie etwa eine Schizophrenie. Ich vermag darin lediglich einen Beitrag zu der heute allgemein herrschenden Normen verunsicherung zu sehen; außerdem erschwert oder blockiert man diesen Anstalten die Lösung ihrer verantwortungsvollen Aufgabe, noch ehe sie gegründet sind. Mit gewohnter deutscher Gründlichkeit wollen wir schon vor Beginn irgendeiner Aktivität auf diesem Sektor das Problem an der Wurzel fassen, wollen das Gesamtphänomen

Psychiatrie Kriminalität als „Krankheit" therapieren und natürlich „heilen". Maximalforderungen dieser Art widersprechen aber dem derzeitigen Stand unserer wissenschaftlichen Erkenntnis und vor allem der praktischen Erfahrung. Die bisherigen Ergebnisse der verschiedenen Modellinstitutionen des Auslands, deren Arbeit alle Anerkennung verdient und deren Bedeutung für die künftige Entwicklung außer Frage steht, sind kaum miteinander vergleichbar und bieten bei weitem noch keine Konzeption der „Offender-Therapy", die als „bewährt" bezeichnet werden könnte. Zur Zeit fehlt es sogar noch an geeigneten Methoden für eine vergleichende Effektivitätsmessung. Deswegen sollte man sich davor hüten, die dringend notwendige, aber immer nur schrittweise realisierbare Neuorientierung unserer Kriminalpolitik an ideologischen Utopien scheitern zu lassen. Leider wird immer wieder vergessen, daß eine „rein" medizinisch-sozialhygienische Betrachtung des Verbrechens ausgesprochen inhumanen Charakter hat. Zugleich mit der Leugnung von Freiheit und Verantwortung wird unvermeidlich auch das eigentlich Menschliche im biologischen Sein, die Würde des Menschen i. S. von Art. 1 GG negiert. Da es unverbesserliche oder „unheilbare" Asoziale oder Verbrecher immer gegeben hat und zur Zeit kein fundierter Anhaltspunkt dafür besteht, daß es sie in absehbarer Zukunft nicht mehr geben wird, stellt sich für den konsequenten „Sozialpathologen" die peinliche Frage, warum man eigentlich gegen „unverbesserliche Schädlinge der Volksgesundheit" nicht mit denselben Mitteln vorgehen sollte wie sonst in der Medizin gegen gefährliche Krankheitserreger oder in der Hygiene gegen Ungeziefer ? Im angelsächsischen Sprachkreis werden zeitgemäße Formen des Vollzugs von Strafen oder Maßregeln durch Begriffe wie correction oder training gekennzeichnet, im Französischen spricht man von r66ducation. Wir haben das gute deutsche Wort „Bewahrungsanstalt", das ausnahmsweise ziemlich genau den Sachverhalt trifft, der hier gemeint ist. Wegen der Verwechslungsmöglichkeit zwischen Bewahrung und Verwahrung wurde der Begriff fallengelassen. Man muß sich fragen, ob es wirklich so bedenklich ist, wenn ein Rückfalltäter der Meinung sein sollte, er würde in der Anstalt nur verwahrt und nicht bewahrt. Das Mißverständnis ließe sich durch entsprechende Belehrung aufklären. Es gibt mehrere Möglichkeiten für eine einigermaßen treffende Bezeichnung der Anstalten mit Hilfe von Fremdwörtern. Erwähnt sei nur der von Ehrhardt, Munkwitz und Stutte 1961 im Auftrag der „Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen" gemachte Vorschlag zur Novellierung des JGG. Es wurde die Bezeichnung „Ärztlich-pädagogische Resozialisierungsanstalt" empfohlen. Dabei handelt es sich um eine bereits genauere Umschrei26 HdK, 2. A u a , Bd. I I

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bung des Charakters dieser Anstalten, die in gleicher Weise auf die im Maßregelrecht für Erwachsene vorgesehenen Anstalten zutrifft. Leider sind aber auch die Begriffe Erziehung, Pädagogik, Sozialpädagogik etc. verpönt, weil man nach „rechtsstaatlichen" Vorstellungen einen Erwachsenen nicht mehr „erziehen" darf, weil man nach der oben erwähnten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Freiheit eines Staatsbürgers nicht beschränken darf, „nur" um ihn zu bessern. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, daß die Aufgabe der sozialtherapeutischen Anstalten wie auch des reformierten Vollzugs der anderen Maßregeln und der Strafen ihrer Eigenart nach primär und entscheidend eine sozialpädagogische Aufgabe ist, die bei nicht-kranken Tätern nur mit den Methoden einer rechtverstandenen Sozialpädagogik bewältigt werden kann und muß. Resozialisierung bei nicht-kranken Delinquenten ist nichts anderes als Erziehung zu freiem und verantwortlichem Verhalten, Erziehung zur „Mündigkeit", wenn auch nicht gleich zur Idealnorm des „mündigen Staatsbürgers", der bewußt und kritisch das Leben einer Demokratie mitzugestalten vermag. Die Strafvollzugskommission hat in ihren Empfehlungen vom 1. 3. 1968 die Grundkonzeption der sozialtherapeutischen Anstalt aus dem AE-66 übernommen, aber in einzelnen Punkten modifiziert. In Übereinstimmung mit dem AE-66 wird betont, daß die Einweisung in eine sozialtherapeutische Anstalt unabhängig von dem Grad der Schuldfähigkeit erfolgen soll. In Analogie zu § 69 Abs. 1 AE-66 gehört zur ersten Tätergruppe: „Wer im Zusammenhang mit einer Straftat erhebliche psychische Verhaltensauffälligkeiten zeigt, eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr, im Falle verminderter Schuldfähigkeit von mindestens 6 Monaten verwirkt hat, wenn von ihm erhebliche Straftaten zu befürchten sind und Aussicht besteht, daß er durch sozialtherapeutische Behandlung von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten werden kann". Die „erhebliche psychische Verhaltensauffälligkeit" ist sicher kein hier geeignetes Abgrenzungsmerkmal, weil bereits die zur Anstaltseinweisung führende Straftat als solche eine erhebliche psychische Verhaltensauffälligkeit ist. Wichtig ist die im AE-66 fehlende Feststellung der speziellen Behandlungseignung als Voraussetzung der Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt. Das gilt auch für die zweite Gruppe, die „normalen" Rückfalltäter. Aus den übrigen Empfehlungen der Strafvollzugskommission sei hier nur noch vermerkt, daß die sozialtherapeutischen Anstalten als justizeigene Vollzugsanstalten ausgestaltet werden sollen. Interessant ist auch der Vorschlag, daß die Tätigkeit in einer sozialtherapeutischen Anstalt als „regelmäßiger Bestandteil" der Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie anzustreben ist.

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Der Sonderausschuß des Bundestags sah sich auf Grund der genannten Vorschläge und der zahlreichen Diskussionen veranlagt, das früher beschlossene Konzept der Bewahrungsanstalten aufzugeben. Dem „Maximalprogramm" des AE-66 glaubte man nicht ganz folgen zu können. Andererseits sollte die vorbeugende oder ErziehungsVerwahrung gem. § 86 E-62 in die Vorschrift über die sozialtherapeutische Anstalt eingearbeitet werden. So entstand der § 65 des 2. StrRG v. 4. 7. 1969, der an Länge und Perfektion von keinem anderen Paragraphen dieses Gesetzes übertroffen wird. In dem ersten Absatz werden zwei Tätergruppen erfaßt, die psychopathischen Rezidivisten und die Sexualdelinquenten oder Triebtäter. Bei der ersten Gruppe hat man sich, im Gegensatz zum AE-66, nicht auf das Faktum der Rückfälligkeit beschränkt, sondern als weiteres — biologisches —Merkmal die „schwere Persönlichkeitsstörung" eingeführt. Einweisungsvoraussetzung für die sogenannten Triebtäter der zweiten Gruppe ist lediglich eine vorsätzliche Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr geahndet wird und die auf den „Geschlechtstrieb zurückzuführen ist". Bei den Sexualdelinquenten wird also auf die Rückfallvoraussetzung wie auch auf eine spezielle psychopathologische Charakterisierung verzichtet. Die Unterbringung kann bei Delinquenten dieser beiden Gruppen nur dann angeordnet werden, „wenn nach dem Zustand des Täters die besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen einer ärztlich geleiteten sozialtherapeutischen Anstalt zu seiner Resozialisierung angezeigt sind." Hier wird also die Behandlungseignung zur gesetzlich vorgeschriebenen Unterbringungsvoraussetzung. § 65 Abs. 2 regelt die Voraussetzungen für die Unterbringung einer dritten Gruppe in der sozialtherapeutischen Anstalt: die gefährlichen Jungtäter oder potentiellen Hangtäter. Es handelt sich um die nur redaktionell überarbeitete Vorschrift des § 86 Abs. 1 E-62 betreffend die vorbeugende oder Erziehungs-Verwahrung. Damit wird dem immer wieder diskutierten Gedanken Rechnung getragen, daß nach Möglichkeit kein Delinquent in Sicherungsverwahrung verbracht werden sollte, der nicht vorher wenigstens einmal in einer sozialtherapeutischen Anstalt war. — Die vierte und letzte Gruppe (§ 65 Abs. 3) umfaßt schuldunfähige und vermindert schuldfähige Delinquenten, bei denen die Voraussetzungen für die Unterbringung in einer psychiatrischen Krankenanstalt gegeben sind, für deren Resozialisierung aber die sozialtherapeutische Anstalt geeigneter erscheint. Diese Vorschrift enthält den verbliebenen Rest der früheren Konzeption der Bewahrungsanstalt. Kennzeichnend ist die Grenzverwischung zwischen den Anstaltstypen und den Vollzugsformen. Die Indikationsstellung wird damit zu einer ziemlich vagen Ermessensfrage. Schuldunfähige Delin-

quenten sind in der Regel krank und gehören deshalb in eine Krankenanstalt. Im Laufe der Behandlung kann sich die Krankheit bessern, und es kann auch einmal angebracht sein, die Resozialisierung eines solchen Patienten in der sozialtherapeutischen Anstalt fortzuführen, dann ist er aber schon längst nicht mehr schuldunfähig. Vielleicht hat man auch an eine künftig häufigere Exkulpierung wegen Schuldunfähigkeit bei sogenannten Affekttätern gedacht. Aber auch die sind zur Zeit der Unterbringungsanordnung in der Regel nicht mehr schuldunfähig. Sollte es in einem Ausnahmefall doch einmal so sein, dann gehört der Patient zunächst in eine Krankenanstalt. Hinsichtlich der Reihenfolge der Vollstreckung stellt das 2. StrRG klar (§ 67), daß die Anstaltsunterbringung, abgesehen von der Sicherungsverwahrung, grundsätzlich vor der Strafe zu vollziehen ist. Ausnahmen sind aber zulässig. Die alte Streitfrage betreffend Einspurigkeit oder Zweispurigkeit der Rechtsfolgen einer Straftat ist offenbar überholt. Sie wird in der neuen Konzeption, zumindest für den Bereich der schweren Kriminalität, durch das Prinzip der Wechselspurigkeit mit eindeutigem Akzent auf der resozialisierenden Maßregel ersetzt. Ein Wechsel zwischen Strafvollzug und Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt ist bisher nicht vorgesehen, soll aber nach den Empfehlungen der Strafvollzugskommission vom 16.10.1969 gesetzlich zugelassen werden. Die Möglichkeit des Vikariierens im Maßregelvollzug wurde demgegenüber großzügig geregelt (§ 67 a), für die Sicherungsverwahrten vor allem in Richtung auf die vermeintlich leichtere und „honorigere" Vollzugsanstalt. Nirgends ist aber deutlich gesagt, daß die sozialtherapeutische Anstalt etwa einen Sicherungsverwahrten auch zurückverlegen kann, wenn sie ihn für ungeeignet hält oder seine Behandlungsunfähigkeit festgestellt hat. Die erste Unterbringung in der Sicherungsverwahrung darf 10 Jahre, die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt 5 Jahre (§67d) nicht übersteigen. Das wird zur Folge haben, daß Sicherungsverwahrte in großer Zahl in die sozialtherapeutischen Anstalten drängen. In gleicher Weise werden Delinquente, die eine Freiheitsstrafe um oder über 5 Jahre zu erwarten haben, nach einem Weg in die sozialtherapeutische Anstalt suchen. Eine sinnvolle Abgrenzung des für eine sozialtherapeutische Anstalt in Frage kommenden Personenkreises erscheint mir bei der derzeitigen Fassung des Gesetzes und im Hinblick auf unsere Gerichtspraxis fast ausgeschlossen. Die Frage an den Sachverständigen wird durch höchstrichterliche Urteile sehr bald in der Weise präzisiert werden, ob die „schwere Persönlichkeitsstörung" bei Rezidivisten oder die Behandlungseignung bei den Delinquenten der Gruppen 1,2 und 4 mit Sicherheit oder mit an Sicherheit grenzender

Psychiatrie Wahrscheinlichkeit auszuschließen sei. Damit würde sich die Untersuchung durch einen Sachverständigen in der Regel erübrigen. Angesichts dieser Situation ist es verwunderlich, daß der BT-Sonderausschuß auf die in § 71 AE-66 vorgeschlagene Beobachtungsslelle verzichtet hat. Dieses Institut hat sich im Ausland bewährt, und Baan hat darüber bereits 1958 in der VillingerFestschrift berichtet. Bei der nunmehr vorgesehenen Ausweitung des Personenkreises für die sozialtherapeutischen Anstalten wird man ohne die Vorschaltung einer mit Sachverständigen und stationären Möglichkeiten ausgestatteten Filterstelle nicht auskommen. In ihren Grundsätzen und Empfehlungen vom 16.10.1969 befürwortet auch die Strafvollzugskommission die Einrichtung besonderer Beobachtungsstellen und eine Begutachtung der Probanden im Hinblick auf ihre Behandlungseignung sowie einen engen Kontakt mit Institutionen der Forschung. — Sachlich richtig und notwendig ist der Ausbau des Instituts der Führungsaufsicht (§ 68), früher Sicherungsaufsicht genannt. Wenn man schon in so großem Stil Resozialisierung betreiben will, dann muß man sich ganz besonders um die Nachfürsorge bemühen. Dafür mag die Führungsaufsicht in der vorgesehenen Form vielleicht keine Ideallösung sein, jedenfalls durfte man hier kein Vakuum lassen. Die sozialtherapeutische Anstalt ist in dem 2. StrRG vom 4. 7. 1969 zum Zentrum der freiheitsentziehenden Reaktionen des Staates auf eine Straftat geworden. Sie ist zugleich Strafanstalt und Sicherungsanstalt, Krankenanstalt und Entziehungsanstalt. Damit stellt sich die schon bei dem Konzept der Bewahrungsanstalten aufgeworfene Frage der Realisierungsmöglichkeiten in viel schärferer Form. Bei den Verhandlungen im Sonderausschuß wurde die Zahl der erforderlichen neuen Anstalten vorsichtig auf 20 bis 30 mit einer Belegungsstärke um je 200 Personen geschätzt. Der Personal-Insassen-Schlüssel soll bei 1:1 liegen, und der Tagessatz pro Gefangener beträgt in Holland über DM 80.—. Diese Zahlen sollten etwas zu denken geben. Für noch viel wichtiger als die hier nur angedeuteten finanziellen und institutionellen Probleme halte ich die Frage der personellen Ausgestaltung der neuen Anstalten. Es sollen und müssen besonders qualifizierte Psychiater, Pädagogen, Psychologen und Sozialfürsorger sein. Die Eigenart des Kreises der Anstaltsinsassen erfordert außerdem speziell ausgebildetes Personal allein für Aufsicht und Überwachung. Weiterhin muß berücksichtigt werden, daß die übrigen Vollzugseinrichtungen reformiert werden sollen und daß man auch dafür zusätzliches und qualifiziertes Personal braucht. Vorläufig ist nicht einmal andeutungsweise erkennbar, wie man dieses Personalproblem lösen will, auch wenn man mit einer Anlaufzeit von etwa 10 26*

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Jahren oder noch mehr rechnet. Zum Personalproblem gehört insbesondere die Frage einer neuen Vollzugsordnung, die bisher nur aus der Sicht des Delinquenten, nicht aber aus der Sicht des Personals angesprochen wurde (Schüler-Springorum). Es geht nicht an, daß ein ebenso intelligenter wie asozialer und krimineller Psychopath in Permanenz jeden Vollzugsbeamten, der sich mit ihm beschäftigen muß, in staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren verwickeln oder in den Anklagezustand versetzen kann. Eine Vollzugsordnung hat nicht nur, und nicht einmal in erster Linie, das Persönlichkeitsrecht von Delinquenten zu schützen, die eben dieses Grundrecht in mehr oder weniger grober Weise mißbraucht haben. Wenn man qualifizierte Persönlichkeiten speziell für die Arbeit in einer sozialtherapeutischen Anstalt gewinnen will, wird man ihr Persönlichkeitsrecht gegenüber ihren „Patienten" in wirksamer Weise schützen müssen. Im übrigen sollten die Vollzugsvorschriften der Pioniersituation derartiger Anstalten weitgehend Rechnung tragen und ein Optimum an therapeutisch-pädagogischer Aktivität garantieren. Das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4. 7. 1969 entwirft ein imponierendes Programm für die künftige Kriminalpolitik. Viele Erfahrungen, Wünsche und Forderungen der Psychiatrie und der Kriminologie haben bei uns erstmals einen Niederschlag in gesetzlichen Formulierungen gefunden. Das Programm ist aber so perfekt, daß sich die beängstigende Frage stellt, ob es sich hier mehr um eine Zukunftsvision handelt, von der nur Bruchstücke in absehbarer Zeit realisierbar sind, und dadurch das Gesamtkonzept zu einer leeren Proklamation werden könnte. Im militärischen Bereich spielt bei strategischen Planungen die Infrastruktur eine große Rolle. Die Verwirklichung kriminalpolitischer Programme ist sicher nicht weniger von der Infrastruktur und ihrem Leistungspotential abhängig. Wenn man einen gewissen Einblick in die heutige Situation des Vollzugs von Strafen und Maßregeln hat, dann kann man nur eine erschreckende Inkongruenz zwischen der gegebenen Infrastruktur und den Forderungen des neuen Programms feststellen. Selbst wenn alle Beteiligten mit dem gleichen Eifer und der gleichen Überzeugung an dem Auf- und Ausbau der Voraussetzungen für die Verwirklichung des Programms arbeiten würden, könnte man erst in Jahrzehnten mit einem — vielleicht auch evidenten — Erfolg rechnen. In der Kriminalpolitik ist nun einmal die Meßlatte der Effektivität die Kriminalstatistik, zumindest für den Nichtfachmann, der in der Regel auch über den E t a t der Justizverwaltung entscheidet. Deswegen wird es noch mancher Überlegungen bedürfen, wie man schrittweise, aber schnell und überzeugend, Teilkomplexe aus dem großen Konzept in die Praxis übersetzt. Es

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wäre ein kaum wiedergutzumachender Schaden, wenn das neue Strafgesetzbuch schon bald nach seiner Inkraftsetzung mit dem Odium des „kriminalpolitischen Märchenbuches" belastet würde. M o n o g r a p h i e n und S a m m e l w e r k e Ε . H. A c k e r k n e c h t : Kurze Geschichte der Psychiatrie. 2. Aull. 1967. A. A i c h h o r n : Verwahrloste Jugend. 5. Aufl. 1965. D e r s . : Delinquency and child guidance. New York 1964. H. A l b r e c h t : Über das Gemüt. 1961. C. K. A l d r i c h : An introduction to dynamic psychiatry. New York 1966. F . G. A l e x a n d e r und 8. Τ. S e l e s n i c k : The history of psychiatry. New York 1966. Dtsch. Ausg. 1969. Β . C. A l l e n , Β . Z. F e r s t e r und J . G. R u b i n : Readings in law and psychiatry. Baltimore 1968. E . A l t a v i l l a : Forensische Psychologie (Dtsch. Ausg. in 2 Bdn. Hrsg. Bohne und Sachs). 1955. Μ. A n c e l : La defense sociale nouvelle. 2. Aufl. Paris 1966. J . A n g s t : Zur Ätiologie und Nosologie endogener depressiver Psychosen. 1966. S. A r i e t i (Hrsg.): American handbook of psychiatry. 2 Bde. New York 1959, Bd. I I I . 1966. W. A r n o l d : Person, Charakter, Persönlichkeit. 3. Aufl. 1969. D e r s . : Person und Schuldfähigkeit. Universitätsreden H. 43. Würzburg 1965. G. A s c h a f f e n b u r g : Das Verbrechen und seine Bekämpfung. 3. Aufl. 1923. D e r s . : Psychiatrie und Strafrecht. 1928. H. A s p e r g e r : Hellpädagogik. 5. Aufl. 1968. V. A u b e r t : Elements of sociology. London 1968. W. ν. B a e y e r : Zur Genealogie psychopathischer Schwindler und Lügner. 1935. W. v. B a e y e r , H. H ä f n e r und Κ . P, K i s k e r : Psychiatrie der Verfolgten. 1964. Η. P. B a h r d t : Wege zur Soziologie. 4. Aufl. 1969. A. L. B a l d w i n : Theories of child development. 1967. Μ. B a i i n t : Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. Bern und Stuttgart 1966. M. und E. B a l i n t : Psychotherapeutische Techniken in der Medizin. Bern 1962. B a r A s s o c i a t i o n , S p e c i a l O o m m i t t e e : Mental illness, due process and the criminal defendant. New York 1968. Η. E. B a r n e s und N . K . T e e t e r s : New horizons in criminology. 3. Aufl. New York 1963. D. B a r l e y : Grundzflge und Probleme der Soziologie. 3. Aufl. 1968. K . W . B a s h : Lehrbuch der allgemeinen Psychopathologie. 1955. R. B a s t i e d e : Sociologle des maladies mentales. Paris 1965. Fr. B a u e r : Das Verbrechen und die Gesellschaft. 1957. D e r s . : Auf der Suche nach dem Recht. 1966. Fr. B a u e r , Ξ . B l l r g e r - P r l n z , H. Giese und Ξ . J ä g e r (Hrsg.): Sexualität und Verbrechen. 1963. J . B a u m a n n : Kleine Streitschriften zur Strafrechtsreform. 1965. D e r s . : Lehrbuch des Strafrechts. Allg. Teil. 5. Aufl. 1968. D e r s . : Unterbringungsrecht. 1966. D e r s . (Hrsg.): Programm für ein neues Strafgesetzbuch. 1968. F . A. B e a c h : Sex and behaviour. New York 1965. W. v. B e c h t e r e w : Die Funktionen der Nervencentra. 3 Bde. Jena 1908/11. D e r s . : Objektive Psychologie oder Psychoreflexologie. Die Lehre von den Assoziationsreflexen. Leipzig 1913. P . E . B e c k e r (Hrsg.): Humangenetik. Handbuch in 5 Bdn. 1964—1969. L. B e l l a k (Hrsg.): Handbook of community psychiatry and community mental health. New York 1964. L. B e l l a k and Η. H. B a r t e n (Hrsg.): Progress in Community Mental Health. Bd. I, New York 1969.

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EHRHARDT

PSYCHOLOGIE DES VERBRECHENS (Kriminalpsychologie) I. BEGRIFFSBESTIMMUNG Kriminalpsychologie unterscheidet sich von, überschneidet sich aber auch mit der Forensischen Psychologie. Kriminalpsychologie beschäftigt sich ζ. B. als Teilgebiet der -> Kriminologie n i c h t mit der psychologischen Gutachtertätigkeit auf den Gebieten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, des Zivilrechts, der Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit. Forensische Psychologie hat n i c h t die psychologischen Faktoren der Ursachen einer Straftat und der Folgen der Verurteilung eines Rechtsbrechers zum Gegenstand; sie umfaßt — nach Karl Siegfried Bader (1948) —

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als Teilgebiet der Psychologie alles das, was zur psychologischen Durchdringung der Rechtspflege erforderlich ist. Kriminalpsychologie ist nach diesem Baderschen Konzept lediglich ein Teil, ein Ausschnitt der Forensischen Psychologie. Demgegenüber bezeichnet Hans Krüger (1950) die Kriminalpsychologie als Anwendung der Psychologie auf das Gesamtgebiet von Rechtsbrüchen und Rechtsbrechern, von Rechtsprechung und Strafvollzug. Er will die speziell nur bei der Gerichtsverhandlung zur Geltung kommende Forensische Psychologie der Kriminalpsychologie unterordnen. Die Kriminalpsychologie ist bisher ganz unterschiedlich definiert worden. Nur wenige Beispiele seien genannt. Sie ist ·— nach Roland Graßberger (1968, S. 2) — Täterpsychologie, die eine Erklärung der seelischen Vorgänge anstrebt, die für das Zustandekommen und die Ausführung des verbrecherischen Entschlusses maßgebend waren. Sie wird von Arthur Lewis Wood (1949) wie folgt umschrieben: Sie beschäftigt sich mit der Frage, auf Grund welcher einmaligen Erfahrungen und geistigen Prozesse ein bestimmtes Individuum antisozial geworden ist. Diese Frage kann — nach Wood — nur durch die Methode der Einzelfallstudie beantwortet werden, die zur Diagnose, Prognose und Behandlung eines Rechtsbrechers im Sinne seiner einzigartigen Wesenheit führt. Mitunter werden Kriminalpsychologie und Forensische Psychologie auch synonym behandelt. Nach Richard W. Nice (1965, S. 53) betreiben beide die Anwendung der modernen psychologischen Methoden auf die Probleme und die Behandlung des Verbrechens, des kriminellen Verhaltens und der individuellen Rechtsbrecher. Im allgemeinen sind — nach Nice — diejenigen, die solche psychologischen Dienste leisten, klinische oder Sozial-Psychologen, die sich auf diesem Gebiet spezialisiert haben. Geht man in der Geschichte der Kriminalpsychologie etwas weiter zurück, so stößt man auf folgende Definitionen: Nach Robert Sommer (1912) ist die Kriminalpsychologie ein Teil der analytischen Psychologie, die in methodischer Weise versucht, den geistigen Zustand einzelner Menschen und bestimmter Gruppen von Menschen zu erforschen. Sie untersucht in erster Linie die geistigen Zustände derjenigen Personen, die Rechtsverletzungen begehen, und vor allem derjenigen, die durch vielfache Rechtsbrüche eine besondere Gefahr für die soziale Gemeinschaft bieten. Kriminalpsychologie ist — nach Wolfgang Mittermaier (1912) — die wissenschaftliche Untersuchung und Darstellung des Seelenlebens der Verbrecher (im weitesten Sinne), ihres Charakters, der Motive ihrer Taten im allgemeinen, ferner der geistigen Entstehung der einzelnen Taten und endlich der geistigen Wirkung der Taten auf das Opfer und die Allgemeinheit. An allen diesen Versuchen einer Definition der Kriminalpsychologie ist richtig,

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Psychologie des Verbrechens

daß Forensische Psychologie und Kriminalpsychologie sich als zwei sich inhaltlich überschneidende Kreise darstellen, also nicht deckungsgleich sind, und daß physische, anthropologische, biologische, soziale und ökonomische Faktoren kriminalätiologisch nur dann wirksam werden können, wenn sie durch den „Transformator" der psychischen Faktoren hindurchgegangen sind. Insofern besitzt die Kriminalpsychologie eine Schlüsselposition in der Kriminologie. Bin Faktor wird keine Ursache, solange er kein Motiv geworden ist. Dieser Grundsatz gilt sowohl bei der Verursachung von Delikten wie auch bei der Verbrechensverhütung und der Behandlung von Rechtsbrechern. Die Kriminalpsychologie ist in der Geschichte der Kriminologie vernachlässigt worden zugunsten der Kriminalanthropologie und -biologie. Sie ist zu sehr mit -> Psychopathologie und Forensischer Psychiatrie gleichgesetzt worden, die allein krankhafte psychische Zustände und Gegebenheiten zu beurteilen haben. Wir besitzen deshalb bis heute keine größere Veröffentlichung, die sich in zufriedenstellender Weise mit der Psychologie des normalen Straftäters in allen ihren Aspekten auseinandergesetzt hat (U. Undeutsch, 1967). Würde man Kriminalpsychologie mit Täterpsychologie gleichsetzen, so würde man sich den Blick für die Variationsbreite kriminalpsychologischer Fragestellungen verengen. Die Straftat kann nur in ihrer psychodynamischen Interdependenz zwischen Persönlichkeit des Täters und Persönlichkeit des Opfers, psychosozialer Umwelt des Täters und psychosozialer Umwelt des Opfers und situativen Gegebenheiten bei Täter und Opfer verstanden werden. Zur Kriminalpsychologie gehören deshalb nicht nur die Psychologie des Täters, der Tätergruppen und sozialabweichender Persönlichkeiten, sondern auch die Psychologie des Opfers (seine Mitwirkung bei der Entstehung der Straftat und seine psychische Reaktion auf die Straftat), die Psychologie der Kriminalitätsursachen in der Gesellschaft und die Psychologie der strafenden Gesellschaft und ihrer Repräsentanten (Polizisten, Staatsanwälte, Strafrichter, -Verteidiger, Bewährungshelfer und Strafvollzugsbedienstete). Betrachtet man den Kriminalitätsprozeß verlaufsanalytisch, so befaßt sich die Kriminalpsychologie mit folgenden Stationen: psychischer Zustand des Täters vor dem konkreten Gedanken an die Tat, Auftauchen des verbrecherischen Gedankens, VerÜbung der Tat, Reaktion des Täters nach der Tat vor seiner Verhaftung, Verhalten des Täters in der Untersuchungshaft und vor Gericht, psychologische Beurteilung des Täters im Strafvollzug und sein Verhalten nach der Entlassung aus dem Strafvollzug. Nimmt man nun die psychodynamische Interdependenz zwischen Täter, Opfer und Gesellschaft mit in Betracht, so stellen sich die Fragestellungen der Kriminalpsychologie wie folgt dar:

1. Psychologie der Entstehung des Verbrechens Hier rückt nicht nur der unmittelbare Motivationsprozeß ins Blickfeld, der zur Straftat geführt hat. Vielmehr sind auch die psychische Entwicklung der Persönlichkeit, die die Straftat begangen hat, und zwar ihre psychische Entwicklung von ihrer frühesten Kindheit an, die entsprechende psychische Entwicklung der Persönlichkeit des Opfers der Straftat und die Einstellungen und Beziehungen zwischen Täter und Opfer zu berücksichtigen. Untersuchungsgegenstand ist nicht allein die bekanntgewordene, sondern auch die verborgen gebliebene Kriminalität (Forschungsmethode der selbstberichteten Kriminalität). Motivation ist als bewußte und unbewußte Motivation zu verstehen. 2. Psychologie der Verbrechensvorbeugung Sie ist gleichsam die „positive Kehrseite" der Psychologie der Entstehung des Verbrechens. Denn sie muß die kriminalpsychologischen Ursachen des Verbrechens erkennen, um bereits vor Begehung eines Rechtsbruchs durch gezielt angesetzte kriminalpsychologische Gegenmaßnahmen der Gesellschaft die Straftat zu verhindern. 3. Psychologie des Strafgesetzgebers und der Strafgesetzanwender Gemeint ist hier zunächst die Motivation des Gesetzgebers zur Neu- und Abschaffung (Kriminalisierung und Dekriminalisierung sozial abweichenden Verhaltens) und zur Änderung von Strafrechtsnormen. Gedacht ist aber auch an die psychologischen Einflüsse, die die Gesellschaft auf den Gesetzgeber bei der Strafgesetzgebung im weitesten Sinne ausübt. Ferner sind in dieses Stadium des Kriminalitätsprozesses einzuordnen die Psychologie der Polizisten, der Staatsanwälte, Strafrichter und -Verteidiger, Bewährungshelfer und Strafvollzugsbediensteten. 4. Psychologie der Reaktionen auf die Straftat Sie hängt allgemein von der Psychologie des Gesetzgebers (Strafe und Behandlung) und konkret von der Psychologie der Strafgesetzanwender (Polizisten, Strafrichter usw.) und der strafenden Gesellschaft ab, die ihre Repräsentanten, ihre Organe der Strafrechtspflege in mannigfaltiger Weise zu beeinflussen sucht. Es handelt sich also einmal ganz allgemein um die kriminalpsychologische Beurteilung des punitiven Klimas in einer Gesellschaft und zum anderen ganz konrekt um die kriminalpsychologische Einschätzung des Verhaltens der Organe der Strafrechtspflege in Einzelfällen kriminellen Benehmens. 5. Psychologie der Rückwirkungen der Reaktionen der Straftat auf den Rechtsbrecher Je nachdem, wie sich die Organe der Strafrechtspflege gegenüber dem Straftäter verhalten,

Psychologie des Verbrechens können für den Rechtsbrecher, seine Umwelt und letztlich die Gesellschaft selbst negative oder positive Rückwirkungen entstehen. Freilich hängen diese Rückwirkungen (ζ. B. Rückfallkriminalität) nicht vom Verhalten der Organe der Strafrechtspflege im konkreten Fall allein ab. Immerhin haben diese Organe aber einen maßgeblichen Einfluß darauf, ob etwa der Ersttäter stigmatisiert und einem gesellschaftlichen Ausgliederungsdruck ausgesetzt wird oder nicht. Aus einem solchen Verhalten kann sich eine „sekundäre Deviation" (Edwin M. Lemert) oder eine „Self-fulfillingprophecy" (Robert K. Merton) entwickeln. Hierbei versteht man unter dem Konzept der sekundären Deviation, auf das im einzelnen noch näher einzugehen sein wird, eine Verbrechens Verursachung durch Fehlreaktionen der Gesellschaft und ihrer Repräsentanten auf primäre Sozialabweichung. Die „Self-fulfilling-prophecy" bezeichnet ein Hineindrängen des kriminell Gefährdeten in eine delinquente Rolle durch die Gesellschaft und ihre Gruppen (ζ. B. Familie, Schule, Gleichaltrigengruppe usw.) und ein Annehmen dieser Rolle durch den kriminell Gefährdeten auf Grund einer Trotzhaltung. 6. Zusammenfassende

Definition

Kriminalpsychologie kann abschließend und auf das wesentliche verkürzt wie folgt definiert werden: Sie ist Psychologie des Täters und der Tätergruppen, Psychologie des Opfers und der Kriminalitätsursachen in der Gesellschaft, Psychologie der strafenden Gesellschaft und deren Repräsentanten in der Strafgesetzgebung und Strafrechtspraxis. Alle drei Bereiche: Täter, Opfer und Gesellschaft stehen bei der Verursachung und Verhütung von Verbrechen, bei der Reaktion auf Verbrechen (ζ. B. Behandlung von Rechtsbrechern) und bei der Rückwirkung der Reaktion auf Verbrechen in psychodynamischer, prozeßliafter Interdependenz. Zur Psychologie der Kriminalitätsursachen in der Gesellschaft ist erläuternd zu bemerken, daß die sozialen und ökonomischen Kriminalitätsursachen nicht nur unmittelbar auf die Psyche des Täters einzuwirken brauchen, sondern daß sie ihn auch indirekt über die Persönlichkeiten in seiner Umwelt zu beeinflussen vermögen. Zur Klarstellung ist schließlich noch hinzuzufügen, daß nicht nur eine Methode (ζ. B. die der Einzelfallstudie) kriminalpsychologisch bedeutsam ist. Vielmehr gibt es eine Fülle von kriminalpsychologischen Methoden, die — der jeweiligen kriminalpsychologischen Fragestellung angcpaßt •— angewandt werden. Vergleichsgruppentechnik steht neben Längsschnittuntersuchung und Einzelfallanalyse. Die Kriminalpsychologie bedient sich —· um nur einige Beispiele zu nennen —· der Beobachtung, des Interviews und des Fragebogens (auch des Persönlichkeitsfragebogens), der Soziometrie(z.B. der Familien- und Gruppendynamik, der Inter27 HdK, 2. Aufl., Bd. II

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aktionsanalyse), der Psychodiagnostik (u. a. der quantitativen Erfassung von Interessen und Einstellungen, der Intelligenztests, der Methoden der Ausdruckserfassung, der projektiven Verfahren, der objektiven Persönlichkeitstests und der Graphologie), der biographischen Methoden und der systematischen Inhaltsanalyse. Monographien K. G r a ß b e r g e r : Psychologie des Strafverfahrens. 2. Aufl. Wien—New York 1968. R. W. N i c e : Dictionary of criminology. New York 1965. Z e i t s c h r i f t e n - und S a m m e l w e r k a u f s ä t z e Κ. S. B a d e r : Kriminalpsychologie oder Forensische Psychologie. Psyche. 2 (1948) S. 442—448. H. K r ü g e r : Kriminalpsychologie — ein neues Arbeitsgebiet der Psychologie? Psychologische Kundschau. 1 (1950) S. 251—255 (bes. S. 254). W. M i t t e r m a i e r : Der gegenwärtige Zustand der Kriminalpsychologie. Bericht über den VII. Internationalen KongreB für Kriminalanthropologie (Hrsg. G. Aschaffenburg, Partenheimer). Heidelberg 1912 S. 277—287. R. S o m m e r : Der gegenwärtige Stand der Kriminalpsychologie. Bericht über den VII. Internationalen Kongreß für Kriminalanthropologie (Hrsg. G. Aschaffenburg, Partenheimer). Heidelberg 1912 S. 265—276. U. U n d e u t s c h : Vorwort zu „Forensische Psychologie". 11. Band des Handbuchs der Psychologie (Hrsg. U. Undeutsch). Göttingen 1967 S. V. A. L. W o o d : Social disorganization and crime. Encyclopedia of criminology (Hrsg. V. C. Branham, S. B. Kutash). New York 1949 S. 467.

II. HISTORISCHER ÜBERBLICK Ein ausführlicherer Rückblick in die Geschichte der Kriminalpsychologie (-»• Geschichte der Kriminologie) ist erforderlich, um die Eigenarten, Mängel und Probleme heutiger deutscher Kriminalpsychologie verständlich zu machen. Hierbei kann nicht nur rein chronologisch-aufzählend vorgegangen werden, weil eine solche Vorgehensweise verwirren würde. Vielmehr wird der Versuch unternommen, den historischen Überblick zu systematisieren. Denn es werden zwar einzelne vorherrschende Richtungen und Einflüsse im Laufe der Geschichte der Kriminalpsychologie erkennbar. Dennoch kehren alte Erkenntnisse und Fehler bis in die jüngste Zeit immer wieder, so daß es rationeller und verständlicher ist, diese Erkenntnisse und Fehler zusammenzufassen, um die Geschichte der Kriminalpsychologie durchsichtiger zu machen. A. Anfänge 1. Ursprünge

der

Kriminalpsychologie

Die Kriminalpsychologie entwickelte sich aus der gerichtlichen Medizin und aus der anekdotischen Darstellung von merkwürdigen Verbrechen und Verbrechern. Hans Schneickert (1919) behauptet, daß zu Anfang des 18. Jahrhunderts einige in lateinischer Sprache erschienene Werke über die damals sogenannte gerichtliche „Arzneikunde" kriminalpsychologische Themen enthiel-

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Psychologie des Verbrechens

ten; das erste Werk sei 1715 in Leipzig nachweisbar veröffentlicht worden. „Damals wurde die Psychologie noch als ein Teil der Philosophie angesehen und war noch beschränkt auf die psychologische Beurteilung des Täters und seiner Motive". Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775—1833) entdeckte Dante und Shakespeare für die Kriminalpsychologie. Friedrich Schiller hat in seiner Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre" (1786) mit der Schilderung von Minderwertigkeitskomplexen und Überkompensationen fast schon ein Stück Adlerscher Psychologie vorweggenommen. Sein Täter, der mehrmals wegen Wilderei verurteilt wurde, erhält ein Stigma auf den Körper gebrannt. Schiller macht dann die sekundäre Sozialabweichung so deutlich, wie man sie zu seiner Zeit nur zu schildern vermochte. In der Einleitung zu seiner Erzählung geht er auf die Komplexität der Psyche des Kriminellen ein: Die menschliche Seele ist etwas so Einförmiges und doch wieder so Zusammengesetztes. Eine und dieselbe Fertigkeit oder Begierde kann in tausenderlei Formen und Richtungen spielen, kann tausend widersprechende Phänomene bewirken, kann in tausend Charakteren anders gemischt erscheinen, und tausend ungleiche Charaktere und Handlungen können wieder aus einerlei Neigung gesponnen sein, wenn auch der Mensch, von dem die Rede ist, keine solche Verwandtschaft ahnt. In den „Räubern" schildert er zum erstenmal den „sozialen" Kriminellen (Röhrer 1927). Viel einfacherer psychologischer Methoden bediente sich Feuerbach in seinen „Merkwürdigen Kriminalrechtsfällen" (1808/1811) und seiner „Aktenmäßigen Darstellung merkwürdiger Verbrechen" (1828/1829). Feuerbach stellt den Typus des intellektualistischen Psychologen Leibnitz-Wölfischer Richtung dar, dem das Gefühl nur als eine getrübte Abart des Denkens erscheint, und der es als seine Aufgabe erblickt, dieses verworrene Denken interpretierend zu klarer Nachdenkbarkeit zu erheben, es in deutliche Begriffe zusammenzufassen und in die logischen Funktionsformen des Intellekts zu übersetzen, es nicht nur nach Ursache und Wirkung, sondern nach Grund und Folge zu ordnen, und zwar in echt intellektualistiscliem Systematikergeist, möglichst auf einen Grund, e i n e n Zweck, eine Leidenschaft zurückzuführen („Der Raubmörder aus Eitelkeit", „Der Mörder aus eingewöhnter Rachsucht"). Die Signaturen der Psychologie des 18. Jahrhunderts: Intellektualismus, Individualismus und Moralismus kennzeichnen auch Feuerbachs Psychologie (Radbruch 1910). Sie ist beeinflußt durch den Geist der Aufklärung. Mit einer intellektualistisch erscheinenden Vulgärpsychologie vermochte Feuerbach leicht künstlerische Erfolge zu ernten. Bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts (Mezger 1917 b) und wohl auch heute noch wird oftmals die Meinung vertreten, das Lesen von psychologischen Kriminalromanen bilde den

praktischen Kriminalpsychologen zum guten Menschenkenner. Diese Ansicht ist in dieser undifferenzierten Ausdrucksweise fehlerhaft (vgl. hierzu den Artikel „Kriminalroman"). Die ersten selbständigen Bücher über Kriminalpsychologie beschäftigten sich mit der Unsicherheit der Zeugenaussage und der Irrationalität des Richterspruchs (Eckartshausen 1783), mit der Bedeutung der Psychologie für die Strafrechtspraxis (Eckartshausen 1791), mit einem Entwurf zu einem Lehrbuch der Kriminalpsychologie (Schaumann 1792) und mit dem Einfluß der Kriminalpsychologie auf ein System des Kriminalrechts (Münch 1799). Der Kriminalpsychologe betrachtet die Erziehung, die der Verbrecher erhalten hat, die Schicksale, die er von Jugend an zu erleiden hatte, die Lage, in der er sich befand, als er zur Tat schritt, das Maß seiner Kenntnisse, die Reihe seiner vorhergehenden Handlungen, die Langsamkeit oder Geschwindigkeit, mit der er sein Verbrechen verübte, die Reizungen, die er dazu empfing, die Äußerungen, die er noch einige Zeit über die begangene Tat von sich gab, und das Temperament, das er von seinen Eltern annehmen mußte, wie sie es ihm mit in die Welt gaben (Eckartshausen 1791, S. 19). Wenn hier auch vieles in der Aufzählung ungeordnet durcheinander geht, so ist es doch schon erstaunlich, welche Gedanken man sich bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts über die praktische Seite der Kriminalpsychologie machte. Johann Christian Gottlieb Schaumann (1792) versteht unter Kriminalpsychologie ein System von psychologischen Kenntnissen, die sich auf die Natur der Verbrechen beziehen. Die Aufgabe der Kriminalpsychologie ist eine richtige Erklärung derjenigen Handlungen, die wir Verbrechen nennen (S. 91). Für Schaumann ist die Kriminalpsychologie bereits im Jahre 1792 eine „empirische Wissenschaft" (S. 113): Der Kriminalpsychologe sammelt Materialien seiner Wissenschaft aus der Erfahrung. Methoden seiner Untersuchungen sind Verhaltensbeobachtung, Ausdruckskunde und Biographie. Der Gegenstand seiner Beobachtung ist der handelnde Mensch, insbesondere aber der Verbrecher im weitesten Sinne des Wortes. Er sucht daher nach Fakten, die sich auf den Kriminellen beziehen (S. 109). 2. Kriminalpsychologische Forderungen an die Slrafrechtspflege Carl von Eckartshausen hat schon 1791 gefordert, daß der Strafrichter folgende Eigenschaften besitzen müsse: Kenntnis der menschlichen Seele, tiefe Erfahrung, einen lauteren und heiteren Blick, die Fähigkeiten, die geheimen „Räder" der Vorurteile, der Leidenschaften, des Temperaments und der Erziehung auf das genaueste zu erkennen, dem Gange der menschlichen Affekte in ihre verborgensten Wirkungen nachzuspüren und deren

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Psychologie des Verbrechens ins Unendliche verschiedene „Springfedern" mit stärkerem und schwächerem Eindruck, im allgemeinen und unter besonderen individuellen Verhältnissen zu beobachten (S. 16). Er beklagt sich über den Strafrichter seiner Zeit: Wie widersinnig und grausam ist das Verfahren desjenigen, der nichts anderes tut, als daß er der begangenen Tat ihren Namen gibt, im Gesetzbuch das Urteil aufsucht, das auf sie unter diesem „Namen" gesprochen wird, und ohne weitere Überlegung den schrecklichsten Ausspruch wagt, den ein Mensch gegen einen Menschen wagen k a n n . . . (S. 19). „Es schlummert sich so sanft im Bett der Formalitäten . . . " (Schaumann 1792, S. 63). Die Forderungen nach kriminalpsychologischen Kenntnissen und Fähigkeiten der Strafrechtspraktiker ziehen sich durch das ganze 19. Jahrhundert und sind auch heute noch so lebendig und aktuell wie eh und je. „Das Studium der Psychologie ist beim Juristen schon aus den zu seinem Fach erforderlichen Universitätsvorbereitungen vorauszusetzen." So schreibt Regnault im Jahre 1830. Jeder Richter soll ein Psychologe, ein verständiger Menschenkenner im strengsten Sinne des Wortes sein (Friedreich 1842, S. 50). Die Psychologie ist der eigentliche Schlüssel zum Strafrecht und zur Strafrechtswissenschaft (so Dankwardt 1863). Alle diese Forderungen und Feststellungen sind fast ungehört verhallt. Aus dieser Tatsache resultierte Resignation und ein tiefes Gefühl der Unzulänglichkeit gerade bei verantwortungsbewußten Juristen. Es ist kein Zufall und keine Bosheit, daß Julius von Kirchmann im Jahre 1848 vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin seinen Vortrag über die „Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" hielt. Im Jahre 1910 zieht Hans Reichel das Resumie: Es war der hochgeschraubte und einseitige Intellektualismus, in dem sich die Rechtswissenschaft des vergangenen Menschenalters gefiel. Juristische Probleme galten ihr als reine Verstandesfragen, die sich mit syllogistischer Dialektik restlos erledigen ließen. Gefühl und Wille, überhaupt alle die Dinge, denen keine Verstandeskategorie beikommt, wurden mehr oder weniger vollständig außer Betracht gelassen. Der Prototyp dieser durch und durch einseitigen und unzulänglichen Auffassung ist das lange Zeit hindurch führend gewesene Pandektenlehrbuch von Bernhard Windscheid. Die in diesem — von einer hervorragenden Persönlichkeit geschriebenen — Buch vertretene Methode und Anschauungsweise hat weithin Schule gemacht. Nicht wenigen Juristen des ausgehenden 19. Jahrhunderts kann der schwerwiegende Vorwurf kaum erspart bleiben, daß sie eine ungerechtfertigte und einseitige Vorliebe für rein verstandesmäßigen Dogmatismus, für an Scholastik gemahnende Begriffsidolatrie und philologische Spitzfindigkeit bezeugt haben. Daß hierbei die Psychologie, das Eingehen auf die komplizierten 27·

seelischen Vorgänge, die sich durch rein verstandesmäßige Betrachtungsweise nicht ergründen und erschöpfen lassen, zu kurz kommen mußte, liegt auf der Hand. Windscheid und seine Schüler waren Logiker und Dialektiker ersten Ranges, aber keine Psychologen. Die unpsychologische Vorgehensart so vieler Juristen hatte schlimme Folgen: Einmal führte sie zu einer starken und fühlbaren Isolierung der Rechtswissenschaft gegenüber anderen Wissenschaften, stellenweise sogar dazu, daß bei manchen Vertretern anderer Wissenschaften ein gewisses Gefühl der Geringschätzung gegenüber der Jurisprudenz als Wissenschaft aufkam. Zum anderen aber half sie, einen Schein von Berechtigung — wenn nicht teilweise sogar einen wirklichen Grund — zu geben für den oft gehörten und für unsere Rechtspflege so bitter kränkenden Vorwurf, sie sei lebensfremd. Eine unpsychologische Rechtspflege ist notwendigerweise lebensfremd. Wer die einzelnen Menschen, die vor ihm Recht suchen und am Recht leiden, nur als abstrakte „Fälle" ansieht und behandelt, die er rein logisch klügelnd zu meistern habe, hierüber aber völlig außer acht läßt, daß er lebendige Einzelmenschen mit Fleisch und Blut vor sich hat, dessen Entscheidung muß an Lebensfremdheit kranken. Die Forderungen nach kriminalpsychologischer Aus- und Weiterbildung der Juristen und nach kriminalpsychologischen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Strafrechtspflege sind auch heute noch in gleicher Weise gültig wie im Jahre 1791.

3. Zum Sinn der Strafe Es ist nicht willkürlich, daß am Anfang einer selbständig werdenden Kriminalpsychologie Äußerungen zum Sinn der Strafe standen, die auch gegenwärtig noch Gültigkeit beanspruchen können: Einen Menschen strafen, heißt, ihn in die Lage zu versetzen, das Böse wieder gutzumachen. Wenn ein Mensch nur darum leiden soll, damit er leide, so sieht der Kriminalpsychologe in diesen Leiden weder etwas Vernünftiges noch etwas Menschliches. Tod aber und fürchterliches Leiden bloß in der Absicht aufzuerlegen, das Verbrechen nicht unbestraft zu lassen, ist ein Einfall, über dessen Nichtigkeit, Unanständigkeit und Erniedrigung der Menschenwürde man vielleicht noch nicht reif genug nachgedacht hat (so Eckartshausen 1791, S. 20/21). Daß harte Strafen brutale Verbrechen verursachen, war schon 1791 bekannt (Eckartshausen, S. 35). Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts war in der Kriminalpsychologie die Ansicht durchaus herrschend, daß moralische Heilung oder wenigstens Besserung des Kriminellen allein eine Strafe rechtfertige und daß die Reaktionsmittel auf die Straftat entsprechend auszugestalten seien (Friedreich 1842, S. 16). Zu allen diesen frühen Erkenntnissen finden wir heute erst mühsam wieder zurück.

Psychologie des Verbrechens

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B. Theorien und Einflüsse 1. Deskriptive

Psychologie

Die Geschichte der kriminalpsychologischen Theorien und der Einflüsse auf die Kriminalpsychologie kennt zu verschiedenen Zeiten bestimmte Schwerpunkte, auf die noch einzugehen sein wird. In der Geschichte der Kriminalpsychologie ist aber immer wieder auch der Versuch gemacht worden, das Verbrechen auf eine Ursache (Monokausaltheorie) zurückzuführen oder den Kriminellen durch die einfache Aufzählung von Eigenschaften zu charakterisieren. Das gilt für die frühesten Anfänge bis zur Gegenwart. Bei der Sammlung von gemeinsamen Eigenschaften der Verbrecher oder von übereinstimmenden Bedingungen des Verbrechens mangelte es stets an der notwendigen Systematisierung (Faktorenanalyse). Bisweilen wurde versucht, einen bestimmten Verbrechertyp psychologisch zu beschreiben. Alle diese Versuche können zwar als gescheitert gelten. Einige hier beispielhaft darzustellen, gebietet aber nicht nur die wissenschaftliche Ehrlichkeit. Bei der Kritik der historischen Entwicklung wird vielmehr darauf zurückzukommen sein, warum man versuchte, den Kriminellen mit negativen Attributen und Persönlichkeitszügen zu kennzeichnen. „Es bedarf einer entschiedenen, einer evidenten Ableitung der Verbrechen aus dem Prinzip des Bösen. Man kann alle Verbrechen auf bloße menschliche Schwäche zurückführen." Johann Christian August Heinroth (1833) schreibt dann weiter (S. 45): Es ist das Wesen, und es sind die Bedingungen des Bösen zu bestimmen. Es ist sein Ursprung und seine Ausbildung im Menschen, es sind seine Verzweigungen in den Erscheinungen des gesamten Menschenlebens oder die Gestalten, die das Böse im Leben annimmt, mit ihren Grundzügen „wie in einem Gemälde" darzustellen, an dem die Verunstaltung des Menschen durch das Böse wahrzunehmen ist. Die Gefühls-, Denk- und Handlungsweise, wie sie sich, „durch das Böse vergiftet", in der ganzen Erscheinung des Menschen ausspricht und zur Quelle der Verbrechen wird, ist zu charakterisieren. Dieser naive, moralisierende Versuch, den Grund des Verbrechens in undifferenzierter Weise in dem „Bösen", in „menschlicher Schwäche" zu sehen, kennzeichnet bis zu einem gewissen Grade eine starke Richtung in der Kriminalpsychologie des 19. bis zu den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Julius Wilbrand (1858) macht es sich noch einfacher, indem er die Kriminalität ganz auf das „Wesen des Menschen" zurückführte. Etwas mehr Mühe gibt sich schon Krauss, der 1884 schreibt (S. 418/419): Die speziellen Triebfedern eines Verbrechens ergeben sich in weitaus den meisten Fällen aus einem vorherrschenden Charakterzug des Menschen. Genußsucht und Arbeitsscheu in immer inniger werdendem Bunde und gesteigerter Wechselwirkung sind

die bei weitem ergiebigste Quelle des kleinen und des großen Verbrechens. Denn dieser Bund demoralisiert nicht nur den Menschen in raschem Tempo, sondern er bringt auch die Not mit sich, die zum Verbrechen zwingt. Krauss nennt dann noch weitere „vorherrschende Triebfedern": Eigennutz, Lügenhaftigkeit, hohe Verstellungskunst und Selbstsucht. Nach Max Kauffmann (1912) sind ein zu schwach oder zu stark ausgeprägter Gesellschaftssinn, Mangel an Überlegen, Willensschwäche, Unreife und Neurasthenie für die Entstehung des Verbrechens verantwortlich, wobei er unter Neurasthenie eine übergroße Reizbarkeit des Zentralnervensystems versteht. „Das Verbrechen ist nichts anderes als eine Erscheinung des menschlichen Parasitismus." Der entartete Mensch versucht infolge seiner Schwäche und Hinfälligkeit, dem Gesetz des kleinsten Energieaufwandes folgend, seinen Nächsten auszunutzen, statt mit ihm ein Zusammenleben auf Grund von gleichwertigem Austausch zu führen (Bechterew 1914). M. Hamblin Smith (1922) führt Alkohol, üble Umgebung, Armut, schlechtes Erbgut, Mangel an Erziehung, Intelligenzdefekte und Krankheit als Verbrechensursachen an. Leichte Bestimmbarkeit, geringe Widerstandsfähigkeit, das Fehlen einer selbständigen Persönlichkeit, geringe Verstandesentwicklung und Haltlosigkeit sind — nach Gustav Aschaffenburg (1923) — die kennzeichnendsten Eigenschaften des Verbrechers. Allerdings mahnt Aschaffenburg auch zur Vorsicht (S. 205): Was bisher von den Eigenschaften des Verbrechers berichtet wird, ist, soweit es sich nicht um die allereiiifachsten Eigenschaften handelt, nur mit größter Vorsicht zu verwerten. Er hält es nicht für richtig, wenn gemachte Erfahrungen — häufig sind es nicht mehr als subjektive Eindrücke — als typische Eigenschaften der Verbrecher angesehen werden. Er sieht es deshalb ζ. B. auch nicht für berechtigt an, die Rechtsbrecher im allgemeinen als „gemütsroh" zu bezeichnen: Fällen der krassesten Brutalität und erschreckendsten Gefühlskälte stehen andere voll weichlichster Gutmütigkeit gegenüber, der größten Verlogenheit naive Offenheit, unverfrorenster Frechheit harmlose Fügsamkeit. Oft findet man die scheinbar widersprechendsten Eigenschaften bei demselben Menschen nebeneinander. Das kennzeichnet wieder — so meint Aschaffenburg — die Haltlosigkeit des Verbrechers: Von der jeweiligen Stimmung des Augenblicks fortgerissen, treten bald aufopfernde Hilfsbereitschaft, bald die schroffste Eigensucht hervor. Die methodenkritischen Einwände, die Aschaffenburg gegen Lombroso geltend gemacht hat, treffen ihn selbst, schreibt Hans von Hentig (1960, S. 332), und er fügt angenehm-selbstkritisch hinzu: Diese Einwände treffen uns alle. Der jeweilige kriminologische Wissensstand ist der Irrtum der sich schnell entwickelnden Kriminalpsychologie in der Zukunft. „Das Entscheidende

Psychologie des Verbrechens an allem Verbrechertum ist die Schwäche." Das ist die Ansicht von Andreas Bjerre (1925): Unter Schwäche versteht er in diesem Zusammenhang allgemeine Lebensuntauglichkeit und Unfähigkeit, den Anforderungen zu genügen, die das Dasein an jeden Menschen stellt, unabhängig von seinem sozialen Milieu und den übrigen äußeren Lebensbedingungen. Die grundsätzliche Übereinstimmung mit Aschaffenburg wird deutlich, obgleich Bjerre seiner allgemeinen Beurteilung noch einzelne Merkmale hinzufügt: Selbstbetrug, radikaler Mangel an Selbstvertrauen, unausrottbare Furcht vor dem Leben, ein „Scheinleben" und seelische Leere. Alle diese Kennzeichnungen galten für den Kriminellen ganz allgemein. Hans von Hentig hat nun neuerdings versucht, ganz bestimmte Verbrechertypen kriminalpsychologisch zu beschreiben: Der Desperado (1956 b) ist der dezivilisierte Mensch. Zu seinen auffälligsten regressiven Zügen gehört — nach von Hentig — seine Lebenskraft. Diese Vitalität ist eine Erbschaft tiernaher Vorzeit. Bei nicht wenigen Desperados richtet sich die Auflehnung nicht nur gegen die Gruppe, die ihnen feind ist, sondern gegen eine andere Ungerechte: die Natur. Bisweilen sind körperliche Mängel mit seelischer Dysfunktion verbunden. Diese weithin sichtbare Ungleichheit und diese grobe Benachteiligung stürzen das Individuum in innere und äußere Konflikte. Aber noch andere Bedeutungen umfaßt das Wort „Desperado". Mit ihm wird die Gleichgültigkeit angedeutet, die er gegenüber dem menschlichen Leben hat, sei es das eigene oder das der anderen. Ihn quält kalte, chronische, unberechenbare Verzweiflung. Die Blütezeit des Desperados fällt in die Jahre 1850 bis 1890. Sie beginnt mit dem mexikanischen Krieg und endet mit der letzten aller „Grenzen", dem Goldrausch in Alaska. Über den Gangster (1959 b) schreibt Hans von Hentig: Er ist ein manikürter Wilder, den der beste Schneider kleidet, der Kannibale mit dem Cadillac, der Mensch der Steinzeit, der durch unsere Mitte geht, Barbar im tiefsten Herzen und im Blut die Raubgier. In feinsten Restaurants umschwärmen ihn die Kellner. Die Frauen sehen ihm nach und spüren schnuppernd seine Animalität. Die tiefste Problematik aller Dinge, der Tod, ist bei ihm zum Geschäft geworden; er wird auf Wunsch und nach kulantem Preis geliefert. Der Mord wird als Ware ins Haus gebracht. Alle diese Charakteristiken — ob sie sich nun auf den Kriminellen allgemein oder einzelne Typen von Kriminellen beziehen — bleiben Stückwerk, weil sie die Differenziertheit und Dynamik der verbrecherischen Persönlichkeit nicht berücksichtigen und nicht beachten, daß der Unterschied zwischen kriminellen und nichtkriminellen Menschen kleiner ist als die psychologische Verschiedenartigkeit der kriminellen Population selbst. Die kriminelle Population in relativ psychisch-

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homogene Tätergruppen zu klassifizieren und diesen Gruppen unterschiedliche Straf- und Behandlungsarten zuzuordnen, ist eine Aufgabe, deren Lösung die Kriminalpsychologie bis heute nicht erreicht hat. 2. Die Kriminellen als menschliche a) Unterschiedliche

Eigengruppe

Konzeptionen

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die guten ersten Ansätze zu einer empirischen Kriminalpsychologie (Schaumann 1792, Friedreich 1842) in Vergessenheit geraten. Die rein deskriptive Psychologie vermochte — ohne zureichende Forschungsmethoden, die ihr erst heute zur Verfügung stehen — ihren ohnehin schon recht dürftigen Aussagen nichts wesentlich Neues mehr hinzuzufügen. Kurella bemerkte 1893 über die deskriptiven Ansätze: Die bisherigen Resultate der Kriminalpsychologie bestehen im wesentlichen in der Aufzählung von Adjektiven und abstrakten Substantiven aus dem allgemeinen Sprachgebrauch, die zur Schilderung des Charakters der Verbrecher verwendet werden. Faulheit, Leichtsinn, Unbeständigkeit, Eitelkeit, Sorglosigkeit, Rachsucht, Grausamkeit, brutale Genußsucht, Gewissenlosigkeit, Mangel an Reue, Verlogenheit, Verschlagenheit, Hinterlist sind diesen Arbeiten das letzte Resultat der Analyse des empirischen Materials. Die Medizin hatte sich inzwischen des Feldes ohnehin fast vollständig bemächtigt. Nunmehr stieß Cesare Lombroso (1836—1909) mit seiner Hypothese vom „geborenen Verbrecher" in eine Leere, die er auszufüllen wußte. Er hatte in Attmeyer (1842) und Sampson (1846) allerdings schon Vorläufer, die — anknüpfend an die Phrenologie Franz Joseph Galls (1758—1828) — Beziehungen zwischen Verbrechertum und Eigenheiten der Schädelform und Hirnorganisation herzustellen suchten. Mörderphysiognomien hatte Johann Ludwig Casper 1854 herauszuarbeiten versucht. Aufgrund von eingehenden Beobachtungen an 21 Mördern kam er zu folgendem Schluß: Nicht das „Galgengesicht" eines Angeklagten soll der Maßstab eines Urteils über ihn sein. Eine unscheinbare, ja eine gewinnende Physiognomie darf niemals einen Freibrief für einen Angeklagten bilden (Gruhle 1939). Lombrosos Lehre im engeren Sinne ist zwar heute widerlegt, obgleich bestimmte Varianten seiner Gedanken bis in die jüngste Zeit weiterwirken. Immerhin hat er aber durch seine Aktivität der Kriminalpsychologie seiner Zeit mächtige Anstöße gegeben. Lombrosos Gedankenführung ist von der Darwinschen Evolutionstheorie und von Rudolf Virchow (1821—1902) maßgebend beeinflußt worden. Der Verbrecher ist Ausdruck eines Rückschlags in phylogenetische Vergangenheit. Atavismus und Degeneration spielen in diesem Gedankengebäude eine entscheidende Rolle. Lombroso

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Psychologie des Verbrechens

versuchte zu beweisen, daß alle echten Verbrecher eine bestimmte, in sich kausal zusammenhängende Reihe von körperlichen, anthropologisch nachweisbaren und seelischen, psychophysiologisch verbürgten Merkmalen besitzen, die sich als eine besondere Varietät, einen eigenen anthropologischen Typus des MenschengescMechts, charakterisieren und deren Besitzer ihren Träger mit unentrinnbarer Notwendigkeit zum Verbrecher — wenn auch vielleicht zum unentdeckten •— werden läßt, ganz unabhängig von allen sozialen und individuellen Lebensbedingungen. Ein solcher Mensch ist einfach zum Verbrecher geboren. Die vorherrschenden Kennzeichen dieses Menschentypus, so lehrte Lombroso, bestehen bei Verbrechern in der enormen Entwicklung der Kinnlade, in der Spärlichkeit des Bartwuchses, in der Fülle des Haupthaars; in zweiter Linie stehen die „Henkelohren", die fliehende Stirn, das Schielen und die krumme Nase. Die Unempfindlichkeit gegen Körperschmerz und Gemütseindrücke erklärt bei Verbrechern und Wilden die Gleichgültigkeit gegen das Leben anderer und gegen das eigene Leben, mehr noch die Grausamkeit, mit der sie sich zur Befriedigung von Rache, Haß oder aus Gewohnheit an den Leiden anderer weiden. Rachedurst, Prahlen mit dem Verbrechen selbst, Trunksucht, Spiel und Wollust sind die einzigen den Verbrecher bewegenden Triebe. Er weiß zwar, was Gerechtigkeit ist; er hat aber kein Gefühl dafür. Seine Moral und seine Religion sind Zerrbilder im Dienste seiner Leidenschaften (Lombroso 1881, 1883, 1887 und 1894). Die Auffassung des Verbrechers als eines in unsere zivilisierte Welt hineingeborenen Wilden wurde nicht einfach als Metapher betrachtet, sondern streng als wissenschaftliche These im Sinne des Darwinismus und der Biologie angesehen (Fern 1896, S. 27). Die Kraniologie (Schädellehre) „der beiden Hauptgruppen" von Verbrechern, der Mörder und der Diebe, zeigt, daß sie im Vergleich mit normalen Individuen gleicher Herkunft einen niederen Grad der Schädelentwicklung haben neben einer größeren Häufigkeit atavistischer und pathologischer Anomalien, die an einzelnen Individuen oft in merkwürdiger Anhäufung auftreten. Auch am Gehirn finden sich — neben auffällig zahlreichen pathologischen Befunden — morphologische und histologische Charakteristiken einer tieferen Entwicklungsstufe. So lehrte Enrico Ferri (1896, S. 29). Einen Beweis für die Vererbung der Kriminalität und für die Beziehungen zwischen Kriminalität, Geisteskrankheit und Prostitution sah Lombroso (1902, S. 145/146) im Anschluß an die Darstellung von Dugdale am Beispiel der Familie Juke gegeben. Stammvater dieser Familie war der im Jahre 1720 geborene Max Juke, der eine zahlreiche legitime (540 Individuen) und illegitime Nachkommenschaft (169 Individuen) hatte. Lombroso schreibt (1902, S. 145): Alle Ver-

zweigungen dieser Deszendenz bis auf unsere Zeit herab konnten zwar nicht ermittelt werden. Indessen hat man doch die Familien von fünf Töchtern, von denen drei Prostituierte waren, ehe sie heirateten, und von einigen Seitenlinien sieben Generationen hindurch verfolgen können. Lombroso stellt das Ergebnis in Schaubild 1 (1902, S. 146) dar. Schaubild 1 Max Juke 76 Delinquente 181 Prostituierte 131 Impotente, 142 Vagabunden 18 Pächter von Idioten oder und Bettler Bordellen Syphilitiker 64 Arme 91 Illegitime 46 Sterile Dieses Beispiel veranschaulicht recht gut die Methode und die methodischen Mängel der Lombrososchen „Forschungen". Kurella (1893) versuchte, Lombrosos Grundhypothese gegen mannigfache Angriffe in Deutschland zu verteidigen: Diese Hypothese will durchaus nicht bestreiten, daß erworbene Eigenschaften des Individuums oder soziale Einflüsse (Erziehung, Gewohnheit, Verführung) ihre Träger auch gelegentlich zu einem Verbrecher bestimmen können. Vielmehr erkennt sie in ihrer weiteren Ausbildung vollkommen die Existenz von Leidenschafts-, Gelegenheits- und Gewohnheitsverbrechern an. Aber sie sucht die Erklärung dafür, daß es Verbrechernaturen gibt, in der angeborenen Disposition. Diese Disposition hat als ihre Zeichen gewisse nicht durch Krankheit bedingte körperliche Eigentümlichkeiten, als ihre wesentlichen Bestandteile bestimmte, unverkennbar von den Symptomen geistiger Erkrankung verschiedene Fundamentaleigenschaften des Charakters und des Gefühlslebens, deren Kenntnis psychologisch begreifen läßt, wie ihre Träger Verbrecher und nichts anderes werden müssen. Auch in England und den USA fand Lombroso — allerdings höchst kritische — Gefolgsleute. Charles Buckman Goring (1870—1919) verurteilte nicht so sehr die von Lombroso gefundenen Ergebnisse als die von ihm angewandten Forschungsmethoden (Driver 1960, S. 336). In seiner Untersuchung „The English convict: a statistical study" verglich Goring (1913) 996 Gefangene mit 1000 Studenten aus Oxford. In den Schädelmaßen, den Nasenformen, der Farbe der Augen und der Haare und in der Linkshänderschaft fand er keine statistisch signifikanten Unterschiede. Die Kriminellen waren allerdings etwas kleiner und wogen nicht so viel wie die Nichtkriminellen. Goring interpretierte diese signifikanten Unterschiede als Indikatoren für eine „angeborene Minderwertigkeit" der Kriminellen. Gorings Studie wurde von Ernest Α. Hooton (1931,1939) wiederholt und in ihrer Methode

Psychologie des Verbrechens und ihren Folgerungen kritisiert. Hooton verglich eine kriminelle Experimentalgruppe von 13873 Personen mit einer Kontrollgruppe von 17 076 Probanden (darunter 1227 Geisteskranken). Er fand heraus, daß die Kriminellen den Nichtkriminellen in nahezu allen Körpermaßen unterlegen waren. Körperliche Minderwertigkeit war mit geistiger verbunden. Beide beruhten — nach Hooton — auf Vererbung. Obgleich Gorings Forschung acht Jahre und Hootons Untersuchungen sogar zwölf Jahre dauerten, weisen beide statistischen Studien nach unseren heutigen Erkenntnissen erhebliche methodische Unzulänglichkeiten und Widersprüche auf. Insbesondere ist die statistische Beziehung zwischen körperlicher Anomalie und Kriminalität unecht, weil sie intervenierende Variablen (Interaktion im statistischen Sinne) nicht ausreichend berücksichtigt und weil sie nicht klärt, wie und unter welchen Bedingungen die körperliche Anomalie auf die Kriminalität einwirkt. Man könnte beispielsweise daran denken, daß die körperlichen Abnormitäten Minderwertigkeitsgefühle verursachen, die ihrerseits zur Entstehung der Kriminalität beitragen, oder auf Lebensbedingungen der damaligen Unterschicht beruhten (Unterernährung, schlechte Wohnbedingungen usw.), so daß sich die kriminelle Gruppe nicht genügend körperlich und psychisch zu entwickeln vermochte und die Kriminalität demzufolge eher ein soziales Problem darstellte. Lombrosos „Erfindung" vom „geborenen Verbrecher" fiel selbst bei seinen Gegnern auf fruchtbaren Boden und wirkte in mancherlei kuriosen Spielarten weiter. Letztlich geht auch die zeitweilige Vormachtstellung der -*• Kriminalbiologie über die Kriminalpsychologie, die heute im westlichen Kontinentaleuropa noch nicht völlig überwunden ist, auf Lombroso zurück. Er hat darüber hinaus das Augenmerk der Kriminologie viel zu einseitig auf die Eigenarten der Kriminellen gerichtet und in der Gesellschaft den Pharisäismus wissenschaftlich bestätigt, eine Minderheit zu stigmatisieren und in letzter Konsequenz auszurotten. Robert Sommer schreibt 1904: Es gibt Menschen, bei denen sich Krankheitsprozesse oder pathologische Zustände bekannter Art nicht nachweisen lassen, während sie einen Hang zu verbrecherischen Handlungen haben. „Dies ist der unbestreitbare Kern der Lehre vom geborenen Verbrecher, die sich, von der Hülle des psychiatrischen Dogmas befreit, immer deutlicher als eine kriminalpsychologische Tatsache herausstellen wird" (S. 309). Sommer fährt fort: Das dominierende Hervortreten einer angeborenen Anlage ist freilich nur bei einer relativ kleinen Gruppe von Verbrechern festzustellen; sie bilden hingegen den eigentlich gefährlichen Brennpunkt in der mannigfaltigen Gesamtheit der Verbrecherpopulation, das unverbesserliche Element, um das sich die Verführten und sozial Entgleisten scharen. „Der geborene

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Verbrecher ist ein sozial für immer unbrauchbares Individuum und muß als solches von der Gemeinschaft ferngehalten werden . . . Das ist der gute und unzerstörbare Kern der Lombrososchen Lehren" (Gaupp 1905, S. 41/42). Das vertraten Kriminologen, die der Lombrososchen Lehre im engeren Sinne durchaus kritisch und ablehnend gegenüberstanden. Zunächst versuchte man, den pathologischen Symptomenkomplex des „Moral insanity", den der englische Physiologe und Anthropologe James Cowles Prichard 1835 geschaffen hatte, mit dem Konzept des „geborenen Verbrechers" zu verbinden (Kovalevsky 1903). Unter „Moral insanity" verstand man angeborene Entartungszustände, bei denen sich schwere moralische Defekte neben guter oder durchschnittlicher Verstandesentwicklung finden und andere Zeichen geistiger Störung fehlen (Muralt 1903): Was schon das Kind zum Verbrecher bestimmt, ist die absolute oder relative Unfähigkeit, durch moralische Begriffe im Handeln geleitet zu werden, weil diese Begriffe nicht klar genug ausgebildet wurden oder weil sie der Gefühlsbetonung ermangelten. Menschen miteinem erheblichen Defekt dieser Art müssen, unter welchen Verhältnissen sie immer leben, zu Verbrechern werden und sind dann auch Verbrecher, ob sie von der Polizei entdeckt werden oder nicht. Es ist also, psychologisch oder anthropologisch aufgefaßt, immer die gleiche Klasse von Menschen, die zu allen Zeiten und an allen Orten durch schlechte geistige Organisation dazu verleitet wird, die Gesetze zu mißachten (E. Bleuler 1896). Kurella (1893) nennt als wichtige seelische Eigenschaften und als Merkmale des „geborenen Verbrechers" Grausamkeit, Reuelosigkeit, Ehrlosigkeit, Eitelkeit, Sorglosigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft, Gaunersprache, häufige und absonderliche Tätowierungen. Die Grundstörung ist die rudimentäre Entwicklung des Gefühlslebens. Die Verbrechernatur wird von der Souveränität des Augenblicks beherrscht. Andere Forscher sehen im Fehlen von Mitleid, Ehrlichkeit und Scham die wichtigsten Charaktereigenschaften des „geborenen Verbrechers" oder betonen namentlich seine Impulsivität und Faulheit. Der Verbrecher, immer ein Parasit, ist dabei oft reizbar, labiler Stimmung, von erregbarem Temperament, zu Zornausbrüchen geneigt. Gaupp (1905) sieht keinen wissenschaftlichen Unterschied zwischen moralischem Irresein („moral insanity") und angeborener Verbrechernatur („geborenem Verbrecher"). Auch nach Ziehen (1928) ist für die Entstehung des Verbrechens ein in der Anlage begründeter, angeborener ethischer Defekt verantwortlich. Er äußert die Meinung, daß bei denjenigen Individuen, die man gewöhnlich unter der Bezeichnung „Moral insanity" zusammenfaßt, nicht nur ein Fehlen ethischer Gefühle, sondern zugleich eine abnorm starke Entwicklung des

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Psychologie des Verbrechens

Hangs zum „Bösen" (Schadenfreude, Grausamkeit, Bosheit, Heimtücke, Mißgunst und Unwahrhaftigkeit) besteht. Eine aus der damaligen Situation der Zeit zwar verständliche, aber nichtsdestoweniger unangemessene Abwandlung erfuhr das Konzept des „geborenen Verbrechers" bei den Kriminalpsychologen, die es zwar als psychiatrisch-anthropologisches Dogma ablehnten, es aber ins Soziale zu übersetzen versuchten (Baer 1893, Näcke 1897, Kauffmann 1912, S. 97/98): Um das abweichende psychologische Verhalten der Gewohnheitsverbrecher zu fixieren, gilt es, von normalen, adäquaten Zuständen auszugehen, also von der Psychologie des „niederen Volkes", dem die Rezidivisten meist entstammen. Unter „niederen Schichten" versteht man die „dienende" Klasse, die Handund Fabrikarbeiter, weiter aber auch den ungebildeten Bauernstand. Beim niederen Volk sind -> Aberglaube und Suggestibilität, geringe Intelligenz, Willensschwäche und Faulheit außerordentlich verbreitet. Es ist lediglich auf die Befriedigung der nächsten Bedürfnisse bedacht und ethisch abgestumpft. Auch sein Gewissen ist in geringem Maße ausgebildet, und sein Gemüt steht auf niedriger Stufe. Näcke versteigt sich 1897 zu folgenden Äußerungen: „Wollen wir mit Darwin reden, so können wir sagen, daß bei den unteren Schichten die geistig-sittliche Entwicklung den Zustand einer frühen Epoche darbietet, daß die höheren Stände den weiteren Fortschritt zeigen, wie es auch anatomisch sehr wahrscheinlich ist" (S. 93). „Wir sehen überall . . . bereits sämtliche Charaktereigentümlichkeiten des Verbrechers schon im gemeinen Manne angedeutet, und zwar nicht immer in so geringem Maße" (S. 96). „Die Psychologie der niederen Volksklassen, aus denen die Verbrecher kommen, wird nicht genug in Betracht gezogen. Umgeht man diesen Fehler, so zeigt sich, daß es hier kaum etwas Spezifisches gibt, nur Quantitätsunterschiede, die nicht so groß sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen" (S. 98). Der Verbrecher trägt die Spuren der Entartung an sich, die in den niederen Volksklassen häufig vorkommen, die durch die sozialen Lebensbedingungen erworben und vererbt, bei ihm bisweilen in potenzierter Gestalt auftreten (Baer 1893, S. 411). Obgleich das kriminalanthropologische Konzept des „geborenen Verbrechers" in den angloamerikanischen Ländern keinen so breiten und nachhaltigen Einfluß wie auf die Kriminologie des westlichen Kontinentaleuropas gehabt hat, ist die soziale Abwandlung dieses Konzepts in England und Nordamerika gleichwohl bedeutsam geworden (Carpenter 1872, Brace 1880, Tobias 1967). Aus den „gefährlichen Klassen" (dangerous classes), die arbeitsscheu sind und das soziale Stigma des Mißerfolgs an sich tragen, rekrutieren sich die Gewohnheitsverbrecher. Zentren der Übervölkerung,

der Armut und des Elends waren seinerzeit besonders London, Liverpool und Glasgow. In Europa waren Armut und Kriminalität besonders tief miteinander verwurzelt. Die „gefährlichen Klassen" in New York zeichneten sich demgegenüber durch außergewöhnliche Gewaltsamkeit aus (Brace 1880, S. 27). Auch der Krawall von 1871 in New York wurde den „gefährlichen Klassen" angelastet. Für sie ist nur Hilfe möglich, wenn sie unter christlichen Einfluß gebracht werden (Carpenter 1872, S. 131). Eine kuriose Variante des „geborenen Verbrechers" besteht schließlich darin, daß Alexander Jassny (1911) mit anfechtbaren Hypothesen eine spezielle „Psychologie der Verbrecherin" zu begründen versuchte. b) Kritik Lombroso hat die Kriminalanthropologie begründet, die Wissenschaft von einem einzelnen Typus oder einer Varietät des Menschen (Ferri 1896, S. 26). Gerade die modernsten Dunkelzifferuntersuchungen haben aber das empirisch bestätigt, was viele Kriminalpsychologen schon recht früh behaupteten: Jeder Mensch hat kriminelle Neigungen. Die Kriminalität ist auf alle Bevölkerungsschichten verteilt, wenn sie ihrer Art nach auch in den einzelnen Schichten unterschiedlich sein mag (E. Wulften 1908,1. Bd., S. 109 bis 116; Karpman 1935; Mullins 1944). Es gibt des weiteren weder einen einheitlichen anthropologischen Verbrechertypus noch eine bestimmte kriminelle Klasse (Holmes 1912, Gummersbach 1938). Adolf Baer (1893), einer der eifrigsten Kritiker Lombrosos in Deutschland, schreibt dazu: „Wir gehen sicher nicht zu weit, wenn wir das Vorhandensein eines Verbrechertypus im anthropologischen Sinne völlig leugnen; es fehlt diesem Begriff jede Unterlage eines naturwissenschaftlichen Beweises. Wir geben auch nicht einmal die Existenz eines Verbrechertypus in dem Sinne zu, daß dem Verbrecher Eigenschaften oder Eigentümlichkeiten zukommen, wie sie durch soziale oder professionelle Einwirkungen gewissen Berufsgruppen zuerteilt werden." Baer (1893) ist allerdings gleichwohl von dem Konzept Lombrosos — wie die meisten Kritiker Lombrosos — dahingehend beeinflußt worden, daß er eine enge Beziehung zwischen unteren Schichten und Kriminalität annahm. Daß diese Beziehung auf kriminalpsychologischen Selektionsprozessen beruht, auf die in diesem Beitrag noch sorgfältig einzugehen sein wird, ist erst in jüngster Zeit von nordamerikanischen Forschern herausgearbeitet worden. Der Versuch, einen besonderen, verbrecherischen, atavistischen Typus zu schaffen, scheiterte an der Tatsache, daß diesem Typus kein einziges anatomisches Merkmal eigen ist, das nicht bestritten worden ist und bezüglich dessen keine mehr oder minder wesentlichen Meinungsverschiedenheiten in der Wissenschaft bestanden haben (Bechterew

Psychologie des Verbrechens 1914, S. 10). Lombrosos Forschungsmethoden waren schon zu seiner Zeit — selbst bei seinen Anhängern — kritischen Einwänden ausgesetzt: Er hatte keine angemessenen Kontrollgruppen gebildet. Subjektive Eindrücke und Erfahrungen sollten quantitative Analysen ersetzen. Selbst seine Untersuchungen an individuellen Rechtsbrechern waren statisch und nicht prozessualdynamisch orientiert (Μ. E. Wolfgang 1960, S. 194). Schon Lombroso mußte seine ursprünglichen Behauptungen von „dem" Verbrecher so weit einschränken, daß er zuletzt nur noch 3 5 % bis 4 0 % als körperlich charakterisiert bezeichnete. Die Lehre vom „geborenen Verbrecher" ist überhaupt nicht nachweisbar; denn die Worte „geborener Verbrecher" wollen besagen, daß es Menschen gibt, die von Geburt an mit Naturanlagen ausgestattet sind, die sie später mit Notwendigkeit zu Verbrechern werden lassen. Da ein Neugeborener keine Verbrechen begehen kann, vielmehr zwischen Geburt und Beginn der Kriminalität immer eine geraume Zeit vergeht, so ist ein zwingender Beweis für die Annahme einer angeborenen Verbrechernatur nicht zu führen (Gaupp 1905, S. 25/26). Auch der Begriff des „Moral insanity" stieß in der Kriminalpsychologie auf zunehmende Ablehnung (Näcke 1902, S. 37) und ist heute völlig aufgegeben. William Healy ermittelte bei seiner ersten großen kriminalpsychologischen Reihenuntersuchung an 1000 Rückfalltätern keinen einzigen Fall, auf den der Symptomenkomplex „Moral insanity" zutreffend gewesen wäre (1915, S. 782/783). Immerhin hat Lombrosos Lehre vom „geborenen Verbrecher" einen bedeutsamen, von dauernden Wirkungen begleiteten Anstoß zu einer nicht nur physiologischen, sondern auch psychologischen Analyse des rechtsbrechenden Menschen gegeben (Reichel 1910, S. 14). Sie hat allerdings die kriminalpsychologische Forschung auch in eine sehr verengte, einseitige Richtung gelenkt, in eine Begrenzung auf „Verbrecherpsychologie" und insbesondere auf ererbte „Anlagen" des unverbesserlichen Verbrechers, die in der deutschen Kriminologie eine ungute Rolle gespielt hat und auch heute noch keineswegs völlig aufgegeben ist. 3. Physiologische

und experimentelle

Psychologie

Als die Lehre vom „geborenen Verbrecher" schon etwas zu verblassen drohte, machte Hans Groß (1898) den Versuch, die bedeutsamen Fortschritte, die die physiologische und experimentelle Psychologie gemacht hatten, auf die Kriminalpsychologie zu übertragen. In seiner „Kriminalpsychologie" macht er den Juristen mit den damals neuesten Forschungsergebnissen der physiologischen und experimentellen Psychologie—ζ. B . anknüpfend an die Lehren Gustav Theodor Fech-

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ners (1801—1887) — bekannt: mit Reflexbewegungen, mit Sinneswahrnehmungen, mit Denkvorgängen, mit Assoziationen, mit psychischen Phänomenen wie Erinnerung, Gedächtnis, Wille und Gefühl und mit Sinnestäuschungen. Auch Paul Pollitz (1909) äußert die Auffassung: In erster Linie findet die Kriminalpsychologie ihre Grundlage in den Lehren der normalen Psychologie, insbesondere in der in unserer Zeit durch Wilhelm Wundt (1832—1920) und seine Schule lebhaft geförderten experimentellen, „physiologischen" Psychologie, die gewissen Erscheinungen seelischer Vorgänge zum Teil auf dem Wege objektiver Untersuchung und Messung näherzukommen sucht. Trotz der durchaus verdienstvollen Bemühungen von Hans Groß (1847—1915) blieb der Einfluß der physiologischen und experimentellen Psychologie auf die Kriminalpsychologie nicht allzu nachhaltig. Das lag gewiß zu einem Teil an dem Aufkommen der Freudschen Psychoanalyse und der Adlerschen Individualpsychologie. Der Hauptgrund für den mangelnden Erfolg der experimentalpsychologischen Richtung in der Kriminalpsychologie besteht indessen darin, daß sie für den kriminalpsychologischen Forscher und Praktiker lediglich allzu abstrakte und praxisferne Ergebnisse hervorzubringen vermochte. Karl Birnbaum schreibt 1931: Die experimentellen Methoden zur Feststellung von Merkfähigkeit, Auffassung und Assoziationstätigkeit können keinen Anspruch auf besondere kriminalpsychologische Bedeutung erheben. Es handelt sich im Grunde nur um „methodologischen Kleinkram", der vor allem lebensfern und wirklichkeitsfremd ist. Die experimentellen Methoden zerstückeln zudem die lebendige Persönlichkeit und ihre seelischen Äußerungen in isolierte, künstliche Teile und reichen in keiner Weise aus, die allgemeine Eigenart krimineller Tendenzen, die Höhe der kriminellen Reizschwelle und die Art und Intensität der kriminellen Reaktionen einwandfrei festzustellen. Immerhin verdient die Tatsache festgehalten zu werden, daß Hans Groß erstmalig auch die richterliche Vernehmungstechnik in die Kriminalpsychologie einbezogen hatte und daß die experimentelle Richtung in der Kriminalpsychologie wertvolle Vorarbeiten zur Entwicklung einer Aussagepsychologie (-*• Forensische Psychologie) leistete. Adolf Lenz (1916) kennzeichnete die Verdienste der Großschen Kriminalpsychologie folgendermaßen: Die Verhörslehre handelt davon, wie die Angaben der Auskunftsperson vom Richter aufzunehmen sind („aufnehmendes Moment"), welche Fehler der Richter bei der Verwertung des Aufgenommenen zu vermeiden hat („konstruktives Moment") und welchen Fehlern die Auskunftsperson selbst bei ihrer Beobachtung unterworfen ist. Derart bearbeitete Groß die Psychologie des Zeugen, des Sachverständigen und des Geschworenen.

Psychologie des Verbrechens

426 4. Angewandte

Psychologie:

Mehrfaktorenansatz

Als Reaktion auf die experimentalpsychologische Richtung in der Kriminalpsychologie betonten einige Forscher die praktisch anwendbaren Bezüge der Psychologie. Viel zu lange hatten allein die physiologische und experimentelle Psychologie als „wissenschaftlich" gegolten. Man stellte sogar der wissenschaftlichen Psychologie eine sogenannte Erfahrungspsychologie gegenüber und fragte sich ernsthaft, ob die „Menschenkenntnis" nicht bloß eine Kunst sei, die man nicht erlernen könne. Ein fleißiges Studium der Psychologie und die Kenntnis ihrer allgemeinen Gesetze und Resultate nützen in der Praxis des Lebens oft sehr wenig. Wenn man sich komplexen Charakteren und zusammengesetzten Lebensverhältnissen gegenübersieht, dann steht man oft hilflos da. Die Psychologie, die aus der Erfahrung und aus der Beobachtung lernt — und das ist ein immens großes Gebiet —, ist nur vernachlässigt worden, weil die Experimentalpsychologie und die sogenannte physiologische Psychologie lange Zeit dieses ganze Gebiet beherrschten. So beklagte sich Mezger (1917 b), und er äußerte die heute kaum noch bezweifelte Auffassung: Jedes große Lebens- und Erfahrungsgebiet, auch die „praktische Menschenkenntnis", ist wissenschaftlicher Behandlung, Vertiefung und Vervollkommnung fähig. Diese Art Psychologie, gewonnen aus der Erfahrung und wissenschaftlich bearbeitet für die Erfahrung, ist es, die der Jurist braucht und die mehr und mehr für ihn zum unentbehrlichen Hilfsmittel praktischer Rechtspflege werden wird. Im Jahre 1902 hatte Franz von Liszt (1851 bis 1919) bereits auf die nützliche Verbindung von Einzelforschung und kriminologischer Forschungsstatistik hingewiesen, die er von der amtlichen Rriminalstatistik unterschied (v. Liszt 1905 c, 5. 413): Die systematische Massenbeobachtung selbst, also die Sammlung und Darstellung des Urmaterials sowie die Herausgabe des Tabellenwerks und seine Erläuterung, geht über die Kräfte des einzelnen hinaus; hier muß der staatliche Verwaltungsapparat eingreifen. Die kausale Betrachtung aber, die Verarbeitung und Verwertung des durch die Massenbeobachtung gewonnenen Materials, ist Sache des einzelnen Forschers; hier hat die freie, rein wissenschaftliche Tätigkeit einzusetzen. An anderer Stelle (S. 417) fährt er fort: Neben die systematische Massenbeobachtung, also die Statistik, muß die systematische Einzelbeobachtung treten. Nur sie vermag uns über die individuelle Gestaltung der verbrecherischen Laufbahn, über Ursache und Zeitpunkt des sozialen Schiffbruchs, über die grundlegende Unterscheidung von akuter und chronischer Kriminalität sowie endlich über die Sonderstellung aufzuklären, die innerhalb der chronischen Kriminalität dem gewerbsmäßigen Verbrechertum zukommt. Er

fügt dem allem schließlich ein Bekenntnis hinzu, das den Stellenwert beleuchtete, der der Kriminologie innerhalb der gesamten Strafrechtswissenschaft damals zukam: Seit einer Reihe von Jahren bemühe ich mich, meine Schüler für kriminologische Arbeiten zu gewinnen; bis in die jüngste Zeit hinein vergebens. Das läßt sich auch verstehen. Mag eine solche Arbeit auch ungleich höheren wissenschaftlichen Wert besitzen als die landläufigen Dissertationen über längst erschöpfte dogmatische Fragen, es wird heute doch recht schwer halten, mit ihr den juristischen Doktor zu erwerben. „Der Zopf einer eingebildeten Gelehrsamkeit wird nicht von heute auf morgen fallen." Im Jahre 1922 war es endlich so weit, daß man die im 19. Jahrhundert in so großer Zahl blühenden Monokausaltheorien als unbrauchbar entlarvte und zu der Erkenntnis gelangte, daß es nur selten eine einzige Ursache gibt, die zum Verbrechen führt. Meist findet ein Zusammenwirken mehrerer Ursachen statt. Die dabei denkbaren Kombinationen sind sehr zahlreich (Göring 1922, S. 174). Wozu man allerdings noch nicht vorzudringen vermochte, war die Einsicht, daß die zahlreichen Faktoren nicht nur Strukturen bilden können, sondern daß sie auch in dynamischer Interdependenz zu stehen vermögen. 5.

Psychoanalyse

Die psychoanalytische Richtung in der Kriminalpsychologie steht in schärfstem Gegensatz zur Lombrosolehre. So erklärt sie die Bestrebungen dieser Schule, eine scharfe Grenze zwischen Kriminellen und „Normalen" aufzurichten, als aus dem narzißtischen Wunsche der betreffenden Wissenschaftler entsprungen, sich und ihre „normalen" Mitmenschen von den Kriminellen als von einer biologisch durch leicht erkennbare körperliche Merkmale unterscheidbaren „Rasse" eindeutig abzusondern. Die psychoanalytische Erforschung des unbewußten Seelenlebens führt demgegenüber zu der Einsicht, daß der sozial angepaßte Teil des Menschen ein spätes und relativ labiles Entwicklungsprodukt ist, während sich in dem quantitativ und dynamisch mächtigeren Kern der Persönlichkeit Normale und Kriminelle nicht unterscheiden. Der Mensch kommt als kriminelles, d. h. sozial nicht angepaßtes Wesen auf die Welt. Während es dem Normalen gelingt, seine kriminellen Triebregungen teils zu verdrängen, teils im Sinne der Sozietät umzuwandeln, mißglückt dem Kriminellen dieser Anpassungsvorgang. Kriminalität ist also nach dieser Auffassung — von Grenzfällen abgesehen — kein „Geburtsfehler", sondern ein Erziehungsdefekt. Die Kriminalität ist in ihrer Anlage eine allgemein menschliche Erscheinung — das Gegenteil und Gegenstück zur Auffassung Lombrosos vom „geborenen Verbrecher". Edmund Mezger (1933) gibt einen kurzen Überblick über die psychoanalytischen Theorien Freuds: Die

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Psychologie des Verbrechens Lehren vom Widerstand und von der Verdrängung, vom Unbewußten, von der ätiologischen Bedeutung des Sexuallebens und der Wichtigkeit der Kindheitserlebnisse sind die Hauptbestandteile des psychoanalytischen Lehrgebäudes. Es handelt sich also um eine dynamisch-psychologische Lehre, die auch die unbewußten seelischen Vorgänge zu ergründen sucht. Die kriminalpsychologische Bedeutung seiner Lehre hat Sigmund Freud (1856 bis 1939) zunächst überhaupt nicht voll (1906), wenig später (1915) nur im Grundsatz erkannt. Er sieht sich selbst als „der praktischen Rechtspflege sehr fernstehend". In einem im Jahre 1906 gehaltenen Vortrag versucht er, das Assoziationsexperiment für die vernehmungstechnische Sachverhaltsaufklärung fruchtbar zu machen ( F o r e n s i s c h e Psychologie). Die Reaktion auf ein Reizwort ist nichts Zufälliges. In ihr kann ein „psychischer Selbstverrat" zum Ausdruck kommen. Diese psychische Störung hat ihren Grund darin, daß der angesprochene tiefenpsychische Komplex affektiv besetzt ist und deshalb bei der Aufgabe des Reagierens der Versuchsperson auf das Reizwort dem Probanden Aufmerksamkeit entzieht. Die ungewöhnliche Reaktion erkennt man an folgenden Symptomen: in dem abnormen Inhalt der Reaktion, in der Verlängerung der Reaktionszeit, in einem Irrtum bei der Reproduktion und in einer Perseveration. Das Erstaunliche besteht bei diesem von Freud gehaltenen Vortrag nun nicht in der Herausarbeitung dieser damals bereits ziemlich gut bekannten Ergebnisse. Freud schließt seinen Betrachtungen vielmehr Äußerungen über den Hauptunterschied zwischen Neurotikern und Kriminellen an, die etwas befremdlich wirken, wenn man die späteren kriminalpsychologischen Folgerungen kennt, die aus der psychoanalytischen Lehre gezogen worden sind und die man auch heute noch aus ihr zu ziehen versucht. Der Neurotiker bewahrt sein Geheimnis vor seinem eigenen Bewußtsein; der Kriminelle bewahrt sein Geheimnis vor seinen Untersuchern. Beim Neurotiker ist echtes Nichtwissen vorhanden, beim Kriminellen nur Simulation des Nichtwissens. Damit ist ein anderer, praktisch wichtiger Unterschied verknüpft. In der Psychoanalyse hilft der Kranke in vielen Fällen bewußt, seinen Widerstand gegen die Entdeckung seines im Unbewußten bewahrten Geheimnisses zu überwinden. Der Kriminelle arbeitet hingegen bewußt gegen die Entdeckung seines Geheimnisses durch den Untersucher. In den kriminalpsychologischen Fällen handelt es sich um „Widerstand, der ganz aus dem Bewußtsein herrührt" (Freud 1906, S. 8). Hier hatte Freud noch nicht klar erkannt, daß auch bei Kriminellen unbewußte Motivationen eine große Rolle spielen und daß es den neurotischen Verbrecher gibt. In einer kurzen Bemerkung über den „Verbrecher a.us Schuldbewußtsein" (Freud 1949) hat er aller-

dings wenig später (1915) den Grundstein zu einer psychoanalytischen Richtung in der Kriminalpsychologie gelegt, die er indessen selbst nicht weiter ausgebaut hat. Sein Interesse bezog sich doch wohl mehr auf den psychisch kranken, nichtkriminellen Menschen. In kriminalpsychologischer Beziehung gibt die Psychoanalyse hauptsächlich nach drei Richtungen hin originelle Erklärungen für die Entstehung von Verbrechen, indem sie als Verbrechensursache das präexistente Schuldgefühl mit seinem Geständniszwang und Strafbedürfnis, die Motive des Ödipuskomplexes und diejenigen des Kastrationskomplexes und andere frühkindliche Erlebnisse angibt. Soweit auf das psychoanalytische Konzept der Persönlichkeit Bezug genommen wird, kann zur Veranschaulichung auf das Schaubild 2 verwiesen werden. Seinen „Verbrecher aus SchuldSchaubild 2 P s y c h o a n a l y t i s c h e Konzeption der Persönlichkeitsstruktur* ''

Bereich des außerweltlichen Kontakts Bewußtes Vorbewußtes

Unbewußtes Tiefendimension

Es

bewußtsein" vergleicht Freud mit Nietzsches „bleichem Verbrecher" aus den Reden Zarathustras. Freud selbst entwirft sein Konzept der Präexistenz des Schuldgefühls und der Verwendung der Tat zur Rationalisierung folgendermaßen: Zugrunde liegt die psychoanalytische Lehre vom Ödipuskomplex, der ein unbewußtes Schuldgefühl entstehen läßt. Der Träger dieses Schuldgefühls wird mit seinen verbrecherischen Wünschen nicht fertig. Er begeht die kriminelle Tat und begehrt in ihr die Strafe, um jenes drückende Schuldbewußtsein zu berücksichtigen. Hierbei geht also das Schuldgefühl aus dem Unbewußten der verbrecherischen Tat vorher und folgt ihr nicht etwa erst nach. Der Täter ist sich dabei regelmäßig über diese unbewußte Ersatzbefriedigung für seine verdrängte Triebregung nicht klar. Solche Menschen begehen das Verbrechen, weil es verboten ist und weil seine Ausführung ihnen eine seelische Erleichterung bringt. *) Vgl. L. M. Brammer und E. L. Shostrom, Therapeutic psychology. Englewood Cliffs/Ν. J. 1960, S. 28.

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Psychologie des Verbrechens

Ein sie dauernd belastendes Schuldgefühl unbekannter Herkunft, das in Wahrheit dem Ödipuskomplex entstammt, wird durch das Vergehen an eine bestimmte Tat geknüpft und so in eine bewußtseinsfähige, leichter ertragbare Form gebracht. Es sind Menschen von besonders strengem Gewissen, deren Über-Ich als moralische Instanz jene verbotenen ödipuswünsche besonders heftig verurteilt, sehr viel heftiger als die verhältnismäßig harmlos erscheinende reale verbrecherische Handlung. Die Tat wird ausgeführt, um ein aus dem Ödipuskomplex stammendes präexistentes Schuldgefühl an ihre Ausführung anzuknüpfen und durch Erleiden der Strafe zu mildern. Das manifeste Delikt verhüllt die eigentlich gemeinte Ödipustat. Theodor Reik (1925) hat diese psychoanalytische Lehre in der Kriminalpsychologie weiterentwickelt, indem er die Hypothesen aufstellte, daß sich Straf angst in Geständnisangst verwandele, daß der Geständniszwang eine psychische Entlastung bedeute und daß die Strafe auch das Strafbedürfnis der Gesellschaft durch deren unbewußte Identifizierung mit dem Verbrecher befriedige. Der Geständniszwang ist die durch die Einwirkung des Strafbedürfnisses modifizierte Äußerungstendenz verdrängter Triebregungen. Sein Resultat, das Geständnis, repräsentiert unbewußt eine Strafe und befriedigt ein Stück des Strafbedürfnisses. Bei zu großem Strafbedürfnis kann es nicht zum Geständnis kommen, sondern zu einem Ersatz der ursprünglichen Tat, von der das Strafbedürfnis seinen Ausgang nahm. Die strafverfahrenspsychologischen Folgerungen aus diesen Erkenntnissen hat Gotthold Bohne (1927) gezogen, indem er die völlige Umgestaltung der Beweismethoden forderte: Unser Beweisverfahren wird nicht mehr, wie früher, beschränkt bleiben auf den äußeren Hergang des zur Aburteilung stehenden Ereignisses, gerichtet bleiben auf die materiellen, physischen Spuren der Tat, sondern vor allem erstreckt werden auf die innere Konstellation des Täters, auf die immateriellen, psychischen Spuren und wird damit vor allem auch der Strafzumessung dienstbar gemacht werden. Nur auf dieser Basis wird eine Psychologie des richterlichen Ermessens, objektiv und subjektiv, erwachsen können, eine Freiheit, die nicht mehr Willkür und Zufall ist, sondern unter eigenen Gesetzen steht und so den Einzelfall in seiner individuellen Eigenart zu erfassen vermag. Freilich sind die psychoanalytischen Erkenntnisse nur dann praktisch verwertbar, wenn der untersuchende Beamte geschult ist, auf die oft scheinbar unerklärlichen Widersprüche in der Aussage, auf das Versprechen oder Verschreiben und andere Fehlleistungen zu achten und sie zu deuten. Die unbewußte Geständnisarbeit bereitet dem Verbrecher selbst oft ungeheure innere Konflikte: Er bemüht sich, vor der Welt seine Tat zu verheimlichen, und wird doch durch das in ihm arbeitende

Strafbedürfnis gedrängt, sie zu offenbaren. Verdrängungsarbeit und Geständniszwang stehen gegeneinander, und es ist gar nicht selten, daß die Verbrecher von diesem inneren Widerstreit berichten. Sie bemühen sich, allen Verdacht von sich abzulenken, alle Spuren zu verwischen, und stehen dabei doch unter einem fortwährenden Impuls, ihr Geheimnis in alle Öffentlichkeit hinauszuschreien oder wenigstens einzelnen mitzuteilen, um sich von der psychischen Belastung zu befreien. Drei große Hauptgruppen von Kriminellen unterscheiden Franz Alexander und Hugo Staub (1929): Der neurotische Kriminelle, dessen gesellschaftsfeindliches Verhalten den Ausweg aus einem innerpsychischen Gegensatz sozialer und asozialer Teile seiner Persönlichkeit darstellt, ist der verallgemeinerte Typ des „Verbrechers aus Schuldbewußtsein". Dieser Gegensatz entsteht aus ähnlichen seelischen Einwirkungen der frühesten Kindheit und des späteren Lebensschicksals wie bei der Psychoneurose, bei der das Ich im Dienste des Über-Ichs und der Realität mit dem Es in Konflikt gerät (Reik 1925, S. 50). Es gibt keine Neurose ohne Beteiligung des Über-Ichs. Auch wenn man die Neurosen als Resultat des Konfliktes zwischen Ich und Es charakterisiert, muß man betonen, daß es sich um das Ich handelt, das die Partei des Über-Ichs genommen hat (Reik 1925, S. 83). Die sich mit kriminellen Vorbildern identifizierenden Kriminellen haben infolge Gewöhnung und Lernen — wahrscheinlich auch im Zusammenwirken mit ererbten Dispositionen — ein kriminell geprägtes Ich und Über-Ich entwickelt. Diesen beiden psychologisch bedingten Gruppen steht eine dritte Gruppe von Kriminellen gegenüber, die auf der Grundlage organischer Krankheitsprozesse zu beurteilen sind. Von diesen drei Gruppen Krimineller, die auf Grund ihrer persönlichen (organischen oder psychischen) Dispositionen zum Verbrechen neigen (chronische Kriminelle), unterscheidet man jene große Zahl von normalen Menschen, die unter gewissen spezifischen Bedingungen akut kriminell werden. Die kriminellen Handlungen, die so akut zustande kommen, stammen nicht von einer spezifischen psychoanalytischen Persönlichkeitsstruktur her. Vielmehr ist ausnahmslos jeder Mensch unter gewissen Voraussetzungen und in einer gewissen Lage zur Begehung irgendeines Rechtsbruches fähig. Für diese Handlungen ist also nicht die tiefenpsychologische Eigenart des Menschen, sondern die Besonderheit der Situation charakteristisch. Einer Typenlehre des Verbrechers nicht zugehörig, sozial am wenigsten bedeutsam, sind diese akuten Rechtsverletzungen psychologisch um so interessanter. Den chronischen Kriminellen im Sinne von Franz Alexander und Hugo Staub hat Gustav Aichhorn (1925) eine weitere psychoanalytisch bedeutsame Gruppe hinzugefügt. Soziales Handeln ist gewährleistet durch ein Über-Ich, das bei unsozialem

Psychologie des Verbrechens Handeln das normale, bewußte Schuldgefühl auslöst. Beim kriminell Verwahrlosten ist das nicht der Fall. Das Schuldgefühl ist entweder verdrängt oder kommt infolge defekten Über-Ichs und nicht adäquat gebildeten Ichs schwach oder überhaupt nicht zustande. Ist der kriminell Verwahrloste ein hemmungsloser Triebmensch, so vermag er seine Triebimpulse durch sein Ich und Über-Ich nicht zu steuern und in soziale Bahnen zu lenken, die mit der Realität in Einklang stehen. Eine gesellschaftskritische und gleichzeitig klassenkämpferische Wendung nimmt die Interpretation der psychoanalytischen Richtung in der Kriminalpsychologie bei Erich Fromm (1931): Jede Klassengesellschaft ist charakterisiert durch die Beherrschung einer Klasse durch die andere, genauer gesagt, der großen Masse der Besitzlosen durch die kleine Schicht der Besitzenden. Die Mittel, mit denen diese Herrschaft ausgeübt wird, sind sehr verschiedenartig. Am auffälligsten sind die Mittel physischer Gewalt, wie sie durch Militär und Polizei repräsentiert werden. Aber diese Mittel sind keineswegs die wichtigsten. Mit ihnen allein ließe sich auf die Dauer die Beherrschung der Massen nicht gewährleisten. Als viel wichtigeres Mittel kommt ein psychisches hinzu, das die Verwendung von äußerer Gewalt nur in Ausnahmefällen notwendig macht. Dieses psychische Mittel besteht darin, die Masse in eine Situation der seelischen Bindung und Abhängigkeit von der herrschenden Klasse, insbesondere ihren Repräsentanten, zu bringen, so daß sie sich auch ohne Anwendung der Gewalt fügt und unterordnet. Die Psychoanalyse hat gezeigt, wie weitgehend bei allen Menschen, auch bei dem gesunden Erwachsenen, die Möglichkeit vorhanden ist, seelische Einstellungen der Kindheit zu wiederholen und speziell die infantile Einstellung zum Vater auf andere Personen zu übertragen. Für die seelische Einstellung des kleinen Kindes zum Vater ist charakteristisch der Glaube an seine körperliche und geistige Überlegenheit und die Angst vor ihm. Daß diese infantile Einstellung des Kindes zum Vater von der Masse auf die herrschende Klasse und ihre Repräsentanten übertragen wird, ist eines der wichtigsten Erfordernisse für die Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität in der Klassengesellschaft. Durch die Wiederholung dieser infantilen, sehr intensiven Gefühlsbindungen wird der einzelne Angehörige der Masse zu dem Grad freiwilliger Unterwürfigkeit, ja Verehrung und Liebe gebracht, der im normalen Ablauf des gesellschaftlichen Lebens Gewaltmaßnahmen überflüssig macht. Die Mittel, durch die die herrschende Klasse sich der Masse als Vaterfigur psychisch präsentiert, sind sehr verschieden. Eines dieser Mittel, und nicht eines der unwesentlichsten, ist die Strafjustiz. Sie demonstriert eine der wichtigsten Eigenschaften des Vaters, seine Macht zu strafen, und sie erregt die Angst, die die Haltung

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liebender Verehrung der der Auflehnung vorziehen läßt. So wie für das Kind eine der wesentlichen und konstituierenden Qualitäten des Vaters seine Strafpotenz ist, so muß sich auch der Staat als Vertreter der herrschenden Klasse diese Strafpotenz zusprechen und sie demonstrieren, weil darin ein wichtiges Mittel liegt, sich dem Unbewußten der Masse als Vaterfigur aufzuzwingen. Dieses leicht verständliche und verführerisch einfach einsehbare Konzept ist gleichwohl bis heute nicht empirisch nachgewiesen und auch nicht beweisbar. Es dagegen als subjektive Interpretation zu benutzen, bestehen keine Bedenken. Indessen ist es gefährlich, dieses subjektive Konzept als nicht beweisbedürftige Wahrheit anzusehen. Ein solches Vorgehen ist unwissenschaftlich. 6.

Individualpsychologie

Die Individualpsychologie von Alfred Adler (1927, 1930) ist geschichtlich aus der Freudschen Psychoanalyse hervorgegangen. Adler (1870 bis 1937) war ursprünglich Schüler von Freud und gehörte jahrelang dessen Kreis an. In den Jahren 1911 bis 1913 vollzog sich seine und C. G. Jungs Trennung von der psychoanalytischen Bewegung. Den äußeren Anlaß gab ein Vortrag Adlers, nach dem Freud erklärte, daß die geäußerten Anschauungen sich nicht mehr mit denen der Psychoanalyse vertrügen. Freud selbst sagte darüber: Adler und Jung wollten von den anstößig empfundenen Resultaten der Psychoanalyse freikommen, ohne ihr tatsächliches Material zu verleugnen. Dabei verwarf Adler die Bedeutung der Sexualität überhaupt, führte Charakter- wie Neurosenbildung ausschließlich auf das Machtstreben der Menschen und ihr Bedürfnis nach Kompensationen ihrer konstitutionellen Minderwertigkeit zurück, gewährte jedoch tatsächlich dem von ihm Verworfenen unter dem geänderten Namen des „männlichen Protests" Aufnahme in sein geschlossenes System (Mezger 1933). Adler geht in seiner Lehre von Forschungen über die „Minderwertigkeit von Organen" (1927) aus. Die Grundlage nervöser Erkrankungen bildet für ihn ein in der Kindheit erworbenes Minderwertigkeitsgefühl. Außer der Organminderwertigkeit können dafür auch andere Einflüsse, insbesondere die einer falschen Erziehung, maßgebend sein. Ein verstärktes Minderwertigkeitsgefühl ruft ein über das normale Maß hinausgehendes Ausgleichsstreben, den „männlichen Protest", die „Uberkompensation" hervor. Der übersteigerte Ehrgeiz, der seinen Ursprung aus vorausgegangener Entmutigung nicht verleugnet, scheitert an der Realität. Der Mißerfolg verstärkt die Entmutigung und diese wieder die krampfhaften Versuche, zu vermeintlicher Überlegenheit zu kommen. Die ganze Lehre ist trotz ihres organischen Unterbaus von vornherein stark sozialpsychologisch eingestellt: Der Gedanke der Unterdrückung und des Sichaufbäumens gegen diese Unterdrückung

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Psychologie des Verbrechens

und die starke Betonung der mitmenschlichen Beziehungen stehen in engem innerem geistigem Zusammenhang mit den sozialistischen Lehren des Marxismus (Mezger 1933). Zugleich muß in den Lehren der Individualpsychologie gegenüber der dynamisch-kausalen Einstellung der Psychoanalyse die betonte Hinwendung zu einer veränderten teleologisch-finalen Betrachtungsweise auffallen. Moderne Ganzheitsbetrachtung macht sich daneben geltend. Die bisherige Kriminalpsychologie kann — nach Bohne (1931) — bestenfalls generelle psychologische Erfahrungen und Einsichten vermitteln, konstruktive Abstraktionen, die zur Beurteilung des Einzelfalls nur selten ausreichen, ihn vielmehr unter Einklang seines individuellen Gehaltes in ein Schema pressen. Sie ist aber keine Psychologie der Einzelpersönlichkeit. Eine wirklich individuelle Erklärung der Verbrechensursachen hat erst die Individualpsychologie gezeigt. Sie analysiert nicht einzelne Äußerungsformen der menschlichen Psyche, sondern sie versucht, jede Eigenart des menschlichen Verhaltens aus dem Menschen als einem Ganzen, einem Organismus mit einheitlicher Zielsetzung abzuleiten. An Stelle des naturwissenschaftlichkausalen Erkennens strebt sie ein Verstehen unter den Gesichtspunkten von Mittel und Zweck und damit ein Verstehen der Persönlichkeit als einer Ganzheit, als eines Individuums in seiner Einmaligkeit an. Aus der Persönlichkeit als einer zielgerichteten Einheit ist jede Lebensäußerung dynamisch und final zu betrachten. Die noch ganz überwiegend kausal ausgerichtete Psychoanalyse Freuds wird hier bewußt durch ein neuartiges Moment weitergeführt und ergänzt (Mezger 1933). Für den Werdegang des Verbrechens ist die folgende typische Abfolge maßgebend: organische oder soziale Minderwertigkeit, seelischer Minderwertigkeitskomplex, Machtstreben und „männlicher Protest", Überkompensation und Verbrechen. Eugen Schmidt will in seiner Schrift „Das Verbrechen als Ausdrucksform sozialer Entmutigung" (1931) im Gegensatz zu der an Lombroso anknüpfenden Lehre von der Vererbung verbrecherischer Anlagen als Arbeitshypothese allein die Entstehung von Verbrechen aus Einflüssen der Umwelt und der Reaktion der Persönlichkeit auf diese Umwelt gelten lassen. Dabei erscheint ihm das Verbrechen als ein Produkt der Mutlosigkeit, als die typische Haltung eines Menschen, der den Glauben daran verloren hat, sich innerhalb der Gesellschaft mit den durch die Gesellschaftsordnung zugelassenen Mitteln durchzusetzen. Der Verbrecher leidet an Irrtümern, die er in der Jugend erworben hat und die ihn verleiten, sich feindselig gegen die Umwelt einzustellen; ihm fehlt es an Gemeinschaftsgefühl (Schlesinger 1931). Der Sinn des Lebens besteht in Kooperation, in Mitarbeit und in sozialer Beitragsleistung, nicht aber in der Ausnützung der

sozialen Beitragsleistung anderer. Der Verbrecher leidet an einer schweren Störung seines Selbstwertgefühls. Die Tiefe des Minderwertigkeitsgefühls und ein Rest des Mutes zur Gemeinschaft formen grundsätzlich seinen Lebensstil. Übertreibt der Mensch den Willen zur Macht, so gerät er in die Rolle des „Herrenmenschen", des Verbrechers, Verwahrlosten, oder er wird nervös, geisteskrank oder zum Selbstmörder. Ist die Entmutigung des Menschen aber derart, daß er sich diesen Protest gegen den als überstark erlebten Druck seiner Umgebung oder seiner persönlichen Verhältnisse nicht zutraut, so gerät er in die Rolle des Musterkindes, des Untertans oder des hilflosen Neurotikers, der sich mit Krankheit und Entschuldigungen vor den Forderungen der Gemeinschaft drückt und der sie mit diesen Mitteln gleichzeitig in seinen Dienst stellt (Nägele 1931). Alfred Adler (1931) wendet sich wie Eugen Schmidt gegen den Ausschließlichkeitsanspruch der Hereditätslehre. Die körperliche Heredität sagt nichts, sicher nichts Zwingendes über die seelische Heredität aus. Im Falle einer körperlichen Minusvariante lassen sich Methoden zur Überwindung der körperlichen Schwierigkeiten und ihrer „verlockenden" Einflüsse auf das Seelenleben finden. Bezüglich der geistigen Fähigkeiten weiß niemand, was tatsächlich ererbt ist, weil am ersten Tag, an dem das Kind auf die Welt kommt, seine Äußerungen schon von der Mutter beeinflußt sind und aus der Bezogenheit zu ihr stammen. Was immer seine Fähigkeiten, seine Stärke, seine besonderen Merkmale sein mögen, die Mutter hat so stark schon eingewirkt, daß wir keine Mittel zur Hand haben, um zu unterscheiden, was ererbt sein könnte und was nicht. Vererbung kann niemals als unausrottbare Wurzel betrachtet werden. Alfred Adler (1931) fährt dann fort: Ist jemand den sozialen Problemen gegenübergestellt, für sie aber nicht vorbereitet, so fühlt er sich minderwertig. Kein menschliches Wesen kann auf die Dauer das Gefühl der Minderwertigkeit ertragen. Jeder trachtet, es zu überwinden, und sieht immer nach einem Ziel der Erfüllung und Sicherheit. Er tut dies zu dem Zweck, Schwierigkeiten zu überwinden und ein Gefühl der Über• legenheit zu gewinnen. Gelingt dies nicht, so gerät das Individuum auf die sozial schädliche Seite des Verbrechens. Um die Neigung zur sozial nützlichen Seite zu stärken, ist eine frühe soziale Ausbildung im gesellschaftlichen Interesse wie im Interesse des Individuums nötig; nur eine Erziehung zur sozialen Mitarbeit kann entstehende Defekte ausschließen und vorhandene überwinden. Alfred Adler (1931) erwähnt weitere Typen, die man oft unter Delinquenten findet. Das sind ζ. B. verhätschelte, abhängige oder vernachlässigte Kinder. Bei den verwöhnten Kindern entdeckt man, daß sie eine stetige illusionäre Auffassung vom Leben haben. Sie wünschen und erwarten, stets

Psychologie des Verbrechens zu empfangen, aber niemals oder nur nach Empfang zu geben. Sie finden so bald heraus, daß das Leben nicht nach ihrem Geschmack ist, ohne die Geberkraft, die nützliche Leistung aufzubringen. Ihr ständiger Bindruck ist: Was ist das Leben wert, wenn es nicht alles gibt, was ich will ? Warum soll ich meine Wünsche unterdrücken? Es handelt sich hierbei um Wünsche, bei denen sie die Beitragsleistung anderer immer für sich auszubeuten trachten. Mit einer solchen, aus der frühesten Kindheit stammenden Einstellung kann sich kein Interesse an der sozialen Umwelt entwickeln. Eine Neigung zu Leistungen, um das Wohlergehen der Menschheit zu mehren, ist verschüttet. Es ist für sie daher sehr leicht, sich zu benehmen, wie Menschen immer handeln werden, die kein Interesse an den anderen haben. Wenn Verbrechen begangen werden, sieht man sehr klar, daß diejenigen, die sie begehen, für andere Menschen kein Interesse haben. Aber nicht nur verhätschelte Kinder, sondern auch vernachlässigte sind unausgebildet und unbelehrt im sozialen Interesse. Vernachlässigte Kinder wissen gleichfalls nicht, daß es eine Gemeinschaft und ein Gemeinschaftsgefühl gibt. Es wirft ein bezeichnendes Streiflicht auf unsere Kultur, daß sich unter diesen zurückgewiesenen Kindern so viele Waisen befinden, so viele uneheliche Kinder, so viele ungewollte Kinder, die nicht so beliebt und geliebt waren wie andere. Auch häßliche Kinder und Krüppel haben es meist schwer, zur sozialen Anpassung zu gelangen, und es ist gut zu verstehen, warum man unter den Verbrechern so oft unschönen Individuen begegnet. Ein häßliches Kind kann leicht den Mangel an Anerkennung verspüren, kann sich unwillkommen vorkommen. Das Resultat ist, daß es die Welt nicht freudig akzeptiert, sondern sich wie in Feindesland benimmt. Wird die Methode, es zu versöhnen, nicht gefunden, so kann es zu einem Fehlschlag kommen. Diese Adlerschen Hypothesen haben Sheldon und Eleanor Glueck in ihren empirischen Untersuchungen bestätigt. Unter ihren delinquenten Jungen waren statistisch signifikant mehr Jungen, die unter feindselig-ablehnender Haltung ihrer Eltern oder unter übermäßig besorgter Einstellung ihrer Mütter litten als unter ihren nichtdelinquenten Jungen (-» Ehe und Familie I, S. 165). Den Verbrecher charakterisiert Alfred Adler (1931) weiterhin folgendermaßen: Er nimmt keinen Anteil an anderen Menschen. Er befreundet sich nicht leicht. Meistens befreundet sich der Kriminelle mit seinen Artgenossen, die nach anderen, die ihnen gleichen, Ausschau halten. Das bedeutet, daß er sein Betätigungsfeld verkleinert und soziale Typen ausschließt. Er will es sich leichter machen. Er kann seinesgleichen gegenüber ein guter Kamerad sein, aber niemals anderen gegenüber. Auch diese Hypothese ist durch die Glueckschen Untersuchungen bewiesen worden (Glueck 1963, S. 84):

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Fast ohne Ausnahme waren die Kriminellen mit anderen Kriminellen befreundet. Die Nichtkriminellen dagegen hatten wenige Freunde unter den Kriminellen. Alfred Adler (1931) führt dann weiter aus: Es gibt viele Menschen, die das „Heldentum" eines Verbrechers anstaunen. Kinder besonders lassen sich oft verlocken, das zu glauben. In manchen Filmen und Druckerzeugnissen ist der Verbrecher als Held dargestellt (-»- Kriminalroman, Massenmedien). Jeder, der mit Kriminellen zu tun hat, weiß, daß sie feig sind. Sie fürchten sich oft vor Gespenstern, sind fast immer abergläubisch und „zittern im Finstern". Wir können nicht getäuscht werden, sagt Adler, da wir sie vor den Problemen des Lebens haben fliehen sehen; wir haben erkannt, daß sie Deserteure sind. Wir können niemals glauben, daß der Mensch, der nicht imstande ist, mit den „schrecklichen Lebensbedingungen", wie Verbrecher gelegentlich sagen, fertigzuwerden, ein Held, ein wirklich mutiger Mensch sein kann. Theoretisch können wir auch verstehen, warum er nicht mutig sein kann, —weil Mut nämlich ein Teil des sozialen Interesses ist. Nur Menschen, die sozial interessiert sind, können mutig sein, da sie sich als Teil des Ganzen fühlen. Sie wissen, daß sie dieser Welt angehören; sie wissen, daß nicht nur die Vorteile, sondern auch die Nachteile unseres Lebens zu ihnen gehören, ihr Eigen sind. Sie fühlen sich zu Hause und richtig eingebettet in den Strom des Lebens. Und deshalb sind sie mutig, d. h. mutig, die normalen Probleme des Lebens in nützlicher Weise zu meistern. Jeder Verbrecher fühlt sich andererseits scheinbar überlegen. Jeder Kriminelle glaubt nämlich, daß er imstande ist, mit der Polizei fertigzuwerden. Er fühlt diese Fähigkeit, weil jeder Verbrecher auch wirklich diese Tatsache erlebt hat. Nur sehr selten findet man einen Täter, der nicht früher schon Verbrechen begangen hat, die unentdeckt geblieben sind. Schließlich ist auch diese Adlersche Hypothese durch die neuesten Dunkelzifferuntersuchungen in den USA bestätigt worden. Reiches kriminalpsychologisches Material ergibt sich bei Anwendung individualpsychologischer Gesichtspunkte aus der Arbeit von Gotthold Bohne (1931): Er warnt davor, voreilig aus einzelnen Lebensäußerungen und Verhaltensweisen krimineller Art Schlüsse auf den Charakter des Beschuldigten zu ziehen und diese Bewertung so der Bemessung der Strafe oder der Auswahl von Sicherungsmaßnahmen zugrunde zu legen. Manche Verbrecher betrügen, stehlen, notzüchtigen, ja töten nur in einer ganz bestimmten Situation, während sie sich im übrigen als ganz weiche, zugängliche, mitfühlende Menschen erweisen. Möglich ist freilich auch, daß das eigene frühere Erleben das ganze Gefühls- und Empfindungsleben so stark überlagert hat, daß eine bestimmte Reaktion auf die gegebene Situation ständig und

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regelmäßig eintritt, daß die assoziative Verknüpfung mit dem früheren Erlebnis durch einen Kreis von Situationen hergestellt wird, der weit über eine normale assoziative Verknüpfung hinausgeht. Die Finalität, die Bohne zur individualpsychologischen Erklärung der seelischen Vorgänge beizieht, versteht er in dreifacher Weise: als biologisch-soziale, als rationale und als personale Finalität — letztere als individuelle Auswirkung der zentralen Persönlichkeit, die auch unter Umgehung des rationalen Systems, d. h. unbewußt, entstehen kann und das biologische Geschehen (den Reflexapparat) mitergreift. So ergeben sich zwei Faktorengruppen: die Realien des Lebens (Schicksal, Umwelt, Körperbau, biologische Finalität) und die personale Finalität, die bis in die letzten Ausläufer der kleinsten, scheinbar zufälligen Lebensäußerungen zu verfolgen ist (Ausdrucksbewegungen, Mimik, Schrift) und die eigentliche persönliche Leitlinie des Individuums bildet (Mezger 1933). Den größten diagnostischen Wert für die Erklärung des asozialen Handelns, besonders bei jugendlichen Delinquenten, schreibt Bohne (1931) der Feststellung einer besonderen Einstellung zur Umwelt zu, nämlich dem aus körperlicher Beschaffenheit, sozialer und ökonomischer Lage, Geschlechtsrolle, Familienverhältnissen und Erziehung stammenden „besonderen" Gefühl der Unterlegenheit gegenüber Menschen und Situationen, also einem besonders gesteigerten Minderwertigkeitsgefühl. Aus dem verstärkten Minderwertigkeitsgefühl entsteht die feindselige Einstellung gegenüber der Umwelt, die sich in übertriebenem Geltungsbedürfnis durch Überkompensationen auszuwirken versucht und durch die damit verbundenen Mißerfolge und Enttäuschungen eine fortwährende Zunahme erfährt. Dazu kommt als weitere Ursachenreihe diejenige, die in der neuzeitlichen Entwicklung der Wirtschaftsorganisation ihren Ursprung hat und zu einer zunehmenden Erschwerung der Eingliederung des einzelnen in die Gesellschaft und zu einer zunehmenden Entwurzelung des Individuums führt (Mezger 1933). 7. Verbrechen

als negative leistung

Persönlichkeits-

Der zurechnungsfähige Verbrecher gilt als unsittlicher, gottloser Mensch. Sein Verbrechensentschluß, auf den weder biologische noch gesellschaftliche Faktoren Einfluß ausüben können, der vielmehr einem Zusammenstoß sittlicher Pflicht und unsittlicher Haltung entspringt, ist seine ureigenste Persönlichkeitsleistung. Es ist seine Lasterhaftigkeit, die ihn restlos verantwortlich macht. Diese ethische Lehre ist althergebracht. Sie entsprach der Ideologie Epikurs und des Neuplatonismus, der Scholastik (Thomas von Aquin) und der christlichen Kirchen. Sie war zwar durch die deterministische Aufklärung, die das

Verbrechen auf die Schwäche der sinnlichen Natur des Täters zurückführte, seit Hobbes bestritten, hatte indessen durch die deutsche idealistische Philosophie eine neue Belebung erfahren. Johannes Nagler (1933) zählt die verschiedenen kriminalpsychologischen Ansätze auf, die diese ethische Lehre in Frage stellen: Die Naturalisten identifizieren den Menschen mit seinem Organismus. Unter sich sind sie wieder gespalten in Kriminalanthropologen, die die Erbanlage (Konstitution) als ausschließlich kriminogen betrachten, und in die Kriminalpathologen, denen der Verbrecher ein erkrankter, minderwertiger Mensch ist. Für den sozialen Materialismus sind Umwelteinflüsse entscheidend. Der Verbrecher ist ein von der Gesellschaftsordnung zur Entgleisung gebrachter Mensch. Bei den Sozialisten wird der Verbrecher zum Opfer des wirtschaftlichen Kräftespiels, zum Opfer des Kapitalismus. Die Positivisten lehnen gleichfalls jede Verantwortung des Verbrechers ab: Er ist für sie der aus welchen Gründen auch immer zum Unrecht determinierte Mensch (Gaupp 1968). Mit ihrer Kunst der „seelischen Zerfaserung" führt die Psychoanalyse das Verbrechen als seelische Falschstruktur auf sexuelle Triebe und Verdrängungskomplexe zurück; das Verbrechen ist eine echte seelische Erkrankung. Für die Individualpsychologie stellt sich die Stufenfolge des Kausalprozesses — nach Nagler — folgendermaßen dar: Körperliche Organ defekte oder eine angeborene seelische Schwäche, vor allem aber im Milieu erlittene soziale Schäden (infolge von Familien-, Erziehungs-, Religions-, Wirtschafts- und sonstigen Sozialeinflüssen), verletzen das Selbstgefühl des Individuums, die Liebe zum eigenen Ich. Sie bringen Enttäuschungen der natürlichen Organ- und Soziallust mit sich. Diese schmerzlichen persönlichen Niederlagen wecken die Empfindung des bloßen Objektseins, entmutigen das Individuum und lösen so ein beängstigendes Unterlegenheitsgefühl aus (Gefühl der Unzulänglichkeit oder Minderwertigkeitsgefühl). Die Folge dieses Mutlosigkeitsempfindens ist Verbitterung, die sich in Feindseligkeit und Aggressivität entlädt, oder Abwehrtendenz: Abkehr von der Gemeinschaft (-»- Rauschmittelmißbrauch), Trotz und Widerstand gegen ihre Forderungen, Entwertungssucht, offene Auflehnung, Rebellion. Für die Individualpsychologie ist das Delikt ein Akt der Trost- und Mutlosigkeit. Sie ist mit der marxistischen Verbrechensauffassung verbunden, nach der die Kriminalität eine bloße Funktion des Kapitalismus ist, der zwangsläufig zum Rechtsbruch führt. Es besteht allerdings die Aussicht, daß mit der Änderung des Wirtschaftssystems nach dem Konzept des Sozialismus, d. h. mit der Herstellung der natürlichen Harmonie des Gesellschaftslebens, die Kriminalität verschwinden wird (-> Vergleichende Kriminologie). Alle diese kriminologischen Theorien

Psychologie des Verbrechens lehnt Nagler ab. Der eigentliche Prüfstein ist die Erfahrung, die Lebenswirklichkeit. Er fordert volle Abkehr von aller Voreingenommenheit. Unter dem Zeichen des Realismus waren die neuen Lehren hervorgetreten, aber die Wirklichkeit steht mit ihnen nicht im Einklang. Die aktive Kraft und produktive Selbstentfaltung der Persönlichkeit sind unser allerpositivstes Erlebnis. Das „törichte" Wort, daß das Strafgesetzbuch die Verbrecher großziehe, ist ungehört verhallt. Nagler erhofft sich (1933) reiche Förderungen von dem, was er als bio-psychologische Verbrecherkunde bezeichnet. Sie ist zur Lösung von Problemen der Verbrechensprophylaxe und für rassehygienische Bestrebungen außerordentlich nützlich. Die Tiefenpsychologie ist als geschlossenes System nicht haltbar. Sie leidet in ihren beiden Spielarten (Psychoanalyse und Individualpsychologie) ganz gleichmäßig an einer voreiligen Dogmatisierung, an einer unberechtigten Verallgemeinerung von an sich richtigen Einzelfeststellungen. Das Strafgesetzbuch bedarf — nach Nagler — keiner neuen kriminologischen Fundierung, sondern lediglich einer „Modernisierung". Das Grundkonzept, unter dem es erstellt worden ist, bleibt vor wie nach richtig: „Das Verbrechen i s t . . . volle Persönlichkeitsleistung, der Verbrecher verursacht schuldhaft den rechtswidrigen Erfolg, er frevelt kraft seines Willensfehlers. . . . Für diese Lösung gilt gerade das Umgekehrte wie im Falle der Determinierung. Sie kann ihre Folgerungen bis zum letzten widerspruchslos entfalten, ohne mit den Tatsachen des praktischen Rechtslebens und unserer überwiegend christlichen, also idealistischen Gesamtkultur in Konflikt zu geraten. Sie entspricht der deutschen Geisteshaltung, die immer den Zug zum Tiefsten aufwies und noch niemals eines metaphysischen Einschlags entraten konnte,

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8. Vormachtstellung

der

Kriminalbiologie

Die deutsche Kriminalpsychologie stand — abgesehen von ihren ersten Anfängen — in der Mitte und am Ende des 19. Jahrhunderts stark unter dem Einfluß von Medizinern, für die naturgemäß alles Körperliche vorrangig war. Zwar haben die wenigen Juristen (ζ. B. Hans Groß, Franz von Liszt) und die ebenfalls nicht zahlreichen Psychologen (ζ. B. William Stern, 1871 bis 1939; Karl Marbe, 1869—1953) versucht, das spezifisch Psychologische zu betonen. Ihr zeitweiser Erfolg war aber immer wieder überschattet von der Vorrangstellung der Medizin, die insbesondere die kriminalpsychologische Gutachtertätigkeit voll an sich zu binden versuchte. Die Psychoanalyse hatte zur Zeit ihrer Entstehung in Deutschland ohnehin gegen mannigfache Widerstände anzukämpfen. Die Individualpsychologie, die erstmals sozialpsychologische Gedankengänge in der Kriminalpsychologie zur Geltung zu bringen suchte, verfiel ebenfalls mehrheitlicher Ablehnung. Rudolf Michel sprach (1925) wieder von „angeborener Minderwertigkeit" des Verbrechers, und nach seinen „Forschungen" belief sich die „erbliche Belastung" bei „Zustandsverbrechern" auf 77% und bei „Akut-Kriminellen" sogar auf 80,9%. Ernst Kretschmer berief sich (1926) auf „rassenhygienische Prophylaxe" und behauptete, der Körperbau gebe uns Anhaltspunkte für Entartungszeichen; der „Grad der körperlichen Entartung" finde seine „ungefähre Parallele" in „der psychischen Entartung". Kretschmer versuchte, die Persönlichkeitseigenschaften „auf die Grundlinien ihrer biologischen Fundamente" zurückzuführen. Bei weitem nicht so weit gingen Kriminalbiologen wie Adolf Lenz, Ernst Seelig und Ernst Rüdin. Die Kriminalbiologie definierte Adolf Lenz

Schaubild 3 Erbanlagen

~JD

Keimschädigungen

Geburt angeborene

' —MW

ι Persönlichkeit zur Tatzeit

Umwelteinflüsse während des Lebens Tatgeschehen

Umweltlage zur Tatzeit

die sich deshalb scharf abhebt von dem bei uns über Gebühr gepflegten Rationalismus der Welschen, von der Praktikabilität der Angelsachsen, von der Mystik der Russen" (Nagler 1933, S. 74/75). 28 HdK, 2. Aufl., Bd. I I

(1928) als die „Lehre von der kriminellen Persönlichkeit". Von einer „Wechselwirkung zwischen Umwelt und Persönlichkeit" sprach Ernst Rüdin (1931). Seelig schrieb 1933: „Wie jedes menschliche Verhalten, so ist auch die kriminelle Äuße-

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Psychologie des Verbrechens

rung ein Produkt aus Umweltreizen, die dem Verhalten unmittelbar vorausgehen und es begleiten, und der Persönlichkeit des betreifenden Menschen in diesem Zeitpunkt. Sein Konzept machte er in einem Schema (Schaubild 3) deutlich. Dieses Schema ist auch heute noch grundsätzlich akzeptabel, wenn es auch im Sinne der Begriffsbestimmung dieses Beitrags weiterentwickelt werden muß. Edmund Mezger allerdings, der 1933 noch eine sehr informative und konstruktive Darstellung der Bedeutung der Psychoanalyse und der Individualpsychologie veröffentlicht hatte, schrieb nunmehr (1942): Früher hat man die Probleme der Kriminologie gern ausschließlich als Kriminalpsychologie behandelt, indem man (an sich mit Recht) davon ausging, daß eigentliches und letztes Forschungsziel die Ergründung des seelischen Lebens im Verbrecher sei. Diese Bezeichnung ist heute zu eng. Kriminalpsychologie ist gegenwärtig Teil einer umfassenden Kriminalbiologie. Die Kriminalpsychologie ist ihrem Begriffe nach gerichtet auf die Erforschung der seelischen Vorgänge im rechtsbrechenden Menschen. Die neuzeitliche Erforschung menschlichen Seelenlebens aber lehrt, daß seelisches Leben stets abhängig ist von körperlichen Vorgängen. Es erscheint überall gebunden an somatische Abläufe, insbesondere, wenn auch keineswegs nur, an solche des zentralen Nervensystems. Seelisches Geschehen steht überall im Gesamtzusammenhang des biologischen, d. h. des lebendigen, körperlich-seelischen Gesamtgeschehens. Das alles gilt natürlich auch für die kriminalpsychologische Forschung. Auch sie muß, will sie wissenschaftlichen Anspruch erheben, umfassende kriminalbiologische Forschung sein (S. 2). Die psychoanalytischen und individual-psychologischen Richtungen in der Kriminalpsychologie haben zu strafrechtlich-kriminalpolitischen Folgerungen geführt, die eine „Zersetzung des überkommenen Strafrechts" bedeuten (S. 74). Auch in der Nachkriegszeit (seit 1945) hat sich die deutsche Kriminalpsychologie bis zur Gegenwart noch nicht völlig von einem kriminalbiologischen Einfluß freizumachen vermocht. Das weiterhin unzureichende Interesse der meisten deutschen Psychologen und Juristen an der Kriminalpsychologie macht es den Medizinern leicht. Der kriminalbiologische Ansatz tritt freilich heute nicht so manifest und virulent hervor wie ehedem. a)

Zwillingsforschung

Die Zwillingsforschung soll hier als Methode keineswegs allgemein abgelehnt werden. Sie hat aber auf Grund von Untersuchungen, über die in diesem Zusammenhang berichtet werden muß, Folgerungen gezeitigt, die nicht gebilligt werden können. Johannes Lange schrieb bereits im Jahre 1929: Die Anlagen, mit denen jemand geboren wird, die Umwelt, in die er hineinwächst, sind

Notwendigkeiten, sind Schicksal. Schicksal ist es ebenfalls, wie die Umwelt mit ihren zahllosen Einflüssen das Gesamt der Anlagen formt. Dabei wird der Arzt bei dem einzelnen Verbrecher vor allem an die Anlage denken, jenes Unabänderliche, an dem so oft alles helfende Bemühen scheitert und das die rechtsbrecherische Handlung nicht anders betrachten läßt als andersartige Symptome abnormer Verfassungen. Ist die erbliche Artung ohne Bedeutung, so darf ein Vergleich keine Unterschiede zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingspaaren zeigen. J e größer jedoch das Gewicht der Anlage wird, um so häufiger muß konkordantes Verhalten Eineiiger eintreten. Der Abstand von durchgehender Konkordanz bei Erbgleichen läßt die Reichweite äußerer Verbrechensursachen abschätzen. Endlich lassen sich die Befunde bei zweieiigen mit jenen bei anderen Geschwistern vergleichen. J e häufiger im Vergleich mit anderen Geschwistern positive Konkordanz erbungleicher Zwillinge hinsichtlich des Verbrechens ist, um so größer ist das Gewicht der Umwelteinflüsse zu bewerten, da sie nur bei ganz gemeinsam aufwachsenden Menschen als völlig gleich angesetzt werden dürfen. So lautet die Argumentation von Johannes Lange, der 30 Zwillingspaare, 13 eineiige und 17 zweieiige, untersuchte, von denen jeweils mindestens ein Proband bestraft worden war. Der Partner war bei den 13 eineiigen Paaren auch bestraft zehnmal, nicht bestraft dreimal, bei den 17 zweieiigen Paaren auch bestraft zweimal, nicht bestraft fünfzehnmal. Das heißt — nach Lange — also: Eineiige Zwillinge verhalten sich dem Verbrechen gegenüber ganz vorwiegend konkordant, zweieiige aber dominierend diskordant. Der Vorgehensweise der Zwillingsmethode entsprechend, Schloß Lange daraus, daß die Erbanlage eine überwiegende Rolle unter den Verbrechensursachen spielt. Diese weitreichende Schlußfolgerung ist allein schon wegen der kleinen „Stichprobe" methodologisch unzulässig. Friedrich Stumpfl (1936) untersuchte 15 eineiige männliche Zwillingspaare. In 9 Fällen waren beide Partner bestraft, in 6 Fällen war es nur einer der beiden Partner. Das entsprach einer Diskordanzziffer von 40%. Stumpfl Schloß im Gegensatz zu Lange hieraus, daß die Ungleichheit im Hinblick auf Bestrafung bei eineiigen Zwillingen eine verhältnismäßig häufige, nahezu die Hälfte der Fälle umfassende Erscheinung ist. Auch hier ist die „Stichprobe" aber viel zu klein, so daß sie eine solche „Beweisführung" nicht zuläßt. Stumpfl kommt in seiner Untersuchung hingegen noch zu weiterreichenden anderen Ergebnissen: Durch Schwerkriminalität belastete erbgleiche Zwillinge verhalten sich dem Verbrechen gegenüber durchweg konkordant. Unter Schwerkriminalität versteht er wiederholte, schwere Straftaten, die auf seelischer Verbildung und angeborener Abartig-

Psychologie des Verbrechens keit beruhen. Es gibt unbeeinflußbare Schwerverbrecher. Für diese Verbrecher, deren praktische und biologische Abgrenzbarkeit Stumpfl durch seine Untersuchung (1936) für erwiesen hält, fordert er „vom rassenhygienischen Standpunkt ein besonderes Sterilisationsgesetz . . . " . b) Vererbung und Anlage Carl Rath hatte 1914 die Lombrosolehre mit Nachdruck unterstützt und das Verbrechen ganz allgemein auf vererbbare psychische Anlagen zurückgeführt. „Die psychische Entartung ist sehr häufig auch körperlich „signalisiert", weil sie im Körper wurzelt." Degeneration und Vererbung spielten auch bei Kleemanns „Verbrecherfamilien" (1912) eine maßgebende Rolle. Die Erblichkeit krimineller oder kriminell-gefährdender Neigungen hatte Eduard Hapke (1929) dagegen mit Nachdruck bestritten: Eine quantitative Untersuchung nach dem Anteilverhältnis von Anlage und Milieu verbietet sich durch deren unauflösbare Konvergenz. Alle Berichte über sogenannte Verbrecherfamilien enthalten keinen Beweis für eine Vererbung krimineller Neigungen; schwerste Milieuschäden und erbliche Belastung lassen sich in ihnen nicht trennen. Auch über Versuche frühzeitiger Verpflanzung von „Verbrecherkindern" und Fortnahme aus ihrem gefährdenden Milieu liegen keine befriedigenden Berichte vor. Man kann ebensowenig das Verständnis eines Charakters aus seiner Zerlegung in einzelne stückhafte Elemente erwarten wie aus einer einfachen Multiplikation „der" Anlagen und „des" Milieus. Leitender Gesichtspunkt, insbesondere schon bei der Erhebung der Daten, die das Verständnis der kriminellen Persönlichkeit vermitteln sollen, kann immer nur die Anerkennung der Person als einer sinnvoll gegliederten Ganzheit und als Ergebnis und Ausdruck einer in jedem Augenblick wirksamen und in jedem Moment die Persönlichkeit bestimmenden Konvergenz von Anlage und Milieu sein. Gleichwohl haben Friedrich Stumpfl (1935) und Dubitscher (1942) versucht, eine Vererbung krimineller Anlagen durch Sippenuntersuchungen nachzuweisen. Die Untersuchungen von Stumpfl (1935) beruhen im wesentlichen auf einer Gegenüberstellung von Schwerkriminellen (195 Rückfallverbrechern) und Leichtkriminellen (166 Einmaligbestraften), deren Lebenslauf und Verwandtenkreis durch persönliche Besprechungen mit insgesamt 1747 Sippenangehörigen und etwa 600 Auskunftspersonen (Lehrer, Pfarrer, Bürgermeister), durch schriftliche Anfragen mannigfacher Art und ein ausgedehntes Aktenstudium erforscht wurden. 13 Monate beanspruchten die Reisen zu den in Bayern verstreut lebenden Sippen; 3 Jahre lang dauerte die Bearbeitung der gewonnenen Befunde und Eindrücke. Stumpfl (1935) kommt zu folgenden Ergebnissen: Unter den Verwandten von Schwerkriminellen (Rückfallverbrechern) ist 28*

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der Anteil der Kriminellen erheblich größer als unter den Verwandten von Leichtkriminellen (Erstmaligbestraften). Er beträgt bei den Brüdern der erstgenannten Gruppe 37%, bei den Brüdern der letztgenannten 10,8%; bei den Vettern 17,6% gegenüber 6%. Unter den Verwandten von Schwerkriminellen ist insbesondere der Anteil der Rückfallverbrecher gegenüber dem Anteil bei den Verwandten der Leichtkriminellen erheblich höher. Dieser Anteil entspricht bei den Brüdern der ersteren Gruppe einer Prozentziffer von 15% bis 25% gegenüber 3,6% bei den Letztgenannten; bei den Vettern beträgt er 6 % gegenüber 2%. Als Bezugsziffer dienen hierbei sämtliche über 20 Jahre alten Personen. Setzt man den Anteil der Rückfallverbrecher in Beziehung zu den überhaupt Bestraften des jeweiligen Verwandtschaftsgrades, so beläuft er sich auf 42,7% gegenüber 21% bei den Brüdern, 37% gegenüber 24% bei den Vettern. Stumpfl verwendet in diesem Zusammenhang die von Kurt Schneider (1950,1959) im Jahre 1923 erstmalig entwickelte deskriptive Psychopathentypologie. Die Rückfallverbrecher unter den Ausgangsfällen sind fast ausnahmslos abnorme Persönlichkeiten (Psychopathen). Dagegen sind die Einmaligen der überwiegenden Mehrheit nach keine Psychopathen. Nur 14,5% müssen als psychopathisch angesehen werden. Die Rückfallverbrecher setzen sich vorwiegend aus folgenden sich gegenseitig stark überschneidenden Typen zusammen: hyperthymische Psychopathen (29,7%), gemütlose Psychopathen (48,7%), willenlose Psychopathen (57,5%), explosible Psychopathen (13,8%), geltungssüchtige Psychopathen (6%) und fanatische Psychopathen (4%). Die 24 (14,5%) Psychopathen unter den Einmaligbestraften verteilen sich auf 10 Asthenische, 4 Gemütlose, 3 Explosible, 6 Fälle von hysterischen Reaktionen, je 3 Stimmungslabile und Explosible, je einen Willenlosen und Depressiven und 2 nicht einstufbare Sonderlinge. Auch hier waren Überschneidungen zu beobachten. Im Verwandtenkreis von Schwerkriminellen sind Psychopathen wesentlich häufiger als im Verwandtenkreis von Leichtkriminellen. Unter den Geschwistern der Rückfälligen beträgt ihr Anteil 34,5% gegenüber 7 % bei den Geschwistern der Einmaligen, bei den Vätern 31% gegenüber 6,7%, bei den Vettern und Cousinen 8,9% gegenüber 4%. Diese Ergebnisse sprechen — nach Stumpfl — für das Vorhandensein von Erbanlagen, die als Hauptursachen einer habituellen Neigung zu antisozialem Verhalten aufzufassen sind. Stumpfl (1935) spricht in diesem Zusammenhang von einer angeborenen Täternatur des Schwerkriminellen und von einer erblichen Bedingtheit echter Charaktereigenschaften. Er glaubt, den Nachweis erbracht zu haben, daß bestimmte Charaktereigenschaften und Charakterabnormitäten im Zusammenwirken mit bestimmten anderen Charaktereigenschaften schwere Rück-

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Psychologie des Verbrechens

fallkriminalität bedingen und daß diese Eigenschaften auf die Nachkommen vererbt werden. Die Zusammenhänge zwischen Schwerkriminalität und gewissen Formen der Psychopathie sind — nach Stumpfl — erbbiologisch zu verstehen. Zwar hat Stumpfl (1959) den von ihm (1938) vertretenen „engen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Psychopathie" neuerlich in Frage gestellt. An den Ergebnissen seiner Untersuchungen über Erbanlage und Verbrechen hält er aber nichtsdestoweniger heute noch insofern fest, als er auch weiterhin das Verhalten, das zur Kriminalität führt, als vor allem „erbbiologisch unterbaut" ansieht. Fred Dubitscher (1942) hat ebenfalls Sippenuntersuchungen durchgeführt. Aus dem Aktenmaterial des Bezirks- und Wohlfahrtsamtes Berlin-Charlottenburg wurden 54 asoziale Persönlichkeiten ausgewählt, von denen 31 für die Untersuchung Verwendung finden konnten. Von diesen 31 Probanden ausgehend, wurden die Sippenangehörigen erfaßt. Über den „blutsverwandten Kreis" hinaus erstreckten sich die Ermittlungen und Untersuchungen auf die Angehörigen der „sozialen Sippenschaft", d. h. den Kreis der weiteren (und angeheirateten) Verwandten, die sich einander „zugehörig fühlten". Insgesamt wurden 1234 Personen erfaßt, aber nur in 1088 Fällen entsprachen die Unterlagen den von Dubitscher aufgestellten Forderungen nach Vollständigkeit. 707 Personen wurden persönlich untersucht. Dubitscher (1942) hat folgende Ergebnisse erzielt: Wesentlich ist ihm, daß eine Früherkennung von Personen, die später asozial werden, möglich ist. Die ersten Auffälligkeiten zeigen sich meist schon in der frühen Kindheit in Form von Bettnässen, Inaktivität, Unselbständigkeit beim Spiel, Gefühllosigkeit, Lieblosigkeit, Neigung zu Tierquälereien, Schadenfreude, abnormen Trotzreaktionen oder Scheu vor Kameraden, Unsauberkeit, mitunter Rrampferscheinungen („Wutkrämpfe"). In der Schulzeit wurden sehr oft beobachtet: Unstetheit, Verlogenheit, blühende Phantasien, Petzerei, Neigung zu schmutzigen Redensarten, sexuelle Spielereien, Diebereien, Weglaufen, Schwänzen, Unsauberkeit, mangelnder Ordnungssinn, Drückebergerei, erzieherische Unzulänglichkeit. Das soziale Niveau der Sippen war verhältnismäßig niedrig: vorwiegend ungelernte Arbeiter. Auffallend hoch war die Zahl der Asozialen (einschließlich Nur-Krimineller) unter den Geschwistern mit 52,76% ( ± 4,76). Aus diesen Ergebnissen zieht Dubitscher die Schlußfolgerung, daß man den Asozialen nicht die Möglichkeit geben sollte, ihr „außerordentlich unerwünschtes und darüber hinaus schädliches Erbgut" durch Fortpflanzung weiterzugeben. „Soll wirklich die Asozialität eingedämmt und zurückgedrängt, der gesunde Volkskörper gesund erhalten werden, so muß das Eindringen neuer asozialer Keime unterbunden wer-

den. Das ist nur möglich durch eine Ausschaltung anlagemäßig Asozialer aus dem Fortpflanzungsprozeß" (Dubitscher 1938 und 1942, S. 218). Das Vokabular wird Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre noch aggressiver. Der physisch und psychisch minderwertige, unverbesserliche Psychopath tritt an die Stelle des „geborenen Verbrechers". Dieser „Schädling am gesunden Volkskörper" — durch Konstitution und Disposition gekennzeichnet — ist „auszumerzen". Rudolf Sieverts (1929) hatte schon 1928 unter Berufung auf seinen Lehrer Liepmann mit eindringlichen Worten darauf hingewiesen, kriminalbiologische Forschungen nur mit äußerster Vorsicht durchzuführen und praktisch auszuwerten und den Begriff der Unverbesserlichkeit besser nicht anzuwenden. Er war es auch, der bereits damals — leider mit geringem Erfolg — auf die gründlichen Forschungsarbeiten nordamerikanischer Kriminologen aufmerksam zu machen versuchte. Heute müssen wir das Fazit ziehen: Eine angeborene Täternatur von Schwerkriminellen und eine erbliche Bedingtheit von Persönlichkeitseigenschaften sind bisher nicht empirisch nachgewiesen und nach moderner kriminalpsychologischer Erkenntnis auch nicht nachweisbar. Der Ausschließlichkeitsanspruch der Hereditätslehre ist wie jede Monokausaltheorie als völlig undifferenziert abzulehnen. Anlage, Umwelt, Persönlichkeit sind so sehr ineinander verflochten, stehen also in so unauflöslicher Konvergenz, daß die Vorrangigkeit oder Ausschließlichkeit der ererbten Anlage nicht zu beweisen ist. Es gibt keine kriminellen Sippen oder Familien im genetischen Sinne. Falls Stumpfl (1935) und Dubitscher (1942) kriminelle Sippen festgestellt haben wollen, so hätten sie zunächst einmal die Definitionsmerkmale ihrer „Kriminellen" oder „Asozialen" klarer bestimmen und die Forschungstechniken deutlicher herausarbeiten müssen, mit denen sie die „Kriminellen" und „Asozialen" ermittelt haben. Der Psychopathiebegriff und die rein deskriptive Klassifikation der Psychopathen nach Kurt Schneider sind — nach modernen methodologischen Erkenntnissen der Kriminalpsychologie — wegen mangelnder Klarheit, unzureichender Bestimmbarkeit und völliger Unzuverlässigkeit (Reliabilität, Validität!) für empirisch-kriminalpsychologische Forschungen ungeeignet. Es mag durchaus möglich sein, daß Stumpfl und Dubitscher in ihren Sippenuntersuchungen eine höhere Anzahl (Signifikanzberechnungen ?) Schwerkrimineller oder Asozialer in bestimmten Gruppen der Bevölkerung gefunden haben. Hierfür kann aber die Umwelt der betreffenden Gruppen, letztlich die Gesellschaft, verantwortlich sein, die bestimmte unliebsame Bevölkerungsschichten („niedriges soziales Niveau" nach Dubitscher) systematisch diskriminiert und in delinquente Rollen hineindrängt (gesellschaftlicher Ausgliederungsdruck). Hier kann die Lösung

Psychologie des Verbrechens nicht in der Vernichtung dieser Gruppen, sondern gegebenenfalls in Gesellschaftskritik und möglichen sozialen Einstellungsänderungen bestehen. 9. Kritik der Theorien und

Einflüsse

Die ersten Schritte der Kriminalpsychologie waren sehr vielversprechend. Schon 1792 erkannte Schaumann, daß die Kriminalpsychologie eine empirische Wissenschaft ist. Die Bedeutung von kriminalpsychologischen Erkenntnissen und Fähigkeiten für die Strafrechtspraktiker hob Eckartshausen bereits 1791 hervor. Seitdem sind die Forderungen nach kriminalpsychologischer Aus- und Weiterbildung nicht verstummt. Es ist im Laufe der Geschichte der Kriminalpsychologie klar erkannt worden, daß eine Strafrechtspflege ohne Kriminalpsychologie lebensfremd ist. In dieser „mageren" Ausbeute erschöpft sich allerdings auch schon die uneingeschränkt positive Seite der Geschichte der kriminalpsychologischen Theorien und Einflüsse. Bei der Kennzeichnung „des" Kriminellen mit negativen Perspektiven und Persönlichkeitszügen beginnen bereits die mannigfaltigen Irrwege der Kriminalpsychologie. Aufgrund moderner Dunkelzifferuntersuchungen wissen wir heute, daß alle Menschen kriminelle Tendenzen haben und daß es den günstigen oder ungünstigen Umständen zuzuschreiben ist, ob die Kriminalität latent, d. h. im Bereich der Vorstellung oder Phantasie, bleibt oder ob sie ausagiert wird. Die Wissenschaftler, die das Kriminellsein definierten, handelten damit bewußt oder unbewußt als „Degradierungsakteure". Denn sie stuften Menschen nach ihrem Aussehen („geborene Verbrecher"), nach ihren angeblich angeborenen moralischen Defekten („moral insanity"), ihrer Klassenzugehörigkeit („niederes Volk") oder nach ihren angeblich minderwertigen Erbanlagen („Rassenhygiene") einfach als kriminell ein, um im Sinne des Pharisäismus ihr eigenes Nichtkriminellsein und die „Reinheit" der Mehrheit der Bevölkerung wissenschaftlich zu belegen und ihre eigenen und die kriminellen Tendenzen der Mehrheit der Bevölkerung auf irgendeine Minderheit zu projizieren. Die Suche nach einer solchen Minderheit wirkt auf den heutigen Forscher hektischverzweifelt. Die Aufklärung über die Voreingenommenheit der nach einer Sündenbockrolle irgendeiner Minderheit suchenden Kriminalpsychologen wurde und wird zum Teil auch heute noch mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln abzuwehren versucht. Dabei ist sich der stigmatisierende „Krimmalpsychologe" nicht über das Verderbliche und Verhängnisvolle seiner eigenen Einstufung von Menschen als „Kriminelle" im klaren. Denn die Wirkung der Mißbilligung, der Degradierung und der Isolation der Minderheit durch die Mehrheit der Gesellschaft ist in dem Sinne schädlich, daß die Minderheit sich selbst als kriminell anzusehen beginnt und unter dem

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mächtigen Druck der Mehrheit die kriminelle Rolle annimmt, die ihr von der Mehrheit und ihrer „Kriminalpsychologie" zugedacht worden ist. Frank Tannenbaum schrieb über kriminalpsychologische Phänomene in Nordamerika im Jahre 1938: Das bedeutsamste Charakteristikum aller kriminologischen Diskussionen hat in der Annahme bestanden, es gebe einen qualitativen Unterschied zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen. Ein solcher Unterschied existiert nicht. Vielmehr ist diese Annahme darauf zurückzuführen, daß Lombroso einen weiten und beständigen Einfluß auf die Einstellungen gegenüber dem Kriminellen gehabt hat. Es ist keine Frage, wie man einen Kriminellen von einem Nichtkriminellen unterscheidet. Aber es ist ein entscheidendes Problem, wie es geschehen konnte, daß sich ein Krimineller einer Kriminellengruppe angeschlossen hat, und warum diese Kriminellengruppe die spezielle Konfliktstellung mit der Gesellschaft eingenommen hat. Vom Standpunkt der Gesellschaft ist das Individuum, das ein so schlechtes und schädliches Verhalten an den Tag gelegt hat, nun ein böses und unresozialisierbares menschliches Wesen geworden. Diese Einschätzung löst beim Kriminellen einen Prozeß der Selbstidentifikation und der Integration mit der Gruppe aus, deren Aktivitäten er teilt. Der jugendliche Rechtsbrecher wird immer wieder kriminell, weil die Gesellschaft ihn als kriminell definiert hat und weil man ihm nicht glaubt, wenn er sich gesellschaftlich annehmbar verhalten hat. Der Kriminellwerdungsprozeß ist ein Prozeß des Etikettierens, des Definierens, des Identifizierens, des Isolierens, des Beschreibens, des Hervorhebens, des Bewußt- und Selbstbewußtmachens. Er wird zu einer Art des Anreizens, des Vorschlagens, des besonderen Gewichtlegens auf und Heraufbeschwörens von Wesenszügen, über die man sich dann beschwert. Die Dramatisierung des Bösen tendiert deshalb dahin, die ernste Konfliktsituation herbeizuführen, die zunächst durch eine harmlose Fehlanpassung geschaffen worden ist. Die Kriminellen sind selbst Teil unserer Gesellschaft in einem tieferen Sinne. Die spezielle Art des amerikanischen Lebens ist charakterisiert durch Individualismus, Selbständigkeit, Kampf und Wetteifer. Das Ergebnis ist Erfolg. Die negative Kehrseite des Erfolgs ist Untergehen, Isolierung, Enttäuschung und Mißerfolg. Die kriminelle Aktivität in Nordamerika besteht beharrlich fort, weil sie ins Leben gerufen und verewigt worden ist durch solche sozialen Spannungen, die das Wachsen und die Entwicklung amerikanischen Lebens charakterisieren. Bevor sich die amerikanische Gesellschaft nicht von Grund auf geändert hat, werden sich auch die Art und das Ausmaß des Verbrechens in ihr nicht wandeln. Dieser Zusammenfassung der in diesem Zusammenhang wesentlichen Gedanken von Tannenbaum ist hinzuzufügen, daß wegen der zu-

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nehmenden „Amerikanisierung" des Lebens in Westeuropa Entsprechendes auch für die westeuropäischen Gesellschaften gilt. Der Einfluß der physiologischen und experimentellen Psychologie auf die Kriminalpsychologie blieb nur eine Episode in der Geschichte der Kriminalpsychologie, weil die Ergebnisse der physiologischen und experimentellen Psychologie auf die Kriminalpsychologie allzu lebensfern und wirklichkeitsfremd waren. Dennoch leistete die experimentelle Psychologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wertvolle Vorarbeiten für die spätere Entwicklung der gerichtlichen Aussagepsychologie (-»• Forensische Psychologie). Die Experimentalpsychologie kann heute dazu beitragen, neue spezifisch kriminalpsychologische Methoden für die Forschung und die diagnostische Praxis zu erarbeiten und zu validieren. Gleichwohl bleibt die Kriminalpsychologie in dem Sinne ein Gebiet der angewandten Wissenschaften, als sie aus der Erfahrung und für die Erfahrung arbeitet. Die Psychoanalyse hat für die Kriminalpsychologie erstmals die dynamische Betrachtungsweise und die Bedeutung unbewußter seelischer Vorgänge entdeckt oder wiederentdeckt. Das ist ihr bleibendes Verdienst. Gleichwohl ist Freud, seinen Schülern und Nachfolgern der empirische Nachweis eines präexistenten Schuldgefühls, das aus dem Ödipuskomplex resultiert, und die Verwendung der Tat zur Rationalisierung dieses Schuldgefühls bisher nicht gelungen. Dessen ungeachtet versucht eine orthodoxe Schule — auf die Freudschen Lehren fixiert —, diese Hypothesen wie nicht beweisbedürftige, feststehende Dogmen wissenschaftlich und praktisch durchzusetzen. Dieser Versuch hat bis heute in der Kriminalpsychologie keine überzeugenden Erfolge erbracht. Die Psychoanalyse hat nichtsdestoweniger klar herausgestellt, daß zur Erfassung von Entstehung, Entwicklung und Gestaltung krimineller Handlungen und krimineller Persönlichkeiten keine einfach statisch-deskriptive Feststellung des Seelenlebens, sondern seine genetisch-dynamische Verfolgung erforderlich ist. Hierin ist sie den meisten anderen Schulen der Kriminalpsychologie überlegen, die zu sehr an der Oberfläche haften blieben und „Fassadenpsychologie" betrieben. Sie sahen zumeist nur gerade das, was an unsozialen Wesenstendenzen, an Verbrechensmotiven dem subjektiven Bewußtsein ohne weiteres zugänglich ist oder gar grob nach außen in die Erscheinung tritt, und erkannten nicht, daß das eigentlich bestimmende und führende seelische Moment für die unsoziale Wesensart und Haltung in den seelischen Untergründen, den psychischen Tiefenschichten liegen kann und darum nur psychisch latent, unbewußt und unterbewußt seine Wirksamkeit entfaltet. Vorzugsweise durch diese Oberflächenpsychologie mit ihren irreführenden psychologischen Deutungen krimineller Phänomene im

Sinne des Nächstliegenden, Aufdringlichsten, Alltäglichen, rationell Verständlichen pflegten die wirklich ausschlaggebenden Triebkräfte, die in ganz anderen seelischen Sphären: im Instinkt, im Triebleben, kurz dem allgemeinen emotionalen Bereich, gesucht werden müssen, zu kurz zu kommen (Birnbaum 1931, S. 14/16). Gleiches gilt für die Ansicht vom Verbrechen als einer negativen Persönlichkeitsleistung. Diese Auffassung ist in sich widerspruchsvoll. Sie erklärt zwar alle anderen kriminalpsychologischen Theorien für realitätsfremd, mit der Lebenswirklichkeit und Erfahrung nicht vereinbar. An sich selbst rühmt sie hingegen einen metaphysischen Einschlag, eine Ablehnung des Rationalismus und der Praktikabilität. Die Individualpsychologie hat die Kriminalpsychologie am positivsten beeinflußt. Zwar ist die Erklärung aller kriminellen Phänomene aus sozialer Entmutigung zu einseitig und zu einfach. Auch die verstehende Ganzheitserfassung der Persönlichkeit aus ihrer Einmaligkeit heraus ist als Methode in Forschung und Praxis außerordentlich problematisch. Dennoch hat die Individualpsychologie die kriminalpsychologischen Fragen zum ersten Mal in einen größeren sozialpsychologischen Zusammenhang gestellt, der erst das volle Erfassen dieser Fragen ermöglicht. Einige wesentliche Adlersche Hypothesen sind denn auch durch die neuere empirisch-kriminologische Forschung bestätigt worden. Blickt man auf die bis zur Gegenwart vertretenen Theorien der Kriminalpsychologie und auf die Einflüsse zurück, die die Kriminalpsychologie neu zu beleben versuchten, so kann man zusammenfassen: Die Kriminalpsychologie ist aus ihrer Verengung, „Verbrecherpsychologie" zu sein, also die seelischen Vorgänge im Verbrecher zu untersuchen (Mezger 1913), nicht wesentlich herausgekommen. Zwar sind ansatzweise eine dynamische (Psychoanalyse) und eine sozialpsychologische (Individualpsychologie) Betrachtungsweise vorhanden gewesen. Die Kriminalpsychologie hat sich aber dennoch allzu lange mit der Untersuchung „des" Verbrechers oder einzelner psychischer Vorgänge im Verbrecher begnügt. Sie ist überwiegend der primitiven Unterstellung erlegen, es gebe „den" Verbrecher aus einheitlicher Kriminogenese oder einige wenige Verbrechergruppen aus bestimmten undifferenzierten Kriminalätiologien. Die psychische Vielfalt der kriminellen Population hat sie zu wenig in den Blick bekommen. Die zentrale Bedeutung der verurteilenden, degradierenden und isolierenden Reaktionen der Gesellschaft hat sie nicht genügend erkannt. Ihr Schwerpunkt lag in statischer Weise auf der Ursachenforschung. Bewußte und unbewußte Motive liegen vor der kriminellen Handlung. Die Dynamik des Kriminellwerdens ist nicht herausgearbeitet worden. Person und Gesellschaft sind Prozesse. Die Kriminalität hervorbringende und zugleich

Psychologie des Verbrechens strafende Gesellschaft und das kriminelle Individuum befinden sich in einer Interaktion. Es kommt darauf an, wie die Gesellschaft die „kriminelle" Handlung interpretiert und welches Selbstbild, welche Selbstauffasung das „kriminelle" Individuum durch diese Interpretation erhält. Es ist für die Kriminalpsychologie wichtig, die Situation zu verstehen, richtig einzuschätzen und zu definieren, aus der die kriminelle Handlung entstanden ist. Der „Kriminelle" realisiert sich selbst in seiner „verbrecherischen" Handlung. Es ist deshalb unerläßlich, die Gründe des Individuums für seine delinquente Handlung und seine Techniken der Neutralisation (der „Rechtfertigung" seiner delinquenten Handlung) zu verstehen. Diejenigen, die die Kriminellen definieren, müssen sich ebenso der kriminalpsychologischen Forschung zur Verfügung stellen wie bisher einseitig die definierten Kriminellen. Alle Menschen haben delinquente Tendenzen und begehen fast alle entdeckte oder unentdeckte kriminelle Handlungen. Aber nur ein Teil der entdeckten Kriminellen wird als kriminell eingestuft. Es gibt einen Benennungsprozeß und Bezeichnungsakteure, die definieren und bestimmen, wer als kriminell einzustufen ist und wer nicht. Hier werden Selektionsmechanismen erkennbar, die noch nicht genügend durchleuchtet worden sind. Die Kriminalität darf nicht nur als Zustand untersucht werden, wie es die meisten Schulen in der Geschichte der Kriminalpsychologie getan haben. Der Kriminellwerdungsprozeß ist ebenso zu berücksichtigen wie die Selbstvorstellung des als „kriminell" Definierten. Der Kriminelle ist nicht nur strukturell, gestalthaft zu begreifen, sondern er muß hineingestellt werden in die Interaktion und Interdependenz zwischen Täter, Opfer und Gesellschaft. Das hat keine der traditionellen Schulen der Kriminalpsychologie bisher in ausreichendem Maße getan. Derjenige, der das Gesetz ein zweites Mal bricht, braucht nicht mehr die Person mit derselben Selbstvorstellung, derselben Selbstauffassung zu sein, die sie hatte, als sie das Gesetz zum ersten Male verletzte. In dem Erfahrungsprozeß, den der als „kriminell" Definierte von seiner ersten Straftat bis zu dem Rechtsbruch durchgemacht hat, der zur Beurteilung steht, sind neue Dimensionen zu seiner Persönlichkeit hinzugekommen und haben alte Dimensionen seine Persönlichkeit geändert. Der Kriminelle ist eine interagierende Person, die ihre Umwelt interpretiert und die von ihrer Umwelt interpretiert wird. William Healy hat bereits 1915 die Bedeutung der sozialen Degradierung und der sekundären Deviation (Sozialabweichung) erkannt. Die Aufmerksamkeit der deutschen Kriminalpsychologie ist hingegen zu einseitig-statisch auf die kriminelle Persönlichkeit gerichtet gewesen. Die deutsche Kriminalpsychologie war nicht selbstkritisch und tolerant genug. Daher rühren ihre verhängnisvollen Irrwege, von denen sie auch

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heute noch nicht völlig ablassen will. Deshalb ist sie immer wieder in Sackgassen gelaufen und steht alles in allem — im Grunde genommen — heute dort, wo sie mit richtigen Grundkenntnissen am Ende des 18. Jahrhunderts begonnen hat. Die deutsche Kriminalpsychologie hat richtige und wichtige Erkenntnisse der Psychoanalyse und Individualpsychologie in intoleranter Weise verworfen, anstatt diese grundlegenden Erkenntnisse entsprechend umzuformen und weiterzuentwickeln. Gegen die Psychoanalyse und Individualpsychologie waren leicht Gründe vorzubringen. Denn beide waren in polemischer Weise auf die Provokation althergebrachter kriminalpsychologischer Vorstellungen aus. Die deutsche Kriminalpsychologie hätte es sich nicht so einfach machen dürfen, die psychoanalytischen und individualpsychologischen Ansätze zurückzuweisen und nicht weiter zu verfolgen. Freilich ist hierfür nicht unwesentlich die in Deutschland vorherrschend gewesene kriminalbiologische Schule verantwortlich, die auch heute noch in der deutschen Kriminologie keine unwichtige Rolle spielt. C. Methoden 1. Verhaltensbeobachtung

und

Ausdruckskunde

Der Kriminalpsychologe sammelt Materialien seiner Wissenschaft aus der Erfahrung. Der Gegenstand seiner Beobachtung ist der handelnde Mensch, der Verbrecher im weitesten Sinne des Wortes. Bei der kriminalpsychologischen Untersuchung müssen Kleinigkeiten, „Nebenäußerungen" des Probanden beobachtet werden. Nicht nur der Inhalt der Worte ist maßgebend, sondern es muß auf den Ton der Sprache, das Mienen- und Gebärdenspiel geachtet werden. Methoden der kriminalpsychologischen Untersuchung sind deshalb Mimik, Physiognomik und Phathognomik. So äußerte sich Schaumann 1792. Schon die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 schreibt in ihrem Artikel 71 Gebärdenprotokolle vor und noch 1922 verlangte man zwei Protokollanten im Gerichtssaal: einen zur Registrierung der sprachlichen und inhaltlichen, den anderen zur Aufzeichnung der im engeren Sinne motorischen, also vor allem auch der mimischen Äußerungen. Man glaubte, den Charakter eines Menschen aus seinem Äußeren, insbesondere aus seinem Gesichtsausdruck beim Sprechen, beurteilen zu können (Göring 1922, S. 207). Freilich hatte sich Lavater arg getäuscht, als er 1775 prophezeite: „In fünfundzwanzig Jahren wird die Physiognomik statt der Lehre von der Tortur zur Kriminalrechtswissenschaft gehören, und man wird auf den Akademien lesen Physiognomicem forensem wie jetzt Medicinam forensem." Von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts wurden sogenannte Ge-

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bärdenprotokolle vielfach als diagnostische Methode bei der Vernehmung benutzt. Friedreich (1842) hat diese Gebärdenprotokolle eingehend beschrieben: Der Zweck der Gebärdenprotokolle soll sein, ein genaues, vollständiges Bild von dem nicht in den Worten liegenden Benehmen, dem Ausdruck, der ganzen Haltung einer bei Gericht vernommenen Person zu gewähren, so daß auch der, der diese Person gar nicht gesehen hat, sie doch kennenlernen und ihre Aussagen würdigen kann. Es ist ferner zu berücksichtigen, daß die Miene des Beschuldigten, sein Ton, seine ganze Haltung, die Tränen, die seine Reue zeigen, die Begeisterung, mit der er spricht, für den Strafrichter, der den Beschuldigten nicht selbst sieht und dem nur ein Gerichtsprotokoll vorgelegt wird, verloren gehen. Die Gebärdenprotokolle sollen deshalb folgende Eigenschaften haben: Sie sollen die sorgfältigen und genauen Aufzeichnungen der Beobachtungen des Vernehmenden darstellen und sollen sich als die Produkte einer gründlichen Menschenkenntnis erweisen. Sie sollen sich nicht bloß auf ein paar Erscheinungen beziehen, sondern vollständig und umfassend sein. Sie müssen daher den Ton des Betragens des Verhörten überhaupt schildern, ob er ζ. B. mit Trotz, Ungestüm oder Ruhe oder mit sichtbarer Angst gesprochen hat. Besonders müssen sie alle die Gefühle, die der Verhörte bei einzelnen Fragen und Antworten durch seine Gebärden an den Tag gelegt hat, vollständig bezeichnen, ζ. B. Scham und Reue. Ferner soll auf jene Harmonie des Ausdrucks in den Gebärden mit den Worten und den Äußerungen des Vernommenen Wert gelegt werden: Wie oft heuchelt der Vernommene Reue, während alles an seinem ganzen Wesen den Widerspruch des Wortes mit der inneren Gemütsstimmung zeigt. Selbst die Art des Ausdrucks der Worte soll entscheiden, die zwar nicht in den Gebärden liegt, sondern vorzüglich im Ton, mit dem die Worte gesagt werden, und in dem Umstand, ob der Verhörte langsam, ruhig, überlegt oder schnell und aufbrausend spricht. Endlich soll im Protokoll das körperliche Verhalten des Vernommenen mit dem gesamten Spiel der Bewegungen seiner Körperteile nicht verschwiegen werden. Wenn der Vernommene nicht ruhig auf dem Stuhl sitzen kann, ängstlich auf dem Stuhl herumrückt, seine Hände in beständiger Bewegung hat und so schon der Körper den Widerstreit und den Kampf bezeichnet, der in seinem Innern vorgeht, so läßt dies alles Rückschlüsse zu. Die Problematik der Gebärdenprotokolle lag indessen darin, den wirklichen psychischen Vorgang von Täuschung und Heuchelei zu unterscheiden. Hierzu schreibt Friedreich (1842): Aus der Beobachtung des Betragens bei den Rechtfertigungsantworten des Befragten sucht man Beiträge zu entnehmen, um die Wahrheit von der Verstellung trennen zu können. Hierzu rechnet man die Art der Vorbringung der Antwort, ob

langsam, zögernd oder ruhig und ernst geantwortet wird, und den Ton der Stimme: Gepreßt, gleichsam mit zusammengeschnürter Brust antwortet der Schuldige. Die Miene des Antwortenden verrät entweder die Verschlagenheit oder verbirgt mit Mühe die Freude über den Sieg, den der Beschuldigte davongetragen zu haben glaubt. Mitunter beobachtet der Beschuldigte selbst lauernd die Gebärden des Vernehmenden. Die ganze Haltung des Körpers, das krampfhafte Spiel der Hände, das ängstliche Herumrücken auf dem Stuhl können Aufschluß darüber geben, ob der Vernommene die Wahrheit sagt. Schließlich soll die Beobachtung dahin gehen, ob jenes Gefühl, das der Befragte erheucheln will, auch zu dem Ausdruck paßt, der sich in seiner Miene widerspiegelt. Friedreich hat sich allerdings schon 1842 kritisch zu den Gebärdenprotokollen geäußert: Vergleichen wir die gerühmten Vorteile der Gebärdenprotokolle mit den Irrungen und Trugschlüssen, zu denen sie verleiten können, so finden wir, daß letztere die ersteren bei weitem überwiegen. Friedreich glaubt nicht mit Unrecht die Behauptung aufstellen zu dürfen, daß diese Gebärdenprotokolle — für sich allein betrachtet — keinen Wert haben. Sie können vielmehr nur in Verbindung und im Vergleich mit den übrigen Beweismitteln dann von Bedeutung für den Strafrichter sein, wenn sie selbst von einem mit Psychologie und Menschenkenntnis hinreichend ausgestatteten Untersuchungsleiter angefertigt worden sind. Moritz Liepmann urteilt (1924) abschließend über die Praxis der Gebärdenprotokolle: Sie waren ein gut gemeintes, aber nutzloses und sehr gefährliches Mittel, um den persönlichen Eindruck, den der Beschuldigte oder der Zeuge bei seiner Aussage auf den Vernehmenden machte, aktenmäßig festzuhalten. 2. Beobachtung

und

Interview

Wenn auch schon Schaumann (1792) die Sammlung von Fakten durch Beobachtung zum Zweck der kriminalpsychologischen Forschung gefordert hatte, so ging es im 19. Jahrhundert bei den Methoden der Kriminalpsychologie eigentlich immer nur um diagnostische Verfahren in der Strafrechtspraxis. Erst um die Jahrhundertwende wandte man sich der empirischen Forschung zu. Hier spielten die Beobachtung und exakte Beschreibung einer großen Anzahl von einzelnen Kriminalfällen als Material für die kriminalpsychologische Forschung eine große Rolle. Richard Passow schreibt 1904 dazu: Die Gerichtsverhandlung hat die Aufgabe, alle Fragen, die für die Erforschung des Delikts und seine Motive Bedeutung haben können, aufzuhellen, und so kommt es eigentlich nur darauf an, das im Laufe der Verhandlung Ermittelte zusammenzufassen und darzustellen. Noch besser als die Beschreibung des Einzelfalls ist ein Bericht über den ganzen Lebenslauf des Verbre-

Psychologie des Verbrechens chers. In vielen Fällen wird der Richter durch die Ermittlungen über eine eventuelle erbliche Belastung, über das Vorleben und die Vorstrafen des Angeklagten in der Lage sein, auch einen solchen Bericht zu liefern. In anderen Fällen wird der Strafanstaltsbeamte diese Arbeit übernehmen können. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte Charles Loring Brace (1880) die „gefährlichen Klassen" von New York beobachtet, indem er zwanzig Jahre unter ihnen gearbeitet hatte. Hans W. Gruhle (1912) hatte in der Erziehungsanstalt Flehingen (Baden) im Sommer 1907 zwei Monate lang 105 Jugendliche untersucht, indem er jeden eineinhalb bis vier Stunden interviewte und seine Personalakten durcharbeitete. Er achtete bei den Interviews nicht nur auf den Inhalt des Gesagten, sondern faßte auch die Ausdrucksweise ins Auge, um ein klares Bild vom Charakter des Jugendlichen zu bekommen. An Hand der Strafregisterauszüge der 105 Jugendlichen führte er im Jahre 1910 eine Nachuntersuchung durch. Er versuchte schließlich auch, das von ihm ermittelte sozial Abweichende auf der Grundlage des Häufigen, Üblichen und Durchschnittlichen zu vergleichen. Im Zentralgefängnis Langholmen bei Stockholm beobachtete und interviewte Andreas Bjerre(1925) Mörder und beschrieb ihre Persönlichkeiten in einzelnen Verbrechermonographien. Er äußerte die Ansicht, daß systematische Beobachtung und sorgfältige Analyse des ganzen äußeren Auftretens eines Menschen bei genügend wiederholten Gesprächen eine beachtenswerte Möglichkeit in sich schließen, einen Einblick in wesentliche Züge seines Seelenlebens zu erlangen. Eine klassische Untersuchung ist heute noch „The gang" von Frederic M. Thrasher (1927). Er untersuchte in sieben Jahren 1313 Banden mit etwa 25000 Mitgliedern in Chikago. Obgleich er auch noch andere Forschungstechniken benutzte, entwickelte er das Forschungsinstrument der Beobachtung zu einem für seine Zeit hohen Niveau. Der größte Mangel seiner Untersuchung bestand darin, daß er keine Hypothesen aufstellte und testete. William Foote Whyte (1943) erforschte die Bandenkriminalität in einem italienischen Slumviertel einer Großstadt im Osten der USA in der Zeit von 1937 bis 1940 mit der Forschungsmethode der teilnehmenden Beobachtung. 3. Biographische

und verwandte

Methoden

Obgleich Schaumann die Anwendung der biographischen Methode in der kriminalpsychologischen Forschung gleichfalls schon 1792 verlangt hatte, wurde diese Methode erst um die Jahrhundertwende angewandt. Hutchins Hapgood zeichnete 1904 die Autobiographie eines berufsmäßigen Diebes nach dessen eigenen Angaben möglichst wortgetreu auf. Nicht nur die seelischen Entwicklungen des Diebes wurden aus seiner eige-

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nen Sicht dargestellt, sondern die Charaktere seiner Kameraden und die Atmosphäre der Unterwelt wurden aus dem Blickfeld des Kriminellen zu skizzieren versucht. Die Interpretation der Aufzeichnungen war sehr dürftig: Der Kriminellwerdungsprozeß wurde auf mangelnde seelische Reife zurückgeführt. Fritz Auer sammelte und veröffentlichte (1905) Berichte von Strafgefangenen über die psychischen Wirkungen der Gefangenschaft, die sie selbst an sich beobachtet hatten. Autobiographien, Selbstbekenntnisse, Aufsätze und Gedichte hat Johannes Jaeger (1906) in fünfzehn Jahren unter einer Population von Strafanstaltsinsassen in Bayern zusammengetragen. Er hat Schreibhefte von 32 Gefangenen ausgewertet. Diese Hefte waren den Gefangenen überlassen worden, damit sie — ohne einengende Kontrolle — ihre Gedanken und Gefühle schriftlich niederlegen konnten. Jaeger hat schließlich Notizen in Bibliotheksbüchern und Wandinschriften als Ausgangsmaterial für seine Interpretation benutzt. Zu dieser Methode hat Hans Groß wie folgt Stellung genommen: Es ist Tatsache, wie ein Verbrecher empfindet. Es ist Tatsache, wofür er sich interessiert. Es ist Tatsache, was und wie er schreibt. Ob die Dinge nun schön oder häßlich sind, ob sie von gebildetem oder rohem Geist zeugen, selbst ob sie wahr oder falsch sind, ist gleichgültig. Es ist auch nicht maßgebend, ob jemand einen bestimmten Aufsatz oder ein Gedicht selbst verfaßt oder aus dem Gedächtnis niedergeschrieben hat: Wir wollen nur wissen, was ihm des Niederschreibens wert war, wie er das getan hat, was er als gut und schön, was er als schlecht und häßlich hinstellen wollte. Hat er Bekanntes rezitiert und absichtlich oder unwillkürlich kleine Änderungen vorgenommen, so lernen wir hierdurch den Mann besser kennen als durch lange Protokolle. Deshalb hofft Groß, daß das Studium von Selbstbekenntnissen, Autobiographien, Aufsätzen und Gedichten der Kriminalpsychologie größten Nutzen bringen wird, auch wenn die „Selbstbekenntnisse" falsch, die „Autobiographien" erlogen und mancher der Aufsätze und viele der Gedichte bloß abgeschrieben worden sind: Daß die Leute diese Dinge geschrieben haben, ist Tatsache, und die Kenntnis jeder Tatsache fördert uns. William I. Thomas hat 1923 die Lebensgeschichten von delinquenten Mädchen in den USA aufgeschrieben und psychoanalytisch zu interpretieren versucht. Allen männlichen und weiblichen Gefangenen der Strafanstalten Württembergs hat Walter Luz (1928) zwei Aufsatzthemen gestellt: Wie urteile ich über das Leben und seine Einrichtungen auf Grund der Erfahrungen, die ich an mir und anderen gemacht habe? Meine auf Grund von Erfahrung gewonnenen Ansichten: Wie urteile ich über die Religion und ihre Bedeutung in meinem Leben ? Gut und Bösel Wie urteile

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Psychologie des Verbrechens

ich über das Zusammenleben der Menschen ? Wie denke ich über die staatlichen Einrichtungen? Was finde ich schön ? Er erhielt 25 Arbeiten über das erste allgemeinere Thema. 261 Aufsätze wurden zu dem zweiten Thema geschrieben, das unterteilt worden war. Luz verwandte ferner noch 12 Arbeiten von Untersuchungsgefangenen, die ihr Leben beschrieben oder zu verschiedenen, nicht vorher gestellten Fragen Aufsätze verfaßt hatten. Luz wollte keine Autobiographien einzelner Verbrechertypen veröffentlichen. Er erstrebte vielmehr, alle Fragen, die sich in der Kriminalpsychologie erheben und vom außenstehenden Forscher in der ihm allein zukommenden objektiven Betrachtungsweise zu beantworten versucht werden, auch vom Objekt dieser Betrachtungsweise, dem Verbrecher selbst, beantworten zu lassen. Er wollte das verbrecherische Leben vom Verbrecher selbst schildern lassen. Dabei sollte der Kriminelle die Ursachen des Verbrechens und die Wirkungen der Verbrechensbekämpfung selbst beurteilen. Luz äußerte die sehr bestreitbare Ansicht: Die günstigste Möglichkeit, sich und sein Leben zu beurteilen, besteht für den Verbrecher allein in der Gefangenschaft. Dort hat er die nötige Distanz gewonnen, aus der heraus er sein verbrecherisches Leben zu beurteilen imstande ist. Die sehr ungewissen Variablen der Wirkung der Freiheitsstrafe auf den Gefangenen, die Luz glaubte mit so unkritischer Sicherheit beurteilen zu können, versuchte Rudolf Sieverts (1929) in den Griff zu bekommen. Schon vorher hatten sich unter anderen Auer (1905), Gustav Radbruch (1911) und Rudolf Michel (1924) mit mäßigem Erfolg um die „Psychologie der Gefangenschaft" bemüht. Sieverts wertete 45 Haftmemoiren ehemaliger Strafgefangener systematisch-inhaltsanalytisch aus. Er zog Kriegsgefangenschaftserinnerungen und die Beobachtungen ergänzend heran, die Strafvollzugsbeamte gemacht hatten. Die Haftmemoiren, die Sieverts verwandte, vermitteln zwar fast ausschließlich ein Bild darüber, wie sich die Angehörigen höherer, gebildeter Gesellschaftsund Berufsschicbten, die den kleinsten Prozentsatz der Strafanstaltsinsassen ausmachen, in der Gefangenschaft seelisch fühlen und verhalten. Die geistig primitiven, schwerfälligen, stumpfen oder in der Haft stumpf gewordenen Charaktere unter den ehemaligen Gefangenen schweigen indessen. Gleichwohl hat Sieverts in seiner Studie ein Material kriminalpsychologisch aufgearbeitet, das wegen seiner psychischen Differenziertheit einen vorzüglichen Einblick in die Wirkungen der Freiheitsstrafe zu geben vermag. Der entlassene Strafgefangene zeigt oft das erschreckende Bild eines „gebrochenen Menschen": Konzentrationsunfähigkeit, Gedächtnisschwäche, phantastischer Illusionismus, unausgeglichenes Gefühlsleben, mangelnde Selbstbeherrschung, Abnahme des Geselligkeitsstrebens, der Arbeitsfreude, der Entschlußfähie-

keit und der Willenskraft kennzeichnen dieses Bild. Sieverts' Studie ist bislang in der Welt unübertroffen geblieben. Dasselbe gilt für die — freilich ganz andersartigen — Untersuchungen von Clifford R. Shaw (1930), von Clifford R. Shaw, Henry D. McKay und James F. McDonald (1938) und in verstärktem Maße von Edwin H. Sutherland (1937). Alle vier benutzten die Methode der „Lebensgeschichte" („life history"). Wenn man verstehen will, warum sich jemand so benimmt, wie er sich benimmt, muß man herauszufinden suchen, wie er selbst die Situationen sieht, die sich ihm boten, womit er aus seiner Sicht zu kämpfen hatte und welche Alternativen er für sich noch offen sah. Die Lebensgeschichte kann mehr als jede andere Forschungstechnik — außer vielleicht der teilnehmenden Beobachtung —· der Prozeßhaftigkeit und Dynamik delinquenten Lebens nachspüren. Wir bekommen eine Vorstellung davon, was es heißt, eine Persönlichkeit zu sein, die sich anders verhält, als wir uns verhalten, und die uns deshalb fremd ist. Wir beginnen, Fragen über abweichendes Verhalten aus der Perspektive des Delinquenten zu stellen. Wir begreifen vielleicht auch, welche Bedeutung die delinquente Handlung im Leben des für uns Andersartigen, für uns Fremden hat. Shaw (1930) hat die Lebensgeschichte eines delinquenten Jungen von ihm selbst erzählen lassen. Er hat den Fall als typischen Fall unter 200 ähnlichen Fällen ausgewählt. Mit dem Jungen, den er kennenlernte, als der Junge 16 Jahre alt war, pflegte er über 6 Jahre lang Kontakt. Er beobachtete und interviewte ihn ständig. Als Ergänzungsmaterial zog er Familienanamnese, medizinische, psychiatrische und psychologische Untersuchungen, Gerichtsakten, Vorstrafenregisterauszüge, Erkundigungen über seine Umgebung und insbesondere seine Freunde heran. Der Zweck seiner empirisch-kriminalpsychologischen Studie war es, den Standpunkt eines Delinquenten kennenzulernen, seine sozialen und kulturellen Situationen zu erkunden, in denen er sich immerfort befindet, und den Ablauf von Lebenserfahrungen und ihre Wirkungen zu durchschauen. Heinz Jacoby interpretierte auf Grund von Aufzeichnungen zweier Zuchthäusler deren Leben in individualpsychologischer Sicht (1931). Alle Materialien zum Strafprozeß gegen Philipp Halsmann hat Karl Marbe (1932) in vorbildlicher Weise gesammelt und kriminalpsychologisch interpretiert. Eine in ihrer Art auch heute noch unerreichte Monographie hat Sutherland (1937) nach der biographischen Methode geschrieben. Er ließ die Lebensgeschichte eines zwanzig Jahre lang straffällig gewesenen berufsmäßigen Diebes von dem Probanden selbst erzählen. Sutherland kommentierte und interpretierte die Erzählungen. Zwei Drittel schrieb der Proband allerdings selbst. Hierbei arbeitete er freilich mit Sutherland, der ihm

Psychologie des Verbrechens Fragen und Themen zur Bearbeitung stellte, sieben Stunden pro Woche und zwölf Wochen lang zusammen. Sutherland diskutierte die Fragen und Themen auch mit anderen berufsmäßigen Dieben, mit Polizisten, Detektiven und Ladeninhabern. Der „Beruf" eines Diebes hat seine Techniken, seinen „Ehrenkodex", seine Traditionen, seinen Status, sein Glaubensbekenntnis und seine Organisation. Für den berufsmäßigen Dieb ist es wichtig, daß er von anderen berufsmäßigen Dieben anerkannt wird. Der Anwärter auf den „Beruf" eines Diebes muß die Geschicklichkeiten und Fingerfertigkeiten, die Einstellungen, die Normen und Verbindungen eines Diebes kennenlernen. Das geschieht meist unter dem Schutz eines erfahrenen Diebes, der ihn anlernt. 4. Kriminalgraphologie Die ersten Ansätze zu einer systematischen „Kriminalgraphologie" finden sich bereits in der Mitte des vorigen Jahrhunderts bei Michon (1806—1881). Er verlor sich allerdings in der Deutung einzelner isolierter Schriftmerkmale und entwickelte einen Katalog von Zeichen, denen er jeweils eine feste charakterologische Bedeutung zuschrieb. Häkchen, keulenförmige Querstriche, spitze Enden, Einrollungen — um nur einige wenige zu nennen — charakterisieren für ihn „den Kriminellen". Im Rahmen kriminalanthropologischer Forschungen untersuchte Lombroso (1895) gleichfalls die Handschriften von Verbrechern, die er nach Delikten in verschiedene Gruppen einteilte, auf gruppenspezifische Gemeinsamkeiten hin. Dabei ging er von Eigenschaften aus, die er als charakteristisch für „den Dieb" oder „den Mörder" ansah, und kam schließlich zu Ergebnissen, die ebenfalls über eine Aneinanderreihung von Einzelformen („Säbelstriche", „Mordschlingen") nicht hinausgehen. Später (1927) bemühte sich Cr^pieux-Jamin (1858—1940) um eine Verbesserung dieser Methoden und gelangte dabei zu einer Zusammenfassung von Eigenschaftskomplexen. Seine Elemente und die darauf aufgebauten Dominanten entbehren jedoch der Mehrdimensionalität. Cröpieux-Jamin weist darauf hin, daß die Schrift zwar Bedingungen der Kriminalität aufzeigen kann, nicht aber, ob ein bestimmtes Delikt durch den Schreiber wirklich begangen wurde oder begangen werden könnte. Im Gegensatz zu Michon betonten de Rougemont und Rhodes (1935), daß kein einzelnes spezifisches Schriftmerkmal für kriminelle Veranlagung spräche, sondern nur die Kombination bestimmter Merkmale auf eine asoziale oder antisoziale Haltung des Schreibers schließen lasse. Unter anderem nennen sie: starke Linksläufigkeit, Winkelbindung, Langsamkeit, Schärfe, ungeordnetes Schriftbild, wellenförmige Zeilenführung. Eine veränderte Betrachtungsweise bringt der Ansatz von Ludwig Klages (1912), der in seiner Formniveautheorie

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rhythmische Qualitäten zum Mittelpunkt eines graphologischen Deutungsprinzips machte. Charakterologische Überlegungen führten ihn zur Annahme einer bestimmten psychischen Grundstruktur, die den „geborenen Verbrecher" kennzeichnet, aus der sich jedoch nach seiner Meinung der „aktuelle" Verbrecher erst unter gewissen Voraussetzungen entwickelt. Zum Beispiel ließe der gewöhnliche Mangel an Widerstand gegen Verlockungen — auf den Höhen der Gesellschaft: die liebenswürdige Schwäche flatterhafter Müßiggänger — in tieferen Schichten ihren Träger zum Landstreicher, Zuhälter oder Gewohnheitsdieb werden. Das Entscheidende liegt nach Klages indessen im Charakter und ist somit graphologischer Deutung zugänglich. Max Pulver (1934) beschränkte seine Untersuchungen absichtlich nicht auf die Handschrift von Kriminellen, sondern versuchte, Möglichkeiten zu finden, um den Asozialen ganz allgemein aus der Schrift zu erkennen. Die Ermittlung asozialer Charakterzüge ist nach seiner Meinung nur möglich, indem wir hinter das Zustandsbild, wie es ein vorliegendes Schriftbild bietet, zurückgehen und die spezielle Dynamik aufzufinden trachten, der es seine Entstehung verdankt. Das Grundelement dieser Dynamik sieht Pulver in drei Triebgruppen: den Sexualtrieben, den Ich- oder Selbsterhaltungstrieben und den Machttrieben. Demnach handelt es sich bei seiner Analyse der Asozialität im wesentlichen um eine Ausdrucksanalyse des Triebhaften. Für ihn ist der Schreibdruck als der graphische Spontanniederschlag der Triebenergie maßgebend. Jedoch bringt nicht nur die Unterscheidung des Schreibdrucks wesentliche Erkenntnisse über die Beschaffenheit des Triebcharakters, sondern ebenso wesentlich sind für Pulver die Beachtung der Raumsymbolik der Handschrift sowie die Störungen des Schreibrhythmus. Im übrigen geht es Pulver nicht so sehr um die allgemeine Feststellbarkeit asozialer Tendenzen in der Handschrift als um die ausführliche Betrachtung der Handschriften einzelner von ihm als asozial bezeichneter Persönlichkeiten auf der Grundlage seiner eigenwilligen, recht unklar formulierten Triebtheorien. Roda Wieser (1938) hat die graphologische Methode von Ludwig Klages (1872—1956) in systematischer Arbeit der Kriminalpsychologie nutzbar zu machen versucht. Sie hat 694 Verbrecherschriften mit 200 Schriften einer Kontrollgruppe verglichen. Sie hat die Schriften von Mördern, Notzüchtern, Kinderschändern, Einbrechern, Dieben und Betrügern untersucht und den Schriften von Polizisten und nichtkriminellen Zivilisten verschiedener Berufe gegenübergestellt. Sie kam dabei zunächst zu dem Ergebnis, daß Stärke des Grundrhythmus als Ausdruck seelischer Fülle stets Voraussetzung für hohes Formniveau im Klagesschen Sinne ist, daß aber Schwäche des Grundrhythmus, gleichbedeutend mit seelischer Armut,

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stets identisch ist mit niederem Formniveau. Sie erzielte ferner folgendes Resultat: Die Voraussetzung zur kriminellen Disposition liegt zutiefst in dem biologisch begründeten Seelenmangel, über den die Grundrhythmusschwäche aussagt. Dieser Mangel ist seinem Wesen nach beim kleinen Betrüger derselbe wie beim schwersten Mörder. Verschieden sind nur seine quantitativen Abstufungen, die ihrerseits die Schwere der charakterlichen Entartung bedingen. Der Grundrhythmus gibt Aufschluß über Dasein, Stärke und Schwäche des seelischen, rational nicht mehr faßbaren Kerns der Persönlichkeit. Er ist Maßstab psychischer Voll- oder Minderwertigkeit. Grundrhythmusstärke ist immer Ausdruck tiefer Erlebnisfähigkeit, Grundrhythmusschwäche dagegen Ausdruck flachen Erlebens. J e ausgeprägter die Grundrhythmusschwäche, um so sicherer ist die kriminelle Disposition des Schreibers allein schon aus ihr zu entnehmen, und je ausgeprägter die Grundrhythmusstärke, um so sicherer schließt diese allein schon die kriminelle Disposition aus. Stellt man mit Rücksicht auf das Vorwiegen der Grundrhythmusschwäche der Verbrecherhandschriften die Schwächegrade als leitenden Maßstab auf, so ergibt sich — nach Roda Wieser — folgende Stufung: Stufe V = Schwäche des Grundrhythmus sehr stark ausgeprägt; Stufe IV = Schwäche des Grundrhythmus stark ausgeprägt; Stufe I I I = Schwäche des Grundrhythmus mittelstark ausgeprägt; Stufe I I = Stärke des Grundrhythmus mäßig ausgeprägt; Stufe I = Stärke des Grundrhythmus ausgeprägt. Die mittelstarke Grundrhythmusschwäche der Stufe I I I grenzt an die beiden schwächsten Stufen IV und V an und steht somit noch auf der Seite der Grundrhythmusschwäche. Dagegen steht die Stufe II, angrenzend an Stufe I, schon auf der Seite der Grundrhythmusstärke, die in der Stufe I am ausgeprägtesten ist.

Nicht nur die Handschriften Krimineller und Nichtkrimineller (Zivilisten und Polizisten) weisen beträchtliche Unterschiede in den Schwäche- und Stärkegraden des Grundrhythmus auf, sondern ebenfalls die Handschriften verschiedener Verbrechergruppen untereinander (siehe Tabelle 1). In den Schriften der Mörder, Notzüchter und Schänder tritt die Schwäche des Grundrhythmus in besonders hohem Maße auf und bekundet für diese Verbrechergruppen die stärkste Ausgeprägtheit derjenigen psychischen Mängel, die unsere Sprache mit Worten bezeichnet wie innere Armut, Seelenarmut, Seelenverarmung, Lebensarmut oder, die Färbung des Mangels umschreibend, mit Flachheit des Erlebens im Gegensatz zu seiner Tiefe, Armut des Eigenlebens im Gegensatz zu dessen Reichtum, innere Leere, seelische Verödung im Gegensatz zu der sich selbst genügenden und aus sich selbst schöpfenden Fülle; die Gerichtspsychiatrie pflegt in gleichem Sinne Ausdrücke wie „psychisch degeneriert" oder „gemütsarm" anzuwenden. Ausschließlich geht es hier um seelische Mängel. Nichts dagegen ist aus der Tabelle 1 über die geistigen Eigenschaften der Schreiber zu erfahren. Seelische Minderwertigkeiten der genannten Art können bestehen neben oder trotz intakter Denkfähigkeit und unabhängig vom Weltbild, wie es der einzelne durch Bildung, Neigungen, Fähigkeiten, Strebungen und Umwelteinflüsse erworben hat. Zwischen den Schriften der Mörder, Notzüchter und Schänder einerseits und denen der Vermögensverbrecher wie Einbrecher, Diebe und Betrüger andererseits besteht ein gewaltiger Abstand, und zwar sowohl in den Zahlen für die stärkste Ausprägung der Grundrhythmusschwäche der Stufe V als auch für die beiden schwächsten Stufen V und IV zusammen. Es ist also, allgemein gesprochen, die seelische Verarmung der Vermögensverbrecher bedeutend schwächer ausge-

Tabelle 1 Grundrhythmusstufen ( % ) (nach Roda Wieser, Der Verbrecher und seine Handschrift, Stuttgart 1952, S. 69)

Stufe

ι τη a> Ό S ν Ö Λ ©Λ -ρ ο >-> :β3 Λ •9 ^ α> Ö 3 Μ τη Ν ο

a

Ί-s ε

• ν IV III II I

Mörder

Notzüchter

Schänder

Einbrecher

Diebe ohne Einbrecher

39) )79 40) 20

45) )85 40) 14

24) )69 45) 29

8) )30 22) 56

1) )25 24) 58

1) )1

1) )ΐ

2) )2

14) )14

17) )17

- )

- )

100

100

- )

- )

100

100

- )

100

Betrüger

- )

)17 17) 62 21) )21 - )

100

Polizisten

- )

- ) - )

Nichtkriminelle Zivilisten

) -

6 53) )94 41)

100

- ) 5

) -

40) )95 55)

100

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Psychologie des Verbrechens prägt. Ihre Höchstzahlen weisen die Vermögensverbrecher auf der Stufe I I I auf, der letzten, die noch auf der Seite der Grundrhythmusschwäche steht. Nichtkriminelle dagegen, Polizisten wie Zivilisten, sind hier nur mit 6 % und 5 % vertreten, und kein einziger von ihnen schreibt so grundrhythmusschwach, daß seine Schrift den schwächsten Stufen IV oder V angehörte; vielmehr liegen ihre Höchstzahlen auf den beiden grundrhythmusstärksten Stufen I I und I. Das heißt: J e 94%/95% der Nichtkriminellen, die sich aus Polizisten und berufsbewährten Zivilisten zu gleichen Teilen zusammensetzen, sind in dem beschriebenen Sinne überhaupt nicht seelisch verarmt, nur 5 % / 6 % sind es in demselben Maße wie 56%—62% der Vermögensverbrecher, und keiner von ihnen weist jene seelischen Mängel in solcher Ausgeprägtheit auf wie 79,85% und 69% der Mörder und Sexualverbrecher. In den beiden untersten Zeilen der Tabelle kehrt sich somit das Zahlenverhältnis gegenüber den beiden obersten Zeilen nicht nur um, sondern verschiebt sich sogar noch zugunsten der Nichtkriminellen. Sieht man von den besonderen Charakteranlagen ab, die von Fall zu Fall mehr zu diesem oder jenem Verbrechen disponieren können, so geht aus der Tabelle 1 hervor, daß allein schon die ausgeprägteste Seelenarmut zu gewissen schwersten Verbrechen wie Mord, Notzucht und Schändung disponieren muß und daß diese Disposition mit Verminderung der seelischen Verarmung ebenfalls abnimmt. Damit soll nicht etwa der Anschein erweckt werden, als würde eine solche Verbrechenstat seitens eines weniger oder kaum seelenverarmten, berufsbewährten Nichtkriminellen für ausgeschlossen erachtet. Doch sinkt die Wahrscheinlichkeit, daß diese vorkommen kann, von der Grundrhythmusstufe I I I zur Stufe II rapid ab und schwindet überhaupt bei voller Grundrhythmusstärke bis zur Gewißheit der Unmöglichkeit. Größer ist dagegen die Möglichkeit, daß die bisher Nichtkriminellen der Grundrhythmusstufen I I I und II unter dem Einfluß besonderer Lebensumstände gelegentlich auch einbrechen, stehlen und betrügen können, da immerhin 5 % und 6 % von ihren Schriften noch auf der Stufe I I I liegen und umgekehrt auch 14%—21% der Vermögensverbrecherschriften auf der Stufe II zu finden sind, auf der 40%—53% der Nichtkriminellen stehen. Der Grundrhythmus allein kann daher nur wenig Sicheres über die kriminelle Disposition aussagen, wenn er im Grenzgebiet zwischen Stärke und Schwäche liegt; das sind die Fälle, in denen den Einzelmerkmalen je nach der Art des Auftretens und ihrem Zusammentreffen für die Ermittlung krimineller Disposition ihre besondere Bedeutung zukommt. Ob es sich bei dem Grundrhythmus wirklich um das grundlegende Merkmal handelt, wird fraglich, wenn man die Ergebnisse der Untersuchungen Pophals (1939) berücksichtigt. Danach zeigt in

eben dem Maße, wie der Bewegungsrhythmus bei Verbrecherhandschriften schwere Störungen aufzuweisen pflegt, auch das Strichbild ausnahmslos minderwertige Strukturen. Unter der großen Zahl von Handschriften grob krimineller Personen, insbesondere langjähriger Sicherungsverwahrter, die Pophal untersuchte, fand sich auch nicht eine, die einen homogenen Strich aufzuweisen hatte. Allerdings wäre es verfehlt, wollte man aus dieser Tatsache den Umkehrschluß ziehen. Die Strichstörungen, von denen Pophal in diesem Zusammenhang den „granulierten" und den „amorphen" Strich nennt, finden sich nicht etwa nur bei Kriminellen; auch jeder ausgesprochene „Psychopath" und viele „Normale" (Pophal: „die meisten charakterlich nicht Vollwertigen") haben sie. Die gemeinsame Grundlage ist dabei das, was Pophal eine Schädigung und qualitative Minderwertigkeit des „seelischen Stoffes" nennt. Wie schon de Rougemont Ansätze zu einer kombinatorischen Betrachtung der graphischen Merkmale aufzeigt, so weist auch Pophal darauf hin, daß erst die Verbindung eines zentralen Kriteriums — für ihn die besondere Beschaffenheit der Strichstruktur — zusammen mit weiteren Merkmalen das Vorhandensein krimineller Züge der Persönlichkeit wahrscheinlich macht. Es ist kein Zufall, daß Untersuchungen zur Graphologie der Verbrecherhandschrift ein Spezialgebiet der kriminalpsychologischen Forschung in den deutschsprachigen Ländern sind. Denn die Theorie der vorwiegend konstitutionell bedingten Kriminalität hat bei uns immer noch Gewicht. Die Untersuchungen zur Graphologie der Verbrecherhandschrift sind durchweg durch Lombrosos Hypothese vom stigmatisierten „geborenen Verbrecher" beeinflußt. Die von Roda Wieser als entscheidend hervorgehobene Grundrhythmusschwäche besitzt zudem keine klaren, für jeden anderen Untersucher feststellbaren Außenkriterien. Roda Wieser kommt zu einem Scheinergebnis. Denn mit der Ermittlung von Seelenarmut und Lebensverarmung ist in Wirklichkeit wenig gewonnen. Diese Eigenschaften sind viel zu allgemein und nichtssagend, als daß sie für die Vorbeugung gegen Verbrechen oder für die Behandlung des Rechtsbrechers von wesentlicher Bedeutung sein könnten. Hinzu kommt noch, daß das von ihr als entscheidend wichtig erachtete Merkmal der Grundrhythmusschwäche im Sinne der psycho diagnostischen Gütekriterien keine Reliabilität und Validität besitzt. 5. Verstehen und

Einfühlen

„Verstehen" bedeutet für Edmund Mezger (1939 b) Erkenntnis seelischen Geschehens durch unmittelbar evidente Einsicht. Er gibt Kurt Schneider recht, daß solches „Verstehen" die unentbehrliche Grundlage und deshalb der Ausgangspunkt aller psychologischen Erkenntnis ist.

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Unsere gesamte Erkenntnis der psychischen Phänomene als die Erkenntnis dessen, was kausal wird oder selbst kausal entstanden ist, beruht doch immer nur auf „Verstehen" (Mezger 1939b). Mezger hat seine Ansicht 1943 etwas korrigiert: Kriminalpsychologie ist Verstehen fremden Seelenlebens. Als Mittel der Erkenntnis dienen dessen Äußerungen in ihren verschiedenen Arten und Formen, also Worte, Gesten und unbewußte Ausdrucksbewegungen. Verstehen ist demnach das Erfassen des Inhalts und des Sinns eines in der Außenwelt gegebenen Vorgangs oder Gegenstandes. Die „Kunst des Einfühlens" setzt eine angeborene Fähigkeit voraus. Das richtige Verständnis des kriminellen Geschehens erfährt allerdings auf Schritt und Tritt seine Ausrichtung und Gestaltung an der Erfahrung. Dazu ist ζ. B. notwendig die persönliche, aktenmäßige, literarische Beschäftigung mit dem Objekt und ein kasuistisches Studium einzelner Verbrechensfälle. Ohne ein bestimmtes Maß von positivem Wissen ist Kriminalpsychologie unmöglich. Das Sichhineinversetzen in den Delinquenten im Wege der Einfühlung ist auch für Wetzel (1913) und für Gruhle (1912) unerläßlich gewesen. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Phantasie, Intuition, Einfühlen bei Untersuchungen der empirisch-kriminalpsychologischen Forschung und Praxis eine Rolle spielen. Diese Rolle muß aber stets auf die Stadien der Hypothesenformulierung und der Interpretation der empirisch gefundenen Ergebnisse beschränkt bleiben. Harter Kern aller Untersuchungen der empirisch-kriminalpsychologischen Forschung und Praxis sind die Fakten, die mit zuverlässigen Techniken gesammelt und geordnet werden. Diese Fakten dürfen nicht durch „Verstehen" im Sinne unmittelbar evidenter Einsicht oder durch „Einfühlen" im Sinne einer angeborenen, nichterlernbaren Fähigkeit des Versuchsleiters ersetzt werden. 6. Fortschritte und Mängel der methodischen Ansätze Während des gesamten 19. Jahrhunderts war das methodische Problem der Kriminalpsychologie ein psychodiagnostisches Problem innerhalb der Strafrechtspraxis. Die Verhaltensbeobachtung und die Ausdruckskunde sollten dieses Problem, u. a. mit Hilfe der sogenannten „Gebärdenprotokolle", lösen. Dieser Versuch mußte fehlschlagen, weil man die Möglichkeiten der Verhaltensbeobachtung und der Ausdruckskunde überschätzte. Da es den Verbrecher nicht gibt, kann es auch keine Verbrecherphysiognomie geben. Die Wissenschaft liefert uns auch keine Hilfsmittel, aus den eingeborenen Formen des Schädels auf seelische Eigenschaften zu schließen (Gruhle 1939). Gewiß können die inzwischen methodisch verfeinerten Methoden der Verhaltensbeobachtung und Ausdruckskunde neben anderen psychodiagnostischen Verfahren wertvolle kriminalpsychologische Aufschlüsse liefern.

Als allein angewandte Methoden waren sie allerdings seinerzeit ungeeignet. Sie vermochten ihren Zweck, den Täter bei der Vernehmung zu überführen und seine Persönlichkeit zum Zwecke der Strafzumessung besser kennenzulernen, nicht zu erfüllen. Die empirisch-kriminalpsychologische Forschung setzte erst um die Jahrhundertwende ein. Die Psychologen spezialisierten sich hierbei im wesentlichen auf die Aussagepsychologie (W. Stern 1902, 1926). Im übrigen überließen sie das Feld in Deutschland weitgehend den Medizinern und Juristen und in den USA den Soziologen. Die vorzüglichen Forschungsergebnisse der Aussagepsychologie, deren Wegbereiter die Experimentalpsychologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts war, wurden allerdings auch von Juristen der damaligen Zeit durchaus anerkannt. Johann Georg Gmelin (1909) machte auf die enge Verbindung zwischen Aussageund Richterpsychologie aufmerksam. Mit der biographischen Methode, die eine hervorragende kriminalpsychologische Methode ist, erreichte man beachtliche Erfolge in der kriminalpsychologischen Forschung (ζ. B. Sieverts 1929, Shaw 1930, Sutherland 1937). Die Prozeßhaftigkeit und Dynamik kriminellen Lebens kam zum ersten Mal in den Blick der Kriminalpsychologie. Man lernte, die Kriminalität auch aus dem Aspekt des Kriminellen zu sehen. Durch diese biographische Methode wurden die kriminalpsychologischen Theorien des 19. Jahrhunderts als falsch entlarvt, die die Kriminellen als Eigengruppe zu degradieren und zu stigmatisieren trachteten. Die Mitteilung von Fällen, in denen der Autor Gerichtsgutachter war (so ζ. B. Marbe 1926), hat mit der biographischen Forschungsmethode freilich nichts zu tun. Mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung erzielte man ebenfalls gute Resultate (ζ. B. Thrasher 1927). Gleichwohl blieb die Kriminalpsychologie eine auf die Psyche des Kriminellen konzentrierte Wissenschaft. Die dynamische Interaktion zwischen Täter, Opfer und Gesellschaft wurde nirgends deutlich. Einstellungen des Täters, des Opfers und der Gesellschaft zueinander und Beziehungen zwischen Täter, Opfer und Gesellschaft untereinander wurden nicht empirisch untersucht. Die Kriminalgraphologie, wie sie von Ludwig Klages, Roda Wieser und Max Pulver entwickelt worden ist, war vollends gleichbedeutend mit einem methodologischen Rückschlag nach Lombrososchem Konzept. Eine graphologische Analyse kann — neben anderen psychodiagnostischen Verfahren — eine wertvolle Erkenntnisquelle für die Persönlichkeit des Verbrechers bilden. Eine Handschrift „des" Verbrechers gibt es hingegen nicht (Gruhle 1939). Lange Zeit glaubte man, daß — neben den bereits erwähnten Methoden — die Belletristik (v. Liszt 1905b), Zeitungsberichte und Entscheidungssammlungen (Passow 1904) geeignetes Material für kriminalpsychologische Forschungen

Psychologie des Verbrechens seien. Das trifft für die Belletristik ( K r i m i n a l roman) und für Entscheidungssammlungen nur in sehr begrenztem Maße zu. Zeitungsberichte sind nur insofern nützlich, als sie bisweilen die sogenannte „öffentliche Meinung" widerspiegeln und zeigen, wie sehr sich viele Zeitungsberichte über aktuelle Kriminalfälle in sensationeller Weise von der Wirklichkeit entfernen ( - > Massenmedien). Über kriminalpsychologische Forschungsergebnisse informieren die Kriminalpsychologen die Journalisten. Niemals kann hingegen ein kriminalpsychologischer Forscher, der Wert auf Wissenschaftlichkeit legt, Zeitungsberichte als Material zur Sammlung objektiver Fakten über den dargestellten Kriminalfall benutzen. Die Mehrfaktorentheorie hat sich in der Kriminalpsychologie der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts durchgesetzt. Franz von Liszt schrieb (1905 c): Die Gestaltung der Kriminalität wird durch eine ganze Reihe von Faktoren bestimmt, deren Einflüsse sich verbinden, sich steigern, sich durchkreuzen, sich hemmen, vielleicht auch sich aufheben. Die Frage jedoch, ob sich verbrecherische Menschen nach ihrer psychischen Eigenart in bestimmte Gruppen teilen lassen und welches diese Gruppen sind (v. Liszt 1905 a), konnte die Kriminalpsychologie auf exakt empirischer Grundlage bis heute nicht lösen. Albrecht Wetzel äußert sich (1913) noch etwas widersprüchlich: Es erscheint von vornherein ganz unwahrscheinlich, daß sich in dem Dieb ein besonderer Persönlichkeitstyp repräsentiert, oder auch nur, daß ein solcher überwiegt. An anderer Stelle heißt es dann (1913): Der Einzelfall repräsentiert unter Umständen den psychologischen Typus einer nach der Deliktsart zusammengeordneten Tätergruppe. Klarer drückt sich Wetzel schließlich (1926) aus: Eine nach dem Strafgesetz einheitliche Kriminalität kann in divergierende Typen zerfallen. Eine Bettel- und Landstreicherkriminalität kann sich psychologisch verständlich mit Typen verbinden, die sich nur in dem einen Punkte der sozialen Instabilität decken, während diese ebenso in einem passiven Sichtreibenlassen, in einer überaktiven Ruhelosigkeit und in einer temperamentsmäßigen Unverträglichkeit wurzeln kann. Im Mord und Totschlag vereinigen sich Typen von der allerprimitivsten bis zur allerdifferenziertesten Art. Ob die Einzelfallanalyse einer kriminalpsychologischen Reihenuntersuchung vorzuziehen sei, darüber war man sich unter den kriminalpsychologischen Forschern nicht im klaren. Richard Passow (1904) empfahl die exakte Beschreibung einer großen Zahl von einzelnen Fällen als Material kriminalpsychologischer Forschung. Er äußerte die Auffassung, die sich im Laufe der Jahrzehnte bis heute bestätigt hat, daß einzelne Dissertationen oder Dissertationsreihen die Aufgaben der kriminalpsychologischen Forschung nicht zu bewältigen vermögen. Den kuriosen Vorschlag, un-

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sere Verurteiltenstatistik in der Weise auszudehnen, daß darin auch die vermutlichen Beweggründe, die den Verurteilten zur Begehung der Tat veranlaßt haben, aufgenommen werden, machte Albert Hellwig (1908). Er nannte als möglichen Katalog der Beweggründe: mangelnde Erziehung, Leichtsinn, Notlage, Unerfahrenheit, Trunkenheit, vorhandene moralische Defekte infolge minderwertiger geistiger oder perverser Veranlagung, roher und gewalttätiger Sinn, Hang zu verbrecherischen Handlungen, der Gewohnheitsverbrechern eigen ist, und gemeine und unehrenhafte Gesinnung. Dieser Katalog läßt schon erkennbar werden, daß sich die Motive für eine Straftat der Kategorisierung wegen ihrer unerschöpflichen Fülle entziehen und daß hier nur ganz oberflächliche Motive genannt werden konnten. Wetzel (1913) neigte an sich dazu, die Masse der kriminalpsychologischen Einzelbeobachtungen zusammenzufassen und statistisch zu verarbeiten. Er war sich allerdings auch darüber im klaren, daß in dem Augenblick, in dem Einzelanalysen zu einer Masse vereinigt und weiterverarbeitet werden, auf das absolut Individuelle verzichtet werden muß; man muß sich dann mit dem relativ Individuellen zufrieden geben. Er forderte (1926), auch die individuelle Seite der Kriminalität statistisch zu gliedern. Er warnte jedoch davor, das rechtsbrechende Individuum in eine Summe innerer Eigenschaften zu zerlegen. Vielmehr stellte er sich eine Persönlichkeitsstatistik vor, die keine „toten", aus dem lebendigen Zusammenhang des Ganzen gerissene Einzelbestandteile, sondern solche Merkmale zur statistischen Gliederung benutzt, bei deren Aufstellung schon das psychologische Erfassen von Zusammenhängen notwendig ist. Ganz zum Individuum als dem lebendigen und schaffenden Ganzen kehrt man allerdings erst zurück, wenn man sich bemüht, in der Analyse des einzelnen Falles das Geschehen und Vorsichgehen selbst, die seelischen Verläufe, jenes Zusammenwirken der in der Persönlichkeit gegebenen und der von außen wirkenden Faktoren zu erforschen und aufzuzeigen. Die psychologische Einzelanalyse legt alle an der Kriminalität beteiligten inneren und äußeren Momente und die Besonderheiten ihrer Zusammenhänge klar. Nur sie gibt das jeweilige kriminalpsychologische Gesamtbild des Einzelfalls in seiner Sondergestaltung und mit allen seinen individuellen Variationen wieder. Sie hat indessen die gewichtigen Mängel ihrer Vorzüge: Sie trennt grundlegendes und wesentliches Allgemeines nicht genügend scharf von nebensächlichem und zufälligem Individuellem. Sie erschwert daher die Erkennung und Herausarbeitung kriminalpsychologischer Gesetzmäßigkeiten und läßt so Ausnahmeerscheinungen in ihrer allgemeinen Bedeutung leicht überschätzen. Die Gefahr, interessante Einzelkasuistik als Grundlage für die Durchschnittscharakteristik zu nehmen, ist daher

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gerade in der Kriminalpsychologie besonders groß. Darüber hinaus stellen kriminalpsychologische Phänomene im allgemeinen fremdartige, zum mindesten fernerliegende und folglich schwerer nachfühlbare Vorgänge und Erlebnisweisen dar (Birnbaum 1931), so daß auch von daher der Durchschnittscharakter einer Einzelkasuistik nicht gesichert erscheint. Der Kriminalpsychologie ganz abträglich ist die „Psychologie des gesunden Menschenverstandes", die von vielen Juristen bevorzugt wurde und der auch gegenwärtig noch bisweilen ein Vorrang eingeräumt wird: Die Fehler dieser Methode lassen sich wesentlich darin zusammenfassen, daß nicht der Täter, sondern die Tat, nicht die Lebensgeschichte, sondern ein kurzer Lebensabschnitt, nicht der Gesamtinhalt des seelischen Lebens, sondern wesentlich nur seine intellektuelle, erkennende Seite, nicht der Kern der Persönlichkeit, sondern ihre trügerische Außenseite, nicht die positiven und wesentlichen klinischen Merkmale eines Seelenlebens, sondern seine negativen, unwesentlichen und allgemeinen psychologischen Kennzeichen Berücksichtigung finden (R. v. KrafftEbing 1882). D. Erkenntnisse und Probleme 1.

Kompetenzstreit

Zu welchem Fachbereich die Kriminalpsychologie gehört, war vom Beginn ihrer Existenz und ist auch heute noch umstritten. Kein Geringerer als Immanuel Kant (1724—1804) erörterte diese Frage (1798) und entschied sich nachdrücklich für die Psychologie, die seinerzeit eindeutig zur Philosophie gehörte. Johann Christoph Hoffbauer, Jurist und Philosoph, war (1808) schon nicht mehr so sicher: Es scheint, daß man zur Beantwortung derjenigen psychologischen Fragen, die in rechtlicher Hinsicht wichtig sind, öffentlich eigentliche Psychologen anstellen müßte, die ζ. B. über den Gemütszustand einer Person ebenso wie der Arzt über den körperlichen Gesundheitszustand ein befriedigendes Gutachten ablegen könnten. Regnault konnte (1830) schon triumphierend schreiben: Kants Ausspruch, daß die Untersuchung psychischer Zustände vor Gericht besser der philosophischen Fakultät als der medizinischen übertragen werde, hat auf die Gerichtspraxis so wenig Einfluß gehabt, daß die richterliche Befragung der Ärzte seit jener Zeit wohl eher häufiger als seltener geworden ist. Zur medizinischen Theorie und Praxis rechnete Karl Wilhelm Ideler (1857) die Psychologie, und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Zusammenarbeit zwischen Juristen und Medizinern auf dem Gebiet der Kriminalpsychologie schon so gut eingespielt, daß Franz Xaver Güntner (1868) fordern konnte, wie der Arzt das Gesetz, so müsse der Jurist die gerichtliche Psychologie kennen.

Regnault hatte schon längst (1830) behauptet, der psychologisch unterrichtete Richter sei den Arzt in kriminalpsychologischen Fragen zu kontrollieren imstande. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beherrschten die Mediziner so sehr das Feld, daß sie rhetorisch und aggressiv fragen konnten: Auf wessen Arbeiten ist denn die ganze Kriminalpsychologie aufgebaut ? Sind es nicht fast alles Psychiater, denen erst später einige andere, die Interesse an der Sache gewonnen haben, gefolgt sind? Diese Fragen veranlaßten selbst den medizinerfreundlichen Edmund Mezger (1914) zu einer Rüge: Es ist immer mißlich, wissenschaftliche Fragen nach Gesichtspunkten der Autorität entscheiden zu wollen. Mezger ließ sich (1917) hingegen eines anderen belehren: Das Verhältnis der Kriminalpsychologie zur Psychiatrie ist nach seiner positiven Seite geschichtlich gegeben. Gleichartigkeit des Forschungsmaterials wie der Forschungsmethode, insbesondere in ihrer kasuistisch-analytischen Ausprägung, haben die beiden Forschungsgebiete der Psychiatrie und der Kriminalpsychologie, diese beiden Wissenschaften von den „nächstverwandten Erscheinungen im Nachtleben des einzelnen wie der Gesellschaft", von Anfang an in enge Beziehung zueinander gebracht. Dies sind bekannte und oft betonte Dinge. Wichtiger ist es daher, auf die Verschiedenheiten in den Zielen und den Wegen der beiden Wissenschaften hinzuweisen. Die Psychiatrie ist eine praktische Wissenschaft, ihre Forschungs- und Darstellungsweisen sind bestimmt durch den Heilzweck, durch den Gedanken und das Bestreben, das kranke Seelenleben zur Norm zurückzuführen. Der „gerichtlichen Psychiatrie" im besonderen fehlt zwar der Heilzweck als leitendes Motiv; aber auch für sie steht im Vordergrund eine genaue Unterscheidung des kranken und des gesunden psychischen Geschehens, damit sie auf dieser Grundlage die Entscheidung der Zurechnungs- und Entmündigungsfragen vorzubereiten vermag. Überall handelt es sich auf den psychiatrischen Gebieten um eine starke Gegensätzlichkeit der beiden Begriffe krank und gesund. Der Kriminalpsychologie kommt von vornherein eine andere Art der Stellungnahme gegenüber den psychopathologischen Vorgängen zu, soweit diese überhaupt in ihr Gebiet fallen. Nicht die Unterscheidung von krank und gesund ist es in erster Linie, auf die ihr Interesse gerichtet ist. Sie interessiert sich für den psychologischen Vorgang als solchen, für den psychologischen Inhalt auch des pathologisch veränderten Seelenlebens, für die psychologischen Vorgänge im Verbrecher als für die empirisch mögliche Äußerung jenes vielgestaltigen biologischen Wesens, das wir die menschliche Psyche nennen. Nicht alle führenden Juristen, die sich mit Kriminalpsychologie beschäftigten, waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts dieser Auffassung.

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Psychologie des Verbrechens Wolfgang Mittermaier beklagte (1912) die einseitige Hervorhebung des Krankhaften im Verbrecher, „die sicher verkehrt ist und die der Kriminalpsychologie viele Gegner schuf. Diesen Fehler muß die Kriminalpsychologie jedenfalls vermeiden." Nicht zu Unrecht erstaunt, bemerkte er (1912): „ . . . heute noch ist der Psychiater vor Gericht der eigentliche kriminalpsychologische Sachverständige, selbst wenn ihm jede psychologische Schulung abgeht." Franz von Liszt hatte die Auffassung vertreten, daß die Kriminalpsychologie in den Rahmen der Strafrechtswissenschaft gehöre, und Ernst Seelig (1895—1955) hatte beklagt, daß diese Worte ungehört verklungen sind (Gruhle 1926, S. 84). Demgegenüber hatte Ernst Kretschmer (1926) geschrieben: „Nur der nach modernsten Gesichtspunkten psychiatrisch und rassenhygienisch geschulte Arzt kann die persönlichkeitsdiagnostische Arbeit am Verbrechermaterial übernehmen." Zwar muß man zugeben, daß die Psychiater — nicht zuletzt wegen ihrer gerichtlichen Gutachtertätigkeit — sich vor allem mit der Kriminalpsychologie in Deutschland beschäftigten, weil sie den besten Zugang zum Untersuchungsgut hatten. Es ist aber ebenso falsch, nur die pathologisch verdächtigen Fälle kriminalpsychologisch begutachten zu lassen wie diese praktische Gutachtertätigkeit mit einer kriminalpsychologischen Forschung gleichzusetzen. Beide falschen Voraussetzungen haben die Entwicklung einer eigenständigen Kriminalpsychologie in Deutschland verhindert. Die Psychologen wandten sich vor allem Spezialfragen (ζ. B. der Aussagepsychologie) zu und überließen in Deutschland und Kontinentaleuropa das kriminalpsychologische Feld weitgehend den Medizinern, obgleich die Kriminalpsychologie u. a. gerade auch die Aufgabe hat, das normale Seelenleben des Verbrechers zu erforschen. Karl Marbe hat sich allerdings 1932 gegen Angriffe österreichischer Psychiater verwahrt, die Psychologen besäßen weder Lebenserfahrung noch Menschenkenntnis, sie seien deshalb und wegen der Wertlosigkeit der von ihnen angewandten Tests (insbesondere der Intelligenztests) als gerichtliche Sachverständige ungeeignet. Marbe nennt den von Erwin Stransky u. a. wieder entfachten Kompetenzstreit zwischen Psychologen und Psychiatern „höchst überflüssig": Psychiatrie und Psychologie sind keine gegeneinander kämpfenden, sondern vielmehr einander ergänzende Wissenschaften. Ein Psychologe, der von Psychiatrie nichts weiß, kann ebensowenig als auf der Höhe der Zeit stehend erachtet werden wie ein Psychiater, dem die moderne Psychologie unbekannt ist. Werden dem Psychiater psychiatrische und dem Vertreter der normalen Psychologie auf das normale Seelenleben bezügliche Fragen vorgelegt, so sind Konflikte gar nicht möglich. Zahlreiche Psychiater sahen und sehen dies noch immer anders. Sie anerkennen den 29 HdK, 2. Aufl., Bd. II

Psychologen allenfalls als ihren ihnen untergeordneten „Zuarbeiter". Sich selbst beurteilen sie nicht selten vor wie nach als „Könige der Menschenkenner" (Marbe 1932, S. 128). Die abgegriffenen und nichtssagenden Ausdrücke „Lebenserfahrung" und „Menschenkenntnis" sollten heute überhaupt nicht mehr in dieser unerfreulichen Diskussion verwandt werden. Jedenfalls kann der häufige Umgang mit Geisteskranken nicht die einzige Quelle der Menschenkenntnis sein. Seit etwa 25 Jahren werden deutsche Psychologen in der Psychopathologie obligatorisch ausgebildet und geprüft. Dennoch nehmen viele Mediziner und Juristen, die sich mit kriminologischen Problemen beschäftigen, diese Tatsache einfach nicht zur Kenntnis. Die Mediziner, die keine obligatorische Ausbildung in Psychologie erhalten und in diesem Fach auch nicht geprüft werden, fühlen sich aber nichtsdestoweniger heute noch berufen, über kriminalpsychologische Fragen zu urteilen. In den angloamerikanischen Ländern ist die Kriminalpsychologie von Seiten der Soziologie zurückgedrängt worden, die die Sozialpsychologie einfach zu ihrem Gebiet erklärte. In Wirklichkeit gehört die Kriminalpsychologie als Teilgebiet zur -»• Kriminologie. In einer einstimmig angenommenen Resolution des VII. Internationalen Kongresses für Kriminalanthropologie in Köln 1911 wurde festgestellt, daß die methodische Kriminalpsychologie ein notwendiger Bestandteil der Kriminologie ist und daß es unbedingt notwendig ist, den Unterricht in der Kriminalpsychologie weiter zu entwickeln und Einrichtungen für kriminalpsychologische Untersuchungen zu schaffen (Aschaffenburg/Partenheimer 1912, S. 309). Die Kriminologie ist ihrerseits eine interdisziplinäre Wissenschaft, an der Juristen, Psychologen, Mediziner, Soziologen und Sozialarbeiter gleichberechtigt mitarbeiten. Es liegt freilich nahe, daß die Zusammenarbeit der Juristen und Psychologen auf dem Teilgebiet der Kriminalpsychologie besonders eng ist. Gebot der Stunde ist allerdings, der Kriminalpsychologie zwischen Psychiatrie und Soziologie, die die Kriminalpsychologie unsachgemäß zwischen sich aufgeteilt haben, erst einmal wieder einen „Freiraum" zu erkämpfen, damit sich die Kriminalpsychologie auf ihrem Teilgebiet adäquat zu entwickeln vermag und nicht zwischen Psychiatrie und Soziologie erdrückt wird. Das ist keine Frage des Prestiges, sondern ein Problem eines Teilgebietes der Kriminologie, das sich bisher nicht adäquat zu entfalten vermochte, weil es von zwei jeweils einseitigen Gesichtspunkten aus bearbeitet worden ist. 2.

Selbstverständnis

Bis vor dem 1. Weltkrieg war Kriminalpsychologie gleichbedeutend mit Verbrecherpsychologie. Sie beschäftigte sich mit der Würdigung des kriminogenen psychischen Einzelvorgangs; aus der

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Psychologie des Verbrechens

Summe der psychischen Einzelvorgänge sollte dann ein Gesamtbild des Verbrechers entstehen (Mezger 1913). Die Kriminalpsychologie prüfte den Einfluß der verschiedensten Faktoren auf die verbrecherischen Willenshandlungen; sie war gleichzusetzen mit der gesamten Psychologie, die für die Feststellung und Beurteilung der Verbrechen in Frage kam. Forensische Psychologie betraf das Gerichtswesen im weitesten Sinne. Die Kriminalpsychologie bildete deshalb nur einen Teil der -> Forensischen Psychologie; sie konnte allerdings von der forensischen Psychologie, von der forensischen Psychopathologie und von der forensischen Psychiatrie nicht scharf abgegrenzt werden (Marbe 1913). Erstmals wurde die Psychologie des Opfers, die Polizeipsychologie, die Psychologie der Strafvollzugsbeamten und der Sachverständigen 1911 zur Kriminalpsychologie gehörend beurteilt (Sommer 1912). Im Jahre 1914 machte Friedrich Sturm darauf aufmerksam, daß die Kriminalpsychologie neben der Zeugen- und Verbrecherpsychologie auch noch die Richterpsychologie umfaßt: Der Richterberuf ist erfüllt von psychologischen Wechselwirkungen mannigfachster Art. Zur Befriedigung über ihre eigene Tätigkeit suggerieren sich häufig die Richter die vollkommene moralische Verwerflichkeit der von ihnen Verurteilten. Die richterliche Tätigkeit steht unter dem Erfordernis zu positiven Ergebnissen zu kommen. Diese richterliche Pflicht stärkt zwar die Entschlußkraft, kann aber die ungünstigen psychologischen Folgen der Selbstsuggestion und der Voreingenommenheit haben, wie man sie auch tatsächlich bei vielen Richtern beobachtet. Die ausschlaggebenden Momente für eine Handlung liegen dabei oft im Unbewußten. Macht macht egoistisch. Die Kunst des Richters liegt gerade im Ausschalten des Interesses an der eigenen Persönlichkeit. Die jedem Menschen angeborene Abneigung, persönliche Fehler und Versehen zu erkennen, ist für den Richter besonders charakteristisch, da hier als unterstützendes Moment die Wahrung der Staatsautorität hinzukommt. Der Bürokratismus offenbart sich an dieser Stelle außerordentlich stark. Die richterliche Gewohnheit, nach außen Unfehlbarkeit geltendzumachen, hat dabei im verhängnisvollen Circulus die ungünstige seelische Wirkung, daß der Richter an sie schließlich selbst glaubt und einer anderweitigen Belehrung unzugänglich wird. Hans Schneickert zählt (1919) zur Kriminalpsychologie folgende Teilgebiete: Psychologie der Aussage, Psychologie des Verbrechens und seiner Ursachen, Psychologie des Verbrechers und Psychologie der Urteilsfindung. Albert Hellwig gruppiert denselben Stoff (1927) etwas anders. Er unterscheidet zwischen der Psychologie des Vernehmenden (des Polizeibeamten, des Richters, des Sachverständigen) und der Psychologie des Vernommenen (des Beschuldigten und des Zeugen). Er fügt dem erstmalig indessen eine Psychologie der

Vernehmungstechnik hinzu. Psychologie ist im Strafprozeß mindestens ebenso wichtig wie Jurisprudenz (Marbe 1932, S. 137). Die Aufgabe der Kriminalpsychologie sieht schließlich Eduard Kern (1964) darin, zu ergründen, wie es in der Seele des Täters vor der Tat, während der Tat und nach der Tat, im Strafverfahren (insbesondere während seiner Vernehmung, in Untersuchungshaft, in der Hauptverhandlung) und im Strafvollzug aussieht. Nach seiner Meinung kommt der Kriminalpsychologie auf dem Gebiet der Verbrechensaufklärung eine große Bedeutung zu. Alle diese Standortbestimmungen sind unvollständig und gehen am Kern der Kriminalpsychologie vorbei. Es ist hierbei nicht einmal so entscheidend, daß die psychologischen Verbrechensursachen in der Gesellschaft unberücksichtigt bleiben. Kernpunkt des richtigen Selbstverständnisses ist vielmehr, daß die drei Bereiche: Psychologie des Täters, des Opfers und der Gesellschaft bei der Verursachung und Verhütung von Verbrechen, bei der Reaktion auf Verbrechen (ζ. B. bei der Behandlung des Rechtsbrechers) und bei der Rückwirkung der Reaktion auf Verbrechen in psychodynamischer, prozeßhafter Interdependenz stehen. Nur dieses Konzept sichert der Kriminalpsychologie ihren allumfassenden Standort, der ihr innerhalb der Kriminologie zukommt und zukommen muß, damit alle kriminalpsychologischen Einzelfragen aus der richtigen Perspektive gesehen werden. 3. Kriminalpsychologische Forschung a) Intuition In anekdotisch-phantastischer Weise hat Erich Wulffen (1908) eine zweibändige „Psychologie des Verbrechens" geschrieben. Er hat ferner 1911 Gerhart Hauptmanns Dramen auch kriminalpsychologisch zu analysieren versucht. In seiner 1926 erschienenen „Kriminalpsychologie" vertritt er folgende Auffassungen: Die Methode exakter Forschung, Feststellungen nur auf eigene unmittelbare Wahrnehmung und Beobachtung zu stützen, ist bei der Ermittlung psychischer Vorgänge in anderen Menschen ausgeschlossen. Wulffen wünscht den Kriminalpsychologen Intuition und fährt dann fort: Wem nur als erwiesen gilt, was nach den hergebrachten Methoden der Wissenschaft, insbesondere experimentell, „dargetan" ist, bleibt arm an Erkenntnissen. An den unsicheren Ziffern der Statistik solle man nicht haften bleiben, fügt er hinzu, sondern man solle auf die Intuition vertrauen. Diesen völlig falschen und für die Kriminalpsychologie schädlichen Meinungsäußerungen kann nicht zugestimmt werden. Schon zu Wulffens Zeit ist ihnen entschieden widersprochen worden. Hans Reichel (1906) wirft der Wulffenschen Analyse von Gerhart Hauptmanns „Rose Bernd" Überinterpretation vor. William Healy kritisiert

Psychologie des Verbrechens (1915), daß Wulffen in seiner zweibändigen „Psychologie des Verbrechens" (1908) eine Kriminalpsychologie in anekdotischer Weise vom Bibliotheksstuhl aus geschrieben habe. E r bezeichnet eine solche Vorgehens weise, die zuweilen auch noch heute in der Kriminalpsychologie zu finden ist, als unwissenschaftlich. Die Verarbeitung von Zeitungsberichten und die bloße Beschreibung der Lebensgeschichten von Verbrechern ohne zuverlässige Faktensammlung sind rein spekulativ und haben mit Wissenschaftlichkeit nichts zu tun. Um verläßliche kriminalpsychologische Befunde zu erhalten, bedarf es jahrelanger Faktensammlung. Auf anschauliche Lesbarkeit von Kriminalgeschichten kann es bei der Kriminalpsychologie nicht vor allem ankommen. Das bestätigt auch Hans W. Gruhle, der 1926 über Wulffens im selben J a h r erschienene „Kriminalpsychologie" urteilt: Sie kommt in ihrer unsystematischen, auf ungleichen Quellen erbauten, mehr journalistischen Form als wissenschaftliches Werk im strengeren Sinne nicht in Betracht. In der Festschrift zum 70. Geburtstag von Erich Wulffen würdigt Albert Hellwig (1932) Wulffens Arbeitsmethode ebenfalls objektiv: Was das Material betrifft, das Erich Wulffen in seinen mannigfachen kriminalpsychologischen Werken und Arbeiten verwertet, so handelt es sich hierbei doch nur zu einem verhältnismäßig kleinen Teil um selbst erarbeitete Substanz. Dieses Material ist fast durchweg nicht in der Weise erarbeitet worden, wie ein Mediziner oder ein Psychologe vorgehen würden, wenn sie sich kriminalpsychologisch betätigen wollten, also vor allem durch eigene körperliche, psychologische und psychiatrische Untersuchung des Rechtsbrechers. Das zum Aufbau seiner Werke herangezogene Fremdmaterial ist nicht immer mit der wünschenswerten Sorgfalt ausgesucht und geprüft. Seine schöpferische Intuition mag hier und da vielleicht zu Annahmen und Behauptungen führen, die bisher mit den gangbaren wissenschaftlichen Arbeitsmethoden noch nicht als begründet erscheinen, die deshalb vielleicht sogar phantastisch anmuten. Wulffen übersieht, daß auch ein großer Geist in die Irre gehen kann und daß selbst dann, wenn dies nicht der Fall ist, die Wissenschaft doch jene kriminalpsychologischen Gedanken, solange sie nicht mit wissenschaftlicher Methode nachgeprüft und als richtig bestätigt worden sind, nicht als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis, sondern höchstens als Arbeitshypothesen verwenden darf. b) Kriminalpsychologie als empirische

Wissenschaft

Die moderne Kriminalpsychologie ist in dem Sinne eine empirische Wissenschaft, als sie Intuition bei der Hypothesenformulierung und Theorienbildung durchaus zuläßt. Sie ist hingegen nicht geneigt, die Faktensammlung mit zuverlässigen Forschungsmethoden durch Intuition 29·

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oder Spekulation ersetzen zu lassen. Das ist keine neue Erkenntnis; denn Schaumann hat sich bereits 1792 in diesem Sinne geäußert. Nur ist diese E r kenntnis im Laufe der Geschichte der Kriminalpsychologie nicht immer beachtet worden. Selbst gegenwärtig setzt man sich häufig über sie hinweg und beansprucht dennoch kriminalpsychologische Wissenschaftlichkeit, die auch von zahlreichen Kriminologen zugestanden wird. Theorie und Empirie müssen in einem dialektischen Verhältnis stehen. Für die kriminalpsychologische Praxis ist eine empirisch fundierte Theorie am brauchbarsten. William Healy (1915) hat in der Zeit von 1909 bis 1914 die erste große kriminalpsychologischempirische Reihenuntersuchung an eintausend Rückfalltätern durchgeführt. Dieser großen empirischen Forschungsarbeit fügten Healy und Augusta F . Bronner (1926) eine weitere kriminalpsychologische Studie an insgesamt viertausend Straftätern hinzu. Die Daten von zweitausend Rechtsbrechern hatten sie in Chikago von 1909 bis 1915 und die Fakten von weiteren zweitausend Straftätern von 1917 bis 1923 in Boston gesammelt und statistisch analysiert. Die meisten ihrer Probanden waren vierzehn J a h r e alt, als sie sie zum ersten Male untersuchten. Healy und Bronner führten eine Follow-up-Studie durch, als ihre Probanden das fünfundzwanzigste Lebensjahr erreicht hatten. In einer empirisch-kriminalpsychologischen Untersuchung hat Cyril Burt (1925) in England zweihundert jugendliche Rechtsbrecher mit vierhundert Nichtdelinquenten desselben Alters und derselben Bevölkerungsschicht verglichen. E r kam zu dem Ergebnis, daß die persönliche Reaktion auf eine gegebene Situation den Menschen zum Kriminellen macht. Es ist nicht allein die schlechte Umgebung, die zur Kriminalität führt; aber das Zusammenwirken von übler Umwelt mit den Gedanken und Gefühlen einer anfälligen Psyche macht den Kriminellen aus. Neben Thrasher (1927), Sieverts (1929), W. Stern (1902, 1926), Shaw (1930) und Sutherland (1937) haben Healy (1915), Healy und Bronner (1926) und Cyril B u r t (1925) die empirischen und experimentellen Methoden in der Kriminalpsychologie mit gutem Erfolg erstmalig angewandt. Sie haben damit die empirisch-kriminalpsychologische Forschung begründet, für die heute noch die Arbeiten der genannten Forscher richtungweisend und grundlegend sind. Mezger (1917) bezeichnet die Methode der kriminalpsychologischen Forschung als „empirisch-wertindifferent" und als „genetisch-kausal". Die Kriminalpsychologie interessiert sich für die psychischen Vorgänge so, wie sie sind. Das ist zwar grundsätzlich richtig, in dieser von Mezger gewählten apodiktischen Form gleichwohl nicht ganz unproblematisch. Denn ein nackter, unkritischer Positivismus ist in der kriminalpsychologischen Forschung ebenso unrealistisch wie eine metaphysisch-spekulative Betrachtungsweise.

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Psychologie des Verbrechens

c) Kriminalpsychologie und Strafrecht Daß der in der Strafrechtspflege tätige Jurist ohne gründliche psychologische Vorbildung seiner wichtigen und schwierigen Aufgabe nicht gewachsen ist, war schon von Anbeginn der Kriminalpsychologie klar und wurde im Laufe ihrer Geschichte immer wieder betont (Reichel 1910, S. 43). Die Erfolge dieser ständigen Bemühungen sind bis heute auf Grund des Widerstandes von zahlreichen Strafrechtsdogmatikern nicht ermutigend. Neben diesem praktischen strafrechtlichen Aspekt steht allerdings auch noch ein gewichtiger strafrechtswissenschaftlicher Gesichtspunkt. Auch in der Wissenschaft ist das Strafrecht auf die Psychologie angewiesen. Das gilt für eine Reihe von Rechtsfragen, namentlich die Kausalitätsund Schuldlehre, die bisher von der wissenschaftlichen Denk- und Willenspsychologie nicht ausreichend beeinflußt worden sind (Marbe 1916, Mezger 1939). Sich in diesen strafrechtlichen Problemen auf die Vulgärpsychologie und den sogenannten „gesunden Menschenverstand" zu verlassen, heißt, sich der Möglichkeit einer tiefgreifenden psychologischen Begründung der Kausalitäts- und Schuldlehre begeben. Auch hier haben viele Strafrechtsdogmatiker die großen Chancen nicht erkannt, die modernen Forschungsergebnisse der Denk- und Willenspsychologie für die Strafrechtsdogmatik nutzbar zu machen. Es hat in diesem Zusammenhang wenig Sinn, sich auf spekulative Meinungsäußerungen von psychologischen „Autoritäten" zu stützen. Die empirischpsychologische Forschung des In- und Auslandes bietet Material genug, das in der deutschen Strafrechtsdogmatik zu verarbeiten bislang versäumt worden ist. Es gilt daher, eine Strafrechtspsychologie zu begründen, die Teil der Kriminalpsychologie ist. Wenn die Psychologie des Gesetzgebers zur Kriminalpsychologie gehört, so müssen auch die psychologischen Aspekte der Strafrechtsdogmatik zur Kriminalpsychologie zählen. Denn die Wissenschaft der Strafrechtsdogmatik legt nicht nur die Strafrechtsnormen aus, sondern sie bereitet durch wissenschaftliche Untersuchungen auch Änderungen des bestehenden Strafgesetzes vor. 4. Kriminalpsychologische Wissenschaft, Lehre und Praxis Will man den Strafrechtler für Zwecke der Praxis und Wissenschaft an die Psychologie heranführen, so ist eine erhebliche Verstärkung der psychologischen Lehre für Juristen erforderlich. Die bedeutsamen Möglichkeiten, die moderne empirisch-psychologische Forschungsergebnisse für die Strafrechtspraxis und -Wissenschaft bieten, sind bisher nicht im entferntesten ausgeschöpft worden. Sommer hatte schon 1904 die Einrichtung eines kriminalpsychologischen Praktikums für Juristen während ihres Studiums vorgeschlagen.

Marbe schrieb 1916: Die maßgebenden Kreise werden guttun, die Psychologie baldmöglichst zu einem obligatorischen Fach für die Studierenden der Jurisprudenz zu gestalten. Eine vierstündige einsemestrige Vorlesung über Psychologie und ein zweistündiges Praktikum über forensische Psychologie wären nach Marbes Meinung für den jungen Juristen ausreichend, um sich mit der Psychologie genügend vertraut zu machen. Gruhle bemerkte (1926) über den damaligen Unterricht in der Kriminalpsychologie: Es bedarf neben den kriminalpsychologischen Praktiken noch einer gesonderten theoretischen Vorlesung, einer „Kriminalpsychologie". Bei einem Überblick über den derzeitigen Lehrbetrieb an unseren „reichsdeutschen Hochschulen" ergibt sich im Sommersemester 1926, daß nur 14 von 22 Universitäten eine entsprechende Ankündigung in ihren Vorlesungsverzeichnissen besitzen. In den allermeisten Fällen sind es Mediziner und speziell Psychiater, die sich der Kriminalpsychologie widmen. Gruhle beschwert sich ferner über das mangelnde Interesse der Jurastudenten an der Kriminalpsychologie und sagt voraus: Würde Kriminalpsychologie Prüfungsfach werden, so würden sich die Hörsäle sofort füllen. Wenn man den damaligen Stand der psychologischen Methodologie mit dem heutigen und die seinerzeitigen Anforderungen an den strafrechtlichen Praktiker mit den gegenwärtigen vergleicht, so wird deutlich erkennbar, daß eine intensive psychologische und insbesondere kriminalpsychologische Ausbildung des Juristen vom ersten Semester bis zum Ende der Referendarzeit notwendig ist. Hinzu kommt noch die ständige Weiterbildung der Strafrechtspraktiker in Kriminalpsychologie, da sich das ganze Gebiet der Kriminologie in einer starken Expansion und schnellen Weiterentwicklung befindet, die mit unserem raschen gesellschaftlichen Wandel Schritt halten muß. Es ist hier nicht der Ort, um ein detailliertes Lehrprogramm in Psychologie und insbesondere Kriminalpsychologie für Jurastudium und Referendarzeit zu entwerfen. Nur muß an dieser Stelle erneut auf die dringende Notwendigkeit einer solchen Aus- und Weiterbildung im Interesse der Strafrechtspraxis und auf das unentbehrliche Erfordernis einer engen Zusammenarbeit zwischen kriminalpsychologischer Forschung, Lehre und Praxis. hingewiesen werden. Ohne sorgfältige Kenntnisse und gute Fähigkeiten auf den Gebieten der Psychologie im allgemeinen und der Kriminalpsychologie im besonderen ist dem heutigen Strafrechtspraktiker eine adäquate Ausfüllung seiner Berufsaufgaben nicht möglich. E. Zusammenfassung und Kritik der historischen Entwicklung Eine ausführlichere Darstellung der historischen Entwicklung der Kriminalpsychologie war aus

Psychologie des Verbrechens zwei Gründen notwendig: Sie sollte einmal die historischen Wurzeln so mancher Irrwege der gegenwärtigen Kriminalpsychologie aufzeigen und insbesondere die Problematik der Kriminalpsychologie deutlich machen, daß sie nämlich zwischen der Kriminalpsychiatrie und der Kriminalsoziologie aufgeteilt ist und gegenwärtig völlig neu konzipiert werden muß. Sie sollte zum anderen verständlich machen, daß sich in der Gegenwart der Schwerpunkt der kriminalpsychologischen Forschung von Kontinentaleuropa in den anglo-amerikanischen Bereich verlagert hat und daß auf angelsächsische Forschungsergebnisse in den folgenden Hauptteilen zurückgegriffen werden muß, um ein neues Konzept für die deutsche Kriminalpsychologie zu entwickeln. Gruhle hat schon 1926 beklagt, daß wir immer noch kein Lehrbuch der Kriminalpsychologie besitzen. Ein solches Lehrbuch, das auf dem neuesten Stand der kriminalpsychologischen Forschung ist, entbehren wir auch heute noch. Das, was zum Beispiel Albert Reps (1967) geschrieben hat, gibt den Stand der Forschung der 1. Auflage seines Buches aus dem Jahre 1932 wieder. Der vernünftige Entwurf eines Lehrbuchs der Kriminalpsychologie nach Schaumann (1792) ist bis heute unausgeführt geblieben. Es trifft auch heute das zu, was Hans Reichel im Jahre 1910 geschrieben hat: Die Kriminalpsychologie steht noch immer zu überwiegend im Banne der Kriminalpsychopathologie. Sie hat den Lombrosianismus noch immer nicht genügend abgestreift. Die Psychologie des Verbrechers wird noch immer zu ausschließlich unter dem Gesichtswinkel der Krankenpsyche betrachtet; der ärztliche Gesichtspunkt steht noch immer weitaus im Vordergrund. Die Folge ist: Die Normalpsychologie des Verbrechers, die Psychologie des normalen, geistig gesunden Verbrechers tritt ungebührlich in den Hintergrund. In der kriminalpsychopathologischen Denkweise und Verfahrensart liegt nicht nur eine dogmatische Einseitigkeit — denn die Psychologie des verbrecherischen Handelns ist nur ein Anwendungsfall der Psychologie des Handelns überhaupt —; es liegt darin auch eine methodische Verkehrtheit; denn das Handeln des Verbrechers wird verständlich allein im Rahmen einer Psychologie des Handelns schlechtweg; es ist nicht wahr, daß der Verbrecher seine Psychologie für sich allein hätte, seine Psychologie, die nicht auf der Basis der allgemeinen Psychologie ruhte. Der Verbrecher ist ein normaler Mensch wie alle anderen. Lombrosos Einfluß ist auch gegenwärtig noch in zweifacher Art spürbar: Einmal konzentriert man sich noch zu einseitig auf den Kriminellen und betont zu stark den Unterschied zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen, um den kriminellen Menschen kriminalpsychologisch zu beschreiben und vom „normalen Menschen" abzugrenzen. Zum anderen hebt man die angeblich

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anlagemäßig gegebene, psychologisch eingeschliffene Unverbesserlichkeit der „Kern"-Kriminellen und „Kern"-Verwahrlosten zu beträchtlich hervor. Zur Veranschaulichung soll ein Beispiel aus der Geschichte der Kriminalpsychologie herangezogen werden. Gruhle schreibt 1926 über den kriminalpsychologischen Unterricht: Es ist außerordentlich lehrreich, wenn man es immer wieder, ζ. B. nach der Vorstellung einer mündig gewordenen berufsmäßigen Prostituierten, erlebt, daß die jungen Studenten empört sind, wenn man darlegt, daß dieses Mädchen nicht gerettet werden kann, daß alle Gesetze, Verordnungen, Einrichtungen des Staates und der Kirchen versagen, daß das junge Wesen seinen Schicksalsweg gehen muß, so wie es nun einmal ist. Die Empörung der jungen Studenten bestand zu Recht. Denn bei der Nachuntersuchung der von Kurt Schneider (1926) untersuchten 72 eingeschriebenen Prostituierten stellte Luise von der Heyden elf Jahre später folgendes fest: Von den 72 Prostituierten ließ sich der weitere Lebenslauf von 62 Mädchen näher verfolgen. Von diesen standen 19 noch unter Kontrolle; 43 hatten ihre Befreiung durchgesetzt. 39 frühere Prostituierte waren legitim verheiratet, 3 lebten „in stabiler wilder Ehe". Die absolute Rettungslosigkeit eingeschriebener Prostituierter ist also ebenso ein von manchen „Kriminalpsychologen" gern erzähltes Märchen wie das Vorhandensein von unverbesserlichen, anlagemäßig disponierten Berufskriminellen. William Healy hat bereits 1915 die Dynamik und Prozeßhaftigkeit krimineller Karrieren (S. 4), die Bedeutung sozialer Degradierungen (S. 11) und das schwere Betroffensein der Kriminellen in ihrem Selbstbild, ihrem Selbstwertgefühl und in ihrer Selbstkontrolle durch ihre Tat, aber auch durch die Reaktion der Gesellschaft auf ihre Tat (S. 30,169) deutlich erkannt. Wenn man das Buch von Healy liest und mit nordamerikanischen kriminologischen Büchern der Gegenwart vergleicht, so fällt einem der große Einfluß auf, den die deutsche Kriminalpsychologie im Jahre 1915 auf die nordamerikanische hatte, aber heute nicht mehr hat. Healy zitiert ζ. B. häufig deutsche Fachliteratur. Er war es auch, der in seinem in vieler Hinsicht grundlegenden Buch (1915) klar aussprach, daß es eine einheitliche Gruppe von Kriminellen nicht gibt; es existieren vielmehr mannigfaltige Arten von kriminellen Persönlichkeiten, Äxten, die sich gegenseitig überschneiden (S. 161/162). Auch Frank Tannenbaum erkannte schon recht früh (1938), daß die Gesellschaft vom Kriminellen die Annahme einer delinquenten Rolle erwartet und daß es Individuen gibt, die zur Akzeptierung dieser Rolle bereit sind. Diese einleuchtenden, einfachen und dennoch dauernd durch „Kriminalpsychologen" deformierten Grunderkenntnisse verdienen nachdrücklich festgehalten zu werden.

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Der Ausschließlichkeitsanspruch der Hereditätslehre hat sich als unhaltbar erwiesen. Das gilt für die Theorie, die behauptet, die Kriminalität resultiere aus emotionalen Störungen, die durch eine Dysfunktion der endokrinen Drüsen verursacht worden seien (Schlapp 1928). Eine endokrinologische Erklärung des Verbrechens kann nur in seltenen Ausnahmefällen in Frage kommen (Ashley-Montagu 1941). Eine solche Erklärung ist als Hauptursache des Verbrechens ebenso unberechtigt wie die Theorie von den ererbten verbrecherischen Anlagen, die bislang unbewiesen geblieben ist. Carlos Maria de Landecho behauptet (1964) zwar, daß der konstitutionsbiologischen Schule noch eine vielversprechende Aufgabe bevorsteht, „weil Konstitution und Kriminalität in innerer, unlösbarer Beziehung stehen". Unter Konstitution versteht er mit Kretschmer „die Gesamtheit aller der individuellen Eigenschaften, die in erster Linie auf Vererbung beruhen . . . " . Einen empirischen Beweis für seine Behauptung ist Landecho allerdings bislang schuldig geblieben. Ernst Kretschmer hat (1961) lediglich herausgearbeitet, „daß die Häufigkeit der Leptosomen plus Athletiker beim unausgelesenen Verbrechermaterial etwa der Durchschnittsbevölkerung entspricht. Dasselbe gilt bei den Dysplastikern. Da auch unter den Gesunden die Leptosomen gegenüber den Athletikern die größere Gruppe bilden, so dürfte auch das Zahlenverhältnis leptosom:athletisch bei den Gesamtkriminellen gegenüber der Durchschnittsbevölkerung nicht wesentlich verschoben sein. Bemerkenswert ist dagegen, daß das Prozent der Pykniker unter dem Verbrechermaterial etwas geringer ist als unter der Durchschnittsbevölkerung. Man wird also einen geringeren Anteil der Pykniker an der Gesamtkriminalität vermuten können" (S. 352/353). Kretschmer hält an den „Entartungszeichen" beim Verbrecher grundsätzlich fest. Wenn er auch spezielle Verbrechertypen mit seinen Konstitutionstypen zu verbinden sucht (S. 360 bis 362), so bleiben seine Konstitutionstypen (Definitionen: S. 24/25 ; 27/28; 32/33) doch so undifferenziertgrob und seine kriminalpsychologischen Aussagen so allgemein-nichtssagend, daß man seine Lehre, ganz abgesehen von ihren methodologischen Mängeln, als der Vergangenheit zugehörig bezeichnen kann. Dasselbe gilt auch für die klassische Psychopathologie. Zwar hat Erwin Frey (1951) die Vererblichkeit krimineller Psychopathieformen verteidigt (S. 158). Aber selbst Friedrich Stumpfl (1959), der anscheinend auf seiner kriminalbiologischen Lehre grundsätzlich beharrt (so jedenfalls in seinem Beitrag 1959), stellt den Psychopathiebegriff in Frage. Kurt Schneider (1958), der ein familiäres Vorkommen von Kriminalität für die Anlage nicht für verwertbar hält und der den „Psychopathen" nicht vor aller Öffentlichkeit eindeutig als Kriminellen ausgerufen haben möch-

te, ist neuerlich zu einer zutreffenden Schlußfolgerung gelangt, indem er schreibt (1958 S. 6): „ . . . man soll nicht etikettieren. »Psychopath« ist j a doch keine medizinische Diagnose. Sogenannte normale Persönlichkeiten, auch kriminelle, etikettiert man doch auch nicht mit einem Wort." Anne-Eva Brauneck empfiehlt (1969), den Begriff der „kriminellen Anlage" aufzugeben, da er theoretisch falsch und praktisch inhuman sei. Neuerdings sehen Kriminalbiologen im Zusammenhang mit der Diskussion der Beziehung zwischen Chromosomenanomalien und Kriminalität Anzeichen dafür, ihre Lehre doch noch zu retten. Es handelt sich um die Chromosomenformation X X Y , deren Vorkommen in der männlichen Bevölkerung man auf etwa 0 , 2 % schätzt, und hauptsächlich um die Chromosomenformation X Y Y , die vielleicht nur mit 0,02% in der männlichen Bevölkerung vorhanden ist. Obgleich verhältnismäßig viele Untersuchungen zu diesem Problem im Gange sind, kann man auf Grund der bisherigen Erkenntnisse jetzt schon sagen, daß man in dem zusätzlichen Y-Chromosom keineswegs „den Träger krimineller Anlagen" gefunden hat. Es scheint vielmehr um eine relativ komplizierte körperlichseelische Schädigung zu gehen, die dem Problem der kriminalpsychologischen Bedeutung frühkindlicher Hirnschädigungen vergleichbar ist. Enke (1955), Lempp (1964) und Göllnitz (1965) haben unabhängig voneinander hirnorganische Schädigungen bei einem großen Prozentsatz der von ihnen untersuchten schwererziehbaren und neurotischen Kinder festgestellt. Göllnitz hat folgendes psychophysiologisches Achsensyndrom auf Grund frühkindlicher Hirnschäden aufgestellt (1965 S. 231):

I. Vegetatives Allgemeinsyndrom Erregbarkeitssteigerung Ablenkbarkeit Reizabhängigkeit Affektive Labilität

II. Hirnorganisches Defektsyndrom Gesteigerte Ermüdbarkeit Konzentrationserlahmen

Vergröberung der Affekte Dysphorie Affektstauungen Affektentladungen Antriebslabilität Antriebsüberschuß Hypermotorische Unruhe Ziellose Aggressionen Antriebslahmheit — Stumpfheit Erschwerung der Anpas- Denkverlangsamung sung Mangelnde Überschau und Kritik Persönlichkeitsdesintegration Vegetative Labilität Cerebrale Herdsymptome

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Psychologie des Verbrechens Vasomotorische Störungen schwache cerebrale Steuerung Zu der unheilvollen Interaktion zwischen dem Fehlverhalten des hirngeschädigten Kindes und der Reaktion seiner Umgebung führt Göllnitz aus: „Es liegt auf der Hand, daß solche Jugendliche durch häufige Fehlhandlungen, Anpassungsstörungen und Entgleisungen immer wieder die Umwelt provozieren. Da diese Patienten auf den ersten Blick nicht als krank, abartig oder besonders umweltlabil wirken, auch der Zusammenhang mit solchen frühkindlichen Hirnschäden der Umwelt gar nicht evident ist, nimmt es nicht wunder, daß schon recht früh die Umgebung zu heftigen unzweckmäßigen Aktionen neigt, auf die dann wiederum diese Patienten mit abnormen Reaktionen antworten. Auch eine normale Umwelt pflegt bei einem solchen hirnorganisch bedingten Fehlverhalten recht massiv zu reagieren, was von den betroffenen Kindern und Jugendlichen als Unrecht empfunden wird und so wiederum zu weiteren abnormen Reaktionen und Entwicklungen führen kann. Um wieviel mehr aber sind derartig umweltempfindliche und umweltanfällige Jugendliche in einer ungünstigen Umwelt bei entsprechender Fehlerziehung in Gefahr, zu entgleisen, sich fehl zu entwickeln und auch dissozial zu werden. Gelingt es dagegen, die Umgebung frühzeitig genug auf das hirnorganisch bedingte Anderssein eines solchen Kindes und Jugendlichen aufmerksam zu machen und eine pädagogisch richtige Haltung zu entwickeln, hören nicht selten die Anpassungsstörungen schlagartig auf." Am Beispiel der frühkindlichen Hirnschäden läßt sich auf diese Weise das Zusammenwirken zwischen nicht anlagebedingtem körperlichem Phänomen, Fehlreaktion der Umwelt und psychischer Gegenwirkung des betroffenen Jugendlichen veranschaulichen. Trotz dieser recht guten Veranschaulichung kann man grundsätzlich sagen: Die theoretische Fundierung der Kriminalpsychologie ist bis heute nicht sehr weit entwickelt worden. Die orthodoxe psychoanalytische Richtung ist vielfach in unfruchtbarer Dogmatik erstarrt. Gleichwohl sind vor allem die Individualpsychologie und die Psychoanalyse in der Lage, als historische Grundlage für Neuentwicklungen zu dienen, wenn vorschnelle Verallgemeinerungen von Einzelerkenntnissen aufgegeben werden. Es ist das bleibende Verdienst der Psychoanalyse, am übergroßen Strafbedürfnis der Menschheit gerührt zu haben, das sich die Entlastung des Geständnisses noch nicht erlauben will (Reik 1925). Der sozialpsychologische Ansatz muß in der Kriminalpsychologie mehr Beachtung finden (Hacker 1964). Die in der Geschichte der Kriminalpsychologie angewandten Methoden waren zwar —· nach un-

seren heutigen Maßstäben — unvollkommen. Dennoch sind mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung und den Methoden der Biographie, der Lebenslaufanalyse und der systematischen Inhaltsanalyse Ergebnisse erzielt worden, die auch heute noch Beachtung verdienen. Gerade die Methode der Lebensgeschichte erlaubt es, der Prozeßhaftigkeit und Dynamik krimineller Karrieren nachzuspüren und das Kriminellwerden aus der Sicht des Kriminellen selbst nachzuvollziehen. Gleichwohl gab es freilich in der Geschichte der Kriminalpsychologie auch unbrauchbare Studien, die sich auf Intuition und Phantasie allein und auf Spekulation stützten. Zwar war es schon ein Fortschritt, daß man den Mehrfaktorenansatz entdeckte und weitgehend akzeptierte. Die dynamische Interaktion und Interdependenz zwischen Täter, Opfer und Gesellschaft wurden in der Geschichte der Kriminalpsychologie indessen nicht deutlich. Daß es keine „Psychologie der Einzeldelikte" gibt, hat die Geschichte der Kriminalpsychologie eindeutig erwiesen. Diebe, Einbrecher, Räuber, Mörder, Betrüger, Erpresser und Notzüchter (Dost o. J . ) sind keine Typen, die man aus einer einheitlichen kriminalpsychologischen Genese interpretieren kann. Bei den mit „Psychologie der Einzeldelikte" bezeichneten Büchern von Hans von Hentig (1954, 1956a, 1957, 1959a) handelt es sich um eine verfehlte Titelgebung. Es muß „Kriminologie der Einzeldelikte" heißen, da in diesen Büchern nur ein verschwindend kleiner Teil kriminalpsychologisch bedeutsamer Fakten verarbeitet worden ist. Monographien A . A d l e r : Studie über Minderwertigkeit von Organen. München 1927. A. A d l e r : Praxis und Theorie der Individualpsychologie. München 1980. A. A i c h h o r n : Verwahrloste Jugend. Leipzig—Wien — Zürich 1925. F . A l e x a n d e r , H. S t a u b : Der Verbrecher und seine Richter. Bin psychoanalytischer Einblick in die Welt der Paragraphen. Wien 1929. G. A s c h a f f e n b u r g , P a r t e n h e i m e r (Hrsg.): Bericht über den V I I . Internationalen Kongreß für Kriminalanthropologie, Köln, 9. bis 13. 10. 1911. Heidelberg 1912. G. A s c h a f f e n b u r g : Das Verbrechen und seine Bekämpfung. 3. Aufl. Heidelberg 1923. A. A t t m e y e r : Theorie der Verbrechen auf Grundsätze der Phrenologie basiert. Leipzig 1842. V. A u e r : Zur Psychologie der Gefangenschaft. München 1905. A. B a e r : Der Verbrecher in anthropologischer Beziehung. Leipzig 1893. W. v. B e c h t e r e w : Das Verbrechertum im Uchte der objektiven Psychologie. Wiesbaden 1914. K. B i r n b a u m : Kriminalpsychopathologie und psychobiologische Verbrecherkunde. 2. Aufl. Berlin 1931. A. Bjerre: Zur Psychologie des Mordes. Kriminalpsychologische Studien. Heldelberg 1925. E . B l e u l e r : Der geborene Verbrecher. Eine kritische Studie. München 1896. Ch. L. B r a c e : The dangerous classes of New York, and twenty years' work among them. 3. Aufl. New York 1880.

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(->• a u c h Krlmlnalpsychologle

im

SCHNEIDER

Ergänzungsband)

Raub

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R RAUB A. Geschichte 1. Betrachtet man den Raub nach seinen äußeren Merkmalen, so bietet er sich als eine einlach strukturierte Tat, deren Einheitlichkeit von der Frühgeschichte bis zur Gegenwart gewahrt ist (Bader). Der wesentliche Unterschied zwischen dem Raub in früheren Zeiten und Raubtaten in modernen Staaten liegt in der sozialen Bewertung. Wenn Angehörige primitiver Sippen oder Stämme Überfälle auf Stammesfremde verübten, hatten solche Räubereien keinen Deliktscharakter. Als Straftat war der Raub nicht existent, zumal sich nach Thurnwald die Mitglieder kleiner sippenmäßig gegliederter primitiver Gemeinschaften wohl nie untereinander beraubten. Im übrigen ist die gelegentlich geäußerte Annahme, der prähistorische Mensch sei zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes auf gewaltsame Wegnahme angewiesen gewesen, aus den erhaltenen Dokumenten nicht zu stützen. Die Höhlenzeichnungen haben in erster Linie die Jagd, nicht die zwischenmenschliche Gewaltanwendung zum Motiv. Dem Jagdtier galt offenbar die ganze kultische Aufmerksamkeit (Jagdmagie) und technische Anstrengung. Dabei waren die mit der Jagd zusammenhängenden und für den Stamm lebenswichtigen Vorgänge weitgehend ritualisiert, der Verfügbarkeit des einzelnen enthoben. Man wird nicht fehlgehen, wenn man in den von 0. La Farge beschriebenen Sitten und Gebräuchen der nordamerikanischen Indianer typische Beispiele für die Organisationsform kleiner sippenmäßig gegliederter primitiver Wildbeuterkulturen sieht. Auch die nordamerikanischen Indianer hatten, soweit sie Jäger und nicht Feldbauern waren, eine magische Einstellung zur Jagd, die stets Stammesangelegenheit, nicht Privatsache des einzelnen war. Es ist kennzeichnend, daß vielfach auch die kriegerischen Unternehmungen mit den Ansprüchen auf bestimmte Jagdgründe zusammenhingen. Wenn es außerhalb echter Stammeskriege zu raubähnlichen Handlungen kam, waren materielle Motive nicht der entscheidende Anlaß. Vielmehr waren kleinere Überfälle gegen Sippenfremde in erster Linie Möglichkeiten zum Mutbeweis. Ganz ähnliche Vorstellungen wird man sich auch über die Verhältnisse bei den Germanen machen dürfen. Es heißt bei Caesar (De bello gallico VI, 23): „Räubereien haben nichts Entehrendes, wenn sie außerhalb der Grenzen des Stammes unternommen werden; man sagt, sie geschähen zur Übung der Jugend und zur Überwindung der Schlappheit" (zit. nach Radbruch und Gwinner). 30·

Der materielle Wert der Beute dürfte somit dort nicht die entscheidende Rolle gespielt haben, wo sich solche Raubtaten zwischen Stämmen mit einheitlicher Lebensweise abspielten. Anders lagen die Verhältnisse in den Grenzzonen zwischen nomadisierenden Stämmen und Feldbauerngruppen. In solchen Gebieten kam es vor, daß sich Nomaden zu Räubern spezialisierten. Die Beute diente dann auch der materiellen Existenz. So wurden die Tuareg der Zentralsahara für ihre seßhaften Nachbarn zn gefürchteten Räubern. Aber auch in solchen Fällen hat der Raub keinen kriminellen Akzent. Für den räuberischen Stamm selbst lagen vielmehr hier in besonderem Maße die Voraussetzungen zu einer „Höherbewertung des Raubes" (Bader) vor, weil die Raubaktion nicht nur die Möglichkeit zur Demonstration der in primitiven Kulturen prestigemäßig besonders geachteten Eigenschaften bot, sondern auch für das Überleben des Stammes einen wichtigen Beitrag leistete. Die römische und ebenso die germanische Rechtsgeschichte zeigen eindrucksvoll, wie der Raub erst allmählich mit zunehmender Höhe der staatlichen Organisation Deliktscharakter angenommen hat. 2. Die Römer kannten in ihrem öffentlichen Strafrecht in ältester Zeit keinen Raub (rapia). Das öffentliche römische Strafrecht war in seinen Anfängen sehr wesentlich durch religiöse Vorstellungen bestimmt. Einer Bestrafung von Staats wegen wurden nur jene Verbrechen für würdig erachtet, die sich unmittelbar gegen die Grundlagen des Gemeinwesens richteten, wie ζ. B. die Entwendung von Götter- oder Staatsgut. Den Raub gab es in der ursprünglichen römischen Rechtsordnung allerdings im nicht-deliktischen Privatrecht. Er wurde nur als ein „Vergewaltigungsdelikt" (vis), als eine dem einzelnen zugefügte Schädigung angesehen, wie auch der Diebstahl. Es blieb dem Betroffenen überlassen, im Wege der Selbsthilfe gegen das ihm zugefügte Unrecht vorzugehen. Gegen die „rapia" gab es also ursprünglich auch keine Strafe im eigentlichen Sinne. In das öffentliche römische Strafrecht aufgenommen wurde der Raub durch die legislatorischen Maßnahmen, die nach der Niederwerfung des lepidianischen Aufstandes (77 v. Chr.) notwendig wurden. Für den Raub waren von diesen Maßnahmen das plotische Gewaltgesetz (lex Plautia) und besonders das von dem Peregrinenprätor M. Terentius V. Lucullus im Jahre 76 v. Chr. aufgestellte und seitdem ständige Edikt von Bedeutung. Diese von Lucullus aufgestellte actio vi bonorum raptorum sollte helfen, der durch die Bürgerkriege zunehmenden Gewalt-

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Raub

tätigkeiten Herr zu werden. Sie richtete sich in erster Linie gegen den bewaffneten Bandenraub (hominibus armatis coactisque). Sie konkurrierte allerdings so stark mit der actio furti (Diebstahl), daß es sich bei dem „ R a u b " nur um einen wegen der angewandten Gewalt besonders scharf bestraften Diebstahl handelte. Die bei der Wegnahme angewandte Gewalt war im übrigen der wesentliche Unterschied zum Diebstahl. Jetzt war die für Raub angedrohte, im Vergleich mit dem Diebstahl wesentlich härtere Ahndung zur echten Strafe geworden und wurde von Organen des Staates verhängt. Nachdem Gewaltdelikte wie Raub u. a. in das öffentliche Strafrecht gelangt waren, wurden sie im Laufe der Zeit genauer voneinander abgegrenzt, und zwar in der Regel durch die allgemeinen Ordnungen für die öffentlichen und privaten Geschworenengerichte, nicht durch Spezialgesetze. Schließlich wurde in der Kaiserzeit das Edikt des Luculi so weit geändert, daß die Räuber weder „armati" noch „coati" zu sein brauchten, daß also einfache Gewaltanwendung zur Annahme des Tatbestandes Raub genügte. Anders als im römischen Recht unterschieden die Germanen von jeher zwischen Raub und Diebstahl. Der Unterschied wurde im wesentlichen darin gesehen, daß der Raub eine offene und der Diebstahl die heimliche Wegnahme einer Sache war. Die Anwendung von Gewalt wurde für den Raub nicht vorausgesetzt. Dieser Standpunkt wird aus den Gesetzeswerken der Westgoten, Burgunder, Franken und Langobarden erkennbar. Die Germanen faßten alle eigentlichen Missetaten im Gegensatz zu den nur einen privatrechtlichen Anspruch begründenden Rechtsverletzungen unter dem Begriff des Friedensbruches zusammen. Dabei unterschieden sie schwere Friedensbrüche wie ζ. B . Bruch des Heer- und Tempelfriedens, Gräberraub, Mord, Diebstahl und Brandstiftung von sogenannten schlichten Friedensbrüchen, zu denen offener Totschlag und auch Raub gehörten. Schwere Friedensbrüche wurden von Amts wegen verfolgt, schlichte waren Privatsache der Betroffenen, bis sie von ihnen oder ihrer Sippe vor das Gericht gebracht wurden. Der Raub war wie der Totschlag keine entehrende Handlung. Man hielt einen Räuber auch wegen seines offenen Vorgehens für weniger strafwürdig als den heimlichen Dieb. In der fränkischen Zeit verwischte sich die Unterscheidung von Raub und Diebstahl immer mehr. Raub wurde als offene Wegnahmehandlung immer noch milder bestraft als der Diebstahl, doch wurde nun unterschieden zwischen einfachem Raub und Bandenraub (latrocinium), für den das typische Kriterium in der Gewaltanwendung gesehen wurde. Die Überfälle der latrones gehörten zu den schweren Friedensbrüchen und wurden mit hohen Strafen geahndet.

3. Lange vor der Völkerwanderung hatte es bei den Germanen auch den kriminellen Raub gegeben, begangen von heimat- und ehrlosen Geächteten. In der „Geschichte des Verbrechens" (Radbruch und Gwinner) wird überzeugend nachgewiesen, wie ein verfehltes Strafrecht, insbesondere die Ausstoßung des Missetäters aus seinen sozialen Bindungen, zwangsläufig den Gestrauchelten zum Verbrecher, zum räuberischen Waldgänger werden läßt. Bin Banditen- und Räuberwesen größeren Umfanges entwickelte sich erst nach der Völkerwanderungszeit, als die alten Ordnungen zerbrachen und über Jahrhunderte hinweg die politische Stabilisierung, trotz der entschlossenen Ansätze der fränkischen Herrscher, nicht zustande kam. Die Räuberkriminalität des Mittelalters wurde besonders bedrohlich, als das Fehdewesen entartete und sich schließlich im Treiben adeliger Räuber, der Raubritter, eine Lebensweise herausformte, die den Bauern und dem fahrenden Volke ein verderbliches Vorbild gab. Eine Räuberbande dieser Zeit wird von Wernher dem Gartenaere in der Dorfgeschichte „Meier Helmbrecht" beschrieben. Im Raubrittertum haben sich also Züge einer anfangs selbstverständlichen, ihrem Wesen nach kämpferischen Lebenshaltung allmählich verzerrt und waren schließlich kriminell entartet. Auch der Seeraub läßt eine solche Entwicklung erkennen. Aufstieg und Untergang der VitalienBrüder zeigen, wie die Ansätze zur Seeräuberei von den Repräsentanten der Seemächte aus der Not heraus selbst geschaffen wurden. Bald verloren aber die Auftraggeber die Kontrolle über ihre angeworbenen Kapermannschaften und deren Kapitäne. Für eine laufende Ergänzung von Führung und Mannschaften der Piraten war schon dadurch gesorgt, daß durch die Maßnahmen der damaligen Rechtsprechung viele Gestrauchelte, darunter tüchtige und wagemutige Leute, ihre Heimat verloren und im Anschluß an die Piraten den nächstliegenden Ausweg sahen. Es nimmt nicht wunder, daß die Taten solcher, zu allem entschlossenen Männer das Volk faszinierte, vor allem, wenn einem wagemutigen Seeräuber der Erfolg längere Zeit treu blieb. Das ausgehende Mittelalter sah sich, wie Radbruch in seiner Einführung in die Carolina darlegt, einem überhandnehmenden organisierten Berufsverbrechertum gegenüber. Die Landstraßen waren von umherziehenden Kriegsleuten, fahrenden Scholaren, Handwerksburschen, vertriebenen Juden, Gauklern und Bettlern, Krämern und Wallfahrern, seit der Reformation auch entlaufenen Klosterleuten bevölkert. Dem aus der sozialen Unordnung hervorgegangenen Bandenwesen stand damals lediglich ein landschaftlich stark aufgesplittertes Volksrecht, verbunden mit willkürlichen Obrigkeitsmaßnahmen, gegenüber,

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Raub eine Situation, die schließlich eine Vereinheitlichung des Strafrechts dringend gebot. In der Carolina, der 1532 erlassenen „Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V.", wurde dies verwirklicht. Johann Freiherr zu Schwarzenberg und Hohenlandsberg hatte in der Bambergensis entscheidende Vorarbeiten geleistet. In der Carolina wird der Raub in Artikel 126 mit dem Tod durch das Schwert bedroht: Item eyn jeder boßhafftiger überwundner rauber, soll nach vermöge unser vorfarn, unnd unserer gemeyner keyserlichen rechten, mit dem schwerdt oder wie an jedem ort inn disen feilen mit guter gewonheyt herkommen ist, doch am leben gestrafft werden. Wie im Mittelalter blieb auch nach dem 30jährigen Krieg bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts die Bandentätigkeit ein Spiegelbild der politischen Unordnung. Die sozialen Spannungen steigerten sich. Auf der einen Seite entfalteten die Höfe der absoluten Fürsten Prunk und Luxus; andererseits litten große Volksteile extreme Not, insbesondere die leibeigene Landbevölkerung. Die auf Akten, insbesondere Vernehmungsprotokolle gestützte Studie über die mitteldeutsch-fränkische Räuberbande des „Krummfingers Balthasar" von G. Kraft macht einige kriminologisch wichtige Merkmale solcher Banden deutlich, wie sie auch für die Bande des Schinderhannes, die Moselbande, die Brabantische, Holländische, Meerssener, Krefelder, Neußer, Neuwieder und Westfälische Räuberbande, ferner die Banden im Spessart und im Odenwald zutreffen dürften. Die Protokolle und Aktenhinweise über die Krummfingers-Balthasar-Bande zeigen auf, daß eine wesentliche Vorbedingung für den Bestand der Bande über einen längeren Zeitraum hinweg ein Rückhalt in geeigneten Stützpunkten war. Durch zahlreiche Schlupfwinkel in Wäldern, Grenzschenken, an Fuhrmannstraßen und in ökonomischen Notgebieten war die Kontinuität der Bande oft über Jahre, gelegentlich über Jahrzehnte hinweg gesichert. Allerdings änderte sich die Zusammensetzung der Bande häufig; auch erfolgten manchmal gemeinsame Aktionen mehrerer Banden. Die Gliederung war teilweise den militärischen Verbänden nachgeahmt, mit Zügen einer Rangordnung, Zuerkennung von Titeln, eigenen Gerichtstagen gegenüber Verrätern oder Versagern, und speziellen Härteprüfungen. Zur terroristischen Durchsetzung ihrer Ziele diente die Androhung der Brandlegung durch „Brandbriefe" und andererseits die Gewährung von Schutz im Falle der regelmäßigen Entrichtung von Abgaben an die Bande, welche auf bestimmten Routen („Strich" oder „Gang") bei den Beschützten die erpreßten Gelder und Sachleistungen entgegennahm. Häufig standen Bandenmitglieder in einer korrupten Verbindung mit Amtsstellen. Das vagabundierende Bevölkerungselement wie

Pfannenflicker, Besenbinder, Scherenschleifer, Keßler und Musikanten wurde zu Boten- und Späherdiensten herangezogen und konnte sich dadurch seinen Schutz auf der Straße erkaufen. Auch zu Angehörigen höherer Stände soll zeitweise ein Kontakt vorhanden gewesen sein, etwa zu Ärzten, deren Hilfe bei Verwundungen benötigt wurde. Es kam auch zur organisierten gewaltsamen Befreiung von inhaftierten Bandenmitgliedern. Als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Folgen der französischen Revolution und der Koalitionskriege allmählich überwunden wurden und sich die staatliche Ordnung festigte, ging es in Deutschland mit den Räuberbanden rasch zu Ende. Auch für die jüngste Vergangenheit bleibt aber die Lehre aus der Geschichte gültig, daß in Zeiten sozialer Unruhe und fragwürdig gewordener Autorität rasch wieder ein Banditenwesen größeren Stiles aufleben kann. Vor der Befreiung der afrikanischen Völker von kolonialer Herrschaft in der Mitte unseres Jahrhunderts ging fast zwangsläufig dem politischen Widerstand gegen die alten Träger staatlicher Autorität eine verstärkte Gewaltkriminalität parallel, ζ. B. in Kenya durch die Mau-Mau-Bewegung der Kikuyus. Es bestätigt sich wiederum die Erfahrung, daß bei einer bevorstehenden politischen Umwälzung die bis dahin gültige staatliche Ordnung ihre Verbindlichkeit verliert und auch für ihre bisherigen Träger nicht selbstverständlich und damit nicht mehr wirksam ist. Die Verarmung unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg hat auch in europäischen Staaten, wo das Bandenunwesen der Vergangenheit anzugehören schien, zeitweise zu einem erneuten Aufflammen endemischen Banditentums geführt. In Teilen Siziliens und Sardiniens scheint diese Gefahr auch heute noch nicht völlig überwunden zu sein. Auch in manchen süd- und mittelamerikanischen Staaten wird in abgelegenen Gegenden die Sicherheit immer wieder durch bewaffnete Banden bedroht. Kolumbien konnte dem Bandenunwesen nur durch den Einsatz von Militär wirksam begegnen.

B. Jetzige Rechtslage in Deutschland Das heutige deutsche Strafgesetzbuch behandelt im 20. Abschnitt Raub (§§ 249—251), räuberischen Diebstahl (§ 252) und Erpressung (§§ 253—256 StGB). Den räuberischen Diebstahl sieht die h. M. nicht als Raub, sondern als qualifizierten Diebstahl an (RGSt 60/133; 70/65), im Gegensatz zu RGSt 66/353; BGHSt 3/76 und Maurach (BT § 29 I, 2), die ihn für ein Sonderdelikt halten. Hier sind daher lediglich jene gemeinhin als Raub bezeichneten Tatbestände der §§ 249—251 StGB zu erörtern (-*· Erpressung und -»· Diebstahl).

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Raub

Raub ist die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache in Zueignungsabsicht (§ 242) durch Gewaltanwendung oder Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben. Gewalt ist zu verstehen als physische wie auch psychische Einwirkung auf eine Person, um einen geleisteten Widerstand zu brechen oder einen erwarteten zu verhindern. Beispiele für „Gewalt" im Sinne von § 249 sind das Niederschlagen eines Ahnungslosen (RGSt. 73/344), die Anwendung von Gewalt bei Bewußtlosen ( B G H N J W 53/351) oder Betrunkenen (BGHSt 4/210), das Verbringen eines Bewußtlosen in Raubabsicht an einen für die Beraubung geeigneten Ort ( B G H N J W 63/1400). Weiter gehören hierhin das Fesseln eines Schlafenden (RGSt 67/183), die Abgabe von Schüssen aus einer Schreckschußpistole (RGSt 66/358) und die Anwendung eines Betäubungsmittels, selbst wenn es nicht gewaltsam beigebracht worden ist (BGHSt 1/145; Binding I, 83; a. A . RGSt 56/87; 58/98). Schließlich ist auch die Einwirkung durch Hypnose Gewaltanwendung nach § 249 StGB (ζ. B. Jagusch, Leipziger Kommentar § 249 Anm. 3 a, Mauxach B T § 14 I I ) . Gewalt oder Drohung müssen die Mittel zur Wegnahme sein. Daher ergibt sich eine besondere Lage, wenn eine Person zunächst einer Gewaltanwendung ausgesetzt war und der Täter nach der Gewaltanwendung, ohne motivische Verknüpfung, eine Wegnahme begeht. Dann liegt kein Raub vor, sondern in der Regel Diebstahl (§ 242) mit Körperverletzung (§ 223 StGB). Keinen Raub begeht ferner derjenige, der Gewalt oder Drohung erst nach erfolgter Wegnahme anwendet. In solchen Fällen wird im allgemeinen der Tatbestand des § 252 StGB (räuberischer Diebstahl) erfüllt sein. Drohung ist das Inaussichtstellen eines Übels, das der Drohende auch herbeiführen kann oder wenigstens zu können vorgibt. Von der Gewalt unterscheidet sie sich dadurch, daß diese das Übel schon zufügt (RGSt 64/116). Darum ist auch die nicht gewaltsame Betäubung Gewalt. Der Raub wird qualifiziert zum schweren Raub (§ 250 StGB) durch verschiedene Begehungsarten. § 250 Abs. I Ziff. 1 erfaßt die besondere Gefährlichkeit des Raubes mit Schußwaffen. Da diese Art des Raubes aber gerade und nur wegen ihrer Begehung mit Schußwaffen besonders gefährlich ist, fällt hierunter nicht der listige Räuber, der durch Vorhalten seiner Tabakspfeife dem Opfer den Besitz einer solchen Waffe vortäuscht ( M D R 49/486; BGHSt 3/232). Die durch das EGStGB vom 2. 3.1974 erfolgte Angleichung der Straferschwerungsgründe des schweren Raubes an die des Diebstahls in § 244 brachte anstelle der weggefallenen Tatbestände des Straßenraubes und des Raubes zur Nachtzeit den Erschwerungsgrund der Begehung mit (sonstiger) Waffe (§ 250 Abs. I, Ziff. 2) und in

der Form des Bandenraubes (§ 250 Abs. I, Ziff. 4)· Aus demselben Grunde wie bei Ziffer 1 (und entsprechend der Regelung in § 244 Abs. I, Ziff. 2) setzt auch die Tatbegehung durch eine „ W a f f e oder sonst ein Mittel oder Werkzeug" die Benutzung eines Gewalt- oder Drohmittels voraus, dessen Anwendung objektiv dazu geeignet wäre, eine Gefahr für Leib und Leben des Opfers zu schaffen. Waffen im technischen Sinne stellen ein breites Spektrum von Gegenständen dar, mittels derer die Grenzen menschlicher Muskelkraft erweitert werden, vom genagelten Schuh oder dem spitzen Absatz eines Damenschuhs über Schlagringe, massive Aschenbecher ( B G H M D R 53/531; OLG Celle in M D R 50/371) und Gaspistolen (BGHSt 4/125) bis zu automatischen Feuerwaffen. Im Jahre 1958 wurde in der Bundesrepublik erstmals eine Maschinenpistole bei einem Bankraub angewandt (Niedermeyer). Der gefährdungsbezogene Strafschärfungsgrund des gefährlichen Raubes (§ 250 Abs. I, Ziffer 3) berücksichtigt schließlich den Fall, daß das Opfer durch die Tat in die Gefahr des Todes oder einer schweren Körperverletzung gebracht wird und deckt auf diese Weise einen Gefahrenbereich ab, der den „schweren Folgen" im Sinne der §§ 224, 251 vorgelagert ist. Die vom Raubtäter angewandte Gewalt geht gelegentlich über den Wegnahmezweck hinaus und zieht ungewollt den Tod des Opfers nach sich. Eine solche Tat erfüllt den Tatbestand des § 251 StGB aber nur dann, wenn der tödliche Ausgang nicht gewollt war. Wer dagegen vorsätzlich jemanden tötet, um sich dessen Sachen anzueignen, begeht Mord in Tateinheit mit Raub, da mit der Gewaltanwendung die Wegnahme beginnt (RGSt 63/105). (Zur Tötung aus Habgier, gelegentlich auch „Raubmord" genannt, -»• Tötungsverbrechen.) Faßt der Täter den Zueignungsentschluß erst nach der Tötung, liegt Mord (oder Totschlag) in Tateinheit mit Unterschlagung vor. C. Kriminologie 1. Die historische Kriminologie des Raubes hat bereits gezeigt, daß dieses Delikt besonders eng mit der jeweiligen politischen und sozialen Lage zusammenhängt. Auch die Raubkriminalität in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg erfuhr infolge der wirtschaftlichen Not, der politischen Unruhen und der Rückkehr zahlreicher dem bürgerlichen Leben entwöhnter Soldaten eine beträchtliche Steigerung. Zu einer eigentlichen Bandentätigkeit kam es allerdings nur während der politischen Aufstände 1920 und 1921. Damals erregte vor allem die Plättnerbande Aufsehen, die ihre Überfälle auf Fabriken und Kaufleute sorgfältig geplant und auffallend diszipliniert durchgeführt hatte. Da in der Regel nur der

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Raub Vermögende, nicht das einfache Betriebsmitglied beraubt wurde, war der Eindruck entstanden, daß politische Motive bei diesen Unternehmungen im Spiele waren. Nachdem die Mitglieder der Flättnerbande aber nach und nach verhaftet werden konnten, wurde ihr rein krimineller Charakter deutlich. Die Reichskriminalstatistik weist für die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen einen ersten Höhepunkt im Jahre 1921 und einen weiteren Gipfel zur Zeit der wirtschaftlichen Depression im Jahre 1932 auf. Raumer hat für die Zeit von 1906 bis 1913 und von 1925 bis 1933 die Raubziffern mit den Arbeitslosenziffern verglichen und eine deutliche Parallelität festgestellt. Für die ersten Jahre nach dem 2. Weltkrieg fehlen zusammenfassende statistische Daten. Aus örtlichen Polizeistatistiken geht aber zweifelsfrei ein gewaltiger Anstieg der Raubkriminalität hervor. Von September 1945 bis Dezember 1946 wurden der Berliner Polizei 3775 Raubüberfälle gemeldet. Zum Vergleich kann die Zeit von 1929 bis 1938 dienen, während der insgesamt 3611 Raubüberfälle gemeldet worden waren (Bader). Das Freiburger Institut für Kriminalistik und Strafvollzugskunde nahm an, daß die Raubkriminalität in Deutschland während der ersten Nachkriegs jähre um 800 bis 1 2 0 0 % gegenüber 1928 gestiegen war. Viele der kleineren Überfälle ereigneten sich im Zusammenhang mit dem Schwarzen Markt, ein Umstand, der es dem Opfer oft nicht ratsam erscheinen ließ, Anzeige zu erstatten. Die Bandenüberfälle der ersten Nachkriegsjahre galten insbesondere dem Erwerb von Lebensmitteln und Sachwerten und richteten sich gegen Bauernhöfe, aber auch gegen Geschäfte in großen Städten. Blühm hat nach Quellenmaterial die Überfälle durch bewaffnete Banden im Ruhrgebiet geschildert. Das Kennzeichen jener bewaffneten Überfälle war der rücksichtslose Schußwaffengebrauch. Weder die von den Bauern gebildeten Wachen noch die deutsche Polizei waren in der Lage, solchen Raubüberfällen und Raubmorden Einhalt zu gebieten. Die Täter wurden meist nicht ermittelt und innerhalb des von Blühm untersuchten Bereichs auch in keinem Fall abgeurteilt. Es ist zu vermuten, daß diese Raubüberfälle ζ. T. von Männern begangen wurden, die im Krieg zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden waren und nach Kriegsende in Lagern lebten. Blühm glaubt, daß diese Vermutung durch den weiteren Verlauf bestätigt wurde. Nach der Rücksiedhmg der sog. „displaced persons" in ihre Heimatländer trat der schwere bewaffnete Bandenraub kaum noch auf. Der Gerichtsmediziner hatte in diesen Jahren gelegentlich Skelette zu untersuchen, die in Wäldern gefunden worden waren. Darunter waren Skelette von „displaced persons". Die

Ermittlungen ergaben, daß sie den Tod beim Streit um die Beute gefunden hatten. Die Entwicklung der Raubkriminalität nach der Währungsreform läßt eine überraschende Tendenz erkennen. Obwohl sich nach 1948 die wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik zunehmend verbessert und die Arbeitslosigkeit immer weiter abgenommen hatte, nahmen die Raubüberfälle zu. Tabelle 1 zeigt, daß die Ziffern der in der Bundesrepublik wegen Raubes verurteilten Erwachsenen kaum höher liegen als die entsprechenden Ziffern des Deutschen Reiches in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg. Dagegen ergab sich bei den Jugendlichen ein starker Anstieg. Ähnlich steil war der Anstieg bei den seit 1950 getrennt erfaßten 18 bis 21 Jahre alten Tätern, die im übrigen noch wesentlich höhere VerurteilT a b e l l e 1 : Die in den Jahren 1924 bis 1930 im Deutschen Reich und in den Jahren 1949 bis 1965 in der Bundesrepublik Deutschland wegen Raubdelikten (§§ 249—252, 255 StGB) Verurteilten. auf 1 Million Personen gleichen Alters

Jahr

Verurteilte ins-

HeranErwachJugendwachsensene liche de

Nach dem 1. Weltkrieg (Deutsches Reich) 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930

23 17 16 14 14 16 21

24 18 17 14 14 16 20

— — — —

42 48 55

15 10 8 8 13 15 32

Nach dem 2. Weltkrieg (Bundesrepublik Deutschland) 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965

18 20 21 24 21 22 25 27 35 38 36 38 40 38 41 43 38

17 19 20 22 21 21 24 17 20 21 19 20 23 22 23 26 23



91 101 125 104 108 132 118 169 178 177 198 206 212 242 221 229

29 26 33 44 28 34 43 57 88 98 105 112 117 115 143 133 111

464

Kaub

tenziffern als die Jugendlichen aufwiesen (vgl. auch H. J. Schneider, S. 6). Wichtige Hinweise auf die Tendenzen der Raubkriminalität in der Bundesrepublik ergeben sich aus der Statistik der Kriminalpolizei. Tabelle 2

T a b e l l e 3: Raubüberfälle auf Geldinstitute, Kassen und Kassenboten, einschl. Dienststellen und Boten der Bundesbahn und Bundespost in den Jahren 1953 bis 1974. Bundeskriminalamt. Jahr

Tabelle 2: Die Entwicklung der Raubkriminalität (Raub und räuberische Erpressung) in der Bundesrepublik zwischen 1954 und 1974 nach der Statistik des Bundeskriminalamtes.

Jahr

Gesamtzahl der Fälle

davon aufgeklärt

1954 1956 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974

3540 3686 4316 4471 6124 5250 5790 6168 6410 6721 7218 7655 9010 9784 9737 11503 13230 15531 18786 18274 18966

54% 56% 54% 52% 67% 56% 66% 55% 65% 57% 55% 58% 58,0% 58,0% 60,7% 61,6% 58,1% 66,5% 63,0% 54,9% 53,8%

Gesamtzahl Nichtder er- deutsche mittelTäter tenTäter 2591 2833 3316 3617 3900 3897 4582 4733 4767 5100 5468 6775 7275 7762 8099 9913 10603 12437 14656 14619 14728

8,0% 8,5% 7,2% 7,3% 6,6% 7,4% 7,9% 10,1% 9,8% 10,7% 10,9% 12,0% 11,8% 10,7% 10,1% 9,8% 13,1% 17,2% 16,1% 17,6% 16,4%

zeigt, daß Jahr um Jahr einige hundert Überfälle mehr als im Vorjahr gemeldet werden. Im Jahre 1967 waren fast 10000 Anzeigen eingegangen. Seit 1953 werden vom Bundeskriminalamt gesonderte Erhebungen über sämtliche Fälle der Beraubung von Geldinstituten, Zahlstellen, Kassenboten und Dienststellen der Post durchgeführt (Tabelle 3). Diese Kategorie von Überfällen, welche die Öffentlichkeit besonders beunruhigt, hat stark zugenommen, von 24 Fällen im Jahre 1953 auf 430 Fälle im Jahre 1967. Dabei hatte in dieser Zeitspanne von 15 Jahren NordrheinWestfalen mit 546 Fällen die meisten derartigen Taten zu verzeichnen, Berlin mit 26 die wenigsten. Die Gesamthöhe der Beute der in der Bundesrepublik begangenen Raubüberfälle auf Banken usw. wurde für 1964 mit 1,8 Millionen, 1965 mit 2,3 Millionen und 1966 mit 3,7 Millionen DM ermittelt. 2. Mit genaueren kriminologischen Untersuchungen über den Raub, insbesondere die Klassi-

1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963

Jahr 24 30 43 66 62 42 36 53 63 71 100

1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974

202 229 389 430 322 212 235 297 381 308 266

fizierung, die Tatdynamik und die Täterpersönlichkeit, wurde in Deutschland erst nach 1930 begonnen, als sich nämlich die alte These nicht mehr halten ließ, daß der Raub als ein archaisches Primitivdelikt zu gelten habe, das sich mit der Festigung der sozialen Verhältnisse von selbst erledige. Da zwischen einem Handtaschenraub und einem organisierten Bandenraub grundlegende Unterschiede bestehen, ist es nötig, die Raubdelikte zu klassifizieren. Bei Berücksichtigung der Ausführungen im Abschnitt Α bietet sich eine Einteilung in 3 Hauptgruppen an: a) Überfälle mit Raubcharakter in primitiven Kulturen, vergleichbar dem Krieg, ohne kriminellen Akzent; b) der Raub, hervorgehend aus echtem Banditentum, als wesentliches Mittel zur Aufrechterhaltung illegaler Existenz; c) der kriminelle Raub als Einzeldelikt. Für die kriminologische Forschung der Gegenwart kommt dem Raub im Rahmen einer kontinuierlichen Bandentätigkeit kaum noch Bedeutung zu, vielleicht noch am ehesten im Zusammenhang mit dem von Hentig beschriebenen Gangstertum (rackets) in den USA. Die Unterteilung der Raubdelikte nach kriminologischen Gesichtspunkten kann sich deshalb auf den Raub als kriminelles Einzeldelikt beschränken. Von Raumer stammt die Aufgliederung der Raubtaten nach den besonderen Situationen, aus denen der Täter zum Überfall ansetzt. Er unterscheidet 4 typische Raubsituationen: Zufallssituation liegt vor, wenn der Täter ohne Plan oder Verabredung bei einer sich bietenden Gelegenheit zum Raub ansetzt; bei der Gelegenheitssituation hat der Täter die Absicht zum Raub, sucht aber ohne eingehende Erkundung der Verhältnisse nach einem geeigneten Opfer und verwirklicht sein Vorhaben, wenn ihm die Gelegenheit augenblicklich günstig erscheint; zu den

Raub Vorbedachtssituationen zählen die Überfälle nach einem abgewogenen Plan und nach vorangegangener Erkundung der bedeutsamen Umstände, also zu dem vom Täter gewählten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort; Überraschungssituation liegt vor, wenn es zur Gewaltanwendung gegen Personen kommt, ohne daß dies ursprünglich beabsichtigt war, etwa bei einem Einbruchsversuch oder beim Hinzukommen von Zeugen. Bei den von Raumer untersuchten 113 Fällen waren fast die Hälfte Vorbedachtstaten. Raubdelikte lassen sich auf die von Raumer vorgeschlagene Weise aber nur gliedern, wenn alle Einzelheiten der Tat und vor allem auch die ganze Situation des Täters vor und während der Tatbegehung bekannt sind. Somit kommt diese Gruppierung nur für aufgeklärte Raubüberfälle in Betracht. Wenn aber angestrebt wird, durch die kriminologische Analyse bestimmte Tendenzen der Kriminalität aufzuspüren, sich Vorstellungen über die Wirksamkeit der Arbeit der Polizei zu verschaffen, spezielle Gefährdungen nach Zeit, Ort und Umständen zu erkennen, wenn also der Kriminologe einen auf die Zukunft zielenden Beitrag leisten will, hat er der unaufgeklärten und unbestraft gebliebenen Tat das größere Interesse zu widmen. Deshalb haben McClintock und Gibson bei ihrer Untersuchung über den Raub in London eine Einteilung gewählt, die auch unaufgeklärte Fälle einbezieht. Fünf Gruppen wurden unterschieden: a) Raub an Personen, die beruflich Geld oder Sachwerte in Verwahrung haben; b) Raub an Passanten im Freien; c) Raub in Privaträumen; d) Raub nach kurzer Bekanntschaft zwischen Täter und Opfer, darunter auch sexuelle Kontakte; e) Raub nach längerer Bekanntschaft. Die von McClintock und Gibson durchgeführte Untersuchung über den Raub in London hat zu eindrucksvollen Ergebnissen geführt. Die Autoren hatten insgesamt 1100 der Polizei bekannt gewordene in London begangene Raubtaten der Jahre 1950 und 1957 und der ersten Jahreshälfte von 1960 ausgewertet. Es zeigte sich, daß sich die Zahl der Taten innerhalb dieses Zeitraumes nicht nur verdoppelt, sondern sich darüber hinaus der Schwerpunkt immer mehr auf die Gruppe a, also die gut geplanten Überfälle auf Geldtransporte, Banken usw. verlagert hatte. Während 1950 nur ein Drittel aller Taten zur Gruppe a rechnete, war der Anteil im Jahre 1960 mehr als die Hälfte. Auch die Höhe der Beute stieg beträchtlich und erreichte in letzter Zeit bei über 2 5 % der Überfälle einen Wert von über £ 100. Die Raubtaten mit besonders hoher Beute blieben meist unaufgeklärt. So wurden von den Überfällen mit über £ 500 Beute im Jahre 1950 lediglich 2 von 11, 1957 1 von 30 und 1960 5 von 37 Taten aufgeklärt. In der Einführung zu dieser Monographie weist

465

Radzinowicz darauf hin, daß eine solche, vom Täter her gesehen günstige Erfolgsquote beim geplanten Großraub einen Anreiz zu weiteren ähnlichen Taten darstellt. Es kann angenommen werden, daß die sorgfältig vorbereiteten lohnenden Überfälle (Gesamtwert der Beute im ersten Halbjahr 1960 £ 170000) von einer verhältnismäßig kleinen Gruppe intelligenter und erfahrener Berufsverbrecher begangen wurden. Der größte Raubüberfall der Kriminalgeschichte hatte sich im übrigen auch in England ereignet. Am 8. August 1963 brachte eine 15 köpf ige Bande nach einer minutiösen generalstabsmäßigen Vorbereitung einen Postzug in der Nähe von Cheddington zum Halten und raubte Banknoten im Wert von fast 30 Millionen DM. Hier war der Erfolg aber letztlich auf der Seite der Polizei. Ende 1968 wurde der letzte der berühmt gewordenen Posträuber, der 37jährige Engländer Bruce Reynolds, verhaftet und alsbald zu 25 Jahren Haft verurteilt. Auch in der Bundesrepublik sind die Überfälle der Gruppe a in letzter Zeit stark gestiegen (Tabelle 3). Wie sich bei noch nicht veröffentlichten Auswertungen mit Deter ergab, ist unter den deutschen Bankräubern der Anteil nicht vorbestrafter Täter mit 5 0 % ziemlich hoch. Die von McClintock und Gibson für London gefundene Tendenz einer Zunahme lukrativer und nicht aufgeklärter Fälle der Gruppe a ist in Deutschland nicht festzustellen. Banküberfälle der letzten Jahre mit mehr als 10000 DM Beute wurden genauso häufig geklärt wie weniger einträgliche Überfälle. Allerdings blieb auch die Bundesrepublik von Bankraubspezialisten mit langen Deliktserien nicht verschont. Als Einzeltäter hatte der Polizeibeamte Hugo Alffcke bei 10 Banküberfällen zwischen 1960 und 1966 rund dreihunderttausend Mark erbeutet. Bei seinem letzten Überfall am 3. 1. 1966 raubte er einhunderttausend Mark, wurde aber schließlich von 2 Bankangestellten überwältigt und der Polizei übergeben. E r war bei der Festnahme 51 Jahre alt. Eine noch höhere Gesamtbeute erzielte eine als „Banklady" bekannt gewordene Frau, die zusammen mit ihrem Freund, einem Taxifahrer, und 2 weiteren Komplizen an 15 Überfällen in Norddeutschland zwischen 1964 und 1967 aktiv beteiligt war. Bei der Festnahme im Dezember 1967 waren die männlichen Täter zwischen 39 und 47 Jahre, die Frau 33 Jahre alt. 3. Es ist noch nicht lange her, daß zur Beschreibung der Persönlichkeitsmerkmale von Raubtätern empirische Untersuchungsergebnisse anstelle der früheren vagen Typisierung herangezogen werden können. Der erste solche Beitrag stammt von Michel, der 1937 eine Studie zur Psychologie und Psychopathologie der Raubtäter auf Grund von Untersuchungen an 165 in öster-

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Raub

reich Verurteilten veröffentlicht hat. Seither ist eine Fülle von Arbeiten über die Altersgliederung, die Psyche, den sozialen Hintergrund und Einzelheiten der Tatdynamik erschienen, ein großer Teil allerdings als Dissertationen. Zur Frage der Altersgliederung der Räuber ist ein Rückblick auf die Geschichte lehrreich. Die berühmten Räuber der Vergangenheit standen entweder im jüngeren Lebensalter oder waren Männer in der physischen Vollkraft der Jahre. Ein überraschend breites Altersspektrum bietet sich allerdings dar, wenn man nicht nur die Anführer, sondern auch die namenlos gebliebenen Bandenmitglieder einbezieht, deren Alter aus Prozeßakten teilweise bekannt ist, so bei einigen der „Räuberbanden zu beiden Ufern des Rheins" und der Krummfingers-Balthasar-Bande. Neben der 3. Dekade sind auch die 4. und 6. Dekade ziemlich stark vertreten, selbst Bandenmitglieder jenseits des 50. Lebensjahres werden gelegentlich erwähnt. Von einigen der historischen Anführer ist das Lebensalter bekannt, das sie am Ende ihrer Laufbahn, bei der Hinrichtung, erreicht hatten. Der Brandenburgische Kaufmann und spätere Fehderäuber Hans Kohlhase stand im 4. Lebensjahrzehnt. Matthias Klostermaier, der „Bayrische Hiesel", hatte gerade das 35. Lebensjahr vollendet, James Hind, der royalistische Straßenräuber der Cromwellzeit, wurde 36 Jahre alt. Johannes Bückler („Schinderhannes") wurde nur 20 Jahre alt. Salvatore Giuliano, der berühmte sizilianische Bandit der Nachkriegs jähre mit politischen Ambitionen, wurde im Alter von 27 Jahren am 5. 7. 1950 bei einer Polizeiaktion in seiner Heimat, nahe Trappani, erschossen. Heute wird die Mehrzahl der Raubtaten von jungen Männern, meist unter 30 Jahren, begangen. Verurteiltenziffern der Reichskriminalstatistik ließen für die Zeit von 1928 bis 1932 erkennen, daß die Alterskurve der Raubtäter nach einem steilen Anstieg zwischen 16 und 20 Jahren einen Höhepunkt in der Altersklasse der 21—25 jährigen erreichte, um dann ebenso steil wie sie anstieg wieder abzufallen (Raumer). Feiler fand bei Verurteilten der Jahre 1930—1948 im Bereich des Landgerichtsbezirks Duisburg das Altersmaximum gleichfalls zwischen 21 und 25 Jahren. Bei 150 Raubtätern, die zwischen 1954 und 1957 von Hamburger Gerichten abgeurteilt worden waren, lag der Gipfel tiefer, bei 19 Jahren (Lüdemann). Bei den in Österreich in den Jahren 1950 bis 1963 verurteilten Raubtätern (insgesamt 1523 Personen, davon 9 6 % männlichen Geschlechts) waren 8 5 % unter 25 Jahre alt, mit einem Gipfel zwischen 18 und 20 Jahren (Jarosch). McClintock und Gibson bemerkten zwischen 1950 und 1957 eine Zunahme der unter 21jährigen, doch war bereits 1960 der Altersschwerpunkt wieder nach oben gerückt.

Solche Schwankungen der Altersverteilung hängen davon ab, welche Kategorie von Raubtaten jeweils im Vordergrund steht. Bei dem in alkoholisiertem Zustand begangenen Raub an flüchtigen Zechbekanntschaften überwiegen die besonders jungen Täter. Bereits ein geringer Anstieg dieser Kategorie beeinflußt die Altersverteilung erheblich, weil Taten dieser Kategorie in der Regel aufgeklärt werden und damit diese Täter das statistische Bild stärker bestimmen, als es den wirklichen Verhältnissen entspricht. Wenn also zeitweise bei den wegen Raubes Verurteilten sowohl in Deutschland als auch in England eine Verlagerung des Altersmaximums nach unten festzustellen ist, so dürfte hierin zwar eine Zunahme solcher impulsiv begangenen Raubüberfälle zu erblicken sein, doch rechtfertigt dies nicht die Behauptung, der Raub sei ein „Knabendelikt". Es ist vielmehr kein Zweifel, daß an den erfolgreichen großen Raubüberfällen erfahrene ältere Berufsverbrecher beteiligt sind, die der statistischen Erfassung entgehen. Eine Vorstellung darüber, wie wenig repräsentativ die an Verurteilten erhobenen statistischen Daten für die Raubtäter im allgemeinen sind, geben die Resultate der Londoner Untersuchung. Es blieben nämlich unaufgeklärt: über 8 0 % der Raubüberfälle auf Geldtransporte, über 7 0 % der Bank- und Ladenüberfälle während der Geschäftsstunden und rund 5 0 % der Überfälle auf einzelne Passanten im Freien. Nur in Gruppe d, dem Raub an Zechgenossen bzw. flüchtigen Bekannten, konnte die Mehrzahl der Täter ermittelt und abgeurteilt werden. Der Anteil der Frauen als Täterinnen bei Raubdelikten liegt in den europäischen und nordamerikanischen Statistiken niedrig, kaum je über 5 % . Unter den zwischen 1954 und 1967 in der B R D ermittelten Raubtätern waren weiblichen Geschlechts bei den Erwachsenen 3,1%, bei den Heranwachsenden 0,6%, bei den Jugendlichen 0,4% und bei den Tätern im Kindesalter 0,2%. Während in der Gesamtkriminalität das Verhältnis von Mann zu Frau bei 5 : 1 liegt, verschieben sich beim Raub diese Zahlen sehr stark zur männlichen Seite. Das weibliche Element wirkt, wenn überhaupt, auf dem Hintergrund einer persönlichen Bindung zu einem männlichen Täter mit. Die Rolle der Frau kann dabei recht vielfältig sein: Anfertigen und Aufbewahren von technischen Hilfsmitteln, wie Masken oder Spezialkleidung, als Aufpasserin und Kundschafterin, als Lockvogel zum Zwecke eines tatbegünstigenden Ortswechsels oder zur Ablenkung des Opfers und schließlich noch als aktive Teilnehmerin am Gewaltakt selbst. Auch Einzeltaten durch Frauen kommen vor, wobei das Opfer in der Regel ein Kind oder eine Frau ist. Zur Intelligenz der Raubtäter ergibt sich, daß unter den Verurteilten das mittlere und knapp

Raub unterdurchschnittliche Niveau überwiegt. An Gemeinschaftstaten sind manchmal auch Debile beteiligt, meist nur als Helfer. Feller hat unter 235 aktenmäßig untersuchten Fällen 9 Hilfsschüler gefunden. Geht man von den überführten Tätern aus, so sind die Minderbegabten mit einem etwas höheren Prozentsatz vertreten als in der Durchschnittsbevölkerung. Man darf aber auch hier, wie bei der Altersgliederung, den Auslesegesichtspunkt nicht vernachlässigen. Zweifellos ist das Intelligenzniveau der nicht überführten Raubtäter höher als bei den Verurteilten. Für die Vertiefung kriminologischer Einsichten ist aber die Kenntnis der Charakterstruktur wichtiger als die Kenntnis der Intelligenzhöhe. Den historischen Räubergestalten hat der Volksmund stets die Züge der Kühnheit, der körperlichen Gewandtheit, der Großzügigkeit und der Selbstsicherheit gegeben. Es wird fraglich bleiben, inwieweit dieses Bild des Räubers, das in die Legende und das Volkslied eingegangen ist, der Wirklichkeit entsprach. Zweifellos standen reale politische Gegebenheiten überall dort im Hintergrund, wo sich eine Gestalt wie etwa Robin Hood dem Volk als Held, als Kämpfer gegen terroristische Machthaber und als Beschützer der Armen in der Legende darstellte. Die Rebellion des Einzelnen gegen die feudale Ordnung war in der Sicht des Volkes eine der wenigen denkbaren Formen der Auflehnung. Daß das Bild des gesetzlosen Verächters der verhaßten Zwangsordnung dann mit positiven Zügen ausgestattet wurde, ist fast selbstverständlich. Noch Matthias Klostermaier, der „Bayrische Hiesel", konnte im bayrischen Schwaben des 18. Jahrhunderts einen solchen politischen Ruhm ernten, als er den feudalen Jagdrechten den Kampf ansagte, mit seiner Bande jagte, wo er wollte und hierbei von den Bauern unterstützt wurde. Die Landbevölkerung war damals wegen der schweren Flurschäden durch das unantastbare fürstliche oder königliche Wild in ständiger Sorge um die Ernten. Für alle historischen Räuber bleiben somit wegen der von Wunschvorstellungen durchsetzten Legendenbildung die durch das räuberische Leben selbst bezeugten Charakterzüge ziemlich undeutlich. Einigermaßen verläßliche Angaben liegen lediglich über das Verhalten vor der Exekution vor. Immer wieder taucht der Hinweis auf, daß die Anführer der Banden bei der Hinrichtung eine bemerkenswerte Haltung bewahrten, sogar angebotene Erleichterungen beim Vollzug der Todesstrafe aus Loyalität zu den Genossen nicht annahmen, jedenfalls den Stolz zeigten, den das bei der öffentlichen Hinrichtung in großer Zahl anwesende Volk erwartet hatte. Der Bericht von H. Kosyra über die oberschlesischen Banden des 2. Weltkrieges bringt ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit: Roman Becker, der „Räuberhauptmann" (wie er sich

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selbst bezeichnet hat) einer Bande, die 7 Raubmorde, einen Fememord, einen Mord an einem Polizeibeamten, 7 Mordversuche, 2 Raubmordversuche und 34 Raubüberfälle begangen hatte, war am 9. September 1940 in einem Haus in Bendsburg von überlegenen Polizeieinheiten eingeschlossen worden, so daß eine Flucht unmöglich war. Angesichts dieser Lage verübte er Selbstmord durch Erschießen, schrieb aber vorher noch nieder: „Ihr habt mich nicht gefangen. Räuberhauptmann Roman Becker." Neben dem Selbstbehauptungswillen des Banditen kommt in einer solchen Bemerkung auch das Bewußtsein zum Ausdruck, erklärter Gegner der herrschenden staatlichen Gewalt zu sein. Der Raubtäter der Gegenwart ist aber kein Bandit. Züge des Rebellen, der der Gesellschaft den Kampf angesagt hat, fehlen ihm meist. Wenn auch das Motiv der Auflehnung gegen die Autorität bei der Psychologie des Raubtäters nicht völlig außer acht bleiben kann, so ist es doch für den allgemeinen psychologischen Rahmen unerheblich. Der Ausgangspunkt liegt vielmehr darin, daß Raubtaten überwiegend von jungen Männern einer bestimmten sozialen Schicht, nämlich der ungelernten handarbeitenden Bevölkerung, begangen werden. So haben auch die Raubtäter vieles mit der Schicht, der sie angehören, und mit ihren Altersgenossen gemeinsam. Die Fähigkeit und die Neigung zur Abstraktion und Reflexion werden nicht besonders geschätzt und gepflegt. Das Bildungswissen ist kein wichtiges Ziel und vermittelt wenig Prestige. Die Kreisprozesse zwischen Bedürfnis, Wahrnehmung und Handlung sind kurz. Diese Züge geben auch den Schlüssel für das Verhalten in der Freizeit, das seine stärksten Impulse aus der Freude am unmittelbaren handlungsreichen, „spannenden" Erleben erfährt. Das zwischenmenschliche Kontaktbedürfnis und die Fähigkeit zur kooperativen Verwirklichung von Nahzielen, im Rahmen dieser speziellen Antriebslage, ist gut entwickelt. Zwischen den Angehörigen der sich jeweils schnell bildenden lockeren Freizeitgruppen herrscht eine beachtliche Loyalität. Alle diese Merkmale erhalten ihren besonderen Akzent durch das in der frühen Maturität teils gesteigerte, teils labile Selbstbewußtsein, die Entschlußfreudigkeit und eine beträchtliche Sorglosigkeit hinsichtlich der Folgen des eigenen Tuns. Die Fähigkeit, in den Erlebnissen des Augenblicks aufgehen zu können, ist verbunden mit einer gedanklich zwar unklaren, doch nicht weniger entschiedenen Zuversicht in den guten Ausgang der jeweiligen Aktion. Für die psychologischen und soziologischen Voraussetzungen der Vermögenskriminalität des jungen Mannes sind das Fehlen von Fernzielen und das Aufgehen in der momentanen Bedürfnisbefriedigung bedeutsam, wie Cohen für die Verhältnisse in USA aufgezeigt hat. Der strebsame

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Raub

junge Mann des Mittelstandes ist nach Cohen bereit, seine Zeit und seine Kräfte in langfristiger rationaler Planung auf disziplinierte Weise für den Aufbau der Existenz einzusetzen und dafür erhebliche Opfer zu bringen. In der Erlebniswelt des jungen Hilfsarbeiters spielen dagegen langfristige Ziele und die solchen Zielen dienenden Verzichtleistungen kaum eine Rolle. An dem ideell wenig profilierten Berufsleben interessiert in erster Linie die Höhe des Lohnes. Geld hat keinen Symbolwert, dient vielmehr der raschen Bedürfnisbefriedigung. Es wird ebenso großzügig genommen wie weggegeben. In der Freizeit steht man für den anderen, den „Kumpel", zur Verfügung, kann jederzeit mitmachen, da kein zeitraubendes Ausbildungs- oder Fortbildungsprogramm den Tagesablauf festlegt. Eine solche weitverbreitete, am hedonistischen Nahziel ausgerichtete Konsumhaltung findet sich bei vielen jüngeren Vermögensverbrechern in besonders krasser Ausprägung. Diebe und Räuber unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht wesentlich voneinander (Gercken). Diese extreme Konsumhaltung bedingt, daß das unrechtmäßig genommene Geld ebenso wie der Lohn leichtfertig im Rahmen der primitiven Bedürfnisbefriedigung ausgegeben wird. Daß hierbei Charakterzüge, nicht nur äußerlich übernommene Gewohnheiten im Spiele sind, geht auch aus dem Verhalten des Vermögensverbrechers während des Strafvollzuges hervor: er bevorzugt nämlich eine gut bezahlte, aber anspruchslose Tätigkeit, möglichst in der Form der Gemeinschaftsarbeit. Gallmeier betont auf Grund der Erfahrungen im Vollzug, daß der Vermögensverbrecher Arbeiten meidet, die Hingabe und Ausdauer oder selbstlosen Einsatz fordern. Die im modernen Strafvollzug gebotenen Möglichkeiten der Aus- und Fortbildung nutzt er in der Regel nicht, wenn auch ab und zu ein Raubtäter mit beträchtlicher Energie an Fernkursen teilnimmt, vielleicht um seine inneren Spannungen während der Strafhaft abzureagieren. Menschen dieser Charakterartung wollen also in erster Linie den rasch und bequem erlangten Ertrag. Sie gehen der qualifizierten handwerklichen Berufsarbeit auf die Dauer aus dem Wege, auch wenn sie die Lehre noch durchgestanden haben und ihre Intelligenz für den Beruf ausreichen könnte. Die psychologische Wurzel für die soziale und menschliche Instabilität der meisten Vermögensverbrecher ist die Kluft zwischen dem stets wachen materiellen Bedürfnis und dem geringen Leistungswillen. Michel hat schon 1937 gefunden, daß Raubtäter leichtsinnige, willensschwache Genußmenschen sind, unbeständig und unstet, mit Zügen von Haltlosigkeit, Hemmungslosigkeit und Arbeitsscheu. Manche Raubtäter weisen auch Züge von impulsiver Aggressivität und von Expansionsdrang

auf (Naß). Reine Angriffscharaktere sind aber unter den Räubern selten. Raumer hat dies bereits 1937 an Hand der Strafregisterauszüge von 107 wegen Raubes Verurteilten feststellen können. Alle späteren Untersuchungen hatten ähnliche Ergebnisse, bestätigten auch die weitere Feststellung Raumers, daß der Durchschnittsräuber seiner Persönlichkeit nach als Vermögensverbrecher, nicht als Gewalttätigkeitsverbrecher zu gelten hat. Die Mehrzahl der wegen Raubes Verurteilten ist vorbestraft, der Anteil liegt bei 60 bis 70%. Es ist bemerkenswert, daß immerhin rund ein Viertel der Raubtaten als Erstdelikt begangen wird. Wie die Längsschnittanalyse der Londoner Fälle zeigt, lassen sich hinsichtlich des kriminellen Verhaltens, auf längere Sicht gesehen, 6 Gruppen unterscheiden. Die erste Gruppe betrifft Personen, die den Raub als Erstdelikt begehen und in der Folge nicht mehr straffällig werden. In Gruppe 2 sind die Täter als Diebe vorbestraft, bleiben aber nach der Verbüßung der Strafe wegen Raubes straffrei. Gruppe 3 schließt die gewohnheitsmäßigen Vermögensverbrecher ein, bei denen der Raub als eine gelegentliche Einzeltat auftritt. Als 4. Gruppe können jene gewalttätigen Naturen abgegrenzt werden, bei denen es auch einmal zu einem Raub kommt, aber dann nicht zur Fortsetzung dieser Deliktsrichtung. Die 5. Gruppe, die rückfälligen Raubtäter, war in London zahlenmäßig die kleinste. Neben den charakterologisch-strukturellen Aspekten der Persönlichkeit verdient auch die psychische Ausgangslage vor dem Verbrechensentschluß Beachtung. Die bei Raubtätern oft vorhandenen Züge von Haltschwäche, Unstetheit und geringer gemütsmäßiger Bindung an den Beruf, bei einem relativ hohen materiellen Anspruchsniveau, bringen es fast zwangsläufig mit sich, daß die soziale Eingliederung nur locker ist. Das berufliche oder menschliche Versagen mit der unausbleiblichen Kritik durch die Umwelt verschärft zeitweise die soziale Bindungsschwäche, führt zur Flucht- und Entmutigungsreaktion und zum Ressentiment. In der Psychogenese der Raubtat spielt ein solches, meist mit spezifischen Charaktermängeln zusammenhängendes Versagen in Belastungssituationen eine beträchtliche Rolle. Die schwachen sozialen Bindungen lockern sich weiter, die antisoziale Neuorientierung ist vorbereitet. Da die Selbstkritik nicht ausreicht, um die wahren Ursachen des Versagens zu erkennen, die Schuld vielmehr bei anderen gesucht wird, kann aus der Bindungsschwäche die antisoziale Entwicklung leicht hervorgehen, mit dem allmählich heranreifenden oder plötzlich hervorbrechenden Entschluß zur Raubtat. Suggestive Einflüsse krimineller Freunde fallen dann auf vorbereiteten Boden. Es zeigt sich nicht selten, daß der wegen Raubes erstmals Bestrafte der

Raub Helfer eines oder mehrerer vorbestrafter Genossen war. Diese Zusammenhänge lassen sich am Fall deutlich machen: Der 18jährige Sohn eines Pfarrers hatte seine Lehre als Bankkaufmann abgeschlossen, fand den Beruf aber zu langweilig und wollte Pilot bei der Luftwaffe werden. Bei der Musterung schien ihm alles den gewünschten Verlauf zu nehmen. Er gab hernach gleich den Arbeitsplatz auf, wollte vor der Einberufung noch „schöne Wochen" verleben, suchte zweifelhafte Lokale auf und fand auch unternehmungslustige Freunde, die ihm einen neuen großzügigen Lebensstil demonstrierten. Sein Berufsplan schlug indes fehl. Das Elektrokardiogramm hatte einen Herzschaden aufgedeckt. Die Enttäuschung über die Ablehnung band ihn enger an seine neuen Freunde. In deren Gemeinschaft beteiligte er sich dann an einem Raubüberfall auf einen älteren Herrn, den ein mit der Gruppe befreundetes Mädchen in eine einsame Gegend gelockt hatte. Bei ganz jungen Einzeltätern findet man gelegentlich auch Entwicklungen, bei denen der Raub nicht aus charakterlich bedingten Schwächen der Persönlichkeit, sondern aus extrem ungünstigen Lebensbedingungen hervorgeht. Dies ist ζ. B. der Fall, wenn ein psychisch gut veranlagter Jugendlicher mit einem erzieherisch ganz unbegabten, trunksüchtigen und gewalttätigen Stiefvater zusammenleben muß. Der Wille, diese Verhältnisse zu ändern, kann sich mit infantilromantischen Ideen verbinden, so daß in einem solchen Falle der schließlich begangene Raub als eine Art unreifer Versuch angesehen werden kann, dem bisherigen Milieu zu entrinnen. Die sich anschließenden öffentlichen Erziehungsmaßnahmen pflegen dann in der Regel erfolgreich zu sein, führen gewissermaßen indirekt zum Ziel. Wieder anders lagen die Verhältnisse bei gemeinschaftlich begangenen Raubüberfällen von Jugendlichen unter den wirtschaftlich schlechten Bedingungen der ersten Nachkriegszeit. Die besondere Problematik der Aktivität solcher Jugendbanden und die hiermit verknüpften pädagogischen Probleme wurden von Chazal im Blick auf Erfahrungen in Paris genauer geschildert. Käthe Steinemann hat aus Beobachtungen an verurteilten jugendlichen Raubtätern den gut begründeten Schluß gezogen, daß die Tat nicht selten das Symptom einer Selbstwertkrise war, gelegentlich auch Ventil für einen Überdruck der Impulse oder „Blitzableiter" für sexuelle Begierden. Ein geringer Prozentsatz dieser Jungtäter war zu den prognostisch ungünstigen Frühkriminellen und den haltlosen Leb ens Versagern zu rechnen. Es gibt also keinen einheitlichen Charaktertyp des Räubers. Die frühere Annahme, es handele sich beim Raub um eine Art primitives gewalttätiges archaisches Delikt („Begegnet ihm

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ein Mensch, so schlägt er ihn nieder, ohne Erbarmen und mit bestialischer Rohheit geht er zu Werke . . .") ist widerlegt. Die Psyche des Raubtäters kann vielmehr sehr verschiedenartig, im Einzelfalle oft auch recht differenziert sein. Dies gilt bereits für jene Täter, die tatbestandsmäßig lediglich den reinen Raub ohne Verletzung des Opfers und ohne andere Motive als die des Erwerbs verwirklicht haben. Noch komplexer werden die Verhältnisse, wenn sich zum Raub ein Tötungsdelikt oder ein sexueller Angriff gesellt (Fattah, Wurmser). 4. Im Blick auf die Tatdynamik und den Tatverlauf kann für alle Raubtaten das gemeinsame Merkmal herausgestellt werden, daß sich der oder die Täter beim Beginn des Überfalls stets im Besitze der Überlegenheit fühlen oder tatsächlich auch diese Überlegenheit haben. Feiler hat die Raubdelikte des Landgerichtsbezirks Duisburg von 1930 bis 1948 unter dem Gesichtspunkt der Kräfteverhältnisse aufgeschlüsselt und ein Übergewicht der Täter in 88,7%, ein Gleichgewicht in 8,3% und ein Übergewicht der Opfer in 3,0% gefunden. Die Mittel, welche zur Überlegenheit des Täters gegenüber dem Opfer beitragen, sind physischer und psychischer Natur. Der psychische Vorteil liegt vor allem in der Überraschung. Oft bewirken auch die Maskierung der Täter und die Einschüchterung durch Rufe ein nachhaltiges Erschrecken und eine Lähmung des oder der Überfallenen. Eine situative Überlegenheit beim Beginn des Überfalles verschaffen sich manche Raubtäter auch dadurch, daß sie sich Autoritätsfunktionen anmaßen, etwa in Uniform auftreten oder sich zunächst als Beamte ausgeben. In besonderem Maße liegt der situative Vorteil dann beim Täter, wenn sich das Opfer in einer kompromittierenden Situation befindet. In eine solche Situation geraten vor allem Homosexuelle, die auf ihrer permanenten Partnersuche leicht zum Raub- und Mordopfer werden können (Schramm und Kaiser). Die Begleitumstände bringen es mit sich, daß diese Verbrechen oft nicht aufgeklärt werden. Aber auch beim objektiven Vergleich der physischen Voraussetzungen bei Täter und Opfer ist praktisch immer die Überlegenheit des oder der Täter gegeben. Auch bei eigenen Untersuchungen an 35 Raubtätern ergab sich stets ein kräftemäßiges Übergewicht auf Seiten der Angreifer. Sie hatten die situative Überlegenheit nicht nur wegen des Vorteiles der Überraschung und der einschüchternden Wirkung von Drohrufen, Scheinwaffen oder echten Waffen. Vielmehr war bereits beim Vergleich der physischen Kräfte, ohne alle psychologischen Momente, die Überlegenheit des oder der Täter völlig offenkundig. Die körperlich Schwächsten, die jüngeren Einzelräuber, verübten den Raub an alten, oft gebrech-

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Raub

liehen Eentneiinnen, meist im Dämmerlicht der Abendstunden. Sie nahmen also ebenso wie die älteren Täter gerne den Vorteil der Dunkelheit wahr. Einige solcher Einzelüberfälle ereigneten sich allerdings bei Tage, dann entweder im Straßengedränge oder auf unübersichtlichen Treppenfluren, wo ein rasches Entweichen leicht möglich war. Auch bei den älteren Jugendlichen und den Heranwachsenden war dieses ungleiche Kräfteverhältnis zugunsten des Angreifers stets festzustellen. Überfälle auf Männer in mittleren Jahren waren stets von mehreren Tätern gemeinsam begangen worden. Der Raub zählt überhaupt zu den Delikten mit einem besonders hohen Anteil an gemeinschaftlich begangenen Taten. Wenn ein Einzeltäter einen Überfall auf einen kräftigen Mann verübt, dann in der Regel nur unter Verwendung einer Waffe. Solche Überfälle sind besonders gefährlich für das Opfer, vor allem wenn sie sich in geschlossenen Räumen abspielen oder im Falle des Taxiraubes. Aus dem Raub wird in solchen Fällen nicht selten der Raub mit Todesfolge. Zweifellos geht auch die in Deutschland ebenso wie in USA festzustellende Häufigkeit der Raubdelikte in den Wintermonaten in erster Linie auf die situativen Momente zurück, den Umstand nämlich, daß die nächtliche Begehung für den Täter und sein sicheres Entkommen günstig ist. Die bemerkenswerteste Seite der modernen Raubkriminalität ist die Zunahme des Bankraubes. In den USA lag die Zahl der Raubüberfälle auf Banken im Jahre 1967 unter 500 und war im Jahre 1967 auf 2551 angestiegen, wobei der jährliche prozentuale Anstieg beim Bankraub wesentlich steiler war als bei allen anderen Raubarten. Im Schrifttum wird gelegentlich die Meinung vertreten, Banküberfälle spielten sich nach einem einheitlichen Schema ab (v. Hentig), etwa in der Weise, daß die zum Raub entschlossene Tätergruppe zunächst einen geeigneten Personenkraftwagen stiehlt, unter Zuhilfenahme dieses Fahrzeuges mit verteilten Rollen nach vorangegangener Planung den Überfall durchführt, zur Flucht das Gedränge des Verkehrs ausnutzt und schließlich vom gestohlenen Fahrzeug in den eigenen Kraftwagen überwechselt. Die Experten des F B I weisen dagegen in ihrem Organ (dem F B I Law Enforcement Bulletin) immer wieder nachdrücklich darauf hin, daß es weder den typischen Bankräuber noch ein typisches Schema des Bankraubes gäbe. An Tätern finde man den Teenager ebenso wie den grauhaarigen älteren Herrn oder die ältere Dame. Die Raubüberfälle können sich als eine unvorbereitete Tat aus einer plötzlichen Regung heraus ereignen, ebenso wie als lange vorbereitete geplante Überfälle. Der reine Amateur ist unter den Bankräubern ebenso vertreten wie der routinierte Berufsverbrecher. Es ist ganz offenkundig, daß sich heute bei vielen

Personen, die rasch zu Geld kommen wollen, der Gedanke an den Bankraub recht leicht einstellt. Dementsprechend wundert es auch nicht, daß sich unter den Tätern gelegentlich auch unvorbestrafte Männer in mittleren Jahren finden, die bis dahin ein rechtschaffenes Leben führten und unter dem Druck einer schweren Verschuldung durch einen Raub ihre Lage zu bessern versuchten. Unter den Raubtaten nehmen die von alkoholisierten Tätern während nächtlicher Zechtouren begangenen Überfälle zahlenmäßig einen erheblichen Platz ein (Zechanschlußraub). Gefährdet ist der leichtfertige „Spendierer", der sein Geld arglos oder prahlerisch im Lokal zeigt. Manchmal wird der Überfall auf den Zechgenossen zwischen den Lokalbesuchen kurz geplant, wobei nicht selten ein weiblicher Lockvogel das Opfer beim Lokalwechsel in eine für den Raub günstige Situation zu bringen hat. In Hamburg und WestBerlin kam es ab 1964 zu einer Häufung von Raubtaten in Amüsierlokalen. Trinkfreudige Gäste wurden von den Tätern zum Trinken animiert und durch heimliche Zufuhr von flüssigem Noludar — einem damals rezeptfrei erhältlichen preisgünstigen Schlafmittel — rasch in Tiefschlaf versetzt. In diesem Zustand konnten sie an Ort und Stelle oder nach Verbringung auf die Toilette oder den Hof bequem ausgeplündert werden (Arnold, Gerkens). Nach Einstellung des Verkaufs des Noludar in Tropfenform im Februar 1967 hörten diese Delikte auf. 5. Die wirkungsvolle Bekämpfung der Raubkriminalität wird in der Gegenwart zu einem immer wichtigeren Teilziel der Verbrechensbekämpfung, dem Öffentlichkeit und Staatsführung große Aufmerksamkeit schenken. Die Zunahme der Raubkriminalität trifft das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich und kann sogar das Vertrauen in den Staat mindern. In der Bundesrepublik ist am 2. 2. 1966 die „Unfallverhütungsvorschrift Kassen" in Kraft getreten. Diese Vorschrift fordert, daß Banken und Zahlstellen bestimmte Einrichtungen aufweisen müssen, welche die Begehung eines Raubüberfalles erschweren, so eine schußsichere Verglasung der Schaltertische, regelmäßig überprüfte Alarmeinrichtungen und ein gutes Blickfeld der Angestellten auf den Eingang. Die Bekämpfung des Bankraubes hat sich im übrigen inzwischen zu einem Spezialgebiet entwickelt, auf dem insbesondere die Experten des FBI, aber auch Kriminalbeamte der Bundesrepublik bemerkenswerte Fortschritte erzielt und mit ihren Anregungen die Entwicklung geeigneter Schutzmaßnahmen wesentlich gefördert haben (Hoover, Eigenbrod, Seibel, Schöffler). Die Überfälle auf Taxifahrer erfuhren durch die „Trennwand-Verordnung" vom 6.1. 1966 (BGBl. Teil I, S. 61) einen starken Rückgang. Diese Ver-

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Raub Ordnung b e s t i m m t , daß die Droschken u n d Mietw a g e n eine Alarmanlage sowie eine kugelsichere Trennwand zwischen Vorder- u n d Rücksitzen haben müssen. D a hierdurch aber die Gefahr v o n Insassenverletzungen bei raschem B r e m s e n erhöht wurde, wird die Ausrüstung der W a g e n m i t Sicherheitsgurten verlangt. I n der ergänzenden Verordnung v o m 6. 11. 1968 ( B G B l . Teil I, S. 1134) wird den Taxifahrern gestattet, die Trennwand tagsüber zu versenken. Bei allen Überlegungen zur Frage einer sachg e m ä ß e n Vorbeugung ist zu bedenken, daß R a u b überfälle keineswegs nur v o n P s y c h o p a t h e n oder routinierten Berufsverbrechern begangen werden, sich vielmehr bei jüngeren Leuten u n d a u c h bei Männern in reiferen Jahren der Gedanke a n eine rasche Bereicherung mittels eines Bankraubs leicht einstellt. Solche psychisch durchschnittlich ausgestatteten potentiellen Täter sind durch geeignete prophylaktische Maßnahmen sehr wohl zu beeindrucken. W e n n in West-Berlin nur wenige Überfälle auf B a n k e n zu verzeichnen waren, so dürfte dies nicht nur auf die Qualität der Kriminalpolizei, sondern auch auf den psychologischen Faktor zurückgehen, daß potentielle Täter realistischerweise die Fluchtbedingungen in Berlin als schlecht bewerten u n d deshalb v o n vornherein auf den R a u b verzichten. Sowohl die vorbeugende als auch die repressive Verbrechensbekämpfung hat auf dem Sektor der Raubkriminalität eine sehr große B e d e u t u n g . Man sollte die Tatsache nicht gering schätzen, daß es der Kriminalpolizei der Bundesrepublik trotz der stark z u n e h m e n d e n Arbeitsbelastung gelungen ist, die Aufklärungsquote beim R a u b v o n 5 4 % i m Jahre 1 9 5 4 auf 5 8 % i m Jahre 1967 zu steigern. Mit den technischen u n d polizeilichen Maßn a h m e n allein ist es natürlich nicht getan. E i n wichtiger Beitrag zur Verhütung der Raubkriminalität wird i m m e r darin bestehen, daß die Gesamtheit ihr möglichstes tut, die J u g e n d in tragfähige soziale B i n d u n g e n gelangen zu lassen.

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Rauschmittelmißbrauch: Medizinischer Beitrag

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RAUSCHMITTELMISSBRAUCH Medizinischer Beitrag I. ALLGEMEINE WIRKUNG DER RAUSCHMITTEL Es gibt natürliche Wirkstoffe, die als organische Bestandteile in Pflanzen vorkommen (Drogen), und künstliche, mit Laboratoriumsmethoden herstellbare (teil- und vollsynthetische) Stoffe, die auf das Zentralnervensystem sowohl anregend wie auch dämpfend und betäubend wirken. Dadurch wird der geistig-seelische Zustand des Menschen vorübergehend verändert. Seelische Spannungszustände werden gelöst, Hemmungen beseitigt und die Stimmung gehoben (Euphorie). Gedankenab-

lauf, Redefluß und Bewegungsdrang werden gesteigert (Excitation). Auf der Höhe der Bewußtseinsveränderung treten auch Denkstörungen, Sinnestäuschungen (Halluzinationen, Illusionen) und traumhafte Erlebnisse (Visionen) auf, die den Übergang zu Lähmungserscheinungen mit einem mehr oder weniger tiefen Schlafstadium bilden. Dieser Zustand wird allgemein als Rausch bezeichnet. Seine vielfältige psychopathologische Symptomatik weist bei den verschiedenen pflanzlichen und synthetischen Wirkstoffen gewisse Unterschiede hinsichtlich der Stärke, Dauer und der zeitlichen Reihenfolge auf. Manche Symptome sind auch mit einem Seelenzustand vergleichbar, der als Ekstase bezeichnet wird. Darunter ist ein „Außersichsein" und eine „Entrückung" bis zum traumhaften Versenken in einen bestimmten Bewußtseinsinhalt zu verstehen. Die Ekstase ist normalpsychologisch einfühlbar und erklärbar. Sie wird durch besondere, suggestiv wirkende Situationen ausgelöst, wie ζ. B. durch kultische Handlungen, durch religiösen Ritus, durch Massenveranstaltungen, Tänze, Spiele und Schaustellungen. Sie ist aber auch ein Bestandteil des normalen Geschlechtsaktes. Der durch Wirkstoffe erzeugte Rausch ist medizinisch gesehen eine von außen auf den Organismus einwirkende Vergiftung (exogene Intoxikation). Die Giftwirkung ist von der eingenommenen Menge, von der Dauer der Einnahme des Rauschmittels und von der körperlich-seelischen Verfassung des Individuums abhängig. Nach dem Abklingen folgt ein Stadium körperlicher Abgeschlagenheit und seelischer Depression mit dem Gefühl der „inneren Leere", vulgär als „Katerstimmung" bekannt. Die Unlustgefühle können durch erneute Gaben des gleichen oder eines ähnlichen Wirkstoffes vorübergehend gemildert werden. Diese trügerische Erleichterung bildet oft den Anlaß zu häufiger Wiederholung. Bei Überdosierung und bei langdauerndem Gebrauch treten schwere körperliche und seelische Krankheitserscheinungen sowie tödliche Lähmungen der lebenswichtigen Organfunktionen auf. Die starke Dosis und der Mißbrauch machen demnach das RauschmiMel zum Rauschgift. Einige Rauschmittelwirkungen haben Ähnlichkeit mit der Wirkung bekannter Genußmittel. Anregung und Erregung (Stimulation, Excitation) werden auch durch Genußalkohol, Rauch- und Schnupftabak, Kaffee, Tee und Kola vermittelt. Sie erzeugen, wenn auch in schwächerem Grade, ebenfalls das Gefühl eines allgemeinen körperlichen und seelischen Wohlbefindens, eine stimmungsfördernde Gelöstheit, Sorglosigkeit und Heiterkeit. Die beruhigende (sedative), einschläfernde (hypnotische) und betäubende (narkotische) Wirkung mancher Rauschmittel läßt wiederum Ähnlichkeiten mit dem Genußalkohol sowie mit einigen

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Rauschmittelmißbrauch: Medizinischer Beitrag als Arzneimittel gebräuchlichen Drogen (Baldrian, Hopfen) und Salzen (Brom, Calcium, Magnesium), mit flüchtigen Stoffen (Äther, Chloroform, Chloräthyl) und industriellen Lösungsmitteln (u. a. Trichloräthylen) sowie mit den eigentlichen Schlafmitteln (Chloralhydrat, Paraldehyd, Barbitursäure- und bromierte Harnstoffverbindungen, Fettsäureamide, Karbaminsäure- und Pyridinderivate) erkennen. Einige Rauschmittel werden als anerkannte Arzneimittel verwendet. In diesem Falle nennt man sie 1. Betäubungsmittel, wenn die einschläfernde Wirkung im Vordergrund steht, und 2. Weckmittel, wenn es sich um stark stimulierende Mittel (Benzedrin, Pervitin) handelt. Betäubungsmittel werden in der Medizin gebraucht, um Schmerzzustände vorübergehend zu beseitigen oder zu lindern. Durch Weckmittel können Zustände der Bewußtlosigkeit nach Narkosen, Schlafmittel-, Alkohol- und Kohlenoxydvergiftungen aufgehoben werden. Π. RAUSCHMITTEL UND ÄHNLICH WIRKENDE STOFFE A. Bezeichnung und Systematik Lewin (1924) hat alle natürlichen Stoffe, die auf das Zentralnervensystem und auf das Seelenleben einwirken (sog. psychotrope Substanzen), folgendermaßen gruppiert: Phantastika Euphorika Inebriantia Hypnotika Exzitantia

(Sinnestäuschungsmittel) (Seelenberuhigungsmittel) (Berauschungsmittel) (Schlafmittel) (Erregungsmittel).

Die synthetischen Produkte der modernen Chemie, wie ζ. B. die Betäubungsmittel Cliradon, Dolantin, Dromoran, Polamidon, die Weckmittel und Appetitzügler Benzedrin, Elastonon, Pervitin und Preludin sowie die barbituratfreien Schlafund Beruhigungsmittel kannte er noch nicht. Eichholtz und Hellpach (1941) nennen die Euphorika „Lustspender" und rechnen auch den Alkohol dazu. Die Phantastika bezeichnen sie als „Eidetika = Bildspender", denen sie auch das Opium zuordnen. Eine dritte Gruppe nennen sie „Dynamika = Kraftspender" und teilen sie auf in: 1. denkfördernde Mittel = Noetika (Kaffee, Tee), 2. körperkraftsteigernde Mittel = Ergastika (Koffein), 3. ermüdungsverscheuchende Mittel = Akopa (Benzedrin, Pervitin, Nikotin). In der neueren Nomenklatur sind noch weitere Bezeichnungen und Gruppierungen gebräuchlich, 31 H d K , 2. Aufl., Bd. I I

die aus der nachstehenden Einteilung der psychotropen Substanzen nach Heinrich und Delay (1962) zu ersehen sind: 1. Psycholeptika = Mittel mit vorwiegend dämpfender Wirkung auf die Psyche. a) Neuroleptika: Phenothiazinderivate und Strukturverwandte, Rauwolfia-Alkaloide, Haloperidol, Nitoman. b) Tranquilizer: Meprobamat, bizyklische Verbindungen, Benzodiazepinderivate, Baldrian, Kalziumbromid, Hopfenextrakte. c) Hypnotika: Barbitursäurederivate, Paraldehyd. 2. Psychoanaleptika = Psychisch anregende Mittel. a) Psychotonika: Weckamine, Ritalin, Preludin, Tradon, Metrotonin, Glutaminsäure, Koffein, Vitamine, Hormone. b) Thymoleptika: Monoaminooxydasehemmer, Imipramin, Amitriptylin. c) Euphorika: Alkohol, Opium, Morphin, Kokain, NjO. 3. Psychodysleptika = Substanzen, die sog. Modellpsychosen hervorrufen können. a) Halluzinogene, Meskalin, Haschisch, Dibenamin. b) Depersonalisantia: LSD, Psilocybin. B. Die hauptsächlichen Rauschmittel (Principal Narcotic Drags) 1.

Opium

(OTTOS =

Saft)

Der dunkelbraune, bitter schmeckende Saft des Schlafmohns (Papaver somniferum). Früher auch Meconium oder Laudanum genannt. Er wird durch Anritzen der unreifen Samenkapseln gewonnen und enthält etwa 25 verschiedene Alkaloide. Das sind starkwirkende Kohlenstoff-Verbindungen von basischem Charakter, die den Stickstoff in ringförmiger Bindung enthalten. Der Stickstoff kann Säure anlagern. Dann entsteht aus der Alkaloidbase das Alkaloidsalz. Der Saft der Mohnkapseln wird getrocknet, zu Kugeln geformt und mit Mohnblättern umhüllt. Zur Verwendung als Rauschmittel wird es in ähnlicher Weise wie Tabak behandelt. Dadurch erhält man das Rauchopium (Tschandu), das in Opiumpfeifen aus dikkem Bambusrohr geraucht wird. Es enthält rund 12% Alkaloide. Die Alkaloide sind in allen Teilen der Mohnpflanze enthalten und an Meconsäure und Apfelsäure gebunden. Die wichtigsten Alkaloide sind: Morphin mit etwa 10%, Narkotin mit etwa 5%, Kodein mit etwa 1%, Papaverin mit etwa 0,6%, Thebain mit etwa 0,3%, Narcein mit etwa 0,2%.

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Rauschmittelmißbrauch: Medizinischer Beitrag

Mit der Reifung nimmt der MorpMngehalt in den Pflanzenteilen ab. Während der unreife Samen gegebenenfalls noch eine leicht betäubende Wirkung haben kann, sind der reife Samen ebenso wie das Mohnöl frei von Morphin. Der Schlafmohn wird in Kleinasien, Persien, Indien und China angebaut, neuerdings auch in Süd-Europa, insbesondere Jugoslawien. Es wird angenommen, daß das Opiumrauchen etwa um das Jahr 900 n. Chr. bei den Mohammedanern in Vorderasien üblich wurde. Von dort gelangte es nach Persien und Indien. Im 17. Jahrhundert wurde es durch die Engländer auch in China eingeführt. Für die Bevölkerung in den klassischen Anbauländern bedeutet das Rauchopium soviel wie der Genußalkohol für die Bevölkerung anderer Länder. Beim Opiumrauchen überwiegt der dämmerhafte Rauschzustand, der sich immer an der Schlaf-Wach-Grenze bewegt und dem Berauschten „glückhafte Träume" bringt. In den Jahren 1804—1850 war es gelungen, zwanzig verschiedene Alkaloide aus dem Opium zu isolieren und rein darzustellen, darunter als erstes und wichtigstes das Morphin (Sertürner, Derosne und Seguin). Etwa zur gleichen Zeit erfand der französische Chirurg Ch. G. Pravaz (1791—1853) ein mit einer Hohlnadel versehenes Injektionsinstrument (sog. Pravaz-Spritze). Der englische Arzt A. Wood begann als erster, Arzneimittel unter die Haut zu spritzen. Diese Technik der subcutanen Injektion erweiterte die Verwendungsmöglichkeiten des Morphins als Arzneimittel. Die Morphiumspritze wurde insbesondere in der Kriegschirurgie großzügig verwendet (ζ. B. im amerikanischen Sezessionskrieg 1861—1865 und im deutsch-französischen Krieg 1870—1871). Der Vorteil der Schmerzstillung und der Euphorisierung durch diese „Barmherzigkeitsspritze" drängte damals den Gedanken an die nachteiligen Folgen zurück, zumal das Wissen der Ärzte um die Suchtgefahren des neuen,,Opiumersatzmittels" noch recht gering und die Vorstellungen von dem Phänomen der Abhängigkeit noch recht primitiv waren. Der Drang nach Wiederholung und Erhöhung der Dosen wurde „Hunger" genannt. Das Wesen der Abhängigkeit wurde in einer Störung der Magen-Darm-Funktionen gesehen, die man durch die direkte Zuführung des Mittels in das Unterhautgewebe, also durch Umgehung der Verdauungswege (parenteral), vermeiden zu können glaubte. In dem Bestreben, neue schmerzbekämpfende Mittel zu finden, die noch bessere schmerzstillende, aber weniger suchtmachende Wirkungen als das Morphin haben, wurden aus dem natürlichen Morphin mehrere Umwandlungsprodukte (halbsynthetische Stoffe) gewonnen. Die Hoffnung, den Suchteffekt durch die chemische Umwandlung in morphinähnliche Strukturen verringern oder gar aufheben zu können, hat sich aber nicht erfüllt.

Obwohl der Euphorisierungseffekt der neuen Mittel bald offenbar wurde, benutzte man sie zu Opium- und Morphin-Entwöhnungskuren. Das war ein gefährlicher Irrtum, der die Verbreitung der Suchten förderte. Der älteste und bekannteste halbsynthetische Stoff ist das Heroin (Wright 1874) mit der chemischen Bezeichnung Diacetylmorphin. Es hat eine weitaus stärkere schmerzbetäubende und hustenstillende Wirkung als das Morphin, verleitet aber auch schneller zur Gewöhnung und Sucht. Es wird heute als das gefährlichste aller Rauschmittel angesehen und wird von den Ärzten nicht mehr verwendet, weil es genügend andere, weniger gefährliche Mittel gibt. Dagegen ist es im ausländischen illegalen Rauschgifthandel sehr verbreitet. In Deutschland werden u. a. die halbsynthetischen Präparate Eukodal (Dihydrooxykodeinon), Dilaudid (Dihydromorphinon), Dicodid (Dihydrokodeinon), Acedicon (Acetyldihydrokodeinon) und Dionin (Aethylmorphin) als Heilmittel verwendet. Die Spezialität Pantopon enthält die gesamten Alkaloide des Opiums. Kodein (Methylmorphin) hat eine bedeutend schwächere Wirkung als Morphin. Die lähmende Wirkung auf das Atemzentrum (Stillung des Hustenreizes) steht im Vordergrund. Lediglich in Verbindung mit anderen Arzneistoffen (ζ. B. Pyramidon) wirkt es analgetisch. Seine Herstellung aus Morphin ist seit 1881 bekannt (Grimaux). Die Gefahr der Gewöhnung und Sucht ist geringer als bei Morphin. 2. Haschisch In Indien Oharas, in Mittel- und Südamerika Marihuana (Maria Johanna) oder Rosa Maria, in Nord-Amerika Mary Jane genannt. Die deutsche Bezeichnung ist Indischer Hanf. Es ist ein Harz, das sich aus den Blättern der Hanfpflanze abscheidet. Sie ist eine wichtige Faserpflanze und kann überall leicht angebaut werden. Nur das Kraut der weiblichen, blühenden Pflanze enthält den berauschenden Wirkstoff Cannabinol (C21H30O2). Er ist nicht nur im indischen Hanf (Cannabis indica), sondern in jedem Hanf (auch Cannabis sativa) vorhanden, sofern dieser in tropischem oder subtropischem Klima angebaut wird. Haschisch soll schon bei den Assyrern bekannt gewesen sein. Herodot berichtet, daß die Skythen am Kaspischen Meer den Hanfsamen auf heiße Steine gestreut hätten, um sich an den Dämpfen zu berauschen. Schilderungen über den Haschisch-Genuß finden sich auch in den berühmten orientalischen Erzählungen „Tausendundeine Nacht". Dem Hindu ist die Hanfpflanze heilig. Vom Orient gelangte Haschisch nach Indien und Zentral-Afrika sowie über Südeuropa nach Süd-, Mittel- und Nord-Amerika. Bereits um das Jahr 1000 n. Chr. war der Mißbrauch von Ha-

Rauschmittelmißbrauch: Medizinischer Beitrag schisch in den arabischen Ländern stark verbreitet. Als es im 16. Jahrhundert von den Spaniern in Südamerika eingeführt wurde, fand das Laster besonders in Mexiko eine starke Verbreitung. Reko schreibt: „Kein Narkotikum der Welt ist dem gemeinen Manne in den Tropen leichter zugänglich als dieses. Morphin und Kokain sind ein Reservat der besitzenden Klasse, Alkohol, selbst in der elendsten Form als Fusel, kostet immerhin etwas Geld. Haschisch aber wächst in allen heißen Ländern wie Unkraut ." Nach dem ersten Weltkriege griff das Haschisch- bzw. Marihuanarauchen in Form präparierter Zigaretten schlagartig und in großem Umfange auf die Vereinigten Staaten über. Dabei fiel auf, daß die Jugendlichen besonders eifrige Verbraucher waren. Nach dem zweiten Weltkriege wurden die Marihuanazigaretten illegal nach Europa gebracht, wo sich das Rauchen wiederum vorzugsweise unter den jungen Menschen ausbreitete. Haschisch wirkt enthemmend und erregend. Die Formen des Rausches sind, ähnlich wie beim Alkohol, individuell verschieden. Manchen genügt es, daß sie sich in das Gefühl des Wohlbehagens und in die Unwirklichkeit versenken, die ihnen der Rausch verschafft. Andere werden zu unüberlegten Handlungen und zu Gewalttätigkeiten angeregt. Die Besonderheit des Rausches wird darin gesehen, daß die Sinne überempfindlich und die Umwelteindrücke verzerrt und vergröbert werden. Es handelt sich demnach nicht um sog. Halluzinationen, wie oft behauptet wird, sondern um Illusionen und Visionen. Der Berauschte besitzt kein Zeitgefühl mehr. Gedanken und Eindrücke stürzen unaufhörlich auf ihn ein. Typisch sind auch plötzliche und anscheinend unmotivierte Lachanfälle. Intelligente Personen empfinden den Zustand einer „Persönlichkeitsspaltung". Sie sind in der Lage, sich dem psychischen Erlebnis des Rausches hinzugeben, erkennen aber gleichzeitig, daß es sich um die Auswirkung des Giftes handelt. Der Rausch fördert auch den Bewegungsdrang, wie ζ. B. Tanzen und Hüpfen. Der eigenartig ekstatische Zustand moderner Theatergruppen und Musikbands läßt sich mit den Rauchgewohnheiten der Schauspieler und Musiker erklären, deren künstlerische Ausdrucksfähigkeit durch das Rauschmittel angeblich gesteigert wird. Haschisch bzw. Indischer Hanf ist ein Rauschgift, welches nicht zu medizinischen Zwecken verwendet wird. 3. Koka Peruanischer Name für einen Strauch (Erythrozyten Coca), dessen Aussehen an unseren Schwarzdorn erinnert und der in Ekuador, Bolivien, Peru und dem nördlichen Chile wild wächst, aber auch in Java angebaut wird. Der Kokastrauch galt den Inkas als göttliche Pflanze. Ihnen war schon be31·

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kannt, daß ihr Genuß Hunger und Ermüdung verscheucht. Im 18. Jahrhundert wurde die Pflanze auch nach Europa gebracht. Die längliehen, lederartigen Blätter enthalten das Alkaloid Kokain (C l7 H 21 0 4 N). ES wurde 1859 in Deutschland erstmals aus den Kokablättern isoliert (Niemann). Der Wiener Arzt Koller erkannte 1884 die lokal betäubende Wirkung des Alkaloids. Seither wird es in der Medizin als Oberflächenanaesthetikum verwendet (Novocain). Die Einheimischen kneten die Blätter mit Wasser und Kalk. Dann kauen sie den so entstandenen Brei. In den zivilisierten Ländern wird das reine Kokain als Schnupfpulver verwendet. Bei entsprechender Dosis tritt eine anregende Wirkung (Stimulation) auf. Die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit wird gesteigert, die Stimmung erhöht (Euphorie), das Hungergefühl und das Schlafbedürfnis werden unterdrückt. J e höher die Dosen sind, desto stärker werden Erregung und Geschwätzigkeit, die auch in Verwirrtheitszustände und Krampfzustände übergehen können. Klingt die Wirkung ab, so folgt ein Stadium der Erschöpfung. Bei fortgesetztem Gebrauch und schneller Steigerung der Dosen kommt es zu starker Abmagerung, Schlaflosigkeit, Störungen des Gedankenablaufs und des Gedächtnisses sowie Sinnestäuschungen (Gehörshalluzinationen), die dem Bilde einer Geisteskrankheit entsprechen. Der Fortfall psychischer Hemmungen macht sich besonders auf sexuellem Gebiet bemerkbar. Die Reizempfänglichkeit (Libido) bei Mann und Frau sollen gesteigert werden, nicht aber die sexuelle Leistungsfähigkeit (Potenz) des Mannes. Die unangenehmen Nachwirkungen (Katererscheinungen oder Abstinenzsymptome) verführen zu wiederholtem Gebrauch und zur Sucht. 4. Mescalin In den Stielen und Blütenköpfen (sog. „Mescal buttons") einiger mexikanischer und texanischer Kakteenarten, insbesondere Lophophora Levinii und Williamsii sind u. a. folgende Alkaloide enthalten: Mescalin (CuH17NOs) etwa 6%, Anhalonidin etwa 5%, Pellotin (C13H15N03) etwa 3,5%, Lophophorin etwa 0,5%. Im nördlichen Mexiko und in den südlichen Indianerterritorien der Vereinigten Staaten werden die „Mescal buttons" gekaut und gegessen. Man bereitete daraus auch ein alkoholisches Getränk „Pellote", das bei rituellen Zusammenkünften als Berauschungsmittel verwendet wurde. Die Droge heißt in Mexiko „Peyotl". Die eigentliche RauschWirkung ist auf das Alkaloid Mescalin zurückzuführen. Anfangs tritt regelmäßig Erbrechen auf. Dann werden Farbenvisionen erlebt. Die Empfindungen für Raum und

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Rauschmittelmißbrauch: Medizinischer Beitrag

Zeit werden aufgehoben. Ein Gefühl der Schwerelosigkeit und Versetzung in eine andere Welt wird als angenehm empfunden. Im Gegensatz zu den Kauschgiften Haschisch und Kokain soll das Bewußtsein nicht wesentlich getrübt sein. Die Berauschten sollen aber leicht beeinflußbar sein. Hingegen fehlen die aggressiven Tendenzen, die bei Haschischsüchtigen häufig beobachtet werden. Eigentliche Suchterscheinungen durch alleinigen Mescalin- bzw. Pellote-Genuß sind nicht beobachtet worden. Die Nachwirkungen des Giftes (Kopfschmerzen, Muskelschmerzen und Übelkeit) halten mehrere Tage an. Das Mescalin wird in der Medizin nicht verwendet. 5. LSD 25 oder Delysid Es ist die Kurzbezeichnung für den halbsynthetischen Mutterkornabkömmling Lysergsäure-diaethylamid. Als Mutterkorn (Seeale cornutum) wird die Dauerform des Schlauchpilzes Claviceps purpurea bezeichnet, die vom Winde auf die Roggenblüte geweht wird und in den Fruchtknoten hineinwächst. Die Giftwirkung des Roggenpilzes oder Mutterkorns war schon im Mittelalter bekannt. Gelegentlich traten in Gegenden, deren klimatische Verhältnisse den Pilzbefall der Roggenfelder begünstigten, ausgesprochene Massenvergiftungen auf, wenn das Mutterkorn in größerer Menge dem Brotgetreide beigemischt war. Die Vergiftungserscheinungen nannte man früher Kriebelkrankheit, heiliges Feuer oder St. Antoniusfeuer. Die Wirkstoffe des Mutterkorns setzen sich aus sechs Alkaloidpaaren zusammen, deren charakteristischer Hauptbestandteil die Lysergsäure ist. Im Jahre 1938 gelang es A. Stoll und A. Hoffmann erstmals, das LSD aus der natürlichen Lysergsäure herzustellen. Bei Laboratoriumsarbeiten mit dieser Substanz bemerkte A. Hoffmann im Jahre 1943 an sich selber eine auffällige psychische Veränderung, die nach seiner Beschreibung einem Meskalinrausch ähnlich war und sich nach einem Tage wieder zurückbildete. Diese eigenartige psychische Wirkung wurde dann 1947 von A. Stoll näher untersucht. Bei gesunden Personen erzeugte das LSD einen Rauschzustand vom akuten exogenen Reaktionstyp. Zunächst traten motorische Störungen auf, wie Unsicherheit beim Gehen und Ergreifen von Gegenständen, undeutliche und stolpernde Sprache (ataktische Symptome), dann allgemeines Unwohlsein, Brechreiz, Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Herzklopfen, Augenflimmem, Schweißausbrüche (vegetative Symptome). Die auffälligsten psychischen Symptome waren optische Sinnestäuschungen. Es wurden von den Versuchspersonen die verschiedensten Bilder von den einfachsten Formelementen (Punkte, Streifen, Flecken, Ringe, Spiralen) bis zu komplizierten Mustern, Ornamenten, Landschaften und Fratzen

erlebt, überwiegend in leuchtender Buntheit und in ständiger Bewegung, so daß die Bilder zu wandern, zu fließen, zu sprühen oder zu rasen schienen. Das Bewußtsein der Versuchspersonen war kaum beeinträchtigt. Es traten auch Unruhezustände auf, eine gewisse Beziehungslosigkeit und Entfremdung zur Umgebung sowie Störungen im Gedankenablauf und Stimmungsschwankungen. Typisch soll ein unmotivierter Lachreiz und Lachzwang sein. Sexuelle Vorstellungen schienen im Rausch völlig zu fehlen. Überraschend sind die Übereinstimmungen mit den bekannten Darstellungen des Meskalin-, Haschisch- oder Kokainrausches. LSD ist im pharmakologischen Sinne ein hochwirksamer Spurenstoff. Die beschriebenen Rauschwirkungen treten bereits bei Einzelgaben von 20—30γ auf, während beim Meskalin eine Gabe von 0,2 g (6000—7000fache Dosis) erforderlich ist, um ähnliche Wirkungen hervorzurufen. Das LSD ist kein Arzneimittel. Therapeutische Wirkungen wurden nicht beobachtet. Für die Psychiatrie ist LSD insofern interessant, als es ein Beispiel f ü r solche Spurenstoffe sein kann, wie sie als auslösende Faktoren vieler geistiger Störungen angenommen werden. In der jüngsten Zeit wird das LSD als Oblate oder Pille in großstädtischen Nachtlokalen im Schleichhandel vertrieben. Es ist als Genuß- und Rauschmittel bei manchen Gästen dieser Lokale sowie in gewissen Künstlerkreisen und unter den verwahrlosten Heranwachsenden (sog. Gammler) als „High" bekannt und beliebt. Inzwischen soll es gelungen sein, in den Samenkörnern von Kletterpflanzen (Convolvulaceen), die in Nordamerika unter dem Namen „Morning Glory" (Ipomoea grandeflora) als Zierblumen beliebt sind, Lysergsäureamide nachzuweisen, die dem LSD ähnlich sind. Schon im Jahre 1615 beschrieb der spanische Arzt Hernandez eine mexikanische Schlingpflanze, Schlangen- oder Pfeilkraut genannt, aus deren Samenkörnern eine schmerzbetäubende Medizin bereitet wurde. Die Priester der Indianer berauschten sich mit diesem Getränk, weil sie dann Gespenster und Teufelsgestalten sahen und glaubten, mit den Geistern der Verstorbenen zu verkehren. Die Azteken nannten die kleinen runden Samenkörner Ololiuqui oder Piule. Ihnen war bereits bekannt, daß sich die Menschen im Piulerausch leicht ausfragen lassen. Nach neueren Untersuchungen wird angenommen, daß diese mexikanischen Schlingpflanzen auch Ipomoea-Arten (Ipomoea sidaefolia) sind. 6. Sonstige

Naturstoffe

Die Nachtschattengewächse (Solanaceen), wie ζ. B. die Tollkirsche (Atropa belladonna), der Stechapfel (Datura stramonium), das Bilsenkraut

Rauschmittelmißbrauch: Medizinischer Beitrag (Hyoscyamus niger), die Alraunewurzel (Mandragora officinalis) und die kalifornische Solanacee Toloache enthalten ebenfalls Alkaloide, die auf das Zentralnervensystem wirken, u. a. Atropin und Scopolamin. Diese Stoffe werden in der Medizin, besonders in der Augenheilkunde, sowie als Bestandteile von schmerzstillenden und krampflösenden Arzneimitteln verwendet. In therapeutischen Dosen erzeugen sie keine Euphorie. Im Vergiftungsstadium kommt es zu Verwirrungsund Erregungszuständen und zu optischen Visionen, wobei sich die motorische Unruhe bis zur Raserei steigern kann. Wenn das Scopolamin überwiegt, wirken die Drogen dämpfend und hypnotisch. Der Betroffene läßt sich leicht ausfragen, läßt sich einreden, daß er eine andere Person oder ein Tier sei und läßt sich gefügig machen (sexueller Mißbrauch). Schon im Altertum wurde die Droge benutzt, um ekstatische Zustände hervorzurufen. Das Betelkauen ist in Ostafrika, Indien und auf den Inseln des Stillen Ozeans verbreitet, wo es mit großer Leidenschaft von Männern und Frauen betrieben wird. Der „Betelbissen" wird aus einem Stück der Arecanuß (Frucht der Palme Areca catechu), dem Blatt einer Pfefferpflanze (Piper betl) und gebranntem Kalk hergestellt. Die Vergiftungserscheinungen ähneln denen einer Tabakvergiftung. Gewohnheitsmäßiges Betelkauen führt zur Sucht mit schweren Abstinenzsymptomen. Von den Inselbewohnern des Stillen Ozeans wird auch aus dem Rauschpfeffer (Piper methysticum) ein Getränk mit berauschender Wirkung (Kava) gewonnen und bei festlichen Anlässen genossen. Süchtige Kavatrinker sind bekannt. Der abessinische Tee Kat aus den Blättern der Catha edulis hat eine stark anregende Wirkung. Müdigkeit und Hunger werden verdrängt, der Sexualtrieb gedämpft. Obwohl die Droge keine narkotischen und hypnotischen Wirkungen hat, kann der häufige Genuß zur Sucht, ähnlich der Pervitinsucht, führen. Der Wirkstoff Katin ist ein Norephedrin. Die französische Regierung hat auf Grund ihrer Erfahrungen in den überseeischen Gebieten den abessmischen Tee auf die Liste der Rauschmittel gesetzt. Auch manche Pilzgifte bewirken Rauschzustände mit angenehmen Gesichts- und Gehörshalluzinationen, wenn es sich um eine leichte und langsam einsetzende Vergiftung handelt. Der rote Fliegenpilz (Amanita muscaria) ist in Ostsibirien und Mexiko als Rauschmittel beliebt.

7. Synthetische

Stoffe

Nach ihrer Wirkung lassen sie sich in Analgetica (Schmerzlinderungsmittel), in Schlaf mittel und antriebssteigernde Mittel unterteilen. In Deutschland sind als Arzneimittel bekannt

477

a) in der Pethidingrappe das Dolantin (Pethidin) und Cliradon (Ketobemidon), b) in der Methadongruppe das Polamidon (Methadon) und Ticarda (Normethadon) sowie als Untergruppe die Dextromoramide Jetrium und Palfium, c) in der Amphetamingruppe das Elastonon (Amphetamin), Pervitin und Edicat (Methylamphetamin). Die Schlaf- und Beruhigungsmittel haben in den letzten Jahren eine zunehmende Bedeutung als Rausch- und Suchtmittel gewonnen. Nicht nur die lang- und kurzwirkenden Barbitursäurepräparate (ζ. B. Veronal, Luminal, Pernocton, Phanodorm), sondern auch die barbituratfreien Arzneimittel Doriden, Noludar, Valamin, Roeridorm und Librium führen bei Mißbrauch zu Vergiftungserscheinungen und zur Abhängigkeit mit Abstinenzsymptomen beim Entzug. Bei gleichzeitigem AJkoholgenuß vermitteln sie eine psychische Wirkung, die dem Rauschbedürfnis der Menschen in den zivilisierten Industrieländern entgegenkommt.

m . DIE SCHÄDLICHEN NEBENWIRKUNGEN DER RAUSCHMITTEL Einige rauscherzeugende Wirkstoffe rufen eine „Toleranzsteigerung" im Organismus hervor. Die Körperzellen werden zunehmend unempfindlicher gegenüber der Giftwirkung (pharmakologischer Gewöhnungseffekt). Bei wiederholter Giftzuführung kann demnach der Organismus hohe Dosen vertragen, die ohne den Gewöhnungseffekt schwere und u. U. tödliche Vergiftungen zur Folge haben würden. Es müssen aber auch bei einer längeren Darreichung die Dosen gesteigert werden, um die gleiche Anfangswirkung zu erzielen. Außerdem erleben manche Menschen, vorwiegend die haltschwachen, stimmungslabilen und weichen Charaktere, die den Rauschmitteln eigentümlichen euphorischen Zustände und die nach dem Abklingen der betäubenden Wirkung auftretenden körperlichen Mißempfindungen, das allgemeine Unbehagen (Dysphorie) und die Niedergeschlagenheit (seelische Depression) sehr lebhaft und nachhaltig. Das sind im Sinne der Medizin unerwünschte Nebenwirkungen. Sie veranlassenden Patienten, das Betäubungsmittel auch dann noch zu verlangen, wenn die eigentlichen Schmerzzustände beseitigt sind. Mit der Wiederholung und mit der Steigerung der Dosen verstärken sich auch die unangenehmen Nachwirkungen, die immer unerträglicher und quälender werden und den Charakter eines Krankheitsbildes (Abstinenzsyndrom) annehmen können. Als Entziehungserscheinungen der Wirkstoffe

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Rauschmittelmißbrauch: Medizinischer Beitrag

vom Morphium-Typ sind ζ. B. bekannt: Gähnen, Tränenfluß, Schweißausbruch, Gänsehaut, Gliederzittern, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfälle, Unruhe- und Angstgefühl, HitzewaUungen, Magen- und Muskelkrämpfe, Wasserund Gewichtsverlust. Sie sind das Zeichen dafür, daß der Organismus von dem Wirkstoff abhängig geworden ist. Die Abhängigkeit drückt sich nicht nur in den körperlichen Abstinenzerscheinungen, sondern auch in dem Verhalten des Betroffenen aus. Er unterliegt dem Zwang, sich stets aufs neue den Wirkstoff zu verschaffen. Obwohl er seinen Zustand als abnorm empfindet und weiß, daß die ständige Wiederholung und Steigerung der Dosen die Beschwerden nur vorübergehend beseitigt, aber keine endgültige Besserung und Heilung bringt, ist sein Willensleben derart beeinträchtigt, daß er dem Drang nach dem Wirkstoff nicht widerstehen kann. Schließlich geht es ihm gar nicht mehr darum, einen Rausch mit glückhaften Empfindungen zu erleben. Er ist vielmehr nur noch bemüht, das durch die Abstinenz entstehende Defizit an Leistungsfähigkeit, an seelischer Ausgeglichenheit und allgemeinem Wohlbefinden zu decken. Die Angst vor dem Zustand der Abstinenz wird als eine Bedrohung der persönlichen Existenz empfunden, „als ob man in einen Abgrund versinkt". Diese Abhängigkeit ist eine Krankheitserscheinung, die als Sucht (abgeleitet von Althochdeutsch siuchan bzw. Mittelhochdeutsch siech = krank sein) bezeichnet wird. Wirkstoffe, die einen Suchtzustand hervorrufen können, nennt man auch „Suchtstoffe" oder „Suchtgifte". Demnach kann ein Rauschmittel oder -gift zugleich ein therapeutisch wirksames Betäubungsmittel wie auch ein Suchtmittel sein. Es sind aber nicht alle Rauschmittel oder -gifte zugleich auch therapeutisch verwertbare Arzneimittel, und nicht alle Rauschmittel führen bei wiederholtem Gebrauch zur Abhängigkeit und Sucht. Andererseits gibt es Arzneimittel, die nicht zu den Rausch- oder Betäubungsmitteln gerechnet werden, die aber gleichwohl bei Überdosierung und ständiger Wiederholung eine Abhängigkeit bewirken. So werden ζ. B. die Schlaf- und Beruhigungsmittel vom Barbiturattyp und einige Mittel ohne Barbituratcharakter ebenfalls als Suchtstoffe bezeichnet. Die Entstehung einer Giftsucht wird durch menschliche Verhaltensweisen gefördert. So können überlieferte Gewohnheiten (Sitten und Gebräuche), gewinnsüchtige Verführung (Rauschgifthändler), eigensüchtiges Genußstreben (persönliche Fehlhaltung), unachtsames ärztliches Handeln (iatrogene Sucht) den Anlaß zur Rauschgift· und Arzneimittelsucht geben. Hinsichtlich der Definition und der Abgrenzung der Begriffe „Mißbrauch", „Gewöhnung" und

„Sucht" fehlt im internationalen Schrifttum eine hinreichend klare und einheitliche Auffassung. Das Suchtproblem hat nicht nur naturwissenschaftliche und medizinische Aspekte, an denen der Botaniker, der Chemiker, der Pharmakologe, der Pharmazeut, der Psychiater und alle anderen Fachärzte wie auch der Allgemeinpraktiker und die Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes beteiligt sind, sondern auch volkswirtschaftliche und soziologische, strafrechtliche und kriminalpolitische, geographische und außenpolitische Aspekte. Das erschwert zweifellos die Einheitlichkeit der Begriffsbestimmung, weil die Terminologien der einzelnen Fachgebiete zu unterschiedlich sind. Sogar innerhalb der Medizin lassen die Theorien über die Entstehungsweise und die Erscheinungsformen der Arzneimittelsuchten jene Klarheit vermissen, die es der Praxis erlauben würden, den für den betroffenen Menschen wie für seine Umgebung gleichermaßen schädlichen Krankheitsprozeß rechtzeitig zu erkennen. So herrscht in weiten Kreisen eine Unsicherheit gegenüber den Rauschgift- und Arzneimittelsuchten, die sich schleichend weiterverbreiten. Der Sachverständigenausschuß der WHO hat sich um eine Definition bemüht, die sich ganz allgemein auf den Mißbrauch anwenden läßt. Die gemeinsame Komponente in den Definitionen für Sucht und Gewöhnung ist die Abhängigkeit, entweder die psychische und physische oder nur die psychische. Deshalb hat er im Jahre 1964 empfohlen, die Begriffe Sucht (addiction) und Gewöhnung (habituation) durch den Begriff Suchtstoffabhängigkeit (drug dependence) zu ersetzen. Nach H. Danner wird diese „Suchtstoffabhängigkeit" in der folgenden Weise definiert: „Ein psychischer oder manchmal auch körperlicher Zustand, herrührend aus der gegenseitigen Wirkung zwischen einem lebenden Organismus und einem Stoff; dieser Zustand ist gekennzeichnet durch verhaltensmäßige oder andere Reaktionen, einschließlich des Zwanges, diesen Stoff laufend oder von Zeit zu Zeit einzunehmen mit dem Ziel, seine psychischen Wirkungen zu erfahren oder auch manchmal, um das Unbehagen, das seine Abwesenheit im Körper hervorbringt, zu vermeiden." Bisher hat der Sachverständigenausschuß fünf Typen von Abhängigkeiten beschrieben: vom Morphin-, Barbiturat-, Kokain-, Amphetaminund vom Cannabis-Typ. Die Suchtstoffabhängigkeit wird zu einem Problem der öffentlichen Gesundheit, wenn die körperlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Folgeerscheinungen schädliche Auswirkungen auf den Abhängigen selber oder auf andere haben und wenn diese Schäden in der Bevölkerung weit verbreitet sind. Der Sachverständigenausschuß hat neuerdings (H. Danner 1969) versucht, Kriterien zu ermitteln, nach denen beurteilt

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Rauschmittelmißbrauch: Medizinischer Beitrag werden kann, unter welchen Voraussetzungen eine Kontrolle von Stoffen notwendig wird, die eine Suchtstoffabhängigkeit hervorrufen.

I ? . PRODUKTION, HERSTELLUNG! UND VERBRAUCH DER RAUSCHMITTEL Die Hauptproduktionsländer für Rohopium sind Indien, die Türkei, die UdSSR, Jugoslawien und Pakistan, für Kokablätter Peru, Bolivien, Columbien und Indonesien. Die Gesamtproduktion betrug in den Jahren 1959—1963 im Durchschnitt jährlich 1300000 kg Rohopium und 11700000 kg Kokablätter. Unter den Herstellungsländern für Morphin standen im Jahre 1963 die UdSSR mit 16,8%, Großbritannien mit 45,4%, die USA mit 14,7%, Ungarn mit 10,2% und die Niederlande mit 8,2% an der Spitze, während die Bundesrepublik Deutschland an der Gesamtherstellung von 127674 kg nur mit 0,1% (134 kg) beteiligt war. Noch im Jahre 1959 wurden allerdings in der Bundesrepublik Deutschland 13248 kg Morphin (12,2%) hergestellt. Während die Gesamtherstellungsmenge seit 1959 um 19000 kg gestiegen ist, fiel sie bei uns um 13100 kg ab. Dafür werden in der Bundesrepublik Deutschland bedeutend mehr synthetische Betäubungsmittel (Dolantin, Polamidon, Ticarda) hergestellt. Von der gesamten Herstellungsmenge (21969 kg) entfiel im Jahre 1963 der überwiegende Anteil auf die drei Länder: USA = 48%, Bundesrepublik Deutschland 18%, Großbritannien 15%. Der Verbrauch von Betäubungsmitteln (Narcotic Drugs) ist in den europäischen und außereuropäischen Ländern recht unterschiedlich (Tab. 1). Australien, Norwegen und Großbritannien haben den größten Morphinverbrauch, Dänemark, Finnland, Schweden, Belgien und Australien den größten Kodeinverbrauch. Bemerkenswert ist der geringe Verbrauch in den USA, in der UdSSR und in Frankreich. Beim Kokain verbrauch erreichen Island und Belgien eine recht hohe Spitze (5,4 bzw. 4,1 kg auf je 1000000 Einwohner), während sich in den übrigen Ländern der Verbrauch zwischen 0,3 und 2,9 kg bewegt. Die Stoffe der Pethidin-Gruppe (in Deutschland Dolantin) werden in Dänemark, in den USA, Neuseeland, Island und Kanada am meisten verwendet, während die Methadon-Gruppe (in Deutschland Polamidon) nur wenig angewendet bzw. gebraucht wird, überwiegend in Neuseeland, Dänemark und Finnland. Die prozentuale Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland am Gesamtverbrauch im Jahre 1963 ist bei den natürlichen bzw. halbsynthetischen Stoffen (Morphin, Kodein, Dionin, Kokain) gering, während der Verbrauch der synthetischen Stoffe, insbesondere der Arzneispezialität Polamidon (Methadon) recht hoch ist (Tab. 2).

Tabelle 1. Der kontrollierte Verbrauch der gegräuchlichsten Betäubungsmittel (Narcotic Drugs) in einigen Ländern im Jahre 1963 (in kg auf je 1000000 Einwohner) Land

Mor- Ko- Ko- Pethi-Mephin dein kain dine t h a done

Australien Belgien Bundesrepublik Deutschland Dänemark Finnland Frankreich Großbritannien Irland Island Kanada Neu-Seeland Norwegen Rumänien Schweden Schweiz UdSSR USA

15,2 203,9 2,1 23,3 1,7 3,2 208,9 4,1 10,3 1,0 2,1 6,5 2,6 1,2 10,3 9,5 —

2,8 6,1 13,4 0,4 2,2 9,1 4,3 2,5

112,7 385,2 315,5 171,8 197,8 58,1 173,0 153,2 126,8 95,7 84,8 215,4 161,0 84,0 98,3

0,3 1,9 1,1 0,9 1,9 1,4 5,4 1,5 1,6 0,3 2,9 0,4 2,8 0,9 2,0

12,9 57,4 8,8 7,5 19,9 22,9 32,4 31,3 41,0 16,1 1,7 3,0 11,2 —

45,3

1,0 2,3 2,0 —

1,1 0,4 —

0,2 2,7 1,6 0,2 0,1 0,7 —

0,4

Tabelle 2. Gegenüberstellung des Gesamtverbrauches zum Verbrauch in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1963 (in kg)

Stoff

Gesamtverbrauch!

Bundesrepublik Deutschland

Morphin Kodein Dionin Kokain Pethidine Methadone

3547 105992 7387 1237 15039 326

122 6491 206 18 745 58

( 3,4%) ( 6,1%) ( 2,8%) ( 1,5%) ( 5,0%) (17,8%)

1

) Aus den Berichten von 59 europäischen und außereuropäischen Ländern an den Ständigen Opiumzentralausschuß in Genf.

Monographien und Kommentare O. A n s e l m i n o u. A. H a m b u r g e r : Kommentar zu dem Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Opiumgesetz). 1931. W. de B o o r : Pharmakopsychologle und Psychopathologie. 1956. Bundeskriminalamt: Rauschgift. 1956. E. H e s s e : Die Bausch- und Genußgifte. 3. Aull. 19ββ. Ε. L a u b e n t h a l : Sucht und MiBbrauch. 1964. L. L e w i n : Phantastica. 1924. K. M a r c e t u s : Arzneimittelrecht. 2. Aufl. 1955. S. M o e s c h l i n : Klinik und Therapie der Vergiftungen. 4. Aufl. 1964. Κ. O. M0ller: Bauschgifte und Genußmittel. 1951.

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Rauschmittelmißbrauch: Juristisch-kriminologischer Beitrag

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Juristisch-kriminologischer Beitrag I . EINFÜHRUNG Der Ausdruck „Rauschmittel" kommt—ebenso wie der des „Rauschgiftes" — im Gesetz nicht vor; er wird allerdings in amtlichen Statistiken (ζ. B. Polizeiliche Kriminalstatistik) und wissenschaftlicher Literatur häufig noch als Sammelbegriff für die Substanzen gebraucht, deren Verkehr im Betäubungsmittelgesetz (BtmG) geregelt ist (Bauer 1972, Bundeskriminalamt 1956, Schulz 1976, Schroeder 1973). Die Verwendung dieser Begriffe erscheint jedoch insofern wenig glücklich, als sie auf eine Homogenität dieser Substanzengruppe verweist, die ihr weder in bezug auf ihre pharmakologischen Eigenschaften noch bezüglich der von ihr ausgehenden Suchtgefährdung zukommt. Obschon das Betäubungsmittelgesetz in seinem § 1 Abs. II und V für die Ausdehnung seines sachlichen Geltungsbereiches durch Rechtsverordnung der Bundesregierung selbst auch u. a. auf das inhaltliche Kriterium gleicher Wirkungen der in Frage kommenden Substanzen abstellt, ist es de facto weniger die Wirkungsweise als die sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Integration einer Droge, die ihre rechtliche Behandlung bestimmend beeinflußt. Insgesamt richtet sich die staatliche Kontrolle psychoaktiver Substanzen in der Bundesrepublik auf der Ebene der Gesetzgebung mehr nach pragmatischen Gesichtspunkten als nach einem an der Gefährlichkeit der Drogen ausgerichteten Klassifikationssystem (Kreuzer 1975, S. 17). So verbietet sich die Aufnahme

vieler rausch-, bzw. abhängigkeitserzeugender Mittel aus anderen, nicht in ihren Wirkungsweisen liegenden Gründen; kulturelle Akzeptanz und ökonomische Integration der Droge Alkohol verhindern ζ. B. dessen Aufnahme in die Liste der am strengsten kontrollierten psychoaktiven Substanzen, „obschon die sich durch diese Toleranz ergebenden Probleme alle übrigen Gefährdungen durch Rauschmittel quantitativ weit übertreffen" (Landtag Nordrhein-Westfalen, DS 7/3697). Ähnliches gilt für einige Drogen, deren Konsum lediglich durch die Verschreibungspflicht nach dem Arzneimittelgesetz gesteuert wird. Wieder andere, wie Benzin oder Äther, gehören zum Bedarf des täglichen Lebens und können schon deshalb nicht den strengen Kontrollen des Betäubungsmittelgesetzes unterworfen werden (Joachimski 1972, Rn. 3 zu § 1). Eine auf die Substanzen des Betäubungsmittelgesetzes beschränkte Verwendung der Begriffe „Rauschmittel" und „Rauschgift" ist daher im Effekt eher geeignet, die Erkenntnis der gemeinsamen sozialen Problematik, die der nichtmedizinischen Verwendung und der Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen zugrundeliegt, erheblich zu erschweren. Soweit daher im folgenden von den unter das Betäubungsmittelgesetz fallenden Substanzen die Rede ist, werden diese gemäß ihrer Legaldefinition in § 1 BtmG als Betäubungsmittel bezeichnet. Eine ganzheitliche Betrachtung des Mißbrauchs nicht nur der natürlichen und synthetischen Substanzen im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes und der dazu ergangenen Gleichstellungsverordnungen, sondern auch von Alkohol, Arzneimitteln, Schnüffelstoffen etc. ermöglicht erst die begriffliche Definition der Droge als einer Substanz, die im lebenden Organismus eine oder mehrere Funktionen zu ändern vermag, insbesondere eine Wirkung auf das Zentralnervensystem ausübt (psychotrope Droge). Diese offizielle und international verbreitete Definition der Droge (World Health Organization 1973, S. 8; BT-DS 7/4200, S. 265) wird daher heute vielfach dem Begriff des Rauschmittels vorgezogen, wo es um die Beschreibung oder die Analyse des umfassenden Problems des Mißbrauchs psychoaktiver Substanzen geht (Kreuzer 1975a, S. 14ff.; Vogt 1975, S. llff., 98). Π. GESETZGEBUNG A. Geschichte und Entwicklungstendenzen Die deutsche Drogengesetzgebung ist seit ihren Anfängen in den letzten Jahren des ersten Weltkrieges durch die Tendenz gekennzeichnet, eine stetig zunehmende Anzahl von Drogen immer schärferen staatlichen Kontrollen zu unterwerfen. Eine gegenläufige Tendenz, die eine Lockerung oder Ersetzung strafrechtlicher Kontrollversuche

Rauschmittelmißbrauch: Juristisch-kriminologischer Beitrag empfiehlt (Dekriminalisierung), hat sich in der Bundesrepublik zumindest bislang nicht durchsetzen können. Die ersten internationalen Versuche, Anbau, Verkehr und Konsum von psychoaktiven Drogen zu regeln, galten zu Beginn des Jahrhunderts dem Opium und seinen Derivaten. Erst das zweite Genfer Abkommen von 1925 verpflichtete die Vertragsstaaten, auch das Nicht-Opiat cannabis sativa (Indisches Hanfkraut, aus dem Haschisch und Marihuana gewonnen werden) den jeweiligen Opiumgesetzen zu unterstellen. Im Pariser Protokoll von 1948 beschlossen dieselben Staaten, auch synthetische Suchtstoffe zu kontrollieren. Eine ganzheitliche Betrachtung des Suchtmittelproblems steckt noch in den Anfängen: als erste Erfolge auf dem Weg zur Neuordnung des gesamten Drogenrechts sind die Ratifizierung des Einheits-Übereinkommens über Suchtstoffe vom 30. 3.1961 und die Verabschiedung eines neuen Arzneimittelgesetzes durch den Deutschen Bundestag anzusehen. Den internationalen Bemühungen zur Bekämpfung des Betäubungsmittelverkehrs, die mit der Tagung einer internationalen Kommission in Schanghai im Jahre 1909 ihren Anfang nahmen, ging eine lange Periode des ungehemmten Opiumhandels voraus. Für die seefahrenden Handelsnationen Portugal und England stellte China schon im 17. Jahrhundert den Hauptabsatzmarkt für Opium dar. Versuche der chinesischen Regierungen, eine Opiumprohibition einzuführen, wurden seitens der Engländer in zwei blutigen Opiumkriegen (1840—1858) unterdrückt. Erst nachdem die Ausbreitung des Opiumkonsums auch in den anderen asiatischen, einigen europäischen Ländern und den USA zu einem einzelstaatlich nicht mehr zu bewältigenden Problem geworden war, begann die bis heute andauernde Phase zunehmender internationaler wie nationaler Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs. Die Konferenz von Den Haag (1912) führte zu einem in der Folgezeit von 57 Staaten unterzeichneten Abkommen, das die Vertragsmächte zur gesetzlichen Beschränkung der Herstellung, des Handels und der Verwendung von Opium, Morphin und Kokain verpflichtete. Das erste deutsche Opiumgesetz, das in vielem bereits die Merkmale des heutigen Betäubungsmittelgesetzes aufweist, verdankt seine Entstehung der in Art. 295 des Versailler Vertrages enthaltenen Verpflichtung, dem Haager Abkommen beizutreten (Gesetz zur Ausführung des internationalen Opiumabkommens vom 23.1.1912 vom 30.12.1920; RGBl. 1921, S. 2). Vorläufer dieses Gesetzes waren in Deutschland lediglich Verordnungen der Reichsregierung von 1917 und 1918 über den Handel und den Verkehr mit Opium und anderen Betäubungsmitteln. Aufgrund der durch die Handelsblockade beding-

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ten drastischen Verknappung des für die ärztliche Versorgung dringend benötigten Opiums wurde mittels dieser Verordnungen die Bezugscheinpflicht eingeführt; gleichzeitig wurde damit auch der während des Krieges erstmalig auftretenden Erscheinung (iatrogener) Opium- und Kokainabhängigkeit Rechnung getragen. Das relativ erfolglose Haager Abkommen sollte durch die beiden Genfer Abkommen von 1925 ergänzt werden. Während das erste hauptsächlich die asiatischen Mohnanbaugebiete betraf, erlangte das zweite nach seiner Ratifizierung im Jahre 1929 (RGBl. II, S. 407) auch für das deutsche Drogenrecht erhebliche Bedeutung: so wurden die Vertragsmächte verpflichtet, die Betäubungsmittel ausschließlich zu medizinischen und wissenschaftlichen Zwecken zu verwenden. Die Einhaltung der im Abkommen festgelegten Regeln zur Kontrolle über die (rohen und verarbeiteten) Betäubungsmittel und über den internationalen Handel wurde zunächst durch Ausschüsse beim Völkerbund, später dann durch den Ständigen Opiumzentralausschuß beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen überwacht. Schließlich hatten die Teilnehmerstaaten auch einen 1923 von Südafrika beim Völkerbund erstmalig eingebrachten und zur Genfer Konferenz von der Türkei und Ägypten wiederholten Antrag angenommen, der den Geltungsbereich der Opiumabkommen auf Cannabis ausdehnte (Leonhardt 1970, S. 20). War die Ausdehnung der Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs bislang hauptsächlich durch die Erweiterung des sachlichen Geltungsbereiches erfolgt, so brachte das „Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Opiumgesetz)" v. 10.12. 1929 (RGBl. I, S. 215) eine wesentliche Neuerung im personalen Geltungsbereich. Erstmalig wurden hierin allen Ärzten, Zahnärzten und Tierärzten für die Verschreibung von Betäubungsmitteln bestimmte Vorschriften gemacht. Diese Regelung war notwendig geworden, weil die behördlichen Appelle an die Ärzteschaft zur Eindämmung der ζ. T. sehr bedenklichen Verschreibungspraxis wirkungslos geblieben waren. Eine neue Stufe staatlicher Kontrolle bedeutete schließlich auch das Gesetz vom 26. 3.1959 (BGBl. II, S. 333), mit dem die Bundesrepublik die Protokolle von Paris (1948) und New York (1953) ratifizierte, die eine Ausdehnung der Betäubungsmittelkontrollen auf synthetische Drogen sowie detaillierte Bestimmungen über Anbau, Erzeugung, Handel und Verwendung von Opium enthielten. Aufgrund des New Yorker Protokolls ist die Bundesregierung heute insbesondere verpflichtet, beschlagnahmtes Opium zu vernichten. Weiterhin hat sie jährlich eine Statistik über Bestand und Verbrauch an Opium sowie eine Schätzung des vermutlichen Bedarfs im folgenden Jahr an den zuständigen UN-Ausschuß zu übermitteln.

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Die rapide Zunahme des illegalen Konsums von Betäubungsmitteln gegen Ende der sechziger Jahre (Drogenwelle) und die Reaktion weiter Kreise der Öffentlichkeit auf diese Entwicklung führte zur drastischen Verschärfung der Strafbestimmungen und zur Einfügung weiterer Straftatbestände durch das „Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Verkehr mit Betäubungsmitteln" v. 22.12.1971 (BGBl. I, S. 2092). Da das Gesetz durch die zahlreichen Änderungen unübersichtlich geworden war, wurde es am 10.1.1972 als „Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz)" neu bekanntgemacht (BGBl. I, S.l). Mit Gesetzen vom 4. 9.1973 (BGBl. II, S. 1353) und vom 18.12.1974 (BGBl. II, S. 2) ratifizierte die Bundesrepublik schließlich das EinheitsÜbereinkommen über Suchtstoffe vom 30. 3.1961 (Single-Convention) und das Protokoll zu dessen Änderung. Dieses Abkommen, das die Vereinbarungen von 1912 bis 1953 zusammenfaßt und erweitert, erfuhr durch die Konvention über die psychotropen Stoffe vom 21. 2.1971 in Wien eine wichtige Ergänzung. Die Unterzeichner dieses Abkommens verpflichten sich nämlich zu einer weiteren Ausdehnung staatlicher Drogenkontrolle über den bisherigen Bereich der klassischen Suchtstoffe hinaus auf halluzinogene Stoffe, Stimulanzien, Sedativa und Tranquilizer sowie deren Zubereitungen. Das Ratifizierungsgesetz selbst (Entwurf in BT-DS 7/4957) verändert das Ausmaß der bestehenden Kontrollen jedoch kaum noch, da die meisten der im Abkommen enthaltenen Stoffe bereits in früheren Jahren durch Rechtsverordnung den Betäubungsmitteln gleichgestellt worden waren; bezüglich einiger anderer Stoffe bleibt es vorläufig bei der arzneimittelrechtlichen Verschreibungspflicht (BT-DS 7/4957, S. 1). Der Entwurf eines neuen Arzneimittelgesetzes von 1974 (BT-DS 7/5025, 5091) macht das Inverkehrbringen von Arzneimitteln abhängig von der Erfüllung bestimmter gesundheitsschützender Anforderungen (§§ 5—12), der Erteilung einer Herstellungserlaubnis (§§ 13—19) und einer Zulassung (§§ 20—35). Neben Äbgabe-, Qualitätssicherungsund Überwachungsvorschriften enthält der Gesetzentwurf Bestimmungen zur Beobachtung, Sammlung und Auswertung von Arzneimittelrisiken (§§ 57, 58), Vorschriften über einen Arzneimittel-Entschädigungsfonds (§§ 78—98) sowie in den §§ 99—102 Straf- und Bußgeldvorschriften, die in Struktur und Strafrahmen weitgehend den Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes entsprechen. Trotz einer ζ. T. sehr bedenklichen Arzneimittelverschreibungspraxis und obwohl vermutet wird, daß nahezu jeder fünfte amtlich erfaßte Betäubungsmittelabhängige durch handelsübliche Medikamente behandlungsbedürftig abhängig wird (Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen 1976),

enthält das Gesetz jedoch noch keine dem Betäubungsmittelgesetz entsprechende Sonderrezeptpflicht für die betreffenden Arzneimittel. B. Rechtliche Struktur der DrogenkontroIIe 1. Stufen der

Kontrollintensität

Unterschiedliche Eigenschaften der Drogen und Unterschiede im Grad der sozio-kulturellen wie der ökonomischen Integration führten in der Bundesrepublik zu fünf Intensitätsstufen staatlicher Kontrolle (nach Kreuzer 1975 a, S. 17/18): 1. Freiverkäuflichkeit 2. Apothekenpflichtigkeit 3. Verschreibungspflichtigkeit 4. Sonderrezeptpflicht 5. Verschreibungsverbot Zur ersten Stufe praktisch unkontrollierter Verkaufsmöglichkeiten zählen die Schnüffelstoffe, Ersatzrauschmittel und Alkohol; zur zweiten einige Weck-, Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmittel, die als (Ersatz-) Rauschmittel verwendet werden, aber noch nicht der Verschreibungspflicht unterliegen. Auf der dritten Intensitätsstufe werden die meisten abhängigkeitsbildenden Drogen, insbesondere alle zugelassenen, üblicherweise als Rauschmittel verwendeten Opiate und Weckmittel kontrolliert. Das Betäubungsmittelgesetz schließlich bildet die rechtliche Grundlage für die Sonderrezeptpflicht, die für alle Betäubungsmittel im Sinne des Gesetzes gilt. Für einige wenige Stoffe besteht ein Verkehrs- und Verschreibungsverbot (Verkehrsverbot für Rückstände des Rauchopiums, Cannabis-Harz und seine Zubereitungen in § 9 BtmG, Verschreibungsverbote in §§ 5 und 8 Betäubungsmittelverschreibungsverordnung). 2. Das

Betäubungsmittelgesetz

Kernstück des deutschen Drogenrechts ist das Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz) vom 10.12. 1929 (RGBl. I, S. 215) i. d. F. der Bekanntmachung vom 10.1.1972 (BGBl. I, S . l ) , zuletzt geändert durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2. 3.1974 mit den dazu erlassenen Rechtsverordnungen. Ziel des Gesetzes ist der Schutz der Volksgesundheit (RGSt. 63, 161; BGHSt. 1, 248, 250). Die Zweckbestimmung des Änderungsgesetzes von 1971 reflektiert das Gefühl der Bedrohung aller individual- und gesellschaftsbezogenen Rechtsgüter. Nach der Begründung des Änderungsgesetzes „dient das Gesetz dem Ziel, der

Rauschmittelmißbrauch: Juristisch-kriminologischer Beitrag Rauschgiftwelle in der Bundesrepublik Deutschland Einhalt zu gebieten und damit große Gefahren von dem einzelnen und der Allgemeinheit abzuwenden. Es geht darum, den einzelnen Menschen, insbesondere den jungen Menschen vor schweren und nicht selten irreparablen Schäden an der Gesundheit und damit vor einer Zerstörung seiner Persönlichkeit, seiner Freiheit und seiner Existenz zu bewahren. Es geht darum, die Familie vor der Erschütterung zu schützen, die ihr durch ein der Rauschgiftsucht verfallenes Mitglied droht. (.. .) Es geht schließlich darum, die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft nicht gefährden zu lassen" (BT-DS VI/1877, S. 5). Bestimmendes Strukturelement des Gesetzes ist das Bestreben nach vollständiger Kontrolle über den legalen und vollständiger Unterdrückung des illegalen Verkehrs mit Betäubungsmitteln. Diese Tendenz zur Lückenlosigkeit bezieht sich einmal auf die ständig zunehmende Anzahl der vom Gesetz erfaßten Drogen, zum anderen drückt sie sich in der Quantität und der Qualität der strafbedrohten Handlungen aus. So stellt fast jeder Umgang mit Betäubungsmitteln eine selbständige Straftat dar: § 11 Abs. I verbietet es, ohne Erlaubnis Betäubungsmittel einzuführen, auszuführen, zu gewinnen, herzustellen, zu verarbeiten, mit ihnen Handel zu treiben, sie zu erwerben, abzugeben, zu veräußern oder sonst in Verkehr zu bringen (Ziffer 1). Verboten ist auch der Besitz von Betäubungsmitteln, verstanden als bewußt-kausales Verhalten zur Aufrechterhaltung der tatsächlichen Sachherrschaft (BT-DS VI/1877, S. 9; Erbs-Kohlhaas, Rn. 6 zu §11). Auch Verhalten, das vom Endziel des Täters aus gesehen eher eine Teilnahmehandlung darstellt, ist zum selbständigen Straftatbestand erhoben worden. So wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren und/ oder Geldstrafe ζ. B. auch bestraft, wer Betäubungsmittel einem anderen verabreicht oder zum Genuß überläßt (Ziffer 7), bzw. wer „eine Gelegenheit zum Genuß, zum Erwerb oder zur Abgabe von Betäubungsmitteln öffentlich oder eigennützig mitteilt oder eine solche Gelegenheit einem anderen verschafft oder gewährt" (Ziffer 8). Versuch und Fahrlässigkeitstaten sind überall dort mit Strafe bedroht, wo dies dogmatisch möglich ist; privilegiert sind lediglich Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker (§ 11 Abs. I, Zi. 9,10): sie sind lediglich für die vollendete vorsätzliche Tat mit Strafe bedroht, während die versuchte oder grob fahrlässige Tatbegehung straflos ist. Die Heraufstufung von materiellen Versuchs- und Teilnahmehandlungen zu selbständigen Straftatbeständen bedeutet eine erhebliche Vorverlagerung der Strafbarkeit. So bedroht § 11 Abs. I Ziffer 5 das Erschleichen eines Bezugscheins oder einer Verschreibung mit Strafe. Da es sich hierbei um eine aufgewertete Versuchshandlung handelt, ist die Tat mit der Äußerung der ersten unwahren oder unvollständigen Anga-

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ben vollendet; da auch der Versuch dieser (materiellen) Versuchshandlung strafbar ist (§ 11 Abs. II), wird die Strafbarkeit bis zum Betreten des Praxiszimmers vorverlegt, sofern dies in der Absicht der Rezepterschleichung geschieht (Joachimski 1972, Rn. 16 c, d zu § 11). Im einzelnen zeigt das Betäubungsmittelgesetz drei charakteristische Aspekte: a) Flexibler sachlicher Geltungsbereich (§ 1 BtmG) b) Umfassende zentralisierte staatliche Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs (§§ 2—10) c) Gestaffelte Sanktionen (§§ 11—13). a) Die ständige Produktion neuer Drogen durch die pharmazeutische Industrie wie auch den illegalen Drogenmarkt veranlaßt den Gesetzgeber, in ständigem „Wettlauf mit der Drogenszene" (Herrmann 1974, S. 426) den Geltungsbereich des Gesetzes auf immer mehr Substanzen auszudehnen. Statt des Gesetzgebungsverfahrens sieht § 1 BtmG für diesen Vorgang den weniger aufwendigen und um einiges flexibleren Weg des Erlassen von Rechtsverordnungen (sog. Gleichstellungsverordnungen) vor. Eine solche Gleichstellung kann aufgrund ähnlicher Wirkung der betreffenden Substanz erfolgen; möglich ist aber auch die Gleichstellung allein aufgrund des staatlichen Interesses an einer vorverlagerten Kontrolle über den Betäubungsmittelverkehr (§ 1 Abs. II). Die Feststellung durch die Bundesregierung, daß ein Stoff „nach wissenschaftlicher Erkenntnis die gleichen Wirkungen hervorrufen" kann, ist für den Bürger im Prozeß nicht problematisierbar (Erbs-Kohlhaas, Rn. 2 zu § 1). Angesichts der oft mangelhaften Rezeption wissenschaftlicher Forschungsergebnisse durch den Gesetz- bzw. Verordnungsgeber (Vogt 1975, S. 14—20, 38—99) erscheint diese Regelung nicht unbedenklich. Durch die letzte der bislang sechs Gleichstellungsverordnungen hat sich die Zahl der gleichgestellten Stoffe und Zubereitungen auf 99 erhöht (ErbsKohlhaas, Β 65 a). b) Das Bundesgesundheitsamt in Berlin (BGA) übt eine umfassende Kontrolle über den gesamten Betäubungsmittelverkehr aus. Die Einrichtung dieser Behörde durch Gesetz vom 27.2.1952 (BGBl. I, S. 121) beruht auf Art. 15 des internationalen Betäubungsmittelabkommens vom 13. 7. 1931 (RGBl. II 1933, S. 319), das die Vertragsstaaten zur Einrichtung einer Überwachungsbehörde verpflichtete. Nach § 2 BtmG bezieht sich das Aufsichtsrecht des BGA auf die Ein-, Durchund Ausfuhr, Gewinnung, Herstellung, Verarbeitung und Vernichtung von Betäubungsmitteln sowie den Verkehr mit ihnen. Da das BGA selbst keinen Unter- und Mittelbau besitzt, ist es selbst Eingriffs- und Aufsichtsbehörde, die sich allerdings zur Durchführung von Maßnahmen der Amtshilfe der Länder (Art. 35 GG) bedient. Es

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erhält über jeden Betäubungsmittelvorgang direkt Kenntnis. Im Rahmen des § 2 BtmG unterliegt jeder, der mit Betäubungsmitteln umgeht, einer Weisungsbefugnis des BGA. Es kann Auflagen zur Sicherung der Betäubungsmittelvorräte gegen Entnahme durch Unbefugte erteilen: zu denken ist hier an die Anschaffung technischer Sicherungen, möglicherweise aber auch an die Überwachung des Personalzugangs zu den Vorräten (Joachimski 1972, Rn. 11 zu § 2). Gemäß § 12 Abs. IV BtmG ist das BGA selbst Bußgeldbehörde. Die Überwachung des Betäubungsmittelverkehrs durch das BGA erfolgt dreistufig (Herrmann 1974, S. 424). Zunächst entscheidet das BGA nach § 3 BtmG grundsätzlich, ob ein Antragsteller Betäubungsmittel einführen, ausführen, anbauen, gewinnen, gewerbsmäßig herstellen oder verarbeiten, erwerben, abgeben, veräußern bzw. mit ihnen Handel treiben oder sie in Verkehr bringen darf. Auf der zweiten Stufe unterliegt der Erlaubnisinhaber für jedes Gebrauchmachen von der Erlaubnis erneuten Kontrollen: für Erwerb, Veräußerung und Abgabe von Betäubungsmitteln bedarf er eines Bezugscheins (§ 4 BtmG), Ein- und Ausfuhr bedürfen der Genehmigung (§ 6 BtmG). Die dritte Kontrolle schließlich stellt § 6 BtmG dar, nach dem Eingang, Ausgang und Verarbeitung von Betäubungsmitteln in einem Lagerbuch festgehalten werden müssen. § 2 Abs. I I normiert zusätzlich ein Besichtigungsrecht des BGA und eine korrespondierende Auskunftspflicht seitens des Erlaubnisinhabers. Auf die Erteilung der Erlaubnis nach § 3 BtmG besteht grundsätzlich ein Anspruch, da sie nach Abs. I I nur zu versagen ist, wenn ein Bedürfnis für ihre Erteilung nicht besteht oder wenn Bedenken des Gesundheitsschutzes oder persönliche Gründe entgegenstehen. Als Ausnahme zu § 3 BtmG ist das generelle Verkehrsverbot für die Rückstände des Rauchopiums und Cannabisharz und seine Zubereitungen anzusehen (§ 9 BtmG). Auch nach § 9 BtmG sind allerdings Ausnahmen vom repressiven Verbot möglich, wenn sie zu „wissenschaftlichen oder anderen im öffentlichen Interesse liegenden Zwecken" erfolgen. Unter letztere sollen vornehmlich die Interessen der Ermittlungs- und Verfolgungsbehörden fallen, die dadurch für sich oder ihre Kontaktleute Ausnahmegenehmigungen beim BGA für Scheinankäufe einholen können. In aller Regel leitet sich diese Befugnis jedoch schon aus der Beschlagnahmebefugnis ab (Joachimski 1972, Rn. 5 zu § 9). Im übrigen hätte sich das materiell-rechtliche Ziel des § 9 BtmG auch durch die bloße Verweigerung der Erlaubnis nach § 3 BtmG erreichen lassen. Die Bedeutung dieser Vorschrift liegt daher allein auf prozessualem Gebiet, wo sie für den Richter — der in diesen Fällen die Prüfung des Vorliegens einer Erlaubnis entfallen lassen kann — eine bedeutende Beweis-

erleichterung darstellt (§ 11 Abs. I Ziffer 6 BtmG; Joachimski 1972, Rn. 1 zu § 9, Rn. 17 zu § 11). Keiner Erlaubnis nach § 3 BtmG bedürfen Apotheken und behördlich genehmigte ärztliche und tierärztliche Hausapotheken für Erwerb, Verarbeitung und Abgabe von Betäubungsmitteln. Ausgenommen den Erwerb sind sie also — da sich die Kontrollen der zweiten Stufe grundsätzlich nur an die Inhaber einer Erlaubnis richten — auch von den Kontrollen der zweiten Stufe befreit (Joachimski 1972, Rn. 1 zu § 4). Für den Umgang mit Betäubungsmitteln in Apotheken gilt neben der Apothekenbetriebsverordnung vom 7. 8 . 1 9 6 8 (BGBl. I, S. 939), geändert am 3 . 1 1 . 1 9 7 0 (BGBl. I, S. 1510), vor allem die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (Verordnung über das Verschreiben, die Abgabe und den Nachweis des Verbleibs von Betäubungsmitteln v. 2 4 . 1 . 1 9 7 4 , BGBl. I, S. 110). Letztere Verordnung enthält Vorschriften über Höchstmengen bei der Verschreibung, die jeweils für einen Tag und einen Kranken gelten. Das Rezept muß über den verschreibenden Arzt, den Kranken und die verschriebene Droge genaue Angaben enthalten. Der Apotheker darf Betäubungsmittel nur gegen Vorlage einer ordnungsgemäß ausgefüllten, höchstens sieben Tage alten Verschreibung abgeben. Die Verschreibungen erfolgen auf dreiteiligen Formblättern (Sonderrezepten). Teil I des Rezeptes hat der Apotheker mit zusätzlichen Angaben zu versehen, drei Jahre lang aufzubewahren und auf Verlangen den zuständigen Behörden vorzulegen, während Teil I I zur Verrechnung mit der Krankenkasse bestimmt ist und Teil I I I beim Arzt verbleibt. Auch der Patient bedarf für den Erwerb von Betäubungsmitteln keiner Erlaubnis iSd ' § 3 BtmG; dieses Erfordernis wird für ihn durch die Notwendigkeit einer medizinisch indizierten (BGHSt. 9, 370) ärztlichen Verschreibung ersetzt (§ 3 Abs. IV, § 4 Abs. 1, S. 4 BtmG). Neben einer Anzahl Ermächtigungsgrundlagen zum Erlaß von Rechtsverordnungen (§§ 4—θ, 10) enthält das Betäubungsmittelgesetz schließlich noch mehrere Einzelvorschriften, die die Bundesregierung in die Lage versetzen, die Kontrolle über einzelne Drogen je nach Notwendigkeit zu verschärfen bzw. zu lockern (§§ 1 Abs. VI, 4 Abs. IV, 5 Abs. II). Insgesamt ergibt sich so eine perfektionierte, ebenso umfassende wie elastische Kontrollsystematik. c) Die gestaffelten Sanktionen sind in den §§ 11—13 BtmG enthalten. Bis 1971 waren sämtliche Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz als Vergehen strafbar. Im Zuge der allgemeinen Herabstufung von Verwaltungsunrecht zu Ordnungswidrigkeiten wurden mit dem Änderungsgesetz von 1971 die Verstöße gegen Vorschriften zur Regelung des legalen, d. h. erlaubten oder erlaubnisfreien Verkehrs entkriminalisiert. Diese

Rauschmittelmißbrauch: Juristisch-kriminologischer Beitrag Ordnungswidrigkeiten werden heute mit Bußgeld bis zu DM 50000 — belegt (§ 13 BtmG). Das verbleibende Kriminalunrecht wurde um neue Begehungsformen erweitert, die Maximalstrafe wurde erhöht und der Strafrahmen insgesamt differenziert. Ein Abweichen von der Regelstrafe (bis zu drei Jahre Freiheitsentzug und/oder Geldstrafe, § 11 Abs. I—III) ist nunmehr nach oben wie nach unten möglich. Nach § 11 Abs. V kann der Richter von Strafe absehen, wenn der Täter nur geringe Mengen von Betäubungsmitteln besessen oder erworben hatte, die er selbst verbrauchen wollte. Dadurch sollten sogenannte „Probierer" vor den negativen Folgen einer Vorstrafe bewahrt bleiben. § 11 IV nennt mehrere Regelbeispiele für „besonders schwere" Betäubungsmitteldelikte, bei deren Vorliegen der Richter in der Regel die Strafe aus dem erhöhten Rahmen dieses Absatzes (ein bis zehn Jahre Freiheitsstrafe mit möglicher zusätzlicher Geldstrafe bis zu DM 10000,—) entnehmen soll. Dadurch wird das Delikt jedoch nicht zum Verbrechen iSd § 12 I StGB (wichtig für die Fälle der §§ 30, 45, 78 StGB, § 153 II StPO). Der erweiterte Strafrahmen sollte hauptsächlich dazu dienen, die von — im Vergleich zum Ausland — geringen Strafen nach einer Vermutung des Gesetzgebers ausgehende „Sogwirkung" (Joachimski 1972, Rn. 1 zu § 11) auf international tätige Händler abzubauen. Bestraft werden sollte aber nicht nur der große, sondern alle Händler, während dem reinen Konsumenten eine spezialpräventiv-therapeutische Chance gelassen werden sollte (Dietze 1972, S. 132ff., Joachimski 1972, Rn. 22 zu § 11, Kreuzer 1975 b, S. 206). Dieser Differenzierung der Strafstufen liegt eine abstrakt-typologische Täterklassifizierung zugrunde, so daß nach der Vorstellung des Gesetzgebers jedem Tätertypus eine Sanktionsstufe entspricht: 1. Ordnungswidrig handelnder Teilnehmer legalen Betäubungsmittelverkehr: Bußgeld (§ 13 BtmG)

am

2. Probierer, Konsument von „geringen Mengen": Möglichkeit des Absehens von Strafe (§ 11 Abs. V BtmG) 3. Händler und Schmuggler: bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe und/odeT Geldstrafe (§ 11 I—III BtmG) 4. Händler und Schmuggler von „nicht geringen Mengen", gefährliche und gewissenlose Täter: 1—10 Jahre Freiheitsstrafe (und Geldstrafe) nach § 11 Abs. IV BtmG. Die besondere Problematik dieser Staffelung besteht darin, daß sich die Erwartung des Gesetzgebers im Hinblick auf die empirische Existenz unterscheidbarer Typen dieser Art nicht erfüllt hat, eine weitere liegt in der überkomplizierten,

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die Zielgruppe der Vorschriften großenteils verfehlenden Fassung der Regelbeispiele. Weitere wichtige Strafbestimmungen sind in anderen Gesetzen enthalten: so wird in den Fällen des Schmuggels und des unerlaubten An- und Verkaufs ausländischer Betäubungsmittel auch noch ein Zollvergehen nach den §§ 391ff. der Abgabenordnung begangen, das mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe geahndet werden kann. In Betracht kommt weiterhin die Anwendung von Strafvorschriften aus dem Arzneimittelgesetz. C. Kriminologische Kritik Die Sanktionen des Betäubungsmittelgesetzes, die auch aus juristischer Perspektive vielfache Kritik erfuhren (Dietze 1972, Herrmann 1974, Waldmann u. a. 1971), können weder aus gesetzessystematischer noch aus empirisch-kriminologischer Sicht befriedigen. Die Tatbestände und Regelbeispiele sind großenteils unscharf und realitätsfern formuliert, die Sanktionsstufen nicht klar voneinander abgegrenzt. So wurden zwar generell Verstöße gegen Rechtsverordnungen, die den legalen Verkehr betreffen, zu Ordnungswidrigkeiten herabgestuft. Systemwidrig hingegen wurde der Verstoß gegen die Bezugscheinpflicht nicht dekriminalisiert (§ 11 Abs. I Ziffer 3). Da durch Erwerb oder Abgabe ohne Einzelgenehmigung nicht mehr Unrecht verwirklicht wird als durch die Einfuhr von Betäubungsmitteln unter Umgehung zollamtlicher Überwachung, welche grundsätzlich als Ordnungswidrigkeit geahndet wird (§§ 6—-11 der Verordnung über Einfuhr, Durchfuhr und Ausfuhr von Betäubungsmitteln v. 1. 3.1930, zuletzt geändert am 26. 9.1960, RGBl. I, S. 114; BGBl. I, S. 772; § 13 Abs. I Ziffer 6 BtmG, § 11 Abs. I Ziffer 2 BtmG), muß diese unterschiedliche Behandlung als verunglückt angesehen werden (Joachimski 1972, Rn. 14 zu § 11). Der größte Schaden erwächst dem Gesetz und den von ihm betroffenen Bürgern jedoch durch die in den Regelbeispielen aufgeführten Leitbilder f ü r die Strafzumessung der Gerichte. Zwar bewirken die nur fakultativ geltenden Erschwerungsgründe, daß weder immer noch nur bei Verwirklichung eines Regelbeispiels die erhöhte Strafe verhängt wird und eröffnen so dem Richter „im Bereich der Strafzumessung als seiner ureigensten Domäne" weitgehende Gestaltungsrechte (Wessels 1972, S. 309/310). Die konkrete Formulierung der Regelbeispiele potenziert aber andererseits den mit der Anwendung einer solchen Gesetzestechnik schon normalerweise verbundenen Verlust an Rechtssicherheit, da sie teilweise allzu eng und teilweise wieder allzu weit ausfällt. So sind im Effekt entweder die Fälle, die dem Gesetzgeber vorschwebten, gar nicht unter die dafür gedachten

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Rauschmittelmißbrauch: Juristisch-kriminologischer Beitrag

Vorschriften zu subsumieren oder aber die Bestimmungen erfassen ihre Zielgruppe zwar auch, umfassen aber aufgrund ihrer weiten Konstruktion schließlich vor allem Täterkreise, die gar nicht erfaßt werden sollten. So soll in der Regel ein besonders schwerer Fall vorliegen, wenn durch die Drogen das Leben einer Person oder die Gesundheit mehrerer Personen gefährdet werden, sowie wenn ein Erwachsener wiederholt die Betäubungsmittel an Personen unter 18 Jahren abgibt (§ 11 Abs. IV, Ziffer 1—3). Trotz der unstreitig guten Intentionen verfehlen diese Bestimmungen ihre Zielgruppe der gefährlichen Händler und Schmuggler: die Abgabe von Betäubungsmitteln an deD Bndverbraucher erfolgt regelmäßig durch andere Konsumenten, die mit der Weiterveräußerung von Teilen ihrer Bestände den eigenen Konsum finanzieren. Dies gilt in besonderem Maße für den Heroinhandel; die tägliche Dosis kostete 1971 in den USA täglich zwischen 25 und 100 Dollar (Pittman 1974, S. 227). Zwar macht die Finanzierung des Heroinbedarfs über Vermögensdelikte einen erheblichen Teil der Geldbeschaffung aus (Inciardi/Chambers 1972), doch kann die kriminelle Aktivität bei weitem nicht den gesamten Bedarf decken. Über die Hälfte seines Geldbedarfs deckt der Heroinabhängige nach Marks (1974, S. 70) daher mit dem Verkauf von Heroin an andere bzw. Prostitution oder illegalem Glücksspiel. Der harte Strafrahmen trifft hier also nicht das obere, sondern das unterste Ende der Verteilerkette. Der Zweck einer Freiheitsstrafe gegenüber solchen Kleinsthändlern reduziert sich darauf, den „Händler" für eine Weile von seinem Kundenkreis fernzuhalten (Wilson 1975, S. 146). Eine Unterbindung des Nachschubs gelingt aber durch diese Maßnahmen kaum; denn trotz geringer Profite, einer (verglichen mit den Zwischen- und Großhändlern) relativ hohen sozialen Sichtbarkeit und dementsprechend hohem Festnahmerisiko (Brecher et al. 1972, S. 99) lassen sich immer wieder neue Heroinabhängige aufgrund ihrer permanenten finanziellen Notlage für derlei Tätigkeiten engagieren (Vogt 1975, S. 27). Während der mittelgroße organisierte Verbrecher den unmittelbaren Kontakt mit dem Drogenverbraucher durch die Zwischenschaltung von Kleinsthändlern und Laufburschen vermeidet, erfüllt das Regelbeispiel des § 11 Abs. IV Ziffer 3 ζ. B. der 21jährige junge Mann, der seine 17jährige Freundin bei seinem gelegentlichen Haschischgenuß probieren läßt (Herrmann 1974, S. 232). Die Ziffern 1 und 2 derselben Bestimmung (Gesundheitsgefährdung für mehrere Personen, Todesgefahr für eine Person) verfehlen die ihnen zugedachte Zielgruppe auf ähnliche Weise. So sollten diese Formulierungen nach den Motiven des Gesetzgebers (BT-DS VI/ 1877, S. 9) ausdrücklich die Betreiber großer geheimer Laboratorien (Heroinküchen) erfassen.

Nach Wortlaut und Gesetzessystematik handelt es sich bei diesem Regelbeispiel um einen konkretabstrakten Mischtypus einer Gefährdung (Dietze 1972, S. 135, Joachimski 1972, Rn. 23 zu § 11). Angesichts der Konsumentenferne der mittleren und oberen Schichten des organisierten Händlertums wird eine solche Art der Gefährdung wohl nur in den Fällen mancher Kleinhändler überhaupt vorkommen, die einen noch überschaubaren Kundenstamm beliefern. Aber selbst bei diesen wird eine Anwendung der Vorschrift oftmals am schwer zu erbringenden Nachweis der Gefährdung selbst oder zumindest des Gefährdungsvorsatzes scheitern (Herrmann 1974, S. 433, Joachimski 1972, Rn. 23 zu § 11). Im übrigen dürften nur sehr wenige Handlungsweisen vorstellbar sein, die nicht entweder von der weitaus klareren, auf die Quantität der Betäubungsmittel abstellenden Vorschrift des § 11 Abs. IV Ziffer 5 oder aber von einem der einschlägigen, Leben und Gesundheit schützenden Paragraphen des StGB erfaßt wird. Die übrigen Regelbeispiele (Ziffern 4 bis 6) betreffen die Fälle, in denen ein Händler gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handelt, bzw. wenn sich Besitz, Handel oder Einfuhr auf „nicht geringe Mengen" erstreckt oder Drogen bei der Einfuhr durch besondere Vorrichtungen verheimlicht oder an schwer zugänglichen Stellen versteckt werden. Im Gegensatz zu den ersten Regelbeispielen treffen diese Formulierungen zwar zumindest auch die vom Gesetzgeber gemeinten Regelungsbereiche. Die genannten Begehungsmerkmale finden sich jedoch auch in den Bereichen der kleinen und mittleren Kriminalität und sind insofern wenig tauglich als Leitbilder für den Richter. Nach der extensiven Auslegung der Merkmale durch die Rechtsprechung liegt zudem Gewerbsmäßigkeit bereits vor, wenn jemand lediglich beabsichtigt, sich durch wiederholte Begehung der Tat eine fortlaufende Einnahmequelle zu schaffen. Die Absicht kann sich bereits aus einer ersten, u. U. sogar zwecks Werbung unentgeltlichen Abgabehandlung ergeben (BGHSt. 1, 383, BT-DS VI/1877). Für die Bildung einer Bande genügen bereits zwei Personen (§ 244 Abs. I Ziffer 3 StGB). Ein besonders schwerer Fall soll auch dann vorliegen, wenn jemand Betäubungsmittel in „nicht geringen Mengen" besitzt oder abgibt. Nach welchen Kriterien diese Abgrenzung getroffen werden soll, ist stark umstritten (Wechsung/Hund 1973, Joachimski 1974, Rn. 4 zu § 11). Jedenfalls darf die Verneinung der „geringen Menge" iSd § 11 Abs. V noch nicht zur Bejahung der „nicht geringen Menge" iSd § 11 Abs. IV Ziffer 5, 6 führen, da nach einer solchen Auslegung von der mittleren, nach der ratio legis mit der Regelstrafe von bis zu drei Jahren Freiheitsentzug zu belegenden Kriminalität kaum noch etwas übrigbliebe. Nach dem Willen des Gesetz-

Rauschmittelmißbrauch: Juristisch-kriminologischer Beitrag gebers sollten die illegalen Händler „in Zukunft die ganze Schärfe des Gesetzes erfahren" (BT-DS VI/1877). Zum Teil wird eine nicht geringe Menge daher angenommen, wenn sie den durchschnittlichen Vorrat eines bloßen Konsumenten um so viel übersteigt, daß schon von daher auf Handelsabsicht geschlossen werden kann (Joachimski 1972, Rn. 27 zu § 11). In der Praxis ist jedoch gelegentliches Handeltreiben der Konsumenten allgemein üblich und „als selbstverständlich allgemein akzeptiert" (Kreuzer 1975 a, S. 209). Eine der Gesetzesbegründung entsprechende Auslegung würde daher im Effekt zur Kriminalisierung der Mehrheit der Konsumenten führen, obwohl das Gesetz andererseits gerade für die Masse der Konsumenten strafrechtliche Sanktionen von vornherein hinter sozialisierende Maßnahmen zurücktreten lassen wollte (Bundesratsrechtsausschuß in Joachimski 1972, Rn. 32 zu § 11). Letztlich beruht dieser Widerspruch auf Ungereimtheiten des Gesetzes selber, zu dessen Entstehung allgemein verbreitete Alltagstheorien mehr beigetragen haben als die Ergebnisse empirisch-kriminologischer Forschung. Diese mangelhafte Rezeption der empirisch auffindbaren Strukturen des Regelungsgegenstandes beruht nach Kreuzer (1975b, S. 207) „auf dem durch Kriminalamtsunterlagen vermittelten Zerrbild, welches dadurch entsteht, daß kriminalistischer Anknüpfungspunkt jeweils nicht die Person in ihrem Gesamtverhalten, sondern eine bestimmte Handlungist ( . . . ) . " Indem der Gesetzgeber jeden dieser analytisch getrennten Handlungsaspekte zu einem Tätertyp verallgemeinerte, gelangte er zur abstrakt-typologischen Unterscheidung strafwürdiger Händler und behandlungsbedürftiger Konsumenten. Das Anknüpfen des Gesetzgebers an isolierte Erscheinungsformen des Schmuggels ist ebenfalls nicht geeignet, besonders gefährliche Taten von anderen zu unterscheiden (§ 11 Abs. IV Ziffer 6b): unter den Wortlaut dieser Vorschrift fallen nicht nur Mitglieder internationaler Händlerringe, sondern auch solche vorsichtigen Touristen, die ihre wenigen Haschischzigaretten unter der Radkappe ihres Personenwagens versteckt halten (Herrmann 1974, S. 432). Die tatsächlichen Strukturen des illegalen Drogenmarktes hat für die Bundesrepublik Kreuzer (1975a, S. 205ff.) untersucht und in einem dreistufigen Pyramidenmodell dargestellt. Nach Kreuzer befindet sich zwischen der ersten Stufe (der Dealer-Hierarchie, die in vielfacher Untergliederung sämtliche Binnen- und Selbstversorgermärkte umfaßt) und der dritten Stufe (dem professionellen international organisierten Handel) eine Grauzone, in der sich „Organisation von unten" (Nachfrage) und „Organisation von oben" (Verteilernetze) verzahnen. „Reine" Händler finden sich in den Stufen zwei und drei, während die Population der Stufe eins und des größten

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Teils der zweiten Stufe aus einem Misch typ von Konsumenten-Händlern besteht. Unterschiedliche Ausformungen dieses Modells sind abhängig von der Art der Droge, der Art ihrer Herstellung/Verarbeitung, der Größe und Attraktivität des Marktes. Letztere Faktoren wiederum stehen in einem Wechselwirkungsverhältnis zum Grad der Beteiligung des organisierten Verbrechens und zur Ausdifferenziertheit der Verteilerketten. Kreuzers Untersuchung hat damit die frühere Kritik bestätigt, daß der Gesetzgeber von einem in der Realität nicht durchführbaren Konzept der Trennung der Drogenszene in Händler und Konsumenten ausgehe (Waldmann u. a. 1971, S. 614, Dietze 1972, S. 134). Wenn aber handelndes und konsumierendes Verhalten in der großen Mehrzahl der Fälle in einem „Mischtypus" von Konsumenten-Händlern zusammenfallen (Kreuzer 1975a, S. 207ff„ 216ff., 376ff.), dann wird dadurch auf diesen gesamten Personenkreis der harte händlerbezogene Strafrahmen anwendbar. Zudem entspricht auch die tatsächliche Struktur des illegalen Verkehrs mit der dominierenden ,harten' Droge, dem Heroin, wenig den Vorstellungen des Gesetzgebers. Der Heroinmarkt weist heute den höchsten Grad wirtschaftlicher und organisatorischer Konzentration (Monopolisierung) auf. Diese Entwicklung auf internationaler Ebene rührt ζ. T. von den hohen Investitionskosten für illegale „Heroinküchen" und den Betriebskosten einer funktionierenden Anbau-, Schmuggel-, Verarbeitungs- und Verteilungsorganisation her. Zum Teil läßt sich die Tendenz zur Monopolisierung jedoch auch als Reaktion auf Maßnahmen der Verfolgungsbehörden erklären, die wiederum eine Reaktion auf Aktionen der Heroinhändler darstellten. Holahan (1972, S. 278 ff.) beschreibt diesen Interaktionsprozeß zwischen Gesetzgeber, Verfolgungsbehörden und dem organisierten Verbrechen in einem Eskalationsmodell. Er geht davon aus, daß der Erhöhung der Verfolgungsintensität seitens der formalen Instanzen sozialer Kontrolle entsprechende Schutzmaßnahmen des organisierten Verbrechens gegenüberstehen. Derartige Schutzmaßnahmen können in der Zwischenschaltung mehrerer Mittelsmänner, also einer Verlängerung der Verteilungskette und damit der Einrichtung eines „Puffers" zwischen der Hierarchiespitze und der Polizei, bestehen. Die Kosten, die dem Heroinhandel dadurch entstehen, wälzt er unmittelbar auf die Konsumenten ab. Da durch die Verfolgungsmaßnahmen die Kosten somit immer weiter ansteigen, wird die Tendenz zur Monopolisierung immer weiter verstärkt. Ist die Konkurrenz erst einmal ausgeschaltet, kann die marktbeherrschende Organisation ihre Preise nach Belieben gestalten; die Reingewinne werden immer auf einem Niveau gehalten, das den Heroinhandel trotz steigender Verfolgungsintensität profitabel erscheinen läßt.

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Rauschmittelmißbrauch: Juristisch-kriminologischer Beitrag

Angesichts dieses Interaktionsprozesses können sich die kurzfristigen Erfolge der Ermittler gegenüber unteren Rängen schließlich als Pyrrhussiege erweisen (Vogt 1975, S. 31). Auch nach Holahans (1972, S. 270) Modell der Händlerpyramide erscheint die Unterscheidung des deutschen Betäubungsmittelrechts als unrealistisch: vier von sechs Händlerstufen würden hier die Grauzone von — selbst zumeist abhängigen — HändlerKonsumenten angehören. Nach Vogt (1975, S. 26) konsumieren die unteren Ränge des Heroingeschäftes selbst sogar fast die Hälfte des gesamten importierten Heroins. Lediglich die Spitze der Organisation besteht meist aus Nicht-Abhängigen. Wie im organisierten Verbrechen üblich, bekommt der Boss die Ware oftmals überhaupt nicht zu sehen (Vogt 1975, S. 25). Die heute als illegale Händler und Schmuggler festgenommenen Personen sind zumeist solche Straßenhändler und Laufburschen, die große Anteile des Heroins selber verbrauchen, dem Handel lediglich zur Sicherung ihres eigenen Bedarfs nachgehen und im allgemeinen so gut wie nichts mit dem Typ des skrupellosen Ausbeuters zu tun haben, dessen Bild das Gesetzgebungsverfahren bestimmte (Gemmer 1974, S. 631, Schulz 1975, S. 302/303). Die Masse der festgenommenen illegalen Händler und Schmuggler gehört demzufolge in motivationaler wie organisatorischer Hinsicht eher der Nachfrage- als der Angebotsseite des illegalen Drogenmarktes an, wird aber aufgrund der dichotomischen Konzeption des Gesetzes mit den für die „Angebotsseite illegalen Drogenumgangs, gegen den kalkulierenden, selbst nicht drogenabhängigen Händler" (Kreuzer 1975b, S. 206) bestimmten primär repressiven Mitteln bestraft. Die realitätsferne Konstruktion der Strafbestimmungen verhindert somit selbst die Einlösung der Gesetzesintention, zumindest „auf der Nachfrageseite die therapeutisch-pädagogische Chance zu wahren" (Kreuzer 1975b, S. 206) und schafft damit die normativen Voraussetzungen für eine kriminogen wirkende Überkriminalisierung der Verhaltensweisen dieser Täter. Zudem erweist sich das Gesetz auch dort, wo es mit der fakultativen Straffreiheit des § 11 Abs. V den spezialpräventiv-resozialisierenden Aspekt in den Vordergrund stellt, als unzulänglich. Da für jeden Einzelfall nicht voraussehbar ist, ob der Richter von dieser Ermessensvorschrift den einen oder anderen Gebrauch machen wird, bleiben die Betroffenen weiterhin in die (illegale) Drogenszene abgedrängt, zu der die formellen Instanzen der Sozialkontrolle — zumal mit spezialpräventivtherapeutischen Maßnahmen — kaum Zugang besitzen (Dietze 1972, S. 136, Kreuzer 1972, S. 266). Verunglückt ist die Vorschrift weiterhin deshalb, weil andere Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, etwa das bloße Weiterreichen einer Haschischzigarette (Joint) im Freundeskreis-

einen eher geringeren Unrechtsgehalt besitzen, von der Straffreiheitsklausel aber nicht erfaßt werden. Ist die Differenzierung der Straf Vorschriften also auch als ein Fortschritt im Prinzip anzusehen, so trägt doch ihre konkrete Ausgestaltung den Ergebnissen kriminologischer Forschungen nur höchst unzureichend Rechnung. Die äußerst unscharfen bzw. weitgefaßten Tatbestandsmerkmale und Regelbeispiele erfüllen nur mit Mühe rechtsstaatliche Erfordernisse (Zipf 1973, S. 62) und erfassen entweder ihre Zielgruppe gar nicht oder schießen weit über sie hinaus, indem sie auch diejenigen Täter mit ζ. T. sehr schwerer Strafe bedrohen, denen die „therapeutische Chance im strafjustitiellen Gesamtrahmen nicht v e r b a u t " werden sollte (Kreuzer 1975b, S. 207). Die mancherorts bereits vorgeschlagene (Kreuzer 1975b, S. 207, Schmitt 1972, S. 113, 126) Ersetzung des heutigen Inhaltes des § 11 Abs. I V durch einige präzise, auf die objektive Gefährlichkeit der Tat abstellende Bestimmungen sollte zum Ziel haben, den Schwerpunkt der Verfolgungsaktivitäten auf die mittleren und oberen Ränge des organisierten Verbrechens zu verlegen und damit den schädlichen Auswirkungen einer Überkriminalisierung der unteren Teile der Händlerpyramide (Kleinsthändler, Händler-Konsumenten) entgegenzuwirken. Gegenüber den zu Konsumzwecken handelnden Tätern am unteren Ende der Verteilerkette können bloße Strafgesetze am allerwenigsten ein bestimmtes Verhalten erzwingen (Schroeder 1973, S. 13, Vogt 1975 S. 27, Wüson 1975, S. 147), viel wahrscheinlicher ist hingegen, daß diese Gruppe durch die Ausstoßungsreaktionen formeller wie informeller Instanzen erst in Bedingungszusammenhänge hineingestellt wird, die schließlich das Erlernen von delinquenten Verhaltensmustern (Begleit- und Folgekriminalität) erst als erfolgversprechendsten Problemlösungsversuch erscheinen lassen. Diese negative Erfahrung mit repressiven Maßnahmen einerseits und die Sozialisationserfolge mit nicht-kriminalrechtlichen staatlichen Reaktionen auf der anderen Seite (-> Rauschmittelmißbrauch, soziologischpsychologischer Beitrag) verweisen für diesen Personenkreis deutlich auf die Grenzen des Strafrechts.

m.

KRIMINALITÄT

A. Erscheinungsformen 1. Typologie Bisherige Versuche einer systematischen Einteilung (dazu Kreuzer 1975 a, S. 193—196) der Drogenkriminalität lassen fünf Typologien erkennen, die sich (1) am Gesetz, (2) am Rechtsgut, (3) am Täter, (4) an der Drogenart oder (5) an der

Rauschmittelmißbrauch: Juristisch-kriminologischer Beitrag

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Drogenfunktion orientieren. Die legalistische Typologie gliedert die Erscheinungsformen gemäß den durch die Handlung erfüllten Straftatbeständen. Diese Typologie wird von den meisten formellen Instanzen sozialer Kontrolle verwendet; für kriminologische Zwecke ist sie allerdings schon deshalb kaum brauchbar, weil sie nur einen reduzierten Ausschnitt des komplexen Kriminalitäts-, bzw. Kriminalisierungsprozesses erfaßt (Schneider 1974b, S. 15). Rechtsgutorientierten Überlegungen (Kreuzer 1971, 1972, 1974; Schmitt 1972) kommt große Bedeutung zu als einer notwendigen Voraussetzung der rationalen Rekonstruktion kriminalpolitischer (De-) Kriminalisierungsprozesse. Für den praktischen Zweck phänomenologisch-kriminologischer Beschreibung ist dieser Verbrechensbegriff jedoch gegenwärtig noch zu unbestimmt (Kreuzer 1975 a, S. 194, Schneider 1974a, S. 16). Die dritte Typologie unterscheidet zwischen süchtigem und nichtsüchtigem Täter und ordnet beiden Personenkreisen bestimmte Taten zu (Bschenbach 1956). In Verbindung mit Erkenntnissen über die Strukturmerkmale des illegalen Drogenmarktes könnte diese Klassifizierung nicht nur kriminalistische Aufgaben erleichtern, sondern ebenfalls Beiträge zur Erforschung wesentlicher, für die Differenzierung der Sanktionen entscheidender Unterscheidungskriterien für Tatund Täterformen liefern. Für kriminologische Zwecke erscheint diese Einteilung jedoch heute mangels eines geeigneten Instrumentariums, auch die komplexen Zwischenstufen der Abhängigkeit zu erfassen, kaum brauchbar. Klassifizierungen nach der Drogenart (Teigen in Kreuzer 1975 a, S. 194) dienen wohl hauptsächlich pharmakologischen Zielen, während die funktionale Einteilung Kreuzers zwar schon für kriminologische Zwecke erdacht, insgesamt aber doch unausgereift ist (Kreuzer 1975 a, S. 196). Für die Zwecke der Beschreibung wesentlicher Formen der Drogenkriminalität dürfte eine Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drogenkriminalität, wobei zu letzterer die Formen der Beschaffungswie auch der Folgekriminalität zu zählen sind, angemessen sein.

liehe Studie der Drogenszene findet sich weiterhin bei Kreuzer (1975 a, S. 67ff.).

2. Die unmittelbare Drogenkriminalität besteht schwerpunktmäßig einmal aus der Summe der illegalen Handlungen in der Konsumsphäre und zum anderen aus den Handlungen des illegalen Betäubungsmittelverkehrs (Handel und Schmuggel)· a) Konsumsphäre. Da jeder nicht-medizinische und nicht-wissenschaftliche Umgang mit den Drogen des Betäubungsmittelgesetzes vom Gesetzgeber unter Strafe gestellt wurde, kann für Art und Umfang der Verbraucherkriminalität weitgehend auf die Ausführungen an anderer Stelle (-> Rauschmittelmißbrauch, soziologisch-psychologischer Beitrag) verwiesen werden. Eine ausführ-

3. Die mittelbare Drogenkriminalität kommt in der polizeilichen Kriminalstatistik nur in der Form der Beschaffungskriminalität vor. Die Beschaffungskriminalität läßt sich einteilen in Straftaten zur Erlangung der Betäubungsmittel selbst (direkte oder unmittelbare Beschaffungskriminalität) und in Straftaten zur Beschaffung von Zahlungsmitteln oder Sachwerten für den Erwerb von Betäubungsmitteln (indirekte oder mittelbare Beschaffungskriminalität). Häufigste Begehungsformen der direkten Beschaffungskriminalität sind die gewaltsame und die heimliche Entwendung der Drogen aus Arztpraxen, Kliniken, Apotheken, pharmazeutischen

32 HdK, 2. Aull., Bd. II

b) Illegaler Verkehr (Handel und Schmuggel). Illegaler Handel und Schmuggel von Betäubungsmitteln wird sowohl seitens straff organisierter internationaler wie auch weniger gut organisierter nationaler Tätergruppen und bloß gelegentlicher Drogenkonsumenten betrieben. Der Markt der sogenannten „harten" Drogen ist allerdings fest in den Händen des organisierten Verbrechens. Unter den harten Drogen hat in der Bundesrepublik das Heroin die führende Stellung des Opiums eingenommen. Anbau, Verarbeitung, Import und Verteilung des Heroins gehen streng arbeitsteilig vor sich. Der Boss einer mit dem Heroinschmuggel befaßten Organisation, die Importeure und die Großhändler gehören als „top management" oft derselben Gruppe (Familie) an. Zwischenhändler und Kleinhändler sind regelmäßig auch in großenteils international arbeitenden Händlerringen zusammengeschlossen. Während sich die Situation des oberen Teiles der Hierarchie durch die vier Merkmale hoher Investitionskosten, hoher Betriebskosten, hoher Gewinne und geringen Risikos auszeichnet, nehmen die mittleren Ränge in jeder Beziehung eine Zwischenstellung ein. Die Kleinsthändler und Laufburschen am unteren Ende der Verteilerketten machen aufgrund mangelnder Organisiertheit und ihres regelmäßig hohen Eigenverbrauchs nur geringste Gewinne, die sie zudem aufgrund ihrer Abhängigkeit immer wieder in neue Ankäufe umsetzen. Trotz eines erheblichen Risikos, von der Polizei entdeckt zu werden, hat das organisierte Verbrechen bei der Rekrutierung von Endverteilern keine Schwierigkeiten, da jeder Heroinabhängige an einer Sicherung seiner Versorgung vital interessiert ist (Brecher et al. 1972, S. 99, Vogt 1975, S. 27). Einen Eindruck von der Ausbeutung des Konsumenten durch den illegalen Heroinmarkt vermitteln die von Holahan (1972, S. 270) genannten Zahlen: Danach wird ein kg Heroin (Einkaufspreis 5000 US-Dollar) am Ende einer nur sechsstufigen Verteilerkette zum 200fachen Preis (1 Million US-Dollar) verkauft.

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Großbetrieben, etc. Die ζ. T. kaum als Drogenkrimmalität auszumachenden Formen der mittelbaren Beschaffung sind alle Arten der Entwendung von Geld oder Sachwerten zwecks Einkaufs der benötigten Drogen auf dem illegalen Markt. Weiterhin dürften in diese Kategorie auch der Diebstahl und die Unterschlagung von Rezeptvordrucken sowie die Erschleichung von Verschreibungen fallen. Fälschung und Selbstherstellung von Rezepten sind zwar durch die neue Betäubungsmittelverschreibungsverordnung von 1974 nahezu unmöglich gemacht worden, doch zeigt sich in letzter Zeit wieder eine Tendenz zu den unmittelbaren Zugriffsformen auf Betäubungsmittel (Schulz 1975, S. 284). Punktuelle Regelungsversuche führen also vornehmlich zu Symptomverlagerungen, in diesem Fall sogar zu Begehungsformen größerer sozialer Sichtbarkeit und erhöhten Täter-, sowie Opferrisikos. Besondere Schwierigkeiten bereitet die Verhütung und Aufklärung illegaler Verschaffungsaktivitäten durch solche Personen, die beruflich erleichterten Zugang zu Betäubungsmitteln besitzen. So werden diese Drogen häufig in Krankenhäusern und Kliniken vom dort beschäftigten Personal entwendet. Von Ärzten werden medizinisch nicht indizierte Verschreibungen teils für Dritte, teils für den Eigenverbrauch vorgenommen (Schulz 1975, S. 282—289, Kreuzer 1975a, S. 263ff.). Zur mittelbaren Drogenkriminalität läßt sich schließlich auch noch die sogenannte Folgekriminalität rechnen. Sie erfaßt vor allem die nach Einnahme von Betäubungsmitteln begangenen, auf die Drogenwirkung zurückzuführenden Straftaten. Angesichts der Aussichtslosigkeit des Versuchs, eine lineare Kausalitätsbeziehung zwischen vergangenem Drogenkonsum und sehr viel später liegenden Lebensumständen zu ermitteln, dürfte allerdings der Vorschlag von Schulz (1975, S. 270) zu weit gehen, auch die in abstinentem Zustand und zum Erwerb des Lebensunterhaltes begangenen Taten darunterzuzählen, solange nur der Betäubungsmittelmißbrauch wesentlich dazu beigetragen hat, daß Fähigkeit oder Motivation zur Berufstätigkeit fehlen. B. Bekämpfung 1.

Organisation

Die Ermittlungen gegen Schmuggler- und Händlerringe stellen einen wesentlichen Teil der -»- internationalen Verbrechensbekämpfung dar. Die hohe Mobilität und die internationale Zusammensetzung der organisierten Verbrecherbanden erfordert im nationalen wie im internationalen Bereich eine Zentralisierung der Verfolgungsmaßnahmen. 1972 wurde beim Bundeskriminalamt (BKA) eine „Ständige Arbeits-

gruppe — Rauschgift" gebildet, in der Polizei, Zoll und Grenzschutz vertreten sind. In dieser Arbeitsgruppe, die hauptsächlich präventive und repressive Bekämpfungsmethoden entwickelt, sind mittlerweile auch Vertreter des westlichen Auslandes beteiligt. Die Zuständigkeit für die Verfolgung von Betäubungsmitteldelikten liegt grundsätzlich bei den Polizeien und Staatsanwaltschaften der Länder. 1973 erhielt das BKA eigene Ermittlungskompetenzen. § 5 Abs. 2 des Gesetzes über die Einrichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes i. d. F. vom 29. 6.1973 bestimmt, daß das BKA die polizeilichen Aufgaben auf dem Gebiet der Strafverfolgung (§§ 161, 189 StPO) in Fällen des internationalen illegalen Betäubungsmittelhandels selbst wahrnimmt. In Fällen minderer Bedeutung kann die Staatsanwaltschaft im Benehmen mit dem BKA die Ermittlungen einer anderen sonst zuständigen Polizeibehörde übertragen. Weiterhin kann ζ. B. der Bundesminister des Innern aus schwerwiegenden Gründen das BKA mit der Verfolgung beauftragen, während das BKA selbst wiederum Beamte zur Unterstützung landespolizeilicher Ermittlungen abstellen kann. Da es sich bei Fällen dieser Art zumeist auch um Zoll, bzw. Steuervergehen handelt (§ 15 des Gesetzes über die Finanzverwaltung, § 493 der Abgabenordnung), ist oft auch eine Zuständigkeit dieser Behörden gegeben (dazu Kemmelmeier 1974, Schulz 1975). Aufgrund der sogenannten Pompidou-Initiative von 1972 wurde von den Staaten der EG und Schweden eine enge Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Drogenkriminalität beschlossen, die inzwischen zur Einrichtung eines europäischen Meldedienstes für Rauschmittelangelegenheiten sowie einer Spezialdienststelle zur Bekämpfung der Rauschmittelkriminalität beim Generalsekretariat der Interpol geführt hat. 2.

Erfolge

Über die Erfolge der Ermittlungs- u. Verfolgungsinstanzen lassen sich wenig gesicherte Aussagen machen. Zwar besteht unbestreitbar ein Interaktionsprozeß zwischen illegalen Handlungen der Täter auf der einen und den unterschiedlichen gesellschaftlichen Reaktionen auf die Kriminalität andererseits: ob die formalen Reaktionen der Instanzen sozialer Kontrolle jedoch eher eine Verminderung, eine Verlagerung oder gar eine Vermehrung der Kriminalität bewirken, ist jedoch jedenfalls mit den Mitteln der Kriminalstatistik, aber auch mit anderen Instrumenten der empirischen Sozialforschung kaum auszumachen (Schneider 1974a, S.42ff„ Vogt 1975, S. 24/25). Die Entwicklung der Bekämpfung des Opium/ Heroinschmuggels in den letzten Jahren kann aber wesentliche Punkte dieses Interaktionsprozesses zwischen organisiertem Verbrechen und

491

Rauschmittelmißbrauch: Juristisch-kriminologischer Beitrag internationaler Verbrechensbekämpfung aufzeigen: 1972 führte der Druck der USA zum völligen Stop des Mohnanbaus in der Türkei. 1974 wurde er unter strengen Kontrollen wieder aufgenommen. Das gleichzeitige Aufspüren hoher Mitglieder organisierter Heroinbanden in Marseille ermöglichte die Aushebung von chemischen Labors (Heroinküchen). Die Verhinderung des Anbaus wie die Zerschlagung der Verarbeitungsmöglichkeiten führten zum Zusammenbruch der Opiumstraße von der Türkei über Marseille nach Mitteleuropa (French Connection). Als Folge des „Austrocknens" dieser Quelle stellte sich jedoch kein Rückgang der Gesamteinfuhr dieser Drogen, sondern lediglich die Ersetzung der betreffenden Anbaugebiete, Schmuggelwege und der handelnden Personen durch neue ein. Mehr als zwei Drittel des Heroin-Weltmarktes werden heute von Labors in Hongkong aus versorgt, wo das im „Goldenen Dreieck" (Birma/Laos/Thailand) angebaute Opium in Morphin und Heroin (Hongkong-Rocks, Brown Sugar) umgewandelt und exportiert wird. In der Bundesrepublik wurde das erste Heroin vom Hongkong-Typ 1972 beschlagnahmt. Statt über Marseille gelangt das Heroin heute über Wien, Zürich, Paris und Brüssel nach Westeuropa. Zwischen Dezember 1974 und November 1975 wurden auf internationalen Flughäfen in Westeuropa 258,1 kg Heroin beschlagnahmt. 507 Personen wurden festgenommen (Bundesminister des Innern 1976, S. 31). Von diesen Flughäfen aus wird das Heroin in Unzenpäckchen nach Amsterdam geschmuggelt, von wo es die in der Bundesrepublik tätigen Händlerringe einschmuggeln. Die Zerschlagung der French Connection hat somit zwar die dort tätigen Organisationen aus dem Geschäft gedrängt, die allgemeinen Tätigkeiten und Erfolge des organisierten Verbrechens auf diesem Gebiet jedoch nicht entscheidend geschwächt: das Geschäft ist lediglich auf andere Organisationen und Kanäle verlagert worden. Ein ähnlicher Interaktionsprozeß zwischen Ermittlern und Schmugglern dürfte auch die auf den ersten Blick erstaunlichen Veränderungen erklären, die dazu führten, daß die Zufuhr von Opium in die Bundesrepublik in den letzten Jahren zugunsten eines verstärkten Heroinimports fast völlig aufgegeben wurde. Die durch verstärkte internationale Verfolgungsmaßnahmen bedingten höheren Risiken und damit Geschäftskosten bedrohten die Profite des organisierten Verbrechens und veranlaßten Veränderungen im Marktverhalten. Als geeignete Strategie bot sich offenbar die Ersetzung des relativ billigen Opiums durch Heroin an. Dieser Maßnahme war der Opiumabhängige in der Bundesrepublik schutzlos ausgeliefert. Die Sicherstellungsstatistik zeigt also kaum mehr an als eine Veränderung in der Marktstrategie des internationalen Verbrechens, die den Konsumenten zum Wechsel der Marke 32«

zwingen und dadurch die Profite der Organisation sichern sollte: Tabelle 1: Mengen sichergestellter Betäubungsmittel (Haschisch, Heroin, Opium), 1966—1975, in kg

1966 1968 1970 1972 1973 1974 1975

Haschisch

Heroin

Opium

135,0 381,0 4332,0 6114,0 4731,9 3910,6 6603,9

0,001 0,494 3,700 15,429 33,005 30,5

8,43 31,88 34,77 47,85 50,58 16,14 4,4

Noch komplizierter gestalten sich die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Betäubungsmittelmißbrauchs auf der Nachfrageseite. Eine besondere Schwierigkeit bedeutet hier die Ungleichartigkeit rechtlicher Kontrolle über den gesamten Drogensektor. Präventive und repressive Maßnahmen haben ihr Teil dazu beigetragen, daß die Zahl der jugendlichen Probierer und Gelegenheitskonsumenten von Haschisch zurückgegangen ist (Bundesminister des Innern 1976, S. 30). Solche punktuellen Erfolge können sich aber durch das Ausweichen der Jugendlichen auf härtere (illegale oder legale) Drogen als Scheinerfolge herausstellen. Die Annahme einer Verlagerungswirkung durch punktuelle repressive Maßnahmen ist angesichts der Gesamtentwicklung der Drogenszene nicht von der Hand zu weisen. Während der Konsum leichter Drogen stagnierte oder zurückging, stieg der harter Drogen weiter an. Gleichzeitig mit der Eindämmung des Gebrauchs illegaler weicher Drogen fand aber auch eine besorgniserregende Welle des Jugendalkoholismus und des Medikamentenmißbrauchs sowie der Mehrfachabhängigkeit (Polytoxikomanie) von illegalen wie legalen psychotropen Substanzen statt (Denkschrift 1976, S. 9). Die dem Betäubungsmittelgesetz innewohnende Tendenz zur Überkriminalisierung der Mehrzahl der Konsumenten steht im Widerspruch zur ursprünglichen Intention des Gesetzgebers, dem Konsumenten eine therapeutische Chance zu lassen. Für die meisten Jugendlichen stellt der Drogenkonsum eine Form des Problemverdrängens dar (Landtag Nordrhein-Westfalen DS 7/3697, S. 29). Die Probleme des Jugendlichen stammen dabei zwar in der Regel aus dessen Alltagswelt (Schule, Familie), doch sind sie letztlich Produkt auch der weiteren gesellschaftlichen Strukturen (Schneider 1976, S. 292f.). Wenn die Jugendlichen mit den formalen Instanzen der sozialen Kontrolle konfrontiert werden, erhalten ihre Probleme einen offiziellen und dramatischen Charakter. Dieser Beitrag zur Dramatisierung des I sozialabweichenden Verhaltens kann nicht erst im

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Rauschmittelmißbrauch: Juristisch-kriminologischer Beitrag

formellen Abschluß des Verfahrens, sondern regelmäßig auch schon in den Aktionen der Ermittlungsinstanzen liegen (Schneider 1974a, S. 42f.). Die Perfektionierung der Sekundärkontrolle zieht also keineswegs automatisch eine Verminderung der delinquenten Handlungen nach sich. Vielmehr besteht zwischen den Handlungen der Delinquenten und denen der formellen Reaktionsinstanzen ein Wechselwirkungsprozeß, der mittels sozialer Stigmatisierungen und den darauf erfolgenden Veränderungen der Selbstbilder festgenommener Verdächtiger dazu führen kann, daß die Kriminalität in eben dem Maße steigt, wie sich die Instanzen sozialer Kontrolle bemühen, ihrer Herr zu werden (Schneider 1974a, S. 43f.). Unter diesem Gesichtspunkt müssen weitere Verschärfungen der Strafbestimmungen — wie etwa die Gesetzesinitiative Nordrhein-Westfalens v o m April 1975 (Kreuzer 1975b) oder das besonders harte Gesetz des Staates N e w Y o r k von 1973 (Cagliostro 1974, Weisman 1975, Winick 1975) — als „rückschrittliche R e f o r m " (Waldmann u. a. 1971) angesehen werden. Trotz ζ. T. sehr hoher Kosten solcher Straf Verschärfungen und des damit oftmals in der Öffentlichkeit verbundenen Eindrucks eines harten und effektiven Durchgreifens gegen Drogentäter seitens des Staates lösen solche Initiativen nichts. Die Festnahmestatistiken vermitteln einen Eindruck v o m Umfang der Aktivitäten der Ermittlungsinstanzen : Tabelle 2: Polizeilich ermittelte Tatverdächtige 1965—1974 Jahr 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 Quelle: Polizeiliche 1974

Tatverdächtige 797 810 1226 1937 4405 16118 23200 22607 24015 25671 Kriminalstatistik, 1965—•

Gegenüber dem bloß repressiven Vorgehen kommt den Versuchen, einen umfassenderen und wirkungsvolleren Ansatz zu finden, eine erhöhte Bedeutung zu. Die Aktionsprogramme der Bundesregierung gegen Drogenmißbrauch indizieren eine solche stärker präventiv-sozialisierende Ausrichtung staatlicher Einflußnahme. In offiziellen Stellungnahmen findet sich ζ. T. auch die Erkenntnis, daß sich in der Konsumsphäre effektive

Veränderungen nur über eine Beeinflussung der Nachfrage erzielen lassen (Landtag NordrheinWestfalen DS 7/3698, S. 17). Die Beeinflussung der Nachfrage erfordert die Veränderung der für die Motivation relevanten Bedingungen. Derartige Situations- und Einstellungsveränderungen sind aber mittels des Strafrechts nur in äußerst begrenztem Maße möglich. Es erhebt sich daher für die Bekämpfung des Drogenmißbrauchs die Frage nach weitergehenden alternativen rechtlichen Möglichkeiten der Reaktion auf die Konsumproblematik. Für die Bundesrepublik dürften dabei vor allem zwei Ansätze von Bedeutung sein: das in Großbritannien praktizierte Modell der Sozialisierung Heroinabhängiger und die Überlegungen zu einer alternativen rechtlichen Behandlung des Umgangs mit Cannabis. Nach den Vorschriften des britischen Dangerous Drug Act und den Dangerous Drug Regulations von 1967/68 können registrierte Heroin-, bzw. Kokainabhängige unter bestimmten Voraussetzungen von Spezialkliniken diese Drogen oder Ersatzstoffe (Methadon) verschrieben bekommen. Diese Maßnahme, die der Mehrzahl der an diesem Programm beteiligten Konsumenten zu sozialer Stabilität und Integration verhalf (Stimson/ Ogborne 1970, V o g t 1975, S. 33ff., Rauschmittelmißbrauch, soziologisch-psychologischer Beitrag), stellte einen erheblichen Beitrag zur Bekämpfung der Drogenkriminalität dar: so wurde der englische Schwarzmarkt für Heroin dem internationalen Verbrechen unattraktiver. Weiterhin blieb die durch die Strukturen des Schwarzmarktes und die Illegalität bedingte Beschaffungsund Folgekriminalität weitgehend aus. Die Diskussion um eine nicht-strafrechtliche alternative Reaktion auf den Cannabiskonsum ist während des Höhepunktes der Drogenwelle mit vielen Emotionen geführt worden. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß dem Haschisch unabhängig von seinen möglichen gesundheitsschädigenden Eigenschaften eine geradezu symbolische Bedeutung im Rahmen des Generationenkonfliktes zukam. Der auf Aggressivität, Aktivität und Effektivität beruhenden Gesellschaft mußte der intravertierend-beruhigende E f f e k t des Haschisch äußerst suspekt, wenn nicht gar als Gefährdung gesellschaftlicher Grundwerte erscheinen (Grinspoon 1969, S. 21); anders als die kulturell und ökonomisch integrierten Drogen stellte Haschisch für die „aktuelle soziale Werterfahrung" (Hassemer 1973, S. 203) dieser Zeit das Symbol einer tiefgreifenden Bedrohung dar. Die in der Öffentlichkeit verbreitete, von den Medien geschürte Angst und Unsicherheit gegenüber den „Rauschgiften" sowie die dadurch erzeugten Abwehrmechanismen der Gesellschaft erschweren auch heute noch eine Ausrichtung der Kriminalpolitik an wissenschaftlicher Erkenntnis.

Rauschmittelmißbrauch: Juristisch-kriminologischer Beitrag Nach den heute vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Wirkungsweise von Haschisch lassen sich die Hypothesen, aufgrund deren Cannabis der internationalen Kontrolle nach den Maßstäben des Opiumabkommens unterworfen wurde, nicht mehr aufrechterhalten. Als mutmaßliche Wirkungen von Cannabis wurden angenommen (Currie et al. 1973, S. 243): 1. 2. 3. 4.

Verschlechterung des physischen Zustandes Verschlechterung des psychischen Zustandes Abhängigkeit Umsteigen auf härtere Drogen

5. Verstrickung in andere, besonders GewaltKriminalität 6. Motivations- und Verantwortungslosigkeit, Faulheit 7. Infragestellung der herrschenden Sozialordnung Schon vor der Signatur des Einheits-Übereinkommens (1961) widersprachen vor allem zwei Studien über Cannabis deutlich den angeführten Annahmen: der Bericht der Indischen Hanfdrogen-Kommission von 1894 und der New Yorker La Guardia Report von 1944 (Leonhardt 1970, S. 79—266). Dies gilt ebenfalls für den britischen Cannabis Report von 1968 (Cannabis 1968). In den siebziger Jahren kamen drei von den Regierungen Kanadas, der Niederlande und den Vereinigten Staaten in Auftrag gegebene Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß keine der sieben Annahmen als bestätigt gelten könne (NonMedical Use of Drugs 1971, Rapport 1972, Marihuana 1972). Da demgegenüber keiner zuverlässigen Untersuchung der Nachweis schädlicher Effekte des Cannabiskonsums gelungen ist (Currie et al. 1973, S. 244), liegt die Dekriminalisierung des Umgangs mit Cannabis — wie sie ζ. B. in den Niederlanden vorangetrieben wird, wo der Besitz von Haschisch künftig (1977) nur noch als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden soll, während der Handel weiterhin unter Kriminalstrafe steht — gedanklich nahe. Dekriminalisierungsbemühungen könnten nicht nur die Verfolgungsinstanzen ganz wesentlich entlasten, sondern müßten dazu beitragen, daß die Mehrzahl der Haschischkonsumenten sowohl vor dem Kontakt mit dem ,harten' Drogenmarkt als auch mit den formalen Instanzen sozialer Kontrolle verschont bleiben. Zwei wesentliche Scharmerstellen in der Entstehung und Verfestigung krimineller Karrieren würden dadurch in ihrer kriminogenen Bedeutung in quantitativer Hinsicht erheblich vermindert. In der Bundesrepublik haben sich die Dekriminalisierungstendenzen (Leonhardt 1970, Homann 1972, Vogt 1975) bislang nicht durchsetzen können, während sie im Ausland ζ. T. schon in amtlichen Kommissionsberichten als Überlegungen zu finden sind (Marihuana 1972, S.

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146—150, Rapport 1972, S. 73; vgl. auch Currie et al. 1973). Eine zusammenfassende Betrachtung der Wirkungsmöglichkeiten des Strafrechtes ergibt keine einfache Formel, die ein erfolgversprechendes Vorgehen gegen die Drogenkriminalität garantieren könnte. Ebenso wie es kriminologisch nicht zu vertreten wäre, sich prinzipiell gegen Dekriminalisierungsprozesse zu wenden, so unbegründet wäre es, die Einsetzbarkeit des Strafrechts im Kontext des illegalen Verkehrs mit Betäubungsmitteln generell zu verneinen. Auch die weitgehende Erfolglosigkeit des Einsatzes repressiver Mittel seit dem Beginn der Bekämpfung des Rauschmittelmißbrauchs zu Anfang des 20. Jahrhunderts (Weisman 1975, S. 112f.) reicht zur Fundierung einer solchen Position nicht aus. Anstatt im repressiven Vorgehen des Staates gleichsam den Ersatz sozialpolitischer Maßnahmen zu sehen und in erster Linie gegen die sozial sichtbarsten Erscheinungsformen des Problems vorzugehen, gebietet es eine rationale Kriminalpolitik, das Strafrecht gemäß seiner spezifischen Eigenarten im Verein mit anderen staatlichen und gesellschaftlichen Einwirkungsmöglichkeiten einzusetzen. Die Erfahrung der Bekämpfung der Rauschmittelkriminalität hat gezeigt, daß ein schwerpunktmäßiges Vorgehen gegen die Masse der Händler-Konsumenten weder spezial-, noch generalpräventiven Erfolg zeitigt. Wirksamkeit hingegen verspricht eine Problemlösungsstrategie, die an den beiden Extremen der Drogenpyramide ansetzt, nämlich einerseits den Quellen der Versorgung von oben (Anbau, Verarbeitung durch organisiertes Verbrechertum) und andererseits dem Konsumbedürfnis und den es bestimmenden Verhältnissen. Die internationale Verbrechensbekämpfung ist im ersten Fall gefordert, das Strafrecht im letzteren bestenfalls ein subsidiäres Einwirkungsmittel neben Präventionsprogrammen und der beharrlichen Schaffung solcher Bedingungen, die den Drogenkonsum nicht zu einer realistisch scheinenden Alternative zur Bewältigung der gesellschaftlichen Wirklichkeit werden lassen können.

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Rauschmittelmißbrauch: Soziologisch-psychologischer Beitrag

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Soziologisch-psychologischer Beitrag A. Einführung Der Drogenkomsum Jugendlicher hat in den letzten Jahren in der Bundesrepublik Deutschland besonders starke Beachtung erfahren. Bis in die Mitte der 60er Jahre wurde Rauschmittelmißbrauch in der BRD eher als untergeordnetes gesellschaftliches Problem betrachtet, von dem — im Gegensatz zum Alkoholismus •— nur wenige Menschen betroffen waren. Drogenabhängigkeit stellte sich weitgehend dar als Folgeproblem des therapeutischen Gebrauchs abhängigkeitserzeugender Medikamente oder als eher individuelles Problem einiger Ärzte oder des medizinischen

Rauschmittelmißbrauch: Soziologisch-psychologischer Beitrag Pflegepersonals mit Zugang zu Betäubungsmitteln. Diese Situation veränderte sich in den Jahren nach 1965 außerordentlich stark. Der zunehmende Konsum bewußtseinserweiternder und in der Folgezeit auch „harter" Drogen unter Jugendlichen fand in der Presse, in wissenschaftlichen Publikationen und auch in offiziellen politischen Verlautbarungen äußerst starke Beachtung. Der Rauschmittelmißbrauch Jugendlicher wurde zum gesellschaftlichen Problem ersten Ranges (deklariert), nicht zuletzt deshalb, weil sich herausstellte, daß ein großer Prozentsatz aller Jugendlichen mehr oder minder direkt von diesem Problem betroffen war. Heute, im Jahre 1975, scheint es, als ob die Drogen welle in der B R D ihren Höhepunkt bereits überschritten hat. Zumindest quantitativ — gemessen an dem Anteil der drogenkonsumierenden Jugendlichen — scheint sich das Problem zu verringern, wenn sich auch qualitativ andere — und möglicherweise schwerwiegendere — Entwicklungen (ζ. B. verstärkter Alkoholismus unter Jugendlichen) bereits abzuzeichnen beginnen. Im folgenden Beitrag sollen Entwicklungstendenzen des Rauschmittelmißbrauchs der letzten Jahre analysiert werden, wobei vor allem der Drogenkonsum Jugendlicher im Vordergrund steht. Der Beitrag beschränkt sich auf den Konsum von unter das Betäubungsmittelgesetz fallenden Rauschdrogen (nur diese sollen hier als „Drogen" oder als „Rauschmittel" bezeichnet werden). Da die Daten der offiziellen Kriminalstatistiken die Drogenproblematik kaum adäquat widerzuspiegeln scheinen (-> Statistik und Kriminalität), stützt sich der Beitrag weitgehend auf empirische, soziologische bzw. sozialpsychologische Untersuchungen zum Drogenkonsum Jugendlicher.

B. Art und Umfang des Konsums und sozialstatistische Merkmale der Konsumenten

1. Drogenkonsum Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland Ein Überblick über die in der Bundesrepublik Deutschland seit 1969 durchgeführten empirischen Studien (Bschor 1969/1970; Wetz 1970; Schwarz et al. 1970 und 1971/1972; Jasinsky 1971 u. 1973; Jungjohann et al. 1971) zeigt, daß seit 1972 der Prozentsatz derjenigen Jugendlichen, die Drogenkontakte haben oder hatten, sinkt; weiterhin sinkt auch die Anzahl der potentiellen Konsumenten, die tendenziell Konsumbereitschaft zeigen. In einer repräsentativen Umfrage über den Rauschmittelgebrauch bei Oberschülern in SchleswigHolstein im Jahre 1970 ermittelten Schwarz et al. (1971), daß von 4647 befragten Jugendlichen bereits 21,7% Erfahrungen mit Rauschmitteln ge-

495

macht hatten. 7 1 , 8 % dieser Konsumenten wurden als „Probierer" bezeichnet; 2 8 , 2 % hatten regelmäßigen Drogenkontakt („User"). Haschischkonsum stand weit an der Spitze ( 9 3 % der Konsumenten), Weckmittel-User bildeten die nächstgrößere Gruppe mit 4 , 9 % . Andere Drogen machten jeweils weniger als 1 % aus. Mittlere Städte und ländliche Regionen waren mit 2 5 , 4 % bzw. 2 1 , 8 % Konsumenten stärker betroffen als die Großstädte ( 1 9 , 4 % Konsumenten). Das Durschchnittsalter beim ersten Drogenkontakt betrug bei den Schülern ca. 16 Jahre (Mädchen 15,8 J a h r e ; Jungen 16,2 Jahre). Der Anteil der weiblichen Konsumenten (15,8%) unter den Schülern war signifikant geringer als der der männlichen (26,2%). Schwarz et al. betonen, daß auch bei den Oberschülern die herkömmlichen Genußmittel und Medikamente weit stärker als illegale Drogen verbreitet sind: 5 % konsumieren häufig Alkohol, 2 9 % Medikamente und 4 1 , 3 % sind Raucher. In einer repräsentativen Wiederholungsbefragung Ende 1971/Anfang 1972 wurden 4995 Ober-, Real- und Berufsschüler befragt. Die wichtigsten Trendveränderungen beim Drogenkonsum der Oberschüler: die Rauschmittelerfahrung stieg um nur 1 % auf 22,7%. 1970 hatte etwa die Hälfte der Drogenerfahrenen den Konsum eingestellt; bei der Wiederholungsuntersuchung waren es etwa 2/3. E s war aber ein deutlicher Rückgang des vorsichtigen Konsumverhaltens zu verzeichnen; nur noch 5 3 , 6 % der Konsumenten waren als Probierer zu bezeichnen. Nachdem der Anteil der Haschischkonsumenten etwa unverändert blieb, war die Gruppe von Weckamin-Konsumenten, Polytoxikomanen, starken Halluzinogen-Usern und OpiatKonsumenten angewachsen. Bei jüngeren Jahrgängen (14—16 Jahre) zeigte sich ein deutlicher Rückgang des Konsums überhaupt. Bei Oberschülerinnen nahmen Konsumbereitschaft, Intensivierung und Beibehaltung des Konsums erheblich zu. Bei Jugendlichen aller Schultypen waren Ober- und Mittelschichtsangehörige stärker vertreten als Unterschichtsjugendliche. Bei Realund Berufsschülern stellten Schwarz et al. in ihrer Wiederholungsuntersuchung fest, daß die Gruppe der Polytoxikomanen (21,1%) und Usern anderer Drogen außer Haschisch bereits 3 1 , 5 % aller Konsumenten betrug; bei den Berufsschülern lag der Anteil von Weckamin-Usern alleine bei 15,1%, weitere 1 4 % waren Polytoxikomanen bzw. verteilten sich auf Halluzinogen- und Opiatkonsumenten. In Realschulen neigten Mädchen zu stärkerem Drogenkonsum als Jungen. Jasinsky befragte im April 1971 4797 Hamburger Schüler aller Schularten über Drogenerfahrungen. 1 8 , 1 % der Jugendlichen nahmen regelmäßig Drogen („User"). 4 , 8 % hatten zumindest gelegentlich Rauschmittelkontakte gehabt („Probierer"). Mehr als 9 0 % der Konsumenten hatten Haschischerfahrung; für rund 2/3 dieser

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Rausehmittelmißbrauch: Soziologisch-psychologischer Beitrag

Gruppe blieb es die einzige Kauschdroge; ein Drittel hatte auch Weckmittel konsumiert, 17,5% hatte Halluzinogene genommen. Opiate und andere machten einen Anteil von 19,2% an den konsumierten Drogen aus. Jugendliche der Oberschicht und der oberen Mittelschicht waren bei Konsumenten aller Schultypen stark überrepräsentiert, die Unterschichtsangehörigen unterrepräsentiert. Große Unterschiede zeigten sich in der Beziehung Konsum/Schultyp: 14,4% der Schüler allgemeinbildender Schulen (Haupt-, Realschulen, Gymnasien) und mehr als doppelt so viele, nämlich 31,9% der Schüler berufsbildender Schulen (gewerbliche Berufsschulen, Handels- und Höhere Handelsschulen, Gewerbe- und Hauswirtschaftsschulen usw.) hatten Drogenerfahrung; in einigen dieser Schulen sogar zu mehr als 5 0 % . Zur Zeit des ersten Kontakts mit Rauschmitteln waren 54,8% der Konsumenten 16 Jahre alt oder jünger. Die im April 1973 an einer Stichprobe etwa gleicher Größe und Stratifizierung durchgeführte Wiederholungsbefragung zeigte einen Rückgang im Drogenverhalten der Hamburger Schüler. Nur 17,9% der Befragten hatten Kontakte mit Rauschmitteln, d. h. die Anzahl der Konsumenten ging in den letzten zwei Jahren um mehr als Vs zurück. Der Anteil der „User" in den Schulen ging sogar um rund die Hälfte zurück, auf 9 , 6 % ; dafür stieg der Prozentsatz der Probierer und „Aufhörer" um fast das Doppelte auf 8 , 3 % an. In der Art der konsumierten Drogen ergaben sich einige Verschiebungen gegenüber der ersten Untersuchung: der Haschischanteil lag bei 9 1 % ; den stärksten Anstieg verzeichnete der Halluzinogenverbrauch (jetzt 22,4%). Unabhängig von der Schulart waren wiederum Jugendliche der Ober- und oberen Mittelschicht überrepräsentiert. Eine Analyse der Entwicklung des Drogenverhaltens bezogen auf die Schulart zeigte, daß der Konsum relativ am stärksten in den Hauptschulen rückläufig war (um 45,4%); danach folgen Gewerbe- und Hauswirtschafts- sowie weitere berufsbildende Schulen mit einem Rückgang von 39,1% bei den männlichen Konsumenten. Am geringsten war dieser Trend bei den Gymnasien (2,6%) und Handelssowie Höheren Handelsschulen (14,9%). Hinsichtlich des Alters beim ersten Konsum zeigte sich — bei Abnahme der absoluten Konsumentenzahlen— ein deutlicher Trend in Richtung auf eine Beteiligung jüngerer Jahrgänge. Der Anteil der weiblichen Konsumenten verminderte sich relativ stärker als der der männlichen. Jasinsky stellte fest, daß trotz des Rückganges beim Konsum illegaler Rauschmittel ein erheblicher Anstieg des exzessiven Alkoholkonsums besonders bei jüngeren Schülern zu verzeichnen war. Bei den weiblichen Konsumenten bis zu 14 Jahren gab es sogar einen Anstieg um mehr als das Fünffache gegenüber 1971, aber auch bei allen anderen stieg das Maß des exzessiven Alkoholgebrauchs.

Im Juni 1971 führten Jungjohann et al. ihre repräsentative Untersuchung zum Drogenverhalten von Oberschülern in Essen durch. Sie stellten fest, daß 13,6% der Jugendlichen bereits Drogenkontakte hatten. Fast 8 0 % dieser Gruppe hatten Haschischerfahrung; für mehr als die Hälfte blieb dies die einzige Droge. Als starke Haschischkonsumenten waren davon eigentlich nur ca. 1 2 % zu bezeichnen. Etwa 3 5 % der Drogenerfahrenen hatten Haschisch und mindestens eine andere Droge konsumiert; ungefähr 1 8 % aller Konsumenten hatten keinen Haschischkontakt gehabt. Mehr als die Hälfte der Haschischkonsumenten hatte den Konsum zum Zeitpunkt der Befragung bereits wieder eingestellt. Die nach Haschisch am meisten verwendeten Drogen waren in der Essener Schülerpopulation Schlafmittel, LSD, Captagon, Opium und AN 1. Das Haupteinstiegsalter für Haschischkonsum liegt in dieser Gruppe etwa bei 15—17 Jahren. Nach Geschlechtern wurde nicht differenziert. Als wesentliche Trends dieser und anderer Untersuchungen 1969—1973 lassen sich erkennen: 1. In der Schülerpopulation sinkt — deutlich sichtbar seit 1972 — der Prozentsatz der J u gendlichen, die Drogenkontakte haben oder hatten. 2. Ebenso nimmt die Anzahl potentieller Konsumenten ab, also der Schüler, die tendenziell Konsumbereitschaft zeigen. Dennoch lassen sich in der Ausprägung des Konsums und an einigen soziographischen Merkmalen der Jugendlichen Trends feststellen, die ziemlich eindeutig auf ein Anwachsen wirklich gefährlichen Drogenverhaltens hinweisen: 1. Das vorsichtige Konsumverhalten läßt nach. Gegenüber reinen Haschischkonsumenten ist der Anteil von Weckmittel-Usern, Halluzinogen-Usern, Polytoxikomanen usw. prozentual stark angewachsen. 2. Das Einstiegsalter junger Konsumenten sinkt. Besonders Jasinsky (1973) stellte einen deutlichen Trend in Richtung auf die Beteiligung jüngerer Jahrgänge fest. 3. Weibliche Drogenerfahrene verhalten sich resistenter als männliche; auch wenn sie nach wie vor in der Minderzahl sind, ist doch ihr Anteil an echten Usern, besonders in der Altersgruppe unter 17 Jahren, stark angestiegen. Gleiche Ergebnisse berichten auch Stahl und Panzer (1973). 4. Der Konsum legaler Drogen, besonders der exzessive Alkoholgebrauch, ist in der Schülerpopulation stark im Ansteigen begriffen. Zu den oben genannten Untersuchungsergebnissen ist ergänzend anzumerken, daß sie über-

Rauschmittelmißbrauch: Soziologisch-psychologischer Beitrag wiegend an Schülern gewonnen wurden, ζ. T. an Schülern, die älter als 14 Jahre und deshalb nicht mehr schulpflichtig sind. Der Vorteil dieser Untersuchungen liegt darin, daß ein Bild über Drogenkonsum Jugendlicher gewonnen werden kann, ohne auf offizielle Kriminalstatistiken zurückzugreifen, die wahrscheinlich kein realitätsgerechtes Bild über die Drogensituation in der BRD vermitteln können. Als Nachteil ist zu erkennen, daß in diesen Stichproben die „ausgeflippten" Jugendlichen nicht enthalten sind, also diejenigen, die ihre schulische oder berufliche Ausbildung abgebrochen haben. Verschiedene Untersuchungen (Kühne 1974; Gerdes/von Wolffersdorff-Ehlert 1974) weisen aber darauf hin, daß sich die Konsumenten „harter" Drogen aus eben jenem Kreis von Jugendlichen zusammensetzen. Während der Konsum „weicher" Drogen eher als Phänomen der Mittel- und Oberschichtsjugendlichen zu betrachten ist, gehören die Konsumenten „harter" Drogend überwiegend den untersten sozioökonomischen Schichten an. Sie rekrutieren sich häufig aus zerbrochenen Familien und haben oft bereits mehrere Heim- oder auch Gefängnisaufenthalte hinter sich. Fast alle verfügen über eine äußerst unzureichende schulische und berufliche Ausbildung.

2. Drogenkonsum im

Ausland

Drogenkonsum ist in der Regel nicht auf bestimmte Nationen beschränkt, sondern Länder mit vergleichbarer Gesellschaftsstruktur weisen vergleichbare Erscheinungen auf. Den Untersuchungsergebnissen aus der BRD sollen deshalb im folgenden einige Resultate aus europäischen Ländern und aus den USA gegenübergestellt werden, um so eine breitere Basis für die Beurteilung des Rauschmittelmißbrauchs zu schaffen. a) N i e d e r l a n d e : Buikhuisen und Timmermann (1972) befragten im Jahre 1969 11659 Schüler der Abschlußklassen (17—25 Jahre) weiterführender Schulen (secondary schools, schools of arts, technical schools) in 21 niederländischen Städten. 11,15% der Schüler hatten eine oder mehrere Drogen konsumiert, davon 2,5% mehr als 20 mal. Haschisch und Marihuana waren die am häufigsten konsumierten Drogen (88,3% der Konsumenten), gefolgt von Amphetaminen und LSD (13,7% und 12,3% der Konsumenten) und Opiaten und Heroin (7,2%). Der Anteil der Drogenkonsumenten unter den befragten männlichen Schülern betrug 13,53% ,unter den befragten Schülerinnen 7,2%. Die Autoren klassifizierten die Berufe der Väter ihrer befragten Schüler nach Ober-, Mittel- und Unterschicht und registrierten eine Überrepräsentierung der Oberschichtsschüler unter den Drogen-

497

konsumenten (der Anteil der Oberschichtsschüler in der befragten Population betrug 26,6%, unter den Drogenkonsumenten jedoch 35,4%). Die Mittelschichtschüler waren unterrepräsentiert (ihr Anteil in der gesamten Schülerpopulation lag bei 56,9%, in der Gruppe der Drogenkonsumenten jedoch nur bei 41,0%). Der Anteil der Unterschichtsangehörigen bei den Drogenkonsumenten entsprach der Anzahl der Unterschichtsangehörigen in der gesamten Schülerpopulation. In einer Wiederholungsstudie im Herbst 1971 wurden 17808 Schüler gleichartiger Schulen in 32 niederländischen Städten befragt. Zu diesem Zeitpunkt hatten 20,3% aller Schüler jemals eine oder mehrere Drogen konsumiert, davon 6,5% mehr als 20 mal. Folgende Drogen wurden konsumiert: Haschisch (95,9%), Amphetamine (14,7%), LSD (11,7%) und Opiate (6,5%). Im Vergleich zu 1969 hatten mehr Konsumenten ihren Drogenkonsum gestoppt, d. h. sie hatten im letzten halben Jahr vor der Befragung keine Drogen mehr konsumiert (2,9% im Jahre 1969; 6,9% im Jahre 1971). Hinsichtlich der Zugehörigkeit zu sozialen Schichten waren keine Unterschiede mehr zwischen den Verteilungen in der Gesamtpopulation und unter den Drogenkonsumenten zu registrieren. Im Jahre 1973 führten Buikhuisen u. a. noch einmal eine Wiederholungsstudie mit einer vergleichbaren Stichprobe in den gleichen Städten durch (N = 18043). 19,7% der befragten Schüler und Schülerinnen hatten eine oder mehrere Drogen konsumiert, davon 7,9% mehr als 20 mal. Es waren annähernd die gleichen Drogen konsumiert worden wie im Jahre 1971. Von den befragten männlichen Schülern hatten 22,7% Drogenerfahrungen; bei den Schülerinnen waren es 15,5%. Oberschichtsschüler waren etwas häufiger unter den Drogenkonsumenten vertreten als in der gesamten Befragungsstichprobe. Faßt man die Ergebnisse dieser niederländischen Untersuchungen zusammen, so läßt sich feststellen: Der starke Anstieg des Drogenkonsums zwischen 1969 und 1971 hat sich bis 1973 nicht fortgesetzt, eher war 1973 ein leichter Rückgang zu verzeichnen. Unter den Drogenkonsumenten steigt jedoch die Anzahl derer, die irgendeine Droge häufig (mehr als 20 mal) konsumieren. In der Art der konsumierten Drogen zeigten sich kaum Veränderungen. Das Verhältnis von weiblichen zu männlichen Konsumenten ist über die untersuchten Jahrgänge hinweg relativ konstant geblieben; die Schichtzugehörigkeit der Konsumenten ist repräsentativ für die gesamte Stichprobe der befragten Schüler(innen). b) D ä n e m a r k : Winslew und Holstein (1972) faßten die Ergebnisse verschiedener dänischer Untersuchungen aus den Jahren 1967—1971 zu-

498

Rauschmittelmißbrauch: Soziologisch-psychologischer Beitrag

Haschisch Kopenhagen Kopenhagen Dänemark Dänemark Alborg Alborg Hj0rring Roskilde

1967 1968 1968 1970 1970 1971 1971 1971

17% 17% 12% 24% 14% 23% 12% 26%

LSD



1% 1% —

1% 2% 1% 2%

Amphetamine —

2% —

3% 2% 2% 1% 4%

Opiate



4% — —

2% 2% 1% 3%

Schnüffelstoffe .—

6% — —

4% 5% 2% 3%

Quelle: Winsl0w und Holstein 1972, S. 11

sammen. In diesen Untersuchungen wurden über ihren Drogenkonsum befragt: 1. 318 Jugendliche aus Kopenhagen im Alter von 14—17 Jahren (1967); 2. 1359 Personen zwischen 14 und 20 Jahren aus der Umgebung von Kopenhagen (1968); 3. etwa 14000 Personen zwischen 14 und 20 Jahren aus ganz Dänemark (1968); 4. 3097 Personen zwischen 14 und 20 Jahren aus ganz Dänemark (1970); 5. 2843 Personen zwischen 12 und 23 Jahren aus Alborg (1970); 6. 3251 Personen zwischen 12 und 23 Jahren aus Alb org (1970); 7. 1930 Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren aus Hjerrmg (1971); 8. 3928 Personen zwischen 12 und 17 Jahren aus Roskilde (1971). Die obenstehende Tabelle gibt an, wieviel Prozent der Befragten Drogenerfahrungen hatten: c) USA: Aufgrund einer Anzahl von Einzeluntersuchungen, die miteinander kaum vergleichbar sind, ist es äußerst schwierig, die amerikanische Drogensituation darzustellen. Abweichend von der bisherigen Darstellungsmethode soll deshalb im folgenden nach Drogentypen differenziert werden, um so wenigstens indirekt Entwicklungsverläufe sichtbar werden zu lassen. Der Konsum von Halluzinogenen und Amphetaminen stieg in den letzten Jahren vor allem unter nordamerikanischen Schülern und Studenten stark an. 1964 ermittelten McGlothlin und Cohen (1965) einen Anteil von 10,7% Marihuana-Erfahrenen unter College-Studenten im Nordwesten der USA; desgleichen fand Pearlman (1965) unter 1245 Studenten nur 4,2% Marihuana-Konsumenten. Verschiedenste, nach 1967 durchgeführte Untersuchungen (Berg 1970) zeigen dagegen unter Schülern und Studenten einen Anteil von durch-

schnittlich 25%—30% Marihuana-Erfahrenen auf. Dem Konsum von Marihuana (und teilweise auch LSD) kommt in dieser Bevölkerungsgruppe anscheinend eine ähnliche soziale Funktion bei geselligen Zusammenkünften zu wie dem Alkohol bei anderen Altersgruppen und anderen gesellschaftlichen Schichten. Barter, Mizner und Werne (Berg 1970, S. 2) befragten im Jahre 1969 mehr als 26000 Studenten in 9 Colleges, Universitäten und Berufsschulen der USA über ihre Drogenerfahrungen. 26% aller Befragten hatten Erfahrungen mit Marihuana, 14% mit Amphetaminen, jeweils 10% mit Barbituraten und Beruhigungsmitteln. Eine Gallup-Umfrage aus dem Jahre 1969 (Berg 1970) unter 1092 amerikanischen Collegestudenten der gesamten USA ermittelte bei 31,9% Marihuana-Erfahrungen, bei 13,5% Erfahrungen mit Amphetaminen, 8,2% LSD-Konsum. Eine im gleichen Jahr durchgeführte Umfrage unter Erwachsenen (älter als 21 Jahre) ergab, daß in der Gesamtbevölkerung nur 4% Erfahrungen mit Marihuana hatten (Berg 1970 S. 21). Verschiedene Gallup-Umfragen aus den folgenden Jahren ergaben bei Collegestudenten eine starke Zunahme des Marihuana-Konsums: Im Herbst 1970 hatten bereits 42% Erfahrungen mit Marihuana, im Herbst 1971 waren es 51%. Im Frühjahr 1974 gaben 55% der Collegestudenten an, Marihuana geraucht zu haben: 60% aller männlichen und 46% aller weiblichen Studenten, wobei die Bereitschaft zum Konsum proportional zum Einkommen der Eltern anstieg (Gallup opinion index, NO. 109,1974). Koval und Babst (1973) untersuchten im Jahre 1970 den Drogenkonsum im Staate New York. In einer Repräsentativ-Untersuchung wurden 7378 Probanden interviewt. 10,5% der Gesamtbevölkerung (20% der Jugendlichen von 14—17 Jahren) hatten Marihuana-Erfahrungen, 15,8% (15,4%) Erfahrungen mit Stimulantien. Der Gebrauch von Barbituraten/Sedativa war bei Jugendlichen von 14—17 Jahren geringer (ca. 10%) als in der Gesamtbevölkerung New Yorks (ca. 20%).

Rauschmittelmißbrauch: Soziologisch-psychologischer Beitrag Opiatabhängigkeit scheint in den USA weitgehend mit Armut, Ausbeutung, Urbanisierung und Zugehörigkeit zu ethnischen Minderheiten assoziiert zu sein. Das Federal Bureau of Narcotics registrierte im Dezember 1964 66000 Suchtkranke. 28% dieser Personen waren Weiße. 63% waren Schwarze, der Rest Puertoricaner (6,8%) und Mexikaner(ll,6%) (Maurer u. a. 1967, S. 26). Die Staaten New York, California und Illinois stellten annähernd 77% der registrierten Opiatabhängigen, die meistens aus den großen Städten dieser Staaten kamen. Da in der Regel zudem ganz bestimmte Stadtbezirke betroffen waren, wird der Zusammenhang mit der ökonomischen und sozialen Unterprivilegierung offensichtlich. Die Altersgruppen der Opiatabhängigen im Jahre 1964 lagen in der Hauptsache bei 21 bis 30 Jahren (46,7%) und 31 bis 40 Jahren (38%). Nur 3,6% der registrierten Süchtigen waren zu diesem Zeitpunkt unter 21 Jahre alt (Maurer u. a. 1967, S. 303). Im Jahre 1967 waren dem Bureau of Narcotics bereits 108424 Opiatabhängige bekannt (Ball und Chambers 1970). Wiederum stellte sich Opiatabhängigkeit zur Hauptsache als Problem der großen Städte New York, Chicago (Illinois) und Los Angeles (California) heraus; über die Hälfte der Süchtigen lebte in diesen Städten, hier wiederum fast immer in den Slums. Die Süchtigen waren zu mehr als 80% unter 40 Jahre alt und zu etwa 80% männlichen Geschlechts. Das am stärksten verwandte Opiat war Heroin; es wurde von ca. 80—90% aller Suchtkranken verwandt. Im August 1970 konstatierten Koval und Babst (1973) in einer Repräsentativ-Befragung im Staate New York bei 8,6% ihrer befragten Personen (N = 7378) Opiaterfahrungen. Barter, Mizner und Werne ermittelten 1969 unter 26111 amerikanischen Studenten eihen Anteil von 2% Opiat-Erfahrenen (Berg 1970, S. 26), ähnlich Blum (1969), der durchschnittlich 1—2% OpiatKonsum unter Studenten in Kalifornien fand. Das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit (1972) weist in diesem Zusammenhang hin auf die „Entwicklung von zwei voneinander abgrenzbaren Mißbrauchsmustern ,dem Slumtyp (dem Elendskonsum) des Heroin-Mißbrauchs mit wenig anderen, zusätzlichen Drogen und dem LSD-Hippie-Typ polytoxikomaner Prägung der weißen Mittelschicht, mit einer Vielzahl verschiedener Drogen" (S. 11).

C. Die Frage nach den Ursachen 1. Konflikte im sozialen

Nahraum

Schwarz und andere (1971) fanden bei jugendlichen Usern signifikant häufiger soziale Störungen als bei Jugendlichen, die dem Drogenkonsum

499

ablehnend gegenüberstanden: Ein schlechtes Verhältnis zur Schule zeigten ca. 34% der Konsumenten, aber nur 6% der Abstinenten ohne Konsumabsicht. Die Verhältnisse liegen ähnlich beim Kriterium „Familienleben unerfreulich" (34,6% gegenüber 8%), sogenannten „broken-home"Situationen (ca. 20% gegenüber 9%) und der Häufigkeit des Vorkommens von frühkindlichen Störungen (38,5% der User und 19% der Abstinenten). Schwarz u. a. betonen, daß die Tendenz zum Drogenkonsum bei noch drogenunerfahrenen Schülern mit der Häufigkeit psychosozialer Schwierigkeiten parallel läuft. Die sozialen Konflikte konnten in dieser Studie meistens weniger als Folgen der Drogeneinnahme gesehen werden, sondern mußten vielmehr als deren Ursache interpretiert werden. Auch Jasinsky (1971) stellte Störungen im sozialen Nahraum signifikant häufiger bei Konsumenten als bei Nichtkonsumenten fest. In einer empirischen pilot-study an 383 jugendlichen Ratsuchenden in einer Jugendberatungsstelle (Stahl und Panzer 1973) wurden 241 Drogenkonsumenten und 142 Jugendliche, die die Beratungsstelle wegen anderer Probleme aufsuchten, über 2 Jahre hindurch betreut und systematisch befragt. Die Auswertung der Ergebnisse zeigt, daß es im familiären Bereich bei vielen der jugendlichen Usern „im Verlauf der puberalen Entwicklung zu massiven Auseinandersetzungen kam." Die Autoren konnten feststellen, daß eine Analyse der Familienstruktur keine Hinweise auf Differenzierungen zwischen Konsumenten und Nichtkonsumenten erlaubte. Die Beurteilung von Familienatmosphäre und -Zusammenhalt durch die Jugendlichen bewies aber, daß sich bei den Drogengefährdeten im familiären Raum mehr Konflikte und Auseinandersetzungen abspielten als bei der Vergleichsgruppe. „Zusammenfassend können wir feststellen, daß drogengefährdete Jugendliche nicht primär aus äußerlich gefährdeten oder gestörten sozialen Schichten kommen, daß bei ihnen aber im Vergleich zur Kontrollgruppe die soziale Integration der Familie häufiger mißlingt und daß dadurch die Gefahr produziert wird, ganz auszusteigen und soziale Verbindungen in der derzeitigen Umgebung abzulehnen." (S. 233). Reuband (1974) interpretiert die Bereitschaft zum Rauschmittelkonsum als Ausdruck der normativen Entfremdung gegenüber den Vertretern des herrschenden Normensystems (Eltern, Lehrer usw.). Bei einer gestörten Beziehung zwischen Vertretern dieser Normen steigt die Bereitschaft zu einem von ihnen mißbilligten Verhalten. „Die Form der Delinquenz kann daher zweierlei sein, einerseits Ausdruck der Entfremdung gegenüber dem herrschenden Normensystem, andererseits ein Versuch, die als unangenehm empfundene Realität durch eine angenehmere zu ersetzen" (S. 6).

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Rauschmittelmißbrauch: Soziologisch-psychologischer Beitrag

2. Persönlichkeit und Motivation als Verursachungsjaktoren Der überwiegende Teil der Autoren, die sich mit dem illegalen Drogenkonsum von Jugendlichen beschäftigt haben, versucht, die Drogeneinnahme durch eine Interaktion zwischen Droge, Persönlichkeit des Konsumenten und aktueller Umweltsituation zu erklären. Den Persönlichkeitsmerkmalen des Konsumenten wird dabei relativ viel Beachtung geschenkt. Die Ergebnisse verschiedenster Untersuchungen zur Persönlichkeit von Rauschmittel-Konsumenten stellen sich zum Teil als äußerst widersprüchlich dar. Die Schwierigkeit bei der Untersuchung dieser Variablen waren im wesentlichen folgende: Fast alle Persönlichkeitseigenschaften, die bei Drogenkonsumenten festgestellt wurden, sind unspezifisch und können sowohl bei vielen Formen abweichenden Verhaltens als auch bei sich konform verhaltenden Individuen registriert werden. Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale alleine unterscheiden nicht zwischen Rauschmittelkonsumenten und Nichtkonsumenten. Es gibt nicht den Typ des Drogenkonsumenten beziehungsweise Drogenabhängigen. Der süchtige Arzt, der weiterhin seinem Beruf nachgeht, unterscheidet sich soziologisch und psychologisch stark von dem Heroinsüchtigen eines amerikanischen Slums. Ein großer Teil der widersprüchlichen Untersuchungsergebnisse zur Persönlichkeit von Drogenkonsumenten erklärt sich sicherlich durch die Art der Konsumenten-Stichprobe. Bisherige Persönlichkeitsuntersuchungen wurden zum großen Teil an Probanden durchgeführt, die psychiatrisch oder psychologisch betreut wurden oder aber hospitalisiert, beziehungsweise inhaftiert waren. Die Untersuchungsstichproben waren deshalb ungeheuer fehlerbehaftet, Generalisierungen auf die gesamte Gruppe der Konsumenten nicht möglich. Lindesmith (1965) weist zudem darauf hin, daß es stark von Ausbildung und wissenschaftlicher Orientierung des Wissenschaftlers abhängig zu sein scheint, welche Persönlichkeitszüge er als Bedingung für eine spätere Drogenabhängigkeit ansieht. Weiterhin wurde in der Literatur häufig nicht genügend danach unterschieden, welche Persönlichkeitseigenschaften vor der ersten Drogeneinnahme vorhanden waren, welche Persönlichkeitsveränderungen mit dem fortgesetzten Gebrauch der Droge und der damit verbundenen Integration in eine Drogensubkultur einhergingen und welche Persönlichkeitsstörungen der schwer Drogensüchtige aufweist. Generell betrachten wir es als äußerst unzureichend, einer in der Literatur weit verbreiteten statischen Betrachtungsweise folgend, einfach Unterschiede hinsichtlich der Persönlichkeitsmerkmale zwischen bereits Drogenabhängigen und einer Kontrollgruppe von Nichtabhängigen heraus-

zuarbeiten. Diese Art von Untersuchungen birgt die Gefahr in sich, daß Persönlichkeitsmerkmale, die möglicherweise erst als Folge des Drogenkonsums und der damit verbundenen sozialen Isolierung und Stigmatisierung entstanden sind, als ursächlich für den Beginn des Drogenkonsums betrachtet werden. Mit diesen Aussagen soll auf keinen Fall bestritten werden, daß bestimmte Persönlichkeitsmerkmale mitverursachend für eine beginnende Drogenkarriere sein können. Wenn im folgenden einige Untersuchungsergebnisse zur Persönlichkeit von Rauschmittelkonsumenten referiert werden, sollten dabei folgende Unterscheidungen im Auge behalten werden: a) Persönlichkeitsmerkmale, die mit ursächlich für den Beginn des Drogenkonsums bzw. die Entwicklung der Drogenabhängigkeit sein können; b) Persönlichkeitsveränderungen, die mit dem fortdauernden Gebrauch von Drogen einhergehen. Wanke et al. (1972) untersuchten eine Stichprobe von psychiatrisch und psychologisch betreuten Jugendlichen in Frankfurt daraufhin, ob es eine persönliche Disposition zu Rauschmittelmißbrauch gibt, mit Hilfe des Freiburger Persönlichkeitsfragebogens und fanden, daß Rauschmittelabhängige dem extrovertiert-labilen Pol zuzuordnen sind (S. 42). Mehr als die Hälfte der Probanden zeigte bereits vor dem Drogenkonsum Verhaltensstörungen. Wetz (1970) untersuchte in seiner Befragung an Kölner Schülern verschiedene Persönlichkeitsdimensionen mit Hilfe des Freiburger Persönlichkeitsinventars und kam zu dem Ergebnis, daß sich bei keiner der untersuchten Dimensionen ein direkter Zusammenhang zwischen Rauschmittelkonsum und Persönlichkeitsdimension konstatieren ließ in dem Sinne, daß mit zunehmendem Rauschmittelkonsum die Ausprägung einer solchen Dimension immer deutlicher wurde (S. 108). Dennoch waren auch hier bereits vor dem Beginn des Rauschmittelkonsums starke Konflikte und eine ablehnende Einstellung zum Elternhaus bemerkbar, wobei mit zunehmendem Drogenkonsum diese Einstellung immer negativer wurde. Hekimian und Gershon (1968) untersuchten 112 hospitalisierte Drogenabhängige. Der Hälfte der Heroinabhängigen wurden nachträglich für die Zeit vor ihrer Heroinabhängigkeit soziopathische Persönlichkeitsstörungen zugesprochen. 6 von 8 Probanden der MarihuanaGruppe wiesen nach Ansicht der Autoren bereits vorher schizoide Persönlichkeitszüge auf, ein ähnliches Ergebnis wurde auch für die Gruppe der Amphetamin- und Halluzinogen-Konsumenten erzielt. Generell wurde also in allen Gruppen von Drogenkonsumenten, die später in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurden, signifikantes Vorkommen vorheriger ernsthafter psychiatrischer Störungen beobachtet. Kielholz und Ladewig (1972) folgerten aus verschiedenen Untersuchungen: „Bezüglich der Charakterstruktur

Rauschmittelmißbrauch: Soziologisch-psychologischer Beitrag überwiegend prämorbid unter den Drogenabhängigen ängstliche, verschlossene, sensitive, leicht verletzliche Persönlichkeiten mit asthenischleptosomer Konstitution. Oft sind es Menschen mit übergewissenhaften, ehrgeizigen, perfektionistischen Charakterzügen. Die Diskrepanz zwischen Ehrgeiz und Leistungsfähigkeit, zwischen Wollen und Können führt zu dauernden emotionellen Spannungen, aber auch zu Insuffizienzgefühlen. Wir finden bei diesen Menschen als Zeichen ihrer Unreife erhöhtes Anklammerungsbedürfnis, Frustrationsintoleranz, Omnipotenzphantasien, Riesenerwartungen an die Umwelt, Angst vor Bindungen wie auch selbstzerstörerische Impulse" (S. 25). Weiterhin führen die Autoren frühkindliche Frustrationserscheinungen (broken-homeSituation), daraus resultierende neurotische Fehlentwicklung, sexuelle Fehlentwicklungen, aktuelle Streßsituationen, Pubertätskonflikte und gesellschaftliche Umstruktuierung als ätiologische Faktoren an. Blum u.a. (1970) verglichen 71 LSD-Konsumenten mit einer ähnlich strukturierten Kontrollgruppe von 47 Personen, denen LSD angeboten wurde, die es aber ablehnten. Die Autoren hofften auf diese Weise herauszufinden, wodurch sich Personen, die LSD konsumieren, von denen unterscheiden, die den Konsum ablehnen, obwohl Gelegenheit dazu bestand. Sie erwarteten, daß die Annahme oder Ablehnung von LSD von vier generellen Faktoren abhängig sein würde: 1. den Vorinformationen über LSD-Effekte, verbunden mit der Art der Lebenserwartung, an der der potentielle Konsument interessiert ist; 2. der Beziehung zwischen potentiellem LSD-Konsumenten und dem Anbietenden in Bezug auf Status, Macht, Vertrauenswürdigkeit; 3. den Lebensumständen des potentiellen Konsumenten in Bezug auf generelle Zufriedenheit oder Enttäuschung; 4. der Persönlichkeit des potentiellen Konsumenten, wobei besonders Ich-Kontrolle, Flexibilität und Gefühle des Vertrauens berücksichtigt wurden. Die Probanden sowohl der Experimental- als auch der Kontrollgruppe bekamen die Droge meistens durch Freunde oder Bekannte angeboten. Macht und Status des Anbietenden gegenüber dem potentiellen Anfänger scheinen eine große Rolle bei der Entscheidung über Ablehnung oder Annahme des LSD-Konsums zu spielen. Wenn Personen in einer institutionell verantwortlichen oder übergeordneten Rolle (ζ. B. in einem LehrerSchüler-Verhältnis) einer anderen Person LSD anbieten, dann wird das Angebot eher angenommen. Diejenigen, die den Drogenkonsum akzeptierten, besaßen in stärkerem Maße positive Vorinformationen über Drogenwirkungen als die Probanden der Kontrollgruppe. Hinsichtlich der Motive und Lebensumstände der Ablehnenden waren drei Hauptaspekte zu beobachten: a) LSD

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wurde als ungewöhnliche Erfahrung betrachtet, die nicht gewünscht wurde, hauptsächlich weil das Leben als befriedigend betrachtet wurde oder bekannte Vergnügungen vorgezogen wurden; b) es bestand Angst vor einem Verlust von Selbstkontrolle, entweder gegenüber sich selbst oder seiner Umgebung; c) man befürchtete negative Erfahrungen und Bedrohungen durch die Droge. Bei den Konsumenten überwog der Wunsch nach Selbstveränderung und neuer Selbsterkenntnis, das Interesse und die Neugier oder der Wunsch nach Förderung ästhetischer oder sensorischer Erfahrungen. Die Personen der ablehnenden Kontrollgruppe berichteten sehr viel weniger als die Personen der Experimentalgruppe, daß sie ihr Leben zur Zeit des LSD-Angebots als unbefriedigend empfunden hätten. 36% der Konsumenten berichteten von innerpsychischen Problemen, 14% hatten Schwierigkeiten in ihren sozialen Beziehungen usw. Zum größten Teil wurden die Schwierigkeiten in der eigenen Persönlichkeit gesehen. Sowohl die Gruppe der Ablehnenden als auch die Gruppe der Konsumenten glaubte in den Jahren nach dem ersten LSD-Angebot Verbesserungen hinsichtlich ihrer persönlichen Probleme und ihrer sozialen Beziehungen konstatieren zu können; in der Kontrollgruppe fielen diese Einschätzungen jedoch positiver aus. Die objektiven Veränderungen (ζ. B. Berufswechsel) unterschieden sich in beiden Gruppen kaum. Die Frage, ob mit dem ständigen Gebrauch einer Droge notwendigerweise Persönlichkeitsveränderungen einhergehen, läßt sich nicht absolut und für alle Typen von Drogen und Drogenkonsumenten gleichermaßen beantworten, sondern ist abhängig von der konsumierten Droge, der Position des Konsumenten in -der Sozialstruktur vor und während des Rauschmittelkonsums und den sozialen Umständen, unter denen die Drogeneinnahme erfolgt. Blum und andere (1970) weisen darauf hin, daß für stabilisierte und etablierte Personen LSD-Konsum weder die grundlegende Persönlichkeitsstruktur noch die externale Welt selbst verändern muß, sondern lediglich Beziehungen zu dieser Welt durch Veränderung von Gefühlen, Überzeugungen und Handlungen. Sicherlich können ähnliche Aussagen für einen großen Teil der Marihuana konsumierenden Personen getroffen werden. Lennertz (1970) verglich 47 nicht hospitalisierte jugendliche Gewohnheits-Konsumenten von Cannabis mit einer Kontrollgruppe von NichtHaschischrauchern und kam zu dem Ergebnis, daß die Haschischgruppe keinerlei Anfälligkeiten oder psychische Auffälligkeiten im klinischen Sinne aufwies, also weder antisoziale Einstellungen noch besondere psychische Labilität. Zu den negativen Persönlichkeitsveränderungen mit zunehmender Abhängigkeit von harten Drogen erübrigen sich wohl weitere Aussagen. Sie

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Rauschmittelmißbrauch: Soziologisch-psychologischer Beitrag

können als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Zusammenfassend kann konstatiert werden, daß für Individuen mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen, broken-home-Milieu und ablehnender Einstellung zu Elternhaus und Schule eine etwas größere Wahrscheinlichkeit besteht, Drogen zu konsumieren, daß die Verursachung jedoch alleine durch diese Faktoren nicht geklärt werden kann. Etwas prinzipiell ähnliches kann zu den Motiven ausgesagt werden. Die Frage nach den Motiven scheint deshalb so schwer zu beantworten, weil es kaum ein Motiv oder eine Motivgruppe gibt, die für alle Drogenkonsumenten gilt. Starke Komplikationen treten zudem deshalb auf, weil anscheinend auch zwischen Motiven für den Erstgebrauch und Motiven für den weiteren Gebrauch von Drogen unterschieden werden muß, wobei in einem späteren Stadium noch die physische und psychische Abhängigkeit hinzukommt. Motive für den erneuten Gebrauch nach erfolgreicher physischer Entwöhnung wiederum scheinen auf einer ganz anderen Ebene behandelt werden zu müssen. Aus einer Reihe von Aussagen von Drogenabhängigen wird deutlich, daß sich die bewußten Motivationen vor allem auf folgende Werte konzentrieren: „Ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung, affektive, herrschaftsfreie Sozialbeziehungen und Bemühungen um „Spiritualität" (Gerdes 1972, S. 157). Schwarz und andere (1971) fanden bei Oberschülern in Schleswig-Holstein folgende bewußten Motive für Drogengebrauch vor: 1. Einstiegsmotiv: Neugier; 2. Gruppenzwang (Statussicherung); 3. Hedonistische Motive (Suche nach Genußsteigerung und Glück); 4. Emanzipatorische Motive (anti-autoritäre Probierhandlungen); 5. Psychische Experimente (emotionale Selbsterfahrung); 6. Seelisches doping (Selbstbehandlung seelischer Störungen); 7. Seelische Betäubung (Verminderung von Ängsten und Spannungen). In einer Folgestudie (1971/72) rutschte „Neugier" an die 5. Stelle. Die Autoren konstatierten, daß der Drogenkonsum Jugendlicher heute nicht mehr mit Prestigegewinn verbunden ist. Keeler (1968) befragte 54 Marihuanakonsumenten nach ihren Motiven für den Erstgebrauch und die Fortsetzung dieses Verhaltens. Neugier und der Wunsch, „mitzumachen", wurden als Hauptgründe für den Erstkonsum angegeben. Die meisten derjenigen, die den Drogenkonsum fortsetzten, versprachen sich davon Spannungserleichterung und eine stärkere Befreiung von Hemmun-

gen, sowie bestimmte psychotomimetische Erfahrungen. Nach einer Untersuchung von Wanke, Süllwold und Ziegler (1970) gaben 41% der befragten Erstkonsumenten „Neugier" als bewußtes Motiv an, 24% „Nachahmung" und 18% „Stimmungsveränderung". Seltener wurden „Verführung" und „Protest" gegen die heutige Gesellschaft genannt. Für den fortgesetzten Konsum ergab sich folgende Motivfolge: Geselligkeit (50%), Vergnügen (50%), Rauschbedürfnis (25%), Stimmungsveränderung (13%), Vereitelung von Ärger und sozialer Frustration (12%). Auch in der Studie von Wetz (1970) taucht „Neugierde" als am häufigsten genanntes Auslösemotiv auf. Für den fortgesetzten Gebrauch von Rauschmitteln wurden 1. hedonistische Motive, 2. gruppenphänomenale Motive, 3. ProtestMotive, 4. selbstanalytische Motive und 5. resignatorische Motive angegeben. Gomberoff u. a. (1972) befragten 734 Schüler einer höheren Schule in Chile im Alter zwischen 13 und 18 Jahren nach ihren bewußten Motiven für den Konsum von Marihuana. Neugier stellte sich als die wichtigste Motivation für den Gebrauch von Marihuana heraus (32,4%), gefolgt von der Suche nach psychotomimetischen Erfahrungen (31,5%), Rebellion, (22,5%), dem Bestreben, sich freier und weniger gehemmt zu fühlen (11,7%) und der Imitation anderer (2,7%). Die meisten der in den Untersuchungen angeführten Motive sind im Grunde unspezifisch und können als allgemeine Motive Jugendlicher betrachtet werden, die für eine Reihe von Verhaltensweisen zutreffen und nicht nur auf Rauschmittelkonsum. Becker (1972) weist zudem darauf hin, daß die Motive für Drogenkonsum nicht schon von vornherein abweichend sein müssen, sondern daß eher umgekehrt abweichendes Verhalten abweichende Motive sich entwickeln läßt. Primäres Motiv kann ζ. B. einfach zunächst einmal Neugier oder der Wunsch nach Gruppenintegration sein und erst langsam entstehen durch drogenbezogene Aktivitäten und zunehmende Integration in die Drogensubkultur abweichende Motivationen und entsprechende Verhaltensmuster. Es ist aus diesem Grund sinnvoller, nicht isoliert in den Persönlichkeitsmerkmalen und Motiven der Konsumenten Verursachungsfaktoren zu suchen, sondern den Prozeß zu analysieren, in dessen Verlauf jemand zum Drogenabhängigen wird. 3. Drogenkonsum

als

Prozeß

Howard S. Becker (1953) war einer der ersten Autoren, die Drogenkonsum unter einem mehr dynamischen Aspekt sahen. Seine Prämisse ist es, Marihuanakonsum nicht als Produkt eines zugrundeliegenden Persönlichkeitszuges zu betrachten, weil sich diese Annahme als unzureichend für

Rauschmittelmißbrauch: Soziologisch-psychologischer Beitrag die Konsumenten erweist, die diese Eigenschaft nicht besitzen, und auch nicht die Veränderungen über einen längeren Zeitraum in Bezug auf Drogenkonsum erklären kann; Becker betont dagegen den Lernprozeß, der ablaufen muß, bis ein Individuum überhaupt die Wirkung von Marihuana als angenehm empfinden kann. Er führt drei Phasen dieses Lernprozesses auf, wobei der Anfang des Prozesses willkürlich dort gesetzt wird, wo eine Person zum ersten Mal daran interessiert ist, Marihuana zu probieren: 1. Das Erlernen der Technik bildet den ersten Schritt und ist nach Becker eine direkte Funktion der Teilnahme an den Aktivitäten einer Gruppe, in der Marihuana geraucht wird. 2. Bei den meisten Neulingen produziert die Droge keine bewußt wahrnehmbaren Wirkungen. Der neue Konsument muß zuerst sensibel werden für die Drogeneffekte, er muß lernen, die Wirkung wahrzunehmen, wobei das Konzept der Dorgenwirkung mit zunehmender Erfahrung immer differenzierter wird. Unterbleibt dieser Schritt des Lernprozesses, wird die Droge nicht mehr weiter konsumiert. 3. In einem dritten Schritt muß der Konsument lernen, die Drogenwirkung auch als angenehm zu empfinden. Dabei spielt die Interaktion mit schon erfahreneren Konsumenten wiederum eine wichtige Rolle, weil diese ein positives Vorbild bieten und eventuell auch über erste verwirrende und beängstigende Erfahrungen weghelfen können. In allen Stadien dieses Lernprozesses betont Becker die Bedeutung der sozialen Gruppe, die dem einzelnen dazu verhilft, ein neues Drogenkonzept zu entwickeln. „Dies geschieht in einer Reihe kommunikativer Akte, in denen andere ihn mit neuen Aspekten seiner Erfahrung bekannt machen, ihm neue Interpretationen bestimmter Situationen vermitteln und ihm helfen, eine neue Wahrnehmungswelt zu organisieren, ohne die das neue Verhalten nicht möglich wäre." (S. 242). Becker's Aufsatz, 1953 verfaßt und zur Erklärung von Drogenabhängigkeit alleine sicher nicht mehr ausreichend, gewinnt seine Bedeutung durch die Blickrichtung auf die Lernprozesse, die ablaufen, damit jemand zum Drogenkonsumenten werden kann. Prinzipiell bestätigt werden seine Ergebnisse durch die Untersuchung von Goode (1970), der fand, daß bei den meisten Marihuanakonsumenten der Gebrauch dieser Droge charakteristischerweise mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe verbunden ist. Der Autor spricht davon, daß Marihuanaraucher eine Art von Subkultur bilden, d. h., daß Marihuanakonsumenten eher mit anderen Konsumenten interagieren und sich mit ihnen identifizieren. Er nennt die Droge Marihuana „sociogenic" und führt folgende Kriterien für diese Bezeichnung an: „1. Sie wird charakteristischerweise in einer Gruppenatmosphäre konsumiert. 2. Die anderen, mit denen jemand Marihuana raucht, sind in der Regel gute

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Bekannte, gute Bekannte von guten Bekannten oder potentielle gute Bekannte und kaum Fremde. 3. Man hat in der Regel länger andauernde soziale Beziehungen zu den anderen. 4. Ein gewisser Grad von Wertkonsensus wird in der Gruppe vorhanden sein. 5. Eine Konvergenz der Wertvorstellungen wird eintreten als das Ergebnis der zunehmenden Integrierung in die Gruppe. 6. Die (Drogen-) Aktivität erhält die Kohäsion der Gruppe aufrecht und bestätigt ihre sozialen Bezüge. 7. Die Teilnehmer sehen diese Aktivität als Basis für ihre Identitätsfindung — sie definieren sowohl sich selbst als auch andere zum Teil danach, ob sie an diesen Aktivitäten teilgenommen haben oder nicht." (Goode, S. 21/22). Nach Goode treffen alle diese Kriterien auf den Gebrauch von Marihuana zu, was den Konsum zu einer höchst bedeutsamen und emotional stark besetzten Angelegenheit macht. Hinzu kommt das ganz besondere kulturelle Klima, von dem Marihuana umgeben ist: „ . . . die Geheimhaltung, man muß sich genau kennen, die sichersten Orte zum Rauchen sind gleichzeitig auch die vertrautesten usw." (Goode, S. 23). Alle diese Faktoren machen den Marihuana-Konsum zu einer Art Ritual: „ E r bestätigt die Mitgliedschaft in der Drogensubkultur, er ist zugleich Symbol und Substanz der Gruppe und verpflichtet die Mitglieder zur Loyalität" (Goode, S. 23). Mit häufigerem und regelmäßigerem Gebrauch und der damit verbundenen Integration in die Subkultur verändert sich durch Einflüsse von außen sowie aus der Gruppe selbst das Selbstkonzept des Konsumenten: Aus dem anfänglichen „Probierer" und „Neuling" wird der „Marihuana-Raucher" und „Drogenkonsument". Er wird immer mehr in drogenbezogene Aktivitäten verwickelt, welche seine Bezüge zur drogenkonsumierenden Gruppe verstärken. Seine Chancen, Marihuana zu kaufen und auch zu verkaufen (siehe vor allem auch Wetz 1971, S. 25) wachsen, was ihn zwangsläufig auch in Kontakt zu Personen bringt, die auch andere Drogen konsumieren und verkaufen und von denen er positive Erfahrungen mit anderen Drogen vermittelt bekommt. Genau von diesem Punkt her erklärt sich nach Goode auch wahrscheinlich die sogenannte „Schrittmacherfunktion" für Marihuana. Nicht die pharmakologische Wirkung der Droge Marihuana selbst, sondern die Tatsache, daß sowohl Marihuana als auch ζ. B . Opiate gleichermaßen Bestandteile einer Drogensubkultur sind, trägt dazu bei, daß die Verbindung von Marihuana und Heroin sehr viel wahrscheinlicher wird. Der Marihuana-Konsument ist zu einem gewissen Grad dazu gezwungen, mit der kriminellen Unterwelt in Kontakt zu treten. Der Verkäufer von Marihuana handelt meist auch mit Narkotika, zwischen ihm und dem Marihuana-Konsumenten besteht eine durchaus freundschaftliche Beziehung, er ist oft älter und erfahrener und auch

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respektiert; er ist außerdem daran interessiert, Heroin zu verkaufen, weil damit mehr zu verdienen ist. Für den Marihuana-Konsumenten bestehen deshalb gute Möglichkeiten, die positiven Schilderungen dieses Händlers zu übernehmen und selber Erfahrungen zu erwerben. Nicht die Droge selbst begründet also die Progression, sondern eine ganz bestimmte soziale Gruppe, die alle möglichen Arten von Drogenerfahrungen als akzeptabel und positiv bewertet und Möglichkeiten bereitstellt, solche Erfahrungen zu erwerben. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß es den MarihuanaRaucher, die Gruppe nicht gibt, sondern daß wiederum bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse ganz konkrete Auswirkungen haben. So ergibt sich ζ. B., daß vor allem die Slum-Subkultur (slum-dweller) die Chance, mit Opiaten in Berührung zu kommen, enorm erhöht, während diese Chance für die Gruppe der Marihuana konsumierenden Studenten sehr viel geringer zu sein scheint. Dennoch betrachten viele Autoren die Progression von weichen zu sogenannten „harten" Drogen als unbeabsichtigtes Ergebnis der Illegalität des Marihuana-Konsums.

4. Drogensubhultur und ihre gesellschaflsstrukturellen Bedingungen

Neben der bereits referierten Orientierung an emotional befriedigenden Sozialkontakten erfüllt die drogenorientierte Bezugsgruppe, die hier verkürzt als Drogensubkultur bezeichnet wird, eine Reihe von Problemlösungsfunktionen. Da Drogenkonsum illegal ist, ist es für ein Individuum mit entsprechender Motivation notwendig, sich einer Gruppe anzuschließen, die bereits über Möglichkeiten der „Stoffbeschaffung" verfügt. Zu dieser gemeinsam bewältigten Aufgabe hinzu kommt die Erfahrung von kollektiver Solidarität, verstärkt durch die Bedrohung von außen (Sanktionen). Die Drogensubkultur bildet einen Schutz gegen die gesellschaftliche Isolation, in die die Drogenkonsumenten hineingedrängt werden. Durch eigeae Sprache, bestimmte Verhaltensweisen und Rituale vermittelt sie dem einzelnen ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Schutzes gegen Polizei und sonstige Kontrollinstanzen. Die Befolgung bestimmter subkultureller Normen, Gebräuche und die Benutzung des Sprachsystems verleihen dem Rauschmittelkonsumenten in dieser Gruppe Status und Identität. In der drogenorientierten Bezugsgruppe finden sich Jugendliche mit ähnlichen Interessen und Anpassungsproblemen zusammen. Bestimmte Wirklichkeiten, ζ. B. die Diskrepanz zwischen ihnen vermittelten erstrebenswerten Zielen und ihren Möglichkeiten zur Erreichung dieser Ziele, wurden gleichermaßen konkret erfahren. Möglicherweise werden auch von einem großen Teil

der Jugendlichen die ihnen in ihrer Sozialisation vermittelten Werte abgelehnt und als nicht erstrebenswert definiert. Um sich dem Druck der Umwelt (Eltern, Berufssphäre, Schule usw.), die auf Erreichen dieser Wertziele drängt, zu entziehen, wird der Kontakt zu Gleichdenkenden bevorzugt und die Möglichkeit zur Stabilisierung eigener Einstellungen gefunden. Die hier vertretenen Normen und Werte müssen nicht einmal als außergewöhnlich im Vergleich zu nicht drogenkonsumierenden Jugendlichen betrachtet werden. Wetz (1971) konstatierte ζ. B. bei 56% seiner befragten Schüler in Köln „ein gewisses Maß an Identifikation mit der Gruppe der Rauschmittelkonsumenten", d. h. eine zunehmende Orientierung an den Normen und Werten dieser Bezugsgruppe. Wichtig erscheint, daß „die deviante Gruppe — wie alle Gruppen — ihren Mitgliedern affektive Belohnungen und die Möglichkeit zum Statusgewinn außerhalb der etablierten Statusdimensionen der Gesamtgesellschaft" bietet (Gerdes, 1972, S. 154). Von dieser Aussage her läßt sich möglicherweise die verschieden starke Integration in die Drogensubkultur erklären. Wahrscheinlich bietet die Drogensubkultur starke Anreize für jene Jugendlichen, denen — wenn auch nur vorübergehend — alternative Möglichkeiten zur Statusgewinnung verschlossen bleiben. Die Aussage kann verdeutlicht werden am Beispiel der Gruppen von Jugendlichen mit ausgesprochen schlechtem sozio-ökonomischem Hintergrund, aus denen sich z. Zt. in der Bundesrepublik Deutschland vor allem die Konsumenten harter Drogen rekrutieren (Kühne 1974, S. 76) und am Beispiel der vorübergehend drogenkonsumierenden Studenten. Für beide Gruppen können gleiche Ausgangsmotivationen den Erstkonsum begünstigt haben; wahrscheinlich bestehen aber für die letztgenannte Gruppe sehr viel bessere alternative Befriedigungsmöglichkeiten und Zugangschancen zu gesellschaftlich privilegierten Berufsbereichen sowie bessere Abschirmungen gegenüber der Polizei im Vergleich zu denen mit broken-home-Milieu, abgebrochener Lehre, schlechten Zugangschancen zu besser bezahlten Berufen usw. Diese Ausgangssituation kann zum einen bewirken, daß Drogenkonsum bei Studenten eher als ein vorübergehendes Verhalten betrachtet werden kann, das sich aufgrund der besseren Informationsmöglichkeiten auch eher auf nicht suchterzeugende Drogen beschränkt. Zum anderen werden sich die unterprivilegierten Jugendlichen eher einer Gruppe anschließen, in der die bisher erfahrene Benachteiligung aufgehoben und die Diskriminierung nicht mehr spürbar wird, in der auch sie durch ihre drogenbezogenen Aktivitäten Möglichkeiten zu Statusgewinn und persönlicher Integrität finden, die für sie eine Lösung ihrer Anpassungsprobleme bietet. Aufgrund der fehlenden alternativen Möglichkeiten der Statusgewinnung und möglicher-

Rauschmittelmißbrauch: Soziologisch-psychologischer Beitrag weise aufgrund der schlechteren Informationsmöglichkeiten wird der Kontakt zur drogenkonsumierenden Bezugsgruppe intensiver und überdauernder sein und dadurch der K o n t a k t zu suchterzeugenden Drogen wahrscheinlicher. Die Tatsache, daß diese Bezugsgruppe in der momentanen gesellschaftlichen Situation in der Drogenscene beheimatet ist, könnte sogar relativ unbedeutend sein und austauschbar ζ. B . mit kriminellen Jugendbanden u. ä. zu einem anderen Zeitpunkt. Eine Bestätigung dieser Hypothese findet sich in der von Gerdes und v. Wolffersdorff-Ehlert 1974 veröffentlichten empirischen Untersuchung über die „Drogenszene", in der scharf zwischen der sogenannten „weichen" und „harten" Szene unterschieden wird, mit unterschiedlichen Gruppenstrukturen und Konsumententypen. Generell kann Drogenkonsum für beide Gruppen interpretiert werden als ein Versuch der Konsumenten, eine unbefriedigende, möglicherweise problematische Situation umzuwandeln in eine befriedigende. Die jeweilige soziale Ausgangslage aber bestimmt auch die jeweilige Ausprägung der Szene und des Drogenkonsums. Die Entwicklung der „Drogenwelle" in der B R D (wie auch im Ausland) kann nicht unabhängig von der antiautoritären Studentenbewegung nach 1966 gesehen werden, mit ihrer Betonung des Kampfes gegen Manipulation und Unterdrückung der schöpferischen Fähigkeiten des Menschen sowie der Propagierung neuer Formen des Zusammenlebens und der zwischenmenschlichen Kommunikation. „ E b e n diese unterdrückten schöpferischen Fähigkeiten, dieses Bewußtsein manipulierter Identität sind es, die zumindest bei einem Teil der neuen Bewegung neben politischer Protesthaltung die Bereitschaft zur Anwendung bewußtseinserweiternder Techniken aufkommen lassen. Diese Funktion übernehmen neben der nicht selten zum Ritual kommuneähnlicher Wohngruppen werdenden psychoanalytischen Selbst- und Fremdexploration zunehmend halluzinogene Drogen. Durch sie erschließen sich neue Dimensionen der ästhetischen, sexuellen — überhaupt der kommunikativen Erfahrungen . . . und sie tragen so zu weiterer Kritik an einer Gesellschaft bei, die diese Dimensionen in Konkurrenz- und Leistungsprinzipien erstickt" (Gerdes/v. Wolffersdorff-Ehlert 1974, S. 48). Sehr bald schon wurde aber in der Studentenbewegung selbst auf die Gefahr solcher „subjektivistischen Illusionen" hingewiesen. Mit der partiellen Entwicklung der vorher antiautoritären und außerparlamentarischen Opposition zu disziplinierten Kadergruppen innerhalb der organisatorisch und theoretisch gefestigten Linken wuchs die Ablehnung des Drogenkonsums. Der — sich als antikapitalistisch und emanzipatorisch empfindenden — Drogensubkultur wurde Vernachlässigung geschichtlicher, politischer und 33 HdK, 2. Aufl., Bd. II

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ökonomisch-praktischer Dimensionen vorgeworfen (Leick 1972), Drogenkonsum wurde als jede politisch gezielte Arbeit gefährdend und absorbierend betrachtet. Generell läßt sich für die Folgezeit eine Aufspaltung in die politisch formierte Linke und den sich zunehmend als undogmatisch verstehenden „Untergrund" konstatieren, an dem sich ein großer Teil der (nicht-studentischen) Jugend orientierte und der sehr bald von der sogenannten Freizeitindustrie ökonomisch genutzt wurde. E t w a diesem Bereich ordnen Gerdes und v. WolffersdorffEhlert (1974, S. 95) die Angehörigen der „weichen" Szene zu: „ . . . sie lehnen 1. die Gesamtgesellschaft in ihrer bestehenden F o r m ab und distanzieren sich 2. außerdem noch einmal von den Gruppen, die den Status quo der Gesamtgesellschaft zwar ebenfalls ablehnen, sich aber auf ein politischprogrammatisches Konzept zu seiner Überwindung festgelegt haben (organisierte linksradikale Gruppen)". Die starke Betonung von ungehinderter Persönlichkeitsentfaltung, affektiven, herrschaftsfreien sozialen Beziehungen und Bemühungen um „Spiritualität" (Gerdes 1972, S. 157) weisen auf die gesellschaftlichen Defizite hin, deren Ausgleich hier angestrebt wird. Die Lebensund Arbeitssituation der meisten Jugendlichen, Berufstätigen und Auszubildenden muß als entfremdet und entpersönlicht bezeichnet werden. Entwicklung und Ausführung von Eigenaktivitäten und Kreativität in der Ausbildung und im Berufsleben werden gewöhnlich unterdrückt und behindert. Emotional befriedigende Sozialkontakte in ,,peer-groups" in Verbindung mit neuen psychotomimetischen Erfahrungen erscheinen als Ausweg aus dieser Situation. Sowohl die Ergebnisse aus der B R D als auch aus dem Ausland verdeutlichen, daß der Konsum harter Drogen — die physische und psychische Abhängigkeit erzeugen — ganz überwiegend an Unterprivilegierung, Ausbeutung, schlechte Ausbildung, zerbrochene Familien und die daraus resultierenden Bewußtseinsstrukturen gekoppelt ist. „Einer der ursächlichen Gründe des Drogenmißbrauchs ist die spezielle Situation mit ihrer vom einzelnen als ausweglos empfundenen Problematik. Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger, rassische und Minderheiten-Diskriminierung, niedriges Erziehungsniveau und anderes mehr kommen als kausale Teilfaktoren in Betracht und existieren in den meisten Fällen nebeneinander" (Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1972, S. 12). Den Jugendlichen aus diesen Randgruppen, mit unzureichender schulischer und beruflicher Bildung, bleiben die Möglichkeiten sozialen Aufstiegs weitgehend verschlossen. „Gerade in den westlichen Industriegesellschaften wird . . . (aber) sowohl Erfolg als auch Mißerfolg der persönlichen Leistung des einzelnen zugeschrieben; Mißerfolg ist damit gesellschaftlich als individuelles Ver-

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sagen vordefiniert" (Gerdes/v. Wolffersdorff-Ehlert 1974, S. 252). Die Zugehörigkeit zur Drogenscene (oder auch einer kriminellen Bande, einer Rockergruppe o. ä.) hilft, diese Versagensgefühle aufzuheben. „Seine (des Drogenkonsumenten) Motivation zum Drogenkonsum ist überschattet durch das permanente Erlebnis des Scheiterns an einer als feindselig, fremd, erniedrigend erfahrenen Umwelt. Eine Umwelt, aus deren Normen für erfolgreiches soziales Verhalten er herausfällt, ohne sich jedoch, wie der Konsument halluzinogener Drogen, an einer sinnstiftenden intellektuellen Tradition (von Buddha bis Marcuse) orientieren zu können, die seiner Abweichung zumindest kognitive Plausibilität sichern und ihn zur Überbrückung von Grenzsituationen rüsten könnte" (Gerdes/v. Wolffersdorff-Ehlert 1974, S. 316) 5. Gesellschaftliche Reaktionen und Rückwirkungen auf

auf Drogenkonsum Konsumenten

Vergleicht man das Drogenproblem mit anderen sozialen Problemen wie ζ. B. Jugendkriminalität, Geisteskrankheiten, Alkoholismus, so muß man konstatieren, daß es sich hier nicht um ein Problem größten Ausmaßes und stärkster sozialer Konsequenzen handelt. Trotzdem erfährt das Drogenproblem in der Presse und in wissenschaftlichen Publikationen außergewöhnlich starke Beachtung. In Form sensationell aufgemachter Zeitungsberichte sowie einer Flut quasi-wissenschaftlicher Beiträge wurde in der Öffentlichkeit ein ganz bestimmtes Bild der Drogenwirkung und der Drogenkonsumenten erzeugt. Mit Sicherheit sind Rückwirkungen sowohl auf bereits praktizierende als auch auf potentielle Konsumenten anzunehmen; üblicherweise werden jedoch diese Rückkoppelungs-Effekte nicht in wissenschaftliche Untersuchungen einbezogen. Die Art der öffentlichen Auseinandersetzung mit diesem Problem ist sicherlich zu einem nicht geringen Teil an der Produktion von Drogenkonsumenten und Drogenabhängigen beteiligt. Der interaktionistische Ansatz bietet ein theoretisches Modell für diese Aussage an. Auf das Drogenproblem übertragen ließe sich hier konstatieren, daß die Reaktionen der sozialen Umwelt bzw. der Instanzen sozialer Kontrolle dem Konsumenten einen sozialabweichenden oder kriminellen Status zuschreiben, wobei diese Definitionen entscheidenden Einfluß auf sein Selbstbild und seine Drogenkarriere ausüben. Mit Absicht wird hier der Begriff der „Drogenkarriere" gewählt, weil er nicht ein statisches, sondern ein Stufenmodell des abweichenden Verhaltens skizziert. Das bedeutet, daß gleichzeitig auch die Bedingungen der einzelnen Stufen dieser Karriere miterläutert werden müssen, die sowohl als Veränderungen der Wünsche, Motivationen, Einstellungen, Verhaltensweisen des Individuums als

auch als objektive Fakten der Sozialstruktur gegeben sein können (Becker 1972). Ein Teil der sozialpsychologischen Bedingungen der Drogensubkultur und der Veränderung des Selbstbildes der Drogenkonsumenten wurde in den vorherigen Abschnitten beschrieben; im folgenden sollen die objektiven Fakten der Sozialstruktur stärker berücksichtigt werden. Auffälligste und einschneidendste Sanktionen für den Drogenkonsumenten werden durch das neue Betäubungsmittelgesetz vom 22.12.1971 bereitgestellt (-»- Rauschmittelmißbrauch, juristisch-kriminologischer Beitrag). Nach Lindesmith (1968) gibt es zwei Arten der Rekrutierung von Drogenabhängigen: a) durch den therapeutischen Gebrauch der Droge, weil sie vom Arzt verschrieben wird oder in bestimmte Volkssitten und -gebrauche eingegliedert ist; b) durch Assoziation von bereits Abhängigen und Nicht-Abhängigen, wenn die Droge nicht therapeutisch gebraucht wird. Die Art der Rekrutierung von Drogenabhängigen wird nach Ansicht dieses Autors entscheidend durch die Drogenpolitik der jeweiligen Gesellschaft bestimmt. „Wenn die Politik Verbote und Bestrafungen für Süchtige vorsieht, ist gewöhnlich das zweite Muster vorherrschend und die Anzahl der Süchtigen relativ groß; wenn Süchtige als Patienten behandelt werden und ihnen Zugang zu legalen Drogen gewährt wird, ist mit einer Tendenz zu einer kleineren Anzahl von Süchtigen zu rechnen, von denen die meisten Drogen zum ersten Mal aus medizinischen Gründen gebraucht haben" (S. 129). Zur Überprüfung von Lindesmith's Aussage wird von vielen Autoren die britische Drogenpolitik angeführt. Das britische Konzept der Drogenpolitik unterscheidet sich stark von dem extrem punitiven System ζ. B. der USA. Entscheidenden Einfluß für Großbritannien hatte der Bericht des sogenannten Rollestoncommittee aus dem Jahre 1924: „With few exceptions, addiction to morphine and heroine should be regarded as a manifestation of a morbid state, and not only as a mere form of vicious indulgence". In den „dangerous drug acts" von 1965 und 1967 wird diese Grundeinstellung bestätigt und neu formuliert. Zwar besteht auch hier noch die Möglichkeit, den illegalen Besitz von Drogen zu bestrafen. Die Regelung, daß das Drogenproblem eher als ein medizinisches und weniger als ein strafrechtliches Problem betrachtet wird, erlaubt aber den britischen Drogenabhängigen den Zugang zu Drogen auf legalem Wege und vermeidet den Kontakt zu Polizei und Gerichten. Süchtige können sich die benötigten Drogen vom Arzt verschreiben lassen, solange noch keine medizinisch-psychiatrische Behandlung erreicht werden kann, auf die aber generell hingearbeitet wird.

Rauschmittelmißbrauch: Soziologisch-psychologischer Beitrag Nach Lindesmith hat diese Maßnahme verhindert, daß sich ein schwarzer Markt größeren Ausmaßes etablieren konnte. In den meisten Ländern mit einem Schwarzmarkt sind die Preise für die benötigten Drogen derartig hoch, daß die Mittel jedes Süchtigen weitaus überbeansprucht sind. Eine weitere positive Auswirkung der britischen Drogenpolitik besteht also darin, daß die Folgekriminalität Drogenabhängiger (in der Regel Eigentumskriminalität) stärker vermieden wird. Zacune (1971) zeigte an einer in Großbritannien lebenden Gruppe opiatabhängiger Kanadier auf, daß Drogenabhängigen hier eher die Möglichkeit geboten wird, weiterhin einem Beruf nachzugehen und ein „normales" Leben zu führen. Kriminalität muß also nicht — wie meist aufgrund phänomenal beschreibender Untersuchungen an Süchtigen vermutet — notwendigerweise eine Folge der Sucht sein. Kriminelles Verhalten von Drogenabhängigen kann möglicherweise vielmehr als Konsequenz der gesellschaftlichen Reaktion auf Drogenkonsum betrachtet werden. Selbstverständlich kann nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, daß ein derartiges sozialpolitisches Vorgehen, wie es in Großbritannien vorexerziert wurde, sich unbedingt in jedem Einzelfall positiv auswirkt. In der Tat scheint jedoch Großbritannien mit einem sehr viel geringeren Drogenproblem zu kämpfen zu haben als ζ. B. die USA, wofür allerdings auch die unterschiedlichen sozioökonomischen Bedingungen beider Gesellschaften verantwortlich gemacht werden müssen. Da in den USA das Drogenproblem primär ein Problem bestimmter unterprivilegierter Gruppen ist, kann man den herrschenden Instanzen durchaus ein ganz vitales Interesse zusprechen, sich durch stark repressive Maßnahmen von der Verantwortung für diese „Sozialabweichenden" freizusprechen. Diese repressiven Maßnahmen sind in der Regel darauf angelegt, Besitz und Gebrauch von Drogen zu kriminalisieren. Wie stark sich Formulierung und Verwirklichung der Drogenpolitik und öffentliche Meinung gegenseitig beeinflussen, zeigten einige Studien, die von Edwin M. Schur (1964) überblickartig zusammengestellt wurden. Rose und Prell ließen 1955 13 Vergehen, für die das Strafgesetz von Kalifornien etwa die gleichen Strafen vorsah, nach ihrer Schwere von einer Gruppe von Studenten in eine Rangreihe bringen. Das Einschmuggeln von Narkotika in ein Gefängnis für einen süchtigen Freund wurde für schwerwiegender befunden als Bigamie, schwerer Diebstahl, Trunkenheit am Steuer oder Verkauf einer Waffe. G. M. Gilbert ließ 1958 a) eine allgemeine Bevölkerungsgruppe, b) Gefängnisinsassen und c) männliche Kriminologiestudenten 19 Kapitalverbrechen in eine Rangreihe einordnen. Der Handel mit Narkotika wurde für weniger schwerwiegend befunden als Mord und Unzucht mit Kindern, aber für schwerwiegender als bewaffneter Raub, Notzucht, schwere Körper38·

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Verletzung, Einbruch und sexuelle Perversionen. Schur betont die Auswirkungen dieser Faktoren auf die Situation des Drogenabhängigen. „Wenn man primär in termini eines Krieges gegen die Sucht denkt, kann es nicht überraschend sein, wenn sich auch der Süchtige selber in einen solchen Kampf gegen die Instanzen von Recht und Ordnung verwickelt sieht. Hier arbeitet ein „selffulfilling-prophecy-Mechanismus" — wenn der Süchtige als Feind der Gesellschaft behandelt wird, wird er auch zu diesem" (Schur 1964, S. 84). Allerdings scheinen sich — zumindest für die amerikanische Öffentlichkeit — Veränderungen anzubahnen. Pattison, Bishop und Linsky (1968) führen an, daß sich in den letzten Jahrhunderten generell das Bild von der Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen verschoben hat, von der allgemeinen Willensfreiheit hin zu einem stärker deterministischen Menschenbild. Bei vielen Problemen abweichenden Verhaltens scheint die öffentliche Meinung davon abzuhängen, wie stark das abweichende Individuum als selbstverantwortlich betrachtet werden kann. Daran orientiert scheinen Schuldvorwurf bzw. psychiatrische Rehabilitationsmaßnahmen jeweils vorherrschend. Eine Analyse von populären amerikanischen Zeitschriftenartikeln erbrachte für die ersten 3 Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine Veränderung von starkem moralischem Vorwurf an den Süchtigen zu geringem moralischem Vorwurf. Dieser Trend blieb für die folgenden Jahrzehnte erhalten. Bis zum Jahrzehnt 1950—1959 wurde vor allem die soziale Ätiologie der Drogenabhängigkeit betont, wobei besonders Drogenhandel und -Versorgung hervorgehoben wurden. Im Jahrzehnt 1960—1969 dagegen wurden stärker individuelle Faktoren betont, wie ζ. B. Persönlichkeitsfaktoren oder die Suche nach erregenden Erlebnissen. Insgesamt scheint sich ein „Krankheitskonzept" der Drogenabhängigkeit immer stärker auszubreiten, in dem dem Süchtigen zwar noch anfängliche Entscheidungsmöglichkeiten zugesprochen werden, ein moralischer Vorwurf aber aufgrund seiner „kranken" Persönlichkeit eigentlich nicht mehr erhoben wird. Zunehmend resultiert in den letzten Jahren daraus eine Empfehlung von weniger strafrechtlichen als vielmehr medizinischen Behandlungsmaßnahmen. Wie stark die britische Öffentlichkeit bereits seit langem durch die offizielle Drogenpolitik ihres Landes beeinflußt ist, verdeutlicht eine Vergleichsuntersuchung Schur's (1963): 80% seiner befragten Personen betonten, daß der Süchtige vor allem krank sei; nur 2% hielten ihn für von Grund auf verdorben. 93% befürworteten eine medizinische Behandlung des Drogenproblems. Keiner der befragten Versuchspersonen sprach sich für eine Gefängniseinweisung der Süchtigen aus. Kaupen et al. (1970) befragten in einer RepräsentativUntersuchung erwachsene Bürger der BRD über

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ihre Meinung zum Haschischkonsum auf einer Party. 5 2 % der Bevölkerung hielten ein solches Verhalten für schlimm und 3 3 % für ziemlich schlimm. 2 4 % der Befragten plädierten für eine Gefängnisstrafe. In einer Inhaltsanalyse der Rauschmittelberichterstattung westdeutscher Tageszeitungen aus dem Jahre 1970 ermittelten Gaedt et al. (1974), daß Rauschmittelkonsumenten den Lesern in der Regel als Einzelfall in einem kriminellen Kontext repräsentiert werden. Am häufigsten wurden sie als „krank" und „dissozial" charakterisiert. „Wo eine Wertung manifest ist, wird der Konsument von Rauschmitteln fast ausschließlich mit negativen Attributen belegt und die benutzten Rauschmittel in undifferenzierter, wiederum fast ausschließlich negativer Weise dargestellt" (Gaedt et al. 1974, S. 34). Ähnliche Ergebnisse erzielte Wormser (1974) in einer Analyse Münchener Tageszeitungen. Untersuchungen über die öffentliche Meinung sind deshalb von so großer Bedeutung, weil direkte Rückkoppelungseffekte auf den Drogenkonsumenten vermutet werden müssen. Wird der Drogenkonsument durch Gesetzgebung und öffentliche Meinung kriminalisiert, und wird er sowohl vom medizinischen Personal als auch von den formellen und informellen Instanzen sozialer Kontrolle entsprechend behandelt, können Auswirkungen auf seine Selbstdefinition und sein Verhalten nicht ausbleiben. R a y (1961) beschreibt diesen Prozeß konkreter am Beispiel des Kreislaufs von Abstinenz bei Rückfall bei Heroinabhängigen. Physisch entwöhnt ist ein Teil von ihnen durchaus motiviert, eine neue Identität als „Abstinente" zu gewinnen. Ihr Verhalten verändert sich und sie beginnen, sich von ihrer alten Bezugsgruppe zu distanzieren. Ein Rückfall ist nach Ray dann zu beobachten, wenn sie in bestimmten sozialen Interaktionen mit ihrer Umwelt wieder dazu gebracht werden, ihre alte Identität als „Süchtige" anzunehmen, einfach weil sie weiterhin als solche behandelt werden. Hinzu kommt, daß normaler Kontakt zu Nicht-Süchtigen nicht so plötzlich aufgebaut werden kann, da intensivere Kontakte vorher in der Regel nur zu Drogenkonsumenten bestanden. Erneute Kontaktaufnahme zur alten Bezugsgruppe hat dann durchaus wieder problemlösende Funktion, weil emotionale Beziehungen, Statusgewinnung und Identität gesichert sind. Damit aber wird der Status des „Süchtigen" erneut bestätigt. Beziehen sich Ray's Beobachtungen quasi auf das Endstadium der Drogenkarriere, so können gleiche Mechanismen auch schon zu einem viel früheren Zeitpunkt beobachtet werden. Zu beachten ist, daß abweichendes Verhalten stets in einem Interaktionsprozeß zwischen einem Individuum und seiner sozialen Umwelt entsteht. Dazu gehört auch, daß die Erwartungsstrukturen der Umwelt

Selbstdefinition und Verhalten von Drogenkonsumenten bestimmen. Das bedeutet ζ. B., daß das gängige Stereotyp von Drogenkonsumenten als „willensschwach" durchaus das Verhalten eines Jugendlichen bestimmen kann, wenn er diese Fremddefinition in seine Selbstdefinition mit aufnimmt (im Sinne von Lemert's „secondary deviation"). Wenn Gesetzgebung, Justiz, Massenmedien, wissenschaftliche Autoren usw. ständig zur Bereitstellung und Aufrechterhaltung bestimmter Stereotype beitragen, wird dadurch der Interaktionsprozeß zwischen dem Rauschmittelkonsumenten und seiner sozialen Umwelt entscheidend beeinflußt. Drogenneulinge ζ. B., die aus verschiedensten Motiven zu Probierern oder auch Gelegenheitskonsumenten geworden sind, werden sich möglicherweise nicht von Anfang an als abweichend oder gar kriminell definieren, können aber durch gesetzliche Maßnahmen, öffentliche Meinung und Reaktionen der Kontrollinstanzen zu dieser Art von Selbstdefinition gebracht werden, womit dann ihre Drogenkarriere präfiguriert sein dürfte. D. Therapie- und Rehabilitationsansätze für Drogenabhängige Lange Zeit hindurch bestand die Auffassung, daß eine Heilung von der „Drogensucht" gelungen sei, wenn nach Absetzen der Droge keine physischen Entzugssymptome mehr auftreten. Diese Meinung wurde vor allem von jenen vertreten, die als geeignete Maßnahme zur Therapie der Abhängigkeit Entziehungskuren in psychiatrischen Anstalten, Landeskrankenhäusern oder Strafvollzugsanstalten befürworten. Die „flankierenden Maßnahmen" bestanden bei dieser Form der Therapie in der Regel darin, daß während des Entziehungsaufenthaltes in der entsprechenden Institution Arbeitstherapie angewendet und nach der Entlassung unregelmäßige Kontrolluntersuchungen durchgeführt wurden (Barth 1972). In den letzten Jahren hat sich sozialstrukturell, zahlen- und altersmäßig der Schwerpunkt der Drogenabhängigkeit auf eine wachsende Anzahl vorwiegend Jugendlicher verlagert. Die oben beschriebene — heute noch an manchen Orten in der B R D vertretene — Therapieform bringt jedoch bei dieser neuen Klientel immens hohe Rückfallquoten hervor. So erwähnt ζ. B. Bauer (1972, S. 168) Rückfallquoten nach reiner Entziehungsbehandlung zwischen 9 8 % und 9 9 % . Dafür sind gewiß zu einem großen Teil Argumente verantwortlich, welche Gerdes und v. Wolffersdorff-Ehlert (1972/73, S. 427) im Rahmen einer Untersuchung mit teilnehmender Beobachtung immer wieder gehört haben, und aus denen hervorgeht, daß „die Drogenabhängigen . . . die verbreitete Praxis ihrer ,Heilbehandlung' als einen Versuch der Gesellschaft empfinden, sie in dieselbe

Rauschmittelmißbrauch: Soziologisch-psychologischer Beitrag Ecke zu drängen, in der auch die Geisteskranken von der Gesellschaft abgekapselt werden". „Die meisten Fixer haben von klein auf erfahren, daß sie sozial unnormal sind ( . . . ) ; zweifelt man jetzt auch noch an ihrer geistigen Gesundheit ( = Normalität), so werden sie vollends — und zwar von Fachleuten für geistige Normalität — aus der Gesellschaft der „Normalen" ausgestoßen." (S. 432) Da das Selbstbild dieser Jugendlichen meist aus Gründen sozialer Entwicklungsschwierigkeiten relativ wenig gefestigt ist, sind sie in den oben beschriebenen Situationen oft nur allzu bereit, den Argumenten der „Gesellschaft" Glauben zu schenken und an ihrer eigenen — moralischen oder geistigen—Gesundheit zu zweifeln. Dies gilt durchaus auch für diejenigen, die die günstigsten Voraussetzungen für eine Entziehung in die Therapie mit einbringen, nämlich den Willen zur Abstinenz. Während die „Behandlung" des Drogenabhängigen mit Abschluß der Phase körperlicher Entgiftung und Stabilisierung nach diesem Therapiekonzept bereits weitgehend als abgeschlossen gelten konnte, weiß man heute — worauf später noch einzugehen ist — daß Rehabilitationsmaßnahmen zu diesem Zeitpunkt erst eingeleitet werden können. Selbstverständlich ist die physische Entgiftung die Voraussetzung, ohne die kein echtes Rehabilitationskonzept Erfolg haben kann. Die physische Entgiftung sollte in der Regel bei stationärer Behandlung in einer Klinik erfolgen. „Hier kann nämlich in kürzester Zeit, innerhalb weniger Tage, die körperliche Abhängigkeit von Drogen völlig gefahrlos beseitigt werden, und es braucht nicht Zeit damit verschwendet zu werden, das oder die Suchtmittel langsam zu reduzieren oder etwa in dieser Zeit den Rückgriff auf Suchtmittel zu riskieren. Gleichzeitig können in dieser Anfangszeit Begleit- und Folgekrankheiten der Drogenabhängigkeit sehr schnell diagnostiziert und auch behandelt werden: Leberleiden, Vitaminmangelkrankheiten, Parasitenbefall, Geschlechtskrankheiten (um nur einige der Störungen zu nennen, die wir immer häufiger beobachten können)" (Barth 1972, S. 89). „Nur in ganz besonders gelagerten Einzelfällen wird diese Behandlungsphase 4 Wochen überschreiten müssen. Sie sollte eher wesentlich kürzer sein . . . Nach Abschluß dieser ersten Behandlungsphase sind die Grenzen der konventionellen Klinik erreicht, weil dann die Effektivität ihrer Arbeit in Frage gestellt ist" (S. 90). Die Methoden der Entgiftung sind außerordentlich vielfältig. Die für den Betroffenen gewiß unangenehmste — und auch gefährlichste — ist das abrupte Absetzen des Mittels, wobei das Entzugssyndrom durch keine pharmakologischen Hilfen gemildert wird. Therapeutische Institutionen, die diese Methode anwenden, beabsichtigen damit, den Patienten mit Hilfe des Abschreckungseffektes

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in der Erinnerung vor einem Rückfall in den Drogenkonsum zu bewahren. Aber auch Konsumenten, die den Willen haben, sich selbst von der Abhängigkeit zu befreien, entgiften sich manchmal auf diese Art ohne medikamentöse oder therapeutische Unterstützung, sozusagen „zu Hause", bzw. bei Freunden. Im allgemeinen wird die Detoxifikation jedoch mit der Gabe von Medikamenten verbunden, die die Entzugserscheinungen abschwächen, wobei ein stationärer Klinikaufenthalt notwendig ist. In den USA und England ist man vielfach zur Behandlung der Heroinabhängigkeit mit Methadon (in der BRD: Polamidon) übergegangen. Hier gibt es einmal die Methode des „ausschleichenden Entzuges"; das Heroin wird unter strenger ärztlicher Aufsicht durch Methadon ersetzt und die Dosierung ständig verringert bis zur völligen Entwöhnung. Eine zweite Anwendung ist die langfristige Umstellung des Patienten von Heroin auf Methadon, wobei eine Entgiftung im eigentlichen Sinne nicht erfolgt. Wegen der toxischen Wirkung dieses Mittels wird dieses Programm nur bei über 18jährigen angewendet, die seit mindestens zwei Jahren abhängig sind und mehrere vergebliche Entziehungsversuche nachweisen können. Die Behandlung mit Methadon darf nicht durch frei praktizierende Ärzte erfolgen, sondern ausschließlich durch speziell dafür autorisierte Kliniken, in denen der Patient das notwendige Methadon unter Aufsicht einnehmen muß (Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1972, S. 32). Durch ein strenges Registrierungssystem ist es praktisch ausgeschlossen, daß Patienten für sich oder andere größere Mengen Methadon als die therapeutische Dosis erschleichen können. Die Droge beseitigt nicht die Opiatabhängigkeit, aber die euphorisierende Wirkung bleibt aus, ohne daß Entzugserscheinungen auftreten; die Perspektiven für eine mühelose soziale Reintegration werden von den Vertretern der Methadon-Behandlung als sehr positiv betrachtet (erwartete Erfolgsquote 60—88%, Bauer 1972, S. 171). In der BRD wird diese Methode nicht durchgeführt, da die Verlagerung der Drogenabhängigkeit von einem auf ein anderes Präparat als nicht erwünscht gilt. Die Entwicklung von Heroinblockern, der in den USA große Aufmerksamkeit geschenkt wird, bzw. die Erforschung von Antagonisten, wird von deutschen Wissenschaftlern ständig beobachtet (Keup 1973). Heute setzt sich jedoch zunehmend die Erkenntnis durch, daß nicht ausschließlich das Symptom „Drogenabhängigkeit" therapiert werden muß, sondern vielmehr die dadurch dokumentierte Unfähigkeit, soziale und individuelle Konflikte adäquat zu lösen (Metzger-Pregizer 1973, S. 80). So beschäftigen sich in jüngerer Zeit auch sozialwissenschaftlich orientierte Forscher intensiv mit Formen abweichenden Verhaltens, nach-

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dem dies vorher fast ausschließlich die Domäne von Strafrecht und Medizin — speziell der Psychiatrie — war. Sie stellten fest, daß eine der Voraussetzungen für die Schwierigkeiten, die aus sozial abweichendem Verhalten — also auch aus dem Drogenkonsum — für den Betroffenen erwachsen, die Annahme von Statuscharakteristika seiner Gruppe, ζ. B. der „Drogenszene", ist. Entsprechend werden ihm von der Gesellschaft diese Statuscharakteristika auch dann noch zugeschrieben, wenn er das abweichende Verhalten bereits eingestellt hat. Hier wird deutlich, daß der „Rückfall" in die Drogenabhängigkeit unter verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden muß. Erfolgt eine physische Entgiftung ohne den Einsatz psychologisch-therapeutischer Maßnahmen und ohne eine gründliche Nachbetreuung — die hier als echte Rehabilitationsphase bezeichnet werden soll — ist häufig folgender Prozeß zu beobachten: Der gerade abstinent Gewordene erlebt sich selbst als zugehörig zur gesellschaftskonformen Gruppe der „Normalen", Nicht-Drogenabhängigen. Der erste Zeitpunkt der Rückfallgefährdung läßt sich direkt nach seiner Entlassung aus der Entziehungsphase festsetzen: zwar sind für die Identitätserfahrung des jetzigen Nichtkonsumenten seine ehemaligen Bezugspersonen in der „scene" „die anderen" geworden, aber oftmals sind sie seine einzigen guten Bekannten bzw. Freunde. Da er soziale Beziehungen und meist auch Geld und Unterkunft braucht, geht er mehr oder weniger den leichtesten Weg — nämlich zurück in die Gruppe. Es ist in einem solchen Fall nicht verwunderlich, wenn er sich innerhalb kurzer Zeit wieder mit den Konsumenten und ihrer Lebensform identifiziert und diejenigen, die sich sozial konform verhalten, wieder „die anderen" werden. Dies ist der direkteste Weg zur Rückfälligkeit (Gerdes/v. Wolffersdorff-Ehlert 1972/73, S. 444). Vielen in der Entziehungsphase Befindlichen — vor allem denen, die sich freiwillig in Behandlung begeben haben — ist allerdings bewußt, daß eine wesentliche Voraussetzung für dauernde Abstinenz ein einigermaßen normkonformes, sozial integriertes Leben ist. Sie versuchen nach Abschluß der ersten Behandlung! phase neue Kontakte zu sozial anerkannten Verhaltensweisen zu bekommen, ζ. B. durch Arbeit, neue Bekanntschaften und räumliche Entfernung von ihrer ehemaligen drogenkonsumierenden Bezugsgruppe. Viele dieser Rehabilitanden müssen jedoch als Konsequenz der Zeit ihrer Drogenabhängigkeit große — ganz konkrete — Schwierigkeiten bewältigen. So wurde oft die Schul- oder Berufsausbildung abgebrochen, oder es liegen Vorstrafen vor (meist wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz, Apothekeneinbruchs oder sonstiger Beschaffungskriminalität), so daß es schwierig ist, eine passende Arbeits- oder Ausbildungsstelle zu finden. Damit ist die legale Beschaffung lebens-

wichtiger Geldmittel natürlich erheblich erschwert Wenn in einem solchen Fall auch noch Komplikationen der Art auftreten, daß der Abstinente von seiner Umwelt immer noch wegen seines früheren Drogenkonsums und seiner Zugehörigkeit zu einer sozial nicht akzeptierten Gruppe abgelehnt wird, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß er den Weg dahin zurücksucht, wo er integriertes Mitglied einer Gemeinschaft war (Gerdes/ v. Wolffersdorff-Ehlert 1972/73, S. 447). Diese „Rückfälligen" sind in der Regel stärker von der Kriminalisierung bedroht als noch nicht auffällig Gewordene, weil sie wegen ihres abweichenden Verhaltens bei einer oder mehreren Instanzen sozialer Kontrolle bereits bekannt, „aktenkundig" wurden; weitere nicht konforme Verhaltensweisen werden also im Allgemeinen bei dieser Gruppe stärker institutionell sanktioniert. Die neueren Ansätze in Therapie und Rehabilitation zielen deshalb auch besonders darauf hin, den physisch abstinenten Jugendlichen so zu sozialisieren, daß Konflikte inter-, intraindividueller und kollektiver Art gelöst werden können, ohne daß er sich abweichend im Sinne dieser Gesellschaft verhalten muß. Dieses Konzept wird von fast allen „drug-free" (Frei-von-Drogen)-Programmen vertreten, die besonders in den USA auf einige Erfahrung zurückblicken können. Als Beispiel für die Tätigkeit dieser privaten und gemeinnützigen Initiativen sei das Daytop-Verfahren skizziert. Dessen drugfree-Programm durchläuft im Rahmen von therapeutischen Gemeinschaften 5 Stufen: 1. Die orientierende Einführung (1 Monat), a) Gruppentherapie; b) Erziehungsseminare; c) bildende und erholende Aktivitäten; d) Zuweisung innerhäuslicher Arbeiten. 2. Die therapeutische Gemeinschaft (10 Monate), a) Fortsetzung der Aktivitäten wie unter 1., zusätzlich b) Genehmigung zum Familienbesuch und c) Gemeinschaftsaufgaben außer Haus; d) unverbindliche Bekanntschaften. 3. Vorbereitende Wiedereingliederung (2 y2—3 Monate) a) Fortsetzung der oben genannten Gruppen-Aktivitäten; b) Übung der zugewiesenen Arbeiten einschließlich Einführung in Verwaltungsarbeit und Gemeinschaftsaufgaben; c) soziale Aktivitäten außer Haus. 4. Aktive Wiedereingliederung (1 %—2 Monate), a) Verantwortliche Berufstätigkeit in einer Außenstelle; b) Fortsetzung der Gruppentherapie. 5. Auswärtsarbeiten (3—4 Monate), a) Beschäftigung außerhalb von Daytiop oder Wiedereinführung in den Schulunterricht; b) Fortsetzung der Gruppentherapie; c) Beginnende Resozialisierung außer Haus, freies Wochenende usw. Die therapeutischen Aktivitäten aller drug-freeProgramme basieren im wesentlichen auf dem Prinzip der t h e r a p e u t i s c h e n G e m e i n s c h a f t , d. h. in mehr oder weniger demokratischem Stil leben die Süchtigen in kleinen Wohngemein-

Rauschmittelmißbrauch: Soziologisch-psychologischer Beitrag schaften zusammen. Sie geben sich ihre eigenen Regeln und entwickeln autonome Zielvorstellungen. Trotz des demokratischen Stils herrscht jedoch eine hochautoritäre hierarchische Struktur (nach: Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1972, S. 33ff). „Die drug-freeProgramme versuchen alle auf dem Wege über die S e l b s t h i l f e zur Selbstverwirklichung zu kommen, deren bisheriges Fehlen als eine wesentliche Ursache des Drogen-Mißbrauchs angesehen wird" (s. o., S. 35). Hier ist also deutlich zu erkennen, daß die Therapie von Drogenabhängigen — abgesehen von der reinen Entgiftung — heute vorwiegend die Aufgabe von Psychologen und Sozialarbeitern sein müßte, da diese Form der Behandlung in Kliniken und ausschließlich von Medizinern gar nicht geleistet werden kann. Einige kirchlich oder städtisch finanzierte Drogenberatungsstellen in der BRD haben diese veränderte Situation bereits erkannt und versuchen, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Als Beispiel sollen weiter unten einige empirisch erarbeitete Ansätze beschrieben werden. Fast alle neueren Therapie- und Rehabilitationsprogramme sind sich darüber einig, daß zur Rückfallvermeidung drei Voraussetzungen erfüllt sein müssen: ,,a) der ehemalige Fixer muß den Kontakt zu seiner bisherigen Bezugsgruppe (den anderen Fixern) abbrechen; b) er braucht eine neue Bezugsgruppe, in der er Menschen findet, die ihn mögen und denen er vertrauen kann (in objektivierender Terminologie: „affektive, diffuse Orientierung" (T. Parsons) in den Sozialbeziehungen); c) er muß ein für ihn zugängliches Ziel finden, in dem er ein ausreichendes Maß an 'Selbstverwirklichung' realisieren kann — irgendetwas, das ihn auf längere Sicht 'antörnt'." (Gerdes/v. Wolffersdorff-Ehlert 1972/73, S. 445). B. Schmidtobreick (1972, S. 58) nennt darüber hinaus zwei weitere Ziele, die eine Behandlung Drogenabhängiger erreichen sollte: d) der Gesellschaft zu helfen, den einzelnen in seiner Devianz zu akzeptieren, in seiner Fehlhaltung zu ertragen und ihn zu stützen bei den Versuchen zur Lösung von der Droge; e) Veränderung in der krankmachenden Gesellschaft herbeizuführen, damit die kollektiven Lebensbedingungen für die potentiell Drogengefährdeten nicht so sind, daß zwangsläufig aus Drogengefährdeten Leidende und Dissoziale werden. Wie bereits weiter oben erwähnt, ist das Problem des Kontaktabbruchs zur bisherigen drogenkonsumierenden Bezugsgruppe nicht zu unterschätzen, da sich erhebliche soziale Schwierigkeiten bei den ex-usern ζ. T. erst nach der Entwöhnung einstellen können. Das zweite Kriterium für eine erfolgreiche Rehabilitation, nämlich die Möglichkeit zur Herstellung vertrauensvoller Beziehungen zu einer drogenfreien Gruppe, ist im Rahmen eines Therapieprogrammes noch relativ

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gut realisier- und steuerbar, ζ. B. durch therapeutische Gemeinschaften, klientenzentrierte Gesprächstherapie, Psychodrama o. ä.. Hier — wie auch im behandlungsorientierten Strafvollzug — kann eine therapeutische Gemeinschaft, die von äußeren sozialen Einflüssen größtenteils abgeschirmt wird, bei den Drogenabhängigen zu einem nicht realitätsentsprechenden positiven Eindruck über die Erreichbarkeit vorurteilsfreier, unaggressiver sozialer Kontakte führen. Die Konsequenz wäre wiederum, daß der in die „normale" Gesellschaft zurückkehrende Nicht-mehr-Drogenabhängige bei Vorurteilen bzw. Zurückweisung durch diese „normale" Gesellschaft schnell resigniert und die Rückfallwahrscheinlichkeit stark ansteigt. Die soziale Isolierung während der Behandlungsphase muß also jedenfalls — wie im Daytop-Verfahren — aufgefangen werden durch organisierte, überwachte „Wiedereingliederungs"Verfahren und durch langfristige Nachbetreuung. Die größte Schwierigkeit bei der Durchsetzung dieses Gedankens liegt wahrscheinlich darin, daß der finanzielle Aufwand von der Öffentlichkeit — und häufig auch von bestimmten Gremien — für ungerechtfertigt hoch gehalten und daher nicht genehmigt wird. Ähnlich diffizil scheint auch die Verwirklichung des dritten Kriteriums zu sein: das Anbieten echter Handlungsalternativen. Die Mannigfaltigkeit der hier unternommenen Versuche, Substitutionsziele für den Drogenkonsum zu schaffen, ist beachtlich. Sie reicht von autogenem Training, katathymem Bilderleben, hinduistischer und buddhistischer Mystik und Meditation bis zur „Beschäftigungstherapie" im weitesten Sinne: Töpfern, drucken, filmen, Gitarre spielen usw. Keines davon kann als „Allheilmittel" betrachtet werden; wenn jedoch das (theoretisch) so breite Angebot an Alternativen tatsächlich von den Therapie- und Rehabilitationsinstanzen konstant — nicht nur in Experimentalphasen — bereitgestellt würde, so könnte vielleicht doch damit gerechnet werden, daß die Rückfallquote um ein Beträchtliches geringer wird. Bei Schmidtobreick (1972) wird auf eine wesentliche Rehabilitationsbedingung hingewiesen, die eine der am schwierigsten realisierbaren ist: die Gesellschaft scheint nämlich zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht bereit zu sein, Devianz einiger ihrer Mitglieder zu akzeptieren bzw. diese bei Wiedereingliederungsbemühungen zu unterstützen. Aufgrund dieser Schwierigkeit entstehen die bereits in den vorhergehenden Punkten aufgeführten negativen Interaktionen zwischen Drogenabhängigen und dem „angepaßteren" Teil der Bevölkerung. Gleiches gilt auch für das letzte von Schmidtobreick genannte Kriterium. Die meisten drugfree-Programme arbeiten ausschließlich an der sozialen (Re-) Integration des ex-users in das be-

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stehende Gesellschaftssystem. Eine Selbsthilfeorganisation, die in den letzten Jahren in einigen Städten der BRD größere Bedeutung für die Resozialisierung devianter Jugendlicher erlangt hat, ist „Release" (Heuer et al. 1971). Diese Gruppe, in der user und ex-user, Ärzte, Psychologen, Pädagogen, Soziologen und Sozialarbeiter miteinander für die Sozialisierung Drogenabhängiger arbeiten, hat ihrem Konzept nach eine Veränderung des bestehenden Gesellschaftssystems als „Fernziel"; „kurzfristig jedoch hat die Individualbzw. Gruppentherapie Priorität" (Metzger-Pregizer 1973, S. 82). „Release ist in der BRD in vielen Städten vertreten, unterschiedlich stark organisiert und arbeitet auch mit graduell voneinander abweichenden Konzeptionen, wobei sich die Abweichungen primär auf unterschiedliche Ausgangslagen beziehen" (S. 82). Die Forderungen, die von Release als Vorausetzungen für die Möglichkeit einer erfolgreichen Drogenentwöhnung gestellt werden, entsprechen im allgemeinen den bereits genannten. Release bezieht jedoch noch zwei weitere Ausgangsüberlegungen mit ein: Einmal können kommunikative Beschränkungen, die sich im Moment der Sucht zeigen, durch weitere kommunikative Beschränkungen — ζ. B. durch Hospitalisierung — mit Gewißheit nicht erfolgreich behandelt werden. Da Kommunikationsstöruugen jedoch zumindest als mitverursachend für Drogenabhängigkeit betrachtet werden müssen, gehört zur Sozialisierung nach dem ReleaseKonzept vor allem, daß interpersonelle Kommunikation erlernt (oder wiedererlernt) werden soll. Zum zweiten geht Release davon aus, daß das Rollenverhältnis zwischen Patient und Therapeut im allgemeinen ein starkes Machtgefälle beinhaltet. Unter diesen Bedingungen werden ausschließlich vom Patienten Lern- und Bewußtseinsprozesse gefordert. Release verlangt statt dessen, daß diese Distanz abgebaut werden und eine Solidarisierung eintreten müsse. Diese Solidarisierimg solle jedoch nicht zu einer „Gleichmacherei" sondern vielmehr zu einer Identitätserweiterung der Interaktionspartner führen. Unter dem Aspekt der (Re-) Sozialisierung wird angestrebt, „daß der Süchtige wieder lernen soll, materiell autonom zu leben, ohne sich oder der Gesellschaft zur Last zu fallen" (MetzgerPregizer 1973, S. 82). Eine hierbei unabdingbare Voraussetzung ist jedoch, daß die Ausübung der Tätigkeit Kreativität nicht nur zuläßt, sondern sie fordert (da im anderen Fall wohl kaum von einer echten Handlungsalternative gesprochen werden kann). Die Behandlungskette, die Release für den „harten Kern" der Fixer vorsieht, entspricht im großen und ganzen unter Einbeziehung der oben genannten Zusatzerwägungen der skizzierten Daytop-Methode. Nach Vermutungen von Release Mitarbeitern ließe sich die Erfolgsquote auf

etwa 65 %—75 % der aufgenommenen „Patienten" steigern — bei besserer Ausstattung der einzelnen Stellen und bei gesicherter Finanzierung. Auch hier ist also letzten Endes die Öffentlichkeit verantwortlich zu machen für die Möglichkeit der (Re-) Sozialisierung jugendlicher Drogenabhängiger.

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KRIMINOLOGIE (GRUNDLAGEN)

I. VERUNSICHERTE KRIMINOLOGIE Seit dem Erscheinen des informativen Überblicks von Karl 0. Christiansen (-> Kriminologie, Grundlagen) im Jahre 1968 sind acht Jahre Theoriediskussion vergangen, die die Kriminologie in der Bundesrepublik Deutschland „verunsichert" (Armand Mergen 1975) hat. Von solcher „Verunsicherung" ist die internationale und speziell die nordamerikanische Kriminologie nur wenig betroffen. Der „Labeling Approach" spielt in der internationalen und besonders in der nordamerikanischen kriminologischen Diskussion eine sehr untergeordnete Rolle. Das wurde während des „Internationalen Kongresses für Kriminologie" deutlich, der vom 17. bis 22. September 1973 in Belgrad stattfand und der sich thematisch den „Haupttrends in der gegenwärtigen Kriminologie" gewidmet hatte. Verfolgt man die Jahrestagungen der „American Society of Criminology" seit mehr als zehn Jahren, so wird man unschwer feststellen, daß die Theoriediskussion und insbesondere die Diskussion um den „Labeling Approach" nur ein Thema unter vielen anderen Themen ist. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die kriminologische Grundlagenerörterung durch Veröffentlichungen von Fritz Sack (1968, 1969,1971 und 1974) ausgelöst, der durch subjektiv-einseitige und eigenwillige Interpretationen zahlreicher nordamerikanischer Autoren Aktivität, aber auch Unruhe und Unsicherheit verbreitete und der durch die Bezeichnung seines „radikalen Benennungsansatzes" als „marxistisch" (1974) die Verwirrung auf die Spitze trieb. Es entstand eine uferlose und bis heute andauernde Diskussion, die bisher allerdings keine praktisch verwertbaren Ergebnisse brachte. Die „Eifererbewegung" artikulierte sich vor allem in der Zeitschrift „Kriminologisches Journal": „Kriminologie und labeling approach"(1972, S. 53—75), „Wie marxistisch ist der labeling-Ansatz ?" (1972, S. 229—233), „Kritik am labeling approach von links" (1972, S. 235—237), „Psychoanalytische Anmerkungen zum labeling

approach" (1974, S. 137—141), „Karl Marx und der „Labeling"-Ansatz" (1974, S. 313—319), „Konsequenzen des Labeling-Ansatzes für die Polizei" (1975, S. 54—58), „Bemerkungen zur Rezeption des Labeling-Ansatzes in der westdeutschen Kriminalsoziologie" (1975, S. 161 bis 171), „Die Labeling-Theorie aus der Perspektive kriminalpolitischer Pragmatik" (1975, S. 172 bis 181), „Der labeling approach in der Diskussion — eine Kritik neuerer Literatur" (1976, S. 61—70). Als „Chefideologe" wird immer wieder Fritz Sack ausgewiesen. Die „neue, kritische, radikale" Kriminologie hat in England in Ian Taylor, Paul Walton und Jock Young (1973,1975a) Hauptinterpreten gefunden. In den USA haben sich die „radikalen" Kriminologen in der Zeitschrift „Crime and Social Justice" (ab 1974) ein Publikationsorgan geschaffen. In Italien ist im Jahre 1975 die Zeitschrift „La Questione Criminale" gegründet worden, die vor allem der Verunsicherung der Instanzen der Sozialkontrolle(Polizei, Gerichte, Strafvollzug) dienen soll. In den USA führen die „radikalen" Kriminologen ein kriminologisches Randdasein. Sie sind wegen der ideologischen Verwirrung, die sie verbreiten, in die traditionell pragmatisch ausgerichtete „Amerikanische Gesellschaft für Kriminologie" nicht integriert. Die amerikanischen „radikalen" Kriminologen propagieren einen zum größten Teil unverständlichen Marxismus, der sich allerdings deutlich von der Kriminologie in der Sowjetunion und in den osteuropäischen sozialistischen Ländern absetzt und sich mehr an Ideologien aus Kuba und aus der „Volksrepublik China" orientiert. Die westeuropäischen „Labeling"-Theoretiker machen zwar entschieden und geschlossen Front gegen eine angeblich vorhandene „orthodoxe bürgerliche Kriminologie"; sie sind indessen in sich selbst ideologisch bis zur Selbstlähmung zerstritten. Durch diesen Streit und durch ihre theoretische Unklarheit, die sich am deutlichsten in ihrer unverständlichen Sprache dokumentiert, begeben sie sich jeder praktischen Wirksamkeit. In der Kriminologie spiegeln sich Erschei-

516

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

nungen sozialer Desorganisation wider. Hermann Mannheim schreibt — nach einem langen Leben kriminologischer Erfahrung — dazu (1974, S. 835/836): „Es ist mitunter schmerzlich, beobachten zu müssen, wie ursprünglich fruchbare Ideen durch ein Übermaß an Wiederholungen, durch Plattheiten oder andererseits übertriebene Spitzfindigkeiten zu Tode gehetzt werden . . . Die in den letzten Jahren immer mehr anschwellende Flut von mittelmäßigen, sich stets wiederholenden oder übermäßig überspitzten und völlig wirklichkeitsfremden Beiträgen i s t . . . kaum noch zu rechtfertigen."

Π. SELBSTVERSTÄNDNIS GEGENWÄRTIGER KRIMINOLOGIE A. Die „traditionelle" deutschsprachige Kriminologie 1. Kriminologie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Die Kriminologie, die in Veröffentlichungen bis in die Anfänge des 18. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann, war im deutschsprachigen Raum zunächst Kriminalpsychologie. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stritt man sich darüber, ob sie zur Medizin oder zur Philosophie gehöre. Immanuel Kant (1724—1804) setzte sich dafür ein, die Krimmalpsychologie innerhalb der Philosophie zu entwickeln. Die Medizin blieb in diesem Streit Sieger. Die Mediziner wurden fast nur zu Gerichtsgutachten herangezogen. Sie veröffentlichten nahezu ausschließlich Lehrbücher und Monographien über Kriminalpsychologie im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Hans Groß und Franz von Liszt auf kriminologischem Gebiet im deutschsprachigen Raum die beherrschenden Persönlichkeiten. Der Jurist Hans Groß beschäftigte sich in seiner Kriminalpsychologie (1905), die in englischer Sprache auch in Nordamerika erschienen und dort 1968 nachgedruckt worden ist, mit „einer pragmatischen angewandten Psychologie, die sich mit allen seelischen Momenten befaßt, die bei der Feststellung und Beurteilung von Verbrechen in Frage kommen können". Er widmete sich im ersten Teil seiner „Kriminalpsychologie" der psychischen Tätigkeit des Richters. Franz von Liszt (1905a) betrachtete das Verbrechen hauptsächlich als sozialpathologische Erscheinung, und er äußerte die Meinung, „daß die gesellschaftlichen Faktoren ungleich größere Bedeutung für sich in Anspruch nehmen dürfen als der individuelle Faktor" (1905a, S.235). Bei der Entwicklung

einer Ätiologie der Kriminalität setzte er sich für eine Zweiteilung ein: „Das Verbrechen ist das Produkt aus der Eigenart des Verbrechers im Augenblick der Tat einerseits und den den Verbrecher im Augenblick der Tat umgebenden äußeren, insbesondere wirtschaftlichen Verhältnissen andererseits" (1905b, S. 438). Franz von Liszt fügte dieser Formulierung allerdings sogleich hinzu, daß sie an einem schwerwiegenden Fehler kranke. Sie erfasse nämlich nur das Verbrechen im Leben des einzelnen, aber nicht die Kriminalität als eine Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens: „Die Wurzeln der Kriminalität müssen (aber) in den Lebensäußerungen der Gesellschaft überhaupt gesucht werden" (1905b, S. 441). In seiner „Kriminalpsychologie und straf rechtlichen Psychopathologie" behandelte der Psychiater Robert Sommer (1904) die „Psychophysiologie der rechtsbrechenden Personen". Er warnte bereits seinerzeit: „Die Lehre vom geborenen Verbrecher in der Hand von dogmatischen Vertretern der staatlichen Ordnung kann zu einer furchtbaren Waffe gegen die persönliche Freiheit der Individuen werden" (S. 309). Sie hat in der nationalsozialistischen Zeit (1933 bis 1945) zu einer entsetzlichen Zerstörung des Lebens ganzer Völker geführt (-> Genocidium). Daß die Strafe Verbrechen aufrechterhalten, ja sogar verursachen kann, hatte der Mediziner Max Kauffmann schon in seiner „Psychologie des Verbrechens" (1912) erkannt: „Die Strafe bricht sehr häufig den Trotz, aber sie bricht auch den Stolz und die Selbstachtung . . . Die Lebenserfahrung zeigt uns, daß eine allzu strenge Strafe, statt zu bessern, den Menschen schlechter macht, eben aus dem angeführten Grunde" (1912, S. 250/251).

2. Kriminologie nach dem 1. Weltkrieg Die -> Kriminalbiologie wollte der Österreicher Adolf Lenz (1927) entwickeln: Die Persötilichkeit stelle nicht nur eine seelische, sondern wesentlich eine körperlich-seelische Einheit dar; deshalb sei das individuelle Körperleben von gleicher Bedeutung wie das seelische. Lenz sprach von „kriminogenen" Dispositionen. „Die biologische Betrachtung erblickt im Verbrechen ein psychophysisches Phänomen. Dies bedeutet, daß ihr das Seelenleben nicht wie bei der kriminalpsychologischen Betrachtung an sich, sondern nur in seiner untrennbaren Einheit mit dem körperlichen Leben zugrunde liegt" (1927, S. 11). Der Kriminelle ist für Lenz eine Abweichung vom „durchschnittlichen" Menschen. „Die Umwelt kommt für die Kriminalbiologie nur so weit in Betracht, als sie sich im individuellen Leben widerspiegelt" (1927, S. 20). Hier ist eben gerade das ausgeklammert worden, was Franz von Liszt „die Kriminalität als eine Erscheinung des gesellschaftli-

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung chen Lebens" bezeichnet hatte. Moritz Liepmann, ein Schüler Franz von Liszts, rückte eben diesen Aspekt in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. In seiner 1930 erschienenen Monographie „Krieg und Kriminalität in Deutschland" bemühte er sich darum, die gesamtgesellschaftlichen Folgerungen des Krieges für die Kriminalitätsentwicklung in dynamischer Betrachtungsweise aufzuzeigen. Er schloß eine Kritik an der Gesetzgebung und Rechtsprechung in seine Erörterungen mit ein. Im Jahre 1933 schrieb Gustav Aschaffenburg in seinem Werk „Das Verbrechen und seine Bekämpfung", das in seiner amerikanischen Übersetzung Weltgeltung erlangt hat und das im Jahre 1968 in seiner amerikanischen Ausgabe nachgedruckt worden ist: „(Das) Verbrechertum ist ein untrennbarer Bestandteil der menschlichen Gesellschaft, mit der es aufs innigste verwachsen ist, und aus der es immer neue Nahrung schöpft. Nur in ihr und im Zusammenhang mit ihr kann das Verbrechen zustande kommen . . . Von Liszt hat in einem Vortrag neuerdings die Anschauung vertreten, daß die Wurzeln der Kriminalität, soweit sie nicht eine gesellschaftliche Krankheitserscheinung ist, in dem normalen gesellschaftlichen Leben zu suchen sind. Ich stimme ihm darin vollkommen bei. Nur selten werden uns Verbrechen, losgelöst von anderen Lebenserscheinungen, begegnen. Das gesellschaftliche Dasein stellt an alle, die im Leben stehen, große Anforderungen, denen jeder gewachsen sein sollte, aber viele nicht gewachsen sind. Wir können aber diese soziale Untauglichkeit nicht erkennen, wenn wir nicht den Rechtsbrecher im Zusammenhang mit der ganzen menschlichen Gesellschaft betrachten" (S. 6/7). Liepmann und Aschaffenburg bekennen sich also ausdrücklich zu einer Analyse, die die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen mit einschließt. Nach dem österreichischen Kriminologen Ernst Seelig (1936 und o. J . ) gliedern sich die Ursachen der Tatbegehung stets in zwei Hauptfaktoren: die Persönlichkeit des Täters zur Tatzeit und die Umweltlage zur Tatzeit, die die kriminelle Äusserung im Wege der korrespondierenden aktuellen Erlebnisreihe im Täter auslöst oder doch mindestens ihre Ausführung objektiv ermöglicht. „Die Tatzeitpersönlichkeit ist aber selbst wiederum das Ergebnis einer komplizierten Entwicklung; sie beginnt mit den Anlagen im Zeitpunkt der Geburt und vollzieht sich einerseits gemäß den endogen vorgegebenen Entwicklungsmöglichkeiten dieser Anlagen und andererseits beeinflußt durch die steten Umwelteinwirkungen während des Individuallebens" (1936, S. 70; ähnlich o. J . , S. 20—24). Diesen Ursachen des Verbrechens als Einzelerscheinung fügt Seelig — allerdings wesentlich kürzer, gleichsam korrigierend — einige Bemerkungen über die Kriminalität als Massenerscheinung hinzu.

3. Kriminologie

517 nach dem 2. Weltkrieg

Alles kriminologische Betrachten, Beschreiben und Verstehen bewegt sich nach Franz Exner (1949) zwischen den beiden Polen: Anlage und Umwelt. Die Umwelt, der der einzelne „ausgesetzt" ist, betrachtet er als etwas Individuelles, Einmaliges. Zu Anlage und Umwelt hinzu kommt die Persönlichkeit, die Exner als das Ganze der geistig-seelischen Eigenschaften eines Menschen verstanden wissen will, wie sie ihn in einem gegebenen Zeitpunkt kennzeichnen. „Grundlage für die Bildung der Persönlichkeit ist die Anlage" (1949, S. 28). Einen für die Kriminologie zu einseitigen Indeterminismus vertrat Wilhelm Sauer (1950). Die Ursache für die Straftat ist der „Kriminalitätserreger", nämlich der selbstschöpferische Gestaltungswille des Verbrechers, die in der Tiefe der Persönlichkeit wurzelnde Willensfreiheit. Hinter diesen „Kriminalitätserreger" treten Anlage (Erbgut) und Umwelt bei Sauer als Verursachungsfaktoren für Kriminalität zurück. „Die Umwelt jemandes kann nur von seiner Persönlichkeit, besonders von seinem Willen her, näher bestimmt werden" (1950, S. 61). Als Verbrechensbekämpfung empfiehlt Sauer die Ausmerzung des „Kriminalitätserregers" und seinen Ersatz durch moralischkulturelle Werte. Der Antipode zum „Kriminalitätserreger" ist nämlich der Kulturschöpfer, die geniale Kraftbetätigung zur Schaffung kultureller Werte für die Gesamtheit. Als Methode empfiehlt Sauer der Kriminologie die intuitive Einführung in das Wesen der Kriminalität: „Die reine Kriminologie erfaßt aus mehreren gegenteiligen Sätzen die wahre Einsicht; sie besitzt einen intuitiven Sinn für das Wahre, wie die Rechtsphilosophie für das Gerechte (1950, S. 11) . . . Der reinen Kriminologie in Verbindung mit intuitiver Erkenntnis und Lebenserfahrung kommt grundsätzlich ein höherer Beweiswert zu als der Statistik" (1950, S. 14). An Lenz und Exner knüpft Edmund Mezger (1951) an. Für ihn ist die kriminelle Tat — genetisch gesehen — das Produkt aus der anlage- und entwicklungsbedingten Persönlichkeit des Täters und der ihn umgebenden persönlichkeitsgestaltenden und tatgestaltenden Umwelt. Einen kriminalbiologischen Standpunkt vertritt der schweizerische Kriminologe Erwin Frey (1951): Es bestehen enge Beziehungen zwischen Psychopathie und Rückfallverbrechertum. Bestimmte Psychopathieformen prädisponieren zu asozialen und kriminellen Verhaltensweisen. Diese Prädispositionen sind erblich und anlagemäßig bedingt. Frey verwendet den Psychopathiebegriff, vor dessen unkritischem Gebrauch Kurt Schneider (1958) warnt. Eine sinngebende Mitte findet Thomas Würtenberger (1957) für die Kriminologie in der „philosophischen Anthropologie". Nur die Ganzheitsbetrach-

518

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

B. Der kriminologische Verbrechensbegriii

zur Versachlichung der Diskussion beitragen würde. Beim gegenwärtigen Stand der Diskussion um den Verbrechensbegriff steht noch nicht fest, ob sich nicht doch alle wesentlichen Richtungen der Kriminologie auf einen Verbrechensbegriff einigen können. Leerformeln würden freilich nur eine Scheineinigung bedeuten und insofern schädlich sein. Immerhin ist ein „definitorisches Minimum" denkbar, das sachlich-inhaltlich etwas auszusagen vermag und das die gemeinsame Grundlage für alle innerhalb der Kriminologie Tätigen zu bieten vermöchte. Man muß sich allerdings darüber im klaren sein, daß jede Definition des Verbrechensbegriffs, die in der Kriminologie allgemeine Gültigkeit beansprucht, lediglich eine „Leitlinie" darzustellen vermag. Bei der Lösung unterschiedlicher Aufgaben der Kriminologie wird man nicht darum herumkommen, sehr differenzierte Verbrechensbegriffe verwenden zu müssen.

1. Das Problem der Einheitlichkeit des Verbrechensbegriffs

2. Möglichkeiten der Definition des Verbrechensbegriffs

Der Begriff „Verbrechen" ist kriminologisch eine unerträgliche Abstraktion, obwohl er im •wissenschaftlichen wie im alltäglichen Sprachgebrauch ziemlich unbekümmert und unkritisch ständig verwandt wird. Die Dimensionen des „Verbrechens" reichen von relativ unbedeutenden Straßenverkehrsdelikten bis zu Straftaten wie Raub, Notzucht und Mord, die von der Bevölkerung als schwere Rechtsbrüche empfunden werden und auf die die Öffentlichkeit empfindlich reagiert. Bedenkt man weiterhin, daß der Begriff „Verbrechen" so unterschiedliche Phänomene wie politische Kriminalität, organisiertes Verbrechen, Wirtschaftskriminalität, Straßenverkehrskriminalität decken soll, so wird die große Schwierigkeit erkennbar, den Verbrechensbegriff zu definieren. Auf jeden Fall empfielt es sich, bei theoretischen und empirisch-kriminologischen Untersuchungen und bei Diskussionen, die wissenschaftliches Niveau beanspruchen und für die der Verbrechensbegriff wesentliche Grundlage ist, den jeweilig gemeinten Verbrechensbegriff vorher zu definieren. Hierdurch kommt Klarheit in das, wovon gesprochen wird. Hans Göppinger (1973, S. 4) hat grundsätzlich recht, wenn er sagt: „Einen allgemein verbindlichen und überall geltenden, inhaltlich identischen Verbrechensbegriff gibt es nicht." Daraus aber den Schluß zu ziehen, den Versuch erst gar nicht zu wagen, einen für die Kriminologie verbindlichen Verbrechensbegriff zu definieren, wäre falsch. Selbst wenn unterschiedliche Richtungen in der Kriminologie zu verschiedenen Definitionen des Verbrechensbegriffs gelangen sollten, wären damit verschiedene Ausgangspositionen klar abgesteckt, was zur Vermeidung von Mißverständnissen und

Folgende Möglichkeiten der Definition des Verbrechensbegriffs werden vorgeschlagen: Legalistische Definition: „Das Verbrechen (crimen) ist in seinem Wesen, in seinem Umfang und in seiner Umgrenzung strafrechtlich-juristisch bestimmt . . . Deshalb bleibt es dabei: Alle Kriminologie empfängt ihren Gegenstand bei der Gestaltung des Verbrechensbegriffs aus den Händen der Strafrechtswissenschaft" (Edmund Mezger 1951, S. 4). Für die Definition des kriminologischen Verbrechensbegriffs ist die Verletzung von Strafrechtsnormen bedeutsam. Diese Meinung vertreten in der Bundesrepublik Deutschland Anne-Eva Brauneck (1974) und Ulrich Eisenberg (1972) und in den Vereinigten Staaten Paul W. Tappan (1960), Robert G. Caldwell (1965), Walter C. Reckless (1973), Edwin H. Sutherland und Donald R. Cressey (1974). Im Rahmen der legalistischen Definition gehen Richard R. Korn und Lloyd W. McCorkle (1967) mehr von der Reaktionsseite aus. Für sie ist wesentlich, ob das Handeln oder Unterlassen von Autoritäten bestraft worden ist, die ihr Territorium unter ständiger politischer Kontrolle haben. Richard Quinney hat (1975 a) einen klassenkämpferischen Begriff des Verbrechens entwickelt: Die Legaldefinition des Verbrechens wird von der herrschenden Klasse bestimmt. Durch Strafrechtsnormen löst sie soziale Konflikte in ihrem Sinne. Das ist ihr deshalb möglich, weil sie die Macht über die Strafgesetzgebung und die Strafrechtspflege ausübt. Eine Ideologie des Verbrechens wird durch die herrschende Klasse aufgestellt und verbreitet, um ihre Vorherrschaft zu sichern. Wenn Quinney sein Modell auch vor allem für die kapitalistische Gesellschaft entwickelt hat, so gilt es gleichwohl

tung der philosophischen Anthropologie kann nach Würtenberger zum Ziele in der Kriminologie führen. Richard Lange (1970, S. 344/345) schließt sich dieser Beurteilung ausdrücklich an. Für Hans von Hentig (1963, S. 12) spielt die Anlage — zwar in sehr differenzierter Weise — aber immerhin noch eine maßgebende Rolle bei der Verbrechensentstehung: „Dispositionen sind zwar angeboren, doch in gewissem Umfang lokker angelegt, dem Aufbau unterworfen, der Kräftigung durch Übung und der Schrumpfung durch ein langes Stilleliegen, dem Unfall und dem Angriff durch die Krankheit, dem Ausgerichtetund Verbogenwerden durch die Umweltkräfte, von den Prozessen abgesehen, durch die der Kreislauf unseres Daseins sich vollendet, von frühester Kindheit bis ins hohe Alter."

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Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung ebenso für die etablierten sozialistischen Gesellschaften. Soziologische Definition: Strafrechtsnormen will Thorsten Sellin (1938) durch Verhaltensnormen ersetzen. Strafrechtsnormen hängen nach Sellin von dominierenden Mehrheiten oder Minderheiten, jedenfalls von herrschenden Interessengruppen ab. Verhaltensnormen findet man überall, wo es soziale Gruppen gibt. Sie sind universal, werden durch keine normgebenden Gruppen bestimmt, machen vor keinen politischen Grenzen halt und sind nicht notwendig im Gesetz enthalten. Der Verbrechensbegriff soll sich nach der Verletzung von Verhaltensnormen richten. Sellin zieht es allerdings vor, von sozialabweichendem Verhalten zu sprechen. Für Hermann Mannheim (1974) und Armand Mergen (1967) ist die Antisozialität des Verhaltens maßgebend. Mergen formuliert: „Verbrechen im kriminologischen Sinne ist ein Bruch der Verhaltensnormen innerhalb einer Gesellschaft, der antisozial, d. h. gegen die Gesellschaft und ihre Mitglieder gerichtet ist." Andere sprechen von Sozialgefährlichkeit oder Sozialschädlichkeit (vgl. dazu Günther Kaiser 1970, S. 112—131). Heinz Zipf (1969) stellt auf die Unerträglichkeit sozialschädlichen Verhaltens ab. Nach Joachim Hellmer (1975) ist ein inhaltliches Kriterium des Verbrechensbegriffs, „daß ein anderer oder die Gemeinschaft verletzt oder mindestens ernstlich gefährdet wird (materieller Kriminalitätsbegriff)". Für Karl-Dieter Opp (1968, S. 23) ist abweichendes Verhalten schließlich als eine Verletzung von Erwartungen der quantitativ größten Zahl der Mitglieder einer Gesellschaft definiert. Legalistisch-soziologische Definition: Nach dem Grundsatz „sowohl als auch" haben einige Kriminologen Mischdefinitionen gebildet. Marshall B. Clinard schreibt (1974, S. 258): „Soziologisch ist ein Verbrechen jedes Verhalten, das als sozialschädlich betrachtet wird und das vom Staat bestraft worden ist, wobei es auf die Art der Strafe nicht ankommt." Thomas Würtenberger meint (1957, S. 39): „Was normwidrig und damit Verbrechen ist oder als solches gilt, vermag die Kriminologie nicht selbstherrlich zu bestimmen, sondern dies ergibt sich aus den herrschenden sozialethischen Anschauungen innerhalb eines Volkes, mehr noch aus den Normen des staatlichen Strafgesetzes, die Umkreis und Gehalt des strafbaren Unrechts abschließend bestimmen." Für Erich Buchholz, Richard Hartmann, John Lekschas und Gerhard Stiller (1971, S. 54) gibt es das Problem eines unterschiedlichen strafrechtlichen und kriminologischen Verbrechensbegriffs überhaupt nicht: „Was nun die Kriminologie angeht, so betrachtet sie die Kriminalität gleichermaßen nicht nur als gesellschaftliche Erscheinung, sondern ebenso auch als rechtliches Phänomen. Das Recht ist nicht eine irgendwo und irgendwie

existierende abstrakte Norm, sondern Instrument zur Gestaltung gesellschaftlicher Lebensprozesse und damit ein notwendiger Bestandteil und eine notwendige Seite dieser gesellschaftlichen Prozesse und Erscheinungen selbst." Etwas unverbindlich formuliert schließlich Günther Kaiser (1973, S. 52): „Nur die juristische Formaldefinition des Verbrechens vermag Sicherheit über Umfang und Inhalt des jeweils geltenden Kriminalunrechts zu vermitteln. Daneben ist die Blickschärfung für soziale Phänomene wie Gemeinlästigkeit, Alkoholismus, Drogengebrauch, Prostitution und anderes Randverhalten wie Selbstmord notwendig . . . " . Sozialpsychologische Definition: Kriminalität wird als ein „komplexes deterministisches System" (Leslie Τ. Wilkins 1968, S. 156) verstanden. Das Verbrechen wird bestimmt durch den gesellschaftlichen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß. In diesem Sozialprozeß kommt es nicht nur auf den Erlaß oder die Streichung von Strafrechtsnormen, sondern auch auf die Verankerung dieser Normen im Rechtsbewußtsein der Gesellschaft und die Durchsetzung dieser Normen durch die Instanzen sozialer Kontrolle(z. B. Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht, Strafvollzug) an. Das Verbrechen verwirklicht sich sodann im individuellen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß. Menschliches Verhalten ist als solches nicht wertneutral. Kriminelles Verhalten besitzt aber für sich allein noch nicht ohne weiteres die Qualität „kriminell". Kriminelles Verhalten konstituiert sich vielmehr im Verhalten des Delinquenten, in der formellen sozialen Reaktion (ζ. B. durch die Kriminalpolizei) und in der informellen sozialen Reaktion (ζ. B. in der Familie oder Nachbarschaft) auf sein Verhalten und in der Rückwirkung dieser Reaktionen auf sein Verhalten, also in der Interaktion. Nimmt der als „kriminell" Definierte dieses Etikett an, so ist er kriminell. Gelingt es ihm, sich erfolgreich gegen die Etikettierung zu wehren (ζ. B. Einstellung des Verfahrens, Freispruch), so ist er nicht kriminell. Diese Verbrechensdefinition ist an der Wirklichkeit orientiert und dynamisch (Hans Joachim Schneider 1973, S. 570/571). C. Gegenstand und Aufgabe der Kriminologie 1. Analyse der KriminalisierungsEntkriminalisierungsprozesse

und

Das Verbrechen wird bestimmt durch den gesellschaftlichen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß. Es entsteht und vergeht im individuellen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß. Mit dieser an der Realität orientierten, dynamischen, funktionalen Definition ist der Gegenstand der Kriminologie noch nicht beschrieben, wenn auch der Kern dieses Gegen-

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Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

Standes lokalisiert ist. Die sozialen Voraussetzungen und Auswirkungen des gesellschaftlichen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozesses zu erforschen, gehört zum Gegenstand und zur Aufgabe der Kriminologie. In diesem Zusammenhang hat das „sozialabweichende Verhalten" seinen bedeutsamen Stellenwert, das im Vorfeld oder in der Nachhut des gesellschaftlichen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozesses liegt. Sozialabweichendes Verhalten, das dem zeitlichen und örtlichen Wandel unterliegt und von der Frustrationstoleranz einer Gesellschaft abhängt, ist zu einem wesentlichen Teil „funktional" für eine Gesellschaft, weil es zu ihrem Zusammenhalt beiträgt (ζ. B. Kontrastfunktion). Es handelt sich um Verhalten, das von der Mehrheit der Gesellschaft als Normverstoß empfunden wird und das im Sozialprozeß entsteht und vergeht. Sozialabweichendes Verhalten besitzt keine Qualität allein aus sich selbst heraus, es ist vielmehr wesentlich von der sozialen Reaktion und deren Rückwirkung mit abhängig. Die soziale Definition von sozialabweichendem Verhalten ist ein Mittel der Sozialkontrolle. Durch eine verfehlte Reaktion kann im Sozialprozeß die Abweichung verstärkt werden, sich selbst sekundäre Sozialabweichung (Edwin M. Lemert 1967) entwickeln. Die Kriminologie interessiert sich besonders für die Wechselwirkungen zwischen Kriminalität und sozialabweichendem Verhalten. Aus sozialabweichendem Verhalten entsteht im Wege der Kriminalisierung durch Strafgesetzgebung Kriminalität, die wiederum zu sozialabweichendem Verhalten herabgestuft werden kann. Die sozialen Voraussetzungen und Auswirkungen des individuellen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozesses sind ebenfalls Gegenstand kriminologischer Forschung. In diesem auf das Individuum bezogenen Sozialprozeß kommt es nicht nur auf die formale Reaktion der Instanzen der Sozialkontrolle, sondern auch auf informelle Reaktionen im sozialen Nahraum des Individuums an. Tatsächliche Reaktionen können im Falle der im Dunkelfeld verbleibenden Kriminalität auch ganz entfallen. Dunkelfeldforschung gehört als wesentlicher Bestandteil zur Kriminologie, wenn auch darauf hingewiesen werden muß, daß das soziale Normensystem eine völlige Aufhellung des Dunkelfeldes wahrscheinlich nicht aushalten wird. Im gesellschaftlichen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß kommt es deshalb darauf an, welche Arten der bisher offiziell bekanntgewordenen Kriminalität zu sozialabweichendem Verhalten herabgestuft und welche anderen Arten von Kriminalität aus dem Dunkelfeld ins Gesellschaftsbewußtsein gehoben und verfolgt werden müssen. Das ist eine Frage der rationalen Gestaltung der Kriminalpolitik, des möglichst effektiven Einsatzes der begrenzten Kräfte der Sozialkontrolle.

2. Oegenstandslestimmung der modernen Kriminologie Der wesentliche Unterschied der modernen Kriminologie zur traditionellen liegt darin, daß sich die moderne Kriminologie ihrer Position innerhalb der Gesellschaft bewußt wird, daß sie also weiß, daß sie von gesellschaftlichen Bedingungen ausgeht und daß ihre Forschungsergebnisse soziale Wirkungen haben. Die moderne Kriminologie räumt deshalb ein, daß ihre Forschungen nicht „wertneutral" (a. A. Hans Göppinger 1973, S. 56; Armand Mergen 1967, S. 31; Richard Lange 1970, S. 29, 118/119, 123/124, 162) sein können. Sie bestimmt ihren Gegenstand nicht von der bestehenden Strafrechtsordnung (a. A. Reinhart Maurach 1971, S. 36; Jürgen Baumann 1975, S. 95/96) her. Denn sie versteht sich zwar als mit dem Strafrecht verbundene, aber dem Strafrecht gleichwertige Wissenschaft. Sie erforscht nicht nur Tatsachen über Verbrechen und Verbrecher (a. A. Heinz Leferenz 1967, S. 21; 1972, S. 968), sondern sie sieht das Verbrechen als Subsystem innerhalb eines größeren sozialen Systems, der Gesellschaft. Die kriminelle Persönlichkeit ist für sie ein Prozeß, die kriminelle Karriere eingebettet in einen größeren sozialen Zusammenhang. Der Kriminologe ist deshalb kein Dogmatiker, sondern ein Zetetiker (so mit Recht Detlef Krauß 1971, S. 26). Der „unvermeidliche Kriminologe ist eine Person, die Mittel und Strategien für das Auseinanderkoppeln von Systemen innerhalb des Gebietes der Strafrechtspraxis erkennen kann und der an Strategien arbeitet, um die Informationen zu einem Kontrollsystem wieder zusammenzukoppeln" (Leslie Τ. Wilkins 1972). Ziel alles kriminologischen Handelns ist deshalb die Sozialkontrolle im Wege der Vorbeugung gegen Kriminalität, auch gegen Rückfallkriminalität durch Behandlung des Rechtsbrechers, oder auch im Wege der Kriminalitätsbekämpfung.

3. Möglichkeiten einer unterschiedlichen Bestimmung des Gegenstands- und Aufgabenbereichs der Kriminologie Im folgenden werden einige Definitionen des Gegenstands- und Aufgabenbereichs der Kriminologie zitiert: „Kriminologie ist die geordnete Gesamtheit des Erfahrungswissens über das Verbrechen, den Rechtsbrecher, die negativ soziale Auffälligkeit und über die Kontrolle dieses Verhaltens" (Günther Kaiser 1973, S. 1). „Kriminologie ist eine empirische, interdisziplinäre Wissenschaft. Sie befaßt sich mit den im menschlichen und gesellschaftlichen Bereich liegenden Umständen, die mit dem Zustandekommen, der Begehung und der Verhinderung von Verbrechen sowie mit der Behandlung von Rechtsbrechern

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung zusammenhängen. Mit interdisziplinärem, multifaktoriellem Ansatz richtet sie dabei ihre Forschungen im Erfahrungsbereich auf alles, was sowohl mit den Rechtsnormen als auch mit der Persönlichkeit des Rechtsbrechers und ihren Verhältnissen in Verbindung mit dem von der Rechtsordnung bzw. Sozialordnung mißbilligten Verhalten zusammenhängt. Hierzu gehören auch der Lebenslängsschnitt des Rechtsbrechers und die Stellung der Straftat innerhalb desselben sowie das Zustandekommen und die Auswirkung der Sanktionen, die Vollstreckung und die Zeit nach dem Vollzug einer Freiheitsstrafe" (Hans Göppinger 1973, S. 1). „Kriminologie ist die Seinswissenschaft im Felde der Strafrechtspflege" (Heinz Leferenz 1967, S. 22). „Die sowjetische sozialistische Kriminologie ist die Wissenschaft über die Situation, die Dynamik, über die Gründe der Kriminalität, über die Methoden zu ihrer Erforschung, über Wege und Mittel zu ihrer Vorbeugung in der sozialistischen Gesellschaft. Zum Gegenstand der Kriminologie gehört vor allen Dingen die Kriminalität. Für einen systematisch-wissenschaftlich begründeten Kampf gegen die Kriminalität dient als notwendige Voraussetzung dieser sozialen Erscheinung die Offenlegung jener objektiven Gesetzmäßigkeiten, die ihre Situation, Dynamik und Struktur bestimmen. Die Untersuchung der Kriminalität erlaubt es, ihre quantitativen und qualitativen Charakteristiken, die Tendenzen der Veränderungen in den unterschiedlichen Zeitperioden, ihre Besonderheiten in den verschiedenen Gebieten des Landes zu bestimmen. Die Erforschung der Persönlichkeit der Verbrecher, ein untrennbarer Bestandteil der Analyse der Kriminalität, gibt die Möglichkeit, ihren sozialen, geschlechtlichen und altersmäßigen Bestand, das Niveau ihrer Bildung und Kulturhaftigkeit und ihre sozialpsychologischen Besonderheiten klarzulegen und die grundlegenden Gruppen und Kategorien der Verbrecher zu klassifizieren und zu differenzieren" (Allunionsinstitut 1968, S. 7/8). „Kriminologie ist die Gesamtheit des Wissens über die Delinquenz und die Kriminalität als soziale Phänomene. Ihr Bereich umfaßt die Prozesse der Gesetzgebung, der Gesetzesverletzung und der Reaktionen auf Gesetzesverletzungen. Diese Prozesse bilden drei Aspekte einer irgendwie vereinigten Abfolge von Interaktionen. Bestimmte Handlungen, die als unerwünscht gelten, werden durch die politische Gesellschaft als Delikte definiert. Trotz dieser Definitionen fahren einige Leutft in diesem Verhalten fort und begehen auf diese Weise Verbrechen. Die politische Gesellschaft reagiert mit Strafe, Behandlung oder Vorbeugung. Diese Abfolge von Interaktionen ist Gegenstand der Kriminologie, die aus folgenden drei Hauptgebieten besteht: der Rechtssoziologie, die einen Versuch einer systematischen Analyse unternimmt, unter welchen Bedingungen sich 34 HdK, 2. Aufl., Bd. II

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Strafgesetze entwickeln, und die ebenfalls die Verschiedenheiten der Zielsetzungen und Verfahren in der Strafrechtspflege zu erklären versucht, der Kriminalätiologie, die sich bemüht, die Ursachen des Verbrechens wissenschaftlich zu analysieren, und der Pönologie, der Strafvollzugswissenschaft, die sich mit der Verbrechenskontrolle beschäftigt. Der Begriff „Strafvollzugswissenschaft" ist nicht zufriedenstellend. Denn dieses Gebiet enthält viele Methoden der Sozialkontrolle, die keinen Strafcharakter haben" (Edwin H. Sutherland, Donald R. Cressey 1974, S. 3). „Kriminologie ist die Wissenschaft von den genetischen Faktoren des Verbrechens (Kriminalätiologie), von den verschiedenen Merkmalen krimineller Handlungen (Kriminalphänomenologie) und von der Kriminalitätsstruktur und -dynamik" (Leszek Lernell 1973, S. 10).

4. Dimensionen der

Kriminologie

Die Definitionen von Leferenz und Lernell sind die engsten. Leferenz beschränkt die Kriminologie auf die Praxis der Strafrechtspflege, Lernell führt sie auf das Verbrechen, seine Erscheinungsformen, Strukturen und Verursachungen zurück. Beide Begriffsumschreibungen sind eindimensional, indem sie nur die Kriminalität berücksichtigen, wobei Leferenz diesen Begriff der Kriminalität noch dazu aus der Sicht der Sozialkontrolle definieren lassen will. Die Begriffsbildung der sowjetischen Kriminologen ist dreidimensional. Sie nimmt Bedacht auf Kriminalität, Rechtsbrecher und soziale Kontrolle. Günther Kaiser fügt dem noch eine vierte Dimension, nämlich die negativ soziale Auffälligkeit, hinzu. In Hans Göppingers Begriffsbestimmung sind alle vier Dimensionen enthalten. Er erweitert seine Definition allerdings noch um eine fünfte Dimension: das Zustandekommen und die Auswirkung von Sanktionen. Alle Definitionen sind bisher Summationsdefinitionen, d. h. sie stellen die Sektoren der Kriminologie mehr oder weniger unverbunden nebeneinander. Das ändert sich bei der Definition von Edwin H. Sutherland und Donald R. Cressey. Sie sehen ihre drei wesentlichen Faktoren: Gesetzgebung, Gesetzesverletzung und Reaktion auf die Gesetzesverletzung in einem Interaktionsprozeß, also dynamisch verbunden. Das ist ein Vorteil. In der Begriffsbestimmung von Sutherland und Cressey kommt indessen der Rechtsbrecher und seine Persönlichkeit zu kurz. Bei der Reaktion auf die Gesetzesverletzung ist weiterhin nicht klargestellt, daß es sich nicht nur um soziale Kontrolle im positiven Sinne, sondern auch um Sozialverhalten handeln kann, das im Sinne der sekundären Sozialabweichung (Edwin M. Lemert 1967) zu wirken vermag.

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Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung D. Die Kriminologie als autonome interdisziplinäre Wissenschaft

Fritz Sack (1969) vertritt die Meinung, daß es bis heute keine autonome interdisziplinäre Kriminologie gibt, sondern nur eine soziologische Kriminologie, eine psychiatrische Kriminologie, eine juristische Kriminologie, eine psychoanalytische Kriminologie und eine historische Kriminologie. Er begründet seine These nicht. Neuerlich macht Sack (1975) darauf aufmerksam, daß „ . . . der rechtswissenschaftliche Code dem Kriminologen fremd . . . " sei. Eine solche Aussage berücksichtigt wieder einmal allein die NurSoziologen unter den Kriminologen. Da diese Soziologen sich in der Tat nicht selten als rechtsfremd, ja rechtsfeindlich erweisen, ist es klarer und eindeutiger, sie als Kriminalsoziologen zu bezeichnen. Damit die Kriminologie ihren mannigfaltigen Aufgaben voll gerecht zu werden vermag, ist es notwendig, sie als autonome und interdisziplinäre Wissenschaft zu konstituieren. In den Vereinigten Staaten gibt es eine so verstandene Kriminologie bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert, in der Sowjetunion ist sie seit 1963 im Aufbau, um nur zwei Beispiele zu nennen. Kriminologie ist eine Human- und Sozialwissenschaft (Jean Pinatel 1971, S. 11); sie entsteht aber noch nicht durch die Anwendung human- und sozialwissenschaftlicher Methoden auf Kriminelle oder durch die Stellungnahme zu kriminologischen Problemen. Sie kann auch nicht nur mit juristischen Methoden betrieben werden. Die Betonung des Teamgesichtspunktes, bei dem die Teammitglieder die verschiedenen Disziplinen, aus denen sie kommen, aufgeben und so „rein kriminologisch" (Hans Göppinger 1973, S. 125) arbeiten, genügt nicht. Vielmehr ist die eigenständige kriminologische „Ebene" (Hans Göppinger 1968, S. 209), die neue kriminologische „Perspektive" (Marvin Ε. Wolfgang-Franco Ferracuti 1967, S. 3) wesentlich. Der Kriminologe muß sich seiner Aufgabe der wissenschaftlichen Analyse des Verbrechens zum Zwecke der Entwicklung kriminologisch fundierter Vorbeugungs- und Bekämpfungsmaßnahmen voll, d. h. mit ganzer Arbeitskraft, widmen. Es genügt nicht, kriminelle Phänomene zum Zwecke der Lösung von Problemen der allgemeinen Soziologie zu analysieren oder als Soziologe, Psychiater oder Strafrechtler kriminologische Probleme nur n e b e n b e i zu behandeln. Denn die Aufgabe der Kriminologie ist zum Zwecke der wirksamen Verbrechenskontrolle so weit gespannt, daß sie nur von Personen im Team gemeistert werden kann, die sich ganz in den Dienst dieser Aufgabe gestellt haben (Wolfgang-Ferracuti 1967, S. 29). Allerdings gestaltet sich das Verhältnis der Kriminologie zur Soziologie schwierig.

Denn der Kriminologe muß seinen speziellen Gegenstand immer auf dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Prozesse sehen. Der soziologische Bezug muß also vorhanden sein, wenn auch die Aufgabe primär eine kriminologische ist. Der Kriminologe muß ferner jede Einseitigkeit der Betrachtungsweise von einer Spezialdisziplin aus unbedingt vermeiden. Das gilt für die Psychiatrie genauso wie für die Soziologie. Wenn man nämlich die Kriminalität als ein „komplexes deterministisches System" versteht, so kann man sie nur unter interdisziplinärer Integration ins richtige Blickfeld rücken. Der Kriminologe muß sich vor einseitiger ideologischer Beeinflussung ebenso hüten wie vor einer rechtsfeindlichen Einstellung. Der Soziologe, Psychologe oder Psychiater muß als Kriminologe mit den Gesetzen — mindestens den Strafund Strafprozeßgesetzen seines Landes — gut vertraut sein. Sonst kann er nicht sinnvoll Kriminologie betreiben. Die Juristen müssen als Kriminologen in den human- und sozialwissenschaftlichen Methoden geschult sein. Die Anmeldung von überheblichen Ausschließlichkeitsansprüchen für eine Wissenschaftsdisziplin (ζ. B. Soziologie) oder gar eine bestimmte Richtung innerhalb einer Wissenschaft (ζ. B. Psychopathologie nach Kurt Schneider) behindert die Entwicklung der Kriminologie außerordentlich. Es kommt nicht darauf an, wer was gesagt und wer recht hat, sondern wer richtige Probleme stellt und wer die besten Lösungsmöglichkeiten für die Praxis anzubieten vermag. Die Kriminologie ist eine autonome interdisziplinäre Wissenschaft, weil sie einen Gegenstand und eigene Methoden besitzt (Hermann Mannheim 1974, S. 21). Zwar hat die Kriminologie nur wenige eigenständige Methoden selbst entwickelt (ζ. B. Kriminalprognosemethoden).Unter der spezifisch kriminologischen Fragestellung werden aber die human- und sozialwissenschaftlichen Methoden so wesentlich modifiziert, daß man von eigenen kriminologischen Methoden sprechen kann (so mit Röcht John Lekschas 1967, S. 7/8). Es ist etwas anderes, Marktforschung zu betreiben oder das organisierte Verbrechertum empirisch zu untersuchen. Die spezifisch kriminologischen Analysen machen die Modifikation von human- und sozialwiss«nschaftlichen Methoden in einem Ausmaß notwendig, daß man nur noch von kriminologischen Methoden sprechen kann. Die Kriminologie hat deshalb auch einen eigenen Begriffsapparat, eigene empirische Forschungsabläufe und eigene Zuverlässigkeitskriterien. Eine unkritische Übernahme human- und sozialwissenschaftlicher Methoden würde nicht nur die kriminologische Forschung unnötig behindern, sondern völlig unbrauchbare Forschungsergebnisse für die Praxis der Verbrechensvorbeugung und -bekämpfung hervorbringen.

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung E. Praxisbezogenheit, Problemund Methodenbewußtsein 1. Institutionen der Sozialkontrolle als kriminologische Forschungsgegenstände Günther Kaiser (1973, S. 68) äußert die Auffassung, daß die Vertreter des modernen Ansatzes der Kriminalsoziologie „mit den unteren Schichten sympathisieren und den sozialen Kontrollinstanzen kühl bis feindlich gegenüberstehen". Diese Meinung, die allgemein nicht gilt, trifft anscheinend für die meisten westdeutschen Kriminalsoziologen zu. Viele der sich als „kriminologisch" verstehenden Arbeiten haben sich als praktisch unbrauchbar erwiesen oder richten sich — parteilich voreingenommen — gegen die Instanzen der Sozialkontrolle, denen eine einseitige Verfolgung des Straftäters aus der Unterschicht vorgeworfen wird. Die aus der psychoanalytischen Lehre vorgetragenen Angriffe auf das Strafrecht und die Strafrechtspraxis (Helmut Ostermeyer 1971; 1972; 1975; vgl. auch Paul Reiwald 1948) sind nicht neu, empirisch bisher nicht nachgewiesen und in der undifferenziert dargelegten Form auch gar nicht empirisch nachweisbar. In die psychoanalytischen Angriffe wird die deutsche Psychiatrie mit einbezogen, der wegen ihrer weitgehend grundsätzlich konfliktfreien Zusammenarbeit mit der Strafgerichtsbarkeit ein „Komplott" zum Nachteil des Angeklagten angelastet wird (Tilmann Moser 1971). Es schadet der Kriminologie, wenn methodenunkritisch und wissenschaftlich unaufrichtig so getan wird, als handele es sich bei der psychoanalytischen Dogmatik um eine empirisch ausreichend gesicherte Erkenntnis. Auch die Polizei unterliegt dem — allerdings von den deutschen Kriminalsoziologen vorgetragenen — Vorwurf der „unterschichtsdiskriminierenden selektiven Sanktionierung" (Manfred Brüsten 1971, S. 44; Dorothee Peters 1971). Sie geht nach der „Methode des methodischen Verdachts" (Johannes Feest 1971, S. 91) vor. Mit der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung vertritt sie in erster Linie die Interessen der Mächtigen und Privilegierten (Manfred Brüsten 1975). Es finden sich Formulierungen wie: „Die Zwangsinstanzen produzieren ausgestoßene Menschen, indem sie sie in Rollen von Stigmatisierten hineinsozialisieren" (Rüdiger Lautmann 1971b, S. 17) oder „Brutalität der Polizei ist Teil ihrer sozialen Rolle" (Lautmann 1971b, S. 26). Hier wird die Polizei selbst stigmatisiert. Wenn Polizei und Rechtsprechung als „zwei institutionell hintereinandergeschaltete Selektionsfilter" (Brüsten 1971, S. 56) verstanden werden, so hat man die große Bedeutung des Opfers vergessen, das zunächst einmal als Selektionsfilter tätig wird (-»· Viktimologie). Denn meist greift die Polizei aufgrund von Anzeigen der Opfer 34·

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oder Dritter ein. Im übrigen sind diese theoretischen Aussagen der Kriminalsoziologie ebenfalls nicht genügend empirisch belegt. Im Vergleich zur angloamerikanischen und skandinavischen kriminalsoziologischen Theorie ist die deutsche recht unausgewogen und wenig originell. Amerikanische Kriminalsoziologie wird bis zur Unkenntlichkeit deformiert. In unnötig verkomplizierter, „soziologisch verschlüsselter" Sprache werden Gedanken vorgetragen, deren einzelne Denkschritte nicht mehr logisch nachvollziehbar sind (Hans Haferkamp 1972; 1975). Mitunter werden Sinn und Zweck der kriminalsoziologischen „Theorien mittlerer Reichweite" nicht einmal richtig verstanden. So werden nicht nur Widersprüche von Thesen der Devianztheorien nordamerikanischer Provenienz aufgedeckt, sondern diese sich widersprechenden Thesen werden auch für empirisch bestätigt gehalten (Werner Springer 1973). In völligem Unverständnis für kriminologische Forschung wird verkannt, daß Thesen aus „Theorien mittlerer Reichweite" nicht miteinander vereinbar sein müssen, daß „Theorien mittlerer Reichweite" nicht einmal in logischem Zusammenhang zu stehen oder auch nur geeignet zu sein brauchen, miteinander in logischen Zusammenhang gebracht zu werden (so mit Recht Roger Hood, Richard Sparks 1970, S. 115). Die amerikanischen Kriminologen, die „Theorien mittlerer Reichweite" entwickelt haben, betrachten sie zumeist nicht einmal als „Theorien", sondern als „Rahmen", als „Systeme" (frameworks). Schließlich mangelt es vielen auf umfassende Theoriebildung angelegten Sekundäranalysen deutscher theoretischer Kriminologie an ausreichend breiter deutscher empirischer Basis und an der Kraft kreativer Integration. 2. Die kriminologische Bedeutung von Aktenuntersuchungen Über den Wert von Aktenuntersuchungen herrscht in der deutschen Kriminologie keine Einigkeit. Einerseits werden Aktenunterlagen als „sehr wichtige Informationsquelle bei (unmittelbaren) kriminologischen Untersuchungen" (so Göppinger 1973, S. 91; ebenso Mergen 1961, S. 161; ähnlich Frey 1951, S. 93) angesehen. Andererseits wird geltendgemacht, daß die Akten von Praktikern der Strafrechtspflege für praktische Zwecke angelegt worden sind und daß sie deshalb eine Scheinwirklichkeit (Aktenwirklichkeit) aus der Sicht der Praktiker der Strafrechtspflege vermitteln (Hermann Mannheim 1974, S. 149). Wenn es darum geht, die Einstellung der Instanzen der sozialen Kontrolle zum Verbrechen und zum Rechtsbrecher zu ermitteln, sind Strafakten für eine systematische Inhaltsanalyse von großem Wert. Man kann solche Akten aber nur dann in vollem Umfang kriminologisch nutzbar machen,

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Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

wenn man — was durchaus möglich ist — aus den Akten für die Praxis auch Forschungsakten macht (so Daniel Glaser bei Robert M. Carter 1972, S. 28). Daß dies noch nicht gelungen ist, resultiert aus einer mangelnden Zusammenarbeit zwischen kriminologischer Forschung und Strafrechtspraxis. In den Strafakten der Praxis findet der kriminologische Forscher einfach nicht die Information, die er benötigt. Die individuell verschiedenen Ansichten der Praktiker gehen mit in die Akteninformation ein, insbesondere dann, wenn ein intuitiver Stil bei der Aufnahme von Protokollen und Berichten verwandt worden ist, der zwar ein anschauliches, aber im höchsten Maße subjektives „Federhalterbild" (penpicture) des betreffenden Rechtsbrechers und seiner Umgebung vermittelt. Beispiele für solche Aktenuntersuchungen sind die Studien über den Bankraub in der Bundesrepublik (Dieter Schubert, Volker May 1972; Hermann Reffken 1972). Erscheinen Ermittlungen zu den Tatmodalitäten (Tatzeit, -ort, -objekt, -durchführung und -planung) aus den Akten noch einigermaßen sinnvoll, so begegnet die Beschreibung der Täterpersönlichkeit des Bankräubers, seiner Motive und Eigenschaften, aus den Akten großen Bedenken (-* Raub). Die Objektivität und Ermittelbarkeit solcher Faktoren aus den Akten ist nicht nur zweifelhaft, sondern die zu starke Täterorientierung ist zu beanstanden. Schließlich muß die Kriminologie bei allen ihren Forschungenihre eigentliche Aufgabe der Kriminalitätsvorbeugung und -bekämpfung im Blickfeld behalten. Die Persönlichkeit des Bankräubers gibt es ohnehin nicht. Wenn einige charakteristische Persönlichkeitszüge und Umweltfaktoren tatsächlich aus den Akten gefunden werden könnten, ist es fraglich, ob solche Forschungsergebnisse für die soziale Kontrolle des Bankraubs sehr viel hergeben. Dasselbe gilt für die Untersuchung der Strafzumessungsgründe und der Sicherungsverwahrung bei der Bankraubkriminalität (Wolfram Lorenz, Gerhard Gleissner 1972). Solche Studien können nur im Hinblick auf richterpsychologische Faktoren sinnvoll sein, die aus Akten nicht entnommen werden können. 3. Anekdotische

Kriminologie

Zu einem Problem für die Kriminologie werden auch die Veröffentlichungen, die zur „anekdotischen Kriminologie" gerechnet werden müssen. Es handelt sich um Publikationen, in denen Geschichten erzählt und Informationen vermittelt werden, die nach den Kriterien der Aktualität, der Interessantheit und der Merkwürdigkeit ausgewählt worden sind, ohne daß ausreichend auf methodische Exaktheit geachtet wird. „Merkwürdige Kriminalfälle" haben schon seit eh und je in unzähligen Sammlungen das Interesse einer breiten Leserschicht gefunden (ζ. B. Paul Johann

Anselm von Feuerbach 1849). Es geht hier auch weniger um solche Fallsammlungen, die wohl den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit im Sinne der modernen Kriminologie nicht erheben. Es handelt sich vielmehr um die immer zahlreicher werdenden Veröffentlichungen (Wolf Middendorff 1956; 1959; 1968; 1970; 1972a, 1972b; 1972c; Clemens Amelunxen 1958; 1960; 1963; 1967; 1970), die zwar möglicherweise gar keine tiefgründige kriminologische Analyse beabsichtigen, die aber bei Nichtkriminologen nur allzu leicht den Eindruck erwecken, als sei die heutige Kriminologie zur methodisch ausreichend abgesicherten Analyse überhaupt nicht in der Lage. Das Problem der Unterscheidbarkeit populärwissenschaftlicher Studien von kriminologischen Untersuchungen stellte sich ζ. B. bereits bei Erich Wulffen (vgl. hierzu Albert Hellwig 1932). Populärwissenschaftliche Studien über Verbrechen und Verbrecher werden keineswegs abgelehnt, wenn sie mit Sachverstand geschrieben sind und empirisch-kriminologische Analysen nicht ersetzen wollen. Da die Kriminologie in der Bundesrepublik aber immer noch um ihre wissenschaftliche Anerkennung ringen muß, wäre es besser, wenn in populärwissenschaftlichen Studien kenntlich gemacht würde, daß eine kriminologische Analyse nicht beabsichtigt ist.

4. Ideologie- und

Methodenkritik

Zahlreiche empirisch-kriminalsoziologische Studien unterliegen ernsten Bedenken, weil sie von einer rechtsfremden, ja rechtsfeindlichen Theorie, ja Ideologie ausgehen und schwerwiegende methodische Unzulänglichkeiten enthalten. Wenn ζ. B. untersucht wird, ob dieselben Fälle von allen Richtern, die dasselbe Recht anwenden, in derselben Weise entschieden werden (Karl-Dieter Opp, Rüdiger Peuckert 1971), so ist diese Frage falsch gestellt. Denn identische Fälle kann es nicht geben, weil es identische Lebenssachverhalte und identische Persönlichkeiten nicht gibt. Es ist bei der richterlichen Urteilsfindung nicht ausschlaggebend, ja nicht einmal wünschenswert, daß „dieselben Fälle" von allen Richtern in derselben Weise entschieden werden. Hier wird das sozialwissenschaftlich-methodische Gütekriterium der Reliabilität (inter-rater-reliability) verwechselt mit der richterlichen Überzeugungsbildung, die ein kreativer Akt mitmenschlicher Begegnung ist. Wenn weiterhin das Phänomen der richterlichen Entscheidung mit der Methode der fiktiven Fälle untersucht wird, so wird unzulässigerweise hierdurch unterstellt, der Richter entscheide nach Aktenlage, also nicht nach dem lebendigen Eindruck der mündlichen Verhandlung. Der Interaktionsprozeß in der Gerichtsverhandlung bleibt völlig unberücksichtigt. Wenn ferner von 500 verschickten Fragebogen nur 276

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung (also 55,2%) für die Untersuchung verwertbar gewesen sind (Opp, Peuckert 1971), können die so erzielten Ergebnisse wegen der hohen Ausfallquote überhaupt nicht mehr interpretiert werden. Wenn schließlich ζ. B. das äußerst schwer bestimmbare, komplexe, j a metaphysische Merkmal „Religiosität" der Richter allein aufgrund einer Frage, ob das Fach Religion nämlich in den Schulen Pflichtfach sein solle, bestimmt wird (Opp, Peukkert 1971), so ergeben sich alles in allem ernsthafte Zweifel an der Aussagekraft solcher Untersuchungen. Da die Richter angeblich zur Stabilisierung der bestehenden Gesellschaftsordnung beitragen, wird ihnen „Klassenjustiz" vorgeworfen (Rüdiger Lautmann 1971b; Wolfgang Kaupen 1971). Eine nicht näher beschriebene „teilnehmende Beobachtung" von einem Jahr (Rüdiger Lautmann 1972) oder von 30 Hauptverhandlungen in Verkehrssachen (Ekkehart Stein, Karl F. Schumann, Gerd Winter 1973) läßt man schon genügen, schwerwiegende Vorwürfe zu erheben. Überhaupt ist die äußerst fragwürdige Methode der teilnehmenden Beobachtung in den gegenwärtigen kriminalsoziologischen Untersuchungen ungewöhnlich beliebt, wenn sie die Instanzen der sozialen Kontrolle zum Forschungsgegenstand haben. Über die Unsicherheit und mangelnde Exaktheit dieser Methode wird kein Wort verloren. Sieben Monate „teilnehmende Beobachtung" bei der Polizei reichen bereits aus, um von einer „Subkultur der Polizei" zu sprechen, in der physische Gewalt ständig zentrales Gesprächsthema sei und ein Grundelement polizeilicher Identität und Solidarität bilde (Johannes Feest, Erhard Blankenburg 1972). Für Strafvollzugsforschung bilden eine Woche (Jürgen Friedrichs u. a. 1973) oder fünf Wochen (Steffen Harbordt 1967) Aufenthalt in einer oder mehreren Strafanstalten keine ausreichende Erfahrungsbasis für weitreichende Aussagen. Auch die Befragung von 40 Strafvollzugsbeamten mit 20 Fragen und von 26 Gefangenen mit 22 Fragen (Peter Waldmann 1968) reichen einfach als empirische Basis für kriminologische Forschungen nicht aus. Mit der Untersuchung einer Stichprobe von 50 delinquenten Jugendlichen und einer Kontrollgruppe von 57 Jungen (Harald Hasler 1970) will man nordamerikanische Forschungsergebnisse nachprüfen. Ist es schon angesichts der modernen Dunkelfeldforschungen wenig sinnvoll, mit einem Kriminalitätsindex, der von den polizeilich bekanntgewordenen Fällen ausgeht, aber die Schwere der Kriminalität berücksichtigen soll, die Kriminalitätsstatistik zu berichtigen, so wird ein solches Verfahren noch zweifelhafter, wenn man die für die Wertmaßstäbe der Schwere der Kriminalität befragten Gruppen (Studenten, Richter, Polizisten), die mangelhafte Stichprobenauswahl und die geringe Antwortquote berücksichtigt (Malte Schindhelm 1972).

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5. Mangelnde Selbstkritik und -distanz Bei allen diesen empirisch-kriminologischen Untersuchungen in der Bundesrepublik wird der Mangel an finanziellen und personellen Mitteln deutlich. Die kriminalsoziologischen Untersuchungen stechen zudem negativ dadurch hervor, daß sie keinerlei Kritik an den von ihnen angewandten Methoden üben und vor allem keine selbstkritische Distanz zu der von ihnen zugrunde gelegten Theorie und zu dem von ihnen untersuchten Forschungsgegenstand, den Instanzen der sozialen Kontrolle, bewahren. Es ist mehr als kurios, wenn in dieser Situation gefordert wird, der teilnehmende Beobachter benötige einen „ethischen Schutz" (Jürgen Friedrichs 1973b). Wenn ihm weiter angeraten wird, seine „Beobachterrolle verdeckt zu lassen" und sich in die Instanzen der sozialen Kontrolle „hineinzuschmuggeln" (so Rüdiger Lautmann 1973, S. 113/114), so liegt doch ein Persönlichkeitsschutz des von einem solchen „Kriminologen" Beobachteten wesentlich näher.

ΙΠ. HAUPTRICHTUNGEN GEGENWÄRTIGER KRIMINOLOGIE A. Mehrfaktorenansatz Sheldon und Eleanor Τ. Glueck haben ihren umfangreichen empirisch-kriminologischen Forschungen den Mehrfaktorenansatz (multiple causation approach) zugrundegelegt. Dieser Ansatz gründet sich weder auf eine bestimmte Persönlichkeits- noch auf eine spezielle kriminologische Verursachungstheorie. Er vermeidet lediglich die Betrachtungsweise einer linearen singulären Punkt-zu-Punkt-Kausalität (Monokausalität). Die Gluecks haben in einem großen Lebenswerk (1950, 1956, 1959, 1962, 1968, 1970, 1972, 1974) die härtesten empirisch-kriminologischen Daten zusammengetragen, die es gegenwärtig gibt. Dem Ansatz der Gluecks folgt die „Tübinger Jungtäter-Vergleichs-Untersuchung" von Hans Göppinger (1973, S. 124), der seinen empirischen Forschungen sein Konzept des „Täters in seinen sozialen Bezügen" zugrundelegt. Der Täter wird als „Teil bestimmter gesellschaftlicher Kräftefelder" verstanden, „denen ihrerseits jedoch nur eine durch die jeweilige Individualität der Persönlichkeit relativierte Wirkung zukommt" (Hans Göppinger 1973, S. 50). Soweit soziale Faktoren Beachtung finden, sind sie also stets täterbezogen. Es werden kriminovalente und kriminoresistente Konstellationen herausgearbeitet (Hans Göppinger 1973, S. 227/228). Unter kriminovalenten Konstellationen wird das Zusammentreffen be-

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Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

stimmter Fakten verstanden, die —• in dieser Konstellation — im Zusammenhang mit Kriminalität ein besonderes Gewicht haben. Kriminoresistente Konstellationen sind Faktenkombinationen, die eine besondere Resistenz gegen die Straffälligkeit mit sich bringen. Hier wird deutlich, daß ein täterorientierter Mehrfaktorenansatz gewählt worden ist, wie er auf positivistischer Grundlage bei naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschungen üblich ist. Die Vorgehensweise der Naturwissenschaften und der Medizin kann nicht ohne weiteres auf die Kriminologie als Human- und Sozialwissenschaft übertragen werden. Der Mehrfaktorenansatz, bei dem die Empirie auf Kosten der Theorie im Vordergrund steht, ist von Leslie Τ. Wilkins (1964, S. 37) als Antitheorie bezeichnet worden. Der umstrittenen theoretischen Grundlage entspricht ein angreifbares methodisches Vorgehen. Eine Gruppe von männlichen Häftlingen der Landesstrafanstalt Rottenburg im Alter von 20 bis 30 Jahren aus vier Landgerichtsbezirken, Häftlingen, die zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt worden sind, wird eine Gruppe von männlichen Vergleichspersonen der normalen Bevölkerung desselben Alters aus demselben Raum gegenübergestellt (Hans Göppinger 1973, S. 128). Die Verwendung einer solchen Vergleichsgruppentechnik ist aus folgenden Gründen unangebracht: Bei den zu Freiheitsstrafe Verurteilten handelt es sich nur um einen kleinen Teil der von den Instanzen der Sozialkontrolle nach bisher nicht ausreichend rational bestimmten Gesichtspunkten ausgewählten kriminellen Population. Die psychologische Untersuchung einer Strafanstaltspopulation vermittelt falsche Bilder, weil die Strafanstaltssituation auf die Persönlichkeit der Gefangenen einwirkt. Die Strafgefangenen sind zudem eine zu heterogene Gruppe, weil in ihr verschiedene Tätertypen enthalten sind. Schließlich stellt die normale Vergleichsgruppe keine nichtkriminelle Population dar, weil entsprechende Dunkelfeldforschungen nicht vorgeschaltet worden sind. Viele deutsche Kriminologen halten an Merkmalsbeschreibungen der Kriminellen fest, die sie gegenüber dem Normalmenschen als irgendwie andersartig verstehen. Ob diese Andersartigkeit nun im Grunde auf biologischen Gegebenheiten beruht (Armand Mergen 1968, 1971, 1972) oder über Sozialisations- und Persönlichkeitsdefekte auf individuelle Pathologie zurückzuführen ist (Tilmann Moser 1970), macht keinen großen Unterschied. Der Grund für die Kriminalität liegt in einer Persönlichkeitsstörung (Tilmann Moser 1970, Günther Kaiser 1973b, S. 126), einer Kriminopathie (Armand Mergen 1967, 1972). Der Psychopathiebegriff nach der klassischen Psychopathologie (Hans Göppinger 1973) oder nach der Psychoanalyse (Tilmann Moser 1970) spielt

bei der Kriminalitätserklärung eine entscheidende Rolle. Aus dem Schuldigen wird ein sozial Minderwertiger oder Kranker. Es ist indessen bisher kein eindeutiger Beweis dafür erbracht, daß die Kriminalität auf Persönlichkeitsstörungen beruht, ein Begriff, der wegen seiner nichtssagenden Allgemeinheit und Unbestimmbarkeit unbrauchbar ist (a. A. Günther Kaiser 1973 b, S. 126). Es kommt u. a. maßgeblich darauf an, wie die Persönlichkeitsstörung entstanden und wie sie geartet ist. Die Mehrzahl der Kriminellen ist nicht psychisch anomal. Die Pathologie liegt nicht im Individuum, sondern im individuellen Kriminalisierungsprozeß. Die Kriminalität ist eine sozialpathologische Erscheinung (Edwin M. Lemert 1951; Ljubo Bavcon, Milos Kobal, Lev Milcinski, Katja Vodopivec, Boris Uderman 1969; Maria Jarosz 1975). Die Ursache des Verbrechens gibt es nicht. Jedes einzelne Delikt wird in einzigartiger Weise verursacht. Ursachen für die Kriminalität herauszuarbeiten, ist deshalb so schwierig, weil es sich bei den Ursachen der Kriminalität im Grunde um empirisch unerträgliche Abstraktionen handelt. Sich nunmehr auf die Untersuchung von Entstehungszusammenhängen des Verbrechens zu beschränken (Hilde Kaufmann 1971), bedeutet lediglich, den traditionellen Anlage-Umwelt-Persönlichkeits-Ansatz in einen Mehrfaktorenansatz aufzulösen. Denn dieser Mehrfaktorenansatz hat stets Anlage-, Umwelt- und Persönlichkeitsfaktoren berücksichtigt. Einige deutsche Kriminologen halten auch heute noch an den Begriffen Anlage und Umwelt fest (vor allem Heinz Leferenz 1972, aber auch Hilde Kaufmann 1971; Armand Mergen 1967; Richard Lange 1970, Eduard Kern 1964). Diese Problemstellung hat sich indessen als unfruchtbar erwiesen (Anne-Eva Brauneck 1969, 1971), und der Anlagebegriff sollte ebenso wie der zu enge Umweltbegriff aufgegeben werden. Die Anlagebedingtheit der Kriminalität ist nicht empirisch nachweisbar, da soziale Einflüsse stets auf den Kriminellen eingewirkt haben und man die Strukturverschlungenheit von Vererbung und Erfahrung nicht zu entwirren vermag. Der Umweltbegriff differenziert zu wenig zwischen Einwirkungen aus dem sozialen Nahraum, aus gesellschaftlichen Gruppen und gesamtgesellschaftlichen Einflüssen. Der Mehrfaktorenansatz versucht, die Komplexität der Verbrechenserscheinungen und -Ursachen auf einen einfachen naturwissenschaftlichen Ursache-Wirkungs-Mechanismus zu reduzieren. Die Herstellung eines linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs ist hingegen verfehlt. Es kommt auf die Beziehungen unter den Faktoren (Strukturen) und auf das Zusammenwirken der Faktoren (Dynamik) an. Darüber hinaus kann die kriminologische Forschung nur in ständiger Interaktion zwischen Theorie und Empirie vorangetrieben werden.

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung B. Klinische Kriminologie Als eine spezielle Form der interdisziplinär-integrierten Zusammenarbeit hat die „Klinische Kriminologie" in einigen europäischen Ländern, ζ. B. in Italien und in Frankreich, aber auch in zahlreichen südamerikanischen Staaten und in Japan, neuerliche Fortschritte gemacht. Die „Klinische Kriminologie" ist dadurch gekennzeichnet, daß ihre Aufgabenstellung fast ausschließlich auf die Persönlichkeitserforschung des Täters zum Zwecke seiner Behandlung und zur Vorbereitung von Prognoseentscheidungen beschränkt ist (Jean Pinatel 1963, Benigne Di Tullio 1967 und 1969), daß im klinisch-kriminologischen Team nahezu nur Psychiater, klinische Psychologen, psychiatrische Sozialarbeiter und Pädagogen zusammenwirken und daß die empirisch-kriminologische Forschung als Nebenaufgabe neben der eigentlichen pragmatischen Zielsetzung beinahe bloß in Form von tiefgründigen Einzelfallstudien geleistet wird. „Klinische Kriminologie" wird infolgedessen namentlich in Beobachtungs-, Klassifikationsund Behandlungsabteilungen der Strafvollzugsanstalten, in forensisch-psychiatrischen Abteilungen der Gerichtsmedizinischen Institute und in selbständigen oder in Spezialgefängnissen beigegebenen forensischen Kliniken betrieben. Obgleich innerhalb der „Klinischen Kriminologie" neuartige erfolgversprechende Formen der Psychiatrie, die vorbeugende und die -> Sozialpsychiatrie, wachsende Bedeutung erlangen, und obwohl man damit beginnt, das Verfahren der Einzelfallanalysen zu standardisieren und auch in zunehmendem Maße systematische katamnestische Forschungsarbeiten durchzuführen, bleibt die Aufgabenstellung der „Klinischen Kriminologie" begrenzt und ihre Methode einseitig. Meist wird lediglich eine für die Gesamtkriminalität nicht repräsentative große Zahl von psychologisch-psychiatrischen Grenzfällen von der klinisch-kriminologischen Forschung erfaßt. Die sozialen Hintergründe der Kriminalität werden kaum berücksichtigt. Die „Klinische Kriminologie" (T. C. N. Gibbens 1968, Chr. Debuyst u. a. 1968), die auf die Beobachtung, Analyse und Behandlung des Einzelfalls gerichtet ist, muß wissenschaftlichen Fragestellungen dienen und sich die modernen Methoden der -»• Kriminalpsychologie zunutze machen. Dann kann man auch von einer qualitativen Validität ihrer Ergebnisse sprechen. Die Veröffentlichung von aneindergereihten Gutachten, die den praktischen Erfordernissen der Strafrechtspflege gedient haben (Dietrich Meno Abels 1970; Armand Mergen 1972), ist methodisch angreifbar und hat mit „Klinischer Kriminologie" nichts zu tun. Daß der Gutachter der Strafrechtspraxis dem kriminologischen Forscher im Rahmen der „Klinischen Kriminologie" wertvolle Hilfe zu leisten vermag, steht außer

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Zweifel. Nur sollte das Gebiet der „Klinischen Kriminologie" kein Reservat für Gutachter bleiben. Es ist ferner nicht zulässig, von der Erforschung der antisozialen oder kriminellen Persönlichkeit zu sprechen. Von einer dynamischen Persönlichkeitsstruktur ist auszugehen. Die Persönlichkeiten krimineller Menschen sind differenziert und wandeln sich ständig, wenn auch im Einzelfall eine dynamische „Grundgestalt" der Persönlichkeit aufweisbar sein mag und viele kriminelle Persönlichkeiten sich in dieser „Grundgestalt" ähneln mögen. Auf jeden Fall entspricht es nicht mehr den modernen Anforderungen der Kriminalpsychologie, von einem Kern der kriminellen Persönlichkeit zu reden.

C. Theorien mittlerer Reichweite Der nordamerikanischen Kriminalsoziologie gebührt das große Verdienst, eine Reihe von wesentlichen soziologischen und sozialpsychologischen Gesichtspunkten zur Kriminalitätsentstehung theoretisch herausgearbeitet zu haben, die man in Anlehnung an Robert K. Merton (1968) „Theorien mittlerer Reichweite" genannt hat (-»· Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung). Der Versuch, die Kriminalität mit einer Theorie zu erklären, bedeutet nicht, daß man nun wieder einen Einfaktoransatz vertritt (so mit Recht Donald R . Cressey 1964). Denn in jeder Theorie mittlerer Reichweite werden stets zwei und mehr Faktoren zueinander in Beziehung gesetzt. Das ist gerade der Sinn dieser Theorien. Die nordamerikanischen Kriminalitätstheorien, die alle nur beanspruchen, einen — wenn auch wesentlichen — Aspekt der Kriminalitätsentstehung aufzuzeigen, sind in der Bundesrepublik noch wenig bekannt, werden teilweise einfach unkritisch auf deutsche Sozialverhältnisse übertragen oder mißverstanden, indem man ihnen ideologischdogmatische Ausschließlichkeitsansprüche unterstellt oder sie dadurch ad absurdum führt, daß man logische Beziehungen zwischen ihnen herzustellen versucht. Durch zahlreiche empirischkriminologische Untersuchungen ist nachgewiesen, daß die wichtigsten nordamerikanischen kriminalsoziologischen Theorien wesentliche Gesichtspunkte der Kriminalitätsentstehung erhellen. In der Bundesrepublik versucht man, die traditionelle psychoanalytische Kriminalitätsentstehungstheorie mit Ausschließlichkeitsanspruch durchzusetzen (Tilmann Moser 1970, 1971; Eberhard Künzel 1965). Diese Theorie, die die frühkindlichen psychischen Traumata im wesentlichen für die Kriminalitätsentstehung verantwortlich macht und die sich in bewußten Gegensatz zum Strafrecht stellt, konnte nicht einmal durch eine ausreichende Zahl psychoanalytischer Einzelfallstudien empirisch-kriminologisch nach-

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gewiesen werden (so mit Recht Rüdiger Herren 1973, S. 132). Obgleich die Psychoanalyse die Kriminologie mit vielen wertvollen Gedanken (ζ. B. Lehre von der latenten Kriminalität) bereichert hat, ist ihre Dogmatik kriminologischem Problemdenken fremd. Kann davon ausgegangen werden, daß emotionale Mangelzustände im frühen Kindesalter ernste Entwicklungsrückstände verursachen (-> Ehe und Familie), so bleibt doch bis heute unbewiesen, daß durch solche psychischen Fehlentwicklungen Jugendkriminalität, geschweige denn Kriminalität allgemein entsteht. Die psychoanalytische Kriminalitätsentstehungstheorie, deren Geistesverwandtschaft mit dem Lombrosianismus, ja sogar Darwinismus neuerlich gut herausgearbeitet worden ist (Herren 1973), kann allerdings mit der philosophischen Anthropologie nicht widerlegt werden. Der Versuch einer Synthese zwischen kriminalsoziologischen, -sozialpsychologischen und -psychoanalytischen Theorien ist bis heute nicht gelungen. Daß Familienstrukturen und Interaktionsformen der Unterschicht zur Jugendkriminalität prädisponieren und daß dies so ist, weil ein sozialstruktureller Druck auf dieser Schicht lastet (so Tilmann Moser 1970), sind Thesen, die des empirisch-kriminologischen Nachweises harren. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit es sich hier um ein „Integrationsmodell soziologischer und psychologischer Theorien" handelt, das angeblich sogar für eine „neue Kriminalpolitik richtungweisend" (Winfried Hassemer 1972) werden soll. Aufgrund der neuesten kriminologischen Forschungen hegt vielmehr die Vermutung nahe, daß Sozialisationsdefekte nicht vor allem auf die Unterschicht begrenzt, sondern in allen Schichten gleichermaßen vorhanden sind.

D. Marxistische Kriminologie 1. Eistorische

Perspektive

Friedrich Engels schreibt in seiner im Jahre 1845 veröffentlichten Monographie zur „Lage der arbeitenden Klasse in England" über das Verbrechen: „Die Empörung der Arbeiter gegen die Bourgeoisie hat bald nach der industriellen Entwicklung angefangen und verschiedene Phasen durchgemacht." Er fährt fort: „Die erste, rohste und unfruchtbarste Form dieser Empörung war das Verbrechen. Der Arbeiter lebte in Not und Elend und sah, daß andere Leute es besser hatten als er. Seinem Verstände leuchtete nicht ein, weshalb er gerade, der noch mehr für die Gesellschaft tat als der reiche Faulenzer, unter diesen Umständen leiden sollte. Die Not besiegte noch dazu den angestammten Respekt vor dem Eigentum •— er stahl. Wir sahen, wie mit der Ausdehnung der Industrie das Verbrechen zunahm, wie

die jährliche Zahl der Verhaftungen im steten Verhältnis zu der der konsumierten Baumwollballen steht. Aber die Arbeiter sahen bald ein, daß dies nichts half. Die Verbrecher konnten nur einzeln, nur als Individuen durch ihren Diebstahl gegen die bestehende Gesellschaftsordnung protestieren: Die ganze Macht der Gesellschaft warf sich auf jeden einzeln und erdrückte ihn mit einer ungeheueren Übermacht. Zudem war der Diebstahl die ungebildetste, bewußtloseste Form der Protestation und schon deshalb nie der allgemeine Ausdruck für die öffentliche Meinung der Arbeiter, obwohl sie ihn im stillen billigen mochte." Engels macht im weiteren Verlauf seiner Ausführungen klar, daß der Klassenkampf der Arbeiter gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung nur gewonnen werden kann, wenn sich die Arbeiter, ζ. B. in Gewerkschaften, zusammenschließen und auf legalem Wege die Macht der kapitalistischen Gesellschaft zu erringen versuchen. Engels vertritt im wesentlichen folgende drei Thesen: a) Kriminalität hat ihre Ursache in den ökonomischen Verhältnissen des Kapitalismus. b) Kriminalität ist ein Ausdruck der Empörung der Arbeiterklasse gegen die Klasse der Kapitalisten. c) Kriminalität ist eine unfruchtbare und keinen Erfolg versprechende Form des Klassenkampfes. Zu diesen Thesen ist folgendes kritisch zu bemerken: Engels kämpft für einen humanen Sozialismus. Denn er verurteilt jede Form von Kriminalität als Mittel des Klassenkampfes. Die Engelsschen Thesen müssen allerdings auf dem sozialen Hintergrund der Zeit gesehen werden, in der sie geschrieben worden sind. Der Frühkapitalismus verursachte durch ein mangelndes System sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit schwere und mannigfaltige gesellschaftliche Spannungen, Konflikte und Krisen. Die heutige Industriegesellschaft, ζ. B. in Westeuropa, Nordamerika und Japan ist ungleich differenzierter als die Gesellschaft, in der Engels lebte. Neue wichtige Gesellschaftsschichten, ζ. B. die der kaufmännischen Angestellten, und neue bedeutsame wirtschaftliche Positionen, ζ. B. die der Manager, haben sich herausgebildet. Ein System sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit mildert aufgrund des Sozialstaatsprinzips unserer Verfassung auftretende gesellschaftliche Spannungen und Konflikte. Es hat sich ferner gezeigt, daß Kriminalität keineswegs nur aus Armut entsteht. Insofern hat sich die Engelssche Monokausaltheorie als falsch erwiesen. Kriminalität wird gerade auch in einer Wohlstandsgesellschaft verursacht: durch mangelnde wissenschaftlich-kulturelle Orientierung, durch einseitige materielle Leitbilder, durch fehlende Leistungs- und Einsatzbereitschaft,

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung durch moralischen Zerfall und durch die Zerstörung emotional-zwischenmenschlicher Beziehungen. Schließlich sind die seit langem bestehenden sozialistischen Gesellschaften keineswegs von Kriminalität frei. Willem Adriaan Bonger (1916) vertrat als Marxist folgende Kriminalitätsentstehungstheorie: Egoismus schließt die Fähigkeit, kriminelle Handlungen zu begehen, ein, während Altruismus diese Fähigkeit ausschließt. Der Kapitalismus fördert den Egoismus, der Sozialismus den Altruismus. Die Neigung zur Begehung kriminellen Verhaltens wächst, wenn eine egoistische Person die Möglichkeit wahrnimmt, durch illegale Handlungen auf Kosten anderer einen Vorteil zu erlangen, und wenn ihr die Chance versperrt ist, Befriedigung auf legalem Wege zu erreichen. Im Kapitalismus kann man auf Kosten anderer durch illegale Handlungen egoistische Vorteile erzielen. Man muß es sogar, weil einem der legale Weg zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse versperrt ist. Im Sozialismus ist das anders. Er gewährt jedem die Möglichkeit, auf legalem Wege seine Bedürfnisse zu befriedigen. Der Kapitalismus bringt deshalb Kriminalität hervor, während im Sozialismus keine Straftaten zu entstehen vermögen. Im Kapitalismus sind Rechtsbrüche „antisoziale" Handlungen, die die Interessen der Mächtigen beträchtlich schädigen oder gefährden. Es gibt allerdings Ausnahmen, weil die unteren Klassen nicht ganz ohne Macht sind. Das Legalsystem rechtfertigt das egoistische Verhalten der Bourgeoisie und kriminalisiert dasjenige des Proletariats. Kriminalität beruht letztlich auf Armut. Es besteht eine unmittelbare und eine mittelbare Beziehung. Armut zerstört die menschlichen Beziehungen. Die Kriminalität wird verschwinden, wenn sich der Wettbewerbskapitalismus über den Monopolkapitalismus in ein sozialistisches System gewandelt haben wird, in dem materielle Güter nach dem Prinzip zugeteilt werden: Jedem nach seinen Bedürfnissen! Die sozialistischen Systeme sind bis jetzt den Beweis schuldig geblieben, daß sie neue „sozialistische Persönlichkeiten" zu erziehen vermögen, die nicht egoistisch, sondern altruistisch handeln. Auch im Sozialismus sind illegale Handlungen auf Kosten anderer nicht ausgeschlossen. Im Sozialismus wird der Staatsapparat gleichfalls durch Legalsysteme geschützt. Diejenigen, die den Staatsapparat beherrschen: die Parteifunktionäre und die Bürokratie, haben den Nutzen davon. Kriminalität beruht nicht nur auf Armut. Es gibt auch eine Kriminalität, die durch materiellen Wohlstand hervorgerufen wird. Auch er zerstört die menschlichen Beziehungen. Wenn vielleicht auch das Problem des materiellen Mangels in Zukunft gelöst werden wird, so bleiben doch wichtige Fragen ungelöst und neue Probleme entste-

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hen: Wer bestimmt, wie weit die Einzelbedürfnisse gehen dürfen und ob sie sich noch im Bereich der Legalität bewegen? Wie sollen die immateriellen Bedürfnisse, ζ. B. die überhöhten Statuserwartungen einzelner, befriedigt werden? Wie kann man den Problemen gerecht werden, die durch materiellen Wohlstand entstehen ? Nur einzelne Beispiele sollen genannt werden: menschliche Einsamkeit, Zerstörung der Gemeinschaft, Umweltverschmutzung. 2. Marxistische Kriminologie in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR In der Bundesrepublik Deutschland treten Falco Werkentin, Michael Hofferbert und Michael Baurmann (1972) für einen marxistisch-kriminologischen Ansatz ein: „Der legitime Weg der Bereicherung, die Ausbeutung anderer innerhalb der Rechtshoheit des bürgerlichen Staates, ist dem Lohnabhängigen, als Nicht-Eigentümer von Produktionsmitteln, versperrt" . . . „Die systematische Ungleichverteilung der materiellen wie immateriellen Gratifikationen ist innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft selbst nicht aufhebbar, da die naturwüchsige Logik dieser Produktionsverhältnisse, die sich in der Form von Naturgewalten hinter dem Rücken der beteiligten Menschen durchsetzen, sich einer planmäßigen Regulation prinzipiell entziehen." Werkentin, Hofferbert und Baurmann führen die Entstehung der Kriminalit ä t auf die „Klassenjustiz" und die „Klassengesellschaft" zurück. Sie halten die „Überwindung kapitalistischer Gesellschaftsstrukturen" zur Beseitigung der Kriminalität für unerläßlich. Denn die Kriminalität entsteht nach ihrer Ansicht aus den Produktionsverhältnissen des Kapitalismus und den sozialen Widersprüchen in der kapitalistischen Gesellschaft. „Das Erleben und Erleiden des Klassenschicksals in die Erkenntnis der Klassenlage, der Notwendigkeit und der Mittel und Wege ihrer Überwindung zu wenden, macht den Gegensatz zum Erkenntnisinteresse bürgerlicher Kriminologie aus. Das Ziel einer so verstandenen Kriminalitätstheorie läge letztlich nicht in einer bloßen Eindämmung von Kriminalität, sondern in der Überführung bewußtloser Handlungsformen in die klassenbewußte Aktion des organisierten Proletariats, dessen revolutionärer Kampf für die Herrschenden immer ein Verbrechen bleiben wird." Falco Werkentin macht das an anderer Stelle (1971) noch deutlicher. Er spricht davon, daß der Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaft organisiert und politisch aufgenommen werden müsse, „gegen die der kriminelle proletarische Jugendliche bisher individuell, sehr diffus und realitätsuntüchtig gekämpft" habe. Er fährt dann fort: „Nicht soziale Anpassung, sondern Verwandlung der individuellen in politische „Kriminalität", sprich Erziehung zum Klas-

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Kriminologie (Grundlagen) ·— Ergänzung

senkampf ist der proletarischen Klassenlage entsprechende „Therapie"". Hier bleibt zumindest unklar, ob ein Kampf mit legalen oder kriminellen Mitteln gemeint ist. Die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme läßt geistige Auseinandersetzung durchaus zu. Insofern gibt es kein „sozialabweichendes Denken". Es ist allerdings wünchenswert, die geistige Auseinandersetzung in allen Gesellschaftsordnungen führen zu dürfen. Von solcher geistiger Auseinandersetzung ist „Schreibtischkriminalität" scharf zu trennen. Sie widerspricht dem Gewaltverzicht und fordert dazu auf, ein Gesellschaftssystem mit kriminellen Mitteln von innen und außen zu stören oder gar zu beseitigen. Der „Schreibtischtäter", eine Erscheinung, die es unabhängig von der nationalsozialistischen Kriminalität gibt, legt die geistigen Grundlagen für Kriminalität. Er rechtfertigt Formen der Kriminalität für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. „Schreibtischkriminalität" bezieht sich zunächst einmal auf Täter, die von ihrem Schreibtisch aus kriminelle Aktionen leiten und lenken, die durch planmäßig gesteuerten Einsatz der kriminell geeigneten Mittel die Straftaten in ihren Händen halten und ihren Ablauf bis zum kriminellen Erfolg beherrschen. Der Begriff „Schreibtischtäter" trifft zum anderen auch auf Menschen zu, die durch die Entwicklung „kriminologischer Theorien" und durch das Anfertigen von „Kunstwerken" (ζ. B. das Schreiben von Romanen) Kriminalität mit voller Absicht zu verursachen, zu rechtfertigen oder zu verschärfen versuchen, um ein gesellschaftliches System gewaltsam zu zerstören. Politische Kriminalität, eine der schwersten Formen der Kriminalität überhaupt, benötigt zu ihrer Ausführung die kriminelle Ideologie, die von Schreibtischtätern hervorgebracht wird (ζ. B. Adolf Hitler: Mein Kampf). Unter politischer Kriminalität wird Kriminalität aus angeblich politischen Motiven (also ζ. B. Gewaltkriminalität) verstanden. Politische Argumentation und das Äußern abweichender politischer Auffassungen haben mit politischer Kriminalität überhaupt nichts zu tun, die sich eindeutig krimineller Mittel zu ausgesprochen kriminellen Zielen bedient (vgl. zu diesem Problemkreis die Kontroverse zwischen Hans Joachim Schneider 1973 einerseits und Josef Streit 1974 und Falco Werkentin 1974 andererseits). In der Deutschen Demokratischen Republik verfechten Erich Buchholz, Richard Hartmann, John Lekschas und Gerhard Stiller (1971) folgende Thesen: a) Die Kriminalität ist eine der kapitalistischen Gesellschaft wesenseigene und eine dem Sozialismus wesensfremde Erscheinung. „In der sozialistischen Gesellschaft braucht keiner zum Verbrecher zu werden."

b) Die in der sozialistischen Gesellschaft noch vorhandene Kriminalität ist Ausdruck von „Relikten" oder „Rudimenten" der kapitalistischen Gesellschaft. c) Da die Kriminalität eine dem Sozialismus wesensfremde und dem Kapitalismus wesenseigene Erscheinung ist, darf die „Sozialistische Kriminologie" sich nicht gegen die sozialistische Gesellschaft und ihre sozioökonomischen Grundlagen richten, während die bürgerliche Kriminologie notwendigerweise „zu revolutionärer Negation der bürgerlichen Eigentums- und Gesellschaftsordnung gelangen muß, wenn sie nicht „unwissenschaftlich" sein will". d) In der kapitalistischen Gesellschaft führt „die Produktionsweise in Gestalt der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, wie sie im Privateigentum an den Produktionsmitteln in Erscheinung tritt", gleichsam automatisch zur Kriminalitätsentstehung. „Aus dem Privateigentum folgt notwendig die Entfremdung, die Entgegensetzung der Individuen und der Antagonismus Individuum-Gesellschaft." Diese Grundthesen von Buchholz, Hartmann, Lekschas und Stiller haben eine gefährliche Blindheit der „Sozialistischen Kriminologie" gegenüber den kriminogenen Faktoren in ihrer eigenen sozialistischen Gesellschaft zur Konsequenz. Die gesamte Verursachungslast für die Straftat fällt auf das Individuum. Das hat der Strafrechtler Alvar Nelson (Uppsala) bestätigt, der Gelegenheit hatte, Strafverfahren in der DDR zu beobachten. Nur der bürgerliche Kriminologe wird akzeptiert, der gleichsam einen Partisanenkampf gegen die eigene bürgerliche Gesellschaftsordnung führt. Eine solche Ansicht stört die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme empfindlich. 3. Kriminologie in der Sowjetunion, Polen und Jugoslawien

Die sowjetischen Kriminologen sind vorsichtiger: „Der Sieg der Werktätigen über die Bourgeoisie und der Übergang zum Aufbau der Grundlagen des Sozialismus haben keine automatische Ausmerzung der Kriminalität zur Folge . . . " (Allunionsinstitut 1968). Die jugoslawischen Kriminologen Ljubo Bavcon, Bronislav Skaberni und Katja Vodopivec sind (1968) gegenüber den Ansichten der Kriminologen der DDR völlig gegenteiliger Meinung: Das Bestehen der Kriminalität im Sozialismus ist eine Tatsache. Die bloße Vergesellschaftung von Produktionsmitteln beseitigt die Entfremdung nicht, die mit jedem hochindustrialisierten Produktionsprozeß verbunden ist. Die Wissenschaft hat sich nicht mit dem zu befassen, wie der Sozialismus aussehen soll. Die Kriminologie beschäftigt sich vielmehr mit dem, was ist.

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung „Wir fürchten gar nicht, daß das Ansehen des Sozialismus leiden könnte, wenn wir eingestehen, daß die Kriminalität auch in diesem System besteht und daß ihre Wurzeln tiefer reichen, als dies in den vorrevolutionären Zeiten zu sein schien." Der jugoslawische Kriminologe Milan M i l u t i n o v i c geht ebenfalls (1969) auf die in der sozialistischen Gesellschaft selbst entstehende Kriminalität ein. In der Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen der Menschen und den ökonomischen Möglichkeiten ihrer Befriedigung sieht er eine dem Sozialismus wesenseigene Kriminalitätsursache. „Die ungenügende ökonomische Entwicklung und die materielle Ungleichheit, die mit der Warenherstellung und der Verteilung entsprechend dem Produktionserfolg verbunden ist, haben für die sozialistische Gesellschaft negative Folgen. Ebenso beeinflussen Widersprüche zwischen individuellem und gesellschaftlichem Interesse die Handlungen einzelner. Wichtig sind auch die Einstellungen mancher Menschen, die aufgrund ihrer Mentalität, der psychologischen Konstitution, Moral und anderer Normen dem Sozialismus ablehnend gegenüberstehen, was gleichfalls viele sozialabweichende Handlungen hervorrufen kann." Schließlich nennt Milutinovi6 als kriminogene Faktoren „negative bürokratische Tendenzen, die der Sozialismus selbst schafft". Der polnische Kriminologe Leszek Lernell lehnt die „Rudimenttheorie" (1973) völlig ab: „Zwar entwickelten Marx und Engels eine Vision vom völligen Absterben der Kriminalität. Jedoch handelte es sich hier um eine Vision, die in eine ferne Zukunft reichte . . . Auch Lenin zeichnete ein Bild vom völligen Verschwinden des Verbrechens, das er mit dem Absterben des Staates verband. Für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation, in der die Kriminalität der sozialistischen Gesellschaft arg zusetzt, ist es notwendig, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie tatsächlich ist und wie sie sich mit den in ihr vor sich gehenden Prozessen und den in ihr entstehenden kriminogenen Faktoren gestaltet. Ein seliger Optimismus widerspricht nicht nur der Strenge wissenschaftlichen Denkens, sondern kann auch für einen wirksamen Kampf gegen die Kriminalität verderblich sein. Die naive Anschauung, daß es im Zuge der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft nicht zu Widersprüchen käme, ist Ausdruck einer religiösen, eschatologischen Auffassung des Sozialismus als eines Reiches Gottes auf Erden. Sie ist dem wissenschaftlichen Sozialismus fremd, der sich selbst als neues Stadium in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft auffaßt . . . Widersprüche tun sich kund in verschiedenen Störungen der zwischenmenschlichen Beziehungen, in den entstehenden Konflikten zwischen dem Einzelinteresse und dem Gesellschaftsinteresse, insbesondere wenn das soziale Interesse mangelhaft realisiert wird oder keine Zustimmung im Bewußtsein der Menschen findet,

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zwischen dem Produktionsinteresse und dem Verbrauch und in verschiedenen Erscheinungen der wirtschaftlichen Ungleichheit. Die Entstehung und Ausdehnung des Raumes des gesellschaftlichen Eigentums, dessen Bestandteile dem Schutz und der Fürsorge von Millionen von Menschen im Produktionsprozeß, beim Transport oder Verkauf anvertraut sind, bilden ein Feld, auf dem die egoistischen Ziele des Einzelwesens mit dem gesellschaftlichen Interesse in Konflikt geraten können, dessen Ausdruck die gefährliche Erscheinung der Wirtschaftskriminalität ist!" Die sowjetischen Kriminologen sind durchaus bereit, die Forschungsergebnisse der bürgerlichen Kriminologie zur effektiveren Verbrechensbekämpfung heranzuziehen. Sie wollen sie allerdings zuvor von ideologischen und politischen Belastungen befreien (W. K. Zwirbul 1975). Staatsanwaltschaften und Gerichte sollen verpflichtet werden, in den konkreten Fällen, die sie bearbeiten, die Ursachen der Kriminalität festzustellen. Eine wichtige Kriminalitätsursache wird in der mangelnden Gesetzeskenntnis und dem unzulänglichen Rechtsbewußtsein der Bevölkerung gesehen (I. I. Karpez 1973). Die Persönlichkeit, insbesondere ihre antisoziale Orientierung, spielt eine bedeutsame und aktive Rolle bei der Verbrechensverursachung (S. A. Tararuchin 1974; J. D. Bluwstejn 1971; A. B. Sacharow, L. A. Bolochina 1974). Zwar wird durchaus der dynamische Karrieregesichtspunkt erkannt. Es sollen die entscheidenden Wendepunkte in der kriminellen Karriere der Rechtsbrecher herausgearbeitet werden. Gleichwohl wird die Persönlichkeit noch zu sehr als etwas Nicht-Gewordenes, sondern Fertiges betrachtet. Als weitere Verbrechensursachen in der sozialistischen Gesellschaft werden genannt: intrapsychische Konflikte, objektive Konflikte zwischen Verhaltensweisen der Delinquenten und Verhaltens- und Rechtsnormen (W. N. Kudrjacew 1973); Widersprüche zwischen sozialistischem vergesellschaftetem Eigentum und vorsozialistischer verfremdender Arbeitsteilung, widersprüchliche schichtspezifische Interessen und ungleiche Verteilung der Produkte auf die verschiedenen Schichten —es werden mindestens drei Hauptschichten unterschieden: nichtqualifizierte, wenig qualifizierte und qualifizierte Arbeiter(W. M. Kogan 1973) —, Widersprüche zwischen den wachsenden Bedürfnissen der Gesellschaft und den begrenzten Möglichkeiten der materiellen Mittel für deren Befriedigung (Allunionsinstitut 1973; U. S. Dzekebajew 1974), Erziehungsmängel in Familie, Schule und werktätigem Kollektiv (A. W. Nadjarny 1974). Die sowjetischen Kriminologen setzen sich nicht nur mit der bürgerlichen Kriminologie auseinander (F. M. Reschetnikow 1965; W. S. Schikunow 1969; N. F. Kuznecowa 1974), sondern sie versuchen auch, die kriminologischen Probleme der Entwicklungsländer Asiens und

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Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

Afrikas zu erforschen ( F . M. Reschetnikow 1970). Die polnische kriminologische Forschung zeichnet sich durch empirische Untersuchungen auf hohem methodischem Niveau aus. B s wurden bespielsweise Studien zur Kinderdelinquenz (Ewa Zabczynska 1974), zur Jugendkriminalität (Izabella Korzewnikow 1968; Pawel Zakrzewski 1969; Izabella Tuhan Mirza-Baranowska u. a. 1971; Adam Strembosz 1971) und zur Diebstahls- und Wirtschaftskriminalität (Kazimiera Dluzniewska 1974; Witold Pawelko 1971) vorgelegt. Die englischen Kriminologen Ian Taylor, Paul Walton und J o c k Young halten die sowjetische Kriminologie für konventionell, jedenfalls für nicht marxistisch (Robert Mintz 1973, S. 39).

E . „Neue, kritische, radikale" Kriminologie 1.

Hauptrichtungen

E s gibt keine einheitliche Definition oder geschlossene Richtung der „neuen, kritischen, radikalen" Kriminologie. Die englischen Kriminologen Ian Taylor, Paul Walton und J o c k Young, die ein Buch über „Die Neue Kriminologie" (1973) geschrieben haben, sind in dieser Veröffentlichung ausschließlich damit beschäftigt, die traditionellen theoretischen Ansätze der Kriminologie darzustellen und zu kritisieren (so auch die Auffassung von Marshall B . Clinard 1974 über diese Schrift und die Autoren selbst 1973, S. 269). Das ist aber keine neue Konzeption der Kriminologie. Die Autoren sagen in einem Aufsatz: „Kritische Kriminologie in Großbritannien: Überund Ausblick", daß die „kritischen Kriminologen" in England sich mehr in der Antipathie gegenüber der „orthodoxen" Kriminologie einig sind als in irgendwelchen klaren Alternativprogrammen (1975 b, S. 8). Eine Orthodoxie innerhalb der Kriminologie gibt es nicht, da die Kriminologie eine empirische Wissenschaft ist. Taylor, Walton und Young, die gewisse Sympathien zur „Theorie der sozialen R e a k t i o n " — wie sie den interaktionistischen Ansatz nennen — hegen, möchten sich gleichwohl nicht mit diesem Ansatz identifizieren. Zentrale Fragen sind für sie die menschliche Beziehung zu Macht-, Herrschafts- und Autoritätsstrukturen und die Fähigkeit des Menschen zur Konfrontation mit diesen Strukturen in Verbrechen, Sozialabweichung und abweichender Meinung. Sie fordern eine politische Ökonomie des Verbrechens und eine politische Ökonomie, eine Sozialpsychologie und eine Sozialdynamik der gesellschaftlichen Reaktion auf Sozialabweichung. Sie verlangen eine Politisierung der Kriminologie. „Die neue Kriminologie muß eine normative Theorie sein: Sie muß die Möglichkeiten der Lösung fundamentaler Fragen und eine soziale Lösung bieten" (1973, S. 280). „Die Aufgabe be-

steht darin, eine Gesellschaft zu schaffen, in der die Tatsachen der menschlichen Verschiedenartigkeit — seien sie nun persönlich, organisch oder sozial bedingt — nicht Gegenstand der Macht zur Kriminalisierung sind" (1973, S. 282). Kriminalit ä t kann für Taylor, Walton und Young (1975 b ) weder als individuelle noch als soziale Pathologie verstanden werden. Sozialabweichung muß vielmehr ihre Interpretation in der Bedeutsamkeit dieses Handelns für den Handelnden suchen. Die Methode der „Neuen Kriminologie" muß sich von den sozialwissenschaftlich üblichen empirischen Forschungstechniken entfernen und sich einem intuitiven Ansatz der „Bedeutung" zuwenden. Teilnehmende Beobachtung wird als empirische Methode allenfalls zugestanden. Die konservative Kriminologie hat eine ideologische Rechtfertigungsfunktion. Dort, wo die Rechtfertigung des Legalsystems bedroht oder sonst in Gefahr ist, greift die konservative Kriminologie mit ihren empirischen Studien ein, um das bestehende Legalsystem abzusichern. Die liberale Kriminologie erschöpft sich nicht im Beschreiben, Rechtfertigen und Verteidigen dessen, was vorhanden ist — wie es die konservative Kriminologie tut — , sondern sie macht Vorschläge. Forschung über das, was existiert, wird mit dem Ziel betrieben, es zu verändern und zu verbessern. „Eine sozialistische Konzeption vom Menschen besteht auf einem unbegrenzten Wesen der menschlichen Leistungsfähigkeit in einer menschlichen Gesellschaft und insbesondere auf einer Gesellschaft, in der der Mensch befreit ist von dem Zwang, in einer im wesentlichen tierischen Weise nach materieller Produktion zu streben, um zu essen, zu verbrauchen und zu existieren" (1975 b, S. 23). Taylor, Walton und Young wollen der herrschenden Klasse die anscheinend kriminalitätsfreie Maske herunterreißen; sie wollen die Ungleichheiten in Wohlstand und Macht beseitigen. J o c k Young versucht, eine Kriminologie der Arbeiterklasse zu entwickeln. E r will einen Zweifrontenkrieg führen: gegen die vorhandene Klassengesellschaft und gegen die Tendenzen in der sozialistischen Bewegung und der Arbeiterklasse, die sozialistische Revolution streng wirtschaftlich zu interpretieren (1975b, S. 90). Anthony Platt (1974, 1975) will die Verbrechen des Imperialismus, der Ausbeutung, des Rassismus und des Sexualismus erforschen und sich ferner der Steuerhinterziehung, der Preisabsprachen, dem Konsumentenbetrug, der Regierungskorruption und den kriminellen Tötungen durch die Polizei als Untersuchungsgegenständen zuwenden. Kriminalität ist für ihn eine Verletzung der politisch definierten Menschenrechte: der wahrhaft gleichen Rechte auf anständiges Essen, Wohnen, auf Menschenwürde und Selbstbestimmung. Die Lösung des Kriminalitätsproblems liegt für ihn in der revolutionären Umwandlung der Gesellschaft und der Beseitigung

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung der wirtschaftlichen und politischen Ausbeutungssysteme. Die nordamerikanischen Kriminologen Herman und Julia Schwendinger (1975) sehen ihre Aufgaben ebenfalls in der Verteidigung von Menschenrechten. Als „teilnehmender Beobachter" hat sich William J. Chambliss (1975) in Seattle/Washington von 1962 bis 1972 und in Ibadan/Nigeria 1967/1968 aufgehalten. In beiden Städten hat er illegales Spiel, Prostitution, Rauschgiftsucht und den Verkauf von Pornographie „beobachtet". In beiden Städten arbeiten nach seinen „Beobachtungen" die Instanzen der Sozialkontrolle, ζ. B. Polizei, Gerichte, mit den „kriminellsten Gruppen" zusammen, um diejenigen als „Kriminelle" zu benennen, deren Verhalten minimale Gefahren für die Gesellschaft in sich birgt. Illegales Spiel, Prostitution, Rauschgiftsucht und der Verkauf von Pornographie können nur existieren, weil die Kontrolleure der Kriminalität bestochen werden. Die Sozialkontrolle ist auf diese Weise nicht dazu da, Kriminalität zu vermindern, um die öffentliche Moral zu stärken, sondern sie bringt systematisch Verbrecher hervor. Chambliss sieht in diesen „Beobachtungen" eine empirische Bestätigung der marxistischen Theorie, nach der die herrschende Klasse diejenigen als Kriminelle definiert, die ihren Interessen zuwiderhandeln. Er hat den Eindruck, daß die Kriminalität in der DDR niedriger ist als die in der BRD (mit Berlin-West). Aber da zuverlässige Daten fehlen und die Fakten auch hier nicht vergleichbar sind, handelt es sich um sehr subjektive „Beobachtungen", wie er selbst einräumt (1975, S. 179). William J. Chambliss (1974,1976b) vertritt folgende Thesen: Das Recht steht im Interesse derjenigen, die an der Macht sind. Diejenigen, die die Produktionsmittel kontrollieren, üben auch die Kontrolle über die Produktion der Werte einer Gesellschaft aus. Man benennt Handlungen als kriminell, weil das im Interesse der herrschenden Klasse liegt. Mitglieder der herrschenden Klasse können Rechtsverletzungen begehen, ohne bestraft zu werden. Die beherrschte Mehrheit wird demgegenüber mit dem Strafrecht unterdrückt. Man benennt Personen als kriminell, weil dies im Interesse der herrschenden Klasse ist, ob ihr angeblich kriminelles Verhalten nun von der Gesellschaft geduldet wird oder nicht. Die kriminelle Benennung ereignet sich bei den Unterschichten mit größerer Wahrscheinlichkeit, weil die Kontrolle des Staates durch den Bourgeois ihn vor jeder Stigmatisation bewahrt (vgl. auch William J. Chambliss, Robert B. Seidman 1971). Die „neue, kritische, radikale" Kriminologie hat sich aus der Bürgerrechtsbewegung, der AntiVietnam-Kriegsbewegung in den USA, der Studentenbewegung und der Befreiungsbewegung in der 3. Welt entwickelt (Barry Krisberg 1975). Der nordamerikanische Kriminologe Richard •Quinney hat (1975 b) scheinbar klare Vorstellun-

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gen: Die amerikanische Gesellschaft gründet sich auf eine fortgeschrittene kapitalistische Wirtschaftsordnung. Der Staat ist organisiert, um den Interessen der dominierenden wirtschaftlichen Klasse, der kapitalistischen Herrschaftsklasse, zu dienen. Die Strafgesetze sind ein Mittel des Staates und der herrschenden Klasse, um die gegenwärtige Sozial- und Wirtschaftsordnung zu erhalten und weiterzuführen. Die Kontrolle der Kriminalität wird in der kapitalistischen Gesellschaft von einer Vielzahl von Institutionen und Agenturen ausgeübt, die von einer Regierungselite eingerichtet und verwaltet werden, um die Interessen der herrschenden Klasse zum Zwecke der Errichtung einer inneren Ordnung zu vertreten. Die Widersprüche innerhalb des fortgeschrittenen Kapitalismus — die Trennung von „Dasein" und „Wesen" —• erfordern es, daß die untergeordneten Klassen durch alle nur denkbaren Mittel unterdrückt bleiben, besonders durch den Zwang und die Gewalttätigkeit des Rechtssystems. Nur mit dem Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft und mit der Schaffung einer neuen Gesellschaft, die sich auf sozialistische Prinzipien gründet, wird es eine Lösung des Kriminalitätsproblems geben. Quinney, der es von sich weist, Marxist zu sein (Eileen Goldwyn 1971, S. 48/49), da er weder marxistisch ausgebildet sei noch die marxistische Theorie für modern genug hält, um die Gegenwartsprobleme der amerikanischen Gesellschaft zu lösen, versucht, anhand der staatlicherseits geförderten empirischen Forschung, aufgrund der personellen Zusammensetzungen der „Kriminalitätskommissionen", die den US-Präsidenten beraten haben, und anhand der personellen Zusammensetzung des Unterausschusses des Senats der Vereinigten Staaten, der das Gesetz zur Bekämpfung der Straßenkriminalität 1968 beraten hat, nachzuweisen (Quinney 1974), daß alles getan wird, um die Interessen der herrschenden Klasse durchzusetzen und die bestehende Sozialordnung zu rechtfertigen. Die herrschende Klasse läßt das Verhalten als „kriminell" oder „gewaltsam" definieren, das ihr gefährlich zu werden droht. Auch die Bürokratien, die das Verbrechen in den Vereinigten Staaten kontrollieren, sind so personell besetzt, daß sie — nach Quinney — ganz im Interesse der herrschenden Klasse handeln. Die Lösung des Kriminalitätsproblems sieht er nicht in liberalen Reformen. Der Kapitalismus selbst ist das Problem. Er muß durch einen „demokratischen Sozialismus" abgelöst werden. Den „Staatssozialismus" in der Sowjetunion und in den osteuropäischen Ländern lehnt Quinney ausdrücklich ab (1974, S. 187). Im demokratischen Sozialismus gibt es keine Klassen, keine Bürokratie und keine Zentralverwaltung. Die Gesetze werden durch Sitten und Bräuche ersetzt, die von der örtlichen Gemeinschaft überwacht werden. Quinney befürwortet so etwas wie die Nachbarschafts-

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Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

gerichte auf Kuba. Seine zentralen Thesen faßt er folgendermaßen zusammen (1975 a): Die Agenten der herrschenden Klasse rufen in einer politisch organisierten Gesellschaft Verbrechen als Legaldefinition menschlichen Verhaltens hervor. Verbrechensdefinitionen setzen sich aus Verhalten zusammen, das mit den Interessen der herrschenden Klasse in Konflikt steht. Die Klasse, die die Macht hat, die praktische Handhabung des Strafrechts zu bestimmen, wendet die Verbrechensdefinitionen an. Verhaltensmuster strukturiert man im Hinblick auf Verbrechensdefinitionen. In diesem Rahmen verwickeln sich Menschen in Handlungen, die mit relativer Wahrscheinlichkeit als kriminell definiert werden. Eine Verbrechensideologie wird von der herrschenden Klasse konstruiert und verbreitet, um ihre Vorherrschaft zu sichern. Die soziale Realität des Verbrechens bildet sich durch die Formulierung und Anwendung von Verbrechensdefinitionen, die Entwicklung von Erscheinungsformen in Beziehung auf diese Definitionen und durch die Konstruktion einer Verbrechensideologie. Die Legalordnung ist wirklich eine Konstruktion der herrschenden Klasse und des Staates, der ihr dient. Je mehr der Kapitalismus durch seine eigenen Widersprüche bedroht wird, desto mehr wird die Rechtsordnung benutzt, um den Kapitalismus aufrechtzuerhalten. Er ist jedoch nicht in der Lage, seine eigenen Widersprüche zu lösen. Die Kriminologie hat bisher zur Legitimierung der bestehenden Gesellschaftsordnung gedient. Die herrschende Klasse kontrolliert die Produktionsmittel und ist wegen ihrer wirtschaftlichen Macht in der Lage, den Staat als ihr Instrument zu mißbrauchen. Mit Hilfe einer riesigen Kriminalitätsbekämpfungsbürokratie unterdrückt die herrschende Minderheit die Mehrheit der Gesellschaft. Im Namen der „nationalen Sicherheit" werden illegale Handlungen gerechtfertigt. Abweichende politische Meinungsäußerungen werden als „kriminell" definiert: Demonstrationen und andere Formen des Protests. Die amerikanische Gesellschaft ist — nach Quinney — auf dem Weg zum Polizeistaat. Die auf die Gemeinschaft gegründeten Behandlungsprogramme in Freiheit sind allein deshalb entwickelt worden, um den Kapitalismus noch besser zu schützen. Die Gesellschaften und Legalsysteme Vietnams, der Volksrepublik China, Koreas, Kubas und Algeriens sind Quinneys Vorbilder (1974, S. 196; vgl. auch Steven Spitzer 1975). Paul Q. Hirst macht (1975) darauf aufmerksam, daß nach Marx und Engels die „kriminellen Klassen" die Feinde der organisierten Arbeiterschaft im Klassenkampf sind. Das sogenannte „Lumpenproletariat" spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Ian Taylor und Paul Walton halten es (1975) für unfähig, beim revolutionären Sozialprozeß mitzuwirken, da es eine parasitäre Rolle spielt.

Der deutsche Soziologe Fritz Sack, der sich an der anglo-amerikanischen Diskussion bisher nicht beteiligt hat, begreift (1974) die Instanzen der sozialen Kontrolle hauptsächlich als „Produzenten der Kriminalität". Er greift ebenfalls den Legitimationscharakter der bisherigen Kriminologie an und will das Verhalten derjenigen Leute untersuchen, „zu deren Disposition die Eigenschaft Kriminalität gestellt ist" (1974, S. 40). Vor Sacks Augen entsteht das „schauerliche Panorama einer Eifererbewegung, die als Chefideologen" ihn „ausweist und deren Anhänger Sektierern mehr ähneln als Wissenschaftlern". Er nennt „seine" Theorie eine „marxistisch-interaktionistische Theorie der Kriminalität" (1974, S. 19). Hans Haferkamp schließt sich Sack an und schreibt (1974, S. 49): „Kriminalität ist das Produkt von Rechtsanwendung. Diese richtet sich auf die Angehörigen der Unterschicht." Er fährt fort (1974, S. 50): „Kriminelles Handeln wie Kriminalisierung sind als Produkt der Klassenstruktur der kapitalistischen Gesellschaft anzusehen . . . " . Durch „erhebliche definitorische Prozesse im Strafgerichtsverfahren, in polizeilichen Untersuchungsberichten und Falldarstellungen von Sozialarbeitern" werden — nach Haferkamp — kriminelle Handlungen erst „konstruiert" (1974, S. 63). Der Definitionsansatz ist radikal: „Kriminelles Handeln selbst, das Verhalten, das kriminalisiert wird, ist . . . der Untersuchung nicht mehr bedürftig. Alleiniger Untersuchungsgegenstand von Kriminalsoziologie und Soziologie der Instanzen sozialer Kontrolle ist die Kriminalisierung. Sie wird an beliebigen Handlungen durch ihre Subsumtion unter Strafgesetze vorgenommen: Kriminalität ist das alleinige Produkt der Rechtsanwendung . . . " (Haferkamp 1974, S. 47/48). Erhard Blankenburg (1974) erkennt Karl Marx als ersten Vertreter des „Labeling"- Ansatzes. In der deutschen soziologischen Diskussion ist viel von Klassenkampf, Klassenlage der Kriminellen, Klassenrecht und Klasseninteressen, Klassenjustiz und Klassengesetzgebung die Rede (Sack 1971; Karl F. Schumann 1973; Jörg Wolff 1973; Erhard Blankenburg und Hubert Treiber 1975). Während Carola und Karl F. Schumann Sacks Bezeichnung „marxistischinteraktionistische Theorie" kritisieren (1972) und Helga und Henning Trabandt (1972) dem „Labeling"-Ansatz Vernebelungstendenzen vorwerfen, befindet sich Dorothee Peters (1971) ganz in Übereinstimmung mit Sack: „Kriminelles Handeln erklären heißt, den Prozeß der Zuschreibung der Eigenschaft „kriminell" zum Gegenstand der Analyse machen". Dazu erweisen sich die Uralt(Karl F. Schumann 1973) und die Polizei-Kriminologie (Peter Malinowski 1975) als unfähig. Manfred Brüsten (1975) folgt ebenfalls der Sackschen Theorie und äußert die Meinung: „Die Klassenstruktur der Gesellschaft wird nicht nur durch den Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung Kapital, sondern auch über Prozesse der Kriminalisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen aufrechterhalten . . . Die strukturellen Eigengesetzlichkeiten der Kontrollinstanzen — Sozialarbeit, Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht — führen zu einer selektiven und zum Nachteil sozial unterprivilegierter Gruppen führenden Diskriminierung, Disziplinierung und Sanktionierung." 2. Kritik

an der „Neuen, kritischen, Kriminologie

radikalen"

Die „neue, kritische, radikale" Kriminologie ist nicht das, was ihre eigene Benennung verspricht. In wortreich unverständlichen, zum Teil stark widersprüchlichen, sich ständig wiederholenden Ausführungen werden vage Forderungen erhoben oder einseitig-stereotype Behauptungen aufgestellt, die nicht empirisch bewiesen werden, meist auch eines Beweises gar nicht fähig und — nach der Auffassung ihrer Autoren — nicht bedürftig sind und die sich im Unbestimmten, Unbestimmbaren und Unverbindlichen halten. Konkrete Aussagen zur Kriminalitätsentstehung und -Vorbeugung fehlen so gut wie ganz. Die Überheblichkeit und mangelnde Selbstkritik der Vertreter der „radikalen" Kriminologie sind bemerkenswert. Sie bezeichnen sich als „radikal kritisch", sind dies jedoch nur ihren Gegnern, nicht sich selbst gegenüber. Ihre „kritischen Analysen" erweisen sich stets als subjektive Meinungsäußerungen von zweifelhaftem Erkenntniswert. Die äußerst spärlichen empirischen Untersuchungen verwenden die Methode der teilnehmenden Beobachtung, eine äußerst unzuverlässige Methode. Sicherheit und Ordnung dürfen zwar kein Selbstzweck werden. Sie dürfen aber auch nicht einseitig abqualifiziert werden. Es liegt gerade im Interesse der Unterschichten, die am meisten Opfer von Verbrechen werden (-> Viktimologie), Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten. Ein demokratischer Sozialismus ohne Gesetze, in dem die Einhaltung von Sitten und Bräuchen durch örtliche Gemeinschaften kontrolliert wird, ist praktisch undurchführbar. Instanzen der Sozialkontrolle als „Produzenten der Kriminalität" (Fritz Sack) zu bezeichnen, die kriminelle Handlungen „konstruieren" (Hans Haferkamp), ist wenig überzeugend. Die Moskauer Kriminologin Kuznecowa (1974) äußert unter kritischer Bezugnahme auf Richard Quinney, Verbrechen würden nicht begangen, weil Strafgesetze erlassen und angewandt würden, sondern die Strafgesetze würden erlassen und angewandt, weil Verbrechen verübt würden (S. 29/30). Im übrigen geht es den „kritischen, radikalen" Kriminologen viel zu sehr darum, wer was aus ihrem engeren Kreise gesagt hat. Von Entwicklungen außerhalb ihrer engen theoretischen Schule nehmen sie überhaupt keine Kenntnis. Wer es wagt, die „neue, kritische, radikale" Kriminologie

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anders aufzufassen als Fritz Sack, kann mit äußerst negativen Benennungen rechnen. In Variationen „ihrer" Theorie sind sie allerdings völlig zerstritten. Theoretische Konzepte sind in der Kriminologie allein fruchtbar und wertvoll, wenn sie empirischer Beweise fähig sind (Marshall B. Clinard 1974b, S. 90). Dreißig verschiedene Hauptmeinungen sind — nach einer Zusammenstellung von Walter B. Miller (1973) — gegenwärtig denkbar, wenn es um die verschiedenen Konzeptionen über die Verursachung der Kriminalität, um die unterschiedliche Beurteilung der Verantwortlichkeit für Kriminalität, um widerstreitende Behandlungsmethoden der Rechtsbrecher und um verschiedene Konzeptionen der Leitung von Organen der Strafrechtspflege geht. Jedenfalls muß der „neuen, kritischen, radikalen" Kriminologie entgegengehalten werden, daß sich kriminelle Karrieren auch ohne soziale Reaktionen entwikkeln können — sonst gäbe es kein Dunkelfeld — und daß soziale Reaktionen durchaus hilfreiche Interventionen im Interesse des Rechtsbrechers zu sein vermögen (Marshall B. Clinard 1972). Der zentrale Begriff der „radikalen, kritischen" Kriminologie ist die „herrschende Klasse", in deren Interesse die Strafrechtsnormen gesetzt und angewandt werden. Die herrschende Klasse gibt es im pluralistischen Sozialsystem westlicher Demokratien nicht. Es sind vielmehr mehrere „herrschende" Gesellschaftsgruppen vorhanden, deren Interessen im Widerstreit stehen und die sich im sozialen System gegenseitig kontrollieren. Sollte es aber eine homogene herrschende Gruppe geben, so kann auch sie nicht •— gleichsam willkürlich — bestimmen, was zu kriminalisieren ist und was nicht. Denn die Strafrechtsnormen und ihre Anwendung müssen von der Gesellschaft und ihren Repräsentanten im sozialen Kontrollprozeß auch akzeptiert werden. Für eine solche Annahme ist das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung und damit die ethisch-moralische Komponente im Kriminalisierungsprozeß maßgebend. Einen schweren Vorwurf erheben R. Serge Denisoff und Donald McQuarie (1975) gegenüber Quinney. Sie werfen ihm „Vulgärmarxismus" vor. Auch die britischen Kriminologen Ian Taylor, Paul Walton und Jock Young (Robert Mintz 1974) halten zwar sich selbst, aber nicht Richard Quinney, David Matza und Austin T. Turk für marxistische Kriminologen: Wenn man die zweideutige Sprache von Quinney, Matza und Turk entlarve, so bleibe nichts „Radikales" (Mintz 1974, S. 44). Edwin M. Lemert hat sich (1974) mit den „radikalen, kritischen" Kriminologen auseinandergesetzt: In der Etikettierungstheorie ist zu wenig Platz für freie menschliche Entscheidung. Die Theoretiker des Benennungsansatzes verkennen, daß das hervorstechendste Problem für die Vertreter der Sozialkontrolle, ζ. B. Polizisten, Richter, dasjenige ist, was sie unter einer Vielzahl von gegebe-

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

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nen Vorschriften auswählen sollen und wie sie ihre Wahl begründen können. Daß eine Klasse oder Elite die Normsetzung und -anwendung bestimmt, bestreitet Lemert. Die Normsetzung und -anwendung ist vielmehr ein Produkt einer Gruppeninteraktion: „Die Ausarbeitung der Gesetzgebung offenbart sowohl ihre vielfältig geartete Interaktion mit diesen Gruppen wie auch die Komplexität ihrer eigenen inneren Interaktion in Komitees, Mehrheiten und Minderheiten. Richter, Gerichtsangestellte, Verwaltungsbeamte und Polizisten sind ferner an einem Wechselwirkungsprozeß beteiligt, indem sie den effektiven Wirkungsbereich des neuen selbständigen Gesetzes durch Anpassungen in der Rechtsprechung und der Verfahrensweise bestimmen. Um das Zusammenspiel vieler Gruppen, in dem sich neue moralische Kategorien und Arten der gesetzlichen Kontrolle materialisieren, zu verstehen, ist ein Interaktionsmodell notwendig, das sich stark von den durch Meads psychologische Thesen und durch die Klassenkonfliktstheoretiker geförderten Modelle unterscheidet" (1974, S. 462). Sein Modell der Gruppeninteraktion stellt Lemert — wie folgt — vor (1974, S. 463): „Gruppeninteraktion ist am besten als ein Prozeß zu verstehen, der auf der Abwägung beruht, in der der einzelne seine Absichten und Werte nach der Form seiner Abhängigkeit von anderen Gruppen aussucht, die für seine Bedürfnisbefriedigung unentbehrlich sind. Indem er dies tut, gibt er einige Werte auf, um die anderen zum geringsten Preis zufriedenzustellen Auch Gesetzgeber können in ihrer Gruppenverpflichtung gefangen sein, so daß sie den Weg für Gesetze freigeben müssen, die den Werten, die sie persönlich vertreten, grob entgegengesetzt sind. Die Ordnung, nach der Interessen, Forderungen oder Werte befriedigt werden, spiegelt nicht nur Gruppenverbindungen wider, sondern auch die Erhältlichkeit von Mitteln zu ihrer Befriedigung und die Kosten dieser Mittel, gemessen in Zeit, Energie und anderen Werten, die ausgegeben werden müssen. Gesetze und Regeln, die in dieser Art von Prozeß entstehen, drücken häufig die Werte und Normen keiner Gruppe oder Person aus, sondern vielmehr ihre Dilemmas, Kompromisse und ihr eiliges Festhalten an Verfahren und Engpässen der Zeit und des Budgets." Lemerts Modell ist weitaus wirklichkeitsnäher als die Modelle der „neuen, radikalen, kritischen" Kriminologen (vgl. auch die kritischen Anmerkungen von Konrad Schima 1975). F. Interaktionismus 1. Theoretische

Grundlegung

Die klassische Kriminologenschule (Cesare Beccaria, 1738—1794) stellte auf den Rechtsbruch und seine Bestrafung ab. Die Positivisten (Cesare

Lombroso, 1835—1909; Raffaele Garofalo, 1852— 1934; Enrico Ferri, 1856—1929) bezweifelten den freien Willen des Rechtsbrechers und beurteilten ihn als Kranken oder Abnormen, der Behandlung benötigt. Nach der interaktionistischen Kriminologenschule ist das Verbrechen ein komplexes soziales System, in dem u. a. Täter, Opfer und Instanzen der Sozialkontrolle (ζ. B. Polizei, Gerichte) Elemente darstellen. Das Verbrechen entwickelt sich dynamisch in Handlung, Reaktion und Reaktion auf die Reaktion, also in der Interaktion, in einem Sozialprozeß. Die Interaktionsperspektive ist weder so neu und andersartig, wie manche ihrer Vertreter glauben, noch so einengend und beunruhigend, wie einige ihrer Kritiker meinen. Sie ist verwurzelt in traditionellen sozialpsychologischen Aussagen; sie beruht insbesondere auf dem symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead. Der Begriff „symbolische Interaktion" wird von Herbert Blumer (1962) folgendermaßen umschrieben: Er bezieht sich auf die besondere und unterschiedliche Art von Interaktion, wie sie sich unter Menschen abspielt. Diese Besonderheit besteht darin, daß Menschen die Handlungen anderer Menschen interpretieren und definieren und nicht bloß auf Handlungen anderer Menschen reagieren. Die Reaktion auf eine Handlung besteht nicht unmittelbar in einer anderen Handlung, sondern sie gründet sich auf die Bedeutung, die der Reagierende der Handlung seines Partners anheftet. Auf diese Weise wird die menschliche Interaktion vermittelt durch den Gebrauch von Symbolen, durch Interpretation und durch die Feststellung der Bedeutung der Handlungen jedes anderen. Diese Vermittlung ist gleichbedeutend mit der Einschaltung eines Interpretationsprozesses zwischen Reiz und Reaktion im Fall menschlichen Verhaltens. George Herbert Mead war der Auffassung (1918), daß der Kriminelle die Gesellschaftsstruktur nicht ernsthaft in Gefahr bringe, sondern daß er maßgeblich zur Solidarität und zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitrage. Mead glaubte nicht daran, daß abschreckende Strafen Verbrechen zu unterdrücken vermöchten. Nach seiner Ansicht hielten solche Strafen im Gegenteil eine „kriminelle Klasse" aufrecht. Für die Kriminologie machte Frank Tannenbaum (1938) erstmals die Grundzüge des symbolischen Interaktionismus fruchtbar: Das hervorragende Kennzeichen aller kriminologischen Diskussion ist bisher die Annahme gewesen, daß es einen qualitativen Unterschied zwischen den Persönlichkeiten krimineller und normaler Menschen gebe. Gut mag in normal, schlecht in anomal übersetzt worden sein. Aber der Wandel in der grundsätzlichen Einstellung war nicht groß. Die Kriminellen wurden mit Merkmalen wie Besessenheit vom Teufel, freiwillige Übeltäter, physische Brandmarkung, intellektuelle Minderwertigkeit,

Kriminologie (Grundlagen) ·— Ergänzung emotionale Labilität, schlechtes Erbgut und Drüsenstörungen gekennzeichnet. Der erwachsene Kriminelle ist für gewöhnlich das delinquente Kind der Vergangenheit. Das delinquente Kind ist nur zu oft der Streuner von gestern. Der Schritt eines Kindes, das Verhaltensprobleme in der Schule hat, zum Streunen ist nur zu natürlich. Der junge Delinquente wird schlecht, weil er als schlecht definiert wird und weil man ihm nicht glaubt, daß er gut ist. Die erste „Dramatisierung des Bösen", die das Kind zum Zwecke seiner Sonderbehandlung von seiner Gruppe trennt, spielt eine größere Rolle, es kriminell zu machen, als jede andere Erfahrung. Es kann nicht oft genug betont werden, daß die gesamte Situation sich für das Kind ändert. Es lebt nach dieser ersten „Dramatisierung des Bösen" in einer anderen Welt. Es ist etikettiert. Eine neue und bisher unbekannte Umgebung wird über es gestürzt. Der Prozeß des Kriminell-Machens ist ein Prozeß des Etikettierens, des Definierens, des Identifizierens, des Absonderns, des Beschreibens, des Betonens, des Bewußt- und Selbstbewußtmachens; er wird als eine Art des Anregens, Nahelegens, Betonens und Hervorrufens eben der Züge angelegt, über die man sich beklagt. Wenn die Theorie der Beziehung zwischen Reiz und Reaktion irgendeinen Sinn haben soll, ist der gesamte Prozeß des SichBefassens mit dem jungen Delinquenten insofern schädlich, als er ihn sich selbst und seiner Umwelt gegenüber als delinquente Person ausweist. Die Person wird so, wie sie beschrieben wird. Hierbei ist es ohne Bedeutung, ob die Beurteilung von Menschen getroffen wird, die bestrafen oder die bessern wollen. In jedem Fall liegt die Betonung auf einem Verhalten, das mißbilligt wird. Die Eltern oder der Polizist, der ältere Bruder oder das Gericht, der Bewährungshelfer oder die Erziehungsanstalt stützen sich auf eine falsche Grundlage, wenn sie sich auf das Verhalten berufen, über das sie sich beklagen. Gerade ihr Enthusiasmus zerschlägt ihr Bestreben. Je mehr sie sich bemühen, dem Übel zu steuern, desto größer wächst es unter ihren Händen. Ihre beständige Aktivität — mit welchen guten Absichten auch immer — wirkt sich schädlich aus, weil sie dazu führt, gerade das schlechte Verhalten hervorzubringen, das sie zu unterdrücken sucht. Nur ein Weg führt aus diesem Teufelskreis heraus, nämlich die Verweigerung der „Dramatisierung des Bösen". Je weniger gesagt wird, um so besser! Je mehr über etwas anderes gesagt wird, noch besser I Den Interaktionismus hat Edwin M. Lemert (1951, 1967) in der Kriminologie entscheidend vorangetrieben. Er unterscheidet zwischen primärer und sekundärer Sozialabweichung. Unter primärer Sozialabweichung versteht er ein Verhalten, das gerechtfertigt ist oder als Funktion einer sozial annehmbaren Rolle betrachtet wird. „Wenn eine Person damit beginnt, ihr abweichen35 HdK, 2. Aull., Bd. II

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des Verhalten oder ihre Rolle, die sie darauf gründet, als Verteidigungs-, Angriffs- oder Anpassungsmittel auf offene oder verdeckte Probleme zu verwenden, die durch ständige Reaktionen der Gesellschaft auf sie entstehen, ist ihre soziale Abweichung eine sekundäre" (1951, S. 76). Die Sequenz der Interaktion, die zu sekundärer Sozialabweichung führt, stellt sich im allgemeinen folgendermaßen dar: primäre Sozialabweichung, soziales Strafen, weitere primäre Sozialabweichungen, stärkere Strafen und Zurückweisung, weitere Sozialabweichungen mit möglichen Feindseligkeiten und Ressentiments gegenüber den Strafenden, Toleranzkrise der Strafenden und Stigmatisation der Sozialabweichenden durch die Gesellschaft, verstärkte Sozialabweichung als Reaktion auf die Stigmatisation und die Bestrafung, endgültige Annahme des Status eines Sozialabweichenden und Anpassungsbemühungen auf der Grundlage der zugeordneten Rolle (Edwin M. Lemert 1967, S. 40—64). Einer der Hauptbegründer des Interaktionismus in der Kriminologie ist auch Howard S.Becker (1963): Sozialabweichung ist keine Beschaffenheit einer Tat, die eine Person begeht, sondern die Folge der Anwendung von Normen und Sanktionen anderer auf einen Täter. Der Sozialabweichler ist jemand, auf den das Etikett „sozialabweichend" erfolgreich angewandt worden ist. Sozialabweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen so benennen. Soziale Gruppen lassen Sozialabweichung dadurch entstehen, daß sie Vorschriften erlassen, deren Verletzung Sozialabweichung konstituiert. Ob eine Handlung sozialabweichend ist, hängt davon ab, wie andere Menschen auf sie reagieren. Jungen aus der Mittelschicht kommen bei weitem nicht so weit im Prozeß der Strafrechtsanwendung, wenn sie bei einer Straftat ertappt werden, wie Jungen aus Slumgebieten. Wenn ein Junge der Mittelschicht von der Polizei bei einem Rechtsbruch erwischt wird, bringt man ihn mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht zur Polizeiwache als einen Jungen aus der Unterschicht. Gegen ihn wird mit größerer Wahrscheinlichkeit keine Anzeige erstattet werden, und es ist äußerst unwahrscheinlich, daß er angeklagt und verurteilt wird. Sozialabweichung ist keine einfache Beschaffenheit, die einigen Formen des Verhaltens innewohnt, aber anderen nicht, sondern sie ist das Produkt eines Prozesses, der Reaktionen anderer Personen auf das Verhalten mit einschließt. Ob eine bestimmte Handlung sozialabweichend ist oder nicht, hängt teilweise von der Art der Handlung (ζ. B. ob sie Vorschriften verletzt oder nicht) und zum Teil davon ab, wie andere Personen auf die Handlung reagieren. Jedenfalls hat der Umstand, als deviant gebrandmarkt worden zu sein, wichtige Folgen für die weitere soziale Teilhabe dieser Person. Eine verbotene Handlung begangen zu haben und öffentlich überführt worden zu sein, gibt

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Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

dem Täter einen neuen sozialen Status. Wie er zu dem interaktionistisch-sozialpsychologischen Ansatz in der Kriminologie gekommen ist, schildert Howard S. Becker folgendermaßen (Julius Debro 1970, S. 166): „Wenn wir die sozialen Organisationen studieren, werden wir zu der Meinung kommen, daß wir die Handlungen aller Menschen analysieren müssen, die an der betreffenden Organisation beteiligt sind. Wenn wir ein Krankenhaus beispielsweise untersuchen, so befragen wir die Ärzte, die Patienten, die Schwestern, die sonstigen Helfer. Wir können uns auf eine Kategorie von Menschen spezialisieren, aber gleichwohl wissen wir, daß die Handlungen anderer ebenso wichtig sind. Das trifft zu für die Erforschung jeder Organisation und jedes Berufes. Wenn indessen Soziologen das Verbrechen erforschten, verstanden sie das Problem nicht in dieser Weise. Sie akzeptierten vielmehr die Einstellung des „gesunden Menschenverstandes", daß nämlich irgend etwas mit den Kriminellen nicht in Ordnung sein müsse. Denn sonst könnten sie doch nicht so handeln. Sie fragten: „Warum begehen Menschen Verbrechen ? Warum hören sie nicht damit auf ? Können wir sie nicht stoppen ? " Das Studium des Verbrechens verlor seine Verbindung zum Hauptstrom soziologischer Entwicklung. Es führte zu einer sehr bizarren Verformung der Soziologie, die nur noch danach zu streben schien, herauszufinden, warum Menschen schlecht handeln, aber nicht, in welcher Weise die Interaktion in dieser Lebens sphäre organisiert ist. Ich bin das Problem anders angegangen, eben in der Weise, wie ich es schon früher beim Studium der Berufe getan habe. Wenn jemand mich 1954 gefragt hätte, was meine Besonderheit wäre, würde ich ihm wahrscheinlich geantwortet haben: Sozialpsychologie oder vielleicht noch wahrscheinlicher: Berufe. So ging ich an das sozialabweichende Verhalten heran, als ob ich Menschen studieren würde, deren Beschäftigungen darin bestünden, Verbrechen zu begehen oder Verbrecher zu fangen." Becker betont in demselben Interview, daß der Interaktionismus nicht beansprucht, eine Theorie zu sein. Die Absicht des interaktionistisch-sozialpsychologischen Ansatzes ist es nicht, zu erklären, warum Menschen Bankraub begehen, sondern warum der Bankraub als kriminell beurteilt wird. Es geht also um die Beschreibung des Sozialprozesses, wie es zum Bankraub kommt. Becker hält den Ausdruck „Etikettierungstheorie" für denkbar unglücklich (1973, S. 159/160). Er zieht den Terminus „Interaktionismus" vor (1973, S. 163). Er sieht die Vorzüge dieses Ansatzes in folgenden Punkten: Es wird ein größerer Kreis von Menschen und Ereignissen in das Studium abweichender Probleme einbezogen. „Interaktionistische Analysen rühren an die gesellschaftliche Hierarchie der Glaubwürdigkeit, indem sie moralische Initiatoren wie auch

jene, die sie zu kontrollieren suchen, zu Studienobjekten machen. Sie stellen das Monopol auf Wahrheit und auf die „ganze Geschichte" in Frage, das jene beanspruchen, welche die Positionen von Macht und Autorität innehaben. Sie vertreten den Gedanken, daß wir die Wahrheit über die vermeintlich abweichenden Phänomene selbst entdecken müssen, anstatt uns auf die offiziell beglaubigten Darstellungen zu verlassen, die für jeden guten Bürger ausreichend sein sollen" (1973, S. 187). Die Gedanken von Frank Tannenbaum (1938), Edwin M. Lemert (1951, 1967) und Howard S. Becker (1963, 1973) haben Kai T. Erikson (1964), John I. Kitsuse (1968) und Harold Garfinkel (1968) weiterentwickelt. Nach Erikson (1964) ist Sozialabweichung keine Eigenschaft, die bestimmten Verhaltensformen innewohnt, sondern eine Beurteilung, die an Verhaltensweisen durch Dritte herangetragen wird, die unmittelbar oder mittelbar Zeugen solchen Verhaltens werden. Für Erikson ist der Begriff des sozialen Systems außerordentlich wichtig. E r versteht darunter ein hochkomplexes Netz von Beziehungen, eine Organisation von Bestandteilen der Gesellschaft in einer Form, die das innere Gleichgewicht aufrechterhält, dem Wandel widersteht und die Grenzen des sozialen Systems sichert. Verhandlungen (ζ. B . Strafverfahren), die zwischen sozialabweichenden Personen einerseits und Kontrollinstanzen andererseits stattfinden, stellen Mechanismen dar, die normative Grenzen eines sozialen Systems aufrechterhalten sollen. Sie bilden die Hauptquelle für Informationen über die normativen Umrisse einer Gesellschaft. Die Kriminalberichterstattung in den Massenmedien dient dem Zweck, der Gesellschaft ihre normativen Grenzen bewußt zu machen. John I. Kitsuse (1968) äußert die Ansicht, die Theorie und empirische Forschung in der Kriminologie sollten sich von den Formen des sozialabweichenden Verhaltens selbst den Prozessen zuwenden, durch die Personen von anderen als Sozialabweichler definiert werden. In solchen Prozessen gesellschaftlicher Reaktion werden Sozialabweichler von Normalen unterschieden. Die Reaktionen der konformen Mitglieder der Gesellschaft identifizieren und interpretieren Verhalten als sozialabweichend und verändern den sozialen Status von Personen in Sozialabweichler. Die Kriminologie sollte die Interaktionen untersuchen, die Verhalten als sozialabweichend definieren und die die Anwendung von Sanktionen durch Individuen, Gruppen und Institutionen organisieren und aktivieren. Die Degradierungszeremonien, die nach der Straftat bei Polizei und Gericht einsetzen, hat Harold Garfinkel (1968) beschrieben. Statusdegradierungen, denen der Straftäter nach seinem Rechtsbruch in mannigfaltiger Weise unterliegt, schließen die rituelle Zerstörung seiner individuellen Identität ein.

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung Diese Degradierungen werden oft internal]siert und führen dann zu einer Selbstablehnung des Straftäters. Er wird in seinem Selbstbild und Selbstwerterlebnis schwer betroffen. Auf diesen Grundgedanken des Interaktionismus aufbauend, hat sich eine radikale Richtung in der Kriminologie der Vereinigten Staaten herausgebildet, die hauptsächlich von Anthony Platt (1974, 1975), William J . Chambliss (1975) und Richard Quinney (1975 a, 1975 b) vertreten wird. Für diese radikalen Kriminologen ist die Fragestellung zentral, warum bestimmte Personen und nicht andere in einem Sozialprozeß mit der Benennung „kriminell" gebrandmarkt werden. Über dieses Selektionsproblem führt ihr Weg zum Infragestellen der Machtstrukturen in der kapitalistischen Gesellschaft. Die Kontroll- und Machtfrage wird voreilig dahingehend beantwortet, daß eine Minderheit eine Mehrheit in der kapitalistischen Klassengesellschaft beherrscht und daß das Strafrecht der Minderheit als Mittel der Unterdrückung der Mehrheit dient (zusammenfassend Gresham M. Sykes 1974). Die Legitimität der Regierung und sogar des Staates, die beide angeblich im Dienst der kapitalistischen Minderheit stehen, wird von diesen radikalen Kriminologen ohne weiteres verneint. Ihre Behauptungen sind mehr Bekenntnis als Erkenntnis. Die europäische und insbesondere die westdeutsche Version des „Labeling"-Ansatzes folgt der radikalen Richtung in den USA weitgehend. Für Fritz Sack (1969) sind die Instanzen der Sozialkontrolle (ζ. B . Polizei, Gerichte, Strafvollzug) „Rekrutierungsinstitutionen in den Status des Abweichenden" (S. 1004). Die „Statusbezogenheit des Rekrutierungsvorgangs" ist für ihn eine entscheidende Frage. Er wendet seine Aufmerksamkeit der Selektivität der Handlungen der Instanzen der Sozialkontrolle zu. Für ihn ist Kriminalität ein „negatives Gut", das Rechte vorenthält, Chancen beschneidet und die in einer Gesellschaft vorhandenen Ressourcen verteilt (Sack 1968, S. 469). Mit seinem radikalen Benennungsansatz, den er „marxistisch-interaktionistisch" nennt, gehen Hans Haferkamp, Karl F. Schumann, Dorothee und Helge Peters, Manfred Brüsten, Johannes Feest, Rüdiger Lautmann und Erhard Blankenburg weitgehend einig (zusammenfassend, wenn auch nicht immer klar und auf dem neuesten Stand: Wolf gang Keckeisen 1974 und Werner Rüther 1975). Es ist Friedrich W. Stallberg (1975) zuzustimmen, daß die deutsche Rezeption des Interaktionismus nicht die ursprüngliche Weite des Forschungsansatzes bewahrt hat. Es ist vielmehr eine Radikalisierung und ein verkrampftes Bemühen um theoretische Eigenständigkeit festzustellen. Obgleich Sack selbst einräumt, „nichts anderes als ein — vielleicht schlechter — Interpret von im wesentlichen angelsächsischen Autoren der letzten zehn bis zwanzig J a h r e " zu sein (1971, 35·

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S. 386), werden seine Interpretationen als Dogmen genommen, wenn man sich auch um Einzelheiten streitet. Einer der eifrigsten Verfechter Sackscher Gedanken ist der Österreicher Heinz Steinert (1973), der die Diskussion gleichwohl keineswegs informativ und instruktiv weitergeführt hat. „Der konventionelle Labeling-Ansatz erstrebt eine ausgewogene und leidenschaftslose Interaktionsanalyse der Abweichung" (Friedrich W. Stallberg 1975, S. 167). Die angeblich stigmatisierenden Instanzen der Sozialkontrolle werden letztlich von der Definitionsmacht Kriminalsoziologie auf theoretischer Ebene und noch dazu ohne die gewünschte Wirkung auf ihr Selbstverständnis selbst wieder stigmatisiert (Stallberg 1975, S. 167; früher bereits Hans Joachim Schneider 1973, S. 573). Auch gegen Abweichler von der „radikalen Benennungsdogmatik" geht man mit Stigmatisierung vor; man setzt sich nicht mit ihnen geistig auseinander (Karl-Dieter Opp 1973, S. 142—146). Neben dieser sich lautstark bemerkbar machenden radikalen Kriminologenschule gibt es in den USA eine gemäßigte Richtung des Interaktionismus, zu der seine Begründer, vor allem Edwin L. Lemert, zählen, der sich von der „radikalen Benennungsdogmatik" ausdrücklich distanziert hat (Lemert 1974). Das Wesentliche am Interaktionismus ist, daß für ihn das Verbrechen in sozialen Systemen, in Sozialprozessen entsteht, daß er also Gesetzgebung und -anwendung in den Forschungsbereich der Kriminologie einbezieht (für einen engeren Gegenstandsbereich der Kriminologie: Hilde Kaufmann 1972) und daß er es für möglich, nicht für notwendig hält, daß soziale Reaktionen auf Verbrechen und Verbrecher die Kriminalität nicht beseitigen, sondern sogar verursachen oder aufrechterhalten. Kriminalität kann durch den Mechanismus der sichselbsterfüllenden Prophez e i u n g („Self-Fulfilling Prophecy" nach Robert K. Merton) entstehen. Die Reaktion kann sich vor der Verbrechensbegehung ereignen und Kriminalität verursachen. Der Interaktionismus untergräbt die Legitimität brauchbarer, vernünftiger und menschlicher Regeln und Kontrollprozesse nicht. Etikettierung ist ein sozialpsychologischer Vorgang, der menschliche Kommunikation erst möglich macht. Er kann gleichwohl als Stigmatisierung von Kriminellen mißbraucht werden. Die Reaktionen der Instanzen der sozialen Kontrolle (ζ. B . Polizei, Gerichte) sind notwendig und hilfreich; sie k ö n n e n allerdings auch zur Verursachung oder Aufrechterhaltung der Kriminalität beitragen. Der Interaktionismus ist weder ein Allheilmittel noch revolutionär. Es handelt sich lediglich um eine kriminologische Neubesinnung und um eine Neubestimmung einer kriminologischen Perspektive, wie sie für die moderne gesellschaftliche Entwicklung angemessen erscheint. „Im Mittelpunkt des Labeling-Ansatzes steht die Betonung des Prozeßcharakters; Abweichung

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Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

wird nicht als eine statische Größe gesehen, sondern mehr als ein sich fortlaufend bildendes Ergebnis dynamischer Prozesse der sozialen Interaktion . . . Die abweichende Person ist die, deren Rolle, Status, Funktion und Selbstdefinition entscheidend geformt wird durch die Stärke der Abweichung, durch den Grad der sozialen Wahrnehmbarkeit, durch die besondere Art, wie sie der gesellschaftlichen Reaktion ausgesetzt ist, und durch die Art und Stärke der gesellschaftlichen Reaktion . . . Weit davon entfernt, in Opposition zu den traditionellen Orientierungen zu stehen, ist der Labeling-Ansatz darauf gerichtet, sie dadurch zu ergänzen, daß er Aspekte von Abweichung und Kontrolle in den Mittelpunkt rückt, die bislang außer acht gelassen wurden, oder daß er an Aspekte herangeht, die von anderen Standpunkten aus behandelt wurden" (Edwin M. Schur 1974). Es ist keineswegs so, daß der Interaktionismus in der Kriminologie bei Null anfängt. Es ist im Gegenteil durchaus möglich, die bisher mit dem Mehrfaktorenansatz erzielten empirischen Forschungsergebnisse interaktionistisch zu interpretieren, wenn der Interaktionismus auch den Mehrfaktorenansatz, wie er bisher gehandhabt worden ist, für keineswegs theoretisch und methodisch unbedenklich hält. Der gemäßigte Interaktionismus wird in den USA von der Mehrzahl der Kriminologen, in der BRD indessen nur vereinzelt vertreten (Monika Plate, Gernot Steinhilper 1975; Hans Joachim Schneider 1966,1972,1974a). Zahlreiche Kriminologen in den USA sehen das Verbrechen als die Folge einer sozialen Interaktion an, als Ergebnis eines Prozesses, der sowohl Normverletzer wie auch andere, die Gemeinschaft, die Gerichte umfaßt, die das Verhalten einer Person als kriminell ansehen (Clayton Α. Hartjen 1974). Kriminalität ist ein sozialer Status, der durch die Art definiert wird, wie ein Individuum durch rechtliche Autoritäten wahrgenommen, beurteilt und behandelt wird (Austin T. Turk 1969). „Als Dieb, Prostituierte oder allgemeiner als abweichend abgestempelt zu sein, bedeutet eine weitere Beschleunigung und Verstärkung des Prozesses, genau das zu werden. Aber die Verstärkung, die implizit in der Tatsache enthalten ist, daß man in bestimmter Weise bezeichnet, abgestempelt oder behandelt wird, wäre nicht so bedeutungsvoll, wenn das Subjekt — in diesem Falle das Objekt der Bezeichnung — nicht bereits darin geübt wäre, stärker abzuweichen, als es von außen betrachtet augenscheinlich ist" (David Matza 1973, S. 171). Durch die Benennung erhält der so Benannte eine neue Identität, ein neues Selbst, eine veränderte Rolle, die ihn befähigt, mit den sozialen Reaktionen auf sein Verhalten besser fertigzuwerden (Jorge A. Bustamante 1972). Die informelle Reaktion ist hierbei wesentlicher als die formelle (James D. Orcutt 1973; ähnlich Stephan Quensel 1972). Man unterscheidet ein-

und ausschließende Reaktionen. Unter einschliessender, einbeziehender Reaktion versteht man einen Versuch der informellen und formellen Sozialkontrolle, der sich auf die Annahme gründet, daß der Sozialabweichler ein ordentliches Mitglied einer Gruppe und der Gemeinschaft bleiben wird. Diese Form der Reaktion unternimmt es, Normverstöße dadurch zu kontrollieren, daß sie das gegenwärtige und zukünftige Verhalten des Rechtsbrechers mit den Normen der Gemeinschaft in Einklang bringt, ohne ihn auszuschließen. Ausschließende Reaktionen sind Versuche der informellen und formellen Sozialkontrolle, die den Straftäter in der Gemeinschaft zurückweisen und seine Rechte und seinen Status als ordentliches Mitglied zurücknehmen. Die vorherrschende Antwort ist die einschließende, einbeziehende. Die Gesellschaft und ihre Repräsentanten im formellen Sozialkontroll-Prozeß unternehmen große Anstrengungen, den Sozialabweichler zu überreden und zu beeinflussen, der Mehrheitsmeinung zuzustimmen und nach ihr zu handeln (Orcutt 1973). Die Konzepte der Nah- und Distanzreaktionen hat der niederländische Kriminologe G. Peter Hoefnagels (1973) entwickelt. Distanzreaktion zielt auf Rache, Furcht, Sicherheitsstreben, moralische Verdammung. Nahreaktionen beziehen die Ursachenforschung und die Behandlung des Rechtsbrechers ein. Die Beziehungen zum Straftäter bleiben aufrechterhalten. Distanzreaktionen sind in vielerlei Hinsicht selbsterhaltend. Die Menschen beachten Kriminelle überhaupt nicht, oder sie sehen sie als Objekte an. Die Ansichten der Kriminologen, die Kriminalität und Kriminelle aus der Nähe kennen, unterscheiden sich grundlegend von den Meinungen der Menschen, die über das Verbrechen aus der Ferne hören. Wenn solche Menschen über das Verbrechen sprechen, meinen sie bestimmte Arten. Mord und Sexualverbrechen führen die Liste an. Im Gerichtssaal wird das Ritual benutzt, um den Angeklagten auf Distanz zu halten und ihn von jedem wirklichen Kontakt auszuschließen. Distanzreaktion gründet sich auf Kontaktfurcht. Die -* Massenmedien verfremden das Phänomen Kriminalität in der Gesellschaft. Die Distanzreaktion spielt ferner eine Rolle bei der beständigen Interaktion zwischen dem Bild, das der Straftäter von sich hat, und dem Bild, von dem er annimmt, daß andere es von ihm haben. Diese Interaktion zerstört seine persönliche Identität. Eine Meinungsumfrage in den Niederlanden zeigte, daß die Befragten hauptsächlich an Mord und Sexualverbrechen denken, wenn sie mit Begriffen wie Verbrechen und Verbrecher konfrontiert werden und daß sie ihre Informationen über Kriminalität und Strafe vor allem aus den Massenmedien beziehen (Hoefnagels 1973, S. 38). Vereinzelte Verbrechen wie Mord, Totschlag und Notzucht bekommen eine unverhältnismäßige Breitenwirkung an Publizität und werden so zu

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung den Verbrechen in der Phantasie des Publikums. Niederländische Gerichte verhandeln durchschnittlich etwa 60 Fälle vorsätzlicher Tötung pro Jahr. Über diese Fälle wird mehrmals berichtet: nach Tatbegehung, über die Tataufklärung und die Überführung des Täters, über die Anklage, über das Geständnis des Täters, über die Gerichtsverhandlung und über das Urteil. Wenn nur fünfmal pro Fall berichtet wird, so ergibt dies 300 Nachrichten über kriminelle Tötungen in den Niederlanden. 200 Millionen Straftaten werden der niederländischen Polizei bekannt. Bei etwa 170000 handelt es sich um ernstere Rechtsbrüche, von denen wiederum 40000 vor Gericht kommen. Nach Hoefnagels (1973, S. 51) untersucht die Kriminologie die Legalnormen, die formellen und informellen Prozesse der Kriminalisierung und der Entkriminalisierung, die Tat-Täter-GesellschaftsSituation, die Ursachen und Ursachenverbindungen der Kriminalität und die offiziellen und inoffiziellen Reaktionen auf Kriminalität. Kriminalpolitik beschäftigt sich demgegenüber mit der rationalen Organisation der sozialen Reaktionen auf Verbrechen. Da die günstigen Erfolge offizieller Reaktionen auf Verbrechen empirisch nicht erwiesen sind, sollte nach Stanton Wheeler und Leonard S. Cottrell (1969) jede Anstrengung unternommen werden, die Anwendung des formellen Sanktionierungssystems und speziell die offizielle Ausrufung der Delinquenz zu verhindern. Eine solche Position ist aufgrund der potentiell schädigenden Wirkungen des Benennungsprozesses gerechtfertigt. Auf viele Bagatellformen der Delinquenz könnte ohne offiziellen Gerichtskontakt reagiert werden. Es ist ganz und gar nicht erwiesen, ob etwas zu tun besser ist als nichts zu tun und ob die eine vor der anderen Reaktion vorzuziehen ist. Jede Intervention birgt die Möglichkeit der Hilfe, aber auch der Schädigung in sich. Es ist durchaus denkbar, daß sogar die Handlungen der wohlmeinenden Helfer genauso großen Schaden wie Nutzen anrichten. Man sollte die Kraft der gegenwärtig gängigen therapeutischen Techniken nicht überschätzen. Es ist gerade das Gefühl des Vertrauens in die hochentwickelten Techniken moderner Interventionsmethoden, die als Rechtfertigung für die Einweisung von Kindern in sozialtherapeutische Anstalten, in Behandlungszentren und Institutionen dient, von denen man annimmt, daß sie für sie wohltuend sind. Interventionstechniken sollten sich auf der Grundlage therapeutischer Effektivität als erfolgreich erweisen, ehe man sie allgemein anwendet (Stanton Wheeler, Leonard S. Cottrell 1969). 2. Das Konzept der kriminellen Karriere und seine begrenzte Anwendbarkeit

Howard S. Becker hat (1973) ein Stufenmodell abweichenden Verhaltens aufgestellt. Er unter-

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scheidet fünf Stufen bei der Entstehung sozialabweichenden Verhaltens. In der ersten Stufe wird eine nichtkonforme Handlung absichtlich oder unabsichtlich begangen. Ein Mensch, der keinen Ruf zu wahren, der an keinem konventionellen Beruf mehr festzuhalten braucht, kann seinen kriminellen Antrieben nachgeben. In der Phantasie sind viele Menschen sozialabweichend. In einigen Fällen mag einem sonst gesetzestreuen Menschen eine nichtkonforme Handlung notwendig oder ratsam erscheinen. In der zweiten Stufe macht dem Menschen, der zur sozialen Abweichung neigt, sein kriminelles Verhalten Vergnügen. Er lernt dies im Verlauf der Interaktion mit Menschen, die in abweichendem Verhalten erfahrener sind. Was zunächst ein zufälliger Impuls gewesen sein mag, etwas Neues zu versuchen, wird zum dauerhaften Wunsch nach etwas bereits Bekanntem und Erfahrenem. In der dritten Stufe ist einer der entscheidenden Schritte im Prozeß der Ausbildung eines festen Musters sozialabweichenden oder kriminellen Verhaltens die Erfahrung, verhaftet und öffentlich als Mensch mit sozialabweichendem und kriminellem Verhalten abgestempelt worden zu sein. Die wichtigste Konsequenz ist ein drastischer Wandel in der öffentlichen Identität eines Individuums. Er hat sich als Mensch entlarvt, der von dem verschieden ist, für den er bisher gehalten worden war. Er ist ein Mensch ohne „Respekt vor dem Gesetz", „jemand, der sich von uns anderen unterscheidet . . . " . Aufgrund dieses Wandels in der öffentlichen Identität setzt in der vierten Stufe eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ein. Der „Kriminelle" wird sozial isoliert. Die Teilnahme an sozialkonformen, konventionellen Gruppen wird ihm abgeschnitten. Er verliert seinen Arbeitsplatz und sieht sich zu weiteren ungesetzlichen Verhaltensweisen wie Raub und Diebstahl gezwungen, weil „ehrbare" Arbeitgeber ihn abweisen und „anständige" Arbeitskollegen ihn ablehnen. Dieses Verhalten ist eine Konsequenz der öffentlichen Reaktion auf die Verhaltensabweichung. Der als kriminell Gebrandmarkte hat zwar noch die Wahl zwischen gegenläufigen Verhaltensweisen; er kann noch umkehren. Der soziale Druck in Richtung auf wachsende stärkere Sozialabweichungen wird indessen immer größer. Ein letzter Schritt in der kriminellen Karriere des Sozialabweichenden ist sein Anschluß an eine organisierte Gruppe Krimineller. Damit ist er in die letzte, die fünfte Stufe seiner Laufbahn eingetreten. Dieser Schritt hat eine mächtige Auswirkung auf sein Selbstwertgefühl und sein Selbstbild. Er identifiziert und solidarisiert sich mit einer kriminellen Gruppe und sieht sich selbst als Kriminellen. Stephan Quensel hat (1970) ein Achtphasenmodell entwickelt. In der ersten Phase begeht ein Jugendlicher aus irgendwelchen Gründen ein

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Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

kleines Delikt. Mit diesem Delikt will er ein ebenso kleines Problem lösen. „Wenn er Glück hat, wird er nicht erwischt und das Problem durch irgendwelche andere Hilfen — Eltern, Freunde, eine gute Schulnote — gelöst. Dieser Fall tritt ganz überwiegend ein. Hat er Pech, dann wird das Problem nicht gelöst. Er wird seinen Erfolg mit dem Delikt als Bestätigung erfahren und auf diesem Gebiet weitere „Erfolge" sammeln. Damit wächst — rein statistisch gesehen — die Möglichkeit, daß er auffällt und irgendwann einmal erwischt wird." Er gelangt nunmehr in die 2. Phase der Entwicklung. „Wenn der Junge jetzt Glück hat, wird ihm bei der Lösung des Problems geholfen, ohne daß die sonstige soziale Umwelt was davon erfährt. Hat er Pech, dann wird er offiziell „bestraft". „Strafe soll hier untechnisch verstanden werden; sie umfaßt alles, was von dem Jugendlichen negativ empfunden wird — Nachsitzen, Auflagen, Erscheinen beim Jugendamt, Jugendarrest . . . Auf dieser 3. Stufe der Entwicklung, die noch immer im Bereich des relativ Harmlosen verläuft, wird es für den Jugendlichen erheblich schwerer, „Glück" zu haben." Die Wahrscheinlichkeit der Vertiefung seines Problems wird höher. Die Ablehnung ihm gegenüber wächst. Die ihm von der Autorität auferlegte Strafe wird als „Ungerechtigkeit" empfunden und abgelehnt. Er sucht Selbstbestätigung im Negativen. Wenn der Jugendliche bei einem neuen kleinen Delikt erwischt wird, kommt er automatisch in die 4. Stufe. Er ist jetzt offiziell bekannt. Sein „Rückfall" zeigt, daß gegen ihn schärfer vorgegangen werden muß, da frühere Maßnahmen fruchtlos waren. Sein Problem vertieft sich. „Von dieser 4. Phase an liegt die Gefahr nahe, daß ein wechselseitiger Aufschaukelungsprozeß einsetzt, in dem die Aktionen des Jugendlichen — seine Delinquenz —· und die Reaktionen der sozialen Umwelt —• die Strafen — sich gegenseitig verstärken, bis es zu ernsthaften Maßnahmen des eigentlichen Sanktionsapparates kommt." In der 5. Phase wird der Jugendliche offiziell als „Delinquenter" definiert. Er erscheint als Delinquenter in Karteien und Registern. Alle möglichen Stellen befragen und beurteilen ihn. Sein Handlungsspielraum wird eingeschränkt. Er wechselt die Schule, verliert seine Lehrstelle, darf keinen Führerschein machen. Er definiert sich selbst als „Delinquenter". Die Schwelle zum Verbotenen wird niedriger, seine ungelöste Problematik drückender. In der 6. Stufe beginnt seine „delinquente" Rollenkarriere. Als delinquent von anderen und sich selbst definiert, wird er in seinen sozialen Kontakten zum Außenseiter. Die Förderung seiner normalen Persönlichkeitsentwicklung wird eingeengt. In der 7. Phase gelangt der Jugendliche in die Strafanstalt. Hier wird er endgültig in seiner delinquenten Rolle festgehalten. Die Jugendstrafanstalten sind perfekte Institu-

tionen zur selektiven Verstärkung eben der Probleme, die den Jugendlichen delinquent werden ließen. Wird er dann aus der Anstalt entlassen, beginnt für ihn die 8. und letzte Phase. Er ist als „Vorbestrafter" gebrandmarkt. Er schließt sich der Gruppe der Vorbestraften an. Sowohl das Modell des Entstehungsverlaufs sozialabweichenden Verhaltens von Howard S. Becker wie das des Entstehungsverlaufs der Jugendkriminalität von Stephan Quensel vermögen die Verursachung des Eintritts in die erste Stufe nicht zu erklären. Quensels Modell enthält darüber hinaus Schritte, die man zusammenfassen kann. Er führt Kategorien wie „Problem", „Glück" oder „Pech" zur wesentlichen Analyse des kriminellen Verlaufs ein, die zu unbestimmt, ja irrational-unbestimmbar und empirisch völlig unkontrollierbar sind. Es ist unklar, was es bedeutet, wenn der Jugendliche „ein kleines Problem" hat, das sich im späteren Verlauf vertieft. Es ist dunkel, durch wen oder was bestimmt wird, ob der Jugendliche einmal „Glück", zum anderen Mal „Pech" hat: etwa durch Zufall, durch „Schicksal". Quensel müßte angeben können, warum der Jugendliche in einem Fall „Pech" und im anderen Fall „Glück" hatte. Hier fehlen nachprüfbare Kategorien, zumindest einsehbare Beispiele. Schließlich verwendet Quensel die entwicklungspsychologischen Ausdrücke „Stufe" und „Phase" synonym. Das ist nicht nur ein terminologisches Problem, sondern auch eine Frage, wie er den Verlauf der kriminellen Karriere sieht. Stufen sind Entwicklungsabschnitte, die voneinander durch Einschnitte und Niveauveränderungen unterschieden sind. Stufen bauen aufeinander auf, sind statisch und erlauben insofern keinen Rückschritt oder ein mehrfaches Durchlaufen einer Stufe. Der Phase hingegen haftet das Merkmal des Einmaligen nicht an. Sie kann in gleicher oder ähnlicher Form mehrmals hintereinander durchlaufen werden. Sie erlaubt ein dynamisches Vor- und Zurückgehen. Rhythmische Wiederkehr (Periodizität) ist möglich. Quensel läßt im unklaren, ob er das Stufen- oder das Phasenmodell bevorzugt. 3. Kritische Weiterentwicklung Interaktionismus

des

Die Bezeichnungen „neue, radikale, kritische" Kriminologie, „Labeling"-, Societal-Reactionoder Benennungs-Etikettierungsansatz und Interaktionismus werden synonym gebraucht. Sie enthalten indessen vier unterschiedliche Positionen. Die „neue, radikale, kritische" Kriminologie — auch radikaler Benennungsansatz genannt — beansprucht, die Entstehung der Kriminalität zu erklären. Für sie sind die Reaktion allein oder vorwiegend und die Selektion durch Reaktion für die Verursachung des Verbrechens entscheidend. Hinter der aktiven Reaktion und Selektion stehen

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung kapitalistische Machtstrukturen, die mit Hilfe des Strafrechts die ökonomischen Interessen der kapitalistischen Minderheit schützen und die Mehrheit der Bevölkerung unterdrücken. Der „Labeling"oder Benennungsansatz wird in zwei unterschiedlichen Formen vertreten. Die erste Form will gar nicht die Frage nach der Ursache der Kriminalität stellen, sondern lediglich danach, warum eine Person als sozialabweichend oder kriminell benannt wird. Diese Form, die ihr Erkenntnisinteresse allein auf den Benennungsprozeß des Delinquenten richtet, will und kann die Beziehung zwischen Benennung und Verursachung der Delinquenz nicht herstellen (Edwin M. Schur 1975b; Erich Goode 1975). Für die zweite Form des „Labeling"- oder Benennungsansatzes ist die Reaktion allein oder vorwiegend für die Verursachung der Kriminalität verantwortlich. Gegen diese Form richten sich die mannigfaltigsten Bedenken. Es handelt sich zunächst um keinen Interaktionsansatz. Denn der Schwerpunkt ruht auf einer „Ein-Weg-Interaktion", nämlich auf der Reaktion der Instanzen der Sozialkontrolle (Richard H. Ward 1971). David J . Bordua (1967) spricht mit Recht von einer Art „umgekehrter Hexenjagd". Die Hexen sind diejenigen, die die Entscheidungen auf der Reaktionsseite im Kriminalitätskontrollprozeß zu fällen haben. Keine methodisch einwandfreie empirische Untersuchung hat bisher nachgewiesen, daß die Instanzen der Sozialkontrolle Delinquenz allein hervorrufen. Im Entwicklungsprozeß der Sozialabweichung spielt die soziale Reaktion eine zu ausschließliche, die deviante Handlung keine oder eine zu untergeordnete Rolle. Die Realität ist weit komplexer, als es der „Labeling"- oder Benennungsansatz darstellt (Don C. Gibbons, Joseph F. Jones 1975, S. 130 bis 135), der die sozialen und psychogenen Faktoren der Kriminalitätsentstehung unterbewertet (David J . Bordua 1967, John Hagan 1973). Die „Labeling"-Theoretiker ignorieren insbesondere die Möglichkeit, daß der Straftäter eine kriminelle Karriere allein aufgrund seiner eigenen Handlungen durchlaufen kann (Milton Mankoff 1976). Das Verhalten oder die Beschaffenheit einer Person ist oft der kritische Faktor für die Verursachung ihrer Benennung. Freilich sind auch gesellschaftliche Merkmale von wesentlicher Bedeutung. Die soziale Reaktion hängt ab vom Ausmaß der Definitionsmacht des Definierenden, vom sozialen Puffer des zu Definierenden, von der sozialen Distanz zwischen Definiertem und Definierendem, von der Frustrationstoleranz der Gemeinschaft oder Gesellschaft und von der sozialen Sichtbarkeit des sozialabweichenden oder kriminellen Verhaltens. Die Benennung zum Sozialabweichler ist Folge seiner Sozialabweichung und nicht umgekehrt (Walter R. Gove 1975 b). Sie ist nach der Art des sozialabweichenden Verhaltens und nach der Struktur der Kriminalität unterschiedlich (Lee

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N. Robins 1975). Die Kommunikation in einer Gesellschaft ohne Benennung ist unmöglich; insofern ist Benennung ein normaler sozialpsychologischer Vorgang. Der „Labeling"-Ansatz unterschätzt die Möglichkeiten einer erfolgreichen Sozialkontrolle durch Benennung (Karl Ender 1975). Der Benannte spielt durch Selbstbenennung nicht selten eine aktive Rolle im Benennungsprozeß ; er leitet sogar bisweilen diesen Prozeß ein. Jemand wird sozialabweichend nicht nur durch seine Benennung von seiten anderer, sondern auch durch die Annahme dieser Benennung, durch seine Selbstbenennung (Teresa E. Levitin 1975). Auf der anderen Seite kann der Fremdbenannte durchaus erfolgreich seiner Benennung widerstehen. Die Reaktions- und Benennungswirkungen hängen wahrscheinlich von verschiedenen Persönlichkeitstypen ab. Es bedarf zu einer wirksamen Benennung einer gewissen, bisher nicht konkretisierten „Zusammenarbeit" zwischen Benanntem und Benennendem. Der Benennungsansatz hat nicht zu erklären vermocht, warum das Etikett an dem einen Etikettierten klebt und an dem anderen nicht. Es ist unklar geblieben, warum der eine seiner Stigmatisierung erfolgreich widerstehen oder zumindest entgehen kann und der andere nicht (Mordechai Rotenberg 1974). In diesem Zusammenhang haben wahrscheinlich Persönlichkeitsfaktoren im Sinne der Selbstviktimisierung einen bedeutsamen Stellenwert. Ausmaß, Art und Inhalt der Benennung hat der „Labeling"Ansatz bisher nicht anzugeben vermocht. Es steht auch nicht fest, wer reagieren muß (David Downes, Paul Rock 1971). Der Umstand, auf welche Weise eine Reaktion eine Handlung als sozialabweichend identifiziert, erklärt noch nicht, warum diese Handlung sozialabweichend ist (Jack P. Gibbs 1972). Es gibt zahlreiche Formen der Benennung. Der „Labeling"-Ansatz sieht die Benennung zu einseitig und starr als individuelle Kriminalisierung. Der gesellschaftliche Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß bleibt unterbewertet. Aber auch im Rahmen des individuellen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozesses hat sich der „Labeling"-Ansatz zu einseitig und undynamisch auf die Kriminalisierung durch Reaktion versteift. Er berücksichtigt die Entstigmatisierung, die Wiederbenennung, die Mitbenennung, die Gegenbenennung, die zeitweise und die Teilbenennung zu wenig. Organisationen von Sozialabweichlern können sich entwickeln, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Normen der Gesellschaft zu ändern, so daß ihr sozialabweichendes Verhalten annehmbar wird. Es ist ferner denkbar, daß Institutionen, die zunächst das sozialabweichende Verhalten benennen und den Sozialabweichler zu behandeln suchen, sozial hochsichtbare und ausdrückliche Entstigmatisierungs- und Status-Wiedererlangungs-Zeremonien schaffen, die das Aufhören der Benennung und den Wieder-

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Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

eintritt des Entstigmatisierten in die Gesellschaft ermöglichen (Harrison Μ. Trice, Paul Michael Roman 1970). Die Mitbenennung erfaßt den sozialen Nahraum. Die Benennung einer Person als sozialabweichend oder kriminell hat Ausstrahlungswirkungen auf Personen in ihrem sozialen Nahraum. Die Mitbenennung ist zwar graduell, aber nicht qualitativ unterschiedlich von der Benennung. Sie trifft regelmäßig „Schuldlose", belastet sie ökonomisch, psychisch und sozial und stört die Soziodynamik in Familie, Schule, Berufsund Freizeitgruppe. Sie kann kriminalitätsverursachend wirken und eine mittelbare kriminelle Infizierung — über inadäquate Reaktionen — herbeiführen. Mit Gegenbenennungen kann sich der Benannte gegen seine Benennung wehren und möglicherweise eine Neutralisation erreichen. Eine Aufteilung in sozialabweichende und konforme Rollen ist dem Individuum in einer hochkomplexen anonymen Massengesellschaft möglich, so daß sich eine Benennung nur in Teilbereichen der Person auszuwirken vermag (Daniel Glaser 1972, S. 43—50). Nach dem „Labeling"-Ansatz ist eine Handlung sozialabweichend oder kriminell, wenn sie gegen eine Norm verstößt, wenn man sie entdeckt und wenn man auf sie reagiert (Steven B o x 1973, S. 13). Diese Definition verneint das Übergewicht der Normqualität der Sozialabweichung. Sie berücksichtigt zu wenig, daß nicht alle Mitglieder einer sozialen Einheit in der Wahrnehmung und in der Art der Reaktion auf eine sozialabweichende Handlung übereinstimmen (Jack P. Gibbs 1970; 1972). Vom radikalen Benennungsansatz und den beiden Formen des gemäßigten „Labeling"Ansatzes unterscheidet sich der Interaktionismus darin, daß eine verfehlte Reaktion nach dem Interaktionismus a u c h eine Wirkung auf die Entstehung oder Aufrechterhaltung der Sozialabweichung oder der Kriminalität haben k a n n . Die Normverletzung selbst hat im Interaktionismus eine große Bedeutung. Ein Übergewicht oder gar ein Ausschließlichkeitsanspruch der Reaktion wird abgelehnt (Charles R . Tittie 1975). Das Wesentliche am Interaktionismus ist, daß für ihn das Verbrechen in sozialen Systemen, in Sozialprozessen entsteht, daß er also Gesetzgebung und -anwendung voll in den Forschungsbereich der Kriminologie einbezieht und daß er es für möglich, nicht unbedingt für notwendig hält, daß soziale Reaktionen auf Verbrechen und Verbrecher die Kriminalität nicht beseitigen, sondern sogar verursachen oder aufrechterhalten (Hans Joachim Schneider 1972, 1973). Für den Interaktionismus ist die kriminologische Erforschung des Normentstehungs- und -anwendungsprozesses außerordentlich wichtig (John L. Hagen 1972; Reinhard Müller 1974). E r erkennt eine „Hierarchie der Glaubwürdigkeit" (Howard S. Becker 1967) nicht an. Er stellt auch in Frage, ob die gesellschaftliche

Reaktionsseite auf Sozialabweichung und Kriminalität sich immer richtig verhält. Insofern trägt er durchaus sozialkritische Züge. Für die sowjetischen Kriminologen ist der Interaktionismus in seinen methodologischen Grundlagen und in seinen Schlußfolgerungen über das Wesen des Strafrechts und der Kriminalität unannehmbar (N. F . Kuznecowa 1974, S. 33/34). Im Gegensatz zur „neuen, radikalen, kritischen" Kriminologie und zum ,,Labeling"-Ansatz berücksichtigt der Interaktionismus die Besonderheiten der kriminellen Persönlichkeit, die als einzigartige Struktur von Wesenszügen eines Individuums (Joy Paul Guilford 1964) verstanden wird. Allerdings hat sich die kriminelle Persönlichkeit in krimineller Handlung, in Reaktion auf diese Handlung und in Reaktion auf diese Reaktion, also in der Interaktion, in einer kriminellen Karriere entwickelt. Die Feststellung von Unterschieden in der Persönlichkeitsstruktur krimineller und nichtkrimineller Menschen stellt lediglich eine „Momentaufnahme" in einer Anzahl parallel verlaufender krimineller und nichtkrimineller Karrieren dar, zu deren querschnittsmäßiger Stichprobenanalyse eine Längsschnittbetrachtung hinzukommen muß. Die methodisch bereinigten Ergebnisse der empirisch-kriminologischen Untersuchungen nach dem Mehrfaktorenansatz — vorgeschaltete Dunkelfelduntersuchungen und Vermeidung einer selektierten kriminellen Stichprobe — können deshalb durchaus interaktionistisch interpretiert werden. Auch sie bilden „Augenblicksaufnahmen" in Interaktionsprozessen. Der hier vertretene Interaktionismus erhebt also keinen Anspruch auf Ausschließlichkeit, sondern er will die traditionellen kriminologischen Ansätze erweitern, ergänzen und d y n a m i s c h weiterentwickeln. Karl F. Schuessler und Donald R . Cressey (1950) haben zwar herausgefunden, daß Kriminalität und Persönlichkeitselemente nicht miteinander verbunden sind. Das Ergebnis ihrer Analyse kann jedoch methodisch angefochten werden. Schuessler und Cressey haben 133 kriminalpsychologische Vergleichsuntersuchungen analysiert und bei nur 4 2 % dieser Studien festgestellt, daß Verschiedenartigkeiten zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen im Sinne einer Besonderheit der kriminellen Persönlichkeit vorlagen. Dieses Ergebnis ist methodisch angreifbar, weil alle kriminellen Stichproben aus Strafanstalten stammten und weil die von Schuessler und Cressey geprüften empirischen Studien mit 30 psychodiagnostischen Tests von zum Teil zweifelhaftem Wert erstellt worden waren, von denen nachl950 nur noch vier in Gebrauch geblieben sind. Stichproben von Strafgefangenen sind nicht repräsentativ für die kriminelle Population, die keineswegs homogen ist. Die Strafanstaltssituation kann auf die Persönlichkeit eingewirkt haben. George B . Void hat (1958, S. 127) an der Analyse von Schuessler und Cressey bemängelt, daß sie ein

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung Durcheinander von methodisch zuverlässigen und unzuverlässigen empirisch-kriminalpsychologischen Studien beurteilt habe, so daß die von den Autoren genannte Prozentzahl nicht genügend abgesichert sei. In ähnlichem Sinne haben sich Marshall B. Clinard und John Hagan (1973) zur Studie von Schuessler und Cressey geäußert. Gordon P. Waldo und Simon Dinitz haben (1967) 94 empirisch-kriminalpsychologische Untersuchungen überprüft. Bei 76 dieser 94 Studien fanden sie statistisch-signifikante Unterschiede zwischen kriminellen und nichtkriminellen Gruppen. Alle 94 Vergleichsuntersuchungen waren mit modernen zuverlässigen Persönlichkeitstests durchgeführt worden. Bei 56 Studien waren objektive psychodiagnostische Testverfahren angewandt worden. Von diesen 56 Untersuchungen zeigten 51 statistisch-signifikante Unterschiede zwischen Delinquenten und Nichtdelinquenten. Allerdings waren die Unterschiede i n n e r h a l b der delinquenten Versuchs- und der nichtdelinquenten Kontrollgruppe oft größer als die Verschiedenartigkeiten zwischen beiden Gruppen. Waldo und Dinitz konnten auch nicht klären, ob bestimmte Persönlichkeitszüge bereits zu Beginn krimineller oder nichtkrimineller Karrieren vorhanden waren oder ob sie sich w ä h r e n d der Karrieren entwickelt hatten. Aus der Analyse von Waldo und Dinitz können nicht die Schlußfolgerungen gezogen werden, daß Kriminalität anlagebedingt und erblich ist und daß sich Kriminelle von „Normalen" grundsätzlich in ihrer Persönlichkeit unterscheiden. Die Studie zeigt allerdings deutlich, daß die Persönlichkeit des Kriminellen (Samuel Yochelson, Stanton Ε. Samenow 1976) in der krininalätiologischen Analyse nicht völlig außer acht gelassen werden darf. Objektive psychologische, soziologische und sozialpsychologische Bedingungen, ζ. B. Störungen in der Sozialisation, begünstigen die Entstehung der Kriminalität. Diese Bedingungen sind in Sozialprozessen geworden, und sie entwickeln sich in Sozialprozessen weiter. Biologische und psychiatrische Faktoren haben in Einzelfällen für die Verursachung der Kriminalität bedeutsame Stellenwerte. Die Bedeutung der objektiven psychologischen, sozialpsychologischen und soziologischen Bedingungen innerhalb des Interaktionismus wird an zwei empirisch-kriminologischen Beispielen über eine als leicht empfundene Sozialabweichung und eine als schwer von der Bevölkerung beurteilte kriminelle Störung deutlich: Mit den Methoden der Beobachtung und des Interviews haben James K. Skipper und Charles H. McCaghy (1970) 75 Striptease-Tänzerinnen in 10 Großstädten der USA untersucht. Die Frauen befanden sich im Alter zwischen 19 und 45 Jahren; 60% von ihnen waren 20 bis 30 Jahre alt. In den Vereinigten Staaten gibt es 7000 Mädchen und Frauen, die ihren Lebensunterhalt dadurch ver-

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dienen, daß sie sich in sexuell aufreizender Weise vor einem dafür bezahlenden Publikum entkleiden. Skipper und McCaghy stellten bei ihren Probandinnen frühe physische Reife, frühe sexuelle Erfahrung, sexuelle Anziehungskraft, Abwesenheit des Vaters aus dem Elternhaus während der Kindheit und Jugend der Mädchen, Mangel an Zuneigung und elterlichem Verständnis, frühe Unabhängigkeit und Verlassen des Elternhauses durch die Mädchen fest. Wenn der Vater anwesend war, hatte er einen desintegrierenden Einfluß auf die Familie. Wenigstens 60% der Stripperinnen kamen aus unvollständigen und zerrütteten Familien, in denen sie wenig Beachtung und Zuneigung fanden. Von 35 durchschnittlich ein- bis eineinhalb Stunden interviewten Frauen hatte nur eine genügend Talent und Ausbildung, um in einem anderen legalen Beruf mehr Geld zu verdienen. Die Karriere-Abfolge verlief bei den meisten Stripperinnen folgendermaßen: eine Tendenz zum exhibitionistischen Verhalten, eine Gelegenheitsstruktur, die Striptease als berufliche Alternative möglich machte, und das plötzliche Gewahrwerden leicht zu erlangender Belohnungen für das Strippen. Alle Probandinnen lebten in Großstädten mit Klubs und Theatern, in denen Striptease üblich war. Sie waren alle ziemlich attraktiv und besaßen eine physische Anomalie, nämlich große Brüste, die ihnen die Einstellung durch Vermittlungsbüros und Arbeitgeber sicherten. In nahezu allen Fällen erfuhren sie ihre Qualifikationen für das Strippen durch Freunde, Arbeitgeber, Vermittler oder Bekannte. Die kriminelle Karriere von fünf Einbrechern in den USA untersuchte Pedro R. David (1974, 1975). Die von David veröffentlichten Daten werden im wesentlichen bestätigt durch die Untersuchung der kriminellen Karrieren von 171 gefährlichen Intensivtätern und Berufs- und Gewohnheitsverbrechern in der BRD (Hans Joachim Schneider 1976). Als Teil ihres Sozialisationsprozesses waren die Einbrecher von ihrer frühen Kindheit an in sozialabweichendes und kriminelles Verhalten verwickelt. Sie rechneten nicht damit, von der Polizei erwischt zu werden, da nur ein kleiner Teil ihrer Straftaten bekannt wurde. So konnte ein Einbrecher 100 bis 150 bewaffnete Raubüberfälle begehen, ohne von der Polizei überführt zu werden. Unvollständige Familien, kriminelle oder sozialabweichende Kontakte von der Frühkindheit an, delinquentes Verhalten im Elternhaus kennzeichnen die Probanden Davids. Die Schulen spielten keine bedeutsamen Rollen bei der Bildung ihrer Persönlichkeit und ihrer moralischen Werte. Sie wurden ohne Aufsicht und Kontrolle in ihrem Elternhaus alleingelassen; ihre Eltern kümmerten sich nicht darum, wo sie sich aufhielten. Alle fünf Einbrecher begannen ihre kriminelle Karriere früh in ihrem Leben, meist bevor sie zehn Jahre alt waren. Sie stahlen regelmäßig und begingen durchschnittlich 300 Ein-

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

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brüche im Jahr. Sie verdienten 500 bis 550 USDollar im Durchschnitt wöchentlich. Der Einbrecher verläßt sich auf seinen Hehler, ohne den er nicht existieren kann. Der abschreckende oder bessernde Einfluß der Polizei, der Gerichte und Strafanstalten ist minimal. Die Einbrecher begegneten den Repräsentanten im Kriminalitätskontrollprozeß mit großer Feindschaft und Bitterkeit. 4. Empirische

Erforschung des

Interaktionismus

Der enge „Labeling"-Ansatz hat sich als empirisch-kriminologisch unfruchtbar erwiesen (vgl. die Überprüfung von Charles Wellford 1975). Der weite interaktionistische Ansatz hat demgegenüber bereits zahlreiche empirische Belege erbracht, ohne die theoretisch-kriminologische Überlegungen wertlos bleiben (Marshall B. Clinard 1974b). Der Interaktionismus sieht sich keineswegs auf die Methode der teilnehmenden Beobachtung beschränkt, er ist grundsätzlich in der Lage, alle kriminologischen Methoden anzuwenden (Edwin M. Schur 1974, S. 38). Er hat sogar eine Erweiterung der kriminologischen Forschung auf die Methoden der historischen und vergleichenden Kriminologie bewirkt. Insbesondere die Inhaltsanalyse der Massenmedien ist als Methode des Interaktionismus gut verwendbar. Zwar zielt er nicht gerade stets auf Quantifizierbarkeit ab. Es ist aber genauso falsch, im geistigen, gefühls- und erfahrungsmäßigen Einfühlen, im „Verstehen" allein das methodische Prinzip des Interaktionismus zu erblicken (Erich Goode 1975). Skepsis gegenüber den angeblich „harten Daten" des kriminologischen Positivismus ist ebenso angebracht wie gegenüber ideologischen oder intuitiven Erwägungen. Nur ein vernünftiges, aufrichtiges, ausgewogenes Zusammenspiel zwischen kriminologischer Theorie und Empirie sichert mittel- und langfristig Fortschritte. Jede Einseitigkeit sollte vermieden werden. Der Interaktionismus unterscheidet die Erforschung des Normsetzungs- und -anwendungsprozesses von der Analyse des sozialen Definitionsprozesses der Sozialabweichung und vom individuellen Benennungsprozeß als Sozialabweichler oder Krimineller. Der Normsetzungsprozeß ist bisher nur recht unvollkommen und zum Teil mit einseitigen Ergebnissen untersucht worden: Andrew Sinclair (1969) hat die Prohibitionsgesetzgebung in den USA zu Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts einer Analyse unterzogen. Der Untersuchung der Sexualpsychopathengesetze in den USA seit 1937 hat sich Edwin H. Sutherland (1969) in einer instruktiven Studie zugewandt. Die Marihuana-Gesetzgebung in den USA seit 1930 versuchte Howard S. Becker (1969) zu analysieren. William E. Nelson (1974) verfolgte die Funktionen des Strafrechts und des Strafprozeß-

rechts in der amerikanischen Geschichte. Die Gesetze zur Bekämpfung des Diebstahls in den USA untersuchte Jerome Hall (1952), während Alfred R. Lindesmith (1965) den sozialen Hintergrund der Rauschmittelgesetzgebung in den USA auszuleuchten suchte. Der Landstreicher-Gesetzgebung in England im 13. und 14. Jahrhundert wandte sich William J. Chambliss (1969) als Forschungsgegenstand zu. Er erzielte das recht einseitige, unausgewogene Ergebnis, daß die Landstreichergesetze erlassen worden seien, um angesichts des Zusammenbruchs der Leibeigenschaft den feudalen Großgrundbesitzern billige Arbeitskräfte zu sichern. Der soziale Definitionsprozeß der Sozialabweichung ist von Kai T. Erikson (1966) in einer auf historischen Originaldokumenten aufgebauten, sorgfältigen, historisch-kriminologischen Studie analysiert worden. Am Beispiel der Kolonie der Puritaner in Neuengland an der Massachusetts Bai im 17. Jahrhundert versuchte er, die Ursachen und Begrenzungen sozialabweichenden Verhaltens in einer Gemeinschaft zu verdeutlichen. In einer sehr kritischen, empirischhistorischen Studie weist Anthony M. Platt (1969) nach, daß die Bewegung der Kinderretter in den USA zu Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur positive, sondern durchaus negative Folgen im Sinne der Entstehung und Aufrechterhaltung der Jugenddelinquenz hatte. Die normsetzenden und -anwendenden Reaktionen der Kinderretter, die nicht nur altruistische, humanitäre Ziele verfolgten, trugen dazu bei, die Jugend in Abhängigkeit und Unselbständigkeit zu halten, so daß die Rückfälligkeit der delinquenten Jugendlichen keineswegs gemildert wurde, sondern daß die Kinderretter durch ihre Reaktionen auf Jugenddelinquenz eine Selbsterhöhung ihres sozialen Status erzielten. Bei der Erforschung des Normanwendungsprozesses stehen der Selektionsgesichtspunkt und hier insbesondere die angeblich nicht tatbezogene Auswahl, die die Polizei unter den delinquenten Jugendlichen trifft, bisher allzu stark im Vordergrund des empirisch-kriminologischen Interesses. Aaron V. Cicourel (1968) hat vier Jahre lang Untersuchungen in zwei Polizei-, Bewährungshilfeund Jugendgerichtsbezirken der USA mit den Methoden der teilnehmenden Beobachtung und der Analyse und Interpretation von Vernehmungsprotokollen und -berichten durchgeführt. Er fand schichtspezifische Selektionsmechanismen, die die Polizei delinquenten Jugendlichen gegenüber anwendet. Hinsichtlich der schichtspezifischen Selektionierung ergibt sich eine Übereinstimmung mit deutschen empirisch-kriminologischen Forschungen des Max-Planck-Instituts in Freiburg i. Br. (Klaus Sessar 1975). Neun Monate lang führten Irving Piliavin und Scott Briar (1968) teilnehmende Beobachtungen mit allen Jugendsachbearbeitern eines Polizei-Departments einer

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung nordamerikanischen Industriestadt mit 450000 Einwohnern durch: Die Verhaftung durch die Polizei bewirkt einen Verlust des sozialen Status und eine Einschränkung der Erziehungs- und Berufsmöglichkeiten. Die Stigmatisation durch die polizeiliche Ergreifung verschlimmert und verschärft die Jugenddelinquenz. Die Jugendsachbearbeiter der Polizei machen Unterschiede zwischen schwerkrimmellen Jugendlichen und fehlgeleiteter Jugend nach persönlichen Merkmalen der Täter, nicht nach ihren Rechtsbrüchen. Mitglieder bekannter delinquenter Banden, Farbige, Jugendliche mit gut geöltem Haar und mit Lederjacken, insbesondere Jungen, deren Interaktion mit der Polizei zeigte, daß sie keinen Respekt vor der Autorität hatten, wurden von den Jugendsachbearbeitern der Polizei als „schwerkriminell" benannt. Demgegenüber sah man Jugendliche, die über ihre Verfehlungen Reue zeigten und „zerknirscht" waren, die den Polizisten gegenüber respektvoll auftraten und sich bezüglich der zu erwartenden Sanktionen furchtsam erwiesen, grundsätzlich als „gesetzestreu" oder zumindest als „rettungsfähig" an. Jugendliche Rechtsbrecher, die der Polizei gegenüber streitsüchtig, verstockt oder lässig auftraten, wurden als für die Zukunft wahrscheinlich „harte Kriminelle", als Taugenichtse angesehen, die die schwerste Sanktion verdienten: die Verhaftung. Für das Verhalten der Polizisten waren Vorurteile, aber auch Polizeierfahrungen maßgebend. Piliavin und Briar (1968) kommen zu dem Schluß, daß ein jugendlicher Delinquenter das Produkt sozialer Beurteilungen durch die Polizei darstellt. Zu ganz anderen Ergebnissen gelangen Albert J. Reiss und David J. Bordua (1967): Die Polizei arbeitet in einer reaktiven, weniger in einer proaktiven Weise. Sie sucht sich nicht delinquentes Verhalten aggressiv aus, sondern sie reagiert auf Beschwerden und Anzeigen der Bürger über kriminelles Verhalten. David J. Bordua (1967) bestreitet jede sozioökonomische Selektion der Polizei; sie richte sich bei ihren Entscheidungen wenigstens auch maßgeblich nach dem Gesetz. Donald J. Black und Albert J. Reiss (1972) haben im Sommer 1966 mit 36 Beobachtern die polizeiliche Routinearbeit mit Jugendlichen in Boston, Chikago und Washington D. C. beobachten lassen. Sie haben 5713 polizeiliche Begegnungen mit delinquenten Jugendlichen registriert und eine repräsentative Stichprobe von 281 Konfrontationen analysiert. Sie unterscheiden zwischen bürgerinitiierten, reaktiven und polizeiinitiierten, proaktiven Mobilisierungen. 72% aller Zusammentreffen zwischen Polizei und delinquenten Jugendlichen gingen vom Bürger aus (meist Telefonanrufe!). Nur 28% der Begegnungen waren auf die Aktivität der Polizei während ihrer Kontrollgänge zurückzuführen. Die Benennung des Vorgehens der Polizei als „Methode des methodischen Verdachts" (Johannes Feest) erweist sich

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als nicht haltbar. Es mag wohl richtig sein, daß die Polizei die Entwicklung des „sozialen Dramas" beherrscht, wenn sie einmal durch Bürgerinitiative auf den Plan gerufen ist (John L. Hagan 1972). Die Untersuchungsergebnisse von Black, Bordua und Reiss werden bestätigt durch eine Studie, die Ralph L. Blankenship und B. Krishna Singh (1976) 27 Monate lang mit 512 Fällen jugendlicher Delinquenter durchgeführt haben. Sie stellten enge Beziehungen zwischen der Länge der kriminellen Karriere und der Schwere der Straftat einerseits und der Schwere der polizeilichen Sanktion andererseits fest. Selektionsmechanismen bei informellen Reaktionen auf Straftaten werden ferner von Lawrence E. Cohen und Rodney Stark (1974) bestritten: Die Entscheidung, ob ein Ladendieb angezeigt werden solle oder nicht, hing bei einer repräsentativen Stichprobe von 371 Fällen in einem kalifornischen Kaufhaus im Jahre 1969 nicht von der Persönlichkeit oder der sozioökonomischen Schicht des Täters, sondern von der Schwere seiner Tat ab; Arbeitslose waren bei den der Polizei Gemeldeten allerdings überrepräsentiert. In einer wohlabgewogenen Studie hat Jerome Η. Skolnick (1967) schließlich den auf die Polizei bezogenen Normanwendungsprozeß kriminologisch erforscht. Den individuellen Benennungsprozeß als Sozialabweichler hat Howard S. Becker (1973, S. 36—52) treffend am Beispiel des Drogenabhängigen beschrieben. Bei der empirischen Untersuchung dieses individuellen Benennungsprozesses werden die Individualität und die Passivität des Benannten zu stark betont (Paul G. Schervish 1973). Der Benennungsprozeß von Gruppen oder anderen sozialen Einheiten ist noch niemals Forschungsgegenstand gewesen. Das Übergewicht der Reaktion läßt nur zu oft die Persönlichkeit als einen in seinem Wesen „leeren Organismus" (David J. Bordua 1967) erscheinen, der keine eigenständige Fähigkeit besitzt, sein Verhalten selbst zu bestimmen. Eine Bedeutung der PolizeiReaktion auf die Jugenddelinquenz im Hinblick auf die Rückfälligkeit der Jugendlichen wird von Malcolm W. Klein (1974) überhaupt verneint. Auch Gideon Fishman (1976) bestreitet — allerdings an einem nur kleinen israelischen Untersuchungsgut von 63 Probanden —, daß Jugendliche, die das Jugendgerichtssystem durchlaufen, ein kriminelles Selbstbild entwickeln; die delinquente Benennung könne vielmehr im Sinne der sozialen Kontrolle nützlich sein. Negative Benennungen durch die Institutionen der Sozialkontrolle stellt zwar William E. McAuliffe (1975) für 59 Drogenabhängige fest, die er in Baltimore von 1966 bis 1970 untersucht hat; die Stigmatisation ereignete sich aber erst lange Zeit nach der Drogenabhängigkeit; der formellen ging eine informelle Benennung durch die Familie, Freunde und Nachbarn voraus; die Etikettierung

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Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

verursachte niemals die Drogenabhängigkeit. Ein Experiment, das James C. Hackler (1966) in Seattle/Washington durchgeführt hat, scheint auch für die geringe Bedeutung der Reaktionsseite im individuellen Benennungsprozeß zu sprechen: Jungen aus Gemeinschaften mit hoher Delinquenzbelastung wurden in Positionen gebracht, in denen es für sie äußerst schwierig war, Mißerfolge zu haben. Die Erwartung dieses Experiments ging dahin, durch Erfolge, durch positive Reaktionen eine Entstigmatisierung und eine Bildung eines positiven Selbstbildes herbeizuführen. Die Kontrollgruppen, die man nicht zu beeinflussen versuchte, zeigten einen größeren Wandel in positivem Sinne als die Experimentalgruppe. Die Unterschiede waren zwar nicht groß; sie zeigten aber, daß das Experimentalprogramm ein Mißerfolg war. Reaktions- und Benennungswirkungen haben anscheinend unterschiedliche Einflüsse auf verschiedene Persönlichkeitstypen (John Hagan 1973). Bedeutsame Einflüsse der Reaktions- und Benennungswirkungen ermittelten demgegenüber Charles H. Newton und Randall G. Shelden (1975) an einer Stichprobe von 86 Probanden im Alter von 12 bis 17 Jahren in Memphis/Tennessee. In persönlichen Interviews zeigte sich, daß diejenigen, die von anderen als sozialabweichend angesehen wurden, entsprechend über sich urteilten und danach handelten. Ein Prozeß der sozialen Umwandlung der Person trat ein. Der primärdeviante Jugendliche behielt eine respektierte Rolle in der Gesellschaft und ein annehmbares Selbstbild. Der sekundärdeviante Jugendliche ist dagegen eine Person, deren Leben und Identität um die Fakten der Sozialabweichung und Kriminalität herum organisiert ist (Edwin M. Lemert). Der Primärdeviante begeht sozialabweichende Handlungen, die „persönlichkeitsfremd" sind; der Sekundärdeviante i s t ein Sozialabweichler. In der Untersuchung von Newton und Shelden (1975) waren die Jugendlichen mit mehr als 15 Verurteilungen und mit Verurteilungen von mehr als vier Jahren Freiheitsentzug sekundärdeviante. Die Primärabweichler hatten vier und weniger Verurteilungen und solche mit weniger als einem Jahr Freiheitsentzug. Sekundärabweichler haben mehr unentdeckte Straftaten begangen als Primärabweichler; sie bekommen keine ständige Arbeit und werden in der Schule nicht akzeptiert. Verhaftung und Verurteilung spielen im prozeßhaften Übergang von Primär- in Sekundärdevianz wesentliche Rollen. Ladendiebinnen sehen sich als Diebinnen nach ihrer polizeilichen Verhaftung (Mary Owen Camerdn 1975). Das Jugendgericht verursacht und hält Jugendkriminalität durch offizielle Verhandlungen und Verurteilungen aufrecht (Edwin M. Lemert 1971). In einem großstädtischen Gebiet der USA mit etwa zwei Millionen Einwohnern hat Robert M. Emerson (1969, 1973) in den Jahren

1966 und 1967 ein Jugendgericht mit den Methoden der teilnehmenden Beobachtung und der informellen Interviews mit Jugendrichtern untersucht. Die Degradierungs- und Stigmatisierungswirkungen treten dadurch ein, daß der delinquente Jugendliche die volle Schuld bekommt, daß ihm systematisch alle Verteidigungsmechanismen abgeschnitten werden und daß so getan wird, als bleibe keine Alternative mehr übrig, als ihn in eine Jugenderziehungsanstalt einzuweisen. Bei allen diesen Untersuchungen kommen die Persönlichkeitsvariablen und die sozialen Hintergründe der Täter zu kurz. Richard Schwartz und Jerome Skolnick haben (1975) ungelernte Arbeiter, die wegen Körperverletzung verurteilt worden waren, und Ärzte, die wegen Kunstfehlern verurteilt worden waren, untersucht und folgendes festgestellt: Die Status-Degradierung der verurteilten Arbeiter dauert auch noch nach deren Strafverbüßung fort. Von 58 verurteilten Ärzten berichteten indessen 52, daß das Strafverfahren keinerlei negative Auswirkungen auf ihre ärztliche Praxis gehabt habe. Fünf der verbleibenden sechs Ärzte, alle Spezialisten, antworteten sogar, nach dem Strafverfahren habe sich ihre fachärztliche Praxis merklich verbessert.

IV. APOLOGETIK DER BESTEHENDEN STRAFRECHTSORDNUNG Die Strafrechtsnormen nehmen im Interaktionismus eine zentrale Stellung ein. Im gesellschaftlichen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß geht es nicht nur um die Anpassung von Strafrechtsnormen an die sich wandelnden sozialen Notwendigkeiten, sondern auch um die Verankerung der Strafrechtsnormen im Rechtsbewußtsein der Gesellschaft und um ihre Durchsetzung durch die Instanzen der Sozialkontrolle. Im individuellen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß bestimmen die Strafrechtsnormen die zentralen Leitlinien für das Handeln der Instanzen der sozialen Kontrolle. Die Kriminologie beansprucht nicht, an die Stelle des Strafrechts zu treten. Sie erhebt nicht einmal den Anspruch, die Strafrechtsordnung festzulegen. Das ist Aufgabe des Gesetzgebers. Sie möchte lediglich aufgrund sorgfältiger theoretischer Überlegungen und empirischer Untersuchungen die Voraussetzungen und Folgen der Strafgesetzgebung und -anwendung klären, um dem Gesetzgeber und den Instanzen der Sozialkontrolle Ratgeber für eine rationalere, effektivere und sachgerechtere Kriminalpolitik zu sein. Sie ist sich dessen bewußt, daß ihre Argumente nicht allein maßgebend sein können, sondern daß ζ. B. auch ethisch-moralische Komponenten den Bestand oder Nichtbestand von Strafrechtsnormen mit entscheiden. Wenn zahlreiche Strafrechtler manchen kriminalsozio-

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung logischen und -psychoanalytischen Gedankengängen mit kritischer Distanz, ja Skepsis gegenüberstehen, so ist dies durchaus verständlich. Wenn der Kriminologie aber grundsätzlich die Existenzfrage gestellt wird (Richard Lange 1970, S. 18; vgl. neuerlich auch die Einleitung von Richard Lange zu Erwin R. Freys Werk 1975), muß eine solche Perspektive aus der Sicht der Kriminologie zurückgewiesen werden. Denn es kann kein Strafrechtsdogmatiker angesichts der Wandlungen in unserer Gesellschaft mehr davon ausgehen, daß unsere Strafrechtsordnung ohne kriminologische Tatsachenforschung unverändert bestehen bleibt. Das liegt nicht im Interesse des Strafrechts, das sich ohne kriminologische Tatsachenforschung und deren Umsetzung in Kriminalpolitik in unerträglicher, ja unverantwortlicher Weise von der gesellschaftlichen Wirklichkeit entfernen und so völlig realitätsfern werden würde. Die Kriminologie will das Strafrecht nicht „bevormunden", möchte aber auch vom Strafrecht nicht beherrscht werden. Die Kriminologie sucht eine gleichberechtigte Partnerschaft zum Strafrecht. Sie ist keine strafrechtliche Hilfswissenschaft. Gegen die Kriminologie werden stereotype Angriffe vorgetragen, die auf mangelnder Information und einem Mißverständnis des Grundanliegens der Kriminologie beruhen, die aber insofern wirksam sind, als sie die Voreingenommenheiten gegen die Kriminologie im deutschen Sprachraum bestärken und auf diese Weise die kriminologische Arbeit behindern oder sogar unmöglich machen. Im wesentlichen wird folgendes geltend gemacht: Die Kriminologie sehe weiterhin die Armut als Hauptkriminalitätsursache an; sie mache aus dem Menschen ein Objekt der Untersuchung und Behandlung; in Wirklichkeit sei der Mensch aber nicht zähl-, meß-, berechen- und erklärbar; die Kriminologie gehe insofern von einem primitiven, überholten „Marionettenbild" vom Menschen aus; es bestehe eine unlösbare Strukturverschlingung zwischen Sein und Sollen; „die pralle Fülle personalen Seins" werde in der Kriminologie „zu bloßer Testpersönlichkeit entleert" (Richard Lange 1970, S. 214); die Kriminologie wolle die Strafe, deren Wesen in einer sozialethischen Mißbilligung von Tat und Täter bestehe und die zugleich die beste Therapie sei, zugunsten einer Behandlung abschaffen, die den Täter generell exkulpiere, die Würde des Menschen verletze und seine rechtsstaatlichen Garantien preisgebe (vgl. auch die völlig überholten kriminalpolitischen Ausführungen von Erwin R. Frey 1975). An die Stelle kriminologischen Denkens soll die Ganzheitsbetrachtung der philosophischen Anthropologie treten, wie sie etwa Max Scheler, Adolf Portmann, Arnold Gehlen, Viktor Frankl und Helmut Schelsky vertreten haben (Richard Lange 1970). Diese Ganzheitsbetrachtung eröffnet keinen Weg zur empirisch-kriminologischen For-

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schung. Der Kriminologie wird letztlich der Rat erteilt, sich selbst aufzulösen. In der philosophischen Anthropologie bestehen aus dem Glauben und der Überzeugung ihrer verschiedenen Vertreter so viele Gegensätze der Meinungen, daß sie als Grundlage für die Kriminologie unbrauchbar ist. Was im übrigen die skizzierten Angriffe auf die Kriminologie betrifft, so gehen sie entweder an der Kriminologie überhaupt vorbei oder bezeichnen nicht allgemein akzeptierte Extrempositionen einzelner Kriminologenschulen. Die Kriminologie ist a u c h eine empirische Wissenschaft. Sie muß also zu zählen, messen, berechnen und zu erklären versuchen. Sie weiß aber, daß alle ihre Berechnungen (mitunter recht verschieden) interpretierbar sind. Ob ein Schuldstrafrecht oder ein Maßnahmenrecht bevorzugt werden soll, ist eine Frage, die heute bereits überholt ist. Mit diesem Problem beschäftigt sich aber immer noch Erwin R. Frey (1975), und er findet recht veraltete Antworten (vgl. auch Armand Mergen 1975 zur Defense sociale). In jeder Behandlung steckt ein Stück Strafe, in jeder Strafe auch ein Behandlungsaspekt. Daß aber die Strafe a l l e i n die wirksamste Behandlung sei, die Menschenwürde und rechtsstaatlichen Gesichtspunkten entspreche, ist aufgrund der Praxis des Vergeltungsstrafvollzugs und aufgrund moderner kriminologischer Forschungsarbeiten mehr als fraglich geworden.

Y . BEHANDLUNGSIDEOLOGIE ODER ALTERNATIVEN ZUM FREIHEITSENTZUG IN STRAFANSTALTEN A. Die Erfolglosigkeit des Freiheitsentzugs in Strafanstalten Es gibt zahlreiche kriminologische Forschungsergebnisse, aus denen sich ergibt, daß der Erfolg des Anstaltsfreiheitsentzugs nicht nachgewiesen ist (Überblicke bei Walter C. Bailey 1966 und Charles H. Logan 1972). Es kommt hierbei nicht einmal darauf an, ob es sich um offenen oder geschlossenen, um behandlungs- oder verwahrungsorientierten Strafvollzug in Anstalten handelt. Es ist deshalb falsch, einer „Behandlungsideologie" das Wort zu reden, die davon ausgeht, Behandlung in Strafanstalten habe rückfallmindernde oder sogar -verhindernde Folgen (a. A. Horst SchülerSpringorum 1974, S. 20 und Heinz Müller-Dietz 1974, S. 41/42). Die Mehrheit der Rechtsbrecher sind keine „kriminell Kranken"; sie bedürfen keiner Behandlung und „Heilung". Die sozial Abweichenden durch Therapie an die sozial Konformen anpassen zu wollen, ist unehrlich, inhuman und ineffektiv zugleich. Die sozial Konformen sind nicht ohne Kriminalitätsbelastung, wie die mo-

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Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

dernen Dunkelfelduntersuchungen zeigen. Die Behandlungsprogramme in Strafanstalten sind nicht erfolgreich im Sinne der Rückfallverhinderung oder -Verminderung (vgl. den Überblick von James Robison und Gerald Smith 1971). Es geht hierbei nicht einmal um die Länge der Behandlung und um die Gewährung der bedingten Entlassung. Die kriminologische Forschung hat vielmehr erste Anzeichen dafür herausgefunden, daß mit der Länge der Behandlung in Strafanstalten und mit der Überwachung bei der bedingten Entlassung der Rückfall wächst. Es gibt keine Behandlungsmethode in der Strafanstalt, die ihre Wirksamkeit im Hinblick auf eine Rückfallverhinderung oder -minderung unter Beweis gestellt hätte. In Finnland wird die Freiheitsstrafe normalerweise in Arbeitskolonien ohne Mauern, Eisengitter und überhaupt ohne strenge Sicherheitsmaßnahmen vollzogen. Die Insassen verrichten alle Arbeiten, die sich nach der jeweiligen Arbeitsmarktlage anbieten. Nach der in der skandinavischen Kriminologie jahrzehntelang herrschenden kriminalpolitischen Ansicht waren solche offenen Arbeitslager nicht nur humaner und billiger in der Unterhaltung als geschlossene Strafanstalten, sondern im Hinblick auf die Rückfallgefahr auch erfolgreicher. Ende der vierziger Jahre ergab sich aus der Arbeitsmarktlage in Finnland, daß ein Großteil der Verurteilten wieder in geschlossenen Strafanstalten untergebracht werden mußte. Man untersuchte die Gefangenen aus den geschlossenen Strafanstalten und die Insassen der offenen Arbeitskolonien nach ihrer Entlassung auf ihre Rückfallhäufigkeit. Es konnte kein Unterschied festgestellt werden (Inkeri Anttila 1971, S. 12). Alle vier israelischen Jugendstrafanstalten für Jungen und eine Jugendstrafanstalt für Mädchen wurden mehr als zehn Jahre lang daraufhin untersucht, ob sie einen rückfallvermindernden oder gar -verhindernden Einfluß auf die jugendlichen Straftäter haben. Eine Kontrollgruppe von Jungen, die nach Begehung von Straftaten der Bewährungshilfe unterstellt worden sind, wurde gebildet. Man fand bei den Nachuntersuchungen heraus, daß nur 31,1% der jugendlichen Rechtsbrecher, die ihre Jugendstrafe in Anstalten verbüßt hatten, nicht wieder rückfällig wurden. Bei der Kontrollgruppe der Jungen, die Bewährungshilfe erhalten hatten, kehrte sich dieses Ergebnis nahezu um. Immerhin waren 51,6% erfolgreich, also nicht wieder rückfällig, und 25,8% teilweise erfolgreich, d. h. sie verletzten die Auflagen während der Bewährungszeit lediglich, oder sie gaben ihr kriminelles Verhalten erst nach einer weiteren leichten Straftat auf (Giora Rahav, Michal Ron-Menaker 1970; Shlomo Shoham, Sara BenDavid, Jonathan Smilansky 1973). Im Jahre 1961 wurden aus 40 polnischen Strafanstalten 6193 Heranwachsende im Alter zwischen 17 und 20 Jahren entlassen. 1025 von ihnen waren bereits

mehrfach rückfällig gewesen. Eine Stichprobe dieser heranwachsenden Rückfalltäter (N = 894) und eine Kontrollgruppe von Ersttätern (N = 1188) wurden zehn Jahre lang beobachtet. 82% der Rückfalltäter und 57% der Ersttäter waren nach zehn Jahren wieder rückfällig geworden. Die polnische Strafanstalt hat einen geringen positiven Einfluß auf heranwachsende Rechtsbrecher (Teodor Szymanowski 1974). In der kalifornischen „Fricot Ranch School", einer Jugenderziehungsanstalt für delinquente Jugendliche, wurde ein Forschungsprojekt durchgeführt, das den Einfluß der Intensivbehandlung auf die Rückfälligkeit der jugendlichen Delinquenten ermitteln sollte. Eine Kontrollgruppe ohne Intensivbehandlung wurde gebildet. Ein Jahr nach der Entlassung hatte die Experimentalgruppe eine Rückfallrate von 37%, die Kontrollgruppe eine Rückfallrate von 52%. Fünf Jahre nach der Entlassung betrugen die Rückfallraten der Experimentalgruppe 88% und die der Kontrollgruppe 90%. Intensivbehandlung in Jugenderziehungsanstalten hat nur einen kurzfristigen positiven Effekt auf die Probanden (National Advisory Commission on Criminal Justice Standards and Goals 1973, S. 75/76). Den Erfolg einer therapeutischen Gemeinschaft in einer Strafanstalt haben Elliot Studt, Sheldon L. Messinger und Thomas P. Wilson (1968) kriminologisch erforscht. In der „Deuel Vocational Institution", die im San-Joaquim-Tal in der Nähe der Stadt Tracy, etwa 60 Meilen von San Franzisko entfernt liegt, haben sie in den Jahren 1960 und 1961 mit 291 jungen Männern — 57% von ihnen waren im Alter von 20 und 21 Jahren — ein Behandlungsexperiment durchgeführt. Sie bildeten eine Gesamtheit, die ihre gemeinsamen Probleme und die Probleme jedes einzelnen in einem dynamischen Prozeß zu lösen versuchte. Sie wollten nicht Persönlichkeiten durch Einwirkung von Seiten des Therapeuten in einem Über-Unterordnungs-Verhältnis ändern, sondern die Voraussetzungen dafür schaffen, unter denen sich Persönlichkeiten selbst und in einem gemeinsamen Sozialprozeß zu wandeln vermögen. Ihr Ergebnis war, daß Therapeuten ebenso wie zu Therapierende der Behandlung in einem Wechselwirkungsprozeß bedüifen, daß sich ihre nach diesem Konzept geschaffene Strafvollzugseinheit aber im starren, beharrenden, hierarchischen System der Strafanstalt nicht dynamisch zu entwickeln vermochte. Ihr komplexes, differenziertes System der sozialen Kontrolle, ihre Betonung der Eigeninitiative und der Eigenverantwortlichkeit kamen schnell in Konflikt mit den Prinzipien der Absonderung der Strafgefangenen von der freien Gesellschaft in einer Strafanstalt, die kein eigenverantwortliches Handeln erlaubt. Die „C-Unit" blieb ein Artefakt, ein Kunsterzeugnis, sie wwde nicht zu einer lebendigen, dynamischen und wirksamen sozialen Einheit.

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung Der Interaktionismus hat herausgearbeitet, daß sich Reaktionen der formellen Instanzen der Sozialkontrolle (ζ. B. Polizei, Gericht, Strafvollzug) durchaus negativ auf den Straftäter auswirken k ö n n e n . Der Freiheitsentzug in Strafanstalten ist kein Erfolg (Eugene Doleschal, Nora Klapmuts 1973). Der norwegische Kriminologe Nils Christie äußert die Meinung (Annika Snare 1975), daß es nicht darauf ankomme, was man mit Kriminellen tue; es beeinflusse sie nicht viel. Die Behandlungsideologie wird in Skandinavien abgelehnt; behandlungsorientierte Anstalten haben bezüglich der Rückfallraten keine besseren Erfolge (Erland Aspelin, Norman Bishop, Hans Thornstedt, Patrik Törnudd 1975). Degradierung, Stigmatisierung und Prisonisierung sind stärker als alle Resozialisierungsbemühungen. Sie sind für die hohen Rückfallraten nach der Entlassung aus der Strafanstalt verantwortlich. Bereits Berthold Freudenthal hat (1911) auf die schlimmen Folgen der Degradierung des Strafgefangenen vor seinen Mitmenschen und sich selber aufmerksam gemacht. Moritz Liepmann hat (1927, S. 10) die Schließung der Strafanstalten gefordert: „Der Sicherheit der menschlichen Gesellschaft würde ein größerer Schutz gewährt, wenn man alle diese Kriminellen laufen ließe, als daß man sie Jahr für Jahr durch langsame Untergrabung ihrer Gesundheit, durch sinnlose Zusammenpferchung oder gar erzwungene Arbeitslosigkeit völlig unbrauchbar für die Gesellschaft und zu viel gefährlicheren Desperados nach ihrer Entlassung macht, wie dies jetzt geschieht." Die Degradierungszeremonien setzen bei der Polizei ein, werden durch die Gerichte verstärkt und in der Strafanstalt besiegelt (Harold Garfinkel 1973). Längere Aufenthalte sind — selbst in behandlungsorientierten — Strafanstalten nicht effektiver als kürzere (Lawrence A. Bennett 1972). Die „Behandlungsideologie" ist in die öffentliche Meinung tief eingegraben. Mit der Länge und der Häufigkeit des Strafanstaltsaufenthalts wächst das Rückfallrisiko (National Advisory Commission on Criminal Justice Standards and Goals 1973, S. 75/76). Der Freiheitsentzug verstärkt den Rückfall (Law Reform Commission of Canada 1974 b, S. 5). Fast 5 0 % aller kanadischen Gefangenen befinden sich in Institutionen des Bundes oder der Provinzen wegen nichtgewaltsamer Rechtsbrüche gegen das Vermögen (Law Reform Commission of Canada 1975 a, S. 6 und 10). Die Straftat hat zahlreiche negative Konsequenzen: a) Die Gefangenen gewöhnen sich an das künstliche soziale Klima in der Strafanstalt. Die Ziele der Strafanstalt sind zwar rein verbal auf Resozialisierung gerichtet. In Wirklichkeit spielen die Ersatzziele der Sicherheit und Ordnung eine entscheidende Rolle (Hans Joachim Schneider

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1974 a, S. 167). Diese Ersatzziele ermöglichen auch dem haftgewohnten, mehrmals rückfälligen Straftäter sehr leicht die Einordnung. Er fällt nicht auf. Er genießt die Privilegien, die für eine solche reibungslose Einordnung gewährt werden. Auf diese Weise spielt der Strafgefangene eine rein reaktive Rolle; er reagiert immer nur auf das Verhalten der Strafvollzugsbediensteten; er wird so in Unselbständigkeit gehalten. Im Prisonisierungsprozeß, einem Gewöhnungsprozeß an die künstlichen Lebensbedingungen der Strafanstalt, wird der Straftäter noch stärker entsozialisiert, als er es ohnehin schon ist. In der modernen Industriegesellschaft mit ihren hochkomplexen Sozialstrukturen, ζ. B. in Familie und Beruf, ist es außerordentlich schwierig, den Anschluß an rasante soziale Wandlungen wieder zu finden, wenn man jahrelang abgesondert im künstlichen Klima der Strafanstalt gelebt hat. b) Die Familie des Strafgefangenen fällt der öffentlichen Fürsorge zur Last, da er in der Strafanstalt wegen der Arbeitsbedingungen und des ungünstigen Entlohnungssystems für seine Familie nicht sorgen kann. Der Strafgefangene ist verschuldet und von daher schon gebrandmarkt, wenn er entlassen wird. Er muß nicht nur die Kosten des Strafverfahrens zahlen, sondern er hat auch erst nach seiner Entlassung aus der Strafhaft Gelegenheit, das Opfer seiner Straftat finanziell zu entschädigen. Der entlassene Strafgefangene ist so sehr verschuldet, daß ihm ein Anschluß an den Sozialprozeß in der freien Gesellschaft kaum jemals gelingen kann. c) Die Errichtung und Unterhaltung von Strafanstalten ist viel zu teuer. Hinzu kommen die psychischen und sozialen Schäden für den Gefangenen, seine Familie und das Personal der Strafanstalten. Der Strafgefangene ist nach seiner Entlassung als Person degradiert und stigmatisiert. Es kann ihm nur bei außergewöhnlich günstigen sozialen Bedingungen gelingen, sein Selbstwertgefühl und damit seine Behauptung als Persönlichkeit im Konkurrenzkampf der freien Gesellschaft wiederzugewinnen. Da die Effektivität des Freiheitsentzugs in Strafanstalten mehr als zweifelhaft ist, kommt es für den Strafvollzug in zunehmendem Maße auf Effizienz an. Die Frage, ob ein Strafanstaltsaufenthalt rückfallvermindernd oder sogar -verhindernd wirkt, kann aufgrund kriminologischer Forschungsergebnisse kaum noch gestellt werden. An die Stelle dieser Frage treten die Fragen, wie schonend man für alle Beteiligten — für Täter, Opfer und Gesellschaft — auf eine Straftat reagieren, wie man humanitären und ökonomischen Gesichtspunkten dabei am besten Rechnung tragen und wie man zusätzlichen Schaden, ζ. B. sekundäre Sozialabweichung, vermeiden kann. Auf diese

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Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

Fragen kann nur eine rationale Kriminalpolitik Antwort geben. Die moderne Gesellschaft kann es sich wirtschaftlich nicht mehr leisten, ihre unkontrollierten, emotionalen Rachegefühle an Kriminellen abzureagieren.

B. Alternatiren zum Freiheitsentzug in Strafanstalten Das täterorientierte medizinische Modell der Individualbehandlung in Strafanstalten hat den Rückfall nicht verhindert. Es geht deshalb heute nicht um die Straf- oder Behandlungsorientierung im Strafvollzug, sondern um den grundsätzlichen Wegfall der Strafanstalt als einer wesentlichen Instanz der Sozialkontrolle. Mit dem Ende der Strafanstalt muß sich die Sozialkontrolle wieder in zunehmendem Maße auf die Gesellschaft gründen; die anderen Instanzen der Sozialkontrolle, Kriminalpolizei, Gerichte, Bewährungshilfe, müssen ihre Rollen ändern. Es geht um eine grundsätzliche Neuorientierung der Kriminalpolitik. Diese Neuorientierung ist aus folgenden Forschungsergebnissen der Kriminologie notwendig geworden: a) Die Höhe des Dunkelfeldes läßt die Kriminalitätsfreiheit der Gesellschaft zu einer Utopie werden. Es ist deshalb fraglich, ob die relativ kleine Zahl der Kriminellen, die durch unkontrollierte Selektion in die Strafanstalt kommen, an die Leitbilder und Werte einer Gesellschaft angepaßt werden kann, in der es so viel unentdeckte, verborgene Kriminalität gibt. b) Die Instanzen der Sozialkontrolle, ζ. B. Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft, Strafgerichte, Bewährungshilfe und Strafvollzug, sind überlastet. Wird das Dunkelfeld weiter aufgehellt, besteht die Gefahr, daß sie unter ihrer Arbeitslast zusammenbrechen und daß eine Gesellschaft offiziell krimineller Bürger entsteht. c) Die Freiheitsstrafe in Anstalten hat sich — selbst bei Behandlungsorientierung — als wirkungslos in dem Sinne erwiesen, daß sie den Rückfall weder verhindert noch verringert. Aus diesen grundlegenden neuen kriminologischen Erkenntnissen — Höhe des Dunkelfeldes, Überlastung der Instanzen der Sozialkontrolle und Wirkungslosigkeit des Freiheitsstrafvollzuges — folgt eine kriminalpolitische Tendenz zur Entkriminalisierung bei gleichzeitiger Betonung der wachsenden Bedeutung der Rolle der Primärkontrolle durch Familie, Schule, Berufs- und Freizeitgruppen: a) Der Gesetzgeber streicht Normen oder stuft sie zu Ordnungswidrigkeiten herab. In den skandinavischen Ländern wird ζ. B. die Straflosigkeit

des Ladendiebstahls diskutiert, falls das gestohlene Gut einen bestimmten Betrag nicht übersteigt und der Diebstahl nicht im Wiederholungsfalle begangen worden ist. b) Auf Kinder- und Jugendkriminalität wird informell reagiert. Jugenddienste und -büros nehmen sich der delinquenten Jugendlichen an. Eine Brandmarkung durch die Kriminalpolizei und die Jugendgerichte wird vermieden. Diese Entwicklung ist in den USA zu beobachten. Offizielle Reaktionen der Jugendgerichte halten die Jugendkriminalität im Sinne der Sekundärabweichung nur zu oft aufrecht. Normale Probleme werden vom Jugendgericht als Spezialprobleme der Jugend definiert, die juristische Reaktionen erfordern (Edwin M. Lemert 1971, S. 8/9). Deshalb muß die Zuständigkeit des Jugendgerichts eingeschränkt werden (Edwin M. Schur 1973). Auf Jugendkriminalität muß in höherem Maße informell, durch Jugendbüros und -dienste reagiert werden (President's Commission on Law Enforcement and Administration of Justice 1967; ähnlich für Japan: Toshihiko Tsubouchi 1973). c) Nach § 153 Abs. 2 StPO kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des zur Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts das Verfahren einstellen, wenn bei einem Vergehen die Schuld des Täters gering ist und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. Ist die Klage bereits erhoben, so kann das Gericht nach § 153 Abs. 3 StPO mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und nach Anhörung des Angeschuldigten das Verfahren in jeder Lage einstellen. Nach § 153 a StPO kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts von der Erhebung der Klage absehen, wenn die Voraussetzungen vorliegen, unter denen das Gericht von Strafe absehen könnte. Ist die Klage bereits erhoben, so kann das Gericht nach § 153 a Abs. 2 StPO bis zum Beginn der Hauptverhandlung mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten das Verfahren einstellen. d) Die bedingte Einstellung des Strafverfahrens wird in Polen angewandt, wenn die Umstände der Tat genau geklärt sind und die Schuld des Täters einwandfrei feststeht (Mikolaj Leonieni, Wojciech Michalski 1972, 1975). Es darf Freiheitsentzug von mehr als drei Jahren nicht zu erwarten sein. Der Straftäter darf keine Vorstrafen haben und seine Kriminalprognose muß befriedigend sein. Bei jeder bedingten Einstellung des Strafverfahrens sollte eine gesellschaftliche Organisation oder ein Arbeitskollektiv die Bürgschaft darüber übernehmen, daß der Straftäter nicht mehr rückfällig wird. Es ist vorgesehen, daß ein gesellschaftlicher Vertreter im Strafverfahren das Interesse der Gesellschaft an der Behandlung des Straftäters wecken soll. Gleichwohl hat sich die Gesellschaft

Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung in Polen bisher an der Übernahme von Bürgschaften desinteressiert gezeigt. Nur in 0,4% der Fälle, in denen eine bedingte Einstellung des Strafverfahrens ausgesprochen worden ist, konnte eine Bürgschaftsübernahme durch eine gesellschaftliche Organisation oder ein Arbeitskollektiv erreicht werden. Dennoch ist die bedingte Einstellung des Strafverfahrens in Polen ein Erfolg geworden. Der Angeklagte braucht nicht in öffentlicher Sitzung auf der Anklagebank zu sitzen. Wenn das Strafverfahren nach einer erfolgreich bestandenen Bewährungszeit endgültig eingestellt wird, ist der Straftäter völlig unbestraft. Er gilt als ein Mensch, der nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Hierdurch wird eine Definition des Angeklagten als Straftäter vermieden. Die Degradierungs- und Stigmatisierungsfolgen eines Strafverfahrens und einer Verurteilung treten nicht ein. Die kriminelle Karriere wird abgebrochen und der Rückfall verhindert. e) Die Einführung eines Ausgleichs- und Schlichtungsprozesses vor dem formellen Strafverfahren wird in Kanada diskutiert (Law Reform Commission of Canada 1974 b). Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidiger, Angeklagter und Opfer sollen sich zunächst zusammensetzen, um den kriminellen Konflikt gütlich zu bereinigen. Der Wiedergutmachung des dem Opfer entstandenen Schadens wird besonderes Gewicht beigemessen (vgl. hierzu auch Anne Newton 1976). f) Gegenwärtig wird bei der Reaktion des Gerichts auf eine Straftat im Strafverfahren eine weitgehend unkontrollierte, den Persönlichkeiten der Richter entsprechende emotionale Selektion vorgenommen. Es muß Ziel der zukünftigen Kriminalpolitik sein, diese Selektion, die Ausmaß und Höhe der Reaktion betrifft, auf rationale Grundlagen zu stellen und differenziert zu entkriminalisieren. g) Zur Freiheitsstrafe in Strafanstalten müssen Alternativen entwickelt werden. In Kanada sollen Freiheitsstrafen nur noch in drei Fällen verhängt werden: gegen eine Person, die eine schwere Straftat verübt hat und von der Gefahr für andere ausgeht (Gefährlichkeit des Täters), gegen eine Person, deren Tat fundamentale Werte der Gesellschaft mißachtet (Schwere des Rechtsbruchs) und gegen eine Person, die zu Geldstrafe oder Wiedergutmachung des von ihr kriminell angerichteten Schadens verurteilt ist, die die Geldsumme dem Staat oder dem Opfer zwar bezahlen kann, die sich aber vorsätzlich weigert, den Betrag zu entrichten (unkooperativer Angeklagter). In diesem letzten Fall sollen allerdings nur kurzfristige Freiheitsstrafen erlaubt sein (Law Reform Commission of Canada 1975 a, S. 12/13). Bei einem weitgehenden Wegfall der Freiheitsstrafe müssen die Behandlungskomponenten in 36 HdK, 2. Aufl., Bd. II

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Freiheit verstärkt werden. Die auf die Gemeinschaft gegründeten Behandlungsprogramme sind möglicherweise nicht wirkungsvoller bei der Verringerung der Kriminalität als der Freiheitsstrafvollzug (James Robison, Gerald Smith 1971). Sie sind indessen jedenfalls nicht so teuer, menschenwürdiger und für Opfer, Täter und Gesellschaft weniger schädigend (Law Reform Commission of Canada 1975 a, S. 13). Die Gefährlichkeit des Täters sollte danach bestimmt werden, wieweit seine kriminelle Karriere fortgeschritten ist (Daniel Glaser 1975, S. 87/88). Gleichwohl bleibt die Kriminalprognose im Einzelfall schwierig, weil die Forschung auf diesem Gebiet in der BRD unterentwickelt ist. Daniel Glaser befürwortet die Behandlung in Freiheit, die auf die Gemeinschaft gegründeten Behandlungsprogramme. Er berichtet über ein solches Programm mit weniger als 10% Mißerfolgen (Robert M. Carter 1972), obgleich die meisten Teilnehmer des Programms lange Vorstrafenlisten hatten. Wenn die Behandlungsprogramme in der Regel auf die Gemeinschaft gestützt werden sollen, so ändern sich die Rollen der Instanzen der sozialen Kontrolle. Der Kriminalpolizei kann es ζ. B. nicht nur vor allem darauf ankommen, Täter zu überführen. Sie muß auch in verstärktem Maße vorbeugende Aufgaben übernehmen. Die Bewährungshilfe muß nicht nur wesentlich personell verstärkt werden. Die Bewährungshelfer müssen auch besser ausgebildet und bezahlt werden. Die Bewährungshilfe muß durch diagnostische und therapeutische Dienste (Psychologen, Psychiater, Sozialarbeiter) unterstützt werden. Tagesbetreuungsstätten sind einzurichten. Die delinquenten Jugendlichen sind in Gruppenwohnheimen oder Pflegefamilien unterzubringen. Erwachsene Straftäter wohnen in Heimen in der Gemeinschaft. Sie arbeiten nicht nur in der Gemeinschaft, sondern sie werden mit der, in der und durch die Gemeinschaft behandelt (Nora Klapmuts 1973). Auf Wiedergutmachung gegründete Behandlungsprogramme in Freiheit werden im Erwachsenenstrafvollzug der Zukunft eine große Rolle spielen (Hans Joachim Schneider 1975, S. 169—171).

VI. DEUTSCHSPRACHIGE UND NORD AMERIKANISCHE KRIMINOLOGIE Die deutsche und die nordamerikanische Kriminologie haben in der Vergangenheit gut zusammengearbeitet. Der Gedanken- und Erfahrungsaustausch spielte sich indessen nur zu oft im Einwegverkehr ab. Nordamerika hatte Deutschland kriminalpolitisch viel zu geben. Nikolaus Heinrich Julius reiste in den Jahren 1834 bis 1836 zum ersten Mal nach Nordamerika, um das dortige Gefängniswesen zu studieren. Er veröffentlichte seine Erfahrungen 1839 unter dem Titel: „Nordame-

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Kriminologie (Grundlagen) — Ergänzung

rikas sittliche Zustände." Nach nordamerikanischen Vorbildern wurden das preußische und das deutsche Strafvollzugssystem entwickelt. Weitere kriminologische Studienreisen in die USA unternahmen Oscar Hintrager (1900), Wolfgang Mittermaier (1901) und Paul Herr (1907). Im Jahre 1906 hat Berthold Freudenthal in einem bemerkenswerten Vortrag hervorgehoben, wie sehr die nordamerikanische Kriminologie gesellschaftlich-pragmatisch orientiert ist und daß gerade die Institution der Bewährung' (probation) geeignet ist, eine „Abstempelung" des Menschen zum „Verbrecher" zu vermeiden. „Amerika ist vom Ballast einer hier und da fast überreichen Tradition, lähmender Skepsis, tiefgründiger Gelehrsamkeit und systematischer Bedenken ziemlich frei." Nach Freudenthals Reisebericht wurden in Deutschland Jugendgerichte im Jahre 1908 in Frankfurt/M., Berlin und Köln und die erste deutsche Jugendstrafanstalt im Jahre 1912 in Wittlich an der Mosel — nordamerikanischen Vorbildern gemäß — errichtet. William Healy (1915) ist in seinem Denken maßgeblich von der deutschen Kriminologie beeinflußt worden. Im Jahre 1926 hat Moritz Liepmann eine kriminologische Reise in die USA unternommen und darüber tief beeindruckt und eindrucksvoll berichtet (1927): „Wenn man die Arbeit, die hier geleistet worden ist, auf sich einwirken läßt, erkennt man, wie wenig unsere Universitäten, unsere Gerichte, auch die Jugendgerichte, unsere Kriminalisten, Psychiater, Psychologen, Pädagogen und „social workers" und vor allem auch unsere Gefängnisverwaltungen von diesen Methoden wissen, und wie viel, wie unendlich viel sie hiervon lernen könnten." Franz Exner hat nach seiner Nordamerikareise (1935) hervorgehoben, welches ungleich größere Ansehen die Kriminologie in den USA genießt. Bereits damals gehörte die Analyse der Instanzen der Sozialkontrolle dort zur Kriminologie. „ . . . in einem Punkte sind uns die Amerikaner um einen Riesenschritt voraus: in dem klaren Verständnis für die Bedeutung und die praktische Notwendigkeit kriminologischer Arbeit." Diese Aussagen Liepmanns und Exners gelten auch heute noch. Das unkompliziert fruchtbare Verhältnis, in dem deutsche und nordamerikanische Kriminologie bis vor dem 2. Weltkrieg standen, ist nach dem 2. Weltkrieg trotz der Rückkehr Hans von Hentigs aus den USA bis heute nicht mehr erreicht worden. Eine sehr eigenwillige Interpretation erfahren gegenwärtig die Theorien nordamerikanischer Kriminologen durch die deutschen Kriminalsoziologenschulen. Noch unerträglicher, weil auf mangelnder Information beruhend, sind die Vorurteile und Abwertungen, die der nordamerikanischen Kriminologie im deutschen Sprachraum zuteil werden. Ein latenter Antiamerikanismus, der auf oberflächlichen Eindrücken beruht und Halbwissen verbreitet, wirkt sich in der Krimi-

nologie der BRD äußerst nachteilig aus. Von „USA-Euphorie" wird'gesprochen (Werner Rüther 1975, S. 20), wenn vor voreilig-hastiger Übernahme oder Ablehnung nicht sorgfältig genug ermittelter nordamerikanischer Forschungsergebnisse gewarnt wird. Nordamerika ist ein Kontinent mit vielen Theorien und empirischen Forschungen auf kriminologischem Gebiet. Hier kann nicht behutsam und vorsichtig genug vorgegangen werden. So wird in unverantwortlicher Weise global behauptet, „mit den kriminalitätstheoretischen Hypothesen amerikanischer Provenienz" sei „heute kein großer Staat mehr zu machen" (Heinz Leferenz 1972, S. 965). So wird die nordamerikanische Kriminologie einerseits als antipsychoanalytisch, rein soziologisch orientiert beurteilt (Tilmann Moser 1970, S. 15, 21/22, 103), andererseits wird von ihr gesagt, sie stehe ganz „im Banne Freuds" (Richard Lange 1970, S. 342). „Tiefe Gegensätze" zwischen europäischer und nordamerikanischer Kriminologie werden künstlich konstruiert. Der nordamerikanischen Kriminologie wird mangelnde „Lebensnähe" (Roland Graßberger 1965) vorgeworfen: Es sei eben nicht Aufgabe der Kriminologie, „soziale Probleme zu lösen". Ihr wird Hilflosigkeit gegenüber den praktischen Kriminalitätsproblemen der USA zur Last gelegt. Sie wird sogar beschuldigt, die Kriminalitätsentwicklung zu begünstigen. Denn es wird immer wieder darauf hingewiesen, daß die USA mit ihrer führenden Kriminologie in der Welt die schwersten Kriminalitätsprobleme haben. Schließlich wird behauptet, „die Rezeption angloamerikanischer Forschungsergebnisse" sei „nunmehr weitgehend abgeschlossen . . . " (Günther Kaiser 1975 a, S. 68), nachdem zuvor eine solche Rezeption nicht für sehr notwendig erachtet worden war (Günther Kaiser, Hartmut Schellhoss 1966). Alle diese offenen oder geschickt versteckten Angriffe rühren aus einem tiefen Mißverstehen der Kriminologie überhaupt und aus einem mangelnden Vertrautsein mit den nordamerikanischen Verhältnissen selbst her. Durch die Kriminologie treten einer Gesellschaft in einem sozialen Reifungsprozeß erst ihre Kriminalitätsprobleme richtig ins kollektive Bewußtsein. Die soziale Sichtbarkeit gesellschaftlicher Probleme der Sozialabweichung und der Kriminalität ist in Nordamerika ungleich größer als in Europa. Aus der — manchmal übergroßen — Selbstkritik der Nordamerikaner auf einen völligen Zerfall der Gesellschaft schließen zu wollen, ist nicht nur falsch, sondern für die Erkenntnis europäischer Sozialprobleme gefährlich, die auf diese Weise nur zu gern und zu oft abgewehrt und verdeckt werden. Die Erarbeitung kriminologischer Forschungsergebnisse darf im übrigen nicht gleichgesetzt werden mit der Anwendung einer kriminologisch maßgeblich beeinflußten, rationalen Kriminalpolitik. Trotz einer relativ guten krimi-

Kriminologie (Grundlagen) — E r g ä n z u n g nologischen F o r s c h u n g werden deren Ergebnisse in den U S A n i c h t , n i c h t richtig oder n u r bruchstückhaft für die p r a k t i s c h e Kriminalpolitik v e r w e r t e t . In den Massenmedien d r a m a t i s c h aufgem a c h t e Kriminalitätsereignisse spielen im Sinne der sozialen Sichtbarkeit eine viel größere Rolle für die Verwirklichung einer b e s t i m m t e n Kriminalpolitik als die kriminologische Forschung (Leslie Τ. Wilkins 1 9 6 8 , S. 1 5 5 ) . E s ist verfehlt, die nordamerikanische Kriminologie als einseitig psychoanalytisch oder soziologisch ausgerichtet einzuordnen. R i c h t u n g s k ä m p f e spielen in ihr eine viel geringere Rolle als in der deutschen. Sie werden a u c h m i t einer viel größeren Toleranz u n d Sozialbezogenheit ausgetragen. Die deutschsprachige Kriminologie b r a u c h t die nordamerikanische. D e n n zwei D r i t t e l aller Kriminologen der W e l t arbeiten in N o r d a m e r i k a . Allein die Q u a n t i t ä t , a b e r a u c h z u m Teil die wesentlich höhere Qualität kriminologischer theoretischer und empirischer Studien u n d die breitere Aufgeschlossenheit der Gesellschaft f ü r kriminologische Untersuchungen m a c h e n eine enge Z u s a m m e n arbeit mit der nordamerikanischen Kriminologie unabweislich. V o m E n d e der Rezeption angloamerikanischer kriminologischer Forschungsergebnisse k a n n n i c h t die R e d e sein. Z u m einen h a t es sich niemals u n d k a n n es sich niemals u m den einseitigen, einfachen V o r g a n g der „ R e z e p t i o n " handeln. E s geht vielmehr u m eine Z u s a m m e n arbeit. Z u m anderen k a n n diese gegenseitig gebende und nehmende Z u s a m m e n a r b e i t nicht schon für beendet erklärt werden. Sie h a t n o c h n i c h t einmal richtig begonnen. Schließlich k a n n m a n die Kriminalität in einem sozialen S y s t e m n u r dann tiefgründig wissenschaftlich analysieren, wenn m a n sie in verschiedenen Sozialsystemen miteinander v e r g l e i c h t : D e r ->• Vergleichenden Kriminologie k o m m t deshalb eine Schlüsselposition innerhalb der m o d e r n e n Kriminologie zu. Solche Vergleiche sind zwischen modernen Industriestaaten, ζ. B . U S A , J a p a n , B R D , zwischen S t a a t e n m i t unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen, ζ. B . Sowjetunion, Jugoslawien, Polen, B R D , und zwischen Industrie-, Rohstoff- u n d Entwicklungsländern, ζ. B . Indien, Brasilien, Indonesien, B R D , unerläßlich, u m F o r t s c h r i t t e in der kriminologischen F o r s c h u n g zu erzielen.

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